Erst als die Sonne fast im Zenit stand, kehrte die Elfe von ihrer Rettungsaktion zurück. Erschöpft ließ sie sich auf Kims Schulter nieder. Ihre Flügel hatten viel von ihrem goldenen Schimmer verloren und sie zitterte vor Schwäche am ganzen Leib.

Kim ließ ihr gute fünf Minuten lang Zeit um wieder zu Kräften zu kommen. Erst dann stellte er die Frage, die nicht nur ihm , sondern wohl auch den beiden anderen auf der Zunge brannte.

»Hast du jemanden getroffen?«

»Getroffen?«, murmelte die Elfe. Sie schien Mühe zu haben, nicht auf der Stelle einzuschlafen.

»Menschen«, sagte Kim geduldig. »Jemanden, der uns helfen kann!«

Twix machte eine Bewegung, die man mit einigem guten Willen als Kopfschütteln deuten kann. »Niemand«, murmelte sie. »Ich habe ein paar Häuser gefunden, aber sie waren alle leer. Nur Spuren.«

»Spuren?«

»Von denen, vor denen du geflohen bist«, sagte Twix. »Ich glaube nicht, dass ich sie alarmieren sollte.«

Vielleicht würden sie das sogar müssen, überlegte Kim. Ihre Verfolger würden ihn wenigstens nicht auf der Stelle umbringen, während sie hier auf dem Fluss nur der sichere Tod erwartete.

Aber noch war es nicht so weit.

»Ruh dich ein bisschen aus«, sagte er. »Du hast es immerhin versucht.«

Ohne weiteres Wort rollte sich die Elfe auf dem Boden neben ihm zusammen und schlief ein.

Der Tag verging. Kim war längst hungrig geworden, denn er hatte bei seiner überstürzten Flucht am Morgen natürlich nicht daran gedacht, Proviant mitzunehmen. Aber das war noch ihr geringstes Problem. Viel schlimmer war die drückende Enge auf der Fähre. Da das Floß schräg zwischen den Felsen verkeilt war, konnten sie sich praktisch nur auf seinem hinteren Drittel aufhalten. Bisher hatte sie die Angst und die gemeinsame Gefahr, in der sie sich befanden, zusammengeschweißt, aber wie lange würde das so bleiben?

Als die Sonne unterging, versuchte Kim einen einigermaßen trockenen Platz zum Schlafen zu finden und kurz danach sah er sich mit einem weiteren Problem konfrontiert: Es wurde erbärmlich kalt. Die Gischt, die sich am Heck der Fähre brach, überschüttete sie mit einem ununterbrochenen, feinen Sprühregen, den er in der warmen Sonne kaum zur Kenntnis genommen hatte. Nach Einbruch der Dunkelheit aber wurde die Kälte rasch zur Qual. Kim fand kaum Schlaf in dieser Nacht. Immer wieder wachte er zitternd und vor Kälte mit den Zähnen klappernd auf. Und als er am nächsten Morgen resignierte und aufstand, hatte er das Gefühl, so gut wie gar nicht geschlafen zu haben. Wenigstens würden sie auf diesem Floß nicht verhungern, dachte er sarkastisch. Sie würden lange vorher an Erschöpfung und Kälte sterben.

»Ich könnte es noch einmal versuchen«, schlug Twix vor. »Vielleicht habe ich ja etwas übersehen. Oder jemand ist zurückgekommen.«

Kim zog fröstelnd die Knie an den Körper und schüttelte den Kopf. Die Sonnenstrahlen waren trotz der noch frühen Stunde schon kräftig, aber die Kälte hatte die ganze Nacht Zeit gehabt sich in seinen Knochen einzunisten. Er klapperte mit den Zähnen.

Der Vorschlag der Elfe war gut gemeint, aber sinnlos. Twix hatte gestern schon mehr gegeben, als er eigentlich verlangen konnte. Er glaubte nicht, dass es der weite Flug gewesen war, der Twix so erschöpft hatte.

»Du musst nicht bei uns bleiben«, sagte er unvermittelt.

Die Elfe sah ihn fragend und verständnislos an und Kim fuhr leise, aber in sehr ernstem Ton fort: »Du kannst von hier wegfliegen. Wenn kein Wunder geschieht, dann werden wir hier wahrscheinlich nicht mehr wegkommen. Aber es gibt keinen Grund für dich auch zu sterben.«

»Aber das werde ich sowieso«, sagte Twix leise. »Ohne dich sterbe ich auch. So wie alle anderen.« Sie richtete sich auf Kims Schulter auf, reckte sich ausgiebig und sah auf die Spinne hinab.

»Außerdem lasse ich mir doch nicht den Spaß verderben, dabei zuzusehen, wie ein gewisser Jemand hier absäuft.«

»Da kannst du lange warten«, sagte die Spinne. »Den Gefallen tue ich dir nicht. Und wenn, dann erst nachdem ich noch einmal gut gegessen habe.«

Kim setzte dazu an, die beiden Streithähne zur Ordnung zu rufen , ließ es aber dann bleiben. Warum sollten sie sich nicht auf ihre ganz persönliche Weise die Zeit vertreiben?

»Dazu müsstest du mich erst einmal kriegen«, sagte Twix. Sie kicherte, schwang sich in die Luft und stieß spielerisch auf die weiße Riesenspinne hinab.

Die Spinne duckte sich, schoss dann aber plötzlich einen Faden nach der Elfe ab, der sich zielsicher um ihre Beine wickelte. Twix stieß ein erschrockenes Piepsen aus, schoss steil in die Höhe und wurde in gut drei oder vier Metern Höhe ziemlich abrupt von dem dünnen seidenen Faden gestoppt.

Wütend schlug sie mit den Flügeln und versuchte den Faden mit ihrem Elfenstaub aufzulösen, aber die Spinne ließ ihn so plötzlich länger werden, dass Twix erneut ein Stück in die Höhe schoss und die Attacke ins Leere ging.

Der Anblick brachte Kim auf eine Idee. »Hört auf!«, sagte er. »Aber sie hat angefangen!«, behaupteten Twix und die Spinne so synchron, dass ihre Stimmen wie eine einzige klangen.

»Das ist jetzt völlig egal!«, sagte Kim plötzlich sehr aufgeregt. Da die beiden keineswegs aufhörten ihr albernes Spielchen zu spielen, griff er kurzerhand nach oben, hangelte die Elfe an dem Spinnfaden zu sich herab und hielt sie fest, während er mit dem anderen Arm die Spinne auf Distanz hielt; nur damit sie nicht auf die Idee kam, ein zweites Frühstück einzulegen, bei dem die Elfe eine ziemlich wichtige Rolle spielte.

»Hört mir zu!«, sagte er eindringlich. »Vielleicht haben wir doch noch eine Chance.« Er wandte sich direkt an die Spinne. »Wenn du einen Faden von hier bis zum Ufer spannen könntest, wäre er stark genug, damit wir uns daran entlanghangeln könnten?«

Die Spinne begriff sofort, was er meinte. »Einer wohl nicht«, sagte sie. »Aber drei oder vier zusammen schon.«

»Und du könntest sie spinnen? Sie müssten wirklich sehr lang sein.«

»Kein Problem«, behauptete die Spinne großspurig.

»Aber wie willst du sie am Ufer befestigen?«

»Ich überhaupt nicht«, sagte Kim. Er sah die Elfe an.

Twix ächzte. »Nein! Niemals!«

»Aber du könntest es schaffen. Ohne Probleme.«

»Nein!«, beharrte Twix. »Ich werde mich ganz bestimmt nicht von diesem Viech einspinnen lassen!«

»Davon redet ja auch niemand«, sagte Kim. »Aber du könntest einen Faden nehmen und damit zum Ufer fliegen. Du musst ihn nur sicher an einem Baum oder einem Felsen festbinden -«

»Und den Rest erledige ich«, fügte die Spinne hinzu.

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Twix.

»Sie wird dir nichts tun«, sagte Kim. Er sah die Spinne an. »Nicht wahr?«

»Ha«, machte die Spinne.

»Da hörst du es!«, sagte Twix. »Du glaubst doch nicht, dass ich freiwillig auch nur eine Sekunde mit ihr allein bleibe!«

»Also gut«, sagte die Spinne. »Du hast mein Wort. Ich tue dir nichts. Jedenfalls jetzt nicht«, fügte sie nach ein paar Sekunden und deutlich leiser hinzu.

Twix war nicht überzeugt. Ihr Blick wanderte misstrauisch zwischen Kim und der Spinne hin und her. Aber schließlich nickte sie, wenn auch mit sichtbarem Widerwillen.

Sie machten sich unverzüglich ans Werk. Die Spinne produzierte einen kurzen Faden, an dessen Ende sie mit erstaunlichem Geschick eine Art Lassoschlinge knüpfte, die Kim um Twix' Hüfte schlang.

»Du musst vorsichtig sein«, sagte sie eindringlich. »Der Faden wird schwerer, je länger er wird, und es ist ein ziemlich langer Weg zum Ufer. Ich spinne immer nur so viel, wie nötig ist. Wenn du das Ufer erreichst, bindest du den Faden um einen Baum und kommst dann zurück.«

Twix nickte wortlos. Sie war sehr nervös. Aber sie protestierte nicht noch einmal, sondern erhob sich wortlos in die Luft.

Sie flog sehr langsam und die Spinne ließ den Faden im gleichen Maße weiter wachsen, wie die Elfe an Höhe gewann. Eine Zeit lang war Twix noch sichtbar. Sie hing wie ein winziger Kinderdrachen am Ende des Fadens und schwankte leicht hin und her, obwohl es nach wie vor völlig windstill war. Nach ein paar Augenblicken war die Elfe verschwunden und sie sahen nur noch den Faden, der sich scheinbar schwerelos in die Höhe erhob.

Kim versuchte sich in Geduld zu fassen, aber es fiel ihm sehr schwer. Twix brauchte nicht einmal lange um das Ufer zu erreichen. Wahrscheinlich vergingen nur zehn Minuten, allenfalls eine Viertelstunde, aber für Kim wurde es zu einer Ewigkeit.

Endlich hörte der Faden auf länger zu werden. Die Spinne stieß einen erleichterten Seufzer aus, griff mit vier Beinen nach dem Faden und zog ihn wieder zurück. Kim und der Pack halfen ihr, so gut sie konnten, den Faden stramm zu ziehen und an der Reling festzubinden.

Kim betrachtete die Konstruktion misstrauisch. Der Faden war dünn wie ein Haar. Er hatte zwar schon mehrmals erlebt, wie enorm fest die Fäden waren, die die Spinne produzierte, aber dieser Faden war gut und gerne dreihundert Meter lang...

»Und du glaubst, er trägt dein Gewicht?«, fragte er.

Die Spinne machte eine Bewegung, die vermutlich ein menschliches Schulterzucken nachahmen sollte. »Wenn nicht, bin ich die Erste, die es erfährt«, sagte sie.

Kim trat zur Seite, als sich die Spinne auf die Reling schwang und dann auf ihren eigenen Faden hinauszubalancieren begann. Kim hatte erwartet, dass sie einfach darauf zum Ufer laufen würde, aber stattdessen begann sie den Faden in engen Spiralen zu umkreisen. Sie wickelte ein zweites Seidenband um das erste, um dessen Stabilität zu erhöhen.

Auf diese Weise brauchte sie natürlich wesentlich länger als Twix um das Ufer zu erreichen. Und noch länger um zurückzukommen.

Während sie neben ihm saß und sich ein wenig erholte, zog Kim prüfend an dem Seil. Es fühlte sich nun wirklich so massiv wie eine Stahltrosse an, aber die Spinne beharrte darauf, sich mindestens noch zweimal zum Ufer und zurückzuhangeln um das Seil zu verstärken. Kim widersprach nicht. Immerhin ging es um ihr Leben. Und sie hatten nur diesen einen Versuch.

Auf diese Weise verging die Zeit. Es wurde Mittag, bis die Spinne von ihrer fünften Tour zurückkam und mit vor Erschöpfung zitternder Stimme erklärte, dass er es jetzt riskieren könnte. Außerdem sei sie sowieso nicht in der Lage auch nur noch einen einzigen Zentimeter Faden zu spinnen.

Kim betrachtete das Seil misstrauisch. Vermutlich würde es sein Gewicht tragen. Aber er konnte nicht sagen, ob er es sich zutraute an diesem Seil die ganze Strecke bis zum Ufer zu klettern.

Der Pack nahm ihm die Entscheidung ab.

Ohne zu zögern griff er nach dem Seil, klammerte sich mit beiden Händen daran fest und schlug die Beine über dem Seil zusammen. Kopfunter schob er sich auf diese Weise ein kurzes Stück auf den Fluss hinaus, kam dann auf dieselbe Weise zurück und sah Kim auffordernd an.

»Du lässt mir den Vortritt«, murmelte Kim. »Das ist nett. Wirklich.«

»Wartest du darauf, dass ich dir noch eine Sänfte webe?«, fragte die Spinne.

»Nein«, murmelte Kim. »Ich denke nur gerade darüber nach, dass es auch gewisse Nachteile hat, ein Held zu sein.«

Bevor er es sich noch anders überlegen konnte, griff er nach dem Seil, klammerte sich auf dieselbe Weise daran fest wie der Pack zuvor und begann den langen Weg zum Ufer.

Auf dem ersten Stück ging es sogar besser, als er erwartet hatte . Hand über Hand und mit dem Kopf nach unten hängend bewegte er sich auf das Ufer zu. Das Seil war wirklich stabil. Es hing nicht einen Zentimeter durch und da die Spinne es mehrfach verstärkt hatte, schnitt es auch nicht sehr in seine Hände ein.

Aber er begann sein eigenes Körpergewicht mit jedem Meter deutlicher zu spüren. Schließlich legte er die erste Pause ein, weil er sich seine Kräfte für den langen Weg einteilen wollte.

Er sah zum Floß zurück.

Und bedauerte es sofort.

Kr hatte sich bisher allerhöchstem dreißig Meter von der havarierten Fähre entfernt. Neun Zehntel der Strecke lagen noch vor ihm. Und seine Hände und Kniekehlen taten schon jetzt so weh, dass er am liebsten laut aufgestöhnt hätte.

Als er weiterkletterte, kam die Elfe herangeflattert. »Das machst du gut!«, piepste sie. »Nur noch ein kleines Stück und du hast es geschafft.«

Kim sparte sich die Kraft, dem Winzling, der wie ein lebendiger Hubschrauber reglos neben seinem Gesicht in der Luft hing, einen bösen Blick zuzuwerfen, und konzentrierte sich stattdessen darauf, immer eine Hand über die andere zu heben und sich an dem straff gespannten Seil entlangzuhangeln.

Sehr bald begann er zu spüren, dass er es nicht schaffen würde. Er hatte noch nicht einmal ein Drittel der Strecke zum Ufer zurückgelegt, aber seine Muskeln waren schon jetzt so verkrampft, dass es wehtat und sein eigener Körper schien immer schwerer und schwerer zu werden.

Das Wasser rauschte nur wenige Zentimeter unter ihm dahin und der Abgrund befand sich weniger als einen halben Meter neben ihm. Ein einziger Fehlgriff, eine einzige Unachtsamkeit und es war um ihn geschehen.

Die Elfe flatterte die ganze Zeit neben ihm her und versuchte ihm Mut zu machen, aber jede Bewegung fiel ihm jetzt schwerer. Seine Hände waren mittlerweile so verkrampft, dass er die Finger nur noch mühsam öffnen konnte, und das Seil schien wie ein Messer in seine Kniekehlen und seine Waden einzuschneiden.

Und schließlich geschah, war geschehen musste: Kim löste die linke Hand vom Seil um wieder nach vorne zu greifen und seine Muskeln versagten ihm einfach den Dienst. Mit einem keuchenden Schrei verlor er endgültig den Halt und stürzte ins Wasser.

Der Aufprall war so hart, dass er fast das Bewusstsein verloren hätte. Sein Hinterkopf knallte gegen einen Stein, dass er Sterne sah, und unzählige weitere, spitze Steine und Felszacken stachen in seinen Rücken.

Kim schrie vor Schreck und Schmerz laut auf, schluckte prompt Wasser und richtete sich hustend und qualvoll nach Luft ringend auf.

Es dauerte eine geraume Weile, bis er überhaupt begriff, was geschehen war. Das Wasser schlug wie mit Hämmern auf ihn ein. Es war eiskalt und die Strömung war wirklich reißend.

Aber der Fluss war an dieser Stelle allerhöchstens dreißig Zentimeter tief ...

Kim wandte fassungslos den Blick nach rechts und links, setzte sich behutsam weiter auf und tastete mit den Händen über den Flussgrund. Dann richtete er sich, zögernd und sehr vorsichtig, um auf den glitschigen Steinen nicht auszurutschen, vollends auf, drehte sich noch einmal im Kreis und machte einen ersten, vorsichtigen Schritt.

Es blieb dabei. Der Fluss war reißend, sodass er nicht einmal zu gehen wagte, sondern bei jedem Schritt mit dem Fuß aufstampfte und erst nach sicherem Halt suchte, ehe er zum nächsten Schritt ansetzte, aber die Wassertiefe nahm nicht zu, sondern im Gegenteil eher noch ab, als er wieder zum Floß zurückging. Die Fähre war nicht auf einem Riff aufgelaufen, das zufällig an der richtigen Stelle aus dem Wasser ragte. Es war auf Grund gelaufen. Der Fluss war hier vielleicht vierzig Zentimeter tief.

Es war sehr still. Die Spinne starrte ihn nur an und auch der Pack glotzte, dass Kim wahrscheinlich laut aufgelacht hätte, wäre ihm nach Lachen zumute gewesen. Selbst die Elfe verhielt sich mucksmäuschenstill.

Und auch Kim sagte kein Wort, sondern griff schweigend nach den Zügeln des Pferdes, zog das Tier vom Floß herunter und ging langsam auf das Ufer zu. Pack und die Spinne folgten ihm, schweigend und in einigem Abstand.

Zehn Minuten später erreichten sie mit nassen Füßen, aber ansonsten unversehrt das Ufer und wandten sich nach Westen. Niemand gab auch nur einen Laut von sich.

Erst nach ungefähr einer halben Stunde piepste Twix: »Sagt mal - wie viele Stunden genau habt ihr jetzt auf dem Floß gehockt?«

Die Spinne schoss einen Faden auf sie ab und der Pack fauchte und begann mit Steinen nach der Elfe zu werfen.

Beide Angriffe gingen fehl, aber Twix flog erschrocken davon und selbst Kim war irgendwie froh, dass sich die Elfe für den Rest des Tages nicht mehr blicken ließ.

Im Verlauf der nächsten Stunde wurde ihre Gruppe noch kleiner. Der Pack verschwand schon nach ein paar Minuten wieder in dem fast hüfthohen Gras, das den Fluss auch hier noch an beiden Seiten flankierte. Als wenig später die ersten Bäume vor ihnen auftauchten, da trollte sich auch die Spinne. Sie hatte es zwar nicht zugegeben, aber Kim vermutete, dass sie sich in offenem, deckungslosem Gelände ebenso wenig wohl fühlte wie ihre kleineren Verwandten aus seiner Heimat.

Es gab keinen Grund mehr, weiter zu Fuß zu gehen, sodass Kim in den Sattel kletterte und der Elfe einen Wink gab, wie gewohnt auf seiner Schulter Platz zu nehmen.

Den ganzen Tag über und bis weit in den Abend hinein ritt er nach Westen. Der Fluss würde ihn sicher bis in die Nähe der gläsernen Stadt führen, aber nach allem, was sie erlebt hatten, wagte es Kim nicht mehr, sich ihm anzuvertrauen. Er hätte es gekonnt. Im Laufe des Tages stieß er auf mehr als eine Anlegestelle, an der er Boote und ein einfaches Floß fand. Aber er hatte genug vom Bootfahren und seine beiden Begleiter mit Sicherheit auch. Kim war sich darüber im Klaren, dass er auf diese Weise wahrscheinlich weitere drei Tage brauchen würde um Gorywynn zu erreichen. Es war ihm mittlerweile fast egal. Auch wenn er im Innersten inzwischen so weit war, über seine eigene Ungeschicklichkeit lachen zu können, hatte ihm der Zwischenfall auf dem Fluss doch gezeigt, wie aussichtslos sein Vorhaben war. Das war kein Gegner, gegen den er antreten konnte, niemand, den er überlisten oder überzeugen musste. Diesmal war es, als hätte sich die Natur dieser ganzen Welt gegen ihn gesandt.

Am Abend sah er Licht in der Ferne, aber er dachte nicht einmal ernsthaft daran in diese Richtung zu reiten. Bisher hatte jede Begegnung mit einem anderen Menschen entweder beinahe oder wirklich in einer Katastrophe geendet.

Er verbrachte die Nacht frierend und ohne ein Feuer anzuzünden im Schütze einiger Felsen und als er bei Sonnenaufgang wach wurde, lag ein Leinenbeutel mit Obst und frisch gepflückten Beeren neben ihm. Der Pack war zwar nicht zu sehen, aber ganz offenbar noch immer in seiner Nähe.

Kim verzehrte das einfache Frühstück, trank einen Schluck Wasser aus dem Fluss und ritt dann weiter. Twix, die die Nacht zusammengerollt in seiner Hemdtasche verbracht hatte, flog davon um die nähere Umgebung zu inspizieren, und als sie nach einer halben Stunde zurückkam, brachte sie beunruhigende Neuigkeiten mit. Sie hatte eine größere Anzahl von Reitern entdeckt, die noch ein gutes Stück entfernt waren, sich aber in dieselbe Richtung bewegten wie sie. Die Elfe hatte es nicht gewagt, sich ihnen weit genug zu nähern um ihre genaue Identität zu klären, aber im Grunde spielte es auch gar keine Rolle, welche der beiden Parteien nun hinter ihm her war. Wahrscheinlich waren es sowieso beide.

Kim dachte über die unterschiedlichsten Taktiken und Tricks nach um seine Verfolger abzuschütteln oder sie irgendwie in die Irre zu führen und entschied sich dann für die einfachste Lösung: Auf direktem Wege und so schnell wie überhaupt nur möglich nach Gorywynn zu reiten. Wenn es überhaupt noch einen sicheren Platz auf dieser Welt für ihn gab, dann war es Themistokles' Zauberturm.

Er ritt den ganzen Tag fast ohne Pause, bis das Pferd schließlich nicht mehr konnte und sich einfach weigerte weiterzugehen. Kim machte sich mittlerweile schwere Vorwürfe, das Tier so anzutreiben. Twix' Elfenstaub hatte die Wunde zwar schnell heilen lassen, aber er verlangte wirklich das Letzte von ihm. Doch er hatte keine Wahl. Seine Verfolger würden ihre Tiere ganz bestimmt nicht schonen.

Und ihn auch nicht, wenn sie ihn zu fassen bekamen ...

Er legte eine viel zu kurze Schlafpause ein, stieg lange vor Sonnenaufgang wieder in den Sattel und ritt weiter. Als es hell wurde, schickte er Twix los um nach seinen Verfolgern Ausschau zu halten.

Die Elfe kam viel schneller zurück, als er gehofft hatte. »Sie sind nicht mehr sehr weit weg.« Twix kam ohne Umschweife zur Sache. »Vielleicht eine Stunde. Vielleicht zwei: Wenn du hier bleiben und auf sie warten würdest, heißt das.«

Das hatte Kim natürlich nicht vor. Aber die Worte der Elfe bedeuteten, dass seine Verfolger ihn auf jeden Fall einholen würden, sicher nicht in einer oder zwei Stunden, aber auf jeden Fall im Laufe dieses Tages.

Wie weit war es noch bis Gorywynn?

Er konnte nun keine Rücksicht mehr auf den Zustand des Pferdes nehmen und ritt, so schnell es nur ging. Trotzdem schmolz sein Vorsprung immer rascher dahin. Twix flog noch zwei- oder dreimal los, und als sie zum letzten Mal zurückkam, brauchte sie gar nichts mehr zu sagen. Am Horizont hinter ihr zitterte eine graue Staubwolke.

Schließlich wurde es zu einem wirklichen Rennen. Die Mittagsstunde war gerade angebrochen und die Reiter waren nun so nahe herangekommen, dass Kim sie bereits selbst sehen konnte, nicht nur die Staubwolke, die die Hufe ihrer Pferde aufwirbelte. Vor ihm lag ein sanfter Hügel, auf dem das Gras nicht mehr ganz so hoch war wie bisher. Vielleicht würde er auf der anderen Seite ein Versteck finden. Aber seine Verfolger würden ihn auch spätestens dann sehen, wenn er über diesen Hügel ritt und sich seine Silhouette deutlich vor dem Himmel abzeichnete.

Er hatte keine Wahl. Der Hügel zog sich in beiden Richtungen, so weit er sehen konnte, und wenn er hier blieb, dann würden sie ihn noch schneller einholen.

»Also gut«, murmelte er. »Es tut mir wirklich Leid, aber ich muss noch einmal alles von dir verlangen.«

»Mit wem sprichst du?«, erkundigte sich Twix.

»Mit dem Pferd«, antwortete Kim lächelnd. »Aber das verstehst du wahrscheinlich nicht.«

»Das verstehe ich wirklich nicht«, bestätigte Twix. »Niemand spricht mit Pferden. Pferde sind dumm.«

Der Hengst wieherte leise, stellte die Ohren auf und schlug mit dem Schweif nach einer Fliege, stellte sich dabei aber so ungeschickt an, dass er die Elfe erwischte. Twix wurde in hohem Bogen davongewirbelt, landete mit einem protestierenden Piepsen im Gras und Kim lächelte flüchtig und tätschelte dem Pferd den Hals.

»Also los!«

Der Hengst setzte sich mit einem gewaltigen Sprung in Bewegung und sprengte den Hügel hinauf und, genau wie er erwartet hatte, erscholl praktisch im gleichen Moment hinter ihm ein vielstimmiger, wütender Aufschrei. Kim widerstand der Versuchung, zu seinen Verfolgern zurückzusehen, sondern sprengte weiter den Hügel hinauf - und hätte im nächsten Moment beinahe selbst aufgeschrien; wenn auch vor Freude. Auf der anderen Seite des Hügels lag Gorywynn. Die gläserne Stadt war noch weit entfernt. Ihre Zinnen und Türme schimmerten wie ein Gebilde aus erstarrtem Sternenlicht in der Sonne, und obwohl er schon auf den allerersten Blick sah, dass die Verheerung auch an Gorywynn nicht spurlos vorübergegangen war, war es doch einer der schönsten Anblicke, die er seit langer Zeit genossen hatte.

Mit einem kleinen Schönheitsfehler: Bei normaler Geschwindigkeit hätte er mindestens noch eine Stunde gebraucht um die rettenden Mauern der Stadt zu erreichen, die am Flussufer unter ihm aufragten. Selbst wenn er das Pferd bis zum Zusammenbruch antrieb, würden ihn die Verfolger wahrscheinlich einholen, lange bevor er in Gorywynn war.

Er brauchte ein Versteck.

So weit das Auge reichte, sah Kim nur leere, abgeerntete Felder und einige kleine Gehöfte. Aus dem einem oder anderen Kamin kräuselte sich Rauch, aber er konnte es nicht wagen, dorthin zu reiten. Entweder ihre Bewohner waren ihm feindlich gesonnen, dann geriet er nur vom Regen in die Traufe, oder sie standen auf seiner Seite, dann konnte er es erst recht nicht wagen, sie um Hilfe zu bitten; nicht mit einer kleinen Armee auf den Fersen.

Er ritt, so schnell er konnte, aber sein Vorsprung schmolz immer rascher zusammen. Lange bevor er auch nur die halbe Entfernung zur Stadt zurückgelegt hatte, waren die Verfolger nahe genug heran, dass er sie zweifelsfrei identifizieren konnte.

Wie es aussah, hatten Kai und sein Kinderheer die Schlacht am Fluss am Ende doch gewonnen. Der blonde Junge sprengte ein gutes Stück vor dem Rest der Truppe heran, tief über den Hals seines Pferdes gebeugt und dem Tier so rücksichtslos die Sporen gebend, dass Kim sich fragte, wie lange das Pferd dieses mörderische Tempo wohl noch durchhalten würde.

Vermutlich lange genug um mich einzuholen, dachte Kim düster. Er konnte regelrecht sehen, wie der Abstand zwischen ihnen kleiner wurde. Und zu allem Überfluss wurde sein eigenes Tier nun auch noch immer langsamer. Seine Kräfte waren erschöpft.

Er lenkte sein Pferd nach rechts, weiter auf den Fluss zu, trieb das Tier noch einmal zu größerer Schnelligkeit an, stieß sich in vollem Galopp ab und tauchte mit einem kraftvollen Hochsprung ins Wasser. Zehn oder zwölf Meter vom Ufer entfernt erst tauchte er wieder auf, nahm einen tiefen Atemzug und glitt wieder ein gutes Stück weit unter Wasser dahin, bis ihn die Atemnot ein weiteres Mal zum Auftauchen zwang.

Etwas streifte ganz sacht seine Schulter und verschwand im Wasser und nur einen Augenblick später zischten ein zweiter und dritter Pfeil heran, die ihn aber noch mehr verfehlten.

»Aufhören!«, schrie eine Stimme hinter ihm. »Seid ihr verrückt? Wir brauchen ihn lebend!«

Kim drehte schwimmend den Kopf und erblickte genau das, was er befürchtet hatte: Kai und einige der anderen hatten das Ufer erreicht und waren aus den Sätteln gesprungen. Drei oder vier Jungen hatten ihre Bogen gehoben und veranstalteten offensichtlich ein Wettschießen auf ihn. Kai aber war bereits ins Wasser gewatet und kam schnell näher.

»Warum gibst du nicht auf?«, schrie er. »Du kannst nicht entkommen!«

Statt Atem für eine Antwort zu verschwenden, griff Kim noch kräftiger aus. Die Strömung wurde stärker, je weiter er sich vom Ufer entfernte, und er gewann nun zusehends an Tempo. Aber als er noch einmal zurückblickte, erkannte er, dass Kai bereits aufgeholt hatte. Der Junge war ein viel besserer Schwimmer als er.

Trotzdem gab er nicht auf, sondern sah in die entgegengesetzte Richtung, nach Gorywynn. Die Stadt schien noch unendlich weit entfernt. Selbst ohne Kai und die anderen auf den Fersen würde er sie auf diesem Wege kaum erreichen.

»Kim, verdammt noch mal, komm zurück!«, schrie Kai. »Willst du ertrinken, du Idiot?«

Kim schwamm nur noch schneller, obwohl das gar nicht mehr nötig erschien. Die Strömung war mittlerweile so stark geworden, dass er nicht einmal mehr sicher war, sich aus eigener Kraft daraus befreien zu können.

Kai schrie irgendetwas, das er nicht mehr verstand, schwamm schneller und holte ihn so mühelos ein, dass es schon fast lächerlich war. Seine rechte Hand schloss sich um Kims Fuß. Kim trat mit dem anderen Bein nach ihm, verfehlte ihn aber und kam durch diese Bewegung vollends aus dem Takt. Er ging unter, schluckte Wasser und geriet in Panik. Wild mit den Armen um sich schlagend wirbelte er durch die Strömung, gelangte durch pures Glück noch einmal an die Oberfläche und sog sich die Lungen voller Luft. Dann war Kai vollends über ihm, umschlang ihn mit den Armen und drückte ihn wieder unter Wasser.

Kim kämpfte mit verzweifelter Kraft, aber er hatte keine Chance. Kai war viel stärker als er. Erst als seine Lungen zu platzen schienen und er nur noch einen Sekundenbruchteil davon entfernt war, den Mund zu öffnen und einen tödlichen Atemzug zu nehmen, ließ Kai ihn los, stieß ihn an die Wasseroberfläche und gestattete ihm Luft zu holen. Während Kim würgend und hustend nach Atem rang, drehte er ihm den Arm auf den Rücken, schlang den anderen Arm von hinten um seinen Hals und bog ihm brutal den Kopf in den Nacken; der typische Rettungsschwimmergriff, der es Kim vollkommen unmöglich machte, sich zu befreien.

»Du blöder Trottel!«, schrie Kai. »Was hast du vor? Willst du uns beide umbringen? Wenn ja, dann stehen deine Aussichten nicht schlecht!«

Kim verstand im ersten Moment nicht, wovon er sprach. Kai hatte sich auf den Rücken gedreht und versuchte bereits wieder in Richtung Ufer zu schwimmen.

Als Kims Atem sich einigermaßen beruhigt hatte und er wieder zu halbwegs klarem Denken fähig war, wurde ihm bewusst, dass sie sich keineswegs dem Ufer näherten. Ganz im Gegenteil wurden sie langsam, aber unerbittlich immer weiter in die Flussmitte hinausgezogen.

»Die Strömung!«, japste er. »Sie ist zu stark!«

»Was du nicht sagst, Schlaumeier!«, antwortete Kai.

»Du schaffst das nicht allein«, keuchte Kim. »Lass mich los. Zu zweit schaffen wir es vielleicht!«

Kai schwieg einen Moment, aber dann ließ er seinen Arm tatsächlich los.

Doch es war zu spät.

Die Strömung wurde buchstäblich mit jeder Sekunde stärker. Kim drehte sich herum und legte jedes bisschen Kraft, das er aufbringen konnte, in seine Schwimmbewegungen.

Ohne Erfolg. Ebenso wie Kai wurde er immer schneller und schneller mitgerissen.

»Was ist das?«, schrie Kim. Die Panik war wieder da. Noch konnte er sie niederhalten, aber er wusste nicht, wie lange.

»Der Strudel!«, schrie Kai zurück. »Niemand kann ihm entkommen! Wir werden beide ertrinken!«

Noch bevor Kim etwas antworten konnte, griff die Strömung mit plötzlich vervielfachter Kraft nach ihm, riss ihn regelrecht zurück und wirbelte ihn wild hin und her. Kai erging es nicht besser.

Kim begann sich immer schneller und schneller zu drehen. Er wurde unter Wasser gezogen, wieder ausgespien und erneut in die Höhe gewirbelt. Der Fluss schien sich in irrsinnigem Tempo um sie herum zu drehen. Der Strudel, von dem Kai gesprochen hatte, hatte sie nunmehr vollends ergriffen. Die Wasseroberfläche war plötzlich über ihnen und Kim begriff voller Entsetzen, dass sie sich nun beide in einem Trichter aus Wasser befanden, der sie mit erbarmungsloser Kraft und immer schneller werdend in die Tiefe riss.

Im allerletzten Moment nahm er noch ein tiefen Atemzug. Dann waren Kai und er im Zentrum des Trichters und wurden unter Wasser gezerrt.

Die schiere Kraft der Strömung riss sie auseinander. Kim sah noch ein flüchtiges helles Aufblitzen neben sich, dann war Kai verschwunden und er verschwendete auch keinen Gedanken mehr an den jungen Steppenreiter, denn auch er wurde immer rascher herumgewirbelt und weiter und weiter in die Tiefe gezerrt. Dies musste nun das Ende sein. Die Wasseroberfläche lag scheinbar unendlich weit über ihm wie ein zerbrochener, in hellem Aufruhr begriffener Spiegel. Selbst wenn es ihm gelang irgendwie aus dem Sog zu entkommen, würde das bisschen verbliebene Luft in seinen Lungen wahrscheinlich nicht mehr reichen um nach oben zu kommen.

Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, spie der Strudel ihn aus. Kim wurde wie ein Kreisel durch das Wasser gewirbelt und kämpfte immer verzweifelter gegen den Drang Luft zu holen. Er wollte schwimmen, irgendwie nach oben kommen, aber seine Kräfte reichten nicht mehr.

Seine Sinne begannen sich bereits zu verschleiern. In seiner Brust tobte ein fast unerträglicher Schmerz und er konnte kaum noch irgendetwas erkennen.

Wie durch einen immer dichter werdenden Nebel sah er etwas auf sich zugleiten; eine riesige, silberne Kugel, die mit ruckhaften kleinen Bewegungen aus der Höhe auf ihn herabstieß und bei der es sich zweifellos nur um eine Halluzination handeln konnte. Er würde jetzt sterben. Seine Fantasie begann ihm bereits Dinge vorzugaukeln, die nicht da waren. Seine Bewegungen wurden schwächer. Seine Lungen drohten zu platzen.

Dann war die silberne Kugel heran, stülpte sich über ihn und Kim konnte atmen.

Er fiel auf die Knie, rang keuchend nach Luft und sah einen weißen Schemen aus den Augenwinkeln. Lange, dürre Beine streckten sich in seine Richtung, hielten ihn fest und richteten ihn halbwegs wieder auf. Kim begriff nicht wirklich, was die Spinne tat - schon gar nicht, als sie mit zwei Beinen nach seiner Hemdtasche tastete und dann hineinlugte.

»Kai«, würgte er mühsam hervor. »Wo ist... Kai?«

»Der ist gerade beschäftigt«, antwortete die Spinne. »Mit Ertrinken.«

»Hol ihn«, keuchte Kim.

»Fällt mir nicht ein«, antwortete die Spinne. »Der Kerl wollte dich umbringen.«

»Bring ihn her!«, wollte Kim befehlen, brachte aber kaum mehr als ein Husten und Keuchen zustande. Die Spinne starrte ihn noch eine Sekunde lang störrisch an, drehte sich aber dann herum und war verschwunden.

Kim sah sich schwer atmend um. Er hockte im Zentrum einer gut anderthalb Meter messenden luftgefüllten Kugel, deren Wände wie ein gekrümmter Spiegel schimmerten, trotzdem aber halb durchsichtig waren. Die Luft roch scharf, streng und ein bisschen nach Chemie, war aber sehr sauerstoffreich. Aber wo war sie hergekommen?

Ein Schrei und ein dumpfer Aufprall ließen ihn herumfahren. Die Spinne war zurückgekommen und sie hatte Kai tatsächlich mitgebracht. Der junge Steppenreiter lag auf dem Boden und hatte offensichtlich das Bewusstsein verloren, lebte aber noch. Seine Brust hob und senkte sich in schnellen Stößen.

»Du hattest völlig Recht«, sagte die Spinne. »Es war richtig, ihn zu retten.«

»Gut gemacht«, lobte Kim, während er neben Kai niederkniete und seinen Kopf in den Nacken bog, damit er besser atmen konnte.

»Ich mag kein totes Fleisch«, fuhr die Spinne fort. »Es hat einen so strengen Beigeschmack.«

»Du kannst ihn nicht essen«, sagte Kim.

»Wie bitte?« Die Spinne plusterte sich auf. »Das kann doch nicht wahr sein! Wie kommt es eigentlich, dass ich jedes Mal die Dumme bin, wenn ich etwas für dich tue?«

Kai erwachte hustend, wälzte sich auf die Seite und öffnete blinzelnd die Augen.

Eine Sekunde später setzte er sich kerzengerade auf und starrte die Spinne an. Er gab keinen Laut von sich, aber er wurde noch blasser und seine Augen quollen vor Entsetzen fast aus den Höhlen.

»Keine Angst«, sagte Kim rasch. »Sie ist harmlos.«

»Sie ist vor allem hungrig«, fügte die Spinne hinzu. Sie tippte Kai mit einem Bein an und klapperte mit den Giftzähnen. »Viel dran ist an dem Burschen ja nicht, aber für zwischendurch ...«

Kai ächzte und Kim hatte trotz des Ernstes der Situation alle Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.

»Wirklich, keine Sorge«, sagte er. »Sie hat manchmal eine komische Art von Humor, aber sie ist schon in Ordnung.«

»Wieso ...« Kai schüttelte den Kopf, rückte so weit von der Spinne fort, wie es in der Enge der Luftblase möglich war, und sah sich dann um. »Wo sind wir?«

»Das wüsste ich auch gerne«, sagte Kim, nun direkt an die Spinne gewandt. »Wie hast du das gemacht?«

»Die Luftblase?« Die Spinne machte eine Bewegung, die vielleicht ein Achselzucken sein sollte, bei einem Geschöpf mit acht Beinen aber einigermaßen komisch aussah.

»Ich habe es eben gemacht. Ehrlich gesagt, ohne viel darüber nachzudenken. Allerdings hätte ich mir ein wenig mehr Dankbarkeit erwartet.«

Kim ignorierte den letzten Satz. Er hatte sogar eine ungefähre Vorstellung davon, was passiert war. Auch in seiner Heimat gab es gewisse Arten von Spinnen, die mit einer selbst gemachten Luftblase tief unter Wasser tauchten um Beute zu fangen. Natürlich keine von so enormer Größe ...

»Wie lange reicht die Luft hier drinnen?«, fragte er.

»Nicht sehr lange«, antwortete die Spinne. »Für mich allein eine halbe Stunde. Aber für uns drei...«

»Dann sollten wir allmählich auftauchen«, sagte Kim. Er wandte sich an Kai. »Fühlst du dich kräftig genug?«

Kai wollte antworten, aber die Spinne kam ihm zuvor. »Das ist unmöglich. Der Strudel würde die Luftblase zerreißen.«

Kim sah sich um. Das Wasser in ihrer unmittelbaren Umgebung war relativ ruhig.

»Wir sind direkt unter dem Strudel«, sagte die Spinne, die seinen Blick bemerkt hatte. »Sozusagen im toten Winkel. Ein paar Meter weiter nach rechts oder links und es reißt uns in Stücke.«

Es dauerte einen Moment, bis Kim die ganze Tragweite ihrer Worte begriff. »Das heißt, du kannst auch keine neue Luft holen, wenn die hier drinnen verbraucht ist.«

»Ich fürchte, du hast Recht«, gestand die Spinne kleinlaut. »Die Luft wird nicht lange reichen. Nicht für drei.« Sie deutete mit zwei Beinen auf Kai. »Wenn du mir gestattet hättest ihn zu essen, hätte wir viel mehr Luft.«

Kai griff nach seinem Schwert, aber Kim machte eine rasche, abwehrende Bewegung und der junge Steppenreiter zog die Hand wieder zurück. Sein Blick ließ die Spinne jedoch keinen Sekundenbruchteil los.

»Irgendwie müssen wir hier heraus«, sagte er. »Aber das schaffen wir nur, wenn wir zusammenarbeiten.«

»Warum?«, fragte Kai spitz. »Du hast uns doch auch ganz allein in diese Situation gebracht.«

»Woher sollte ich von diesem Strudel wissen?«, fragte Kim. »Als ich das letzte Mal hier war, gab es ihn noch nicht.«

»Das letzte Mal?« Kai sah ihn misstrauisch an. »Du warst schon einmal in Gorywynn?«

»Ja«, antwortete Kim, während er sich im Stillen für die Worte verfluchte, die ihm unabsichtlich herausgerutscht waren. Kai wusste immer noch nicht, wer er wirklich war, und er hatte das sichere Gefühl, dass es besser war, wenn das auch noch eine Weile so blieb.

»Es ist lange her«, fügte er mit einem Achselzucken hinzu.

»Es muss sehr lange her sein«, sagte Kai mit sonderbarer Betonung. »Dieser Strudel ist seit dem großen Erdbeben hier, bei dem auch die Wasserfälle entstanden sind. Und das war vor meiner Geburt.«

Er sah Kim nachdenklich an und es war nicht besonders schwer zu erraten, was in diesem Moment hinter seiner Stirn vorging. Wahrscheinlich fragte er sich, wie sich ein Junge, der kaum älter sein konnte als er, an etwas erinnern konnte, das lange vor seiner Geburt passiert war.

»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte Kim. »Mich interessiert der Strudel. Wohin fließt das Wasser?«

»Woher soll ich ...« Kais Augen wurden groß. »Du hast doch nicht etwa vor noch einmal dort hinauszuschwimmen?«

»Hast du eine bessere Idee?«, fragte Kim. »Wir können natürlich auch hier bleiben, bis die Luft aufgebraucht ist und wir ersticken.« Er drehte sich zur Spinne herum. »Wir brauchen ein Seil um uns aneinander festzubinden.«

»Du spinnst ja«, sagte die Spinne.

»Kannst du es oder nicht?«, fragte Kim. Irrte er sich oder war die Luft in der Blase schon schlechter geworden?

»Niemand weiß, wohin das Wasser fließt«, antwortete die Spinne. »Der Strudel könnte einen Kilometer tief nach unten führen. Oder auch zehn.«

»Probieren wir es aus«, schlug Kim vor. »Es sei denn, du ziehst es vor zu ersticken. Noch dazu mit leerem Magen.«

Das gab den Ausschlag. Die Spinne nörgelte noch einen Moment herum, begann dann aber gehorsam einen Faden zu spinnen. Während sie damit beschäftigt war, ihn zu einem stabilen Seil zu flechten, trat Kim ganz an den Rand der luftgefüllten Blase heran.

Schon auf den ersten Blick sah er, wovon die Spinne gesprochen hatte: Sie befanden sich tatsächlich nur wenige Meter von dem Strudel entfernt, der sie in die Tiefe gerissen hatte. Er ragte wie ein silberner, mitten in der Bewegung erstarrter Tornado vor ihnen empor, eine bizarre Säule, die sich hoch über ihnen trichterförmig erweiterte. Die Spinne hatte Recht: wenn sie die Luftblase verließen, mussten sie unweigerlich wieder in diesen tobenden Hexenkessel hineingezogen werden. Die Wasseroberfläche lag mindestens dreißig Meter über ihnen. Keine Chance sie zu erreichen.

»Ich bin fertig«, nörgelte die Spinne.

Kim drehte sich herum und fing das Ende des mehrfach geflochtenen Spinnenfadens auf, den sie ihm zuwarf. Die Spinne hatte in den wenigen Augenblicken, die er dagestanden und hinausgesehen hatte, ein Seil von mindestens zehn oder zwölf Metern Länge fabriziert, dessen eines Ende er sich um die Hüften schwang und sorgsam verknotete, während Kai mit dem anderen ebenso verfuhr.

»Eine seltsame Art Selbstmord zu begehen«, sagte die Spinne. Mit einem Seitenblick auf Kai und einem hörbaren Seufzen fügte sie hinzu: »Was für eine Verschwendung!«

Kim ignorierte den letzten Satz und wandte sich an Kai. »Bist du so weit?«

Der junge Steppenreiter verknotete das Seil, nickte und sagte mit einer Geste auf die Spinne: »Sie hat Recht, weißt du - es ist Selbstmord.«

»Du kannst ja hier bleiben«, sagte Kim. »Ich bin sicher, ihr beide werdet eine Menge Spaß miteinander haben. Kann ich mich auf dich verlassen?«

Kai warf der Spinne einen schrägen Blick zu und nickte dann. »Halt das Seil straff«, sagte Kim. »Ich ziehe zweimal daran, wenn du nachkommen kannst.«

»Und wenn nicht?«, fragte Kai nervös.

Kim beließ es bei einem humorlosen Grinsen als Antwort, holte noch einmal tief Luft und trat mit einem entschlossenen Schritt aus der Luftblase hinaus.

Wie er erwartet hatte, wurde er sofort von der Strömung ergriffen und auf den Strudel zugezerrt. Diesmal jedoch kämpfte er nicht dagegen an, sondern unterstützte die Bewegung im Gegenteil noch mit kräftigen Schwimmstößen, die ihn rasch auf den silbernen Wirbelsturm zutrieben. Nicht einmal eine Sekunde, nachdem er die Luftblase verlassen hatte, erreichte er den Strudel und tauchte hinein.

Er hatte das Gefühl, in Stücke gerissen zu werden. Das Wasser packte ihn. Schleuderte ihn wie ein Spielzeug herum und immer schneller im Kreis. Das Seil um seine Hüften straffte sich und Kim konnte sich lebhaft vorstellen, wie Kai jetzt mit in den Boden gestemmten Beinen dastand und ihn zu halten versuchte. Natürlich reichten seine Kräfte nicht aus. Kim wurde einfach weitergezerrt.

Gerade als er glaubte gleich ersticken zu müssen, konnte er wieder atmen. Um ihn herum war plötzlich nichts mehr.

Und nicht nur um ihn herum, sondern auch und vor allem unter ihm.

Kim schrie voller Entsetzen auf, als er begriff, wie Recht die Spinne mit ihrer Vermutung gehabt hatte.

Er befand sich in einer gigantischen Höhle, durch deren Decke das Wasser in einem brüllenden Strom hineinschoss, ehe es sich zu einem feinen Nebel verteilte, der weiter in die Tiefe stürzte. Der Boden der Höhle - wenn es überhaupt einen gab -, war nicht zu erkennen. Unter ihm war nur endlose, vollkommene Schwärze.

Kim pendelte wild am Ende des Seiles hin und her. Das Wasser stürzte noch immer mit solcher Wucht auf ihn herab, dass er kaum atmen konnte. Trotzdem erkannte er, dass er nur ein kleines Stück von der Höhlenwand entfernt war. Vielleicht drei oder vier Meter weiter weg gähnte ein fast kreisrundes Loch in der Höhlenwand. Wenn es ihm irgendwie gelang es zu erreichen, dann waren sie zumindest vorerst in Sicherheit. Die Luft in der Blase würde nicht mehr lange halten. Ganz davon zu schweigen, dass Kai ihn bestimmt nicht mehr lange würde festhalten können. Statt also gegen seine wilden Pendelbewegungen anzukämpfen, verstärkte Kim sie noch um sich auf diese Weise dem Loch in der Höhlenwand zu nähern. Seine beiden ersten Versuche, sich an dem glitschigen Fels festzuklammern, schlugen fehl, aber beim dritten Mal fanden seine weit vorgestreckten Hände Halt. Kim klammerte sich mit zusammengebissenen Zähnen fest, zog sich vollends in den Schacht hinein und gönnte sich ein paar Sekunden um wieder zu Atem zu kommen. Erst dann löste er das Seil von seiner Hüfte, schlang es um einen Felsvorsprung und zog zweimal kurz und hart daran. Im selben Moment wich alle Spannung aus dem geflochtenen Spinnfaden. Kai hatte die Luftblase verlassen. Kim griff mit beiden Händen nach dem Seil, stemmte die Füße in den Boden und versuchte sich auf den bevorstehenden Ruck vorzubereiten.

Er musste nicht lange warten. Kai tauchte wie ein fallender Stein inmitten des sprühenden Wassers auf, stürzte schreiend an ihm vorüber und verschwand in der Tiefe. Eine halbe Sekunde später wurde das Seil mit einem solchen Ruck gespannt, dass Kim nach vorne gerissen wurde und um ein Haar selbst das Gleichgewicht verloren hätte. Nur mit äußerster Kraft gelang es ihm, nicht selbst aus der Höhle gerissen zu werden, sondern Kai Zentimeter für Zentimeter zu sich hereinzuziehen. Schließlich war er nahe genug, dass Kim die Hand ausstrecken und ihn mit einem letzten Ruck heraufziehen konnte.

Kai sank erschöpft auf die Knie und auch Kim ließ sich keuchend zu Boden sinken. Seine Hände bluteten. Das Seil hatte tiefe, heftig schmerzende Schnitte darin hinterlassen.

»Wo ist die Spinne?«, fragte Kim.

»Sie wollte nicht mitkommen«, antwortete Kai. »Sie sagte, sie würde schon einen Weg finden und du sollst dir keine Sorgen um sie machen.« Er sah Kim kopfschüttelnd an. »Du bist wirklich mit dieser widerwärtigen Kreatur befreundet? Mir dreht sich schon der Magen herum, wenn ich sie nur sehe.«

»Ich wette, es geht einer Menge Leute bei deinem Anblick genauso«, sagte Kim böse. Er hob die Hand, als Kai auffahren wollte, und fuhr in verändertem Tonfall fort: »Lassen wir das. Ich schlage vor, wir schließen einen Waffenstillstand. Wenigstens so lange, bis wir hier heraus sind.«

Kai hob die Schultern. »Wie du meinst. Falls wir wieder herauskommen, heißt das.« Er sah sich um. »Hast du eine Ahnung, was das hier ist?«

Das fragte Kim sich auch. Während sie geredet hatten, hatte er sich flüchtig in ihrer neuen Umgebung umgesehen. Sie befanden sich in einem kreisrunden, gemauerten Schacht, dessen Wände bis auf halbe Höhe von einer schmierigen Schicht bedeckt waren. Die Luft war verbraucht und roch schlecht und sehr alt.

»Keine Ahnung«, sagte er achselzuckend. »Ich weiß nur, dass es künstlich zu sein scheint. Also gibt es wahrscheinlich einen Ausgang.« Er stand auf. »Suchen wir ihn.«

Zwei Stunden später war er nicht mehr so felsenfest davon überzeugt, dass dieses unterirdische Labyrinth tatsächlich einen Ausgang hatte - und schon gar nicht mehr davon, dass sie ihn finden würden.

Und es war ein Labyrinth. Die Tunnel, die von unterschiedlichem Durchmesser waren - von mächtigen Stollen mit fünf oder sechs Meter hohen Wänden bis hin zu schmalen Röhren, durch die sie nur auf Händen und Knien kriechen konnten -, verzweigten sich immer und immer wieder, sodass Kim nicht einmal sagen konnte, in welche Richtung sie sich bewegten, ob nach oben oder vielleicht gar immer weiter in die Tiefe. Oft mussten sie durch knöcheltiefes Wasser waten und einmal gingen sie ein gutes Stück am Ufer eines unterirdischen Flusses entlang.

Trotz allem kam ihm ihre Umgebung auf sonderbare Weise vertraut vor. Er hatte so etwas schon gesehen, wenn auch noch nie selbst, sondern immer nur auf Bildern. Sie marschierten durch ein gewaltiges, unterirdisches Kanalisationssystem.

»Darf ich dir eine Frage stellen?«, fragte Kim nach einer Weile.

»So viele du willst«, antwortete Kai. »Ich weiß nur nicht, ob ich sie beantworte.«

»Du hast von eurem Herrn gesprochen«, sagte Kim. »Dem Magier der Zwei Berge.«

Kai sah ihn mit einem Ausdruck leiser Überraschung an. »Woher kennst du diesen Namen?«

»Ich kenne ihn eben«, antwortete Kim ausweichend. Es hatte keinen Sinn, Grendel noch mehr Schwierigkeiten zu bereiten. »Wer ist er und was will er von mir?«

»Das weiß ich nicht.«

»War das jetzt die Antwort auf meine erste oder auf meine zweite Frage?«, fragte Kim in etwas schärferem Ton. Er hatte keine Lust auf Wortklaubereien.

»Auf beide«, antwortete Kai ruhig. »Ich habe ihn niemals gesehen. Keiner von uns hat das. Und ich weiß nicht, was er von dir will. Ich habe nur den Befehl bekommen, dich zu ihm zu bringen.«

»Und du führst ihn aus ohne dich zu fragen, welchen Sinn er hat?«, fragte Kim kopfschüttelnd. »Ich verstehe dich nicht, Kai. Ich kenne Caivallon, weißt du? Die Steppenreiter waren immer das stolzeste und tapferste Volk Märchenmonds. Sie hätten sich niemals einem Herrscher angeschlossen, von dem sie nicht einmal wissen, wer er ist - geschweige denn, welche Ziele er verfolgt.«

»Die Zeiten ändern sich eben«, sagte Kai mürrisch.

»Ja, das habe ich gemerkt«, sagte Kim.

»Du weißt gar nichts!«, fuhr Kai auf. »Du kommst hierher, weißt überhaupt nicht, wer wir sind oder was wir wollen, und erdreistest dich noch über uns zu urteilen?«

»Dann erklär mir, was ihr wollt«, sagte Kim.

»Nichts anderes als das, was auch du willst!« Kai sprach jetzt eindeutig im Tonfall einer Verteidigung. »Wir wollen nur über unser eigenes Leben bestimmen können!«

»Mit Waffengewalt?«

»Wenn es sein muss, ja«, sagte Kai. »Würdest du nicht um deine Freiheit kämpfen?«

»Nicht so«, behauptete Kim, aber Kai lachte nur hart.

»O ja, das habe ich gemerkt!«, spottete er. »Vor allem meine Leute haben es gemerkt, als du sie vom Pferd geschossen hast.«

»Das war etwas anderes«, behauptete Kim - aber er kam sich dabei selbst etwas lächerlich vor. Als er weiterreden wollte, blieb Kai abrupt stehen und hob die Hand.

»Still! Da ist etwas!«

Auch Kim blieb stehen und lauschte. Über dem Plätschern des Wassers war ein neues, regelmäßiges Geräusch zu hören: Ein helles Klingen und Scheppern, das zu gleichmäßig war um natürlichen Ursprungs zu sein.

Sie gingen schneller weiter. Der Tunnel führte noch gute hundert Meter geradeaus und endete dann nach einem scharfen Knick in einer sehr großen Halle, die fast knietief unter Wasser stand. Der Grund dafür war leicht zu erkennen: Es gab mindestens ein Dutzend unterschiedlich großer Stollen, durch die Wasser hereinströmte. Den Abfluss bildete ein einzelner, breiter Kanal, der aber zum Großteil verstopft war: Die Wand, durch die er floss, war zusammengebrochen. Tonnen von Ziegelsteinen und Felsen blockierten den Tunnelausgang. Dann erkannten sie auch den Grund des Lärms, der sie hierher geführt hatte. Eine Anzahl kleiner, in dunkle Kapuzenumhänge gehüllter Gestalten war emsig damit beschäftigt, dem Hindernis mit Hämmern, Spitzhacken und Meißeln zu Leibe zu rücken.

»Zwerge!«, sagte Kim. »Das sind Zwerge!«

»Zum Teufel«, murmelte Kai. Es klang nicht sehr erfreut. Seine Hand senkte sich nervös auf das Schwert an seiner Seite und zog sich dann hastig wieder zurück, als ihm wohl klar wurde, dass Kim die Bewegung bemerkt hatte. Seltsam ...

Kim ging rasch weiter. Kai folgte ihm, aber erst nach deutlichem Zögern und in einigem Abstand. Offensichtlich mochte er keine Zwerge. Und nach allem, was Kim selbst mit dem kleinen Volk erlebt hatte, konnte er das fast verstehen ...

Die Zwerge bemerkten ihre Annäherung erst, als sie sie fast erreicht hatten. Und ihre Reaktion überraschte Kim: Einer von ihnen stieß einen warnenden Ruf aus, woraufhin alle ihre Werkzeuge sinken ließen und herumfuhren.

Es war schwer, in den Gesichtern von Zwergen zu lesen. Trotzdem konnte man nicht übersehen, dass die Zwerge nicht gerade begeistert über ihr Erscheinen waren. Einige von ihnen sahen regelrecht erschrocken drein.

»Hallo«, sagte Kim zögernd.

Einer der Zwerge trat auf ihn zu und auch die anderen bewegten sich. Sie nahmen in einem weiten Halbkreis um Kim und Kai herum Aufstellung und ergriffen ihre Werkzeuge fester. Kim konnte ihre Feindseligkeit regelrecht fühlen.

»Wer seid ihr?«, fragte der Zwerg. Er hatte die schrille, unangenehm keifende Stimme aller Zwerge und sein Blick irrte misstrauisch und unstet zwischen ihren Gesichtern hin und her. »Was habt ihr hier zu suchen?«

»Wir haben uns verirrt«, antwortete Kim schnell, bevor Kai etwas sagen konnte, was die Situation vielleicht noch verschlimmerte. »Ich bin froh, dass wir euch getroffen haben.«

»Verirrt?« Die Augen des Zwerges wurden schmal. »Was soll das heißen?«

»Wir suchen den Ausgang«, sagte Kai. »Wisst ihr, wo er ist?«

»Klar«, antwortete der Zwerg. »Aber der taugt nur für uns. So große Tölpel wie ihr würden einfach stecken bleiben.«

Kai wollte auffahren, aber Kim hob rasch die Hand und zog die Aufmerksamkeit des Zwerges so wieder auf sich. »Vielleicht könnt ihr uns wenigstens sagen, wo wir überhaupt sind«, sagte er. »Das würde uns schon helfen.«

Der Zwerg tauschte einen bezeichnenden Blick mit einigen seiner Begleiter und lachte dann meckernd. »Ihr wisst nicht einmal, wo ihr seid?«

»Nicht genau«, sagte Kim. »Sonst hätten wir uns ja nicht verirrt, nicht wahr?«

Die Augen des Zwerges wurden noch schmaler. »Was bist du, Kerl?«, fragte er. »Ein Klugscheißer, wie?«

Kim zählte in Gedanken bis drei. Er würde sich nicht von diesem Zwerg provozieren lassen und er würde sich schon gar nicht auf einen Streit mit ihnen einlassen. Er wusste aus langer, schmerzhafter Erfahrung, wie sinnlos das war.

»Wir haben uns wirklich verirrt«, sagte er noch einmal. »Ihr würdet uns sehr helfen, wenn ihr uns sagt, wo wir sind und wie wir hier herauskommen.«

»Ihr seid in Gorywynn«, antwortete der Zwerg. »Genauer gesagt, unter Gorywynn.«

»Die gläserne Stadt?«, fragte Kim fassungslos.

Der Zwerg lachte meckernd. »Ja, ja«, sagte er. »Nur in einem Teil der Stadt, den feine Pinkel wie ihr nicht kennen. Die Teile, in denen euer Dreck und eure Abfälle gesammelt werden.«

»Und was tut ihr hier?«, fragte Kai.

»Was geht dich das an?«, schnappte der Zwerg.

»Du hast Recht«, sagte Kim rasch. Außerdem war die Frage überflüssig. Die Zwerge versuchten den beschädigten Kanal zu reparieren, das war kaum zu übersehen. »Entschuldige. Und wie kommen wir nun hier heraus?«

Der Zwerg antwortete nicht gleich, sondern sah Kai und ihn wieder aus misstrauisch zusammengepressten Augen an. Kim konnte die Nervosität der Zwerge immer deutlicher spüren. Sie benahmen sich wie Ganoven, die auf frischer Tat ertappt worden waren.

»Der zweite Tunnel links«, knurrte der Zwerg schließlich. »Immer geradeaus, bis ihr zu einer runden Höhle mit vielen Zuflüssen kommt. Den, aus dem das meiste Wasser kommt, müsst ihr nehmen. Er führt direkt nach oben.«

»Wenn das nicht stimmt, kommen wir wieder«, drohte Kai.

Der Zwerg kicherte. »Kaum, Tölpel. Ihr findet nicht zurück.« Kim sah sich ein zweites Mal und etwas genauer um. Die Zwerge - es waren mindestens ein Dutzend - starrten Kai und ihn mit mittlerweile offenkundiger Feindseligkeit an. Nicht alle hatten nur Werkzeuge in den Händen. Viele hielten auch kleine oder größere Steinbrocken, die sie aus den Trümmern im Kanal herausgebrochen hatten.

»Was ist hier eigentlich passiert?«, fragte Kim. »Wieso ist die Wand zusammengebrochen?«

»Wieso stellst du so dumme Fragen, Tölpel?«, fragte der Zwerg. »Sie ist eben zusammengebrochen, basta.«

»Und ihr versucht sie zu reparieren«, sagte Kai höhnisch. »Eine große Aufgabe für so kleine Leute.«

»Ihr solltet jetzt gehen«, knurrte der Zwerg. »Wir haben viel zu tun.«

»Das stimmt«, sagte Kim rasch. »Ich danke euch für eure Hilfe.«

Er drehte sich herum, gab Kai einen entsprechenden Wink und steuerte rasch den Stollen an, den der Zwerg ihnen bezeichnet hatte. Erst als sie gute hundert Schritte weit in den Kanal eingedrungen waren und er sich mit einem aufmerksamen Blick davon überzeugt hatte, dass die Zwerge sie auch nicht verfolgten, blieb er stehen und wandte sich in zornigem Ton an Kai.

»Bist du verrückt geworden?«, schnappte er. »Was ist in dich gefahren? Wolltest du die Zwerge provozieren?«

»Ich kann Zwerge nicht ausstehen«, antwortete Kai trotzig. »Außerdem hast du ihnen diesen Unsinn doch nicht etwa geglaubt, oder?«

»Welchen Unsinn?«, fragte Kim.

»Dass sie den Kanal reparieren«, sagte Kai verächtlich. »Sie waren dabei, die Stollenwände einzureißen, du Narr!«

»Einzureißen?«, wiederholte Kim ungläubig. »Aber warum sollten sie das tun?«

»Woher soll ich das wissen?« Kai machte ein abfälliges Geräusch. »Warum brauchen Zwerge einen Grund um etwas zu tun? Ich konnte diese Kriecher noch nie leiden. Aber auch damit hat es bald ein Ende.«

»Wieso?«

»Weil all dieses magische Kroppzeug nicht mehr da sein wird, wenn wir erst einmal das Sagen haben«, antwortete Kai. »Die Zeiten der Magie sind vorbei. Und die magischer Wesen auch.«

»Das werden wir sehen«, sagte Kim grimmig.

»Ja«, antwortete Kai. »Das werden wir. Verlass dich darauf.« Sie sprachen kein Wort mehr miteinander, bis sie die Oberfläche erreichten.

Der Zwerg hatte ihnen den Weg durchaus richtig beschrieben. Was er nicht gesagt hatte, war, dass sie weit über eine Stunde brauchten, um die Abzweigung zu erreichen, und noch länger, um den Ausstieg zur Oberfläche zu bewerkstelligen.

Vollkommen erschöpft und so verdreckt, dass vermutlich selbst ihre besten Freunde Mühe gehabt hätten sie zu erkennen, krochen sie am späten Nachmittag hintereinander aus einem Abflussschacht.

Kim ließ sich einfach da, wo er war, zu Boden sinken, drehte sich auf den Rücken und tat für Minuten nichts anderes als einfach dazuliegen, die Wärme des Sonnenlichts auf dem Gesicht zu spüren und die herrliche, frische Luft zu genießen, die er in tiefen Zügen in die Lungen sog. Er spürte erst jetzt wirklich, wie dunkel und feucht es dort unten gewesen war und wie schlecht und verbraucht die Luft.

Erst nach einer geraumen Weile öffnete er wieder die Augen, setzte sich auf und sah sich um.

Sie befanden sich in Gorywynn, der gläsernen Stadt, ganz wie der Zwerg gesagt hatte, und doch hatte er fast Mühe, sie zu erkennen.

Gorywynn war immer die Zierde Märchenmonds gewesen, eine gewaltige Stadt aus verschiedenfarbigem Glas, die funkelte wie Kristalle und deren Schönheit und Pracht selbst im entlegensten Winkel des Landes gerühmt wurden.

Nun lag sie in Trümmern.

Im allerersten Moment glaubte Kim, dass der Krieg auch die gläserne Stadt erreicht hätte, aber er sah bald, dass es nicht die Spuren gewaltsamer Zerstörung waren, die er sah.

Gorywynn war verlassen. Die Häuser, Türme und Paläste standen leer und der Verfall hatte nach Gorywynn gegriffen. Doch es sah aus, als wäre die gläserne Stadt schon vor Jahrhunderten verlassen und aufgegeben worden, nicht erst vor kurzer Zeit.

»Was ist denn hier nur passiert?«, murmelte er fassungslos.

Er hörte, wie Kai hinter ihm aufstand, drehte sich aber nicht nach ihm herum. Sein Blick irrte mit immer größerem Entsetzen über die leer stehenden Gebäude, die geborstenen Wände und eingesunkenen Dächer, das gesprungene Straßenpflaster und den Staub und Unrat, der sich überall angesammelt hatte. Der schimmernde Kristall, aus dem die Stadt erbaut war, hatte fast überall seinen Glanz verloren und wirkte schmutzig und alt.

Gorywynn konnte jedoch nicht ganz verlassen sein. Kim hörte undeutlich ferne Laute, die ihn zumindest hoffen ließen, hier noch auf menschliches Leben zu stoßen.

Er hörte ein Geräusch, dem er im ersten Moment keine Beachtung schenkte. Dann aber drehte er sich doch herum.

Kai hatte sein Schwert gezogen. Die Spitze der Waffe deutete drohend auf Kims Herz.

»Was soll das?«, fragte Kim ruhig. »Wir haben eine Abmachung getroffen.«

Kai nickte. Sein Gesicht starrte so sehr vor Schmutz, dass der Ausdruck darauf kaum zu erkennen war. Dafür war das entschlossene Funkeln in seinen Augen umso deutlicher.

»Waffenstillstand, bis wir aus der Kanalisation heraus sind«, bestätigte er. »Wir sind heraus.«

Kim betrachtete Kai abschätzend. »Ich habe aber keine Waffe«, sagte er.

Kai grinste. »Pech für dich. Und ich bin ganz bestimmt nicht so dumm, mein Schwert einzustecken und mich auf eine Prügelei mit dir einzulassen - falls du darauf spekulierst.«

Das hatte Kim tatsächlich - auch wenn er ganz und gar nicht sicher war Kai tatsächlich überwältigen zu können. Er zuckte mit den Achseln.

»Du wirst mich nicht niederstechen«, sagte er. »Dein Herr will mich lebendig.«

»Aber nicht unbedingt unverletzt«, sagte Kai - und machte einen blitzschnellen Ausfall, mit dem er Kim einen zwar harmlosen, aber heftig schmerzenden Stich im Oberschenkel beibrachte.

Kim fiel mit einem mehr überraschten als wirklich schmerzerfüllten Schrei auf ein Knie herab, presste die rechte Hand auf seinen Oberschenkel und starrte sekundenlang verblüfft auf das hellrote Blut, das zwischen seinen Fingern hervorquoll.

»Warum hast du das gemacht?«, fragte er.

Kai stieß sein Schwert in die Scheide, trat mit einem Schritt neben ihn und riss ihn grob in die Höhe.

»Nur damit du nicht auf dumme Ideen kommst«, sagte er hart. »Aber mach dir keine Sorgen - draußen vor der Stadt wartet ein gutes Pferd auf dich.«

Er stieß Kim vor sich her, musste ihn aber zugleich auch stützen, damit er nicht zusammenbrach. Der Stich in seinem Oberschenkel tat kaum noch weh, aber in seinem Bein war auch keine Kraft mehr.

»Bitte, Kai!«, sagte Kim. »Das ist doch verrückt! Wir sind doch keine Feinde!«

»Ach nein?«, fragte Kai. »Sind wir nicht?«

»Feinde retten sich nicht gegenseitig das Leben, oder? Keiner von uns wäre hier, wenn wir nicht zusammengearbeitet hätten!«

»Das war etwas anderes«, sagte Kai. Seine Stimme klang bei diesen Worten nicht ganz überzeugt. Trotzdem fügte er hinzu: »Außerdem sind wir nur durch deine Schuld überhaupt erst in Gefahr geraten.«

»Das klingt ziemlich nach einer Entschuldigung, meinst du nicht selbst?«, fragte Kim.

Kai ließ einen zornigen Laut hören und stieß ihn ein bisschen heftiger an, als nötig gewesen wäre. »Hör auf zu quatschen«, sagte er grob. »Ich an deiner Stelle würde mich ein wenig beeilen. Dein Bein blutet ganz schön, weißt du?«

»O ja, und ihr habt bestimmt einen alten und erfahrenen Arzt bei euch, wie?«

»Wir haben Verbandszeug«, knurrte Kai. »Das wird reichen.« Kim humpelte mühsam weiter - mühsamer, als eigentlich notwendig gewesen wäre. Sein Bein schmerzte jetzt kaum noch und auch das Schwächegefühl war nicht mehr so schlimm wie bisher. Trotzdem machte er sich nichts vor. Die Verletzung war vielleicht nicht schwer, ließ aber jeden Fluchtversuch von vornherein aussichtslos werden. Kais Angriff war sicher heimtückisch gewesen, hatte seinen Zweck aber erfüllt.

Die Geräusche, die er vorhin schon gehört hatte, wurden nun lauter. Sie erreichten das Ende der Straße und standen plötzlich vor einem großen, halbrunden Platz, auf dem sich ihnen ein Anblick bot, der Kim im ersten Moment vollkommen überraschte.

Mehrere Dutzend Männer, Frauen, aber auch Kinder und Alte waren damit beschäftigt, einen kleinen Markt auf dem Platz aufzuschlagen. Nichts an diesem Anblick war irgendwie ungewöhnlich - aber Kim hätte kaum noch zu hoffen gewagt, etwas so Normales noch einmal zu Gesicht zu bekommen.

»Was ist denn hier los?« Kai runzelte überrascht die Stirn.

»Sieht so aus, als wäre eure kleine Revolution noch nicht überall ausgebrochen«, sagte Kim. Er wollte weitergehen, aber Kai hielt ihn grob an der Schulter zurück.

»Du bleibst hier!«, sagte er. »Es gibt noch andere Wege aus der Stadt!«

»Kaum«, antwortete Kim und griff nach Kais Arm.

Der junge Steppenreiter reagierte genauso, wie er erwartet hatte: Er versuchte seinerseits nach Kims Arm zu greifen und machte gleichzeitig einen Schritt zurück und Kim folgte ihm blitzschnell nach, verdrehte seinen Arm und brachte ihn mit einem harten Ruck aus dem Gleichgewicht. Kai machte ein ziemlich überraschtes Gesicht, als er plötzlich den Boden unter den Füßen verlor und einen fast albern aussehenden halben Salto schlug.

Kim wartete nicht ab, bis er auf den Boden knallte, sondern fuhr herum und humpelte los, so schnell er konnte. Sein Bein begann augenblicklich wieder zu schmerzen und die Stichwunde blutete heftiger. Trotzdem biss er die Zähne zusammen und versuchte sein Tempo sogar noch zu erhöhen; wenn auch nur mit mäßigem Erfolg.

Hinter ihm begann Kai zornig zu brüllen und Kim konnte hören, wie er sich aufrappelte und zur Verfolgung ansetzte.

Aber der kurze Zwischenfall war auch auf dem Markt nicht unbemerkt geblieben. Fast alle hatten ihre Arbeit unterbrochen und sahen fragend oder auch verärgert in ihre Richtung. »Bleib stehen!«, schrie Kai. »Du sollst stehen bleiben, verdammt!«

Kim blieb nicht stehen, sondern humpelte im Gegenteil sogar noch schneller und begann zu schreien und mit den Armen zu winken.

»Hilfe!«, brüllte er. »Er will mich umbringen!«

Möglicherweise klangen seine Worte nicht besonders glaubhaft - aber sein heftig blutendes Bein wirkte dafür umso überzeugender. Einige Männer ließen von ihrer Arbeit ab und liefen auf ihn zu. Kim legte noch einen letzten, fast verzweifelten Endspurt ein, stolperte und fiel schmerzhaft auf die Knie. Aber er war in Sicherheit. Kai hatte ihn zwar beinahe eingeholt, aber auch die Männer waren heran.

»Was ist hier los?«, herrschte einer von ihnen. »Was soll der Unsinn?«

»Helfen Sie mir!«, keuchte Kim. »Er will mich umbringen! Er ist völlig verrückt geworden!« Er übertrieb hoffnungslos, aber seine Worte taten ihre Wirkung. Zwei der Männer traten mit raschen Schritten zwischen ihn und Kai und auch die Übrigen nahmen eine eindeutig drohende Haltung an.

»Was geht hier vor?«, fragte der Mann, der zuerst gesprochen hatte. »Seid ihr übergeschnappt?«

»Misch dich nicht ein!«, antwortete Kai trotzig. In seinen Augen funkelte es kampfeslustig und seine rechte Hand lag auf dem Schwertgriff.

»Wie bitte?«, fragte der Mann. Sein Gesicht verfinsterte sich. »Was fällt dir ein, Bürschchen? Hüte deine Zunge oder ich ziehe dir den Hosenboden stramm!«

»Der Kerl lügt!« Kai deutete anklagend auf Kim. »Ich habe ihm nichts getan. Er hat -«

»Er«, unterbrach ihn der Mann scharf, »blutet. Und du hast ein Schwert, das ziemlich locker zu sitzen scheint. Also erzähl mir nicht, dass er lügt, sondern sag mir lieber, was hier los ist!«

»Das geht euch gar nichts an«, antwortete Kai trotzig. »Ich sage es euch nicht noch einmal: Mischt euch nicht ein!«

Und damit legte er die Hand um den Griff seines Schwertes. Die Reaktion des Mannes war jedoch ganz anders, als Kim - und auch Kai - erwartet hatte. Er starrte Kai eine Sekunde lang aus aufgerissenen Augen an - und begann dann schallend zu lachen.

»Mach dich nicht lächerlich, Jungchen«, sagte er. »Geh nach Hause und leg das Schwert zurück, ehe dein Vater merkt, dass du es genommen hast.«

Kais Miene verdüsterte sich noch mehr. Er hatte das Schwert halb aus der Scheide gezogen, doch angesichts der Übermacht, der er gegenüberstand, war er allerdings klug genug die Bewegung nicht zu Ende zu führen.

»Sei vorsichtig, Derk«, sagte einer der anderen Männer. »Vielleicht ist das einer von ihnen.«

»Glaube ich nicht«, sagte Derk. Trotzdem spannte sich seine Erscheinung sichtbar und er betrachtete Kai mit neuer Aufmerksamkeit. »Ist das wahr?«, fragte er. »Gehörst du zu diesen Verrückten?«

»Und wenn?«, fragte Kai patzig.

»Dann solltest du lieber machen, dass du wegkommst«, grollte Derk. »Ihr habt in der Stadt nichts zu suchen.« Er fuhr auf dem Absatz herum und funkelte Kim an. Alle Freundlichkeit war aus seinem Blick gewichen - und auch jede Spur von Mitleid. »Und das gilt auch für dich. Verschwinde von hier. Wir haben mit eurem Streit nichts zu schaffen.«

»Ich gehöre nicht zu ihm«, beteuerte Kim. »Und außerdem kann ich kaum laufen. Ich bin verletzt!«

Derk gab einem der anderen einen Wink. »Verbindet sein Bein«, sagte er. »Und dann jagt ihn davon!«

Kim schwieg vorsichtshalber. Derk und die anderen waren sehr zornig, das spürte er. Offensichtlich hatten sie mit Kais Leuten keine besonders guten Erfahrungen gemacht. Und auch ihm war klar, dass es sinnlos sein musste, seine Unschuld weiter zu beteuern. Er war in Kais Alter und unter all dem Schmutz trug er sogar die gleiche Art von Kleidung. Wie konnten sie ihm also glauben? Er an ihrer Stelle hätte es auch nicht getan.

Kai zögerte noch einen letzten Moment, aber dann stieß er das Schwert mit einem Ruck in die Scheide zurück, warf ihm noch einen Unheil verheißenden Blick zu und drehte sich dann mit einer abrupten Bewegung herum um zu gehen. Doch er würde wiederkommen. Und wahrscheinlich eher, als Kim lieb war. Kim stand auf, humpelte zu einem der Marktstände und ließ es zu, dass eine der Frauen ein Messer nahm und sein Hosenbein vollends auftrennte. Drei oder vier Kinder standen wortlos dabei und gafften, während die Frau mit schnellen, aber nicht besonders sanften Bewegungen einen Verband an seinem Oberschenkel anlegte.

»Der Stich ist nicht schlimm«, sagte sie, als sie fertig war. »Es wird wehtun, aber wenn du die Wunde sauber hältst, wird sie gut heilen.«

»Danke«, murmelte Kim.

Die Frau schüttelte seufzend den Kopf. »Das kommt davon, wenn Kinder Krieg spielen«, sagte sie.

»Ich habe nichts mit dem Magier der Zwei Berge zu schaffen«, sagte Kim.

Die Frau wollte antworten, aber Derk rief von weitem: »Sprich nicht mit ihm! Er soll verschwinden!«

Kim wollte der Frau keine Schwierigkeiten bereiten und so nickte er nur dankbar, stand auf und humpelte los.

Er war kaum fünf Schritte weit gekommen, als hinter ihm schon wieder Lärm aufkam: Schreie, ein Scheppern und Bersten und das Geräusch eisenbeschlagener Hufe. Erschrocken fuhr er herum, darauf gefasst, Kai zu erblicken, der mit Verstärkung zurückkam.

Es war nicht Kai.

Es war viel schlimmer.

Mindestens ein Dutzend Reiter in schweren Kettenhemden und Helmen sprengte rücksichtslos über den Platz heran, wobei sie alles und jeden niederritten, der ihnen im Weg war. Männer und Frauen sprangen entsetzt beiseite, Marktstände und Karren stürzten um und gingen zu Bruch und immer mehr und mehr Reiter tauchten am Ende des Platzes auf, eine regelrechte kleine Armee. Angeführt wurde sie von einem riesenhaften, bärtigen Reiter, der sein Schwert auf dem Rücken trug. Kim kannte ihn. Es war der Mann, mit dem er im Wirtshaus aneinander geraten war und der sich mit Kai die Schlacht bei der Fähre geliefert hatte.

Kim begann zu rennen. Hinter ihm wurde ein ganzer Chor wütender Stimmen laut, dazu Geräusche wie von einem Kampf, aber er sah nicht zurück, sondern rannte, so schnell er konnte.

Er hatte den Platz schon zu einem Gutteil überquert und beinahe die Seitenstraße erreichte, als ihn der erste Reiter einholte. Unmittelbar hinter ihm dröhnten plötzlich eiserne Pferdehufe auf Glas. Kim spürte die Bewegung mehr, als er sie sah, warf sich instinktiv zur Seite und entging so um Haaresbreite einer riesigen Hand, die nach ihm griff. Er verlor durch die abrupte Bewegung aber auch das Gleichgewicht, sodass er ungeschickt gegen die Wand fiel, während der Reiter an ihm vorüberpreschte und dabei versuchte sein Pferd wieder herumzureißen.

Die Gasse, in die sich Kim geflüchtet hatte, war so schmal, dass der Mann damit einige Schwierigkeiten haben würde, aber dieser Vorteil nutzte Kim nicht viel. Hinter ihm jagten bereits weitere Reiter heran.

Ohne nachzudenken, was er tat, raste Kim quer über die Straße und stürzte durch die erstbeste offen stehende Tür. Das Haus dahinter war dunkel und so leer, dass seine Schritte lange, unheimlich nachhallende Echos aus den gläsernen Fliesen schlugen. Kim blickte im Laufen zurück und sah, dass einer der Reiter ihm folgte. Aber der Mann hatte die Höhe der Tür falsch eingeschätzt. Er prallte wuchtig gegen den Türsturz, wurde rücklings aus dem Sattel geschleudert und riss im Fallen noch zwei seiner Begleiter aus den Sätteln.

Die Ungeschicklichkeit seiner Verfolger verschaffte ihm wieder einige Sekunden Vorsprung. Er raste durch die Eingangshalle, sprang durch die erste Tür, die er sah, und durchquerte drei, vier Räume, jagte eine Treppe hinauf und eine zweite wieder hinab und erreichte schließlich die Rückseite des Gebäudes. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sprang er aus dem Fenster und fand sich in einer noch schmaleren, düsteren Gasse wieder. Er hörte noch immer aufgeregte Rufe und das helle Klappern zahlreicher Pferdehufe, allerdings ein gutes Stück entfernt. Die Verfolger würden außen um den gesamten Block herumreiten müssen, sodass sein Vorsprung wieder ein gutes Stück größer geworden war.

Allerdings war er nicht sicher, dass es reichte. Die Verfolger waren in gewaltiger Überzahl. Sie waren beritten und wussten ziemlich genau, wo sie nach ihm zu suchen hatten, während er verletzt und am Ende seiner Kräfte war und noch dazu völlig desorientiert. Er wusste, wohin er wollte - nämlich zu Themistokles' Palast -, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, in welcher Richtung er lag.

Kim wandte sich nach links und humpelte auf das Ende der Gasse zu. Er erreichte es unbehelligt, trat auf einen weiteren, allerdings wesentlich kleineren Platz hinaus und sah nach oben. Im ersten Moment erkannte er nichts als ein scheinbar sinnloses Durcheinander aus Erkern, Zinnen, Dächern und Türmen, die bizarr geformte, aber trotzdem charakteristische Spitze von Themistokles' Zauberturm.

Sie schien unendlich weit entfernt.

Kim stöhnte innerlich vor Enttäuschung, biss aber die Zähne zusammen und versuchte nicht auf den immer heftiger werdenden Schmerz in seinem Bein zu achten, sondern stattdessen in einen gleichmäßigen, möglichst kräftesparenden Trab zu verfallen. Trotz allem kannte er sich in Gorywynn aus, was auf seine Verfolger vermutlich nicht zutraf; wenigstens nicht auf alle. Mit ein bisschen Glück konnte er die innere Mauer und damit den Palast des Zauberers erreichen.

Er überquerte den Platz und brachte weitere vier oder fünf Straßen hinter sich ohne entdeckt zu werden, doch als er sich dem inneren, weit höheren Mauerkreis Gorywynns näherte, sah er ein, dass all seine Mühe umsonst gewesen war.

Seine Verfolger warteten bereits auf ihn.

Gorywynn war eine wunderschöne, aber auch äußerst wehrhafte Burg. Die Straßen der Stadt endeten gute hundert Schritte vor dem inneren Verteidigungskreis mit seinen Mauern und Wassergräben. Der Bereich dazwischen war vollkommen leer um möglichen Feinden im Falle eines Angriffs keine Deckung zu bieten.

Aber er bot auch keine Deckung vor den gut zwei Dutzend Reitern, die vor dem offen stehenden Tor Aufstellung genommen hatten und offenbar auf ihn warteten.

Für einen Moment war Kim der Verzweiflung nahe. Es war vorbei. Er war am Ende seiner Kräfte, er war verletzt und es gab nichts mehr, wohin er noch fliehen konnte. Vor ihm befand sich eine Menge Reiter, aber es waren noch lange nicht alle von denen, die er auf dem Marktplatz gesehen hatte. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wo die anderen gerade waren: Sie durchkämmten die Stadt und suchten nach ihm.

Das Schlimmste war, dass er der Rettung schon so nahe gewesen war! Lächerliche hundert Schritte weiter und er wäre in Sicherheit gewesen!

Ein goldener Funke senkte sich vom Himmel herab und landete zielsicher auf seiner Schulter.

»Kim?«, piepste Twix. »Bist du das?«

»Wer soll es denn sonst sein?«, fragte Kim. Trotz des Ernstes seiner Lage entlockte ihm die Frage der winzigen Elfe ein Lächeln.

»Ich frage ja nur«, sagte Twix. »Du sprichst wie er und du siehst auch fast so aus wie er ... aber du riechst nicht wie er. Ehrlich gesagt, riechst du wie -«

»Ich weiß, wie ich rieche«, unterbrach sie Kim hastig. »Das ist eine lange Geschichte. Erzähl mir lieber, wie du mich gefunden hast.«

»Keine Ahnung«, gestand Twix. »Vielleicht hatte ich nur Glück. Du warst sehr lange weg. Ich dachte schon, ich schaffe es nicht mehr. Meine Kräfte versagen schnell, wenn du nicht in der Nähe bist.«

Kim musterte die Elfe mit einer Mischung aus Sorge und einer neu aufkeimenden, wenn auch schwachen Hoffnung.

»Kannst du fliegen?« Er deutete auf die Festung. »Nur bis dorthin.«

»Klar«, antwortete Twix großspurig. »Überhaupt kein Problem. Was soll ich tun?«

»Du musst Themistokles, den Zauberer suchen. Du hast doch schon von ihm gehört, oder?«

»Jeder hat schon von dem berühmten Themistokles gehört«, antwortete Twix in einem Ton, als hätte Kim gefragt, ob die Sonne am Morgen eigentlich auf- oder unterging. Dann fügte sie hinzu: »Wer ist das?«

»Such ihn einfach«, seufzte Kim. »Jedermann dort drinnen kennt ihn. Es ist sein Palast, weißt du? Sag ihm, dass ich hier draußen bin und seine Hilfe brauche.«

»Wozu?«, fragte Twix.

»Sag es ihm einfach«, bat Kim. »Und bitte: beeil dich.«

»Klar«, versicherte Twix, machte aber trotzdem keine Anstalten, Kims Bitte nachzukommen, sondern hüpfte stattdessen aufgeregt auf seiner Schulter auf und ab. »Dieser Themistokles ist wirklich ein leibhaftiger Zauberer? Ich meine, ich habe noch nie einen richtigen Zauberer getroffen. Keinen, der wirklich zaubern konnte, weißt du? Viele produzieren ein bisschen Blitz und Donner und machen allen möglichen Hokuspokus, aber -«

»Twix!«

Twix schwieg, aber nur für einen kurzen Moment, dann fuhr sie fort: »Du glaubst ja nicht, wer sich so alles Zauberer nennt! Ich habe Typen erlebt, die -«

»Lass dir ruhig Zeit«, sagte Kim. »Ich warte übrigens noch auf Pack und die Spinne. Ich schätze, sie sind auf dem Weg hierher.«

Twix verschwand so schnell, dass Kim ihr kaum mit Blicken zu folgen vermochte.

Er wartete. Natürlich musste er sich in Geduld fassen. Twix würde Zeit brauchen um Themistokles zu finden und vermutlich noch sehr viel mehr Zeit um dem Zauberer zu erklären, was er überhaupt von ihm wollte - falls sie es bis dahin nicht vergessen hatte.

Er wich noch ein Stück weiter in den Schutz der letzten Häuser zurück, sah sich nach allen Seiten um und duckte sich schließlich in einen Hauseingang.

Keinen Moment zu früh. Hinter ihm wurde Hufschlag laut, dann sprengte fast ein halbes Dutzend Reiter an ihm vorbei; nahe genug, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte um sie zu berühren.

»Habt ihr ihn?«, drang eine Stimme vom Platz herüber.

»Nein«, schrie einer der Reiter in vollem Galopp zurück. »Die Stadt ist einfach zu groß! Wir haben einen Boten nach draußen geschickt, um die Hunde aus dem Lager zu holen!« Die Reiter gerieten rasch außer Hörweite, aber Kim hatte auch genug gehört. Hunde! Das war genau das, was ihm jetzt noch fehlte! Wenn sie mit Hunden nach ihm suchten, dann nutzte. ihm das beste Versteck der Welt nichts mehr!

Voller Ungeduld sah er zur Festung hin. Wo blieb Themistokles?

Kim wartete eine gute Dreiviertelstunde, ohne dass sich hinter den weit offen stehenden Toren irgendetwas rührte, und er musste sich in dieser Zeit zweimal tiefer in seine Deckung zurückziehen, weil weitere Reiter an ihm vorüberjagten. Seine Verfolger meinten es wirklich ernst.

Schließlich aber änderte sich die Situation - wenn auch ganz und gar nicht so, wie Kim es sich gewünscht hätte.

Er hörte wieder Hufschläge und wich tiefer in den Schutz der Toreinfahrt zurück, deren Schatten ihn schon dreimal vor der Entdeckung bewahrt hatten.

Diesmal jedoch sprengten keine weiteren Reiter an ihm vorüber. Trotzdem wurde der Hufschlag lauter. Kim wartete einen Moment, dann bewegte er sich vorsichtig aus seinem Versteck heraus und lugte um die Ecke.

Die Anzahl der Reiter auf dem Platz hatte sich mehr als verdoppelt. Kai war zurückgekommen. Und er hatte eine Menge Freunde mitgebracht.

Die beiden ungleichen Heere - Kais weiß gekleidete Reiter waren den anderen an Zahl mindestens um das Dreifache überlegen und sie erhielten noch immer laufend Verstärkung - standen sich an zwei Seiten des Platzes gegenüber. Kai und der bärtige Anführer der anderen Truppe hatten sich in der Mitte des Platzes getroffen und stritten offenbar heftig miteinander. Die Feindseligkeit, die in der Luft lag, war fast greifbar. »Gleich schlagen sie sich die Schädel ein«, sagte eine Stimme hinter Kim. »Wer weiß - vielleicht wäre das nicht die schlechteste Lösung.«

Kim fuhr erschrocken herum und blickte in ein Gesicht, das ihm unter etwas weniger dramatischen Umständen wahrscheinlich zum Lachen gereizt hätte.

Der Junge musste ungefähr in seinem Alter sein. Er war ein gutes Stück größer als Kim. Dabei aber so dürr, dass Kim sich fragte, wieso er eigentlich nicht bei der ersten unvorsichtigen Bewegung in der Mitte durchbrach. Sein Gesicht war blass und schmal, aber über und über mit Sommersprossen gesprenkelt und er schielte ein bisschen. Seine Kleider bestanden nur aus Fetzen, machten aber sonderbarerweise trotzdem einen fast vornehmen Eindruck. Das Eigenartigste aber waren seine Haare. Sie waren feuerrot, fast schon leuchtend, und standen buchstäblich in allen Richtungen von seinem Kopf ab; wie bei einer Comicfigur, die in eine Steckdose gegriffen hat, dachte Kim.

»Wer ... wer bist du?«, fragte er, sah sich hastig um und fügte hinzu: »Und wo kommst du her?«

»Mein Name ist Sturm«, antwortete der sommersprossige Junge. Kims zweite Frage ließ er unbeantwortet. Stattdessen stellte er seinerseits eine Frage:

»Was tust du hier? Falls du es noch nicht gemerkt hast: Hier wird es gleich ziemlich ungemütlich. Mit den Burschen da ist nicht zu spaßen.«

»Ich weiß«, antwortete Kim. »Und ich fürchte sogar, es ist meine Schuld, dass sie überhaupt hier sind.«

Sturm sah ihn einen Moment verständnislos an, aber dann hellte sich sein Gesicht auf. »Du bist der, den sie suchen.«

»Woher weißt du das?«, fragte Kim.

Sturm lachte. Ein plötzlicher Windstoß fauchte durch die Straße und riss Kim beinahe von den Füßen. »Du bist gut!«, sagte er. »Die ganze Stadt spricht über nichts anderes. Sie haben den Burgfrieden gebrochen, nur um dich in die Hände zu bekommen! Was ist an dir eigentlich so verdammt wichtig?«

Kim schwieg und Sturm nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Und was hast du jetzt vor?«

»Ich muss zu Themistokles«, sagte Kim.

Sturm ächzte. »Dort hinein?«

Er deutete auf das Tor. Kai und der Bärtige standen sich noch immer hoch zu Ross gegenüber und schrien sich wild gestikulierend Drohungen zu. Auf der einen Seite des Platzes standen mindestens fünfzig, auf der anderen Seite an die zweihundert Reiter, bereit beim geringsten Anlass ihre Waffen zu ziehen und übereinander herzufallen.

Kim nickte und Sturm sagte kopfschüttelnd: »Dann hast du ein Problem!«

»Ja«, sagte Kim leise. »Aber ich will dich nicht mit hineinziehen. Verschwinde lieber.«

»Wieso?«

»Du hast es doch selbst gesagt«, antwortete Kim. »Es könnte gefährlich werden.«

»Gefahr ist mein Lebenselixier«, behauptete Sturm großspurig. »Wenn du unbedingt in die Festung willst, dann bringe ich dich hinein.«

Kim sah den sommersprossigen Burschen spöttisch an. »Ach, und wie, wenn ich fragen darf?«

»Gib mir einen Moment Zeit«, sagte Sturm. »Ich lasse mir etwas einfallen.«

Kim schüttelte den Kopf, aber er sagte nichts, sondern sah sich mit wachsender Nervosität um. Der Wind hatte nicht nachgelassen, sondern eher noch an Kraft zugenommen; eigentlich zum ersten Mal, seit Kim in Märchenmond angekommen war. Sturms Fetzenkleider befanden sich in ununterbrochener flatternder Bewegung, sodass es fast aussah, als lebten sie. Und die Brise flaute nicht etwa ab, sondern schien im Gegenteil beständig zuzunehmen.

»Also gut«, sagte Sturm. »Gehen wir.«

Er deutete auf die schmale Gasse zwischen den beiden Heeren und Kim starrte ihn fassungslos an. »Ist das etwa dein famoser Plan?«, ächzte er.

»Die einfachsten Ideen sind oft die besten«, antwortete Sturm, deutete grinsend nach oben und wurde dann schlagartig wieder ernst. »Hier wird es gleich ziemlich ungemütlich. In ein paar Minuten werden deine Freunde ganz andere Sorgen haben als nach dir zu suchen.«

Damit hat er wahrscheinlich Recht, dachte Kim. Der Wind wurde immer heftiger, sodass er schon fast Mühe hatte, ruhig auf der Stelle zu stehen. Der Himmel über Gorywynn bezog sich mit fast unheimlicher Schnelligkeit mit schweren, dunklen Regenwolken. Über der gläsernen Stadt braute sich ein Unwetter zusammen.

»Also los!« Sturm versetzte ihm einen Stoß, der ihn aus der Straße heraus und ein paar Schritte auf den Platz hinaus taumeln ließ, bevor er sein Gleichgewicht wieder fand, und das reichte. Zahlreiche Köpfe auf beiden Seiten wandten sich in ihre Richtung und Kim hätte Kais überraschten Ausruf nicht einmal mehr hören müssen um zu begreifen, dass er entdeckt worden war.

Eine neuerliche, noch stärkere Windböe traf ihn wie ein Faustschlag im Rücken und ließ ihn weitertaumeln, zu seinem eigenen Entsetzen auf die beiden verfeindeten Heere zu.

Er konnte nicht mehr zurück, also hörte er auf gegen den Wind anzukämpfen, sondern setzte alles auf eine Karte und rannte auf die Reiter zu. Die Verblüffung über diese so offensichtlich irrsinnige Aktion verschaffte ihm eine weitere Sekunde, in der ihm die Reiter einfach nur verwirrt anstarrten, dann aber setzten sich zahlreiche Männer und Jungen in Bewegung und sprengten auf ihn los.

Nicht einer kam ihm auch nur nahe.

Ein gewaltiger Donnerschlag ließ die gesamte Stadt erbeben und gleichzeitig heulte ein Sturmböe über den Platz, wie Kim sie noch nie erlebt hatte. Er wurde von den Füßen gerissen und schlitterte hilflos meterweit über das gläserne Pflaster, aber er war nicht der Einzige, dem es so erging. Etliche Reiter wurden einfach aus den Sätteln geblasen, viele andere stürzten zu Boden, als sich ihre Pferde aufbäumten und sie abwarfen. Und der Sturm wurde mit jeder Sekunde stärker. Kim stemmte sich mühsam auf Hände und Knie hoch, aber nur um sofort von einer weiteren Böe gepackt und noch härter zu Boden geschleudert zu werden. Das Brüllen des Sturmes wurde zu einem Kreischen und Heulen, das jeden anderen Laut erstickte und fast in seinen Ohren wehtat. Er konnte kaum noch sehen. Rings um ihn herum herrschte das reinste Chaos. Pferde bäumten sich auf und warfen ihre Reiter ab, Männer und Jungen torkelten mit hilflos wirbelnden Armen vorüber oder schlitterten über den spiegelglatten Boden, losgerissenes Sattelzeug und Waffen flogen wie tödliche Geschosse durch die Luft. Aus dem Sturm war ein Orkan geworden und seine zerstörerische Gewalt nahm mit jeder Sekunde noch mehr zu.

Dann sah er etwas, was ihn für einen Moment an seinem Verstand zweifeln ließ.

Seit der Orkan losgebrochen war, waren allerhöchstens fünf Sekunden vergangen. Trotzdem war auf dem großen Platz weder Mensch noch Tier auf den Beinen.

Niemand - außer Sturm.

Der Junge marschierte hoch aufgerichtet und fast gemächlich heran. Seine Kleider umflatterten ihn, als wollten sie sich von ihm losreißen, aber ihn selbst schien der höllische Wind nicht einmal zu berühren. Vielleicht ist er so dünn, dass der Wind einfach durch ihn hindurchpfeift, dachte Kim.

Grinsend und mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen ging Sturm an ihm vorüber. »Worauf wartest du?«, schrie er über das Heulen des Sturmes hinweg. »Auf eine schriftliche Einladung?«

Kim stemmte sich erneut in die Höhe und irgendwie gelang es ihm sogar, auf die Füße zu kommen und auch nicht gleich wieder zu Boden geschleudert zu werden. Schräg nach vorne gebeugt und mit schützend vor das Gesicht gehobenen Armen taumelte er auf das Festungstor zu.

Der Sturm nahm immer noch an Gewalt zu. Überall entstanden winzige Windhosen und Wirbel, die diejenigen, die das Pech hatten in ihrer Bahn zu sein, manchmal meterweit in die Höhe schleuderten. Trotzdem war Kim mittlerweile nicht der Einzige, der wieder auf den Füßen war. Nur ein Stück entfernt kämpfte sich Kai heran und auch der Bärtige trotzte dem Orkan und näherte sich, zwar taumelnd und mit verzerrtem Gesicht, aber beharrlich.

Kim erreichte das Tor, torkelte hindurch - und verlor mit einem überraschten Schrei das Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin, als die unsichtbare Gewalt, gegen die er ankämpfte, mit einem Mal nicht mehr da war. Im selben Moment, in dem er das Tor durchschritten hatte, hatte der Sturm wie abgeschnitten aufgehört.

Kai und dem Bärtigen erging es nicht anders, aber sie waren beide eher wieder auf den Beinen als er. Als Kim sich aufrappelte, richteten sich gleich zwei Schwerter auf ihn.

»Toller Trick!«, knurrte Kai. »Bei Gelegenheit musst du mir einmal erzählen, wie du das gemacht hast.«

»Verschwinde!«, sagte der Bärtige. Sein Schwert richtete sich für einen Moment drohend auf Kai und schwenkte dann wieder in Kims Richtung. »Er gehört mir!«

»Fällt mir nicht ein«, antwortete Kai trotzig. »Überleg dir lieber, was du tust, Wolf. Ich weiß, dass ich dir nicht gewachsen bin, aber wir sind in der Überzahl. Ihr kommt nicht aus der Stadt heraus.«

»Das kommt auf einen Versuch an«, knurrte Wolf.

»Ähem ... entschuldigt, wenn ich mich einmische«, sagte Kim. »Aber könnte ich vielleicht gehen, während ihr euch darüber einigt, wer mir den Schädel einschlagen darf?«

»Du verstehst offenbar immer noch nicht«, sagte Kai nervös. »Wir wollen dir nichts tun. Unser Herr will nur mit dir reden, das ist alles. Sie -« Er deutete auf Wolf, »-werden dich töten.«

»Hier wird niemand getötet«, sagte eine dröhnende Stimme hinter ihm. »Außer euch dreien vielleicht. Was habt ihr hier zu suchen?«

Kim drehte sich herum. Eine riesenhafte Gestalt war auf dem Hof erschienen. Der Mann war viel, viel größer als jeder andere Mensch, dem Kim je begegnet war, und so breitschultrig, dass sich zwei Männer von Wolfs Gestalt hinter ihm hätten verstecken können. Sein Gesicht war verwittert und von unzähligen Runzeln und Falten durchzogen, die zum Teil so tief waren, dass sie wie Narben wirkten. Er hatte einen bis auf die Brust reichenden grauen Bart und schulterlanges grauweißes Haar. Das Beeindruckendste an ihm waren die Hände: Sie waren so groß wie Schaufeln.

»Verschwindet!«, brüllte er. »Alle! Ihr habt hier nichts verloren!«

»Ich muss unbedingt zu -«, begann Kim.

»Du musst verschwinden!«, schrie ihn der Riese nieder. »Keiner von euch darf hier sein! Ich warne euch nicht noch einmal!«

Kai starrte den Giganten noch einen Herzschlag lang an, aber dann senkte er sein Schwert und tat das wohl einzig Vernünftige: Er suchte sein Heil in der Flucht. Wolf hingegen schürzte kampflustig die Lippen und hob seine Waffe.

Der Riese versetzte ihm mit der linken Hand eine Ohrfeige, die ihn heulend zurücktaumeln ließ, entriss ihm mit der anderen das Schwert und brach es ohne sichtbare Anstrengung entzwei. Wolf ächzte, fuhr herum und rannte davon und der Riese setzte ihm nach und verpasste ihm einen so kräftigen Tritt in den Hintern, dass der Bärtige mehr aus dem Tor flog, als er ging. Dann fuhr der Riese herum und wandte sich mit finsterem Gesichtsausdruck an Kim.

»Und nun zu dir«, grollte er. »Du hast anscheinend besonders schlechte Ohren oder bist noch starrsinniger als deine beiden Freunde. Aber ich werde dir schon Manieren beibringen!«

»Aber ich muss wirklich -«

Er kam auch diesmal nicht dazu, zu Ende zu sprechen. Der Riese streckte den Arm aus, hob ihn ohne die geringste Mühe mit nur einer Hand hoch und warf ihn sich wie einen nassen Sack über die Schulter. Kim schrie, schlug um sich und strampelte wild mit den Beinen, aber der Griff des Riesen war wie Stahl.

»Nun hör mir doch wenigstens zu!«, schrie Kim verzweifelt. »Ich will dir ja erklären, warum ich hier bin!«

»Wirst du wohl still sein, du vorlauter Bengel!«, sagte der Riese. »Ich werde dir erklären, warum du besser nicht hierher gekommen wärst!«

»Aber ich -«

Der Riese versetzte ihm eine Kopfnuss und Kim verstummte endgültig. Ihm brummte der Schädel. Mit dem grauhaarigen Giganten war anscheinend nicht gut Kirschen essen, aber er würde ihn schon nicht gleich umbringen. Außerdem war er nun in der Festung und somit in Themistokles' Nähe. Früher oder später würde er dem Riesen schon klarmachen, wer er war, und vor allem, warum er hier war.

Kim hatte eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Riesen. Sie waren ein lautes, polterndes Volk, das zwar im Grunde herzensgut und sehr friedfertig war, aber zu derben Scherzen neigte. Gorg, sein alter Freund und Kampfgefährte, war ein Paradebeispiel dafür. Er liebte es, den Feigling zu spielen, neigte aber ebenso dazu, mit seinen Kräften zu prahlen und so zu tun, als fräße er mit Vorliebe kleine Kinder zum Frühstück. Wäre der Bursche, der Kim überwältigt hatte, dreißig oder vierzig Jahre jünger gewesen, dann hätte er glatt sein Bruder sein können.

Sie - eigentlich der Riese - betraten das Haus und stürmten eine Treppe hinauf, die allerdings nicht für Riesen gemacht war, sodass der Gigant immer fünf oder sechs Stufen auf einmal nahm und Kims Zähne bei jedem seiner Schritte schmerzhaft aufeinander schlugen.

»Ich muss zu Themistokles«, keuchte er.

»Themistokles?« Der Riese lachte dröhnend. »O ja, er wird dich sehen. Heute Abend, auf seinem Teller, knusprig gebraten und mit einer scharfen Sauce!«

»Hör mit dem Quatsch auf!«, sagte Kim. »Ich weiß, dass ihr Riesen keiner Fliege etwas zuleide tun könnt.«

»Das mag stimmen«, antwortete der Riese. »Dummerweise bist du keine Fliege.«

»Ich muss wirklich mit Themistokles reden«, sagte Kim. »Es ist wichtig!«

»Also gut«, knurrte der Riese. »Dann bringe ich dich zu ihm. Aber zuerst stecke ich dich in einen Zuber mit heißem Wasser. Du stinkst wie eine Kloake!«

Trotz dieser Worte schlug er den direkten Weg zu Themistokles' Zauberturm ein: Quer durch die große Halle und die lange, gewendelte Treppe zur Turmkammer des Magiers hinauf.

Die Treppe schien kein Ende zu nehmen. Sie war Kim niemals auch nur annähernd so lang vorgekommen wie heute.

Aber er hatte die Festung auch noch niemals so erlebt wie heute. Gorywynn war immer voller Leben gewesen und er hatte niemals auch nur einen Tag erlebt, an dem seine gläsernen Mauern nicht Lachen und fröhliche Stimmen zurückgeworfen hätten.

Jetzt herrschte hier eine vollkommene, fast unheimliche Stille. Die Schritte des Riesen schienen der einzige Laut zu sein, den es in der gesamten inneren Festung gab. Selbst das Heulen des Sturmes, das draußen noch laut genug gewesen war um ihm schier das Trommelfell zu zerreißen war hier drinnen nicht mehr zu hören.

Der Riese stürmte weiter die Treppe hinauf, öffnete schließlich eine Tür, indem er grob mit dem Fuß dagegen trat, und marschierte in eine winzige Kammer. Mit Ausnahme eines einzigen Möbelstückes war sie vollkommen leer.

Dieses Möbelstück war ein gewaltiger hölzerner Waschzuber: eine hölzerne Badewanne, die große Ähnlichkeit mit einem in der Mitte durchgesägten Bierfass hatte, aber viel größer war. Sie war fast bis zum Rand mit Wasser gefüllt.

Der Riese stopfte ihn ohne viel Federlesens hinein.

Das Wasser war so kalt, dass Kim im ersten Moment glaubte einen Herzschlag zu bekommen. Er hätte geschrien, aber er konnte es nicht, weil der Riese ihn immer wieder hochhob und untertauchte, genau so, als wäre er ein Wäschestück, das er auswaschen musste. Es dauerte mindestens fünf Minuten, bis er endlich von ihm abließ, sodass Kim wenigstens wieder halbwegs zu Atem kam.

»Bist du ... verrückt?«, japste er atemlos. »Wolltest du mich ... umbringen?«

»Warte ab, bis ich dich auswringe«, knurrte der Riese. Er trat einen Schritt zurück und musterte Kim kritisch.

»Du stinkst immer noch«, sagte er. »Aber du siehst jetzt wenigstens nicht mehr aus wie ein Stück von dem, wonach du riechst. Jetzt können wir zu Themistokles gehen.«

»Das wird aber auch Zeit!«, maulte Kim. »In spätestens zehn Minuten wirst du dich bei mir entschuldigen, das versichere ich dir.«

Er versuchte aus dem Waschzuber zu klettern, aber dem Riesen ging das offensichtlich nicht schnell genug, denn er packte ihn und warf ihn sich erneut über die Schulter. Kim sparte sich den Atem, gegen die grobe Behandlung zu protestieren. Er wusste, dass es ohnehin sinnlos gewesen wäre.

Sie gingen eine weitere Treppe hinauf und betraten einen runden Raum, der das gesamte obere Stockwerk des Turmes einnehmen musste, denn es gab Fenster an allen Seiten. Die Wände waren mit Regalen voll gestellt, auf denen sich eine Unmenge von Büchern, Pergamentrollen und Folianten, aber auch Tiegel, Töpfe und Glaskolben, Säcke und hölzerne Schachteln und tausend andere Dinge stapelten. Themistokles saß an einem riesigen Schreibtisch, der genauso unordentlich war wie seine Regale, und schrieb mit einer Feder in ein riesiges Buch, das aufgeschlagen vor ihm lag. Obwohl er ihnen den Rücken zudrehte, erkannte Kim ihn sofort.

»Was gibt es denn?«, fragte Themistokles ohne sich herumzudrehen oder im Schreiben innezuhalten.

»Ich habe einen von ihnen geschnappt«, polterte der Riese. »Die Burschen werden immer vorwitziger. Sie halten sich nicht einmal mehr an den Burgfrieden. Der hier scheint ein ganz besonders dreistes Früchtchen zu sein.« Er setzte Kim mit einem Ruck zu Boden.

Themistokles seufzte. »Gorg«, sagte er. »Wie oft habe ich dich schon gebeten, dein Spielzeug nicht mit hier herauf zu bringen?«

Er ließ seine Feder sinken, drehte sich in seinem Stuhl herum und lächelte freundlich.

»Hallo, Kim«, sagte er. »Ich muss schon sagen, diesmal hat es ziemlich lange gedauert.«

Geschlagene zehn Sekunden lang stand Kim einfach da und starrte den Zauberer an. Dann drehte er sich langsam herum und maß den bärtigen, grauhaarigen Giganten hinter sich mit einem langen Blick.

»Gorg«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich hätte eigentlich gleich darauf kommen können. Ich kenne nur einen Menschen mit einem so sonderbaren Sinn für Humor.«

»Humor?« Gorg grinste. »Man braucht keinen besonderen Sinn für Humor um zu erkennen, wenn jemand ein Bad nötig hat.«

»Auswringen«, erinnerte Kim.

Gorg grinste noch ein bisschen breiter und zuckte mit den Achseln und dann musste auch Kim lachen. Trotzdem kostete es ihm einige Mühe, sich sein Erschrecken nicht zu deutlich anmerken zu lassen. Es fiel ihm noch immer schwer, zu akzeptieren, dass der uralte Mann vor ihm tatsächlich Gorg sein sollte. Er war noch immer ein Riese. Unter all den Falten und Runzeln in seinem Gesicht waren noch immer die vertrauten Züge und in seinen Augen glitzerte nach wie vor der Schalk. Und wie stark er trotz allem noch war, das hatte Kim vor wenigen Augenblicken am eigenen Leib gespürt.

Das alles änderte aber nichts daran, dass Gorg ein uralter Mann geworden war. Kim schätzte ihn auf mindestens siebzig oder achtzig Jahre und das war noch eine sehr freundliche Schätzung.

Zögernd drehte er sich wieder zu Themistokles herum und unterzog auch ihn einer ausführlicheren Inspektion.

Auch Themistokles hatte sich verändert, allerdings war Kim nicht so leicht in der Lage, diese Veränderung in Worte zu fassen. Themistokles war schon ein uralter Mann gewesen, als sie sich das erste Mal begegnet waren, aber das musste nichts bedeuten; schließlich gebot Themistokles über die geheimen Kräfte der Magie, die auch die Zeit zu beeinflussen vermochten. Trotzdem hatte er sich verändert.

So wie ja überhaupt alles hier irgendwie anders war ...

»Ihr habt also gewusst, dass ich hier bin«, sagte er nach einer Weile.

»Auf dieser Welt geschieht nicht viel, ohne dass ich davon erfahre«, antwortete Themistokles. »Das solltest du wissen.«

»Dann frage ich mich, warum ihr mir nicht entgegengekommen seid«, sagte Kim. »Es war nicht gerade leicht, hierher zu kommen.«

»Ich weiß«, antwortete Themistokles. »Und ich verstehe deinen Ärger. Aber gewisse ... Umstände haben es uns leider unmöglich gemacht, diesen Palast zu verlassen.«

»Gewisse Umstände«, wiederholte Kim. »Sitzen sie auf Pferden, haben Schwerter und Bogen und sind ziemlich streitlustig?«

»So könnte man es ausdrücken«, bestätigte Themistokles mit einem angedeuteten Lächeln. »Aber Gorg und ich waren uns sicher, dass du einen Weg findest um zu uns zu kommen. Wir haben uns nicht getäuscht.«

»Ja«, sagte Kim säuerlich. »Das stimmt. Aber ich hatte Hilfe. Wo wir schon einmal bei diesem Thema sind: Ist die Elfe nicht gekommen?«

»Welche Elfe?«, fragte Themistokles stirnrunzelnd.

»Twix«, antwortete Kim. »Ich hatte sie zu euch geschickt.«

»Es gibt keine Elfen mehr«, sagte Themistokles traurig. Dann deutete er mit dem Daumen über die Schulter zurück und fügte hinzu: »Außer dieser einen da vielleicht.«

Kims Blick folgte der Geste. Auf Themistokles' überquellenden Regalen entdeckte er ein simples Einmachglas, in dem Twix gefangen war. Die Elfe presste das Gesicht gegen das Glas, schlug wild mit den Flügeln und hämmerte mit den winzigen Fäusten gegen die durchsichtigen Wände ihres Gefängnisses.

»Aber das ist sie ja!«, rief Kim.

Themistokles blinzelte. »Oh, tatsächlich? Sie flatterte vor ein paar Minuten durch das Fenster herein. Ich habe sie eingefangen, weil ich dachte, sie würde sich gut auf einem Regal machen.«

Kim trat rasch hin, nahm das Einmachglas vom Regal und öffnete den Deckel. Twix flatterte lauthals schimpfend heraus und landete nach ein paar Schleifen und Kehren auf seiner Schulter.

»Die Kerle haben mich einfach eingefangen!«, beschwerte sie sich. »Sie haben mich nicht einmal zu Wort kommen lassen.«

»Schade«, sagte Gorg enttäuscht. »Sie hätte eine hübsche Lampe abgegeben.«

»Elfen leuchten nicht im Dunkeln, du großer Tölpel!«, belehrte ihn Twix.

»Wenn man sie anzündet, schon«, sagte Gorg ernst.

Twix wurde kreidebleich und Kim drehte sich rasch herum und wandte sich wieder an Themistokles, bevor Gorgs Scherze noch geschmackloser werden konnten.

»Was ist hier nur geschehen, Themistokles?«, fragte er. »Sind hier denn alle verrückt geworden?«

»Das ist eine lange Geschichte, Kim«, antwortete der Zauberer. »Vieles davon weißt du bereits, aber die genauen Zusammenhänge sind nicht so leicht zu erklären. Ich werde es gern versuchen, aber es wird seine Zeit dauern. Du musst müde sein. Warum ruhst du dich nicht erst einmal aus und wir reden heute Abend beim Essen darüber? Ich habe im Moment noch einige wichtige Arbeiten zu erledigen.«

Er deutete auf das aufgeschlagene Buch hinter sich. Kims Blick folgte der Bewegung und er entdeckte etwas wirklich Eigenartiges: Die aufgeschlagene Seite war vollkommen leer. Verwirrt streckte er die Hand aus und blätterte ein paar Seiten zurück. Auch sie waren leer. Das ganze Buch war vollkommen leer.

»Eine wichtige Arbeit?«, fragte er stirnrunzelnd.

Themistokles nickte heftig. »Ich bin der letzte Zauberer Märchenmonds«, sagte er. »Wenn ich irgendwann nicht mehr da bin, dann wird es niemanden mehr geben, der sich auf die alte Kunst der Magie versteht. Deshalb habe ich begonnen all mein Wissen in dieses Buch niederzuschreiben.«

Kim blickte nachdenklich auf die jungfräulichen weißen Blätter hinab.

»Aber es ist völlig leer«, sagte er zögernd.

Themistokles lachte voller gutmütigem Spott. »Das scheint nur so«, sagte er. »Du kannst dir vorstellen, wie gefährlich ein solches Buch wäre, geriete es in die falschen Hände. Aus diesem Grund habe ich natürlich gewisse Vorsichtsmaßnahmen getroffen.«

Er tippte mit dem Zeigefinger gegen das Tintenfass, in das er seine Feder gesteckt hatte. Kim beugte sich vor und stellte fest, dass es ebenfalls leer war.

»Keine Tinte?«, fragte er.

»Unsichtbare Tinte«, verbesserte ihn Themistokles. »Es macht das Schreiben zugegebenermaßen etwas schwierig, aber es verhindert auch, dass jemand meine Zaubersprüche missbraucht.«

»Aha«, sagte Kim. Er war nicht ganz sicher, ob Themistokles ihn nicht einfach auf den Arm nehmen wollte.

»Und wie macht man sie wieder sichtbar?«

»Das habe ich vergessen«, gestand Themistokles, machte aber gleichzeitig eine besänftigende Geste. »Ich weiß, was du sagen willst. Aber keine Sorge. Natürlich habe ich es aufgeschrieben. Gleich auf einer der ersten Seiten.«

Er begann in seinem Zauberbuch zu blättern, warf einen ziemlich ratlosen Blick auf die erste Seite, blätterte weiter, runzelte die Stirn und schlug die nächste Seite auf. Der Ausdruck auf seinem Gesicht schwankte dabei zwischen Ratlosigkeit und Bestürzung.

»Sieht so aus, als hättest du ein Problem«, piepste Twix.

»Nun«, begann Themistokles zögernd. »Ganz so würde ich das vielleicht nicht ausdrücken. Ich sehe es eher als ... intellektuelle Herausforderung.«

»Als was?«, fragte Twix.

»Davon verstehst du nichts«, sagte Kim rasch und wandte sich an Gorg. Der Riese hatte ihnen bisher schweigend zugesehen, aber tief in seinen Augen glaubte Kim einen Ausdruck von Sorge zu erkennen, der ihn erschreckte.

»Ich sollte dir jetzt viel besser dein Zimmer zeigen«, sagte der Riese, als er Kims Blick spürte. »Obwohl du dir eigentlich aussuchen kannst, wo du schlafen willst. Es sind genug Zimmer frei.«

Kim blickte ihn fragend an und Gorg fuhr in erklärendem Tonfall fort: »Der Palast steht zum allergrößten Teil leer. Außer Themistokles und mir sind nicht mehr viele hier.«

Kim drehte sich wieder zu Themistokles um, aber der alte Zauberer war so sehr damit beschäftigt, hektisch in seinem Buch zu blättern, dass er ihn gar nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen schien.

Gorg warf ihm einen bezeichnenden Blick zu und Kim verließ zusammen mit ihm die Turmkammer. Kaum aber waren sie draußen, da hielt er es nicht mehr aus. »Um Himmels willen, Gorg!«, platzte er heraus. »Was geht hier vor? Was ist mit Themistokles geschehen?«

»Er wird alt«, sagte Gorg. »Aber keine Sorge - er ist nicht immer so. An manchen Tagen ist er ganz der Alte.«

»Und an den anderen?«, fragte Kim.

Gorg schwieg.

Aber im Grunde war das schon Antwort genug.

Trotz allem hatte er das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Gorg führte ihn in ein luxuriös ausgestattetes Gästezimmer, das er zu seiner großen Freude als das wieder erkannte, das Rebekka und er während ihres Aufenthalts in Gorywynn bewohnt hatten. Kim verband mit diesen Räumen eine Menge schöner und angenehmer Erinnerungen, sodass er sich fast augenblicklich wieder ein gutes Stück wohler fühlte. Er erhob keine Einwände, als Gorg fragte, ob er ihn für eine Weile allein lassen könne, da noch gewisse Vorbereitungen zu treffen seien, und sich daraufhin zurückzog.

Die behagliche Umgebung, das Gefühl, vielleicht zum ersten Mal wirklich in Sicherheit und bei Freunden zu sein, und nicht zuletzt die Strapazen, die er an diesem Tage überstanden hatte, forderten ihren Preis. Er begann müde zu werden und streckte sich auf dem breiten, frisch bezogenen Bett aus; eigentlich nur um ein wenig auszuruhen.

Natürlich schlief er trotzdem fast auf der Stelle ein. Als er erwachte, war die Sonne untergegangen. Im Zimmer war es trotzdem nicht dunkel, denn jemand hatte mehr als ein Dutzend Kerzen aufgestellt, die ein beruhigendes gelbliches Licht verströmten. Im Kamin brannte ein Feuer, dessen Wärme der durch die offen stehenden Fenster hereinströmenden Kühle des Abends Einhalt gebot, und vermutlich dieselben dienstbaren Geister, die auch die Kerzen aufgestellt und das Feuer im Kamin entfacht hatten, hatten auf einem Schemel neben seinem Bett auch frische Kleider bereit gelegt.

Kim lächelte dankbar und zog sich um, ging aber nicht aus dem Zimmer um Themistokles oder Gorg zu suchen, sondern trat nach kurzem Zögern an eines der Fenster heran. Er hatte fast Angst vor dem, was er sehen würde.

Dabei war es im ersten Moment eigentlich so gut wie nichts. Das Zimmer lag in einem Turm, der zwar nicht ganz so hoch war wie der des Zauberers, ihm aber trotzdem einen guten Ausblick über den Palast und auch einen großen Teil der Stadt gewährte. Früher hatte er oft hier gestanden und auf das bunte Treiben im Burghof und in den Straßen Gorywynns hinabgesehen. Nun gab es nicht mehr viel, was er betrachten konnte. Im Burghof unter ihm brannten zwar zahlreiche Fackeln, aber dieses Licht schien die Dunkelheit auf der anderen Seite der trotzigen Mauern nur noch zu betonen.

Die Stadt lag wie ausgestorben da. Hier und da brannte zwar ein Licht, flackerte ein Feuer oder leuchtete das helle Rechteck eines Fensters, aber es waren nur sehr wenige, verlorene Inseln aus Licht in dem erstarrten Ozean aus Schwärze, zu dem Gorywynn nach Einbruch der Nacht geworden war.

Der Anblick stimmte ihn traurig. Gorywynn war noch nicht tot wie viele Städte und Dörfer, durch die er auf dem Weg hierher gekommen war, aber es lag im Sterben.

Und er wusste nicht einmal, warum.

Die Tür ging auf und Gorg steckte den Kopf herein. »Oh, du bist wach«, sagte er. »Das ist gut. Da ist Besuch für dich.«

»Besuch?«, wiederholte Kim überrascht. »Für mich?«

Gorg zuckte mit den Achseln. »Jedenfalls nehme ich es an«, sagte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie zu uns wollen.«

»Sie? Wer?«

»Das solltest du dir besser selbst ansehen«, antwortete Gorg ausweichend. »Davon abgesehen will Themistokles mit dir reden.«

Kim verstand immer weniger, wovon der Riese überhaupt sprach, folgte ihm aber gehorsam. Gorg führte ihn durch einen schier endlos langen Gang und eine Treppe hinab, bis sie in eine Art kleinen Saal gelangten. Er war von Kerzen und einem halben Dutzend Kohlebecken behaglich erleuchtet und auf einer langen Tafel in seiner Mitte war das verschwenderischste Festmahl aufgebaut, das Kim jemals gesehen hatte. Themistokles saß am Kopfende dieser Tafel und redete mit einem Bediensteten. Auf der anderen Seite des Saales standen vier Männer in den farbenprächtigen Uniformen der Palastwache, die ihre Speere drohend auf eine kleinwüchsige, fellbedeckte Gestalt mit langen Affenarmen und Glubschaugen richtete und auch auf den viel kleineren, achtbeinigen Pelzball, der neben ihr stand.

»Diese beiden da behaupten, dass sie zu dir gehören«, begrüßte ihn Themistokles. »Ist das wahr?«

»So könnte man es nennen«, antwortete Kim. Er wunderte sich ein bisschen über sich selbst - aber er fühlte eine große Erleichterung, seine beiden treuen Weggefährten wieder zu sehen, noch dazu unversehrt. »Wir sind einen Teil des Weges zusammen gereist.«

Themistokles wirkte ehrlich überrascht, hob aber dann die Schultern und gab den Soldaten einen entsprechenden Wink. Die Männer senkten hastig ihre Waffen und zogen sich so schnell zurück, dass es einer Flucht gleichkam.

»Dann seid willkommen an meiner Tafel«, sagte Themistokles. »Kims Freunde sind auch meine Freunde. Nehmt Platz und genießt das Essen.«

Der Pack ließ sich das nicht zweimal sagen, sondern sprang mit einem Satz auf den nächsten Stuhl und begann wahllos Obst, Fleisch, Käse und Brot in sich hineinzustopfen. Die Spinne hingegen wuselte sofort auf Kim zu und begann mit ihrer schrillen, unangenehmen Stimme zu keifen: »Das wurde aber auch Zeit! Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich mich noch hätte beherrschen können! Diese groben Klötze! Sie haben mir nicht einmal Gelegenheit gegeben in Ruhe zu erklären, warum wir hier sind!«

»Genauso geht es mir auch«, piepste die Elfe. »Stell dir nur vor, sie wollten mich in eine Lampe stecken und flambieren!«

»Was für eine Verschwendung«, sagte die Spinne. Sie sah Twix an und Kim konnte regelrecht sehen, wie ihr das Wasser im Munde zusammenlief. Twix wirkte plötzlich spürbar nervöser und verkroch sich schließlich in seine Hemdtasche.

»Nur noch einen Moment Geduld«, sagte er. »Du kannst dich jetzt so richtig satt essen.«

»Satt essen? Womit denn?«

»Aber es ist doch nun wirklich genug da!«, sagte Gorg. Kim nahm ein wenig überrascht zur Kenntnis, dass der Riese einen guten Schritt vor der Spinne zurückgewichen war. Er schluckte ununterbrochen und er war ziemlich blass geworden.

»Genug da?!«, kreischte die Spinne. »Sehe ich aus, als würde ich totes Fleisch essen? Oder vielleicht Obst?!«

»Was können wir dir denn sonst anbieten?«, fragte Themistokles.

»Nun«, antwortete die Spinne, »da hätte ich schon ein paar Vorschläge...«

»Nicht jetzt«, sagte Kim rasch. »Das ist eine andere Geschichte.« Er steuerte den Stuhl direkt neben dem Pack an und registrierte zu seiner Erleichterung, dass die Spinne ihm nachkam. Vielleicht folgte sie auch nur seiner Hemdtasche.

Nachdem sie Platz genommen hatten, gab Themistokles den Bediensteten einen Wink, woraufhin die meisten den Raum verließen. Sie blieben jedoch nicht unter sich. Nach einigen Augenblicken gesellte sich ein gutes Dutzend weiterer Gäste zu ihnen. Fast alle waren prachtvoll gekleidet und das eine oder andere Gesicht kam Kim sogar bekannt vor, auch wenn er nicht genau wusste, woher.

Die Gäste nahmen der Reihe nach Platz. Nur der Stuhl unmittelbar neben der Spinne blieb frei.

Als sich der letzte Neuankömmling gesetzt hatte, ging die Tür noch einmal auf und ein eiskalter Windzug fauchte herein und ließ die Kerzen auf dem Tisch flackern.

Sturm kam herein. Der Junge trug noch immer dieselben zerfetzten Kleider wie am Nachmittag und auch seine Haare standen noch nach allen Richtungen zu Berge. Er grinste, als er Kims Blick begegnete, kam mit raschen Schritten näher und nahm ohne zu zögern auf dem freien Stuhl neben der Spinne Platz.

»Ihr kennt euch ja bereits«, sagte Themistokles.

»Wir sind uns heute Nachmittag zufällig begegnet«, antwortete Kim. »Kurz bevor das Unwetter losgebrochen ist.«

»Zufällig?« Themistokles schüttelte lächelnd den Kopf. »Das war kein Zufall. Ich hatte Sturm gebeten dich hereinzuholen.«

»Dann hat er aber -«, begann Kim und brach dann mitten im Satz ab, als ihm das spöttische Funkeln in Sturms Augen auffiel. Dann hatte er das Gefühl, dass es hinter seiner Stirn deutlich hörbar klick machte.

»Sturm ...«, murmelte er nachdenklich. »Ist das wirklich dein Name oder...?«

»Auch«, grinste Sturm.

»Dann war das Unwetter ... kein Zufall?«

»Unwetter?« Sturm lachte, dass die Kerzen auf dem Tisch erneut flackerten. »Das war doch kein Unwetter. Willst du einmal einen wirklichen Sturm erleben?«

»Nicht jetzt«, mischte sich Themistokles hastig ein. »Wir haben viel zu besprechen und ich fürchte, nur sehr wenig Zeit.«

Sturm wirkte ein bisschen enttäuscht, beließ es aber bei einem wortlosen Achselzucken und Themistokles wandte sich wieder direkt an Kim, der mittlerweile bereits kräftig zulangte. Der Anblick der in Massen aufgetischten Köstlichkeiten ließ ihn erst richtig spüren, wie hungrig er war. Der Pack stopfte weiter wahllos in sich hinein, was immer er erreichen konnte, und selbst die Spinne hatte sich aufgerichtet und berührte mit ihren langen Beinen prüfend das eine oder andere, ohne wirklich etwas zu essen.

Kim ließ seinen Blick verstohlen in die Runde schweifen. Nur die wenigsten Gäste aßen ebenfalls. Die meisten sahen ihn oder seine beiden Begleiter auf schwer zu deutende Weise an. Eine Atmosphäre angespannter Nervosität lag in der Luft.

Der Einzige, der außer dem Pack wirklich mit großem Appetit aß, war Gorg. Er verschlang mit einem einzigen Bissen einen halben Braten, streckte die Hand nach einer zweiten Portion aus, zog sie dann aber wieder zurück, als die Spinne dasselbe Bratenstück prüfend betastete und dann fallen ließ. Stattdessen deutete er auf eine silberne Schüssel mit Grütze, die unmittelbar vor dem Pack stand.

»He, Kleiner!«, sagte er. »Könntest du mir die Schale geben?«

»Gorg, tu das lieber -«, begann Kim erschrocken. Aber es war zu spät.

Während Gorg sich mit steinernem Gesicht die Grütze aus dem Gesicht wischte und etliche der Gäste in leises Kichern ausbrachen - das aber sofort aufhörte, wenn sie ein Blick aus Gorgs Augen traf -, sagte er ganz leise:

»- nicht.«

Themistokles betrachtete den Pack einen Moment lang lächelnd, aber dann erschien ein sehr überraschter Ausdruck auf seinem Gesicht.

»Ich habe noch nie einen gesehen«, sagte er, »aber ich glaube fast, das ... das ist ein Pack!«

»Ich fürchte, du hast Recht«, sagte Kim kleinlaut. »Ich muss mich für sein Benehmen entschuldigen.« Er wagte es nicht, Gorg bei diesen Worten anzusehen - schon weil er Angst hatte dann vor Lachen laut herauszuplatzen.

»Ein leibhaftiger Pack!«, sagte Themistokles kopfschüttelnd. »Das ist erstaunlich. Selbst in meinem Alter lernt man doch immer wieder etwas dazu.«

»Was ist denn daran so außergewöhnlich?«, fragte Kim.

»Sie gelten als sehr scheu«, antwortete Themistokles. »Tatsächlich habe ich noch nie gehört, dass einer mit einem Menschen Freundschaft geschlossen hätte.«

»Freundschaft würde ich das auch nicht gerade nennen«, sagte Kim mit einem schrägen Seitenblick auf den Pack. »Es ist eher so, dass ich ihn nicht mehr loswerde.« Er erzählte Themistokles mit knappen Worten, wie er den Pack kennen gelernt hatte und was er mit ihm erlebt hatte. Themistokles hörte schweigend und mit scheinbar ernstem Gesichtsausdruck zu, aber Kim hatte das Gefühl, dass es ihm immer schwerer fiel, ein schadenfrohes Grinsen zu unterdrücken.

»Du hast ihm also das Leben gerettet«, sagte Themistokles, als er zu Ende erzählt hatte. »Ich fürchte, dann hast du ein Problem. Zwei Probleme, um genau zu sein.«

»Wieso zwei?«, erkundigte sich Kim misstrauisch.

»Weil dein hässlicher kleiner Freund dich belogen hat«, sagte Gorg und seine Stimme klang eindeutig schadenfroh. »Pack sterben nicht.«

»Wie bitte?«, entfuhr es Kim.

Themistokles nickte. »Gorg sagt die Wahrheit«, bestätigte er. »Pack können nicht sterben. Sie altern nicht und man kann sie auch nicht töten.«

Kim starrte den Pack an, aber der hatte von dem Gespräch anscheinend gar nichts mitbekommen, sondern aß mit großem Appetit ungerührt weiter.

»Und was ist mein zweites Problem?«, fragte Kim.

»Dass du ihn wohl nicht mehr loswirst«, erklärte Gorg schadenfroh. »Er kann zwar nicht sterben, aber er ist einfach zu dumm um das zu wissen. Solange er glaubt, dass du ihm das Leben gerettet hast, wird er dir auf ewig dankbar sein.«

»Oh«, sagte Kim.

»Tja!« Gorg wischte sich einen Rest Grütze aus dem Bart und grinste unverhohlen. »Immerhin wird dir wohl so schnell nicht mehr langweilig werden. Ich habe gehört, sie haben wirklich schlechte Manieren. Nicht nur bei Tisch.«

»Vielleicht findet sich ja eine Lösung«, sagte Themistokles. »Im Augenblick gibt es aber Wichtigeres zu besprechen. Ich kann mir vorstellen, dass du tausend Fragen hast, Kim, aber ich möchte dich trotzdem bitten, zuerst von dir zu erzählen. Wie bist du hierher gekommen und was hast du auf dem Weg erlebt?«

Kim war tatsächlich ein wenig enttäuscht. Er hatte gehofft, nun endlich Antworten auf all die Fragen zu bekommen, die ihn quälten. Aber er sah ein, dass Themistokles' Vorschlag vernünftig war. Das Dutzend Gäste, das mit ihnen am Tisch saß, war sicher nicht nur gekommen um ihn zu begrüßen. Dieses Treffen war aus irgendeinem Grund, den er noch nicht kannte, sehr wichtig.

Er begann zu erzählen, sehr ausführlich und ohne irgendetwas zu beschönigen, zu übertreiben oder wegzulassen. Themistokles unterbrach ihn zwei- oder dreimal um eine Zwischenfrage zu stellen oder ihn irgendein Detail wiederholen zu lassen, die meiste Zeit aber herrschte gespanntes Schweigen.

Nur ein einziges Mal, als er von seiner Begegnung mit den Zwergen berichtete, wurde er von einem der anderen Gäste unterbrochen, einem bärtigen, grauhaarigen Mann in der Kleidung eines Kriegers. »Diese verdammten Zwerge!«, grollte der Mann. »Ich habe gleich gesagt, wir sollten sie aus der Stadt jagen!«

»Aber warum?«, wunderte sich Kim. »Sie waren doch dabei, den Stollen zu reparieren!«

»Ganz im Gegenteil!«, sagte der Mann zornig. »Dieses diebische Gesindel wird uns noch alle umbringen!«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Kim.

»Sie stehlen die Runensteine!«, fuhr der Mann in zorniger Erregung fort.

»Unsere Baukunst folgt anderen Regeln als die eure«, erklärte Themistokles. »Ihr habt eure Ingenieure und Statiker. Unsere Baumeister vertrauen mehr auf die Magie. Es sind magische Runen, die die Stollen unter der Stadt vor dem Einsturz bewahren.«

»Und die Zwerge -«

»- stehlen diese Runensteine, ja«, sagte Themistokles besorgt. »Ich fürchte, dass es so ist. Diese Runensteine sind sehr alt und ihre Magie ist sehr mächtig. Vor allem jetzt, wo der Zauber überall im Lande erlischt.«

»Aber wissen sie denn nicht, was sie damit anrichten?«, fragte Kim.

»Das ist diesen elenden Kerlen doch vollkommen gleich!«, behauptete der Krieger. Doch auch diesmal mischte sich Themistokles besänftigend ein.

»Vielleicht haben sie ihre Gründe«, sagte er. »Oder meinen zumindest sie zu haben. Wir werden uns um das Problem kümmern, doch nun erzähl bitte weiter, Kim.«

»Sehr viel mehr gibt es nicht zu erzählen«, sagte Kim. »Wir kamen nach oben und nur kurze Zeit darauf habe ich Sturm getroffen. Den Rest hat er euch sicher schon erzählt.«

Themistokles blickte ihn zweifelnd an. Kim hatte ganz bewusst nichts von Kais Verrat erzählt und auch nichts von seiner verzweifelten Flucht vor Wolf und seinen Reitern. Er war sicher, dass Themistokles davon wusste, aber der Magier nahm seine Antwort ohne weitere Reaktion hin.

»Du hast eine Menge auf dich genommen um hierher zu kommen«, sagte er nur.

»Ja«, bestätigte Kim. Er sah wieder in die Runde. Abgesehen von Gorg starrten ihn alle an, selbst die Bediensteten, die ein paar Schritte abseits standen um die Wünsche der Gäste zu erfüllen. Zu seiner Verwunderung glaubte er auf mehr als einem Gesicht den Ausdruck von Enttäuschung zu entdecken, den er sich nicht erklären konnte. »Aber nun sag mir, Themistokles: Was ist hier geschehen? Märchenmond ...«

»... verändert sich«, bestätigte Themistokles traurig. »Das ist wahr.«

»Aber es ist eine schreckliche Veränderung!«, sagte Kim.

Themistokles wiegte den Kopf. »Vielleicht kommt sie dir nur schrecklich vor, weil die Dinge plötzlich nicht mehr so sind, wie du sie gekannt hast«, sagte er. »Anderen mag sie nicht so schrecklich erscheinen. Wahr ist, dass die Magie erlischt.«

»Aber warum denn nur?«

»Vielleicht, weil die Menschen nicht mehr an sie glauben«, antwortete Themistokles mit einem traurigen Lächeln. »Vielleicht ist die Zeit verrückter alter Männer, die komische Hüte tragen und nachts im Mondlicht in ihre Barte brabbeln, einfach vorüber.«

»Hier geschieht sehr viel mehr als das«, sagte Kim ernst. »Die Menschen bekämpfen einander, Themistokles. Es herrscht Krieg! Ich habe Tote gesehen und brennende Städte!«

»Die Menschen sind nun einmal ein kriegerisches Volk«, sagte Themistokles.

»Das sind wir nicht!«, protestierte Kim, aber Themistokles erhielt Schützenhilfe von einer völlig unerwarteten Seite.

»Sind sie doch«, behauptete die Spinne. »Ich weiß, ihr haltet euch für etwas Besseres. Die Krone der Schöpfung! Pah! Wisst ihr, was der einzige wirkliche Unterschied zwischen euch und allen anderen Spezies ist?«

»Die Sprache«, sagte Kim, aber die Spinne machte nur eine merkwürdige Geste mit einigen ihrer dünnen Beine, die man mit ein wenig Fantasie als Verneinung deuten konnte.

»Ja, ja, ganz sicher«, sagte sie spöttisch. »Nein, der einzige wirkliche Unterschied ist der, dass ihr Kriege führt. Kein anderes Lebewesen im Universum ist dazu in der Lage. Kein anderes weiß überhaupt, was dieses Wort bedeutet.«

»Erklär das Twix«, sagte Kim, aber die Spinne ließ auch dieses Argument nicht gelten.

»Wir töten einander, das ist wahr«, sagte sie. »Ich habe nicht gesagt, dass die Natur friedlich ist oder auch nur fair. Das sind Erfindungen eurer Sprache, die keine wahre Bedeutung haben. Wir töten einander aus Hunger oder um unser Revier zu verteidigen oder unsere Brut. Aber hast du je gehört, dass wir uns zu einer Armee zusammenschließen und uns gegenseitig bekämpfen, weil uns die Ideen der anderen nicht gefallen? Oder um ihnen unsere Art zu leben aufzuzwingen?«

»Das ist nicht als Vorwurf gemeint, Kim«, sagte Themistokles. »Und schon gar nicht als Rechtfertigung. Aber die Menschen sind nun einmal so, wie die Natur sie geschaffen hat: ein kriegerisches, gewalttätiges Volk. Es nutzt nichts, es zu leugnen. Und es wäre auch nicht schlimm. Nicht, solange man sich dessen bewusst ist und danach lebt. Erinnerst du dich, was das erste Mal geschehen ist, als du hier warst?«

»Natürlich«, antwortete Kim.

»Du hast erkannt, dass Gut und Böse in jedem Menschen ist«, sagte Themistokles. »Kein Mensch ist vollkommen gut, so wie kein Mensch vollkommen schlecht ist. Auch du nicht. Auch in dir ist eine dunkle Seite, so wie auch in mir - wie in jedem Menschen. Und doch hast du dich für die richtige Seite entschieden. Es hilft nichts, mit dem Schicksal zu hadern. Dieser Krieg ist furchtbar, doch er wird nicht enden, nur weil wir darüber jammern!«

»Ich weiß ja noch nicht einmal genau, warum er angefangen hat«, murmelte Kim.

»Aus dem Grund, aus dem alle Kriege beginnen«, antwortete Gorg, »Weil keine der beiden Seiten bereit ist nachzugeben.«

»Dann müssen wir ihn beenden!«, protestierte Kim. »Wenn es sein muss, mit Gewalt! Ich weiß, dass das verrückt klingt, aber ... aber wenn Wolf und Kai und die anderen nicht von sich aus vernünftig werden, dann müssen wir sie eben dazu zwingen!«

»Und wie?«, fragte der Mann in der Kriegerkleidung. »Sollen wir vielleicht ebenfalls ein Heer aufstellen? Und wenn ja, gegen wen sollen wir kämpfen? Gegen unsere eigenen Brüder und Schwestern? Oder lieber gegen unsere Söhne und Töchter? Dann wären wir nicht besser als sie.«

»Ich fürchte, er hat Recht, Kim«, sagte Themistokles. »Diesmal ist es nicht damit getan, ein Heer aufzustellen und einen Feind zu besiegen, denn der Feind, der uns bedroht, sind wir selbst.«

»Das ist nicht wahr!«, widersprach Kim. Seine Stimme klang nicht einmal in seinen eigenen Ohren überzeugend, aber er fuhr trotzdem fort: »Eure Welt unterscheidet sich gar nicht so sehr von der, aus der ich komme, wisst ihr? Fragt mal meine Eltern, was sie unter dem Wort Generationskonflikt verstehen.«

»Es ist normal, dass die Jugend gegen das Alter aufbegehrt«, sagte Themistokles. »Deine Eltern haben das getan, als sie jung waren, und auch du tust es. Und in gar nicht allzu langer Zeit wirst du alt sein und deine Kinder werden sich weigern so zu leben, wie du es für richtig hältst. Nichts anderes geschieht hier.«

»Nur dass wir uns nicht gegenseitig umbringen«, sagte Kim.

»Das ist wahr«, gestand der Krieger. »Und es ist der Grund, aus dem wir hier zusammengekommen sind.« Er deutete auf Themistokles. »Themistokles hat dir nicht alles erzählt. Märchenmond ist nicht wie deine Heimat. Es ist eine magische Welt. Eine Welt, in der die Magie lebt und die durch die Magie lebt. Die Jungen glauben die alte Magie nicht mehr zu brauchen. Aber das ist nicht wahr. Märchenmond wird untergehen, wenn die Magie vollkommen erlischt.«

Kim starrte Themistokles an. »Ist das wahr?«

Statt direkt zu antworten, sagte Themistokles: »Und sie wird erlöschen. Im selben Moment, in dem das letzte Wesen auf dieser Welt aufhört an sie zu glauben.«

Kim wusste, dass er Recht hatte. Er dachte an die toten Elfen, an Twix, die nur leben konnte, solange sie in seiner Nähe war, und an hundert andere vermeintliche Kleinigkeiten, die er auf dem Weg hierher erlebt hatte.

»Dann sollte man es ihnen sagen«, murmelte er. »Kai ist doch nicht dumm! Er muss das begreifen.«

»Vielleicht könnte er es«, sagte Themistokles, »gäbe es nicht den Magier der Zwei Berge.«

»Alles begann, nachdem er aufgetaucht ist«, bestätigte der Krieger.

»Und wie kann das sein?«, fragte Kim. »Wie kann ein Magier euer Feind sein, wenn die Magie erlischt?«

»Ich dachte schon, du stellst diese Frage nie!«, nörgelte die Spinne.

»Wir hatten gehofft, die Antwort von dir zu bekommen«, sagte Themistokles. »Niemand hier weiß es. Vielleicht ist er gar kein Magier, sondern nennt sich nur so. Vielleicht ist seine Magie von einer Art, die wir nicht verstehen. Niemand weiß, wer er ist oder wo er herkommt.«

»Und ihr glaubt, ich wüsste mehr über ihn?«, fragte Kim. »Wieso?«

»Offensichtlich weiß er eine Menge über dich«, sagte der bärtige Mann. »Er hat seine zuverlässigsten Krieger ausgeschickt, damit sie dich zu ihm bringen. Du scheinst von großer Wichtigkeit für ihn zu sein. Möglicherweise hat er auch Angst vor dir.«

»Vielleicht geht es ihm auch nur genau wie euch«, sagte Kim. »Vielleicht weiß er einfach nur, wer ich bin, und glaubt sich vor mir fürchten zu müssen.« Er seufzte tief. »Kai hat mir erzählt, dass viele Eltern ihre Söhne nach mir genannt haben. Das ist eine große Ehre, aber ich fürchte, ihr überschätzt mich. Ich bin kein Held.«

»Du hast unsere Welt gerettet«, sagte der Krieger.

»Zweimal«, fügte ein anderer hinzu.

»Das war etwas anderes«, sagte Kim. »Ich hatte Glück. Ich kann euch nicht dabei helfen, gegen euch selbst zu kämpfen!«

»Kannst du nicht oder willst du nicht?«, fragte der Krieger scharf.

Kim wollte auffahren, aber bevor er dazu kam, auch nur ein Wort zu sagen, wurden draußen vor der Tür aufgeregte Stimmen laut. Kaum einen Atemzug flog die Tür auf und Kai, Wolf und ein gutes Dutzend Bewaffneter stürmten herein, direkt gefolgt von den Männern der Palastwache, von deren drohend erhobenen Schwertern sie sich aber nicht sonderlich beeindruckt zeigten.

Themistokles sprang mit einem solchen Ruck auf, dass sein Stuhl über die Fliesen scharrte und beinahe umgestürzt wäre. »Was bedeutet das?!«, donnerte er. »Kai! Wolf! Was erdreistet ihr euch?«

Seine Stimme war wie Donnerhall. Von einer Sekunde auf die andere war er kein greiser alter Mann mehr, sondern ein mächtiger, Ehrfurcht gebietender Magier, dessen Augen vor Empörung sprühten. Nicht nur Kai und Wolf, sondern auch ihre Begleiter, ja selbst die Männer der Palastwache erstarrten für einen Moment in der Bewegung und blickten ihn mit Furcht auf den Gesichtern an.

»Was bedeutet das?«, fragte Themistokles noch einmal. »Was soll dieser Auftritt?«

»Wir müssen euch sprechen«, sagte Kai trotzig. »Aber man wollte uns nicht vorlassen.«

»Mit gutem Grund«, grollte Gorg. Auch er war aufgestanden und hatte einen Schritt in Richtung der Eindringlinge getan. Er war unbewaffnet, aber er machte dieses Manko durch seine Kraft leicht wieder wett. »Was fällt euch ein, mit Waffengewalt hier einzudringen? Ihr kennt die Regeln!«

»Regeln?« Kai schürzte geringschätzig die Lippen. »Ich kann mich nicht erinnern sie jemals anerkannt zu haben.«

Wolf sagte nichts, sondern sah Gorg nur abschätzend an. Der Riese wollte zornig antworten, aber Themistokles brachte ihn mit einer raschen Geste zum Schweigen.

»Steckt die Waffen ein und wir werden reden«, sagte er. »Und eure Männer werden die Burg verlassen, auf der Stelle!«

Zwei oder drei Sekunden lang geschah gar nichts und Kim konnte fast körperlich fühlen, wie die Spannung wuchs. Ein falsches Wort, eine winzige, unbedachte Bewegung konnte zu einer Katastrophe führen.

Dann fragte Wolf: »Garantiert Ihr für unsere Sicherheit?«

Themistokles' Miene verdüsterte sich noch weiter. »Wollt Ihr mich beleidigen, Wolf?«

»Natürlich nicht«, antwortete Wolf. »Verzeiht.« Er wandte sich zu seinen Begleitern um und nickte, worauf die Männer rasch und ohne den geringsten Widerspruch den Saal verließen. Nur einen Augenblick später folgten ihnen auch Kais Begleiter.

Themistokles gab der Palastwache einen Wink. »Ihr könnt ebenfalls gehen.«

Die Soldaten zögerten, aber dann wiederholte Themistokles seine Geste und sie zogen sich gehorsam zurück. Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, steckten endlich auch Kai und Wolf ihre Schwerter ein.

»Gorg, bitte!«, sagte Themistokles.

Der Riese warf ihm einen fast trotzigen Blick zu, ging dann aber zu seinem Stuhl zurück und setzte sich. Nur Themistokles blieb stehen. Das zornige Funkeln war aus seinen Augen gewichen, aber er wirkte noch immer verärgert. Nicht die geringste Spur eines Lächelns war auf seinem sonst so freundlichen Gesicht zu sehen.

»Also?«, fragte er. »Was wollt ihr?«

»Ich denke, das weißt du genau, alter Mann«, sagte Kai verächtlich. Er deutete auf Kim. »Ihn.«

»Hüte deine Zunge, vorlauter Bengel«, sagte Gorg. »Du wirst Themistokles mit dem gehörigen Respekt gegenübertreten oder ich bringe dir Manieren bei!«

Kai streifte den Riesen mit einem verächtlichen Blick. Dann grinste er und verneigte sich übertrieben spöttisch in Themistokles' Richtung. »Verzeiht, großehrwürdiger Meister der Illusion und des faulen Zaubers«, sagte er höhnisch. »Aber hättet Ihr vielleicht die Güte, uns Euren Gast auszuliefern - bevor wir uns gezwungen sehen Eure Bude kurz und klein zu schlagen?«

Gorgs Gesicht lief puterrot an. Er wollte aufspringen, aber Themistokles brachte ihn erneut mit einer schnellen Geste zur Ruhe.

»Ich fürchte, das geht nicht«, sagte er kühl. »Du hast es ja selbst gesagt: Kim ist unser Gast und somit steht er unter dem Schutz des Gastrechts. Ich kann ihn euch nicht ausliefern.«

»Dann -« begann Kai wütend.

Wolf hob rasch die Hand. »Bitte, Themistokles«, sagte er. »Ich will nicht respektlos erscheinen, aber auch ich bestehe auf der Auslieferung des Jungen.«

Seiner Stimme ging der aggressivfordernde Ton Kais vollkommen ab, aber er klang beinahe noch entschlossener. Kais provozierendes Auftreten war wohl zu einem guten Teil nur Angst, die er auf diese Weise zu überspielen versuchte. Wolf hingegen wirkte nur vorsichtig.

»Und wie stellt ihr euch das vor?«, fragte Kim. »Wollt ihr mich auseinander schneiden, damit jeder die Hälfte bekommt?«

»Wir einigen uns schon«, sagte Kai feindselig. Dann wandte er sich wieder an Themistokles. »Also?«

»Du weißt, wie meine Antwort lauten muss, Kai«, sagte Themistokles. Seine Stimme klang fast freundlich. »Das Gastrecht ist heilig. Niemand darf es brechen. Ich kann Kim nicht an dich ausliefern. Genauso wenig wie an Euch, Wolf.«

Wolfs Gesicht verdüsterte sich. »Ich habe befürchtet, dass Ihr so antworten würdet, Themistokles«, sagte er. »Und es tut mir sehr Leid. Ich respektiere Euch und ich respektiere diesen Ort. Aber wir können nicht zulassen, dass sich dieser Junge in unser Schicksal einmischt.«

»Was genau meint Ihr damit?«, erkundigte sich Gorg lauernd. Wolf sah den Riesen nicht einmal an. »Gorywynn hat Neutralität geschworen«, sagte er. »Ihr habt euch nie in den Krieg eingemischt und wir haben Gorywynn umgekehrt nicht angegriffen. Ihr habt diese Regel gebrochen, als ihr diesem Jungen Unterschlupf gewährt habt. Wir verlangen seine Auslieferung.«

»An wen?«, fragte Gorg. »Kims Frage ist nicht ohne Berechtigung. Wer von euch beiden soll ihn bekommen?«

»Wir werden diese Frage zu gegebener Zeit klären«, antwortete Wolf. »Bitte zwingt uns nicht, Gewalt anzuwenden.«

»Ihr würdet uns angreifen, nur um Kim zu bekommen?« Themistokles schüttelte den Kopf. »Das glaube ich Euch nicht, Wolf.«

»Ihr solltet es besser wissen«, antwortete Wolf. Er straffte sich. Seine Stimme wurde eine Spur lauter. »Wir geben Euch Zeit bis zum nächsten Sonnenuntergang. Liefert Ihr ihn bis dahin nicht aus, dann holen wir ihn mit Gewalt.«

Das Festbankett war vorbei, nachdem Wolf und Kai gegangen waren. Gorg und einige der Krieger begleiteten die ungebetenen Besucher aus dem Palast, und noch bevor sie zurückkamen, verabschiedeten sich die Gäste, sodass Kim allein mit Themistokles und Sturm zurückblieb.

Kim wartete, bis auch der letzte Bedienstete auf einen Wink des Zauberers hin den Saal verlassen hatte, dann wandte er sich an Themistokles.

»Es tut mir Leid«, sagte er leise. »Das wollte ich nicht.«

»Was wolltest du nicht?«, fragte Themistokles.

»Ich bringe euch in Gefahr«, sagte Kim. »Wenn sie angreifen -«

»- werden wir mit ihnen fertig«, fiel ihm Themistokles ins Wort; allerdings in einem Ton, der den Worten augenblicklich das meiste ihrer Glaubwürdigkeit nahm. »Außerdem werden sie uns nicht angreifen. Das wagen sie nicht.«

Davon war Kim ganz und gar nicht überzeugt, aber er wollte jetzt nicht mit Themistokles über diesen Punkt diskutieren.

»Was ist so wichtig an mir, Themistokles?«, fragte er.

Der alte Zauberer hob die Schultern. »Ich wollte, ich wüsste es«, sagte er und diesmal klangen seine Worte überzeugend. »Kai ist ein ungestümer junger Narr, von dem nichts anderes zu erwarten war. Aber Wolf...« Er wiegte den Kopf. »Ich kenne ihn von früher. Er war eigentlich immer sehr besonnen.«

»Vielleicht liegt es daran, dass du nicht wie die anderen bist«, sagte Sturm. Kim blickte ihn fragend an und er fügte mit einer erklärenden Geste hinzu: »Du hast erlebt, wie es draußen ist. Das Volk hat sich in zwei Lager gespalten. Niemand steht zwischen den Fronten - außer dir. Du bist der Einzige, der weder zu der einen noch zu der anderen Seite gehört.«

»Weil sie beide verrückt sind!«, sagte Kim mit Nachdruck. »Aber du bist der Einzige, der das erkennt«, beharrte Sturm. »Um nicht zu sagen: der Einzige, der dem unheilvollen Einfluss nicht erlegen ist, der ganz Märchenmond ergriffen hat«, sagte Themistokles nachdenklich. »Vielleicht ist es das.«

Kim führte den Gedanken zu Ende. »Du meinst, der Zauberer der Zwei Berge fürchtet sich vor mir.«

»Weil er nicht weiß, was es ist, das dich seinem Einfluss entzieht«, bestätigte Themistokles. »Und bei Wolf ist es genau anders herum. Vielleicht glaubt er mit dir den Schlüssel zum Sieg zu haben.«

»Hat er ihn denn?«, fragte Sturm.

»Ich weiß es nicht«, sagte Themistokles seufzend. »Es ist nur eine Idee. Vielleicht nicht einmal eine besonders gute. Man greift nach jedem Strohhahn, wenn man verzweifelt ist.« Er stand auf. »Bitte entschuldigt mich jetzt. Ich muss ... über vieles nachdenken.«

Er ging. Kim wollte ihn zurückhalten, aber Sturm berührte ihn am Arm und deutete ein Kopfschütteln an. Kim ließ sich wieder zurücksinken und wartete, bis Themistokles die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann fragte er: »Was willst du?«

»Mit dir reden«, antwortete Sturm ernst. Er deutete auf den Pack, auf Twix und die Spinne. »Sind sie vertrauenswürdig?«

»Keine Sorge«, sagte die Spinne. »Du bist viel zu dünn.«

Kim lächelte flüchtig, als er Sturms verdutzten Gesichtsausdruck sah, nickte dann sehr ernst und sagte: »Ich würde ihnen mein Leben anvertrauen.«

»Gut«, sagte Sturm. »Ich muss dir ... etwas erklären. Themistokles wollte nicht, dass ich es dir sage, und er würde es auch bestimmt abstreiten, aber ... es ist meine Schuld.«

Kim verstand nicht, was er meinte. »Was?«

»Das alles hier.« Sturm machte eine weit ausholende Geste. Ein plötzlicher Luftzug löschte einige der Kerzen auf dem Tisch und ließ die Fackeln flackern. »Alles, was passiert ist.«

»Der Krieg zwischen den Alten und den Jungen?«, fragte Kim überrascht.

»Nein, das natürlich nicht«, antwortete Sturm und Gorg fügte von der Tür aus hinzu:

»Und alles andere ebenso wenig.«

Sturm fuhr erschrocken herum und auch Kim drehte überrascht den Kopf. Der Riese war so lautlos hereingekommen, dass sie ihn nicht einmal bemerkt hatten. Gorgs kolossale Erscheinung ließ ihn nur zu leicht vergessen, dass sich der Riese so lautlos wie eine Katze bewegen konnte.

»Themistokles hat vollkommen Recht, dir diesen Unsinn zu verbieten«, fuhr der Riese fort. »Du wirst nichts ändern, wenn du dir die Schuld an allem gibst.«

»Aber es ist meine Schuld!«, protestierte Sturm.

»Wovon redet ihr eigentlich?«, fragte Kim. »Was ist seine Schuld?«

»Dass die Magie erlischt«, sagte Sturm. »Themistokles weiß seit langem, dass Märchenmond in Gefahr ist. Schon als ich hier ankam, war er in großer Sorge. Was er sagt, ist wahr. Er ist der letzte lebende Zauberer. Abgesehen von uns, die wir hier in diesem Raum sind, vielleicht der einzige auf dieser Welt, der noch an die Kraft der Magie glaubt. Also machte er den mächtigsten Zauber, den jemals ein Zauberer versucht hat, um Märchenmond und seine Bewohner zu schützen. Er bannte beinahe all seine Zauberkraft in eine Kugel um ihn an einem sicheren Ort aufzubewahren.«

Kim tauschte einen fragenden Blick mit Gorg, den der Riese mit einem Nicken beantwortete. »Das ist der Grund, aus dem er so ... sonderbar ist. Themistokles besitzt nur noch einen Bruchteil seiner Zauberkraft. Er hat fast all seine Macht in die Kugel gebannt.«

»Damit sie nicht in falsche Hände gerät, falls ihm etwas zustößt«, vermutete Twix. »Aber das ist doch eine gute Idee.«

»Und was ist passiert?«, fragte Kim, als weder Sturm noch Gorg von sich aus weitersprachen, sondern betreten die Blicke senkten.

»Die Glaskugel ging verloren«, sagte Gorg.

»Verloren? Aber wie?«

»Ich habe ihn verloren«, gestand Sturm kleinlaut.

Kim starrte ihn an. Sturm blickte weiter zu Boden und begann mit den Füßen zu scharren. Er fuhr erst nach einer geraumen Weile fort. »Ich habe damit gespielt. Ich wusste nicht, was ich tat. Ich dachte, es wäre nur ein hübscher Gegenstand. Ich habe damit herumgespielt und ... und ihn verloren.«

»Verloren«, murmelte Kim verständnislos. »Aber er muss doch wieder zu finden sein.« Er sah den sommersprossigen Jungen fragend an. »Wo hast du ihn denn verloren?«

»Er ist mir ... hinuntergefallen«, sagte Sturm ausweichend.

»Hinuntergefallen? Wo?«

»Über den Rand«, sagte Sturm.

Kim seufzte. »Bitte, Sturm! Mach es doch nicht so spannend! Über welchen Rand?«

»Den Rand der Welt«, sagte Gorg.

Kim blinzelte. »Wie?«

»Er ist über den Rand der Welt gefallen«, sagte Sturm ganz leise. »Wie gesagt: Ich war ... unvorsichtig.«

»Du wusstest es nicht«, sagte Gorg. Er beugte sich vor und langte nach einer Schale, in der ein halbes Dutzend gesalzener Fische lagen. Er war jedoch nicht schnell genug. Die Spinne hatte den Fisch im selben Moment entdeckt wie er, schoss mit einem Satz vor und griff mit vier Beinen danach. Gorg grunzte ärgerlich und nahm die zweite Hand zu Hilfe um sich den Fisch zu angeln, aber offensichtlich hatte er die Kräfte der Spinne unterschätzt. Sie stemmte sich mit den beiden hinteren Beinpaaren gegen den Tisch und zerrte und zog mit den beiden anderen. Keiner der beiden war jedoch stark genug um sich seine Beute zu sichern.

»Das spielt doch gar keine Rolle!«, sagte Sturm. »Die Kugel ist weg und es ist meine Schuld. Es wäre nie passiert, hätte ich nicht damit herumgespielt!«

»Hätte! Wäre! Wenn!« Gorg stand nun auf und spannte seine gewaltigen Muskeln an um der Spinne den Fisch zu entreißen, schaffte es aber nicht. Der ganze Tisch begann unter dem Gerangel zu zittern. »Es ist aber nun einmal passiert und es wird nicht besser, wenn du dir Vorwürfe machst!«

»Warum habt ihr denn nie gesucht?«, wunderte sich Kim.

»Hast du mir nicht zugehört?«, fragte Sturm. »Die Kugel ist fort! Sie ist über den Rand der Welt gefallen. Niemand kann dorthin gehen und sie wieder holen!«

»Ich schon«, sagte Kim. »Ich war schon einmal dort.«

Sturm blickte ihn zweifelnd an, aber Kim nickte heftig und deutete auf Gorg, der mittlerweile nur noch mit einer Hand an dem Fisch zerrte. Die andere benutze er um sich an der Tischkante abzustützen und auf diese Weise mehr Kraft zu entwickeln. Die Spinne ihrerseits hatte ein halbes Dutzend Fäden um die Tischkante gewickelt, mit denen sie sich sicherte.

»Gorg kann es dir bestätigen«, fuhr er fort. »Ich war schon einmal am Rand der Welt.«

»Das war etwas anderes«, sagte Sturm traurig. »Themistokles hat mir davon erzählt. Es gibt die Regenbogenbrücke nicht mehr, so wenig wie Burg Weltende und die Klamm der Seelen. Der Weg, den du gegangen bist, existiert schon lange nicht mehr. Es war ein magischer Weg. Und die Magie ...«

»... ist fast erloschen«, führte Kim den Satz zu Ende. »Ich verstehe. Aber es muss doch einen anderen Weg geben.«

»Lass endlich los, du achtbeiniges Scheusal!«, keuchte Gorg. »Der Fisch gehört mir!«

»Wieso?«, keifte die Spinne. »Steht dein Name drauf?«

»Es gibt keinen anderen Weg«, sagte Sturm. »Glaube mir. Ich habe lange danach gesucht. Wenn ich ihn nicht finde, dann findet ihn niemand. Die Zauberkugel ist verloren.«

»Gibst du immer so schnell auf?«, fragte Kim.

»Nein«, antwortete Sturm. »Aber ich vergeude auch nicht meine Kräfte, indem ich das Unmögliche versuche!«

»Und es würde auch nichts nutzen«, keuchte Gorg. Sein Gesicht war vor Anstrengung rot angelaufen und er hatte Mühe überhaupt zu reden. »Ob die magische Glaskugel nun hier ist oder sonst wo, ändert nichts an dem Krieg der Generationen.«

»Vielleicht doch«, sagte Kim. »Wäre Themistokles im Vollbesitz seiner Kräfte, könnte er ihn vielleicht beenden.«

»Ja, vielleicht«, piepste Twix. »Aber wer sagt dir denn, dass er das überhaupt will?«

Kim hatte sich nicht mehr die Mühe gemacht abzuwarten, wer den Kampf um den Fisch gewann, sondern war in sein Zimmer gegangen. Nicht um zu schlafen. Er war viel zu aufgewühlt um auch nur ein Auge zuzubekommen und darüber hinaus auch nicht im Geringsten müde. Aber er brauchte einfach ein wenig Zeit für sich um zur Ruhe zu kommen und seine Gedanken zu ordnen. Weder die Spinne noch der Pack folgten ihm, aber Twix blieb auf seiner Schulter sitzen. Die Elfe war jedoch ungewohnt still. Sie sagte nichts. Selbst das goldene Leuchten ihrer Flügel schien blasser geworden zu sein.

Es musste lange nach Mitternacht sein, als er wieder ans Fenster trat und auf die Stadt hinabsah. Viele der Lichter, die er vorhin noch gesehen hatte, waren nun erloschen. Gorywynn lag fast vollkommen dunkel unter ihm. Nirgendwo rührte sich etwas und er hörte so gut wie keinen Laut.

Aber das bedeutete nicht: gar keinen.

Kim hörte ein ganz sachtes, metallisches Scharren und dazu ein Geräusch, als glitte Stoff über etwas Hartes. Kim stützte sich auf die Fensterbank ab und beugte sich vor um einen Blick in den Hof hinab zu werfen. Irgendwo, sehr tief unter ihm, schien sich etwas zu bewegen, aber er konnte es nicht genau erkennen.

Er bat die Elfe loszufliegen und nach dem Rechten zu sehen. Twix summte gehorsam davon und kam nach wenigen Augenblicken zurück, behauptete aber nichts Außergewöhnliches entdeckt zu haben. Sie wirkte jedoch etwas ängstlich.

Kim hakte nicht noch einmal nach, sondern verließ das Zimmer und lief die lange Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Auf halber Strecke traf er Gorg. Der Riese sah müde aus und ein wenig benommen, als wäre er jäh aus dem tiefsten Schlaf gerissen worden.

»Du hast es auch gehört«, begrüßte er Kim.

»Ja. Aber ich weiß nicht, was.«

»Ich auch nicht«, sagte Gorg. »Sehen wir nach. Bleib immer dicht hinter mir.«

Sie legten rasch die restliche Strecke zurück und erreichten die große, vollkommen leere Halle, wo sie wieder stehen blieben.

Hier waren die Geräusche deutlicher zu hören. Es war ein unheimliches Schleifen und Scharren, nicht sehr laut, aber auf eine schwer in Worte zu fassende Weise mächtig. Und es machte Kim Angst. Er konnte nicht sagen, warum, aber das Gefühl wurde mit jeder Sekunde stärker.

»Was ... ist das?«, fragte Gorg. Er hatte die Stimme zu einem Flüstern gesenkt.

Kim zuckte mit den Schultern, aber diese Bewegung war nicht ganz echt. Er wusste die Antwort auf Gorgs Frage nicht, aber dieses unheimliche Gefühl, das ihn beschlichen hatte, war ihm auch nicht vollkommen fremd. Er hatte es schon einmal gefühlt: Die Anwesenheit von etwas Fremdem, etwas so unglaublich Altem und Anderem, dass ihn schon seine bloße Nähe erschauern ließ. Er wusste nur nicht mehr, wo er das gespürt hatte.

Noch langsamer gingen sie weiter. Das Geräusch kam von draußen und es wurde deutlicher, mit jedem Schritt, mit dem sie sich der Tür näherten. Mittlerweile war ein neuer, noch unheimlicherer Laut hinzugekommen, ein dumpfes Knirschen und Mahlen, das Kim zwar nicht richtig einordnen konnte, aus dem seine Fantasie aber das Geräusch machte, mit dem gewaltige Zähne Felsen und Glas zermalmen mochten.

Nur mit Mühe konnte er diese Vorstellung abschütteln. »Unsinn«, murmelte er.

Gorg blieb stehen und sah ihn fragend an, aber Kim schüttelte rasch den Kopf. »Nichts«, sagte er. »Ich hatte nur einen verrückten Gedanken.«

»Das sind manchmal die besten«, sagte Gorg.

Sie traten aus der Tür. Drinnen in der Halle hatten noch einige wenige Fackeln für dämmriges Licht gesorgt; hier draußen schlug die Dunkelheit wie eine erstickende Woge über ihnen zusammen. Im ersten Moment hatte Kim das Gefühl, kaum noch atmen zu können. Außerdem war er so gut wie blind.

Dann bemerkte er eine Bewegung, irgendwo links von sich auf der anderen Seite des Hofes.

»Was zum Teufel -?«, keuchte Gorg.

Kim bekam nun tatsächlich keine Luft mehr. Angst griff wie eine lähmende Klaue nach ihm, und obwohl er Gorg nicht genau sehen konnte, spürte er doch, dass es dem Riesen ganz genauso erging. Es war keine Furcht vor irgendeiner körperlichen Bedrohung, nicht das eisige Frösteln, das pure Todesangst oder der Anblick eines überlegenen Gegners auslöst, sondern etwas viel Schlimmeres: Angst. Nackte, reine Angst, die ihre Seelen erfüllte und ihre Gedanken und Glieder lähmte; ein Gefühl, das keinen Grund und keine Erklärung nötig hatte, sondern einfach da war, gewaltig und allumfassend.

Dann sah er, was Gorg so erschreckt hatte.

Auf der anderen Seite des Hofes war ein Loch entstanden. Die pastellfarbenen Glasfliesen, mit denen der Hof gepflastert war, waren aufgebrochen. In der Mitte des an einem riesigen Maulwurfshügel erinnernden Loches schimmerte etwas Helles, Großes, fast ohne erkennbare Konturen. Die Angst, die Kim gepackt hielt, steigerte sich durch den bloßen Anblick des fahlen Schattens nahezu zur Panik.

Trotzdem bewegten sich Gorg und er weiter auf das Loch im Boden zu, mit klopfendem Herzen und kleinen abgehackten Schritten, die die Angst ihnen diktierte. Der Schemen bewegte sich weiter, schien für einen winzigen Moment beinahe zu einem Körper zu werden und verschwand dann ebenso plötzlich, wie er aufgetaucht war. Im selben Moment verschwand auch der erstickende Druck, der sich auf ihre Seelen gelegt hatte. Kim atmete hörbar auf und beschleunigte dann ebenso wie der Riese seine Schritte. Nur einen Augenblick später standen Gorg und er am Rande eines gut fünf Meter messenden, bodenlosen Lochs, aus dem eine Mischung aus Moder und dem Geruch frischen Erdreichs zu ihnen heraufdrang.

Sicherlich eine Minute lang standen sie einfach da und starrten schweigend in die Tiefe. Dann murmelte Gorg: »Was um alles in der Welt war das?«

Kim konnte nur mit den Schultern zucken. Er versuchte sich den Schemen in Erinnerung zu rufen, den er gesehen hatte, doch es gelang ihm nicht. Dabei hatte er das ... Etwas eigentlich ganz deutlich gesehen. Es war, als hätte irgendetwas in ihm sich geweigert mehr als ein helles Aufblitzen von Knochenweiß und den flüchtigen Eindruck gewaltiger Klauen und Furcht einflößender Zähne wahrzunehmen.

»Sieh mal da«, sagte Gorg. Er ließ sich in die Hocke sinken und deutete mit der ausgestreckten Hand auf den Rand des Loches.

Es dauerte einen Moment, bis auch Kim auffiel, was der Riese bemerkt hatte, doch dann lief ihm ein eisiges Frösteln über den Rücken.

Die meisten Fliesen waren einfach nach oben und beiseite gedrückt worden, als hätte sich irgendetwas mit unvorstellbarer Kraft geradewegs aus dem Erdinnern nach oben gearbeitet. Etliche waren auch zerbrochen - und in mehr als einer waren unverkennbare Spuren zu sehen.

»Mein Gott«, murmelte Kim. »Das sind ...«

»Zähne«, führte Gorg den Satz zu Ende. Er streckte die Hand weiter aus, löste mit einiger Mühe eine der zerborstenen Fliesen aus dem Boden und hielt sie ins Licht. Kim sah die Spuren gewaltiger, stumpfer Zähne jetzt ganz deutlich. Trotzdem weigerte er sich, für einen Moment einfach zu glauben, was er sah. Wie die gesamte Festung bestand auch die Fliese aus pastellfarbenem Glas. Sie wirkte in Gorgs Hand klein, war aber gute zehn Zentimeter dick und maß mehr als einen Meter im Quadrat. Kim bezweifelte, dass er in der Lage gewesen wäre, sie auch nur anzuheben.

»Aber das ist Glas!«, murmelte er ungläubig. »Es ist härter als Stahl! Welches Geschöpf kann so etwas tun?«

»Keines, das ich kenne«, antwortete Gorg besorgt. »Nicht einmal ein Drache wäre dazu imstande.« Er stand auf, drehte die zerbrochene Fliese nachdenklich in der Hand und drehte sich um. »Wir müssen Themistokles wecken.«

»Glaubst du, er weiß, welches Geschöpf das war?«

»Ich glaube, dass wir dieses Loch schließen müssen«, antwortete Gorg. Der Ernst in seiner Stimme erschreckte Kim weit mehr als das, was er sagte. »Was immer diesen Tunnel gegraben hat, könnte wiederkommen. Wir brauchen einen mächtigen Zauberspruch um ihn zu schließen.«

Sie mussten nicht lange nach dem Zauberer suchen. Sowohl Themistokles als auch Sturm kamen ihnen auf halbem Wege entgegen, Sturm in seiner schon vertrauten Fetzenkleidung, Themistokles in einem rosafarbenen Nachthemd mit grünen Blümchen. Dazu trug er eine Schlafmütze mit einer rosa Bommel und Filzpantoffeln, die mindestens fünf Nummern zu groß waren. In der linken Hand trug er einen Kerzenständer aus Kupfer. Unter allen anderen Umständen hätte der Anblick Kim vor Lachen laut herausplatzen lassen. Jetzt erschreckte er ihn zutiefst.

»Was ist los?«, begann Themistokles. »Irgendetwas hat mich geweckt. Ein Gefühl.«

»Angst«, sagte Sturm geradeheraus. »Ich bin wach geworden und hatte furchtbare Angst. Und ich weiß nicht einmal, wovor.«

Kim und der Riese tauschten einen bezeichnenden Blick. Die anderen hatten es also auch gemerkt.

Gorg erklärte Themistokles und Sturm mit wenigen, sachlichen Worten, was geschehen war. Der Zauberer hörte schweigend zu, während Sturm neugierig nach der Fliese griff. Gorg reichte sie ihm.

»Das ist unheimlich«, sagte Themistokles kopfschüttelnd. Er musste lauter als gewohnt reden, um Sturms Gebrüll zu übertönen. Der Junge hüpfte abwechselnd auf dem einen und dann auf dem anderen Bein herum und massierte fluchend und brüllend seine Zehen.

Gorg bückte sich und hob die Fliese wieder auf. »Das ist es«, bestätigte er. »Aber wir sollten uns später den Kopf darüber zerbrechen, was das für ein Wesen war. Ich habe Angst, dass es zurückkommen könnte. Wir sollten den Tunnel versiegeln.«

»Ja, da hast du wohl Recht«, sagte Themistokles. Er schloss die Augen, murmelte einen Zauberspruch und unmittelbar vor Sturms Füßen materialisierten sich eine Schaufel und eine Spitzhacke. Sturm, der noch immer wild fluchend herumsprang, trat prompt auf die Schaufel, woraufhin der Stiel hochklappte und ihm zu allem Überfluss auch noch die Nase blutig schlug.

»Das ... wird vielleicht nicht reichen«, sagte Gorg vorsichtig. »Ich dachte eher an einen Zauberspruch.«

»Ein Zauberspruch.« Themistokles wiegte nachdenklich den Kopf. »Ja. Das klingt nach einer guten Idee. Zeigt mir doch, wo -« Er brach ab, sah auf seine rechte Hand hinab und machte ein bestürztes Gesicht. »Ich muss mir die Hände waschen. Ich sehe ja aus wie ein Ferkel, mit all diesen Tintenflecken an den Fingern!«

Kim betrachtete Themistokles' Hände. Sie waren vollkommen sauber. »Also, ich sehe nichts.«

»Es ist ja auch unsichtbare Tinte«, sagte Themistokles.

»Das Loch«, erinnerte Gorg.

»O ja, das Loch.« Themistokles nickte heftig. »Zeigt es mir.« Er, Kim und Gorg gingen. Sturm folgte ihnen in einigem Abstand, aber er ging nicht, sondern hüpfte fluchend von einem Bein auf das andere. Kim fiel auf, dass weder die Spinne noch Pack zu sehen waren, obwohl die beiden ihm normalerweise nie von der Seite wichen. Selbst Twix war nicht wieder aufgetaucht. Offensichtlich hatten auch sie den Odem des Fremden und Unheimlichen gespürt, der das Auftauchen des unbekannten Wesens begleitet hatte.

Aber so unbekannt war es ja vielleicht gar nicht. Kim hatte wieder das Gefühl, dass er ein solch unheimliches Erlebnis schon einmal gehabt hatte. Aber auch diesmal entglitt ihm der Gedanke wieder, bevor er wirklich Gestalt annehmen konnte. Sie traten wieder auf den Hof hinaus und Gorg führte Themistokles zu dem Loch, das das Ungeheuer in den Boden gerissen hatte. Themistokles beugte sich neugierig darüber und stellte sich dabei so ungeschickt an, dass er vermutlich kopfüber hineingestürzt wäre, hätte Gorg nicht blitzschnell zugegriffen und ihn festgehalten.

»Danke, Gorg«, sagte er. »Das ist wirklich tief! Erstaunlich! Wer mag es wohl gemacht haben? Und wozu?«

»Warum versiegelst du es nicht einfach?«, fragte Gorg geduldig. »Wir können später darüber nachdenken.«

»Vielleicht«, sagte Themistokles. »Andererseits: Jemand hat sich viel Mühe gemacht es zu graben. Er hatte bestimmt einen Grund dazu. Er könnte verärgert sein, wenn wir seine Arbeit einfach so zunichte machen.«

Kim wollte etwas sagen, aber Gorg warf ihm einen beinahe beschwörenden Blick zu und so schwieg er.

»Das geht schon in Ordnung«, sagte Gorg. »Tu es einfach - bitte.«

Themistokles sah den Riesen zweifelnd an, zuckte aber dann mit den Schultern und trat gehorsam an den Rand des Loches. Umständlich stellte er den Kerzenständer zu Boden, hob die Arme und begann leise vor sich hin zu murmeln. Zaubersprüche. Wenigstens hoffte Kim, dass es Zaubersprüche waren.

Er trat ein paar Schritte zurück und sah sich nach Sturm um. Der sommersprossige Junge kam langsam näher. Er hüpfte nicht mehr von einem Fuß auf den anderen, humpelte aber sichtbar und hatte die Lippen schmerzhaft verzogen.

»Wenn du jetzt lachst«, sagte er drohend, »dann bricht hier ein mittlerer Wirbelsturm los.«

»Ich lache ja gar nicht«, grinste Kim. Sturms Miene wurde noch finsterer und Kim drehte sich hastig wieder zu Themistokles und Gorg herum.

Der Zauberer hatte die Arme weiter erhoben und seine Stimme war zu einem monotonen Singsang geworden. Kims Sorge nahm ein wenig ab. Während der letzten Minuten hatte er ernsthaft daran zu zweifeln begonnen, dass Themistokles überhaupt noch dazu in der Lage war, zu zaubern, aber offensichtlich hatte er sich getäuscht. Vielleicht musste man Themistokles einfach nur ein wenig fordern.

Themistokles' Fingerspitzen begannen in einem sanften, bläulichen Licht zu glühen. Das Leuchten breitete sich rasch über seine Hände aus und kroch in die weiten Ärmel seines Nachthemds und plötzlich lag ein Knistern wie von elektrischer Spannung in der Luft.

Über dem Loch entstand ein Glühen. Eine sonderbar geformte, leuchtende Wolke bildete sich, aus der erste, vereinzelte Tropfen fielen und in der Tiefe des Loches verschwanden. Das Tröpfeln nahm rasch zu und wurde zu einem prasselnden Regen.

Gorg beugte sich vor, hielt die Hand in die Regentropfen und zog die Finger stirnrunzelnd zurück. Auf seiner Hand war ein brauner, zähflüssiger Belag zurückgeblieben.

Zögernd führte er die Hand zum Mund, berührte den braunen Belag mit der Zungenspitze und leckte sich dann zu Kims maßloser Überraschung genüsslich die Finger ab.

»Gut«, sagte er. »Wirklich ganz ausgezeichnet. Die beste Karamellschokolade, die ich je gegessen habe.«

»Schokolade?!«, krächzte Kim.

»Hast du schon einmal ein richtig hartes Karamellbonbon gegessen?«, fragte Themistokles. »An dem Zeug kann man sich die Zähne ausbeißen, so hart wird es!«

Kim starrte den Zauberer fassungslos an. Einen Moment lang konnte er sich noch selbst einreden, dass Themistokles vielleicht nur einen Scherz machte, aber ein einziger Blick in Gorgs besorgtes Gesicht machte ihm klar, dass es nicht so war. Gorg deutete ihm mit einer verstohlenen Geste zu schweigen, dann trat er neben Themistokles, legte ihm die Hand auf die Schulter und begann mit leiser Stimme auf ihn einzureden. Kim konnte nicht verstehen, was er sagte, aber nach einigen Augenblicken wurde der Schokoladenregen schwächer und hörte schließlich ganz auf.

Kim ging zu Sturm zurück. »Wie lange ist er schon so?«, murmelte er schockiert.

»Themistokles?« Sturm zuckte mit den Schultern. »Ich kenne ihn nicht anders. Er ist manchmal etwas seltsam.«

»Etwas seltsam? Großer Gott, Sturm - Themistokles ist eine Witzfigur geworden!«

»Lass ihn das bloß nicht hören«, sagte Sturm. »Sonst verwandelt er dich in einen Grashüpfer.«

»Ich meine es ernst, Sturm!«, sagte Kim. »Du kennst Themistokles nicht, wie er früher war! Er war ein beeindruckender Zauberer. Eine königliche Gestalt! Jetzt ist er ...«

»Ein alter Mann«, unterbrach ihn Sturm. »Wir alle werden einmal alt. Auch du.«

»Aber nicht so«, beharrte Kim. »Und nicht so schnell!«

Sturm sagte nichts mehr und Kim drehte sich wieder um und sah zu Themistokles und dem Riesen hin. Das Bild hatte sich geändert: Themistokles stand noch immer mit hoch erhobenen Armen am Rande der Grube, aber er ließ nun keine Schokolade mehr in das Loch hinabregnen. Vielmehr zuckten aus seinen Fingerspitzen blauweiße, grelle Funken, die sich zu dünnen Blitzen verästelten und mit einem hellen Zischen in dem Loch in der Erde verschwanden. Nach einer Weile wandte sich Gorg um und kam mit schnellen Schritten auf sie zu.

»Anscheinend hat er wieder zu sich gefunden«, sagte er. »Für einen Moment war ich wirklich in Sorge.«

»Was war denn los?«, fragte Kim.

Gorg seufzte. »Themistokles wird alt«, sagte er. »Und vergesslich.«

»Themistokles doch nicht!«, protestierte Kim. »Er ist ein Zauberer.«

»- dessen Zauberkraft erlischt«, unterbrach ihn Gorg. »Irgendwann musste es einmal passieren. Niemand ist unsterblich. Auch Zauberer nicht. Nur ist der Zeitpunkt denkbar ungünstig.«

Er seufzte wieder tief und sah dann erneut zu Themistokles hin. Der Zauberer schleuderte noch immer blaues Feuer in die Tiefe des Lochs. Die Luft roch scharf, wie nach einem heftigen Gewitter, und Kim hatte das Gefühl, dass der Boden unter ihren Füßen ganz sacht zu zittern begonnen hätte.

Offensichtlich bildete er sich das auch nicht nur ein, denn nach einer Weile sagte Gorg: »Übertreib es nicht, Themistokles.«

»Ich bin das nicht«, sagte Themistokles. »Aber ich bin auch gleich so weit. Nur noch ein Augenblick und nichts von dieser Welt kann noch durch diesen Tunnel gelangen.« Seine Stimme war wieder ganz klar und so kräftig und selbstbewusst, wie Kim es gewohnt war. Vielleicht war ihre Sorge doch übertrieben gewesen.

Das Zittern des Bodens nahm jedoch nicht ab, sondern ganz im Gegenteil noch zu. Aus dem sanften Vibrieren wurde ein Beben, das sich rasch zu einer Folge gleichmäßiger, fast rhythmischer Stöße steigerte, so als ...

»Da stimmt was nicht«, murmelte Gorg. Und plötzlich schrie er: »Themistokles! Hör auf! Du lockst es damit an!«

Es war zu spät. Etwas Blasses, ungeheuer Großes tauchte aus dem Loch im Boden auf, stieß ein mächtiges Brüllen aus und griff mit fürchterlichen Klauen nach Themistokles. Der Magier taumelte zurück, hatte die Arme aber noch immer erhoben und schleuderte Blitz um Blitz auf die Kreatur, die hoch aufgerichtet und in blaues Feuer gebadet dastand und vor Schmerz und Wut brüllte, sonderbarerweise aber immer noch nicht wirklich zu erkennen war. Kim sah nur gewaltige Klauen, schimmernde Panzerplatten und riesige, mitleidlose Insektenaugen. Und auch die Angst war wieder da, das Gefühl, einem ... Ding gegenüberzustehen, das nicht Teil der Schöpfung, sondern eine Kreatur aus einem vollkommen anderen, feindseligen und unverständlichen Universum war. Kim krümmte sich wie unter Schmerzen und auch Sturm und Gorg rissen schreiend die Arme vor das Gesicht und taumelten zurück. Themistokles stürzte zu Boden. Seine Finger schleuderten noch immer blauweißes Feuer auf die Kreatur und Kim konnte selbst über die große Entfernung hinweg die unvorstellbare Hitze fühlen, die in den Energieblitzen des Zauberers steckte. Das Toben des Ungeheuers nahm jedoch keineswegs ab. Es schien, als würde Themistokles' Angriff die Kreatur noch stärken statt sie zu schwächen.

Gorg schrie wie unter unerträglichen Schmerzen auf und rannte los. Themistokles lag hilflos auf dem Rücken. Die Kreatur beugte sich über ihn, streckte die schrecklichen Klauenhände aus und hatte ihn fast erreicht, als Gorg heran war und den Zauberer einfach in die Höhe riss. Themistokles' Hände sprühten noch immer blaues Feuer. Ein Teil davon streifte Gorg und setzte sein Haar und seinen Bart in Brand. Gorg schlug die Flammen mit einer Hand aus, riss Themistokles mit der anderen in die Höhe und zerrte ihn rücksichtslos mit sich. Die Kreatur brüllte vor Enttäuschung und bäumte sich noch weiter auf, groß, ungeheuer groß und so unvorstellbar hässlich, dass Kims Verstand sich einfach weigerte seine genaue Gestalt zu erkennen.

Endlich erwachte auch Kim aus seiner Erstarrung. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was er tun sollte, aber er rannte trotz seiner panischen Angst einfach los um Themistokles und Gorg irgendwie zu helfen.

Er schaffte nicht einmal die halbe Strecke. Ein plötzlicher, unvorstellbar heftiger Windstoß traf ihn und ließ ihn nach vorne fallen. Er stürzte, schlug instinktiv die Arme über den Kopf und presste sich flach auf den Boden um dem Sturm möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Zwischen den Fingern hindurch sah er zu Gorg und Themistokles hin.

Selbst der Riese war durch die plötzliche Sturmböe von den Füßen gerissen worden. Themistokles und er schlitterten hilflos über den Hof.

Die allergrößte Wucht des Sturmes aber traf das Ungeheuer. Der Sturm wuchs in Sekundenschnelle zu solcher Gewalt an, dass Kim kaum noch etwas sehen konnte. Die Kreatur schrie und tobte vor Wut, aber das Heulen des Orkans verschluckte jeden anderen Laut.

Eine Windhose bildete sich, begann sich schneller und schneller und immer schneller zu drehen und raste plötzlich im Zickzack auf das Ungeheuer zu.

Die Kreatur wurde regelrecht in den Boden gestampft. Die Windböe ergriff sie, wirbelte sie immer schneller herum und presste sie dabei mit unwiderstehlicher Gewalt in das Loch zurück, aus dem sie herausgekommen war. Nach nur wenigen Sekunden war alles vorbei. Der rasende Mini-Tornado verschwand in dem Tunnel, riss die Kreatur mit sich und entwickelte trotz allem noch genug Kraft, um die Ränder der Grube zum Einstürzen zu bringen.

Selbst als wieder Ruhe eingekehrt war, blieb Kim noch etliche Sekunden mit angehaltenem Atem liegen. Erst dann wagte er es, die Arme herunterzunehmen und aufzustehen. Sofort lief er zu Gorg und dem Zauberer hin.

Gorg hatte sich auf Hände und Knie erhoben und wirkte benommen. Sein Haupthaar und ein Teil seines Bartes waren angesengt und hatten sich gekräuselt und die Flammen hatten auch auf seiner Haut Spuren zurückgelassen. Trotzdem kümmerte er sich als Erstes um Themistokles.

Der Zauberer setzte sich umständlich auf und schüttelte benommen den Kopf, machte aber eine abwehrende Geste, als Gorg nach ihm greifen wollte.

»Bist du verletzt?«, fragte Kim besorgt.

»Ich ... glaube nicht«, murmelte Themistokles. »Nein ... mir fehlt nichts.«

»Was um alles in der Welt war das?«, fragte Gorg.

»Ich weiß es nicht«, sagte Themistokles. »Ich habe so etwas noch nie gesehen und auch nicht davon gehört. Diese Kraft! Diese unvorstellbare Wut. Ich war vollkommen hilflos! Wenn Sturm nicht den Tornado geschickt hätte ...«

Er sah mit einem Ruck auf. »Sturm!«

Auch Gorg und Kim fuhren erschrocken herum. In ihrer Erleichterung, dem Ungeheuer entkommen zu sein und vor allem Themistokles lebend und unverletzt zu sehen, hatten sie Sturm für den Moment einfach vergessen.

Der Junge lag auf der anderen Seite des Hofes, dort, wo Kim ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er war auf die Seite gefallen und regte sich nicht mehr. Sofort sprangen sie auf und eilten zu ihm.

Sturm hatte das Bewusstsein verloren. Sein Atem ging so flach, dass Kim im ersten Moment nicht einmal sicher war, dass er noch lebte. Nachdem Themistokles ihn jedoch flüchtig untersucht hatte, schüttelte er erleichtert den Kopf und sagte: »Er ist nicht verletzt. Ich glaube, er ist nur vollkommen erschöpft.« Er warf einen raschen, unsicheren Blick zu der Stelle zurück, an der das Loch gewesen war. »Ich wusste bisher nicht einmal, dass er zu so etwas fähig ist.«

»Ich bringe ihn in sein Zimmer«, erbot sich Gorg. Er nahm Sturm auf die Arme, ohne Themistokles' Antwort abzuwarten, und trug ihn zum Haus zurück. Themistokles und Kim sahen ihm besorgt nach.

»Bist du sicher, dass ihm nichts passieren wird?«, fragte Kim. »Ja«, antwortete Themistokles. »Er hat sich überanstrengt, das ist alles. Ein paar Stunden Schlaf und eine kräftige Mahlzeit und er ist wieder ganz der Alte.« Er seufzte. »Ich mache mir trotzdem Vorwürfe. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.«

»Du konntest nicht wissen, dass das Ding ganz wild auf Schokolade ist«, sagte Kim. Es sollte ein Scherz sein, ein schwacher Versuch, die Situation zu entspannen, aber der Ausdruck von Schmerz in Themistokles' Augen wurde nur noch stärker.

»Ich wollte es gerade nicht sagen«, sagte er, »weil Gorg sich so große Sorgen um mich macht. Aber die Wahrheit ist, dass dieses Geschöpf nicht immun gegen meine Kräfte war.«

»Es hat sie aufgesaugt«, vermutete Kim.

»Du hast es gespürt«, sagte Themistokles düster. »Ja. Mit jedem magischen Hieb, den ich ihm versetzte, habe ich es nur stärker gemacht.«

»Aber das konntest du doch nicht wissen!«

»Es ist noch viel schlimmer, Kim«, sagte Themistokles. »Es hat mir nicht nur meine Kräfte entzogen! Ich habe es durch meine Zaubersprüche überhaupt erst angelockt! Ich hätte es spüren müssen. Ich glaube, ich habe es sogar gespürt. Aber ich war unfähig etwas zu tun.«

»Und was hättest du tun sollen?«, fragte Kim.

Darauf antwortete der Zauberer nicht mehr. Er sah Kim nur noch einen Moment lang traurig an. Dann drehte er sich herum und ging langsam und mit hängenden Schultern zum Palast zurück.

An Schlaf war in dieser Nacht natürlich nicht mehr zu denken. Kim folgte Gorg in Sturms Zimmer um sich um den Jungen zu kümmern, aber es gab nichts, was er für ihn tun konnte. Es war wohl so, wie Themistokles gesagt hatte: Sturm war nicht verletzt, sondern nur am Ende seiner Kräfte. Kim blieb mehr als eine Stunde an Sturms Bett sitzen, dann verließ er leise das Zimmer und machte sich auf die Suche nach Themistokles.

Er fand ihn in seiner Studienkammer im Turm, doch der alte Zauberer hatte keine Zeit für ihn. Er hatte sein albernes Nachthemd gegen sein gewohntes, weißes Gewand getauscht und zu Kims Erleichterung auch die Mütze und die närrischen Pantoffeln abgelegt. Auf seinem Tisch stapelten sich mindestens ein Dutzend Bücher, in denen er abwechselnd blätterte. Er schickte Kim nicht direkt fort, aber Kim spürte selbst, dass er störte, und zog sich nach wenigen Augenblicken wieder zurück.

Also ging er in sein Zimmer in der schwachen Hoffnung, wenigstens Twix oder die Spinne zu treffen. Von der Elfe zeigte sich jedoch keine Spur und die Spinne hatte sich hoch unter der Decke ein Netz gewoben und schlief.

Am Ende einer langen, zäh und endlos dahintröpfelnden Nacht ging draußen endlich wieder die Sonne auf und mit dem ersten grauen Schimmer des Tages trat Kim wieder ans Fenster und sah auf den Hof hinab. Das Loch, das die Kreatur in das Pflaster gerissen hatte, sah aus der Entfernung betrachtet regelrecht harmlos aus. Der künstliche Tornado, den Sturm ausgelöst hatte, hatte es nachhaltiger verschüttet, als wohl selbst ein Dutzend Bauarbeiter es in einer Woche gekonnt hätten. Kim vermutete, dass der Stollen auf ganzer Länge zusammengebrochen war. Was immer ihn gegraben hatte, würde auf diesem Wege nicht noch einmal hier hereinkommen.

Er wollte sich gerade wieder abwenden, als er eine Bewegung am Tor bemerkte. Eine einzelne, in dunkle Baumwollhosen und ein grobes Kettenhemd gekleidete Gestalt betrat den Hof. Der Mann trug einen gewaltigen Schild am linken Arm und ein noch gewaltigeres Schwert auf dem Rücken. Es war von kräftiger Statur und hatte einen schwarzen, kurz geschnittenen Bart.

Wolf.

Kim runzelte die Stirn. Der Krieger hatte ihnen Zeit bis zum nächsten Sonnenuntergang gegeben um sich zu entscheiden, und was immer Kim auch von ihm hielt, hatte er ihn bisher doch stets für einen Mann gehalten, der zu seinem Wort stand. Wieso also kam er jetzt hierher, mehr als zwölf Stunden vor Ablauf des Ultimatums?

Er drehte sich rasch herum und ging zur Tür und die Spinne, die bis jetzt perfekt die Schlafende gemimt hatte, ließ sich an einem Faden blitzschnell zu Boden gleiten und trippelte neben ihm her.

»Machst du einen Morgenspaziergang?«, erkundigte sich Kim. »Wenn du auf die Elfe wartest, muss ich dich enttäuschen. Ich habe sie seit gestern Nacht nicht mehr gesehen.«

»Sie wird schon kommen«, antwortete die Spinne. »Ich habe Zeit.«

Kim lächelte flüchtig. Es fiel ihm immer schwerer zu glauben, dass die Spinne Twix wirklich fressen würde. Aber es tat gut, nicht ganz allein, sondern einen Freund bei sich zu haben. Selbst wenn es nur eine streitlustige, ständig schlecht gelaunte Spinne war.

Sein Lächeln erlosch sofort, als er die Halle betrat und Wolf erblickte. Der Krieger war tatsächlich allein gekommen, stand aber nun schon wieder in einen heftigen Streit mit Gorg verwickelt da. Offensichtlich hatte der Riese Wolf hier unten in der Halle bereits erwartet.

»Aber ich muss mit ihm sprechen!«, sagte Wolf gerade.

»Wenn du nicht auf der Stelle verschwindest, Wolf, dann wirst du mit niemandem mehr sprechen!«, antwortete Gorg drohend. »Ich scherze nicht! Es ist das zweite Mal, dass du mit einer Waffe in der Hand hierher kommst. Jeder andere an deiner Stelle wäre jetzt bereits tot! Ich habe dich nur um unserer alten Freundschaft willen bisher verschont, aber du solltest den Bogen nicht überspannen!«

Kim wurde hellhörig. Das war eine neue Information, die vielleicht noch einmal von Wichtigkeit sein konnte. Er ging weiter ohne etwas zu sagen. Gorg und Wolf waren so sehr damit beschäftigt, zu streiten, dass sie ihn bisher noch nicht bemerkt hatten. Vielleicht erfuhr er ja noch mehr Einzelheiten.

»Was ist nur aus dir geworden, Gorg?«, sagte Wolf kopfschüttelnd. »Es gab eine Zeit, da hätte man dich nicht zweimal bitten müssen dich für die richtige Seite zu entscheiden.«

»Das habe ich längst«, knurrte Gorg. »Und meine Seite ist dies hier. Wir werden nicht Partei ergreifen. Gorywynn ist neutral.«

»Die liebste Ausrede aller Feiglinge zu allen Zeiten«, sagte Wolf.

»Feigling?« Gorgs Gesicht färbte sich rot. »Ich werde dir gleich zeigen, wer -«

»Gorg!«, sagte Kim.

Der Riese fuhr erschrocken herum und musterte ihn finster, während auf Wolfs Gesicht ein Ausdruck deutlicher Erleichterung erschien.

»Kim!«, rief er. »Du bist es! Das ist gut!«

»Das wird sich noch herausstellen«, sagte Kim kühl. »Du bist zwölf Stunden zu früh. Oder ist dir der Unterschied zwischen Sonnenauf- und Untergang nicht geläufig?«

»Ich bin gekommen um euch zu warnen«, sagte Wolf. »Dich und diesen starrköpfigen großen Tölpel da!«

Die Spinne marschierte mit gemächlichen Schritten an Kim vorbei und begann einen langsamen Kreis um Wolf zu schlagen. Wolf sah nervös auf sie herab, riss sich dann aber mit sichtbarer Anstrengung von ihrem Anblick los und wandte sich wieder an Kim.

»Keiner von meinen Männern weiß, dass ich hier bin«, sagte er. »Tatsächlich wären die meisten nicht damit einverstanden, dass ich euch warne. Gorywynns Neutralität steht auf schwachen Füßen, Kim. Ich persönlich glaube, dass Themistokles gute Gründe hat, sich nicht in den Krieg einzumischen - auch wenn ich sie wohl nie verstehen werde. Viele aus meinem Heer halten euch jedoch einfach für feige. Ihr könnt nicht auf unsere Hilfe zählen, wenn Kais Heer die Festung wirklich angreift.«

»Wer braucht schon eure Hilfe?«, höhnte Gorg.

»Du«, antwortete Wolf ernst. Dann sah er stirnrunzelnd an sich herab. Die Spinne hatte ihre ruhelose Umkreisung unterbrochen und war näher gekommen. Ihre beiden vorderen Beine tasteten prüfend über Wolfs Wade, glitten über das Knie und weiter seinen Oberschenkel hinauf.

»Nicht schlecht«, sagte sie nachdenklich. »An ihm ist sehr viel mehr dran als an der halben Portion, mit der du das letzte Mal zusammen warst.«

»Beachte sie gar nicht«, sagte Kim. »Also, Wolf: Was willst du?«

»Euch warnen«, antwortete Wolf. »Kais Heer hat während der Nacht Verstärkung erhalten. Sie sind uns zwanzig zu eins überlegen. Selbst wenn wir es wollten - wir könnten euch nicht beschützen. Ich bin ziemlich sicher, dass er Gorywynn angreifen wird, wenn du dich ihm nicht stellst.«

»Damit werden wir schon fertig«, sagte Gorg.

»Zwei Wochen«, murmelte die Spinne. »Wenn nicht sogar drei.«

»Ihr haltet keine zwei Stunden gegen sie durch!«, sagte Wolf zornig. »Und jetzt hör endlich auf an mir herumzufummeln, du hässliches Vieh!«

»Ich bin nicht hässlich!«, protestierte die Spinne. »Ich bin vielleicht zu dünn, aber das kommt nur, weil -«

»Ich glaube, das hat sie nicht gemeint«, sagte Kim rasch.

»Jedenfalls danken wir dir für deine Warnung, Wolf.«

Der Krieger starrte ihn fassungslos an. »Hast du denn nicht verstanden?«, fragte er. »Sie werden dich holen! Kais Heer wartet nur auf einen Vorwand um Gorywynn in Schutt und Asche zu legen! Willst du zusehen, wie all deine Freunde sterben? Deinetwegen?«

»Und was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun?«, fragte Kim.

»Komm mit mir«, sagte Wolf. »Du hast nichts zu befürchten. Im Gegenteil. Wir sind deine Freunde.«

Gorg lachte schrill und auch Kim schüttelte den Kopf und zog eine Grimasse. »Als wir uns das letzte Mal begegnet sind, hatte ich nicht das Gefühl, dass du mich in dein Herz geschlossen hast.«

»Das war etwas anderes«, behauptete Wolf. »In jenem Gasthaus wusste ich nicht, wer du warst. Ich hielt dich für einen Spion! Du hast gesehen, was Kais Heer angerichtet hat!«

Kim glaubte ihm sogar. Allein sein Alter hatte ihn ganz automatisch zu einem Todfeind der Männer gemacht, die er in jenem Gasthof getroffen hatte. Streng genommen konnte er von Glück sagen, dass er überhaupt noch lebte.

»Und warum habt ihr mich später verfolgt?«, fragte er. »Nur um mich vor Kai und seinem Heer zu schützen?«

»Ich könnte jetzt ja sagen«, antwortete Wolf, »aber das wäre nicht die Wahrheit. Der eine Grund war, dass der Magier der Zwei Berge alles unternimmt um dich in seine Gewalt zu bekommen. Du musst unglaublich wichtig für ihn sein.«

»Das habe ich mir auch schon gedacht«, sagte Kim. »Aber ganz ehrlich, Wolf: Ich weiß nicht, warum. Und was ist der andere Grund?«

»Du«, antwortete Wolf ohne Umschweife. »Ganz einfach, weil du du bist.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Kim.

»Du hast unsere Welt schon zweimal vor dem sicheren Untergang bewahrt«, antwortete Wolf.

»Das mag ja alles sein, aber das war auch etwas völlig anderes«, beharrte Kim. »Bitte, Wolf - ich weiß nicht, wofür ihr mich haltet, aber was immer es sein mag: Es stimmt nicht. Ich bin ein ganz normaler Mensch.«

»Du bist ein Held«, beharrte Wolf. »Dein Name ist eine Legende. Ich persönlich halte dich nicht für etwas Besonderes. Du hast Mut und du bist nicht dumm, aber das gilt auch für viele andere. Doch was ich glaube, das spielt keine Rolle. Ich kann dich aus der Stadt bringen. Kai wird Gorywynn nicht angreifen, wenn du nicht mehr da bist.«

»Wie nobel«, spottete Gorg.

»Und was hättest du davon?«, wollte Kim wissen.

»Dich«, antwortete Wolf mit unerwarteter Offenheit. »Ich will ehrlich sein: Wir sind dabei, diesen Krieg zu verlieren: Viele meiner Männer sind des Kämpfens müde. Väter wollen nicht mehr gegen ihre Söhne kämpfen und Brüder nicht mehr gegen ihre jüngeren Brüder. Noch gewinnen wir die meisten Schlachten, aber das wird nicht mehr lange so bleiben. Ich brauche etwas um meinen Kriegern wieder Mut zu geben.«

»Mich.«

»Dich«, bestätigte Wolf. »Mit dir an unserer Spitze können wir gewinnen.«

»Ich weiß nicht einmal, an welcher Seite man ein Schwert anfasst«, behauptete Kim.

»Selbst wenn das die Wahrheit wäre - was es nicht ist -«, antwortete Wolf, »wäre es egal. Du musst nicht kämpfen. Schließ dich uns an, mehr verlange ich nicht. Das allein würde uns die Kraft geben weiterzukämpfen.«

Kim antwortete nicht gleich. Wolfs Worte waren ehrlich gemeint, das spürte er. Und vermutlich hatte er sogar Recht. Er war nicht irgendwer. Er hatte diese Welt zweimal gerettet, wenn auch unter Umständen, die mit diesen hier nicht zu vergleichen waren. Trotzdem rankten sich um seinen Namen Legenden. Eltern nannten ihre Söhne nach ihm und wahrscheinlich wurden an langen Winterabenden seine Taten immer und immer wieder erzählt.

Vielleicht könnte er Wolf und seinen Kriegern tatsächlich zum Sieg verhelfen, ganz einfach, indem er sich ihnen anschloss. Und die Verlockung war für einen Moment sehr groß. Allein der Gedanke, noch einmal an der Spitze eines gewaltigen Heeres in die Schlacht zu reiten, in dem sicheren Wissen auf der richtigen Seite zu stehen und eine ganze Welt vor dem Untergang zu bewahren, hatte etwas ungemein Verlockendes.

Aber dann schüttelte er den Kopf. »Es tut mir Leid«, sagte er. Wolf war enttäuscht, aber er musste wohl spüren, wie wenig Sinn es hatte, weiter in ihn zu dringen. »Mir auch«, sagte er. »Ich wünsche dir und deinen Freunden viel Glück. Ich werde nun gehen und meine Männer sammeln.«

»Wozu?«, fragte Gorg misstrauisch.

»Kai hat eine Menge Truppen vor den Toren«, antwortete Wolf. »Truppen, die ihm nun an einer anderen Stelle fehlen. Vielleicht können wir einen Vorteil daraus ziehen.«

Er ging ohne ein weiteres Wort.

Erst als er schon lange außer Hörweite war, fragte Gorg leise: »Warum hast du sein Angebot abgelehnt?«

»Warum bist du noch hier?«, gab Kim zurück.

»Um Themistokles zu schützen«, antwortete Gorg. »Ich weiß nicht, was ich an deiner Stelle getan hätte. Vielleicht wäre ich mit ihm gegangen.«

Kim sagte nichts mehr dazu. Gorg hatte im Grunde nur laut ausgesprochen, was er selbst vor wenigen Augenblicken erst gedacht hatte. Und wären die Umstände nur ein wenig anders gewesen, dann hätte er sich vielleicht tatsächlich für Wolf entschieden.

Aber irgendetwas sagte ihm, dass dieser Kampf nicht mit Gewalt entschieden werden würde.

»Ich werde jetzt gehen und Themistokles berichten, was Wolf uns mitgeteilt hat«, sagte Gorg, wandte sich um, machte einen Schritt und blieb dann noch einmal stehen um in fast beiläufigem Ton hinzuzufügen: »Und komm erst gar nicht auf die Idee.«

»Auf was für eine Idee?«, fragte Kim.

Gorg zog eine Grimasse. »Gib dir keine Mühe«, sagte er. »Ich kenne dich zu gut, Kim. Ich weiß, dass du mit dem Gedanken spielst dich heimlich aus der Stadt zu schleichen um uns zu schützen. Aber dieses Opfer wäre sinnlos.«

»Ach?«, fragte Kim.

»Ich kenne Kai und sein Heer«, antwortete Gorg. »Es würde nichts nutzen, glaube mir. Sie würden uns trotzdem alle töten und Gorywynn niederbrennen, schon aus Wut, weil du ihnen entkommen bist.«

»Ich verstehe dich nicht, Gorg«, sagte Kim kopfschüttelnd. »Versteh mich nicht falsch. Ich würde nie so weit gehen wie Wolf-«

»- und mich einen Feigling nennen?«, fragte Gorg.

»Ich weiß, dass du das nicht bist«, sagte Kim erst. »Aber ich frage mich, was mit dir geschehen ist. Warum machen wir es nicht wie früher? Lass uns unsere alten Freunde zusammensuchen und zu diesem Magier der Zwei Berge gehen!«

»Unsere alten Freunde?«

»Kelhim und Rangarig«, antwortete Kim. »Und meinetwegen auch den Tatzelwurm und -«

»Kelhim ist tot«, unterbrach ihn Gorg.

»Tot?!«

Gorg machte eine besänftigende Geste. »Er starb eines ganz normalen Todes«, sagte er. »Und er wurde sehr alt für einen Bären. Und Rangarig wurde seit einem Menschenalter von niemandem mehr gesehen. Niemand weiß, ob er noch lebt und wenn ja, wo.« Er seufzte. »Die Dinge ändern sich, Kim. Sieh mich an. Auch ich bin alt. Für einen Riesen bin ich sogar gebrechlich, auch wenn du es vielleicht nicht glaubst. Und ich muss hier bleiben um Themistokles zu beschützen.«

»Du willst einfach so aufgeben«, sagte Kim fassungslos.

»Keineswegs«, antwortete Gorg. »Aber wir können nicht einfach losrennen. Themistokles wird eine Lösung finden, da bin ich sicher.«

»Und wenn nicht er, dann Kai«, grollte Kim. »Allzu viel Zeit bleibt ihm aber dafür nicht mehr.«

»Mach dir keine Sorgen um ihn«, antwortete Gorg. »Kais Heer mag uns überlegen sein, aber ich denke, ich habe noch die eine oder andere Überraschung für ihn. Viele haben es versucht, aber Gorywynn wurde noch nie erobert.«

»Irgendwann ist immer das erste Mal«, sagte Kim.

»Möglicherweise«, antwortete Gorg achselzuckend. »Wer weiß ... vielleicht haben die anderen ja Recht und wir sind es diesmal, die sich irren. Irgendwann verliert man auch zum ersten Mal, weißt du?«

Wenn Gorg erwartet hatte, dass Kim ihm zu Themistokles folgte, dann sah er sich getäuscht. Kim war viel zu erregt um jetzt mit dem Zauberer zu reden - und sei es nur, weil er tief in sich die nagende Angst verspürte, dass Themistokles und Gorg vielleicht Recht haben könnten und ihn möglicherweise sogar davon überzeugen würden.

Er wollte nicht zugeben, dass diesmal vielleicht alles ganz anders sein konnte. Märchenmond war niemals eine ungefährliche Welt gewesen, aber den Gefahren, die ihnen hier drohten, hatte er immer auf die eine oder andere Weise begegnen können. Diesmal gab es nichts, wogegen er kämpfen konnte, denn beide Seiten waren zugleich im Recht wie Unrecht und es gab auch nichts, wohin er gehen und Hilfe holen konnte, denn alle Wege, die aus Märchenmond herausführten, waren verschlossen.

Wahrscheinlich gab es jetzt nur noch einen, der ihm helfen konnte.

Wenn er es wollte.

Er ging in das Zimmer, in dem Sturm schlief, zögerte noch einen letzten Moment und berührte ihn dann vorsichtig an der Schulter um ihn aufzuwecken.

Sturm erwachte schon bei der ersten flüchtigen Berührung. Seine Augen flogen mit einem Ruck auf und Kim fühlte sich von einem Windstoß gepackt, der wie aus dem Nichts plötzlich da war, und wurde mit solcher Wucht gegen die Wand geworfen, dass ihm der Schädel dröhnte.

»Oh«, sagte Sturm. »Das tut mir Leid. Entschuldige.«

»Schon gut«, murmelte Kim benommen. »Ich sollte mir angewöhnen dich nicht zu erschrecken. Wie fühlst du dich?«

»Ein wenig erschöpft«, antwortete Sturm. Seinem Aussehen nach war das glatt gelogen.

»Du hast uns alle gerettet«, sagte Kim. »Na ja - wenigstens Themistokles, Gorg und mich.«

»Halb so wild«, antwortete Sturm. »Ich schätze, das Ding hätte mich auch nicht verschont.« Er schauderte sichtbar. »Was war das für ein Geschöpf?«

Kim hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Niemand weiß es, nicht einmal Themistokles. Irgendein Ungeheuer.«

»Hauptsache, es ist weg«, sagte Sturm. Er schlug die Decke zurück und setzte sich auf. Seine Bewegungen waren unsicher und fahrig und verrieten mehr von seinem wirklichen Zustand, als ihm wahrscheinlich klar war.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte Kim leise.

»Hilfe?« Sturm zog eine Grimasse. »Im Prinzip gerne. Komm in einer Woche wieder oder besser in zwei. Ich bin froh, wenn ich aus eigener Kraft stehen kann. Ich bin vollkommen erschöpft.«

»Wir haben keine zwei Wochen«, sagte Kim ernst. »Wir haben nicht einmal zwei Tage.«

Er erzählte Sturm mit knappen Worten von Wolfs Besuch und dem anschließenden Gespräch mit Gorg. Sturm hörte schweigend zu und machte ein sehr besorgtes Gesicht.

»Das ist übel«, sagte er. »Aber was erwartest du jetzt von mir? Dass ich einen kleinen Wirbelsturm heraufbeschwöre und Kais Armee in alle Winde zerstreue?« Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Und ich würde es auch nicht tun, selbst wenn ich es könnte. Es könnten Menschen dabei zu Schaden kommen.«

»So wie gestern?«

»Das war etwas anderes«, behauptete Sturm. »Es war nur ein bisschen Wind. Niemand wurde verletzt. Um eine ganze Armee zu verjagen, wäre mehr nötig. Aber wie gesagt: Ich kann es auch gar nicht.«

»Und ich wollte es auch gar nicht«, sagte Kim.

»Was willst du dann?«

»Die Zauberkugel«, antwortete Kim. »Die Kugel, in die Themistokles seine Magie gebannt hat. Wir müssen sie wieder finden.«

Sturms Gesicht verdüsterte sich noch weiter. »Das ist unmöglich«, sagte er. »Bist du gekommen um mich daran zu erinnern, wessen Schuld das alles hier ist? Es ist dir gelungen.«

»Nein, Sturm«, sagte Kim. »Niemand will dir Vorwürfe machen! Was würde es denn auch nutzen? Ich möchte nur, dass du mir zeigst, wo es passiert ist. Vielleicht finden wir ja doch eine Möglichkeit ihn zurückzuholen.«

»Nein«, sagte Sturm. »Ganz davon abgesehen, dass wir Gorywynn dazu verlassen müssten. Der Weg ist viel zu weit. Weißt du, wo dieses Ende der Welt ist?«

»Nein«, antwortete Kim ehrlich.

»Weit jenseits des Landes Morgon«, sagte Sturm. »Du würdest Wochen brauchen, selbst mit dem schnellsten Pferd - und ohne dass die ganze Welt hinter dir her wäre.«

»Ich kann es mir vorstellen«, sagte Kim. »Aber wir sollten es zumindest versuchen.«

Sturm stand mit einem Ruck auf und trat ans Fenster.

Kim spürte einen Kloß im Hals. Er war nicht gekommen um Sturm zu verletzen, sondern um ihn um Hilfe zu bitten.

»Es war meine letzte Chance«, sagte Sturm leise und ohne sich zu ihm herumzudrehen. »Es war nicht der erste Fehler, den ich gemacht habe, weißt du?«

»Wie meinst du das?«

Sturm lachte bitter. »Ich bin ein Versager«, sagte er. »Eine vollkommene Niete! So meine ich das!«

Kim verstand kein Wort, aber er sagte nichts, sondern fasste sich in Geduld, bis Sturm von sich aus weitersprach.

»Ich bin ... noch kein richtiger Sturm«, sagte er leise. »Vielleicht werde ich es auch nicht. Meine Brüder und Schwestern lachen über mich. Was immer ich anfange, es geht schief. Soll ich einen lauen Frühlingswind erzeugen, wird ein Sturm daraus, der Bäume entwurzelt und Felder verwüstet. Wird ein Sturm gebraucht, so wird es eine sanfte Brise, und brauchen die Menschen Wind um über das Meer zu segeln, so verschlingt ein Unwetter ihre Schiffe. Ich wurde hierher geschickt, damit Themistokles mich unterweist und mir beibringt meine Kräfte richtig zu beherrschen. Du hast ja gehört, was passiert ist.«

»Aber das ist doch nicht deine Schuld!«, sagte Kim.

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