»Wessen sonst?«, fragte Sturm bitter.

Kim sagte nichts mehr. Er war verwirrt, sowohl über das, was er gerade erfahren hatte, als auch über den unerwarteten Ernst in Sturms Stimme. Er hatte bisher weder genau gewusst, wer Sturm war, noch weshalb er hier war. Er hatte sich eine andere Erklärung erhofft.

Er traf Themistokles an diesem Morgen nicht wieder.

Er hatte zwei- oder dreimal versucht zu ihm vorzudringen, war aber immer abgewiesen worden. Vor der Tür zu Themistokles' Studierzimmer standen zwei Männer der Palastwache, die ihm zwar sehr freundlich, aber auch vollkommen unnachgiebig den Zutritt verwehrten; der Zauberer habe zu studieren und hätte sich jede Störung aufs Schärfste verboten.

Auch Gorg war für Stunden verschwunden. Kim sah ihn nur einmal in Begleitung zweier Bewaffneter über den Hof eilen, war aber nicht schnell genug um ihn einzuholen. Wahrscheinlich versuchte Gorg die Verteidigung des Palastes vorzubereiten. Zumindest Twix tauchte wieder auf: Als er von seinem Besuch bei Sturm zurückkehrte, saß die Elfe auf seinem Bett und beäugte misstrauisch das dreieckige Netz, das die Spinne in einen Winkel der Zimmerdecke gesponnen hatte. Kims Frage, wo sie die ganze Nacht gewesen sei, überhörte sie geflissentlich.

Gegen Mittag kam der Pack in sein Zimmer, knallte wortlos einen Beutel mit Nahrungsmitteln auf den Tisch und zog sich dann in die entfernteste Ecke des Raumes zurück. Kim war eigentlich nicht hungrig, öffnete den Beutel aber trotzdem. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er im Großen und Ganzen das Gleiche enthielt, was der Pack ihm die ganze Zeit über gebracht hatte: frisch gepflücktes Obst, ein paar Beeren und Wurzeln und einige schmackhafte Pilze.

»Das ist sonderbar«, murmelte er.

»Was?«, fragte Twix.

Kim biss in einen Apfel und deutete auf die übrigen Lebensmittel. »Das ist alles frisch«, sagte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, woher es kommt. In Gorywynn leben nur noch wenige Menschen. Ich glaube nicht, dass auf dem Markt noch viel frisches Obst angeboten wird. Er kann doch unmöglich aus der Stadt gegangen sein, nur um ein paar Beeren zu pflücken!«

»Zuzutrauen wäre es ihm«, spöttelte die Spinne von der Höhe ihres Netzes aus. »Es wäre ja auch wohl viel zu leicht, einfach in die Speisekammer hinunter zu gehen.«

»Du verstehst mich nicht«, sagte Kim. »Wenn der Pack die Beeren wirklich draußen im Wald gepflückt hat, dann gibt es einen Weg aus der Stadt!«

»Und wer hat je behauptet, dass es den nicht gibt?«, fragte die Spinne. »Immer vorausgesetzt, du kannst dich vollkommen lautlos bewegen, klettern wie ein Affe und dich von Ast zu Ast schwingen.«

Kim setzte zu einer Antwort an, biss aber vorher noch einmal in den Apfel. In der nächsten Sekunde spuckte er den Bissen in hohem Bogen aus und starrte erschrocken auf den fast kleinfingerdicken Wurm, der aus dem Apfel herauskroch.

»Ja, ja«, kicherte die Spinne. »Ein Wurm. Der zweitschlimmste Anblick, nachdem man in einen Apfel gebissen hat.«

»Und was ist der schlimmste?«, erkundigte sich Kim.

»Ein halber Wurm«, antwortete die Spinne.

Kim legte den angebissenen Apfel behutsam aus der Hand, wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab und wandte sich an die Elfe.

»Du musst mir einen Gefallen tun«, sagte er. »Wenn es einen Weg aus der Stadt heraus gibt, dann kannst du ihn finden. Du fällst nicht auf und du bist schnell genug um im Notfall jedem zu entkommen.«

»Na ja ...«, sagte die Spinne. »Wenn sie Hilfe hat...«

Twix funkelte zu ihr empor, enthielt sich aber jeden Kommentars. »Wozu?«, fragte sie nur.

»Ich will nicht weglaufen«, antwortete Kim. »Ich weiß, was passiert, wenn Kai und seine Krieger hier auftauchen. Aber vielleicht finden wir ja einen Weg, auf dem wir alle hier herauskommen.«

»Wie du meinst«, sagte Twix. Sie wirkte nicht überzeugt, schwang sich aber gehorsam in die Luft und flog in einem weiten Bogen auf das Fenster zu. In einem sehr weiten Bogen - weit genug um ganz dicht über dem Netz hinwegzugleiten und es dabei - natürlich rein zufällig - mit goldenem Staub zu besprühen. Die Spinne kreischte empört und versuchte einen Faden abzuschießen um sich irgendwo festzuklammern, aber es war zu spät. Mit hilflos ausgebreiteten Beinen schlitterte sie an der Wand hinunter und landete ziemlich unsanft auf dem Rücken.

Twix verschwand kichernd aus dem Fenster und auch der Pack begann in seiner Ecke schadenfroh zu schnattern. Die Spinne richtete sich mit einiger Mühe wieder auf und funkelte ihn an.

»Ich an deiner Stelle würde die Klappe nicht so weit aufreißen«, zischte sie. »An dir ist zwar nicht viel dran, aber ein kleiner Appetithappen zwischendurch ist schließlich auch nicht zu verachten.«

»Hört auf, ihr beiden«, sagte Kim müde. »Mir ist wirklich nicht nach Scherzen zumute.«

Er hatte mit einer patzigen Antwort gerechnet, aber zu seiner Überraschung schwiegen sowohl der Pack als auch die Spinne und blickten ihn mit einem sonderbaren Ausdruck an.

Kim hatte keine Lust mehr zum Reden. Er ging wieder zum Tisch, untersuchte die übrigen Mitbringsel des Pack und aß weiter, nachdem er sicher war, keinen weiteren ungebetenen Gast zu haben. Die ersten Bissen weckten seinen Appetit erst richtig. Er aß den gesamten Inhalt des Beutels leer, hatte aber hinterher das Gefühl, hungriger als zuvor zu sein.

»Ich glaube, ich werde die Küche noch einmal inspizieren«, sagte er. »Kann ich euch beide allein lassen, ohne dass ihr euch gegenseitig abmurkst?«

Er bekam keine Antwort, aber die Spinne hatte sich bereits wieder herumgedreht und war auf dem Rückweg zur Wand; vermutlich um ein neues Netz zu bauen. Sie humpelte ein bisschen.

Kim verließ das Zimmer und lief die Treppe hinab in den Teil des Palastes, in dem sich die Küche, die Vorratskammern und die anderen Hauswirtschaftsräume befanden. Auch hier wirkten die großen Räume, in denen manchmal für die Bedürfnisse von tausend Gästen oder mehr gesorgt worden war, wie ausgestorben. Es dauerte fast zehn Minuten, bis er das erste Mal den Klang einer menschlichen Stimme hörte.

Er beschleunigte seine Schritte in die entsprechende Richtung, stürmte durch eine Tür und sah sich urplötzlich einem vielleicht zehnjährigen Jungen und einem etwas älteren blondhaarigen Mädchen gegenüber. Die beiden erschraken bei seinem Anblick so sehr, dass der Junge nahezu vom Stuhl fiel. Kim hatte alle Mühe ein Grinsen zu unterdrücken.

»Hallo«, sagte er. »Entschuldigt bitte. Ich wollte euch nicht erschrecken.«

»Das hast du nicht«, sagte der Junge - allerdings mit einem Gesichtsausdruck, der mehr als deutlich das Gegenteil behauptete. Das Mädchen fragte: »Wer bist du?«

»Mein Name ist Kim«, antwortete Kim. »Ich bin -«

»Kim?«, unterbrach ihn der Junge. Seine Augen wurden groß. »Du bist Kim? Ich ... ich meine: der Kim?«

»Natürlich ist er das«, sagte das Mädchen und versetzte seinem Begleiter einen derben Ellbogenstoß in die Rippen. »Schau ihn dir doch an! Er sieht genauso aus, wie man sich erzählt!« Sie wandte sich direkt an Kim. »Bitte verzeiht meinem Bruder, dass er Euch nicht gleich erkannt hat, Herr!«, sagte sie.

Und dann machte sie tatsächlich Anstalten, vor Kim auf die Knie zu sinken!

»He, he!«, sagte Kim erschrocken. »Lass das sein! Was soll denn das?«

Das Mädchen hielt verwirrt mitten in der Bewegung inne, sah Kim einen Moment lang fast erschrocken an und richtete sich dann zögernd wieder auf. Ihr Blick glitt unsicher über Kims Gesicht und senkte sich dann hastig wieder.

»Verzeiht«, flüsterte sie. »Ich wollte Euch nicht beleidigen, Herr.«

»Wenn du noch ein einziges Mal Herr zu mir sagt, dann bin ich beleidigt«, antwortete Kim mit übertrieben gespielter Strenge. Er sah jedoch sofort, dass er das besser nicht getan hätte, denn das Mädchen wurde noch blasser und sein Bruder begann immer unruhiger auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen und sah aus wie jemand, der sich am liebsten in das nächste Mauseloch verkriechen würde.

»Was soll das?«, fragte er noch einmal, jetzt allerdings in sehr viel sanfterem Ton. »Wieso behandelt ihr mich so ehrerbietig?«

»Nun, weil Ihr ... eben Ihr seid«, antwortete der Junge verwirrt.

»Aha«, sagte Kim.

»Du ... du bist doch Kim, oder?«, fragte der Junge mit einer Spur von Misstrauen in der Stimme. »Ich meine: der Bezwinger der Schwarzen Reiter? Der Held aus der Schlacht um Gorywynn?«

»Nun ja«, sagte Kim. »So könnte man es nennen. Aber das ist doch noch lange kein Grund, vor mir auf die Knie zu fallen.«

»Aber du bist ein Held!«, sagte das Mädchen. Ihre Stimme bebte vor Ehrfurcht und Kim musste zu seiner Überraschung feststellen, dass er das Gefühl, bewundert zu werden, durchaus genoss. Vor allem, als der Junge mit großen Augen hinzufügte:

»Wir kennen alle deine Abenteuer! Unsere Eltern haben uns von deinen Heldentaten erzählt. Ohne dich wäre Märchenmond verloren gewesen!«

»Zweimal«, sagte seine Schwester.

»Wahrscheinlich ist das meiste hoffnungslos übertrieben«, sagte Kim mit schlecht geschauspielerter Bescheidenheit. »Glaubt nur die Hälfte von dem, was ihr hört... Wo sind eure Eltern überhaupt?«

»Mutter ist auf den Markt gegangen um Lebensmittel zu kaufen«, sagte das Mädchen. »Falls es noch welche gibt. Es kommen nicht mehr viele Händler in die Stadt.«

»Unser Vater ist Hauptmann der Palastwache«, fügte der Junge mit hörbarem Stolz hinzu. »Ist es wahr, dass es eine große Schlacht geben wird?«

»Wer sagt das?«, fragte Kim.

»Alle«, antwortete der Junge. »Vater hat erzählt, dass Kais Krieger den Palast stürmen werden. Aber sie werden sich blutige Köpfe holen!« In seinen Augen erschien ein kampflustiges Funkeln. »Wir werden sie in die Flucht schlagen, ganz egal, wie viele sie sind!«

Kim zog fragend die Augenbrauen zusammen. »Euer Vater weiß, dass ein Kampf bevorsteht?«, fragte er zweifelnd. »Und er erlaubt trotzdem, dass ihr hier im Palast bleibt? Weiß er denn nicht, wie gefährlich das ist?«

»Aber wohin sollten wir denn gehen?«, fragte das Mädchen. »Nur Gorywynn ist vor dem unheimlichen Einfluss sicher. Wenn wir die Stadt verlassen, dann würden wir uns sofort Kais Armee anschließen.«

»Und wir wollen nicht gegen unsere Eltern kämpfen«, fügte der Junge hinzu. »Außerdem werden wir gewinnen, jetzt, wo Ihr ... ich meine, wo du bei uns bist! Ganz egal, wie groß die Übermacht auch ist! Wir werden den Feind schlagen, genau wie damals bei der ersten Schlacht um Gorywynn!«

»In dieser Schlacht sind viele meiner Freunde gestorben«, sagte Kim traurig. »Manche waren kaum älter als du. Und wir haben diese Schlacht nicht gewonnen, weißt du? Wir haben sie verloren und den Krieg deshalb gewonnen.«

»Das verstehe ich nicht«, antwortete der Junge.

»Gewalt ist niemals eine Lösung«, sagte Kim. »Manchmal geht es nicht ohne Gewalt, so traurig das ist, aber am Ende richten sich die Waffen fast immer gegen die, die sie erhoben haben.« Er schüttelte rasch den Kopf, als der Junge etwas sagen wollte. »Geht und sucht eure Eltern. Sagt ihnen, dass ihr mit mir gesprochen habt und dass ich sie bitte, euch aus der Stadt zu bringen, solange sie es noch können. Oder wenigstens aus dem Palast.«

»Aber wir wollen nicht davonlaufen!«, protestierte der Junge. »Sagt es ihnen einfach«, sagte Kim. Dann drehte er sich auf dem Absatz herum und ging. Er war plötzlich nicht mehr hungrig. Aber er wusste endlich, was er zu tun hatte.

Den ganzen Tag über herrschte ein hektisches Kommen und Gehen im Palast. Gorywynns Einwohnerzahl mochte auf einen Bruchteil dessen zusammengeschmolzen sein, was Kim gewohnt war, aber der allergrößte Teil dieser wenigen Zurückgebliebenen musste sich im Laufe des Tages im Palast des Zauberers eingefunden haben.

Kims Freude darüber währte jedoch nicht lange. Fast alle Stadtbewohner, die er sah, kamen in Waffen. Die Zahl der Posten, die hinter den Zinnen der Wehrmauer patrouillierten, nahm beständig zu, und auch im Hof waren immer mehr Bewaffnete zu sehen; Männer, Frauen, aber auch sehr viele Jungen und Mädchen, von denen etliche noch jünger zu sein schienen als die, mit denen Kim am Morgen gesprochen hatte. Auch Twix brachte keine guten Nachrichten. Die Situation war noch viel schlimmer, als Kim nach Wolfs Worten erwartet hatte. Vor Gorywynns Mauern musste eine ganze Armee lagern, die nach Tausenden zählte; wenn nicht nach Zehntausenden.

Es war bereits später Nachmittag - vielleicht zwei Stunden bis Sonnenuntergang -, als er Themistokles wieder traf. Kim war in den Hof hinuntergegangen um noch einmal die Stelle zu inspizieren, an der das Ungeheuer aufgetaucht war. Das gewaltige Loch in den gläsernen Fliesen war mittlerweile vollkommen geschlossen. Sturms Wirbelwind hatte seine Wände einbrechen lassen und Gorg hatte einen Teil seiner Männer angewiesen, den verbliebenen Trichter mit Schutt zu füllen und ein provisorisches Pflaster darüber anzubringen. Natürlich war die Stelle noch deutlich zu erkennen. Und noch viel deutlicher zu spüren.

Kim hätte den Ort selbst mit verbundenen Augen wieder gefunden. Es war, als hätte das Geschöpf irgendetwas zurückgelassen. Er konnte nicht sagen, was. Es gab für das Gefühl, das ihn erfüllte, kein Wort in seiner Sprache; vielleicht in keiner Sprache. Aber es war da, zu deutlich um es zu ignorieren oder auch nur als bloße Einbildung abzutun. Das Gefühl war so intensiv, dass es fast wie etwas körperlich Greifbares in der Luft zu hängen schien. Es kostete ihn enorme Mühe, sich aus dem Bann dieser unheimlichen Empfindung zu lösen und herumzudrehen.

Themistokles stand hinter ihm. Kim konnte nicht sagen, wie lange schon, denn der Zauberer hatte sich entweder vollkommen lautlos bewegt oder Kim hatte sich so auf die Erinnerung an die letzte Nacht konzentriert, dass er ihn gar nicht wahrgenommen hatte.

»Du kannst es auch nicht vergessen, wie?«, fragte Themistokles. Seine Stimme war sehr leise, fast nur ein Flüstern, und in seinen Augen stand ein Ausdruck, den Kim eindeutig für Angst gehalten hätte, hätte er nicht zugleich ganz genau gewusst, dass Themistokles vor nichts und niemandem Angst hatte.

»Nein«, antwortete Kim. »Hast du etwas herausgefunden?«

Themistokles machte eine Geste zu der versiegelten Stelle im Boden. »Über das Geschöpf?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe die ganze Nacht über geforscht. Ich habe die ältesten Aufzeichnungen gelesen, die geheimsten Bücher und selbst die verbotenen Schriften aus Morgon, doch ich habe nirgends auch nur den geringsten Hinweis gefunden. Niemand hat je von einem solchen Wesen gehört, geschweige denn es gesehen.«

»Vielleicht hat es nur nie jemanden gegeben, der eine Begegnung mit einem solchen Ungeheuer überlebt hat um davon zu berichten«, sagte Kim. Er schauderte schon wieder, selbst bei der bloßen Erinnerung an die vergangene Nacht. »Es war fürchterlich. Ich habe nie etwas Schrecklicheres gesehen.«

»Ich auch nicht«, gestand Themistokles. »Und doch frage ich mich, ob wir ihm nicht unrecht tun.«

»Diesem ... Ungeheuer?«, murmelte Kim.

»Vielleicht kommt es uns nur wie ein Ungeheuer vor«, sagte Themistokles leise, »weil es so vollkommen fremd ist. So gänzlich anders als alles, was wir kennen. Die Menschen fürchten nichts so sehr wie das Unbekannte, weißt du?«

Er lächelte, machte eine rasche Handbewegung und fuhr in verändertem Ton fort: »Doch ich bin nicht gekommen um zu philosophieren. Gorg hat mich gebeten mit dir zu reden. Er meint wohl, dass du eher auf mich als auf ihn hören wirst.«

»Und was will er von mir?«, fragte Kim.

»Der Tag neigt sich«, antwortete Themistokles, »und damit läuft auch Kais Ultimatum ab. Wir müssen damit rechnen, dass er seine Drohung wahr macht und uns angreift. Du hast gesehen, dass fast alle Einwohner Gorywynns schon hier sind, und die, die sich noch in der Stadt aufhalten, werden wohl auch noch kommen. Gorg glaubt, dass wir Kais Angriff standhalten können. Trotzdem möchte er - und ich auch -, dass du dich an einen sicheren Ort begibst.«

»Ich soll mich verstecken, während ihr -«, begann Kim, wurde aber sofort wieder von Themistokles unterbrochen.

»Gorg sagte mir, dass du so reagieren würdest«, sagte der Zauberer. »Du hast gesehen, dass viele Kinder und Alte unter den Flüchtlingen sind. Sie können nicht kämpfen und es gibt auch nichts, wohin sie flüchten können. Jemand muss auf sie Acht geben.«

»Eine elegante Methode, mich loszuwerden«, sagte Kim böse. »Es tut mir Leid, wenn du es so siehst«, erwiderte Themistokles. »Ich werde versuchen noch einmal mit Kai zu reden. Vielleicht lässt sich der Kampf doch noch verhindern - auch wenn ich keine große Hoffnung mehr habe, wenn ich ehrlich bin. Kai will den Kampf. Er hat nur auf einen Vorwand gewartet.«

Kim antwortete nicht mehr. Er hatte das Gefühl, dass Themistokles ihm etwas verschwieg. Er war nicht hergekommen um mit ihm über die vergangene Nacht zu reden und auch nicht um ihm Gorgs Wunsch mitzuteilen, sondern aus einem vollkommen anderen Grund.

Aber er wartete vergeblich darauf, dass Themistokles ihm diesen mitteilte.

»Gorg erwartet dich in einer Stunde in der großen Halle«, sagte der Zauberer nur. »Bitte sei pünktlich. Wir haben nicht viel Zeit.«

Damit wandte er sich um und ging. Kim wartete, bis er außer Hörweite war, dann warf er einen aufmerksamen Blick in die Runde. Der Hof war voller Menschen, aber weder Gorg noch sonst jemand, den er gekannt hätte, war in der Nähe. Das massive Tor stand weit offen. Kim blickte es einen Moment lang nachdenklich an, dann drehte er sich herum und ging mit schnellen Schritten in sein Zimmer zurück.

Ungefähr zu dem Zeitpunkt, zu dem Gorg in der großen Halle des Palastes stehen und auf ihn warten musste, näherte sich Kim der Stadtmauer Gorywynns.

Die Stadt war mittlerweile wirklich ausgestorben. Wie Themistokles gesagt hatte, waren die wenigen Menschen, die noch in Gorywynn lebten, ausnahmslos in den Schutz des Palastes geflohen. Selbst der Markt, auf dem er die freundlichen Menschen getroffen hatte, war nun verlassen.

Kim war allein. Er hatte weder dem Pack noch der Spinne etwas von seinem Plan verraten, sondern in aller Heimlichkeit seine Sachen gepackt, sich in einen einfachen Umhang gehüllt und war aus dem Palast geschlichen - was ihm erstaunlich leicht gefallen war, denn es herrschte noch immer ein reges Kommen und Gehen. Wahrscheinlich war sein Fehlen bisher noch nicht einmal aufgefallen.

Trotzdem hatte er sich wie ein Dieb auf der Flucht durch die Stadt geschlichen. Er hatte breite Straßen und erst recht Plätze gemieden und war durch Hinterhöfe und schmale Gassen geschlichen, wo es nur ging, und immer wieder hatte er Twix losgeschickt um nach Verfolgern Ausschau zu halten. Er hatte auch sie nicht in seinen Plan eingeweiht, die Elfe aber trotzdem mitgenommen. Sie zurückzulassen hätte schließlich nicht weniger als ihren sicheren Tod bedeutet.

Nun hatte er das Tor fast erreicht. Es begann zu dämmern und er hätte Twix nicht gebraucht um zu wissen, wo Kais Armee zu finden war. Er konnte den Lärm des Lagers bereits hören, und über der zinnengekrönten Mauer vor ihm war der Himmel dunkel vom Rauch zahlloser Feuer.

Seine Schritte wurden immer langsamer, je weiter er sich dem Tor näherte. Er hatte Angst vor dem, was vor ihm lag, und was viel schlimmer war: Er war ganz und gar nicht sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Was, wenn Gorg und Themistokles mit ihrer Befürchtung Recht hatten und Kai den Palast trotzdem stürmte?

Er verscheuchte den Gedanken und wandte sich an Twix, die wie üblich auf seiner Schulter saß. »Flieg los«, sagte er. »Ich warte hier.«

»Bist du sicher, dass sie mir nichts tun werden?« piepste die Elfe ängstlich. »Sie hassen alles, was mit der alten Magie zu tun hat. Und ich bin ein magisches Wesen.«

Es wäre leicht gewesen, Twix zu belügen. Die Elfe vertraute ihm bedingungslos. Aber er brachte es nicht übers Herz.

»Nein«, antwortete Kam ehrlich. »Ich bin nicht sicher. Aber wir haben keine andere Wahl. Sag ihm, dass er ohne Begleitung kommen soll.«

»Bist du denn sicher, dass er dir nichts tut?«, fragte Twix.

»Nein«, antwortete Kim.

»Dann gehen wir ja beide dasselbe Risiko ein, nicht wahr?«, sagte Twix achselzuckend. Sie schwang sich in die Luft und verschwand in Richtung Stadtmauer. Kim sah ihr nach, bis sie zu einem Punkt zusammengeschrumpft und schließlich ganz verschwunden war. Dann zog er sich in den Schutz einer Toreinfahrt zurück und wartete.

Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis er endlich wieder ein Geräusch hörte.

Nur war es nicht das Geräusch, auf das er gewartet hatte.

Er hörte Hufschlag.

Kim runzelte ärgerlich die Stirn. Das metallische Klappern war noch weit entfernt, aber er konnte trotzdem nicht überhören, dass es das Geräusch einer großen Anzahl Pferde war; ein Dutzend, wenn nicht mehr. Er hatte zur Bedingung gemacht, dass Kai allein kam.

Vorsichtig spähte er aus seiner Deckung heraus und stellte überrascht fest, dass der Bereich vor dem offen stehenden Stadttor leer war.

Das Geräusch kam aus der entgegengesetzten Richtung.

Kim begriff gerade noch rechtzeitig, was dieser vermeintliche Widerspruch bedeutete. Er bemerkte eine Bewegung aus den Augenwinkeln, duckte sich hastig wieder in den Schatten des gemauerten Torgewölbes und sah mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem zu, wie mindestens ein Dutzend schwer bewaffneter Reiter an seinem Versteck vorübersprengten. Angeführt wurden sie von niemand anderem als Gorg, dem Riesen.

Kims Herz begann noch heftiger zu schlagen, als er sah, wie die Reiter praktisch unmittelbar vor seinem Versteck ihre Pferde zügelten.

»Wir können nicht weiter!«, rief einer der Männer. »Kais Truppen lagern auf der anderen Seite der Mauer! Wenn sie uns bemerken, werden sie glauben, dass wir sie angreifen!«

Gorg starrte einige Augenblicke mit finsterem Gesicht ins Leere. »Vielleicht sollten wir das sogar tun«, grollte er. »Das wäre wahrscheinlich das Letzte, womit sie rechnen.«

»Wir müssen zurück, Herr«, sagte einer seiner Begleiter. »Die Sonne sinkt! Sie werden bald die Palasttore schließen.«

»Aber er muss irgendwo hier sein!«, beharrte Gorg. »Ich kann ihn fast fühlen! Dieser dumme Junge! Er hat ja nicht einmal eine Ahnung, was er anrichtet!«

»Vielleicht hat ihn ja einer der anderen Suchtrupps gefunden«, antwortete der Krieger. »Er kann nicht entkommen. Alle anderen Stadttore sind geschlossen.«

Gorg zögerte einige Augenblicke und als er schließlich nickte und sein Pferd herumdrehte, da konnte Kim aus seinem Versteck heraus deutlich sehen, wie schwer ihm die Bewegung fiel. Gorg hasste es, aufzugeben.

»Also gut«, knurrte er. »Zurück zum Palast!«

Die Reiter zogen ab, aber Kim blieb in seinem Versteck, bis der Hufschlag ihrer Pferde nicht mehr zu hören war. Und selbst dann schlich er auf Zehenspitzen vor und trat nur ganz behutsam aus seinem Versteck heraus. Er kannte Gorg gut genug um ihm zuzutrauen, dass er seinen Rückzug nur vorgetäuscht und einen Posten zurückgelassen hatte.

Aber der Platz war leer. Die Verfolger waren tatsächlich abgezogen.

Kim atmete hörbar auf. Seine Hände und Knie zitterten noch immer. Die Situation kam ihm irrwitzig vor. Er hatte sich gerade vor den Menschen versteckt, denen er auf der ganzen Welt am allermeisten vertrauen konnte!

Seine Zeit reichte gerade aus, dass sich das Zittern seiner Glieder legen konnte, da hörte er schon wieder Hufschlag. Diesmal kam er aus der erwarteten Richtung, vom Tor her. Kim drehte sich herum und sah etwas, was er erhofft, aber nicht wirklich erwartet hatte: Kai war tatsächlich allein gekommen. Er trabte langsam auf einem mächtigen weißen Schlachtross durch das offen stehende Tor und führte ein zweites, nicht minder prachtvolles Pferd am Zügel mit sich. Er trug noch immer die weiße Kleidung der Steppenreiter, dazu aber einen gewaltigen weißen Schild, auf dem zwei dunkelgrüne Dreiecke prangten: das Symbol des Magiers der Zwei Berge. An seinem Gürtel hing ein gewaltiges Schwert und über den Rücken hatte er eine Armbrust geschnallt. Der Junge sieht nicht mehr aus wie ein Junge, dachte Kim, sondern wie ein Krieger. Er fragte sich, was Kai nächste Woche, nächsten Monat oder spätestens nächstes Jahr tun würde, wenn er feststellte, dass er plötzlich zum Mann geworden war. Würde er die Seiten wechseln und in Wolfs Armee gegen seine ehemaligen Freunde kämpfen?

Kai kam langsam näher, viel langsamer, als nötig gewesen wäre. Sein Blick irrte unstet umher, tastete über jede Gasse und jede Tür, über jeden Schatten. Offensichtlich vermutete er einen Hinterhalt.

Kim löste langsam den Bogen von seiner Schulter, legte einen Pfeil auf die Sehne und dachte an Kais Herz. Der Pfeil zitterte ganz sacht und Kim senkte die Waffe, bis die Pfeilspitze auf den Boden wies.

»Du bist tatsächlich allein gekommen«, sagte Kai, nachdem er auf Hörweite herangekommen war und sein Pferd gezügelt hatte. Er deutete auf den Bogen in Kims Hand.

»Was soll das?«

»Wo ist Twix?«, fragte Kim an Stelle einer Antwort.

»Die Elfe? In unserem Lager. Sie wartet auf dich ... Ich frage dich noch einmal: Was soll das?«

»Nur eine kleine Vorsichtsmaßnahme«, antwortete Kim. »Du weißt, was das für eine Waffe ist?«

»Ein Zauberbogen«, sagte Kai ruhig. »Er passt zu dir.«

»Dann weißt du ja auch, dass der Pfeil dich auf jeden Fall treffen würde«, sagte Kim, »selbst wenn du mich vorher tötest.«

»Das habe ich nicht vor.« Kais Blick löste sich mit einiger Mühe von Turocks schwarzem Bogen und richtete sich auf Kims Gesicht. »Du wolltest mit mir reden. Ich bin hier. Jetzt rede. Ich habe nicht viel Zeit. Ich muss einen Angriff vorbereiten.«

»Genau darüber wollte ich mit dir sprechen«, sagte Kim. »Du wirst den Palast nicht angreifen.«

»Werde ich nicht?«, fragte Kai lauernd. »Wer sollte mich daran hindern?«

»Dein Wort«, antwortete Kim. »Ich mache dir einen Vorschlag, Kai: Ich werde dich begleiten. Ich werde widerstandslos mit dir gehen und dich zu deinem Herrn begleiten. Unter der Bedingung, dass dein Heer abzieht und ihr den Palast nicht angreift.«

»Ich glaube nicht, dass du in der Situation bist, Bedingungen zu stellen«, sagte Kai kühl. »Was sollte mich daran hindern, jetzt ja zu sagen und meinem Heer später trotzdem den Befehl zum Angriff zu geben?«

»Dein Wort«, antwortete Kim. Er machte eine knappe Bewegung mit dem Bogen. »Und das hier. Wenn du mich belügst, töte ich dich. Selbst wenn es mich auch das Leben kostet.«

Kai musterte ihn eine geraume Weile durchdringend. »Du meinst das ernst«, sagte er schließlich.

»Todernst«, bestätigte Kim. »Ich habe nichts zu verlieren.«

Wieder vergingen Sekunden, in denen Kai ihn einfach nur anstarrte. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass Kim mit ihm verhandeln wollte, sonst wäre er nicht allein gekommen und hätte wohl auch kein zweites Pferd mitgebracht. Womit er mit Sicherheit nicht gerechnet hatte, das war Kims Entschlossenheit.

»Du bist ein zäher Verhandlungspartner«, sagte er schließlich. Er machte eine Kopfbewegung auf das Pferd neben sich. »Steig auf.«

»Heißt das, du akzeptierst meine Bedingungen?«

»Sieht so aus«, sagte Kai. Er verdrehte die Augen, als Kim sich immer noch nicht rührte. »Also gut, wenn du auf diesen albernen Firlefanz bestehst: Ich gebe dir mein Wort, dass wir den Palast und deine närrischen Freunde nicht angreifen werden. Weder jetzt noch später. Es ist ohnehin nicht nötig.«

»Wieso?«

»Sie sind doch schon tot«, antwortete Kai abfällig. »Dieser närrische alte Magier und seine Freunde gehören schon der Vergangenheit an. Sie haben es nur noch nicht gemerkt.«

Die Worte trafen Kim wie ein Schlag ins Gesicht und viel mehr noch der Ton, in dem Kai sie ausgesprochen hatte. Aber er sagte nichts von alledem, was ihm auf der Zunge lag, sondern ging schweigend los und kletterte auf das Pferd. Kai sah ihm aufmerksam dabei zu, lenkte dann sein Pferd auf der Stelle herum und ritt zum Tor. Kim folgte ihm.

Als sie das Stadttor passierten, sah Kim, dass Kais Vertrauen doch nicht ganz so groß gewesen war, wie es bisher den Anschein gehabt hatte. Beiderseits des Tores waren mindestens ein Dutzend großer Leitern an die Mauer gelehnt worden, auf denen mit Bögen und Armbrüsten bewaffnete Krieger standen. Zweifellos hatten sie zwischen den Zinnen hindurch auf ihn gezielt. Hätte er auf Kai geschossen, so hätte er wahrscheinlich nicht einmal mehr lange genug gelebt um zu sehen, ob sein Pfeil traf.

Kai entgingen seine Blicke natürlich nicht. Er sagte auch weiter nichts, aber in seinen Augen blitzte es spöttisch auf.

Langsam näherten sie sich dem Heerlager. Kim erschrak trotz Twix' und Wolfs Warnung, als er sah, wie groß das Heer war, das der Magier der Zwei Berge aufgeboten hatte um seiner habhaft zu werden. Auf der Ebene vor Gorywynns Toren waren Tausende von Zelten aufgeschlagen worden.

Wusste Gorg, mit wie vielen Gegnern er es zu tun hatte? Wenn ja, dann verstand Kim seine Reaktion immer weniger. Selbst mit einem Bruchteil der Armee, die Kai bei sich hatte, hätte er den Palast im ersten Anlauf genommen!

»Deine Entscheidung war klug«, sagte Kai plötzlich. »Deine Freunde hätten ihr Leben vollkommen sinnlos weggeworfen, wie du siehst.« Er deutete auf den Bogen. »Den brauchst du jetzt nicht mehr.«

Kim überhörte den letzten Satz. »Was ist so wichtig an mir?«, fragte er.

»Woher soll ich das wissen?«, gab Kai achselzuckend zurück. »Ich führe meine Befehle aus, das ist alles.«

»Und das reicht dir?«, fragte Kim. »Du fragst dich nicht einmal, welchen Sinn diese Befehle haben?«

Kai seufzte. »Man hat mich vor dir gewarnt«, sagte er. »Anscheinend zu Recht. Ich werde mich nicht mit dir auf eine Diskussion einlassen ... und tu endlich diesen verdammten Bogen weg! Er macht mich nervös.«

»Später«, sagte Kim mit fester Stimme. »Sobald wir aufgebrochen sind.«

Kai zügelte mit einem Ruck sein Pferd. »Später?«, fragte er. »Wenn wir aufgebrochen sind? Was soll das heißen?«

»Sobald deine Krieger das Lager abgebaut haben und das Heer abzieht«, sagte Kim.

Kais Augen wurden groß. »Bist du verrückt? Das da ist eine Armee! Das größte Heer, das Märchenmond jemals gesehen hat! Glaubst du, wir können einfach in die Sättel steigen und losreiten? Es dauert Stunden, das Lager abzubauen, vielleicht die ganze Nacht!«

»Ein Grund mehr, keine Zeit zu verlieren«, sagte Kim. »Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich den Pfeil einfach loslasse. Aber ewig werde ich den Bogen nicht halten können. Meine Hand wird allmählich schon lahm.«

»Dann schieß doch!«, sagte Kai trotzig. »Was du verlangst, ist unmöglich!«

Womit er vermutlich Recht hat, dachte Kim. Niemand konnte ein Heer dieser Größe binnen weniger Augenblicke in Bewegung setzen. Wahrscheinlich würde es allein eine Stunde dauern, bis auch nur der letzte Krieger die entsprechenden Befehle bekommen hatte.

»Dann reiten wir allein«, sagte er. »Nur du und ich und eine kleine Gruppe deiner ... Krieger.«

»Du traust mir immer noch nicht«, stellte Kai beleidigt fest.

»Ich würde es ja gerne«, antwortete Kim. »Aber immer, wenn ich es versuche, tut mir mein Bein wieder weh!«

»Ich habe dich nicht belogen«, sagte Kai. »Unser Waffenstillstand galt, solange wir in den Katakomben waren. Ich habe mich daran gehalten.«

»Ich dachte, du wolltest nicht mit mir diskutieren.«

Kai starrte ihn finster an, aber dann strich sein Blick noch einmal mit deutlicher Nervosität über den Zauberbogen in Kims Hand und er gab seinem Pferd die Sporen.

Nebeneinander ritten sie in das Heerlager. Es war ein unheimliches Gefühl. Kim verspürte eine ganz handfeste Furcht beim Anblick all dieser Bewaffneten, die ja schließlich seine Feinde waren. Und es spielte auch keine Rolle, dass es nur eine Armee aus Kindern war. Allein ihre gewaltige Zahl würde jeden Widerstand einfach hinwegfegen und was ihnen vielleicht noch an Kraft und Erfahrung fehlte, das machten sie durch Entschlossenheit wieder wett, wie ein einziger Blick in ihre Gesichter bewies.

Aber Kim bemerkte auch etwas anderes: Mindestens so oft wie grimmige Entschlossenheit und Kampfeslust sah er auch dasselbe wie in den Augen der beiden Kinder heute Morgen. Bewunderung und Ehrfurcht. Er war auch für diese Kinder nicht irgendwer. Dass sie - seiner Meinung nach - kollektiv den Verstand verloren hatten, änderte nichts daran, dass sie sich an ihn erinnerten. Er war auch für sie eine lebende Legende. Der Retter der Welt. Der Held aus der Schlacht um Gorywynn. So bizarr ihm dieser Gedanke auch selbst vorkam: All diese Jungen und Mädchen waren nicht seine Feinde.

Vor einem unerwartet kleinen, schmucklosen Zelt in der Mitte des Heerlagers hielten sie an. Kai schwang sich aus dem Sattel, machte aber eine abwehrende Geste, als Kim ebenfalls absteigen wollte.

»Ich bin sofort zurück«, sagte er. »Ich muss nur noch ein paar Befehle erteilen. Schließlich hast du es ja eilig.«

»So sehr nun auch wieder nicht«, sagte Kim freundlich. »Aber meine Hand schläft allmählich ein.«

Kai spießte ihn mit Blicken regelrecht auf, sagte aber nichts, sondern drehte sich auf dem Absatz herum und lief zu seinem Zelt.

»Und vergiss Twix nicht!«, rief Kim ihm noch nach. »Wie ich sie kenne, legt sie keinen großen Wert auf deine Gastfreundschaft!«

Er musste tatsächlich nicht lange warten, bis Kai zurückkam. Nach kaum zwei Minuten tauchte der junge Steppenreiter wieder auf und schwang sich wortlos in seinen Sattel.

»Twix«, erinnerte Kim.

Kai starrte ihn finster an, griff an seine Seite und reichte Kim einen kleinen Lederbeutel, in dem es kräftig zappelte. Kim ergriff ihn ungeschickt mit der linken Hand, zog die Schnur mit den Zähnen auf und Twix flatterte schimpfend heraus und besprühte Kai mit ihrem goldenen Staub.

»Ungehobelter Flegel!«, keifte sie. »Weißt du, was er mit mir vorhatte? Soll ich dir sagen, was sie mit mir tun wollten?!«

»Nein«, sagte Kim. »Ich kann es mir ohnehin denken.« Er ließ den Beutel fallen, griff mit der frei gewordenen Hand nach dem Zügel und warf Kai einen auffordernden Blick zu.

Sie ritten los und verfielen bald in einen raschen Trab. Je weiter sie kamen, desto mehr Reiter schlossen sich ihnen an. Viele hielten nur eine Weile mit ihnen Schritt, sodass Kai ihnen weitere Befehle und Anweisungen geben konnte, aber ihre Gruppe wuchs doch immer weiter an. Als sie das Heerlager zur Gänze durchquert hatten und sich dem Hügel im Westen Gorywynns näherten, war ihre Zahl auf mindestens hundert angewachsen; und dazu kam noch eine große Anzahl Packpferde.

»Wie lange willst du dieses alberne Spielchen noch treiben?«, fragte Kai nach einer Weile. »Dieser Bogen macht mich ziemlich nervös!«

»Bis wir die Hügel erreicht haben«, antwortete Kim.

»Du hast mein Wort, verdammt noch mal!«, knurrte Kai. »Das sollte dir genügen!«

Im Grunde tat es das sogar. Kim hatte in Wahrheit ein ganz anderes Problem: Der Pfeil zitterte noch immer ganz sacht in seiner Hand. Er wusste einfach nicht, was passieren würde, wenn er losließ oder versuchte ihn wieder in den Köcher zu stecken. Und seine Hand begann tatsächlich lahm zu werden. Allzu lange konnte er den Pfeil nicht mehr halten. Aber bis zu den Hügeln war es auch nicht mehr sehr weit.

Die Katastrophe geschah, kurz nachdem die Sonne untergegangen war. Die Pferde sprengten weiter in scharfem Tempo dahin, aber das Licht wurde immer schwächer und plötzlich stolperte Kims Pferd. Es war nur ein kleiner Fehltritt, nach dem es seinen gewohnten Takt fast sofort wieder fand.

Aber die plötzliche Erschütterung reichte um Kims Hand von der Bogensehne abrutschen zu lassen.

Kim schrie entsetzt auf, ließ den Bogen endgültig los und versuchte mit beiden Händen nach dem Pfeil zu greifen. Er bekam ihn tatsächlich zu fassen, doch der Pfeil glitt einfach zwischen seinen Fingern hindurch, jagte im spitzen Winkel dem Boden entgegen und beschrieb dann einen engen Bogen. Auch Kai schrie auf, duckte sich und versuchte seinen Schild in die Höhe zu reißen. Kim wusste, wie sinnlos es war. Kais Bewegung war viel zu langsam, und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, hätte der verzauberte Pfeil einfach einen Bogen um den Schild geschlagen um sein Ziel zu treffen.

Das genaue Gegenteil war der Fall.

Vor Kims ungläubig aufgerissenen Augen wich der Pfeil abermals von seinem Kurs ab und bohrte sich mit solcher Wucht genau zwischen die beiden grünen Dreiecke auf Kais Schild, dass der Junge beinahe aus dem Sattel geschleudert wurde. Im allerletzten Moment klammerte er sich am Sattelknauf fest, griff mit einem Fluch nach dem Pfeil, der in seinem Schild zitterte, und brach ihn wütend entzwei.

»Du verdammter Narr!«, brüllte er. »Ist das deine Art, dein Wort zu halten?«

»Es ... tut mir Leid«, stammelte Kim. »Ehrlich! Ich wollte das nicht! Es war ein Unfall!«

»Der mich fast das Leben gekostet hätte!«, ereiferte sich Kai. Wütend riss er auch noch die Pfeilspitze aus dem Schild und schleuderte sie zu Boden.

»Jetzt hätte ich jeden Grund, unsere Abmachung für null und nichtig zu erklären und Gorywynn dem Erdboden gleichmachen zulassen!«

»Bitte, tu das nicht!«, flehte Kim. »Ich wollte dich nicht angreifen! Wenn du jemanden für meinen Fehler büßen lassen willst, dann mich!«

Kai funkelte ihn an. »Keine Angst, du Dummkopf!«, sagte er hämisch. »Ich werde deinen Freunden nichts tun. Ich glaube dir nämlich.«

Er gab einem seiner Begleiter einen Wink. Der Junge sprang aus seinem Sattel, hob den Bogen auf, den Kim fallen gelassen hatte, und reichte ihn Kai.

Der junge Steppenreiter befestigte den Bogen an seinem Sattel und zog eine Grimasse. »Den behalte ich lieber«, grollte er. »Bevor du dich am Ende noch ganz aus Versehen selbst erschießt!«

Erst lange nach Mitternacht hielten sie an und schlugen ein provisorisches Lager auf. Kim rechnete damit, gefesselt oder wenigstens scharf bewacht zu werden, doch weder das eine noch andere war der Fall. Während Kais jugendliche Krieger damit beschäftigt waren, das Lager zu errichten und die Wachen zu organisieren, schien niemand auch nur Notiz von ihm zu nehmen.

Da er das Gefühl hatte, nur im Weg zu stehen, ging er zum westlichen Ende des Lagers zurück. Sie hatten auf der Kuppe eines Hügels angehalten, sodass er den Weg, den sie bisher zurückgelegt hatten, zur Gänze überblicken konnte. Gorywynn lag wie ein Berg aus schwarzen Diamanten unter ihm, auf dessen Flanken sich das Sternenlicht brach. In der Stadt brannte kein einziges Licht, aber die Ebene davor war hell erleuchtet. Zehntausende Leuchtkäfer krochen in einem verwirrenden Hin und Her durcheinander.

»Wie du siehst, habe ich mein Wort gehalten«, sagte Kai hinter ihm. »Das Heer zieht ab. Deinen Freunden wurde kein Haar gekrümmt.«

»Wohin ziehen sie?«, fragte Kim ohne Kai direkt anzusehen. Er hatte nicht das Gefühl, dass sich der Großteil der Lichter in ihre Richtung bewegte.

»Einige werden uns folgen, aber die meisten werden ... anderenorts gebraucht.«

»Anderenorts«, wiederholte Kim. Er nickte. »Ich verstehe. Du meinst, sie müssen noch die eine oder andere Stadt niederbrennen, ein Dorf plündern, ein paar Familien auslöschen ...«

»Ich werde diese Diskussion mit dir nicht führen«, sagte Kai. »Habe ich das nicht schon einmal gesagt?«

»Wie bequem«, sagte Kim spöttisch. »Von wem hast du diese Ausrede? Von deinem geheimnisvollen Meister?«

»Wir haben diesen Krieg nicht angefangen!«, protestierte Kai. »Wir haben lange genug still gehalten! Viel zu lange! Aber irgendwann war es genug und wir haben angefangen uns zu wehren! Tun die Leute das da, wo du herkommst, vielleicht nicht?«

Kim seufzte. Langsam drehte er sich zu Kai herum und sah ihn an. Der junge Steppenreiter hielt seinem Blick problemlos stand, aber das Funkeln in seinen Augen war mehr Trotz als etwas anderes.

»Glaubst du denn, ich weiß nicht, wovon du sprichst?«, fragte Kim. »Ich bin nicht älter als du, vergiss das nicht. Auch ich habe Eltern mit Regeln und Vorstellungen, die mir nicht immer gefallen. Es ist bei uns nicht anders als bei euch.«

»Dann seid ihr Schwächlinge, die es nicht besser verdienen!«, antwortete Kai verächtlich. »Wir waren lange genug wie ihr! Aber wir sind es leid uns immer nur anzuhören, was gut für uns ist und was nicht, wie wir zu reden haben, wie wir uns zu kleiden haben und was wir zu tun und zu lassen haben! Diese Welt gehört uns genauso wie den Alten - noch viel mehr sogar, denn wenn es sie schon lange nicht mehr gibt, dann werden wir immer noch hier sein! Wir lassen uns nicht vorschreiben, wie wir zu denken haben!«

»Und du glaubst, zu den Waffen zu greifen und alles Alte zu zerschlagen wäre eine Lösung?«, fragte Kim. Er sprach absichtlich ein wenig lauter, als nötig gewesen wäre. Etliche von Kais Anhängern befanden sich in ihrer Nähe, und obwohl keiner von ihnen auch nur in ihre Richtung sah, war Kim doch sicher, dass sie ihrem Gespräch mit gespitzten Ohren lauschten.

»Wir haben es versucht!«, beharrte Kai. »Immer und immer wieder. Aber sie wollten nicht hören. Am Ende hatten wir keine andere Wahl.«

»Es gibt immer eine andere Wahl als Gewalt und Tod«, sagte Kim.

Kai machte ein abfälliges Geräusch. »Und von wem hast du diese Antwort?«, fragte er. Er drehte sich auf dem Absatz herum und stapfte davon.

Sie brachen nicht gleich bei Sonnenaufgang auf, wie Kim erwartet hatte, sondern erst nach zwei oder drei Stunden. Der Teil des Heeres, der sie begleiten würde, war erst lange nach Mitternacht zu ihnen gestoßen und Kai wollte Mensch und Tier offenbar noch eine kleine Rast gönnen, bevor sie weiterzogen.

Ihre Zahl war auf annähernd tausend angewachsen und im Laufe des Tages stießen noch weitere Reiter und Packpferde zu ihnen. Was an diesem Nachmittag und auch noch bis spät in die Nacht nach Osten zog, das war für sich genommen schon eine Armee, beeindruckend genug, dass es niemand wagte, sich ihr in den Weg zu stellen. Sie stießen weder an diesem noch am darauf folgenden Tag auf Widerstand.

Kai hielt sich fast die ganze Zeit in Kims Nähe auf und er schien ihm ihren kleinen Streit in der ersten Nacht auch nicht übel zu nehmen. Sie sprachen viel miteinander. Kim erfuhr einiges über Kais Leben in Caivallon und er erzählte umgekehrt von seinen früheren Abenteuern. Nur wenn Kim versuchte die Rede auf den Ausbruch des Krieges oder den Magier der Zwei Berge zu bringen, wurde Kai ungewöhnlich schweigsam und wechselte abrupt das Thema.

Am zweiten Tag wechselten sie die Richtung.

Sie folgten nun nicht mehr dem Fluss, sondern ritten direkt nach Osten; beinahe genau in die Richtung zurück, aus der Kim gekommen war. Er hoffte, dass sie nicht den ganzen Weg bis zu dem Punkt zurückreiten würden, an dem er zum ersten Mal auf Kai getroffen war. Sie würden eine Woche dafür brauchen, wenn nicht länger.

Auch in der dritten Nacht wurde er viel mehr wie ein Gast als ein Gefangener behandelt. Er bekam ein eigenes Zelt zugewiesen und durfte sich innerhalb des Lagers frei bewegen. Als er versuchte das Tor in dem provisorisch aufgestellten Palisadenzaun zu durchschreiten, wurde ihm dies zwar höflich, aber mit Nachdruck verwehrt, aber das galt auch für alle anderen. Niemand durfte das Lager verlassen. Obwohl sie in den letzten Tagen auf keine lebende Seele gestoßen waren, verwandelten Kais Krieger das Lager jeden Abend in eine Festung.

Auf dem Weg zurück zu seinem Zelt begegnete ihm Kai. Er wirkte nervös, angespannter als sonst. Als Kim sich ihm näherte, war er in ein Gespräch mit zwei anderen Jungen vertieft, das er aber sofort unterbrach. Er schickte seine Gesprächspartner weg und wandte sich direkt an Kim.

»Du hast versucht das Lager zu verlassen.«

»Niemand hat mir gesagt, dass es verboten ist«, antwortete Kim. »Lässt du mich beobachten?«

»Hier passiert nicht viel, von dem ich nichts wüsste«, sagte Kai ausweichend. »Ich wäre ein schlechter General, wenn es anders wäre.«

»Ich dachte, ich wäre euer Gast, nicht euer Gefangener«, sagte er geradeheraus.

»Das bist du auch«, sagte Kai gelassen. »Und gerade deshalb sind wir für deine Sicherheit verantwortlich.«

»Lässt du deine Leute deshalb jeden Abend eine kleine Festung bauen?«, fragte Kim spöttisch. »Damit mir nichts passiert?«

»Unter anderem«, sagte Kai. »Ich würde dir nicht raten zu fliehen. Die Gegend ist gefährlich.«

»Für wen? Für mich oder für euch?«

»Wenn du auf Wolf und seine Männer anspielst, muss ich dich enttäuschen«, sagte Kai. »Sie würden es nicht wagen, uns anzugreifen. Und was deine Freunde aus Gorywynn angeht, so wäre ich an deiner Stelle nicht so sicher, ob sie es wirklich wert waren, das Leben für sie zu riskieren.«

»Wieso?«, fragte Kim.

»Keiner von ihnen ist uns gefolgt«, antwortete Kai. »Das ist doch, womit du insgeheim gerechnet hast, oder? Ich muss dich enttäuschen. Sie sind alle noch in Gorywynn.«

»Woher... woher willst du das wissen?«, fragte Kim stockend. Tatsächlich hatte er insgeheim darauf gehofft, dass Gorg oder auch Themistokles ihnen folgen würden um ihn zu befreien.

»Ich weiß es eben«, sagte Kai. »Wie gesagt - es gibt nicht vieles, wovon ich nichts weiß.«

Er wollte noch mehr sagen, doch in diesem Moment kam ein junger Krieger herbeigeeilt und raunte ihm ein paar Worte zu, die Kim nicht verstand. Kais Gesicht blieb ausdruckslos, aber Kim spürte, dass ihm das, was er erfuhr, nicht besonders gefiel. Er nickte nur knapp und schickte den Jungen mit einer fast herrischen Handbewegung fort.

»Schlechte Nachrichten?«, fragte Kim.

»Ja«, antwortete Kai. »Aber du solltest dich nicht so sehr darüber freuen.«

»Wieso?«

»Nichts«, sagte Kai. »Ich habe jetzt keine Zeit mehr. Geh in dein Zelt und versuche ein paar Stunden zu schlafen, wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns.«

Er drehte sich so schnell herum, dass es fast einer Flucht gleichkam.

Twix, die wie üblich auf seiner Schulter saß, piepste: »Er hat Angst.«

Kim verdrehte sich fast den Hals um die Elfe anzusehen. »Angst?«

Twix nickte so heftig, dass sie fast von seiner Schulter fiel. »Alle hier haben Angst. Hast du das etwa noch nicht gemerkt?«

Das hatte Kim tatsächlich nicht. Natürlich war ihm die Anspannung aufgefallen, die über den jungen Kriegern lag, aber er hatte dieses Gefühl für normal gehalten. Es war nicht das erste Mal, dass er mit einem Heer ritt. Eine gewisse Anspannung und Nervosität gehörte einfach dazu, wenn so viele Menschen zusammen waren.

»Angst?«, fragte er noch einmal. »Aber wovor?«

»Das Land ist nicht gut«, antwortete Twix.

»Danke für diese wirklich erschöpfende Auskunft«, sagte Kim. »Und was genau soll das bedeuten?«

»Es ist tot«, antwortete Twix. »Wie der Wald, in dem du die toten Elfen gefunden hast. Nur schlimmer. Toter, sozusagen.« Kim blieb ernst. »Du meinst...«

»Keine Magie. Der Zauber ist gestorben.«

Kim blickte konzentriert in die Dunkelheit hinter dem Palisadenzaun. Ihm war, als bewege sich dort draußen etwas, das er weder sehen noch hören, aber dafür umso deutlicher fühlen konnte. Es war, als fühle er die Dunkelheit näher kriechen.

Und offensichtlich ging es nicht nur ihm so. Auch die jugendlichen Wächter, die hinter der provisorischen Palisade Aufstellung genommen hatten, blickten mit wachsender Nervosität in die Nacht hinaus. Ihre Bewegungen waren fahrig und es war nicht einer unter ihnen, der nicht angespannt oder verkrampft wirkte.

Kim spürte es eine Sekunde, bevor es geschah. Es war wie vor drei Tagen im Hof des Palastes, nur ungleich intensiver: Etwas kam. Schnell.

Die Dunkelheit explodierte regelrecht. Etwas Riesiges, Bleiches tauchte lautlos aus der Nacht auf, zerschmetterte die Palisade und schleuderte die jugendlichen Verteidiger in alle Richtungen. Ein Chor gellender Schreie wurde laut, aber nur für weniger als eine halbe Sekunde, dann wurde es von einem ungeheuerlichen Brüllen und Kreischen verschluckt, das die gigantische Kreatur ausstieß. Fürchterliche Klauen schnappten. Riesige starre Augen glotzten auf der Suche nach Beute. Zähne wie Messer blitzten in der Nacht.

Die Stämme der hastig errichteten Palisade zerbrachen wie Streichhölzer. Waren die Jungen und Mädchen des Kinderheers im ersten Moment noch durch den bloßen Anblick des Ungeheuers vor Schreck wie erstarrt gewesen, so setzte nun einen allgemeine panische Flucht ein.

Auch Kim wurde von der Menge mitgerissen, ob er wollte oder nicht. Er brauchte plötzlich all seine Kraft um nicht zu Boden geschleudert und womöglich zu Tode getrampelt zu werden. Trotzdem versuchte er das tobende Ungeheuer weiter im Auge zu behalten.

Es war zweifellos dieselbe Kreatur, die vor drei Tagen im Hof des Palastes aufgetaucht und Themistokles angegriffen hatte. Obwohl sie nun nur wenige Schritte vor ihm emporragte und zusätzlich vom Licht Dutzender Fackeln hell erleuchtet wurde, konnte er sie trotzdem nicht richtig erkennen. Kim hatte nur einen vagen Eindruck von etwas Gewaltigem, Bleichem, das viel zu viele Glieder, Stacheln und Scheren, Panzerplatten Klauen und Zähne hatte, aber etwas in ihm schien sich immer noch zu weigern, es richtig zu erkennen. Er hätte das Ungetüm nicht beschreiben können, nicht einmal jetzt, als er es direkt ansah.

Die Kreatur stampfte brüllend weiter in das Lager hinein. Sie hatte eine Bresche in die Palisade geschlagen, die breit genug war, ein halbes Dutzend Reiter nebeneinander hindurchzulassen. Unter ihren riesigen Füßen explodierten Lagerfeuer in Funkenschauern, Zelte wurden niedergetrampelt, von dem peitschenden Schwanz davongewirbelt oder gerieten in Brand, wenn sie von fliegenden Funken oder Holz getroffen wurden. Eine riesige Klaue zerschmetterte einen Teil der Pferdekoppel, woraufhin die Tiere, die beim Anblick des Ungeheuers ohnehin schon in Panik geraten waren, ausbrachen und das allgemeine Chaos noch vergrößerten. Obwohl seit dem Auftauchen des Ungeheuers erst wenige Augenblicke vergangen waren, befand sich praktisch das gesamte Heer in Panik und die Bestie hatte bereits eine Spur der Verwüstung durch das Lager gezogen. Kim wagte sich nicht die Anzahl der Opfer auszumalen, die der Angriff bereits gekostet hatte.

Nicht alle Jungen und Mädchen flohen allerdings vor dem Ungeheuer. Niemand wagte ihm nahe zu kommen, aber schon flogen die ersten Speere und Pfeile in seine Richtung. Ein gutes Dutzend älterer Jungen hatte sich in die Sättel geschwungen und sprengte mit angelegten Lanzen auf die Kreatur los.

Nicht ein Einziger vermochte die knochenweißen Panzerplatten zu durchdringen. Die Speerspitzen zerbrachen nutzlos an dem bleichen Bein, und die Reiter, die nicht schon durch den Anprall zu Boden gestürzt waren, wurden von einem wütenden Hieb aus den Sätteln gefegt. Die meisten richteten sich hastig auf und krochen oder humpelten davon, aber zwei oder drei blieben auch liegen und rührten sich nicht mehr.

Kim erkannte entsetzt, dass auch Kai unter ihnen war.

Der junge Steppenreiter war bei Bewusstsein, aber benommen. Er versuchte sich auf Hände und Knie hochzustemmen, fiel zurück und versuchte es erneut, aber er war viel zu langsam und schien Schwierigkeiten zu haben, sich zu orientieren. Das Ungeheuer raste heran. Unter seinen Schritten bebte die Erde. Die fürchterlichen Fänge blitzten. Kai hatte nicht die geringste Chance ihm zu entkommen.

Kim rannte los ohne zu überlegen. Während alles um ihn herum vor dem heranstürmenden Ungeheuer floh, setzte er sich ohne zu zögern in Bewegung und rannte los, direkt auf Kai zu - und damit auch auf die Kreatur!

Twix, die noch immer auf seiner Schulter hockte, kreischte entsetzt und jagte auf schwingenden Flügeln senkrecht nach oben und Kim fegte mit wahren Riesensätzen direkt auf Kai los. Im buchstäblich allerletzten Moment erreichte er ihn, griff im Rennen nach seiner Schulter und riss ihn einfach in die Höhe. Kai war noch immer benommen und begriff augenscheinlich gar nicht so recht, wie ihm geschah. Trotzdem reagierte er ganz instinktiv richtig: Er sprang in die Höhe, machte einen ungeschickten, stolpernden Schritt um sein Gleichgewicht wieder zu finden und fiel wie durch ein Wunder in einen immer schneller werdenden gleichmäßigen Trab.

Kim drehte im Laufen den Kopf und wünschte sich im selben Moment es nicht getan zu haben. Das Ungeheuer raste heran, so schnell wie ein Güterzug und nicht viel kleiner. Die gewaltigen Kieferzangen schnappten gierig und Kim begriff voller Entsetzen, dass das Monster auf seinen zahlreichen Beinen schneller lief als Kai und er! Ihr Vorsprung wuchs nicht. Er wurde kleiner!

Er versuchte noch schneller zu rennen und kam prompt aus dem Tritt, als Kai, der immer noch halb benommen war, hinter ihm ins Stolpern kam. Verzweifelt kämpfte er um sein Gleichgewicht, ruderte wild mit dem freien Arm und kippte in einer hilflosen Bewegung nach vorne.

Als er wieder halbwegs Herr seiner Sinne war, war das Ungeheuer über ihnen.

Kai kreischte vor Entsetzten, als ein riesiges Maul nach ihm schnappte und sich wie eine stählerne Zange um seine Hüften schloss. Mühelos riss ihn das Ungetüm in die Höhe. Kais Schreie wurden zu einem Quietschen und dann zu einem erstickten Keuchen, als der Druck der Scheren so weit zunahm, dass er keine Luft mehr bekam. Noch eine Sekunde und die Kreatur würde ihn einfach zerquetschen!

Kim sprang auf die Füße, sah sich verzweifelt nach irgendeiner Waffe um und griff schließlich nach Kais eigenem Schwert, dessen Griff aus seinem Gürtel ragte. Mit beiden Händen zerrte er die Waffe heraus, schwang sie hoch über den Kopf und schlug mit aller Gewalt zu.

Funken sprühten, als die Klinge gegen den stahlharten Panzer des Ungeheuers prallte. Kim taumelte zurück. Das Schwert vibrierte so heftig in seinen Händen, dass er Mühe hatte es festzuhalten. Er hatte das Gefühl, gegen massives Eisen geschlagen zu haben, nicht gegen etwas Lebendiges.

Trotzdem schien das Ungeheuer den Hieb gespürt zu haben, denn es ließ Kai fallen und wirbelte mit einem zischenden Laut zu ihm herum. Kim sah aus den Augenwinkeln, wie sich einer seiner krallenbewehrten Füße auf Kais Brust setzte und ihn mit gnadenloser Kraft zu Boden drückte. Aber ihm blieb keine Zeit, Kai abermals zu Hilfe zu eilen, denn nun war er selbst in Gefahr. Mit seinem Schwerthieb hatte er es endgültig geschafft, die Aufmerksamkeit des Ungeheuers auf sich zu ziehen.

Kim schwang seine Waffe zu einem weiteren Hieb, der sein Ziel jedoch nie traf. Der gewaltige Schädel des Ungeheuers stieß mit einer schlangengleichen Bewegung auf ihn herab. Die Scheren schnappten zu, bissen die Schwertklinge ohne die geringste Mühe dicht über dem Griff ab und schleuderten Kim gleichzeitig zu Boden.

Er versuchte vor der Kreatur davonzukriechen, aber der riesige Schädel zuckte weiter vor und dicht vor seinem Gesicht klafften Kiefer auseinander, die mit mehr als fingerdicken, nadelspitzen Zähnen besetzt waren. Kim fühlte sich plötzlich dem Blick gigantischer, gnadenloser Insektenaugen ausgesetzt, der ihn zu lahmen schien. Ein Gefühl unwirklicher, eisiger Kälte breitete sich in ihm aus, als reiche allein der Blick der Kreatur aus, alles Leben und jede Menschlichkeit in seiner Seele zum Erlöschen zu bringen. Langsam senkten sich die Kiefer weiter auf ihn herab. Kim schlug und trat mit aller Gewalt auf den mächtigen Unterkiefer der Bestie. Aus allen Richtungen senkten sich Pfeile und Speere auf den Koloss, die mit einem Geräusch wie harte Hagelkörner von seinem Panzer abprallten. Nichts von alledem vermochte die Bewegung der Bestie auch nur zu verlangsamen.

Dann, plötzlich, erschien ein blasser goldener Schimmer in den Augen des Giganten. Das Ungeheuer erstarrte mitten in der Bewegung, schien zu zögern, als wäre es verwirrt, erschrocken. Der goldene Schimmer nahm weiter zu und wurde zum Widerschein eines geflügelten, kaum handgroßen Wesens, das sich in engen Spiralen direkt auf Kim zubewegte! Twix!

Die Elfe piepste vor Angst und Panik, schoss aber trotzdem weiter auf Kim hinab und landete zielsicher auf seiner Hand. Zitternd vor Angst richtete sie sich auf, streckte dem Ungeheuer die winzigen Ärmchen entgegen und schlug wild mit den Flügeln. »Hau ab, du Scheusal!«, piepste sie. »Mach bloß, dass du wegkommst! Verpiss dich!«

Der Gigant zögerte tatsächlich. Kim bezweifelte, dass die Kreatur Twix' Worte überhaupt hörte, geschweige denn verstand, aber ihm fiel etwas anderes auf: Die Elfe schlug noch immer wie wild mit den Flügeln. Goldener Staub wirbelte hoch und die Berührung des Staubes schien der Kreatur sehr unangenehm zu sein. Sie zitterte, bewegte den Kopf unruhig hin und her - und nieste plötzlich laut und herzhaft!

Wieder reagierte Kim ohne lange nachzudenken. Er stemmte sich hoch, umschloss Twix behutsam mit der rechten Hand und reckte dem Ungeheuer den ausgestreckten Arm entgegen.

Die Kreatur nieste noch heftiger, warf den Kopf zurück und fuhr sich mit hektischen Bewegungen mit den Vorderläufen durch das Gesicht. Sie nieste jetzt ununterbrochen. Dicke, zähflüssige Tränen liefen aus ihren Augen. Kim sprang in die Höhe, stieß dem Geschöpf die Elfe beinahe ins Gesicht und registrierte befriedigt, wie sich die Geräusche des unheimlichen Wesens zu einer Mischung aus Niesen, Husten und qualvollem Würgen steigerten.

Das Ungeheuer bäumte sich auf. Es bekam offensichtlich kaum noch Luft, und Twix, die wohl endlich auch begriffen hatte, was geschah, schlug immer heftiger mit den Flügeln und überschüttete das Wesen geradezu mit goldenem Elfenstaub. Die Laute, die das Ungeheuer ausstieß, klangen jetzt eindeutig qualvoll. Seine Augen tränten ununterbrochen und waren so zugeschlossen, dass es wahrscheinlich kaum noch etwas sehen konnte, und es zitterte am ganzen Leib. Plötzlich fuhr es herum, stieß ein ungeheuerlichen Brüllen aus und ergriff auf wirbelnden Beinen die Flucht.

Kim rannte ihm drei, vier Schritte hinterher und blieb dann wieder stehen. Er zitterte am ganzen Leib. Sein Atem ging so schnell, dass er pfeifende Geräusche von sich gab. Sein Herz hämmerte, als wollte es jeden Moment zerspringen. Auch Twix schien sich völlig verausgabt zu haben. Die Elfe brach auf seiner Handfläche zusammen und wäre zu Boden gestürzt, hätte Kim nicht im letzten Moment mit der anderen Hand zugegriffen. Behutsam schob er sie in seine Hemdtasche, wo sie ja ohnehin die meiste Zeit verbrachte.

Erst dann fiel ihm die Stille auf.

Das Ungeheuer war fort. Als Kim den Blick hob, sah er es gerade taumelnd in der Lücke des Palisadenzauns verschwinden. Das Prasseln zahlreicher Feuer war zu hören und das Wiehern und Schnauben verängstigter Pferde.

Davon abgesehen jedoch war es fast unheimlich still.

Kim sah auf und erkannte im selben Moment den Grund für dieses unnatürliche Schweigen.

Kai und er waren von jungen Kriegern und Kriegerinnen umringt. Sie hielten einen respektvollen Abstand ein, als wagten sie es selbst jetzt noch nicht, auch nur den Platz zu betreten, an dem das Ungeheuer gestanden hatte, und alle starrten ihn an. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern schwankte zwischen Unglaube, Faszination und Bewunderung.

»Was ist denn jetzt schon -«

Weiter kam er nicht. Der Klang seiner Stimme hatte die Starre durchbrochen, in die all diese Jungen und Mädchen verfallen waren. Plötzlich wurde ein Jubelgeschrei aus Hunderten von Kehlen laut. Wie auf ein gemeinsames Kommando hin stürmten sie los. Kim wurde gepackt, hochgehoben und jubelnd und unter unaufhörlichem »Hurra«- und »Hoch«-Gebrüll immer wieder in die Luft geworfen und aufgefangen, bis ihm ganz schwindelig wurde.

Er begriff erst nach einigen Sekunden, was überhaupt geschehen war.

Er hatte das Ungeheuer vertrieben. Und für die meisten der jungen Krieger musste es so ausgesehen haben, als hätte er es ganz allein getan. Sie konnten Twix, die ja halb in seiner Hand verborgen war, kaum gesehen haben. Für sie musste es so aussehen, als hätte er die Kreatur ganz allein in die Flucht geschlagen, nur kraft seines Willens!

Selbst wenn er den Irrtum hätte aufklären wollen, so hätte er es in den nächsten Minuten gar nicht gekonnt. Die jungen Krieger waren vollkommen außer Rand und Band. Kim wurde von tausend Händen über die Köpfe der Menge weitergereicht und unter Jubelrufen und Hurrageschrei gedrückt und umarmt. Es dauerte mindestens fünf Minuten, bis sich die Jungen und Mädchen so weit beruhigt hatten, dass Kim sich mit einiger Mühe frei machen konnte.

Mit noch mehr Mühe gelang es ihm, sich seinen Weg zurück zu Kai zu erkämpfen.

Der junge Steppenreiter saß auf dem Boden und starrte ihm finster entgegen. Er war sehr blass. Seine Kleider waren zerrissen und Blut lief über sein Gesicht.

»Bist du verletzt?«, fragte Kim erschrocken.

Kai ignorierte seine Frage kurzerhand. »Jetzt bist du ein richtiger Held, wie?«, fragte er feindselig. »Bist du auch gehörig stolz darauf?«

Kim schrieb diese plötzliche Feindseligkeit Kais Zustand zu, streckte die Hand aus und wiederholte seine Frage: »Ist dir etwas passiert?«

Kai ignorierte seine Hand ebenso wie seine Worte und stemmte sich aus eigener Kraft in die Höhe. Während er sich mit dem Handrücken Blut aus dem Gesicht wischte, sah er sich aus zornig zusammengekniffenen Augen um.

»Scheint, als hättest du mir das Leben gerettet«, knurrte er. »Aber bilde dir bloß nicht zu viel ein, du Held. Vielleicht war das Ganze ja ein abgekartetes Spiel. Noch niemandem ist es gelungen, einen Skull zu besiegen.«

Kim starrte ihn an. Wie hatte Kai das Geschöpf genannt? »Ein ... Skull?«, murmelte er.

Kai nickte. »Jetzt spiel nicht den Unwissenden«, sagte er feindselig. »Wenn ich so richtig darüber nachdenke, dann wird mir plötzlich so einiges klar ...«

Kim erging es nicht anders. Mit einem Mal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Plötzlich war alles ganz einfach. Er wusste jetzt, woher das unheimliche Gefühl gekommen war, einem Wesen wie diesem schon einmal begegnet zu sein.

Er hatte es niemals selbst gesehen, wohl aber seine unheimliche Ausstrahlung gespürt - in jener Höhle im Wald, in der er sich nach seiner ersten Begegnung mit Kai versteckt hatte. Auch da war es gewesen, als hätte etwas Fremdes, durch und durch Feindseliges seine Seele berührt.

»Ich habe ein solches Wesen noch nie zuvor gesehen«, versicherte er - was nicht der ganzen Wahrheit entsprach. Aber er wollte Kai in diesem Moment nicht von seiner ersten Begegnung im Hof des Palastes erzählen. Das hätte alles nur unnötig komplizierter gemacht. Stattdessen fuhr er fort: »Ich habe mich in dieser Höhle im Wald vor euch versteckt ohne zu wissen, was darin lebt. Ich habe auch nichts gesehen. Nur gespürt. Ich weiß nicht einmal, was ein Skull ist.«

»Niemand weiß das«, knurrte Kai. Er musterte Kim weiter mit unverhohlenem Misstrauen, nun aber auch mit einer Spur von Zweifel. Offensichtlich überlegte er angestrengt, ob er ihm glauben konnte oder nicht.

»Wo kommen sie her?«

»Auch das weiß niemand«, antwortete Kai. »Sie tauchen manchmal auf. Und fast immer in Landstrichen, in denen es nur sehr wenige Menschen gibt. Sie zerstören alles Menschenwerk: Häuser, Straßen, ganze Städte. Sie verwüsten Felder, reißen Brücken und Wehre nieder und schleifen ganze Festungen. Ist das getan, dann verschwinden sie so spurlos wieder, wie sie aufgetaucht sind.«

Kim schauderte. Er zweifelte keine Sekunde an Kais Worten. Was er erzählte, das passte zu dem Odem von Feindseligkeit, den der Skull verströmt hatte wie einen üblen Geruch. »Und warum hindert ihr sie nicht daran?«, fragte er.

»Hast du mir nicht zugehört?«, fragte Kai. »Oder keine Augen im Kopf? Niemand hat je einen Skull besiegt! Sie sind unverwundbar! Keine von Menschenhand geschaffene Waffe kann sie verletzten!«

Kim hatte die Kreatur ja auch nicht mit einer von Menschenhand geschaffenen Waffe angegriffen. Genau genommen hatte er sie überhaupt nicht mit einer Waffe angegriffen und ganz genau genommen hatte er sie überhaupt nicht angegriffen, sondern ...

Nein, das sprach er lieber nicht aus. Sollte Kai sich ruhig noch ein bisschen den Kopf zerbrechen, wie er dieses Kunststück fertig gebracht hatte.

»Jedenfalls ist es weg«, sagte er. »Und ich glaube auch nicht, dass es so schnell wiederkommt.«

»Ich hoffe es«, sagte Kai. »Und jetzt wäre ich dir dankbar, wenn du mir endlich verraten würdest, wie du es gemacht hast.«

»Das glaube ich dir gern«, sagte Kim, grinste fröhlich und drehte sich herum um zu seinem Zelt zurückzugehen.

Seine Rolle im Lager änderte sich von dieser Nacht an. War er bisher schon wie ein willkommener Gast behandelt worden, so begegneten ihm die jungen Krieger ab sofort mit Ehrerbietung und Unterwürfigkeit. Sein Zelt zum Beispiel gehörte zu denen, die dem Angriff des Skull zum Opfer gefallen waren, aber er musste keinen Finger rühren um es wieder aufzustellen und zu reparieren. Kais Krieger stritten sich um die Ehre ihm zu Diensten sein zu dürfen.

Auch am nächsten Morgen ging es so weiter. Als Kim erwachte, fand er ein überreiches Frühstück neben seinem Bett, und als er das Zelt verließ, da war sein Pferd bereits frisch gestriegelt und aufgezäumt. Ringsum waren die Krieger bereits damit beschäftigt, das Lager abzubauen und alles für den Aufbruch fertig zu machen, für Kim gab es nichts zu tun, denn er sah sich ständig von einer kleinen Gruppe Jungen und Mädchen umgeben, die sich darin überboten ihm jeden Wunsch von den Lippen abzulesen.

Anfangs genoss er dieses neue Gefühl, bald begann es ihm unangenehm zu werden und dann regelrecht peinlich. Für Kais Krieger war er nun endgültig zum Helden geworden, eine lebende Legende, nur unwesentlich unter einem Gott rangierend. Fuhr er sich auch nur mit der Zunge über die Lippen, wurde ihm aus einem Dutzend Richtungen Wasser gereicht, suchte er nach einem Platz um sich zu setzen, wurde er mit Kissen und Decken regelrecht bombardiert, und als er auf sein Pferd steigen wollte, kugelte er sich fast das Bein aus, weil sich die Jungen darum stritten, ihm die Steigbügel zu halten. Kim war regelrecht froh, als Kai nach einer Stunde auftauchte und verkündete, dass sie nun weiterziehen würden.

»Wie fühlt man sich denn so als lebende Sagengestalt?«, fragte Kai abfällig, während sie nebeneinander zur Spitze des Heerzuges ritten.

Die unverhohlene Feindseligkeit in seiner Stimme überraschte Kim. Gestern Abend hatte er sie Kais Zustand zugeschrieben, seinem Schrecken und den Schmerzen, die er vermutlich gehabt hatte.

Der zornige Klang in Kais Stimme ärgerte ihn und so antwortete er anders, als vielleicht klug gewesen wäre: »Prima«, sagte er. »Deinen Kriegern scheint es ebenso zu gefallen, glaube ich. Vielleicht probiere ich einmal aus, auf wen sie mehr hören - auf dich oder den legendären Kim, den Retter Märchenmonds und Helden aus der Schlacht gegen die schwarzen Reiter.«

Die Worte taten ihm fast sofort wieder Leid, denn Kais Kopf flog mit einem Ruck herum und in seinen Augen loderte für einen Moment der blanke Hass.

»Das würde ich an deiner Stelle nicht versuchen«, zischte er. »Ich habe Vorsorge getroffen, dass das nicht passiert, glaube mir.«

Bevor Kim antworten konnte, gab er seinem Pferd die Sporen und sprengte los um zu seinen Platz an der Spitze des Heerzuges zu gelangen.

Kim blickte ihm mit einem Gefühl leisen Bedauerns nach. Er hätte sich gern bei Kai entschuldigt und ihm gesagt, dass seine Worte nicht so gemeint gewesen waren, wie Kai sie offensichtlich verstanden hatte. Andererseits verwirrte ihn die Heftigkeit von Kais Reaktion auch. War er der Wahrheit vielleicht näher gekommen, als ihm selbst bewusst gewesen war?

In seiner Hemdtasche raschelte es und Twix strecke den Kopf heraus. »Eingebildeter Kerl!«, schimpfte sie. »Wenn er dir noch einmal droht, bekommt er es mit mir zu tun!«

Kim lachte. »Überschätzt du dich da nicht ein bisschen?«

»Wieso?« Twix klang beleidigt. »Immerhin habe ich den Skull besiegt.«

»Also, ich würde eher sagen, dass er allergisch gegen dich war«, antwortete Kim lachend.

»A- was?«, fragte Twix.

Kim lachte erneut. »Vergiss es einfach«, sagte er. »Sagen wir - er mag deinen Elfenstaub nicht.«

»Sie hassen Magie«, bestätigte Twix. »Wo sie sind, kann keine Magie sein und umgekehrt.«

Kim wurde hellhörig. »Du weißt etwas über die Skull?«, fragte er.

»Jeder weiß etwas über die Skull«, antwortete Twix spöttisch. »Außer euch, versteht sich.«

»Aha«, sagte Kim. Er hütete sich eine weitere Frage zu stellen, obwohl er innerlich vor Neugier fast platzte. Er wusste, dass es besser war, die Elfe einfach reden zu lassen.

»Sie sind die Alten«, fuhr Twix prompt fort. »Ich meine: die ganz Alten. Sie waren hier, bevor wir da waren und ihr gekommen seid.«

»Die Menschen und die Elfen?«, fragte Kim.

»Die Menschen und die magischen Wesen«, seufzte Twix in einem Ton, als zweifle sie an seinem Verstand. »Nicht dass ihr irgendwie wichtig wärt -«

»- außer dass ihr uns braucht um zu existieren«, fügte Kim hinzu und Twix verbesserte sich mit einem giftigen Blick:

»- außer dass es ganz nützlich ist, wenn es jemanden gibt -«

»- der durch seinen Glauben an die Magie magische Wesen am Leben erhält, nicht wahr?«, meinte Kim freundlich.

Twix verdrehte die Augen. »Also gut, manchmal ist es ganz praktisch, dass ihr da seid«, gestand sie. »Die Skull gehören jedenfalls zu den Wesen, die vor uns allen hier waren. Bevor es auch Menschen gab.«

»Ich wusste gar nicht, dass Märchenmond schon vorher bewohnt war«, sagte Kim.

»Dummkopf!«, schimpfte Twix. »Es gibt immer ein Vorher, so wie es auch immer ein Nachher gibt. Vor uns aber waren die Skull und die anderen da und vor den Skull wieder andere. Und wenn wir schon lange nicht mehr da sind, werden wieder andere da sein, denen wir vielleicht ebenso fremd und erschreckend erscheinen mögen wie die Skull uns.«

»Aber wieso sind sie plötzlich wieder hier«, wunderte sich Kim, »wenn ihre Zeit doch schon so lange vorbei ist?«

»Woher soll ich das wissen?«, fragte Twix. »Vielleicht weil die Magie erlischt? Die Skull sind gegangen, als die Menschen kamen, denn sie ertragen keine Magie.«

»Menschen sind keine magischen Wesen«, sagte Kim, aber Twix reagierte mit einem unerwartet heftigen Kopfschütteln. »O doch«, antwortete sie, »das seid ihr, die meisten von euch wissen es nur nicht.«

Kim wollte jetzt nicht über diese sonderbare Antwort nachdenken. »Du sagst also, sie kommen zurück, weil die Magie erlischt«, sagte er. »Aber das ist unmöglich! Ich meine, wenn sie nicht mehr da sind und das seit so langer Zeit, dann sind sie doch ausgestorben!«

»Nichts stirbt wirklich«, antwortete Twix, »so wie nichts wirklich unsterblich ist. Jedenfalls tauchen sie überall auf, wo sich die Magie zurückzieht und damit die Menschen.«

»Weiß Kai davon?«, fragte Kim.

»Natürlich«, antwortete Twix. »Er will es bloß nicht wahrhaben. Er ist wie ihr alle. Was euch nicht gefällt, das nehmt ihr einfach nicht zur Kenntnis!«

»Da wäre ich nicht so sicher«, sagte Kim. »Ich werde auf jeden Fall mit ihm reden.«

»Er wird dir gar nicht zuhören«, prophezeite Twix.

Und damit sollte sie Recht behalten.

Zwei Tage ritten sie nach Osten. Da sie so viele waren, kamen sie nicht annähernd so schnell voran, wie Kim es auf dem Weg hierher möglich gewesen war. Trotzdem legten sie ein gehöriges Stück zurück, denn Kai trieb seine Leute unbarmherzig an und gönnte ihnen nur die allernotwendigsten Pausen.

Nach ihrem kurzen Streitgespräch am Morgen war Kai noch einsilbiger geworden. Er sprach nur noch das Nötigste mit Kim, beharrte aber trotzdem darauf, dass er an seiner Seite an der Spitze des Heers blieb. Zudem wurde er immer nervöser. Oft sah Kim, wie er sich im Sattel herumdrehte und aus eng zusammengepressten Augen den Horizont absuchte, als erwarte oder befürchte er etwas oder jemanden zu sehen.

Und auch die Landschaft, durch die sie ritten, wurde immer abweisender.

Kahle, blattlose Bäume wechselten sich mit verdorrten Wiesen und steinigen Feldern ab. Die wenige Vegetation, die sie überhaupt noch zu Gesicht bekamen, bestand meist aus dürrem, blassem Gras und dornigen Büschen, die kaum Blätter trugen. Wenn es in diesem Teil des Landes jemals schon Menschen gegeben hatte, so mussten sie es vor langer Zeit verlassen haben, da nicht einmal die geringste Spur zurückgeblieben war.

Und trotzdem kam ihm ihre Umgebung mehr und mehr bekannt vor. Kim war ziemlich sicher, noch nie hier gewesen zu sein, und trotzdem hatte er in immer stärkerem Maße das Gefühl, sie einfach kennen zu müssen.

Am Abend des dritten Tages nach dem Zwischenfall mit dem Skull erreichten sie die Kuppe einer flachen Hügelkette. Kai hielt sein Pferd an um sich wieder einmal im Sattel herumzudrehen und den Horizont hinter ihnen abzusuchen, während Kim weiter nach Osten blickte, in die Richtung, in die sie zogen.

Um ein Haar hätte er laut aufgeschrien.

Endlich begriff er, woher das unheimliche Gefühl gekommen war, schon einmal hier gewesen zu sein.

Er war es tatsächlich. Nur hatte sich das Land auf so furchtbare Weise verwandelt, dass er es kaum wieder erkannt hatte. Ein bisschen hatte er sich tatsächlich so verhalten, wie Twix es von den Menschen behauptet hatte: Er hatte einfach die Augen vor der Wahrheit verschlossen.

Nun aber konnte er es nicht mehr.

Vor ihm erstreckte sich eine weite, baumbestandene Ebene, auf dem die zerborstenen Überreste des gewaltigsten Baumes lagen, den ein Mensch jemals zu Gesicht bekommen hatte. Allein der auseinander gebrochene Stumpf war so hoch wie ein Berg und sein Umfang so groß, dass eine Stunde nicht ausreichen würde um ihn herum zu reiten.

Ja, er war schon einmal hier gewesen. Damals hatte der Baum noch unversehrt und in seiner gewaltigen Pracht dagestanden, groß genug um auf seinen weit gespannten Asten einer ganzen Stadt mit Hunderten und Aberhunderten von Menschen Platz zu bieten.

Nun war dieses Wunderwerk der Natur zerstört. Die riesigen Äste lagen zersplittert am Boden, Häuser und Brücken waren in Brüche gegangen, all die Wunderwerke, an denen Mensch und Natur gemeinsam über unendliche Zeit hinweg gearbeitet hatten, unwiederbringlich zerstört. Sie waren noch viel zu weit entfernt um etwas von der Größe eines Menschen zwischen den umherliegenden Trümmern ausmachen zu können, aber Kim spürte einfach, dass dort unten kein Leben mehr war.

»Habt... ihr das getan?«, fragte er stockend.

»Wir?« Kai sah ihn regelrecht schockiert an. »Natürlich nicht! Wofür hältst du uns? Aber wir haben sie gewarnt, dass das passieren würde. Sie wollten nicht auf uns hören. Es gab sehr viele Opfer, als der Baum zusammenstürzte.«

»Gewarnt? Wieso? Woher konntet ihr wissen, was passiert?«

»Weil es unnatürlich ist!«, sagte Kai heftig. »Es war Magie, die dieses ... Gebilde überhaupt erst ermöglichte! Sie musste eines Tages versagen!«

»Weil ihr aufgehört habt an sie zu glauben«, sagte Kim.

Kai schürzte verächtlich die Lippen. »Magie!« Er sprach das Wort aus wie eine Beschimpfung. »Wir brauchen eure verdammte Magie nicht!«

»Ohne sie wärt ihr alle gar nicht hier!«, sagte Kim.

»Ja«, gab Kai unumwunden zu. »Das ist wahr. Und ich gestehe auch gerne, dass sie früher ihren Sinn hatte und gut und wichtig war. Aber die Dinge ändern sich. Die Zeit bleibt nicht stehen. Was früher gut war, das ist heute nicht mehr von Nutzen. Vielleicht wird, was heute gut ist, irgendwann auch nicht mehr gebraucht. Aber für uns zählt das Jetzt. Unser Leben, Kim. Und wir brauchen keine Zauberer mehr.«

»Wenn du dich da nur nicht irrst«, sagte Kim.

»Kaum«, antwortete Kai. »Und außerdem habe ich gar keine Lust, mit dir darüber zu streiten. Steig ab, wir lagern hier.«

»Hier?« Kim war überrascht. Es waren noch gute zwei Stunden bis Sonnenuntergang und Kai hatte an den vorherigen Tagen keine Minute Tageslicht verschenkt.

Da Kai nicht reagierte, sondern sich aus dem Sattel schwang, drehte er sich noch einmal herum und blickte in die Richtung, in die Kai vorhin so konzentriert gestarrt hatte.

Der Horizont war nicht mehr leer. Eine Anzahl winziger dunkler Punkte bewegte sich auf sie zu, zwei, drei... vielleicht ein halbes Dutzend. Zweifellos die, auf die Kai gewartet hatte. Kim hatte plötzlich ein sehr ungutes Gefühl.

Was hatte er vor drei Tagen gesagt? Ich habe Vorsorge getroffen, dass das nicht passiert.

Kim hatte plötzlich das fast sichere Gefühl, dass es ein schwerer Fehler wäre, hier zu bleiben, bis das halbe Dutzend Gestalten eingetroffen war.

»Worauf wartest du?«, fragte Kai ungeduldig. »Auf einen roten Teppich?«

Kim wies auf die dunklen Punkte am Horizont. »Wer ist das?«, fragte er.

»Nur ein paar Reiter, die den Kontakt zum Rest des Heeres aufrecht erhalten«, antwortete Kai. Seine Stimme klang überzeugend, aber der Ausdruck seiner Augen strafte seine Worte Lügen. »Steig endlich ab. Wir haben viel zu tun. Als unser tapferer Ehrengast musst du zwar keinen Finger rühren, aber steh wenigstens nicht im Weg herum. Also steig endlich ab!«

»Ich glaube nicht, dass ich das möchte«, antwortete Kim zögernd.

»So?« Kai lächelte spöttisch. »Und was möchtest du, du Held?«

Kim blickte verstohlen in die Runde. Die Krieger hatten ihre Diskussion natürlich mitbekommen und sahen neugierig oder alarmiert in ihre Richtung. Aber sie bildeten noch immer die Spitze des Heeres. Zwischen ihnen und den Übrigen war ein gewisser Abstand.

Kai folgte seinem Blick und plötzlich erschien ein Ausdruck jähen Erschreckens auf seinem Gesicht. Er hatte verstanden, was sich hinter Kims Stirn abspielte.

»O nein!«, sagte er. »Das wirst du nicht tun! Wache! Legt ihn in Ketten!«

Die letzten Worte hatte er geschrien, aber es geschah genau das, womit Kim insgeheim gerechnet hatte: Seine Krieger zögerten dem Befehl nachzukommen. Nur für die Dauer eines Atemzuges - aber mehr als dieses kurze Zögern brauchte er auch nicht.

Warnungslos ließ er die Zügel knallen. Sein Pferd machte einen erschrockenen Satz nach vorne. Kai versuchte sich mit einer hastigen Bewegung in Sicherheit zu bringen, aber er war nicht schnell genug und wurde einfach zu Boden geschleudert. Das Pferd jagte weiter und beschleunigte sein Tempo noch, als es den abschüssigen Hang hinunterjagte.

Kim sah über die Schulter zurück. Kai hatte sich wieder aufgerappelt und deutete heftig gestikulierend in seine Richtung. Zwei, drei seiner Krieger stiegen auch tatsächlich in die Sättel und begannen in seine Richtung zu reiten. Aber nicht besonders schnell. Sie hatten nicht wirklich vor, ihn einzuholen. Und schon gar nicht ihn zurückzubringen.

Trotzdem nahm Kim sein Tempo nicht zurück. Er konnte Kais zorniges Gebrüll selbst über die größere werdende Entfernung hinweg deutlich hören. Kai würde nicht so leicht aufgeben - und er war immer für eine Überraschung gut.

Immer schneller werdend galoppierte Kim den Hügel hinab. Er sah nur von Zeit zu Zeit zurück. Ungefähr ein Dutzend Reiter hatten sich aus dem Heer gelöst und hielten auf ihn zu, aber keiner von ihnen war auch nur annähernd schnell genug um eine Gefahr darzustellen. Kai war nicht unter den Verfolgern, aber das beruhigte Kim kein bisschen. Ganz im Gegenteil. Wenn Kai darauf verzichtete ihm nachzureiten, sondern diese Aufgabe seinen Kriegern übertrug, von denen er ganz genau wissen musste, dass sie ihn gar nicht einholen wollten, dann konnte das nur einen einzigen Grund haben: Er hatte etwas Besseres vor.

Beunruhigt blickte er zu den Reitern hin, die sich dem Heer von Westen näherten. Sie hatten ihre Richtung geändert und hielten nun genau auf ihn zu. Und sie ritten schnell. Selbst über die große Entfernung hinweg konnte Kim erkennen, dass sie viel schneller waren als er.

Kim wandte seine Aufmerksamkeit dem vor ihm liegenden Gelände zu. Er würde dieses scharfe Tempo nicht mehr lange durchhalten können. Obwohl er noch nicht sehr weit von dem umgestürzten Baum entfernt war, war der Boden vor ihm bereits mit Trümmern nur so übersät - zerfetzten Brocken von der Größe eines Hauses, Splitter, die die Dimensionen hundertjähriger Eichen hatten, aber auch armlange Äste, riesige Gebilde aus ineinander verflochtenen Wurzel und zähen Strängen - kurz: ein wahres Labyrinth, durch das auf den ersten Blick gar kein Durchkommen zu sein schien. Dieses schwierige Gelände würde sein Tempo gehörig bremsen. Da das aber auch für seine Verfolger galt, machte sich Kim darüber keine besonderen Sorgen.

Viel schwieriger war die Frage: Wohin sollte er sich wenden? Er konnte seinen Verfolgern nicht auf Dauer davonreiten. Sein Pferd musste irgendwann müde werden und er war allein, während sie über eine große Anzahl frischer Tiere verfügten und mehr als tausend waren. Er brauchte ein Versteck. »Twix!«

Die Elfe streckte den Kopf aus der Hemdtasche und sah ihn mit schräg geneigtem Kopf an. »Das wurde aber auch Zeit!«, sagte sie. »Ich dachte schon, du hättest ernsthaft Gefallen an diesem Burschen gefunden.«

»Ich habe nur auf den richtigen Moment gewartet«, antwortete Kim.

»Ach, und du glaubst, das wäre ausgerechnet jetzt?«

»Ich brauche deine Hilfe«, seufzte Kim. »Diskutieren können wir später.«

»Meine Hilfe? Wie originell! Was würdest du eigentlich ohne mich -«

»Flieg voraus«, unterbrach sie Kim. »Ich brauche ein Versteck. Ein gutes Versteck!«

»Pfft!«, machte Twix, schwang sich aber trotzdem gehorsam in die Luft und war wenig später verschwunden.

Sie hatten mittlerweile den Fuß des Hügels erreicht und Kim ließ das Pferd ein wenig langsamer traben. Wieder sah er zu seinen Verfolgern zurück. Sein Vorsprung war noch weiter gewachsen. Etliche Reiter bewegten sich nur noch im Schritttempo und zwei oder drei hatten ihre Pferde sogar gewendet und trabten langsam zu Heer zurück. Er selbst wollte im Moment um nichts in der Welt in der Haut der jungen Krieger stecken. Immerhin hatten sie einen direkten Befehl ihres Heerführers verweigert.

Anders sah es bei den Reitern aus, die von Westen kamen. Sie waren mittlerweile weit genug heran, dass Kim erkennen konnte, dass es nur vier waren - bei den Übrigen musste es sich wohl um Packpferde handeln, denn sie waren weit zurückgefallen. Diese vier näherten sich jedoch nach wie vor in scharfem Tempo. Wenn sie diese mörderische Geschwindigkeit durchhielten, würden sie ihn in längstens einer halben Stunde eingeholt haben. Er brauchte dringend ein Versteck. Wo blieb Twix?

Er hielt so intensiv nach der Elfe Ausschau, dass er den armdicken Ast, der urplötzlich vor ihm im Gras auftauchte, viel zu spät sah. Sein Pferd registrierte die Gefahr im letzten Moment und setzte mit einem gewagten Sprung über das Hindernis hinweg, aber Kim, der auf diese jähe Bewegung nicht vorbereitet war, wurde nach vorne und beinahe aus dem Sattel geschleudert. Im buchstäblich allerletzten Moment hielt er sich am Sattelknauf fest - mit dem Ergebnis, dass sich sein Pferd erschrocken auf die Hinterläufe erhob und ihn nun endgültig abwarf. Kim stürzte der Länge nach ins Gras und blieb einen Moment lang benommen liegen.

Als er sich aufrichtete, blickte er in ein pelziges Gesicht mit vorspringendem Unterkiefer, riesigen Glubschaugen und spitzen Ohren, aus denen kleine Haarbüschel wuchsen.

»Pack?«, murmelte er verblüfft.

Die Kreatur sprang einen halben Schritt zurück, grinste ihn an - und schlug ihm ohne Vorwarnung und so fest die Faust auf die Nase, dass er im wahrsten Sinne des Wortes Sterne sah.

Kim hob die Hand ans Gesicht, betastete mit spitzen Fingern sehr vorsichtig seine Nase und sagte noch einmal, aber diesmal überzeugt: »Pack!«

Der Gnom sprang zwei oder drei Schritte zurück und begann aufgeregt mit den Armen herumzufuchteln und zu schnattern. »Ja, ich freue mich auch dich wieder zu sehen«, sagte Kim. »Aber ich habe im Moment keine Zeit für deine Späße. Da sind ein paar ziemlich unangenehme Burschen hinter mir her, weißt du?«

Er stemmte sich hoch, griff nach dem Sattelknauf und wollte den Fuß in den Steigbügel setzen, aber der Pack lamentierte immer lauter, sodass er mitten in der Bewegung innehielt und den haarigen Kobold erneut anblickte.

»Willst du mir etwas sagen?«, fragte er.

Der Pack schnatterte und wies dabei auf einen Punkt hinter sich, an dem Kim absolut nichts Außergewöhnliches erkannte. Hinter dem Pack ragte irgendetwas empor, das auf den ersten Blick eine verwilderte Felswand hätte sein können, in Wahrheit jedoch das Bruchstück eines gewaltigen Astes war. Als Kim genauer hinsah, erkannte er einen schmalen, dreieckigen Riss in der steinharten Borke.

»Ein Versteck!«, rief Kim. »Du hast ein Versteck für mich gefunden!«

Der Pack kreischte noch lauter, sprang plötzlich auf das Pferd zu und versetzte ihm einen so derben Tritt, dass es mit einem erschrockenen Wiehern davonschoss. Kim war im ersten Moment erschrocken, sah aber dann ein, dass der Pack sehr klug gehandelt hatte. Das Pferd würde seinen Rückweg zum Lager sicher finden und hier stellte es im Moment nur eine Gefahr für sie da.

Er eilte zu dem Riss in der Baumrinde, ließ sich davor in die Hocke sinken und spähte hindurch. Der Riss setzte sich auch dahinter fort, so weit das Licht reichte und vermutlich noch weiter. Schmal und unbequem, aber trotzdem ein perfektes Versteck.

Als er sich jedoch hineinquetschen wollte, ergriff der Pack ihn so derb am Arm, dass er das Gleichgewicht verlor und stürzte.

»He!«, beschwerte sich Kim. »Was soll das?«

Der Pack begann wieder zu kreischen und wild mit den Armen zu fuchteln, griff plötzlich nach Kims Hand und riss einen Streifen Stoff aus dem Saum seines Hemdärmels. Unter heftigem Schnattern und Keifen stopfte er den Fetzen in den Riss im Baum, sprang zurück und fuchtelte wieder wild mit den Armen.

Und endlich begriff Kim.

Der Pack hatte keineswegs den Verstand verloren oder trieb wieder seine üblen Scherze mit ihm - er legte eine falsche Spur! Wer über diesem Fetzen stand, musste annehmen, dass Kim in den Riss hineingekrochen war, und würde ihm folgen - und damit wertvolle Zeit verlieren.

»Alle Achtung!«, sagte Kim anerkennend. »So viel Raffinesse hätte ich dir ja gar nicht zugetraut.«

Der Pack reagierte auf das Kompliment auf seine ganz persönliche Art - er bückte sich, raffte einen Stock vom Boden auf und warf damit nach ihm. Kim wich dem Wurfgeschoss aus, sprang in die Höhe und folgte dem Pack tiefer in den Wald hinein.

Schon nach wenigen Augenblicken verlor er in dem dichten Unterholz die Orientierung. Was von der Höhe des Bergkamms aus wie schütterer Wald ausgesehen hatte, das entpuppte sich aus der Nähe betrachtet als fast undurchdringlicher Dschungel. Ohne die Hilfe des Pack hätte er sich schon nach wenigen Augenblicken hoffnungslos verirrt oder wäre in einem dornigen Busch oder einem Gewirr aus Ranken und Wurzeln hängen geblieben.

Auch so bereitete es ihm immer größere Mühe, dem Pack zu folgen, denn sein haariger Führer vermochte sich mühelos durch Lücken und Geäst zu quetschen, für die Kim eine Machete gebraucht hätte. Tiefer und tiefer drangen sie auf diese Weise in den Wald ein.

Plötzlich blieb der Pack stehen, legte den Kopf auf die Seite, und noch bevor Kim richtig begriff, wie ihm geschah, wirbelte er herum, trat ihm die Füße unter dem Leib weg und warf sich auf ihn. Kims erschrockener Schrei wurde von einer haarigen Hand erstickt und natürlich nutzte der Pack die Gelegenheit, um ihn mit der anderen Hand so kräftig zu kneifen, dass ihm die Tränen in die Augen schössen. Kim wehrte sich mit aller Kraft, aber der Pack war viel zu stark für ihn. Das kleine Wesen entwickelte Kräfte, die er ihm niemals zugetraut hätte.

Erst als Kim schon glaubte, im nächsten Moment ersticken zu müssen, zog der Pack die Hand wieder zurück. Kim japste - und hielt sofort wieder erschrocken die Luft an.

Durch das Gebüsch drangen dumpfe Hufschläge und das Murmeln mehrerer Stimmen.

Kim stemmte sich umständlich hoch, kroch auf Händen und Knien ein Stück weit ins Gebüsch hinein und bog vorsichtig die Äste auseinander.

Sein Herz stockte, als er die Reiter auf der anderen Seite des Gebüsches sah.

Es waren fünf. Angeführt wurden sie von Kai, der mit finsterem Gesicht im Sattel hockte und das blankgezogene Schwert vor sich über den Knien liegen hatte. Seine vier Begleiter jedoch unterschieden sich so sehr von ihm, wie es nur ging. Keiner von ihnen war größer als Kai, aber Kim konnte weder ihr Alter noch ihre genaue Größe oder ihr Aussehen erkennen, denn sie trugen wuchtige Rüstungen aus schwerem Eisen, die ihren Körper von Kopf bis Fuß einhüllten. Im allerersten Moment glaubte Kim fast, den schwarzen Reitern aus Morgon gegenüberzustehen, aber dieser Gedanke hielt wirklich nur einen flüchtigen Blick stand. Die vier Reiter waren anders. Sie wirkten primitiver, wilder, auf eine schwer in Worte zu fassende Weise gefährlicher. Kim konnte nicht einmal sagen, warum.

»Er muss hier irgendwo sein!«, sagte Kai wütend. »Verdammt, er kann sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben!«

Kim erstarrte, als Kai in seine Richtung sah und sich sein Blick für einen Moment direkt in seinen zu bohren schien. Auch der Pack wagte es nicht, sich zu rühren, aber Kim sah aus den Augenwinkeln, wie auf seinem Gesicht ein hasserfüllter Ausdruck erschien. Dann wanderte Kais Blick weiter und Kim atmete auf.

»Er muss hier irgendwo sein!«, sagte Kai noch einmal. »Sucht ihn! Er darf nicht entkommen! Aber denkt daran: Ich brauche ihn unversehrt!«

Kim hatte genug gesehen und gehört. Vorsichtig ließ er die Äste los, kroch wieder ein gutes Stück in seine Deckung zurück und sah sich mit klopfendem Herzen um. Er brauchte wirklich dringend ein Versteck. Seine Verfolger waren nur zu fünft, aber obwohl er die Gesichter der Reiter nicht gesehen hatte, spürte er doch, wie gefährlich sie waren. Sie hatten etwas von Bluthunden an sich - einmal auf eine Fährte gesetzt, würden sie so schnell nicht aufgeben.

Er sah den Pack an und erschrak erneut. Sein haariger Freund zitterte am ganzen Leib. Er hatte die Ohren zurückgelegt wie eine gereizte Katze und seine Augen waren dunkel vor Furcht. Wenn es noch eines Beweises für die Gefährlichkeit der Reiter in Schwarz bedurft hätte, dann wäre es der Anblick des Pack gewesen. Er hatte sogar vergessen die Gunst des Augenblicks zu nutzen und Kim kräftig zu kneifen oder ihm vor die Waden zu treten.

Als Kim sich zum dritten Mal in der Runde umsah, erhob sich ein Stück weiter hinter ihm ein dürres weißes Bein aus dem Gras und winkte ihm zu. Kim runzelte überrascht die Stirn, setzte sich aber unverzüglich in Bewegung und huschte geduckt und so leise wie möglich in die Richtung, in der er das Spinnenbein gesehen hatte. Nur Sekunden später stand er auch dem Rest der weißen Kreatur gegenüber und atmete erleichtert auf.

»Gott sei Dank. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie -«

»Still!«, zischte die Spinne. »Die Schwarze Garde ist noch in der Nähe! Die Burschen haben Ohren wie Fledermäuse!«

Kim warf einen raschen Blick in die Richtung, in der er auf Kai und seine unheimlichen Begleiter gestoßen war. Von den Reitern war nichts mehr zu hören. Aber dass er sie nicht hörte, bedeutete nicht, dass sie umgekehrt ihn nicht bemerkten. Als er weitersprach, senkte er die Stimme unwillkürlich zu einem Flüstern.

»Wir brauchen ein Versteck!«

»Was du nicht sagst«, sagte die Spinne. »Was glaubst du wohl, wieso ich hier bin? Wärst du nicht wie ein blindes Huhn stundenlang durch die Gegend gestolpert, dann wären wir längst in Sicherheit!«

»Soll das heißen, du hast ein Versteck gefunden?«

»Natürlich habe ich das«, antwortete die Spinne in eindeutig beleidigtem Ton. »Komm mit. Und keinen Laut!«

Nach einem letzten, sichernden Blick über die Schulter zurück folgte Kim der Spinne. Wenigstens versuchte er es, hatte aber alle Mühe, auch nur halbwegs mit ihr Schritt zu halten. Die Spinne bewegte sich auf ihren acht langen, dünnen Beinen so elegant und mühelos durch das hüfthohe Gras, dass Kim und der Pack sie mehr als einmal aus den Augen verloren und sie immer wieder stehen bleiben musste, damit sie wieder zu ihr aufschließen konnten.

Endlich erreichten sie wieder einen der riesigen abgebrochenen Äste. Er hatte die Dimensionen eines sechsstöckigen Hauses, das auf die Seite gefallen war, und seine Flanke war an zahlreichen Stellen durchbrochen.

Die Spinne blieb stehen und sah ihn forschend an. »Kannst du klettern?«

Kim wollte instinktiv nicken, zögerte dann aber. Er war nicht sicher, ob er unter dem Wort klettern dasselbe verstand wie ein Wesen, das ohne sonderliche Mühe kopfunter an der Decke entlang zu laufen imstande war ...

»Also nicht«, seufzte die Spinne, als er nicht antwortete. »Dann muss es eben anders gehen. Kommt!«

Sie lief nicht weiter geradeaus um einfach an der Wand aus halb vermodertem Holz entlang zu krabbeln, wie sie es ursprünglich vorgehabt haben mochte, sondern machte einen scharfen Knick nach links und verschwand nach wenigen Schritten in einer fast regelmäßig geformten Öffnung im Holz. Sie lag allerdings so hoch über dem Boden, dass Kim sie gerade mit dem ausgestreckten Arm erreichen konnte und nur mühsam und unter Aufbietung aller Kräfte in der Lage war sich hineinzuziehen.

Als er es getan hatte und sich umsah, verstand er den Sinn der Frage, ob er klettern konnte, schlagartig besser.

Das Innere des Astes war hohl, aber der Gang, in dem er sich befand, war keineswegs auf natürliche Weise entstanden. Die Wände waren geglättet und so sorgfältig poliert, dass sich Kims Gestalt verzerrt darauf spiegelte. In regelmäßigen Abständen zweigten weitere Türen von dem Gang ab, die in andere Räume führen mochten, und ganz am Ende des gekrümmten Tunnels entdeckte er sogar die ersten Stufen einer eng gewendelten Treppe. Er befand sich in einem Teil der alten Baumstadt. Das Volk, das auf dem Riesenbaum gelebt hatte, hatte seine Behausungen nicht nur auf, sondern auch in die gewaltigen Äste hineingebaut. Vor ihm musste ein ganzes Labyrinth von Räumen, Kammern, Treppenschächten und Sälen liegen; mehr als genug Platz, um eine ganze Armee zu verbergen.

Das Ganze hatte nur einen klitzekleinen Schönheitsfehler.

Es stand auf dem Kopf.

Der Ast hatte sich um hundertachtzig Grad gedreht, als er abgebrochen und zu Boden gestürzt war. Die Decke über seinem Kopf war in Wirklichkeit der Fußboden und umgekehrt ...

»Wenn du genug gegafft hast, können wir dann weitergehen?«, erkundigte sich die Spinne.

Kim ersparte sich eine Antwort, streckte den Arm aus um dem Pack hereinzuhelfen und verbiss sich einen Schmerzlaut, als der Pack die Gelegenheit nutzte, ihm kräftig den Daumen herumzudrehen.

Hintereinander drangen sie tiefer in das gewaltige Baumhaus ein. Kim überließ sich ganz der Führung der Spinne, warf aber im Vorbeigehen einen raschen Blick in den einen oder anderen Raum. Der Anblick war im Prinzip überall gleich: Chaos. Als der Ast abgestürzt war, hatte sich die gesamte Einrichtung von ihrem Platz gelöst und war auf die zum Fußboden gewordene Decke gestürzt. Zu seiner Erleichterung sah er nirgendwo Spuren der ehemaligen Bewohner der Baumstadt. Vielleicht hatten sie ja doch noch Gelegenheit gefunden, sich in Sicherheit zu bringen, bevor die Katastrophe geschah.

Sie gingen eine Treppe hinunter - was nichts anderes bedeutete, als dass Kim eine spiegelglatte gekrümmte Rutschbahn hinunterschlitterte, während sich über seinem Kopf hölzerne Stufen aneinander reihten - und durchquerten einen gewaltigen Saal, der wohl einmal eine Art Waffenkammer gewesen sein musste. Der Boden war fast knietief mit einem Gewirr aus verbeulten Rüstungen, Schwertern, Schilden, Äxten, Speeren und anderen Mordinstrumenten bedeckt. Selbst der Spinne fiel es schwer, auf ihren langen Beinen über dieses Chaos zu stelzen ohne sich zu verletzen. Wie es Kim gelungen war, den Saal zu durchqueren, ohne sich ein paar Finger abzuschneiden oder ein Auge auszustechen, konnte er hinterher selbst nicht sagen. Trotzdem folgten er und der Pack ihrer achtbeinigen Führerin ohne Klagen. Sie würde schon wissen, was sie tat.

Wenigstens hoffte Kim das.

Die Spinne führte sie zu einem kleinen Raum auf der gegenüberliegenden Seite des Saales. Der Eingang lag gut fünf oder sechs Meter hoch unter dem zur Decke gewordenen Fußboden, war aber trotzdem gut zu erreichen, weil zerbrochene Möbel und ineinander gekeilte Rüstungsteile eine Art natürlicher Leiter bildeten, über die sie hinaufklettern konnten.

Die Kammer selbst war nicht besonders groß, aber praktisch leer, sodass Kim es sich auf dem Boden bequem machen konnte, während sie auf den Pack warteten. Das Gesicht des spitzohrigen Kobolds erschien nach wenigen Sekunden über dem Eingang. Er klammerte sich mit der linken Hand fest, streckte Kim die andere entgegen und sah ihn so herzzerreißend an, dass Kim um ein Haar geglaubt hätte, dass er nicht mehr die Kraft hätte sich hereinzuziehen. Alles, was ihn letztendlich davon abhielt, war sein schmerzender Daumen.

Der Pack stieß ein jämmerliches Piepsen aus. Kim schüttelte den Kopf, zeigte ihm einen Vogel und wandte sich an die Spinne.

»Bist du sicher, dass sie uns hier nicht finden?«, fragte er.

»Sicher ist gar nichts«, antwortete die Spinne. Kim sah aus den Augenwinkeln, wie sich der Pack ohne die geringste Mühe über die Türschwelle schwang und sich in der entferntesten Ecke zusammenkauerte um ihn und die Spinne abwechselnd mit feindseligen Blicken regelrecht aufzuspießen. »Man darf die Schwarze Garde nicht unterschätzen. Es heißt, dass ihnen noch niemand entkommen ist.«

Es war das zweite Mal, dass die Spinne diesen Begriff benutzte. Kim schauderte allein bei der Erinnerung an die unheimlichen, ganz in schwarzes Eisen gehüllten Gestalten. »Die Schwarze Garde ... wer sind sie?«

»Die Leibwache des Magiers der Zwei Berge«, antwortete die Spinne. »Wenn du wissen willst, was sie sind, dann musst du sie schon fragen. Niemand hat je einen Blick hinter ihre Visiere getan ... wenigstens niemand, der hinterher lange genug gelebt hätte um davon zu berichten.«

»Die Leibwache?«

»Anscheinend hat er sie an Kai ausgeliehen«, vermutete die Spinne. »Er ist sich wohl seiner eigenen Leute nicht mehr ganz sicher. Nach deinem kleinen Kunststück mit dem Skull wundert mich das überhaupt nicht mehr.«

Eine gute Sekunde verging, ehe Kim überhaupt begriff, was die Spinne gerade gesagt hatte. »Du weißt davon?«

»Natürlich weiß ich davon«, antwortete die Spinne.

»Ihr wart also die ganze Zeit über in unserer Nähe«, sagte Kim.

»Klar. Hast du gedacht, wir lassen dich allein?« Die Spinne lachte. »Du konntest mal wieder nicht die Zeit abwarten. Deine Flucht war eigentlich erst für morgen oder übermorgen geplant. Andererseits, jetzt, wo die Schwarze Garde hier ist...«

»Meine Flucht war geplant?«, vergewisserte sich Kim. »Von wem?«

»Na von uns!«, antwortete die Spinne. »Wir haben nur noch auf diese pickelige Pusteblume gewartet.«

»Du meinst Sturm?«

»Meinetwegen auch das«, sagte die Spinne. »Er will in ein paar Tagen zu uns stoßen.«

Kim war nicht ganz sicher, ob er wütend werden oder sich freuen sollte. Natürlich war es ein gutes Gefühl zu wissen, dass seine Freunde ihn nicht im Stich gelassen hatten. Andererseits mochte er es gar nicht, wenn über seinen Kopf hinweg über ihn entschieden wurde. Der Gedanke machte ihn regelrecht wütend. Er hatte beinahe Lust -

Plötzlich begriff er, dass er jetzt kaum noch anders dachte als Kai und seine Krieger. Er schämte sich seiner eigenen Gedanken, war zugleich aber auch zutiefst beunruhigt. So leicht war es also, die Seiten zu wechseln, ohne es eigentlich selbst zu merken...

»Wir bleiben am besten hier, bis es dunkel wird«, fuhr die Spinne fort. »Irgendwann werden sie schon aufgeben, nach dir zu suchen ... vorausgesetzt, dass uns mein knurrender Magen nicht verrät.« Sie seufzte, wartete einen Moment vergeblich darauf, dass Kim etwas dazu sagte, und fuhr dann in beiläufigem Ton fort: »Wo ist eigentlich deine entzückende kleine Freundin, die Elfe?«

Kim antwortete auch darauf nicht, grinste aber breit und die Miene der Spinne verfinsterte sich zusehends. »Was ist daran eigentlich so komisch, wenn jemand unter deinen Augen verhungert?«, erkundigte sie sich.

Bevor Kim antworten konnte, stieß der Pack ein warnendes Meckern aus und sie eilten alle geduckt zum Eingang. Kim hielt erschrocken den Atem an, als er die in Wildleder und helles Leinen gekleidete Gestalt sah, die den Saal betreten hatte. Offensichtlich hatte Kai doch ein paar junge Krieger gefunden, die bereit waren seinen Befehlen zu folgen.

Der Pack schob kampflustig den Unterkiefer vor und ballte die Fäuste, aber Kim schüttelte rasch den Kopf. »Nicht!«, sagte er warnend. »Vielleicht bemerkt er uns ja gar nicht!«

»Wenigstens dann nicht, wenn ihr beiden die Klappe haltet«, zischte die Spinne. »Die Schwarze Garde ist in der Nähe! Ich kann sie spüren!«

Kim duckte sich noch ein wenig tiefer und betrachtete die einsame Gestalt in der Halle. Der Junge, der ein Stück größer war als er und kurz geschnittenes schwarzes Haar hatte, fühlte sich sichtbar unwohl in seiner Haut. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, langsam durch den Saal zu gehen und hinter jedes Versteck zu spähen, das auch nur annähernd groß genug gewesen wäre einen Menschen zu verbergen.

Auf diese Weise kam er langsam näher und blieb schließlich am Fuß des Trümmerberges stehen, an dessen oberen Ende sich die Tür befand. Einen Moment lang spähte er konzentriert zu ihnen herauf, aber dann zuckte er mit den Schultern und drehte sich herum. Der Anblick der mit gefährlichen Spitzen gespickten Trümmer hatte ihn anscheinend davon überzeugt, dass es sich nicht lohnte, hinaufzuklettern und einen Blick in einen Raum zu werfen, der ohnehin leer sein musste. Kim atmete innerlich auf und im selben Moment sauste ein faustgroßer goldener Lichtball zur Tür herein und schoss zielsicher in ihre Richtung.

»Na, das wurde auch Zeit!«, protestierte Twix. »Findest du das in Ordnung? Zuerst schickst du mich weg, um ein Versteck zu suchen, und kaum habe ich es gefunden und komme zurück, da bist du nicht mehr da und ich kann stundenlang nach dir suchen!«

»O nein!«, murmelte Kim. »Twix, sei still!«

Twix war natürlich nicht still, sondern schoss weiter aus Leibeskräften schimpfend auf ihn zu. Und es wäre ohnehin viel zu spät gewesen. Der Junge war stehen geblieben und folgte der Elfe mit interessierten Blicken. Als sie an Kim vorbei durch die Tür flog, begann er vorsichtig, aber entschlossen den Trümmerberg hinaufzuklettern.

Twix schimpfte noch immer wie ein Rohrspatz. »Das war wirklich nicht nett von dir! Ich riskiere Kopf und Kragen um für dich- oh!«

Sie hielt so abrupt an, als wäre sie gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt, als sie die Spinne erblickte.

»Das hast du wirklich gut hingekriegt, Kleine«, säuselte die Spinne. »Meinen Glückwunsch! Warum kommst du nicht ein bisschen näher, damit ich dir die Hand schütteln kann?«

»Bin ich so dumm, wie du aussiehst?«, fragte Twix.

»Hört auf!«, sagte Kim. »Bitte!«

Die beiden Streithähne verstummten tatsächlich auf der Stelle und Kim spähte weiter auf den jungen Krieger hinab. Seine Gedanken rasten. Der Junge kletterte langsam, aber beharrlich nach oben. Kim traute sich durchaus zu, ihn zu besiegen, aber er hatte gar keine Lust, mit ihm zu kämpfen. Es war so sinnlos. Im Grunde standen sie doch auf derselben Seite!

Aber vielleicht gab es ja noch eine andere Möglichkeit...

Er wartete, bis der Junge die Hälfte des Hindernisses überwunden hatte, dann richtete er sich auf. Wie er erwartet hatte, erstarrte der Junge mitten in der Bewegung.

»Suchst du mich?«, fragte Kim.

Auf dem Gesicht des jungen Steppenreiters erschien ein geradezu unglücklicher Ausdruck. Es war, wie Kim vermutet hatte: Er folgte Kais Befehl, aber er war ganz und gar nicht glücklich dabei.

»Ich ... ja, Herr«, antwortete er unbehaglich.

»Du hast mich gefunden«, antwortete Kim. »Und jetzt?«

Der junge Krieger antwortete nicht, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde noch gequälter.

»Sieht so aus, als hätten wir ein Problem«, fuhr Kim fort. »Kai hat dir sicher den Befehl gegeben mich zurückzubringen.«

»Das ... stimmt, Herr«, antwortete der Junge.

»Ich habe aber nicht vor zu ihm zurückzugehen«, sagte Kim. »Warum kehrst du nicht einfach zum Heer zurück und sagst ihm, du hättest mich nicht gefunden?«

»Das ... kann ich nicht machen«, antwortete der junge Krieger stockend. »Er würde es merken, wenn ich ihn belüge.«

Kim seufzte. »Ich werde nicht mitkommen. Nicht freiwillig. Also, was sollen wir tun? Warum schließt du dich nicht einfach uns an?«

»Ich habe einen Eid geschworen«, sagte der Junge gequält. »Ich kann ihn nicht brechen.«

»Dann haben wir wirklich ein Problem«, sagte Kim. »Ich glaube nämlich nicht, dass du wirklich gegen mich kämpfen willst, mein Freund.«

»Damit hast du wahrscheinlich sogar Recht«, sagte eine andere Stimme. »Aber ich will es. Ich freue mich sogar darauf.«

Kim sah hoch und erblickte niemand anderen als Kai, der die Halle betreten hatte, während er mit dem jungen Krieger sprach. Hinter ihm drängten vier in schwarzes Eisen gekleidete Gestalten herein.

Kai machte eine befehlende Geste zu dem jungen Krieger. »Verschwinde! Den Rest übernehmen wir. Und ruf die anderen herbei!«

Während der Junge hastig wieder nach unten kletterte und verschwand, kamen Kai und die Schwarze Garde näher. Sie hatten es nicht besonders eilig. Wozu auch? Kim saß hier oben in der Falle. Es gab nur einen einzigen Ausgang aus dem Saal. Seine Gedanken rasten. Seine Lage schien vollkommen aussichtslos. Er hatte noch einen winzigen Vorteil auf seiner Seite, nämlich den, dass Kai wahrscheinlich nichts von der Anwesenheit der Spinne und des Pack wusste. Hätte Kai vier ganz gewöhnliche Krieger zu seinem Schutz mitgebracht, hätten sie sogar durchaus eine Chance gehabt, sie zu überwinden. Aber so...

»Zeigt euch nicht«, flüsterte er, beinahe ohne die Lippen zu bewegen. »Vielleicht können wir sie überrumpeln!«

Kai und die vier gepanzerten Gestalten kamen allmählich näher und Kims Mut sank noch weiter, als er sah, dass Kai keineswegs als Erster herankam. Stattdessen bildeten zwei der schwarzen Krieger die Vorhut. Trotz ihrer zentnerschweren Rüstungen und ihres so plump anmutenden Äußeren kletterten sie mit einer erschreckenden Behändigkeit in die Höhe.

Binnen weniger Augenblicke war der Erste herinnen, richtete sich auf und machte Platz für die Nachfolgenden. Die Spinne schoss einen Faden auf ihn ab, der sich zielsicher um seinen Helm wickelte, und Twix umkreiste den Eindringling schimpfend und bestäubte ihn mit flirrendem Gold, was allerdings vollkommen nutzlos war. Der Krieger fegte die Elfe mit einem nachlässigen Schlag mit der flachen Hand aus der Luft und zerriss mit der anderen den Spinnfaden, ohne sich in irgendeiner Weise anzustrengen.

Jetzt waren auch die beiden anderen Gardisten und Kai angekommen. Die vier Krieger zogen ihre Waffen; hässliche, plumpe Schwerter mit gezackten Klingen, die viel mehr dazu geschaffen schienen, Schmerzen zu bereiten und zu verletzen als einen schnellen Sieg zu erringen.

»Schön, dass wir uns wieder sehen«, sagte Kai grinsend. »Ich war schon in Sorge um dich. Dieses Gelände hier ist das reinste Labyrinth. Man kann sich leicht verirren - oder sogar zu Schaden kommen.« Er deutete auf den Pack, die Spinne und schließlich Twix, die sich mühsam wieder hochrappelte und in taumelnden Spiralen auf Kims Schulter zuhielt. »Wie praktisch, dass ich euch alle zusammen habe. Das spart eine Menge Zeit.«

Der Pack sprang ihn an. Wenigstens versuchte er es. Aber einer der Krieger vertrat ihm mit einem blitzschnellen Schritt den Weg und versetzte ihm einen Hieb mit der gepanzerten Hand, der ihn hilflos davonkugeln ließ.

Kai seufzte. »Können wir jetzt mit den Albernheiten aufhören?«

»Was willst du?«, fragte Kim und die Spinne zischte: »Ich hätte ihn auffressen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.«

Kai blickte angewidert auf sie herab. »Das wäre vermutlich wirklich klüger gewesen«, sagte er. »Eine bessere Gelegenheit wirst du nicht mehr bekommen, fürchte ich.«

»Undankbarer Kerl!«, schimpfte die Spinne. »Immerhin habe ich dir das Leben gerettet.«

»Und?«, fragte Kai verächdich. »Was erwartest du jetzt von mir? Dass ich dir vor lauter Dankbarkeit die Füße küsse? Das sind mir zu viele.«

»Eine Chance«, antwortete die Spinne. »Ein fairer Kampf, zwischen euch und uns!«

»Fair?!« Kai hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken, und Kim starrte die Spinne fassungslos an und fragte sich, ob sie nun vollends den Verstand verloren hatte.

»Er hat nicht einmal eine Waffe!« Die Spinne deutete mit einem Bein auf Kim. »Lass mich ein Schwert für ihn holen - oder hast du Angst, er könnte deine Hampelmänner in einem fairen Kampf besiegen?«

»Äh ...«, begann Kim, kam aber nicht weiter, denn Kai begann schallend zu lachen. Er warf den Kopf in den Nacken, lachte noch lauter und deutete dann mit einer einladenden Geste zur Tür.

»Nur zu!«, sagte er. »Aber beeil dich! Wir haben schon genug Zeit verloren.«

Die Spinne verschwand auf wirbelnden Beinen und Kai wandte sich mit einem hämischen Grinsen an Kim. »Zehn zu eins, dass sie die Gelegenheit nutzt um wegzulaufen«, sagte er.

»Verloren, Blödmann!«, keifte die Spinne von draußen. »Der Tag, an dem ich feige weglaufe, ist noch nicht gekommen!«

Nur einen Augenblick später kam sie wieder und legte Kim ein zweischneidiges Schwert mit einem kunstvoll geschmiedeten Griff vor die Füße. Kim bückte sich danach und sah der Spinne aus unmittelbarer Nähe in die Augen.

»Bist du verrückt geworden?«, flüsterte er. »Ich kann doch nicht -«

»Halt die Klappe!«, zischte die Spinne. »Ich weiß, was ich tue.« Viel lauter und in keifendem Ton fügte sie hinzu: »Was soll das heißen, es gefällt dir nicht? Stellst du jetzt auch noch Ansprüche?« Gleichzeitig blinzelte sie Kim mit drei oder vier Augen zu.

Kim hatte zwar keine Ahnung, was das alles sollte, spielte aber wenigstens für den Moment mit. »Es ist zu schwer!«, sagte er laut. »Ich brauche eine leichtere Waffe, nicht so ein plumpes Stück Eisen.«

Kai setzte dazu an, etwas zu sagen, aber die Spinne war bereits wieder herumgewirbelt und sauste an ihm vorbei. Nur einen Moment später kam sie zurück, diesmal mit gleich zwei Schwertern beladen.

»Die gefallen dir auch nicht«, flüsterte sie.

»Was soll ich denn mit diesem Schrott?«, fragte Kim laut. »Ich dachte, das da draußen wäre eine Waffenkammer, keine Müllkippe!«

»Es reicht«, sagte Kai ärgerlich. »Ihr wollt nur Zeit gewinnen, aber das nutzt euch nichts. Niemand wird euch zu Hilfe kommen.«

»Noch einen Versuch«, sagte die Spinne, während sie bereits losraste. »Ich werde schon etwas finden, was unserem hochwohlgeborenen Herrn Superhelden passt!«

Während sie draußen lautstark herumsuchte, wandte sich Kai kopfschüttelnd an Kim. »Ich bestehe nicht auf diesem Kampf«, sagte er. »Und es ist keine Schande, nicht gegen eine fünffache Übermacht antreten zu wollen.«

»Nur keine falsche Hektik!« Die Spinne kam ächzend zurück. Diesmal schleppte sie gleich vier Schwerter mit sich, unter deren Last sie sichtbar wankte. »Diesmal wird sicher etwas Passendes dabei sein.«

Sie lud die Waffen scheppernd und klirrend vor Kim ab. »Such dir eins aus«, flüsterte sie.

»Das ist albern«, sagte Kai.

»Hast du vielleicht Angst, wir könnten gewinnen?«, keifte die Spinne. Während Kim zögernd nach einem der Schwerter griff, drehte sie sich wieder vollends zu Kai herum und blinzelte zu ihm hoch. »Wir sind uns einig? Ihr lasst uns gehen, wenn ihr den Kampf verliert?«

Kai hatte mittlerweile Mühe, nicht vor Lachen laut herauszuplatzen. »Mein Wort darauf«, sagte er. Dann wandte er sich an Kim. Das Lachen verschwand wie weggeblasen von seinem Gesicht. Er zog sein Schwert. »Also? Machen wir es kurz.«

»Aber nicht unbedingt schmerzlos«, kicherte die Spinne.

Im nächsten Moment zweifelte Kim ernsthaft an seinem Verstand, denn was er sah, das war ganz und gar unglaublich.

Die Spinne richtete sich auf die beiden hinteren Beine auf, wodurch sie nun annähernd so groß wie Kai wurde. Mit den übrigen sechs Gliedmaßen griff sie nach jeweils einem Schwert und ließ die Klingen prüfend durch die Luft zischen. Kai ächzte. »Aber das ist -«

»Genau das, was wir abgesprochen haben«, fiel ihm die Spinne ins Wort. »Ein fairer Kampf, wir gegen euch. Zusammengenommen habt ihr genauso viele Arme wie wir. Und viel mehr Beine. Attacke!«

Sie sprang vor. Die sechs Schwerter in ihren Armen verwandelten sich in flirrende Schemen, die sich so schnell bewegten, dass das Auge ihnen kaum noch zu folgen vermochte.

»En garde!«, brüllte die Spinne. Metall kreischte. Funken stoßen auf, als sie die Schwarze Garde angriff und ihre Schwerter auf vier Rüstungen gleichzeitig prallten. Kai blickte verblüfft auf seine plötzlich leeren Hände, als sein Schwert davonflog, und einer der schwarzen Krieger wurde von den Füßen gerissen und verschwand kopfüber aus der Tür.

Endlich erwachte auch Kim aus seiner Erstarrung. Während die Spinne so schnell hin und her sprang, dass sie beinahe selbst zu einem Schemen zu werden schien, und die drei verbliebenen Krieger nach Strich und Faden verdrosch, sprang er auf Kai zu, trieb ihn mit dem Schwert vor sich her und setzte die Klinge schließlich an seine Kehle, als der junge Steppenreiter mit dem Rücken gegen die Wand stieß und es nichts mehr gab, wohin er fliehen konnte.

»Tja, so schnell wendet sich das Blatt manchmal«, sagte er fröhlich.

Kai starrte ihn trotzig an. »Was willst du?«

»Nur dein Wort«, sagte Kim. »Ruf deine Krieger zurück und lass uns gehen, dann passiert dir nichts.«

Kai riss die Augen auf. »Ich soll meine Krieger zurückrufen? Warum siehst du dich nicht erst einmal um?«

Kim tat, was Kai verlangte, und verstand dessen ungläubigen Ton plötzlich besser. Die drei übrig gebliebenen Krieger hatten nicht die geringste Chance gegen die Spinne. Sie schien sich nicht einmal besonders anzustrengen und hatte sogar noch Luft, ein aufreizendes Lied zu pfeifen, während sie die schwarzen Rüstungen ihrer Gegner methodisch zu Schrott schlug. Keiner der Schwerthiebe vermochte die massiven Eisenplatten zu durchschlagen, aber Kim konnte sich lebhaft vorstellen, wie sich die Krieger im Inneren ihrer Rüstungen fühlten. Ihnen mussten im wahrsten Sinne des Wortes die Ohren klingeln. Und nicht nur das ...

»Also gut«, sagte er. »Ich verlange einen Tag Vorsprung.«

»Und wenn nicht?«, fragte Kai trotzig. »Bringst du mich dann um? Das glaube ich nicht.«

Damit hatte er sogar Recht. Obwohl er gegen die Wand gelehnt dastand und Kim eine Waffe gegen seine Kehle drückte, kam er sich für einen Moment regelrecht hilflos vor. Dann aber verstärkte er den Druck der Klinge ein wenig. Kai wurde noch blasser und Kim fuhr in grimmigentschlossenem Ton fort: »Vielleicht tue ich dir nichts. Aber ich könnte einfach gehen und dich ihr überlassen.«

»Riposte!«, brüllte die Spinne. Etwas schepperte und ein weiterer Gardist flog in hohem Bogen aus der Tür. Auf die beiden anderen prasselten umso heftigere Schwerthiebe herab.

»Also gut«, sagte Kai gepresst. »Ich gebe euch Vorsprung bis zum nächsten Sonnenuntergang. Keine Sekunde länger. Aber es ist vollkommen zwecklos. Es spielt keine Rolle, in welche Richtung ihr flieht. Wir sind schon überall.«

»Dann braucht ihr uns ja auch nicht zu verfolgen«, sagte Kim. »Parade!«, keifte die Spinne. Der vorletzte Krieger verließ unfreiwillig die Kammer und der als Letzter zurückgebliebene duckte sich verzweifelt unter den jetzt sechs Klingen, die in immer rascherer Folge auf ihn niederfuhren.

»Ich habe dein Wort?«, vergewisserte sich Kim.

Kais Augen sprühten Feuer, aber in diesem Moment schrie die Spinne: »Pas de deux!«, und einen Augenblick später folgte ein gewaltiges Scheppern und Poltern.

»Also gut, meinetwegen«, sagte Kai hastig. »Ja. Du hast mein Wort. Mein Ehrenwort. Wir werden bis morgen Abend oben auf dem Hügel lagern. Niemand wird euch verfolgen.«

»Sein Ehrenwort, pah!« Die Spinne kam näher. Sie jonglierte mit ihrem halben Dutzend Schwertern und maß Kai mit abschätzenden und alles andere als freundlichen Blicken. »Was das wohl wert sein mag!«

Kim machte eine abwehrende Geste. »Ich glaube ihm«, sagte er. Er wusste selbst nicht genau, warum, aber er war tatsächlich davon überzeugt, dass Kai sein Wort halten würde. Zumal er vermutlich Recht hatte. Es gab im Grunde nichts, wohin sie noch fliehen konnten. Der Kampf der Alten gegen die Jungen hatte längst von ganz Märchenmond Besitz ergriffen.

Mit einer entschlossenen Bewegung stieß er das Schwert in die leere Scheide an seinem Gürtel und trat einen Schritt zurück. »Gehen wir.«

Kai und seine Krieger hatten ihnen noch ein weiteres (wenn auch sicher unfreiwilliges) Geschenk dagelassen: fünf aufgezäumte, mit prall gefüllten Satteltaschen ausgestattete Pferde, die am Eingang des hölzernen Labyrinths festgebunden waren. Zu seiner großen Freude entdeckte er am Sattelzeug eines der Pferde sogar Turocks Zauberbogen.

Im Grunde hatte er nur für ein einziges Pferd Verwendung. Trotzdem lud er alle Vorräte auf zwei weitere Tiere und band ihre Zügel zusammen; die beiden verbliebenen jagte er davon. Auf diese Weise würden sie in den nächsten Tagen wenigstens keine Zeit damit verlieren, nach Nahrung zu suchen.

Sie brachen sofort auf. Der Pack verschwand wie üblich im hohen Gras, blieb aber in der Nähe. Manchmal hörte Kim ihn rascheln und dann und wann tauchte ein spitzes Ohr oder ein Haarkamm über dem Gras auf. Auch die Spinne kletterte auf den nächst erreichbaren Baum und war dann zwischen den Blättern verschwunden. Trotzdem war Kim sicher, dass auch sie in der Nähe blieb.

Er ritt bis tief in die Nacht hinein, nicht nur um einen möglichst großen Abstand zwischen sich und Kais Heer zu legen. Seine Umgebung wurde ihm in zunehmendem Maße unheimlich. Jetzt, wo er wusste, wo er war, schienen ihn die Bilder der Zerstörung auf Schritt und Tritt regelrecht anzuspringen. Nirgendwo während seiner langen Reise durch Märchenmond war ihm die Verheerung so deutlich vor Augen geführt worden wie hier. Nicht einmal das fast verlassene Gorywynn hatte ihn mit einem solchen Schrecken erfüllt wie dieser schweigende, zerbrochene Wald. Der Gedanke inmitten der Trümmer einer ganzen Zivilisation zu übernachten, war ihm fast unerträglich. Er hielt erst an, als er Gefahr lief schlichtweg im Sattel einzuschlafen und die Pferde immer öfter aus dem Tritt kamen und strauchelten.

Trotz seiner Müdigkeit entzündete er ein Feuer und bereitete sich mit den erbeuteten Vorräten ein einfaches Abendmahl. Er war nicht hungrig, sondern musste im Gegenteil jeden Bissen mühsam hinunterwürgen. Trotzdem zwang er sich dazu, ausgiebig zu essen. Morgen war mit Sicherheit ein anstrengender Tag. Er hatte vor mit den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne loszureiten und nach Möglichkeit bis tief in die Nacht hinein nicht Halt zu machen; wenn er und die Pferde es durchhielten, vielleicht sogar erst am darauf folgenden Morgen. Kai würde eine gnadenlose Jagd auf ihn veranstalten lassen, sobald seine Frist abgelaufen war. Jeder Meter, den er in dieser Zeit zurückbrachte, zählte.

»Das klingt logisch«, meinte die Spinne in nörgeligem Ton, nachdem er ihr sein Vorhaben erklärt hatte. Nachdem er sein Lager aufgeschlagen und das Feuer entzündet hatte, waren sie und der Pack wieder zu ihm gestoßen. Der Pack hatte sich ganz am Rande des Lichtkreises zusammengerollt und schnarchte, dass die Bäume wackelten, aber die Spinne war näher gekrochen und genoss sichtlich die Wärme des halb heruntergebrannten Feuers. Sie hatte die Beine unter den Körper geschoben und stieß von Zeit zu Zeit ein wohliges Schnurren aus; wie eine große, zufriedene Katze. Und tatsächlich hatte Kim sich ein- oder zweimal dabei ertappt, die Hand auszustrecken und ihr seidiges Fell streicheln zu wollen. Aber es gab Grenzen. Immerhin war es eine Spinne.

Wenn auch eine recht hübsche.

»Und was willst du mit all diesen gutgemachten Metern anfangen, wenn du sie hast? Ich meine: Gerne gebe ich diesem Angeber Kai ja nicht Recht, aber ich fürchte, er sagt die Wahrheit. Sie sind schon überall.«

»Ich weiß«, seufzte Kim. Er hob einen Stock auf und warf ihn ins Feuer. Ein wirbelnder Funkenschauer stob auf und verbreitete für Augenblicke tanzende Helligkeit, nach der sich die Nacht mit noch tieferer Dunkelheit über das Lager zu senken schien. »Ich habe darüber nachgedacht, weißt du? Ich glaube, es gibt noch eine Möglichkeit. Wir müssen die Magie nach Märchenmond zurückbringen. Wenn Kais Krieger sehen, dass sich das Land erholt, sobald der Zauber zurück ist, dann werden sie Vernunft annehmen.«

»Kais Krieger und Vernunft annehmen!«, spottete die Spinne. »Eher heirate ich eine Elfe.«

»Nur über meine Leiche!«, piepste es ängstlich aus Kims Hemdtasche.

»Darüber lässt sich reden«, meinte die Spinne. »Habe ich dir eigentlich schon von unseren Hochzeitsbräuchen erzählt?«

»Das musst du auch nicht«, sagte Kim hastig. »Ich weiß, was Spinnen nach der Hochzeitsnacht mit ihrem Bräutigam tun.«

»Ach?«, fragte Twix. »Und was?«

»Das willst du nicht wissen«, behauptete Kim. Er wandte sich wieder an die Spinne. »Außerdem täuschst du dich. Ich war lange genug bei Kais Heer. Sie wollen nicht wirklich Krieg, glaube mir. Ein Wort von mir hätte genügt und sie hätten sich gegen Kai erhoben und wären mir gefolgt.«

»Deshalb hat er also die Schwarze Garde gerufen«, sagte die Spinne. »Aber warum hast du es nicht getan?«

»Wozu?«, fragte Kim. »Was wäre damit gewonnen?«

»Du hättest ihnen einfach befehlen können die Waffen niederzulegen.«

Kim schüttelte traurig den Kopf. »Es tut mir Leid, aber in diesem Punkt muss ich dir widersprechen. Ich kenne die Menschen besser als du. Ein Frieden, der ihnen aufgezwungen wird, hält nicht lange. Du kannst einem Menschen nicht befehlen, seinen Nachbarn zu lieben. Freundschaft bekommt man geschenkt oder gar nicht.«

»Und was willst du also tun?«, erkundigte sich die Spinne.

»Wie bereits gesagt: Wir müssen die Magie des Landes wieder beleben.«

»Prima Idee«, sagte die Spinne. »Und sie wäre sogar noch besser, wenn Sturm nicht die Zauberkugel verloren hätte. Du kannst schwerlich etwas zurückbringen, was nicht mehr da ist.«

»Stimmt nicht«, antwortete Kim. »Es gibt noch Zauberkraft auf Märchenmond. Wir müssen zu den Zwergen.«

Die Spinne fuhr erschrocken zusammen. Der Pack richtete sich mit einem Ruck auf und starrte ihn an und selbst die Elfe steckte ihr kreidebleiches Gesicht aus seiner Tasche.

»Habe ich ... etwas Falsches gesagt?«, fragte Kim zögernd.

»Die Zwerge?«, vergewisserte sich die Spinne.

»Ja«, bestätigte Kim. »Wieso bin ich eigentlich der Einzige, der auf die Idee gekommen ist? Eigentlich ist es doch ganz klar. Erinnert euch, was ich über die Zwerge in der Kanalisation erzählt habe! Sie haben die magischen Runen aus dem Stein gebrochen. Wozu wohl, wenn nicht um sich ihre Zauberkraft zu sichern?«

»Du hast es erfasst«, sagte die Spinne. »Sie stehlen überall auf der Welt magische Artefakte. Schon seit langer Zeit.«

»Umso größer muss die Zauberkraft sein, die sie in ihrem Reich bereits angehäuft haben«, sagte Kim. »Mit ihrer Hilfe kann Themistokles vielleicht seine alte Macht zurückerlangen!«

»Zweifellos«, antwortete die Spinne. »Doch was bringt dich auf die Idee, dass sie uns helfen wollen?«

»Warum sollten sie das nicht tun?«

»Zwerge sind ein eigenbrötlerisches Völkchen«, sagte die Spinne. »Niemand mag sie und sie mögen niemanden. Sie leben in ihrem finsteren Reich tief unter der Erde oder in den unwegsamen Bergen im Osten und sie kommen nur in die Welt der Menschen um einen Streit anzuzetteln oder etwas zu stehlen. Unser Schicksal kümmert sie nicht.«

»Dann werde ich zu ihnen gehen und sie um Hilfe bitten«, sagte Kim.

»Du?!« Die Spinne lachte leise. »Prima Idee.«

»Was ist daran so komisch?«, wollte Kim wissen. »Ich kenne den Weg. Ich war schon einmal dort.«

»Ich weiß«, antwortete die Spinne. »Das ist ja gerade das Problem.«

»Was soll das heißen?«

»Du bist den Zwergen nicht gerade in guter Erinnerung geblieben«, belehrte ihn die Spinne. »Um nicht zu sagen: Sie hassen dich. Du kannst von Glück sagen, dass die Zwerge in den Katakomben von Gorywynn nicht gewusst haben, wer du bist. Sonst hätten sie ihre Spitzhacken und Hämmer nicht nur benutzt um ein paar Runensteine aus der Wand zu brechen.«

»Aber ... aber warum denn?«, murmelte Kim verständnislos. »Das solltest du besser wissen als wir«, antwortete die Spinne. »Nach deinem letzten Besuch bei den Zwergen ging ihr Reich unter. Sie sind nur noch ein Schatten dessen, was sie einmal waren. Du hast die Zukunft der Menschen hier gerettet, aber der Preis dafür war die Zukunft der Zwerge. Man bekommt eben nichts geschenkt.«

»Aber das kann doch nicht sein«, murmelte Kim.

»Glaube es lieber«, piepste Twix. »Sie sagt die Wahrheit. Die Zwerge hassen dich so sehr, wie dich die Menschen in diesem Teil des Landes bewundern. Sie würden dich ohne zu zögern töten.«

»Sie würden dich sogar in der Luft zerreißen«, bestätigte die Spinne. In leicht wehleidigem Ton fügte sie hinzu: »Wahrscheinlich bliebe rein gar nichts von dir übrig.«

»Ich muss es trotzdem versuchen«, beharrte Kim. »Wenn der einzigste Weg Märchenmond zu retten, darin besteht, mein Leben zu riskieren, dann habe ich keine Wahl.«

»Was bist du?«, erkundigte sich die Spinne gereizt. »Besonders dumm, besonders tapfer oder beides? Nun, falls dir das hier nicht klar sein sollte: Wenn du in dieser Welt dein Leben verlierst, dann könntest du auch in der, aus der du kommst, ziemlich tot sein.«

»Ich weiß«, murmelte Kim. Die Spinne sagte ihm nichts Neues. Märchenmond mochte ein Reich der Fantasie sein, eine Welt, die nur er ganz allein kraft seiner Einbildung erschaffen hatte. Aber er war hier längst kein Gott und schon gar nicht unsterblich. Die Regeln, die er selbst aufgestellt hatte, galten auch für ihn, und die Gefahren, die ihm hier drohten, waren durchaus real.

»Trotzdem!«

»Was für eine Verschwendung«, maulte die Spinne. »Wenn du unbedingt Selbstmord begehen willst, dann mache ich dir einen Vorschlag: Ich fresse dich auf. Dann hast du deinen Willen und ich bekomme endlich mal wieder etwas in den Magen.«

Kim würdigte sie nicht einmal einer Antwort, sondern warf ein wenig Erde in das Feuer um es zu löschen, drehte sich auf die Seite und schlief auf der Stelle ein.

Ganz wie er es vorgehabt hatte, ritt er mit dem ersten Licht des neuen Tages weiter. Eines der Packpferde lahmte, sodass er sich schweren Herzens von einem Teil seines Proviants trennte und das Tier laufen ließ. Aber auch mit nur einem Pferd am Zügel kam er nicht annähernd so rasch voran, wie er es sich erhofft hatte, sodass er gegen Mittag Halt machte, das Allernötigste an Vorräten in die Packtaschen seines eigenen Pferdes umlud und auch dem zweiten Tier die Freiheit gab. Nun hatte er allerhöchstens noch Nahrung für zwei oder drei Tage. Schlimmstenfalls würde er sich darauf verlassen müssen, dass ihn der Pack wieder mit Beeren und Obst versorgte.

Kim war bei seinem Entschluss geblieben, zu den Zwergen zu gehen. Er nahm die Warnung der Spinne durchaus ernst, aber er wusste auch, dass ihm gar keine andere Wahl mehr blieb, als das Risiko einzugehen. Märchenmond ging unter. Alles, was diese Welt und ihre Bewohner noch retten konnte, war Magie. Und der einzige Ort, an dem es noch Magie gab, war das Reich der Zwerge. So einfach war das.

Sturm stieß an diesem Tag nicht zu ihnen, wie die Spinne es vorhergesagt hatte, und auch nicht am nächsten und am übernächsten. Kim gab die Hoffnung schließlich auf, den sommersprossigen Jungen zu treffen. Vermutlich hatten sie sich verfehlt.

Er ritt beharrlich weiter nach Osten. Am Morgen des vierten Tages tauchten die Schattenberge als verschwommene Silhouette am Horizont vor ihnen auf und er ritt weiter in diese Richtung, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Die Landschaft ringsum wurde zunehmend karger und lebensfeindlicher, aber Kim wich keinen Schritt von seinem einmal eingeschlagenen Weg ab: zu den Schattenbergen und damit ins Reich der Zwerge. Die Spinne versuchte noch zwei- oder dreimal ihn von seinem Vorhaben abzubringen und hüllte sich danach in beleidigtes Schweigen.

Nach einem Ritt von einer guten Woche erreichten sie den Fuß des Schattengebirges und Kim hielt an und stieg vom Pferd.

Schaudernd sah er sich um. Schon seit zwei Tagen waren sie durch eine graue Felswüste geritten, in der es nur noch wenige dornige Büsche und blasses Gras gab. Nun erstreckte sich ringsum eine regelrechte Mondlandschaft. Er sah nur grauen Fels und toten, sandigen Boden. Vor ihnen stieg die Strecke steil an und war zudem mit Geröll und scharfen Felsbrocken nur so übersät. Von hier an würde er zu Fuß weitergehen müssen.

Er löste Turocks Bogen vom Sattelgurt, stopfte sich die Taschen mit gesalzenem Fleisch und hartem Brot voll und nahm dem Pferd dann Sattel und Zaumzeug ab. »Lauf nach Hause«, sagte er. »Du hast mir treu gedient, aber jetzt wird es Zeit, dass du zu deinem Herrn zurückkehrst. Dort, wo ich hingehe, kannst du mir sowieso nicht folgen.«

Das Pferd sah ihn an, als hätte es seine Worte tatsächlich verstanden, wieherte noch einmal und trabte dann davon und Kim drehte sich zu Pack und der Spinne herum.

»Und das gilt auch für euch«, sagte er. »Ich weiß, dass ich ohne euch nie so weit gekommen wäre, aber von jetzt an ... sollte ich allein weitergehen.«

»Was für eine rührende Abschiedsszene«, sagte die Spinne. »Es bricht mir das Herz. Schnief!«

»Ich meine es ernst«, sagte Kim. »Ich gehe zu den Zwergen. Vielleicht töten sie mich ja wirklich. Es gibt keinen Grund, euch auch in Gefahr zu bringen.«

»Wenn dir etwas zustößt, dann sterbe ich doch sowieso«, sagte Twix.

»Ich weiß«, murmelte Kim. »Und ich wollte, es gäbe einen anderen Weg. Aber ich habe keine Wahl.«

»Jammer, schnief, heul!«, spöttelte die Spinne. »Das könnte dir so passen, wie? Am Ende braten sie dich am Spieß und ich gehe leer aus. Nix da! Ich komme mit!«

Kim war insgeheim froh über diese Entscheidung, sagte aber nichts, sondern wandte sich mit einem fragenden Blick an den Pack.

Der spitzohrige Kobold warf einen Stein nach ihm.

»Du kommst also mit«, stellte Kim fest. »Also gut. Aber wenn es gefährlich wird oder die Lage aussichtslos erscheint, dann bringt ihr euch in Sicherheit, das müsst ihr mir versprechen.«

»Klar«, sagte die Spinne. »Heiliges Ehrenwort.«

Kim tat so, als bemerke er gar nicht, dass sie dabei vier Beine hinter ihrem Rücken kreuzte.

»Dann wollen wir mal versuchen einen Eingang in die Zwergenhöhlen zu finden«, sagte Kim.

»Soll das heißen, du weißt nicht einmal genau, wo die Zwerge sind?«, fragte Twix.

»Nur keine Sorge«, unkte die Spinne. »Sie werden uns schon finden.«

Wie schon beim ersten Mal, als er das Schattengebirge überquert hatte, war Kims Zeitgefühl vollkommen durcheinander geraten - so wie übrigens auch alle seine anderen Sinne. So war es nun einmal mit diesen Bergen, die die Grenze des von Menschen bewohnten Teils Märchenmonds markierten: Sie waren bereits zum Teil ein Stück der Welt dahinter, der endlosen Sümpfe und Steinwüsten, die von der finsteren Festung Morgon überragt und von Zwergen, Lindwürmern und vielleicht noch anderen, unheimlicheren Geschöpfen bewohnt wurden. Und so wie diese Berge nicht mehr ganz zur Welt der Menschen gehörte, funktionierten auch menschliche Sinne hier nicht mehr zuverlässig. Kim wusste längst nicht mehr, in welche Richtung sie gingen oder wie lange sie schon unterwegs waren.

Er wusste nicht einmal mehr, ob sie überhaupt im richtigen Teil der Schattenberge suchten. Das Reich der Zwerge bestand aus einem gewaltigen Labyrinth unterirdischer Gänge, Stollen und miteinander verbundener Höhlen und er wusste, dass es zahllose Ein- und Ausgänge besaß. Aber das Schattengebirge war auch unvorstellbar groß. Zwischen den einzelnen Pforten mochten durchaus ganze Tagesmärsche liegen.

Weder die Spinne noch Twix hatten während der vergangenen Stunde auch nur ein einziges Wort gesprochen. Der Pack hielt sich ununterbrochen in ihrer Nähe auf und sogar in Sichtweite, was ungewöhnlich genug war.

Nicht zum ersten Mal, seit sie aufgebrochen waren, ließ sich Kim auf einen Felsen sinken um Atem zu schöpfen und sich zu orientieren. Beides gelang ihm nur teilweise. Die Luft schmeckte bitter nach Metall und ein ganz kleines bisschen nach Fäulnis, und wohin er auch blickte, sah er nichts außer grauem Fels, zwischen dem Nebel und ein farbenverschlingender grauer Dunst lastete. Aus dieser Höhe herab sollten sie eigentlich einen Ausblick über einen Großteil des Landes haben, vielleicht sogar hin bis zum Fluss und den Ruinen Caivallons, doch alles, was er sah, war eine unheimliche graue Ödnis. Sie waren in einen ewigen Nebel eingedrungen, der in Wahrheit gar kein Nebel zu sein schien, sondern ... etwas anderes. Kim wollte gar nicht genau wissen, was.

»Da ist etwas«, sagte Twix plötzlich. »Dort oben. Der Pack hat etwas entdeckt.«

»Kann man es essen?«, fragte die Spinne.

Kim blickte in die Richtung, in die Twix deutete. Der Pack war ein Stück vorausgeeilt und deutete nun heftig gestikulierend auf etwas, das er zwischen den Felsen entdeckt haben musste. Kim erhob sich rasch und kletterte zu ihm hinauf.

Was ihm nicht gelungen war, das hatte der Pack geschafft: Er hatte den Eingang zum Zwergenreich gefunden. Vor ihm befand sich eine gut anderthalb Meter hohe, mit Runen und verschlungenen Symbolen übersäte Steinplatte, die einen der für Zwerge typischen dreieckigen Durchgänge verschloss.

Kim betrachtete die Schriftzeichen misstrauisch. Er erkannte sie ganz ohne Zweifel als Zwergenrunen, konnte ihre Bedeutung aber nicht einmal erraten. Trotzdem bereitete ihm allein ihr Anblick Unbehagen. Sie schienen etwas Düsteres, fast Feindseliges auszustrahlen.

»Kann jemand lesen, was da steht?«, fragte er. Er erwartete nicht wirklich eine Antwort. Die Frage war nur Ausdruck seiner eigenen Unsicherheit gewesen.

Umso überraschter war er, als sich die Spinne an ihm vorbeidrängte. »Lass mal sehen!«

»Du kannst die Zwergensprache lesen?«, wunderte sich Kim. »Ein paar Brocken«, antwortete die Spinne. »Wir hatten ... dann und wann miteinander zu tun. Gelegentlich.«

»Wie viele von ihnen hast du gegessen?«, fragte Twix geradeheraus.

»Nicht viele«, knurrte die Spinne. »An den Burschen ist nichts dran. Nur Haut und Knochen. Außerdem sind sie zäh. Und jetzt lass mich lesen. Das ist eine sehr alte Schrift. Sehr schwierig.«

Sie schwiegen gehorsam, während die Spinne konzentriert auf die Runenschrift starrte und dann und wann eine der tief in den Fels gemeißelten Linien betastete, als könnte sie ihre Bedeutung auf diese Weise schneller erkennen. Auf diese Weise vergingen gut fünf Minuten.

»Nun?«, fragte Kim schließlich.

»Es ist sehr schwierig«, sagte die Spinne.

»Ich wusste, dass sie nur angibt«, sagte Twix.

»Ich sagte, schwierig, nicht unmöglich. Das meiste kann ich entziffern, wenigstens dem Sinn nach ...«

»Und was bedeutet es - sinngemäß?«, seufzte Kim, als die Spinne verstummte und auch keine Anstalten machte, von sich aus weiterzusprechen.

»Zwergengewäsch!«, antwortete die Spinne. »Sie sind ein Volk von Angebern und Aufschneidern.«

»Sind sie mit dir verwandt?«, fragte Twix.

»Es ist eine Warnung«, fuhr die Spinne ungerührt fort. »Wer hier eintritt und nicht zum Zwergenvolk gehört, dem wird Schreckliches widerfahren. Er wird in den Feuern der Hölle brennen und in die tiefen Schlünde der Unterwelt geschleudert werden und bla, bla, bla ... Wie schon gesagt: Zwergengeschwätz, das man nicht zu ernst nehmen darf.«

»Es klingt aber ernst«, sagte Kim. Er hatte genug Erfahrungen mit Zwergen gesammelt um zu wissen, dass man das Kleine Volk besser nicht unterschätzte. Die Zwerge mochten wirklich ein Volk von Angebern und Aufschneidern sein, aber sie vermochten mangelnde Körpergröße und Kraft leicht durch Verschlagenheit, Tücke und einem gehörigen Maß an Gemeinheit wieder wettzumachen.

»Das soll es ja schließlich auch«, meinte die Spinne. »Um leichtgläubige Dummköpfe wie dich abzuschrecken. Außerdem: Wer von uns wollte denn unbedingt hierher?« Sie bewegte unruhig den Hinterleib. »Nur das hier kann ich nicht lesen. Wieso warnt diese Inschrift vor einem Dach?«

»Einem Dach?«

»Steht hier«, sagte die Spinne. »Jedenfalls ... glaube ich es.«

»Wie beruhigend«, sagte Twix. »Kannst du die Tür nun aufmachen oder nicht?«

Die Spinne berührte eine bestimmte, besonders auffällige Rune. Ein scharfes Klicken erscholl, dann versank die gesamte Steinplatte rumpelnd im Boden. Kim sah, dass sie mindestens einen halben Meter dick war. Sie musste eine Tonne wiegen, wenn nicht mehr.

Dahinter kam eine finstere, allem Anschein nach jedoch vollkommen leere Höhle zum Vorschein. Kim zog sein Schwert, gab der Spinne einen Wink zurückzubleiben und trat geduckt durch den niedrigen Eingang.

Sein Herz klopfte. Ein unangenehmer, aber vertrauter Geruch schlug ihm entgegen: ein Gemisch aus feuchtem Stein, Moder und uralter verbrauchter Luft, das in allen Zwergenhöhlen vorherrschte. Ein sachter, silbergrauer Glanz lag in der Luft, in dem man überraschend weit, aber nicht sehr klar sehen konnte.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Kim. »Ihr könnt hereinkommen.«

»Also, das würde ich nicht so sagen«, sagte Twix. »Sieh mal nach unten...«

Kim gehorchte. Und das Blut gerann ihm schier in den Adern. Was ihm auf dem ersten - flüchtigen - Blick wie ein massiver Boden vorgekommen war, stellte sich bei genauerem Hinsehen als ein Gitterwerk aus geschmiedetem schwarzen Eisen heraus. Darunter, vielleicht zwei, drei Meter unter ihren Füßen, schimmerte eine ölige Flüssigkeit, von der ein leicht stechender Geruch ausging.

Kim ließ sich in die Hocke sinken und fuhr prüfend mit den Fingern über das Gitter. Es fühlte sich äußerst massiv an, aber als er die Hand wieder zurückzog, blieb flockiger Ruß an seinen Fingerspitzen kleben.

Trotzdem verging noch eine Sekunde, bis er den Geruch wirklich identifizierte.

Petroleum.

Die Grube, die unter ihnen lag, war mit Petroleum gefüllt.

»Twix hat Recht«, sagte er hastig. »Hier stimmt etwas nicht! Bleibt draußen!«

Doch es war zu spät. Noch während er sprach, hatten der Pack und die Spinne die Höhle betreten, und kaum hatten sie es getan, da senkte sich mit einem Knall ein massives Eisengitter vor den Eingang. Sofort fuhren der Pack und die Spinne herum und zerrten und rüttelten mit vereinten Kräften daran, aber das Gitter rührte sich nicht einen Millimeter, Es zitterte nicht einmal.

»Na wunderbar!«, nörgelte die Spinne. »Ihr könnt kommen. Es ist alles in Ordnung! Toll! Ein wirklich guter Rat!«

»Still!« Kim hob warnend die Hand. »Hört ihr nichts?«

Die Spinne verstummte tatsächlich und es wurde still.

Aber nicht vollkommen.

Ein ganz leises Zischen war zu hören - und noch bevor Kim auch nur darüber nachdenken konnte, was dieser Laut wohl bedeuten mochte, glomm unter ihren Füßen ein winziger greller Funke auf.

Dann schien die ganze Welt rings um sie herum zu explodieren.

Das Petroleum unter ihren Füßen fing mit einem einzigen, gewaltigen Schlag Feuer. Eine Woge intensiver Hitze raste zu ihnen herauf, ließ sie alle vor Schmerz und Schrecken aufschreien und raubte ihnen zugleich den Atem. Die Hitzewelle raste so schnell an ihnen vorbei, wie sie gekommen war, aber Kim taumelte trotzdem und wäre um ein Haar gestürzt. Von einer Sekunde auf die andere hatte sich der Raum in einen Vorhof der Hölle verwandelt. Rotes, zuckendes Flammenlicht durchstieß die Luft wie Millionen spitzer Speere. Twix, die Spinne und der Pack schrien in Panik durcheinander und obwohl die Hitze jetzt nicht mehr so schlimm war wie im ersten Moment, begann das Eisen unter ihren Füßen bereits unangenehm warm zu werden. Bald würde es heiß werden. Und kurz darauf wurden sie wahrscheinlich bei lebendigem Leibe gegrillt.

»Nichts wie weg hier!«, schrie er. »Lauft!«

Sie stürmten los, aber im Grunde hätte er sich denken können, dass es nicht so einfach war. Sie kamen nicht einmal ein Dutzend Schritte weit, bis sie gegen ein weiteres Gitter prallten, das sich auch vor ihnen aus der Decke gesenkt hatte.

Sie waren gefangen. Und die Gitterstäbe unter ihren Füßen wurden immer heißer. Kim wurde noch ein wenig durch seine Stiefel geschützt, aber der Pack und besonders die Spinne hüpften bereits von einem Fuß auf den anderen.

Kim ergriff die Elfe, ignorierte ihr protestierendes Zappeln und schob sie kurzerhand durch die Gitterstäbe. »Bring dich in Sicherheit!«, stieß er keuchend und hustend hervor.

»Ich lasse dich nicht -«, begann Twix, aber die Spinne schnitt ihr herrisch das Wort ab.

»Verschwinde gefälligst! Gegrillt schmeckst du nicht.«

»Und ihr?!«

»Ich lasse mir schon etwas einfallen«, antwortete die Spinne. Sie begann unverzüglich an dem Gitter nach oben zu klettern, hatte aber unerwartet viel Mühe damit. Als Kim ebenfalls nach den Gitterstäben griff, verstand er auch, warum. Das Eisen war mit irgendetwas eingerieben, was es so glitschig wie Schmierseife machte. Für den Pack und ihn musste es vollkommen unmöglich sein, daran emporzuklettern.

Das Gitter unter ihnen wurde heißer.

Hastig warf er den Kopf in den Nacken. Die Spinne hatte das obere Ende der Barriere erreicht und rannte kopfunter an der Decke entlang, wobei sie einen langen, glitzernden Faden hinter sich herzog. Rasch befestigte sie ihn an einem Felszacken, der aus der Decke wuchs, rannte den Weg zurück und spann dabei einen weiteren Faden. Und noch einen. Und noch einen. Sie baute ein Netz, und das in einer Geschwindigkeit, die Kim noch einen Moment zuvor für unmöglich gehalten hätte.

Trotzdem war Kim bis zuletzt nicht sicher, ob sie auch schnell genug sein würde. Die Hitze, die aus dem brennenden Petroleumbecken emporstieg, war unerträglich geworden und das Eisen unter seinen Füßen so heiß, dass er trotz der dicken Stiefelsohlen vor Schmerz stöhnte. Der Pack wimmerte vor Pein. Das Wesen mochte unsterblich sein, wie Themistokles behauptet hatte, aber es war keineswegs immun gegen Schmerz. Und die Hitze stieg weiter.

Etliche Sekunden nach dem Moment, an dem Kim davon überzeugt war, es einfach nicht mehr ertragen zu können, senkte sich eine dünne weiße Seilschlinge von der Decke, wickelte sich zielsicher um seine Hüfte und zog sich dann mit einem Ruck zusammen. Kim wurde rasch nach oben gezerrt und konnte endlich wieder atmen.

Die Spinne zerrte ihn weiter in die Höhe, bis er das improvisierte Netz erreicht hatte und sich mit beiden Händen daran festklammerte. Dann produzierte sie einen weiteren Faden um auch den Pack in die Höhe zu ziehen.

Kim atmete mit tiefen, gierigen Zügen ein und aus. Die Luft hier oben wäre ihm unter normalen Umständen als unerträglich vorgekommen; jetzt schien sie das Köstlichste zu sein, was jemals seine Lungen erreicht hatte. Minutenlang lag er einfach nur da, hielt sich mit beiden Händen an den klebrigen Fäden fest und tat nichts anderes als einfach ein- und auszuatmen. Erst dann wagte er es, die Augen wieder zu öffnen und sich aufzusetzen.

»Nicht so hastig!«, warnte sie Spinne. »Ich weiß nicht, wie stabil das Netz ist. Ich hatte nicht besonders viel Zeit, mir Gedanken über die Statik zu machen, weißt du?«

Ihre Warnung wäre gar nicht nötig gewesen. Schon bei der ersten, vorsichtigen Bewegung begann das gesamte Netz so bedrohlich zu schwanken, dass er für einen Moment erstarrte, ja, es nicht einmal wagte, den Kopf zu bewegen. Erst nach etlichen Sekunden verlagerte er langsam sein Gewicht und sah sich um.

Auch der Pack hatte das rettende Netz erreicht. Er hockte nicht weit neben ihm und massierte wimmernd seine angesengten Füße, schien aber im Großen und Ganzen unverletzt zu sein. Das Feuer tief unter ihnen brannte noch immer und da Hitze es nun einmal an sich hatte, nach oben zu steigen, wurde es auch hier immer wärmer. Aber noch war die Hitze zu ertragen - und Kim hatte das Gefühl, dass die Flammen tief unter ihnen bereits an Kraft eingebüßt hatten.

Twix kam herangeflogen. Sie hatte offensichtlich Mühe, sich in den aufsteigenden heißen Luftströmungen zu halten, denn sie taumelte mehr, als sie flog, lachte aber trotzdem laut und unüberhörbar schadenfroh, während sie die Spinne umkreiste.

»Zwergengeschwätz, wie?«, fragte sie. »Nichts, worüber wir uns Sorgen zu machen brauchen, was?«

»Soll ich dir sagen, worüber du dir wirklich Sorgen machen solltest?«, knurrte die Spinne.

»Bitte, Twix«, sagte Kim. »Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Moment dafür. Wie sieht es weiter vorne aus? Warten dort noch mehr Überraschungen auf uns?«

»Kaum«, kicherte Twix. »Allenfalls noch ein bisschen Zwergengeschwätz. Aber wirklich nichts, worüber ihr euch Sorgen machen müsstet.« Sie kicherte erneut, drehte sich mit einer halben Pirouette in der Luft herum und verschwand.

Kim blickte ihr mit finsterer Miene hinterher. »Also manchmal ...«

»Ich verstehe, was du meinst«, seufzte die Spinne. »Ich werde ein ernsthaftes Gespräch mit ihr führen müssen. Vielleicht beim Essen.«

»Ich glaube, das Feuer lässt allmählich nach«, sagte Kim.

»Das ist eine wirklich teuflische Falle«, sagte die Spinne. »Aber was kann man von Zwergen schon viel anderes erwarten?«

»Als die Feuer der Hölle?«, fragte Kim. »Oder die tiefsten Schlünde der Unterwelt? Keine Ahnung ...«

Die Spinne funkelte ihn an und sagte vorsichtshalber gar nichts mehr.

Die Flammen unter ihnen sanken jetzt tatsächlich rasch in sich zusammen. Es vergingen nur noch wenige Minuten, bis das Feuer unter ihnen ganz erloschen war. Nur einen Augenblick später begann sich das Gitter knirschend und rumpelnd in die Decke zurückzuziehen. Da das Netz an einer Seite daran befestigt war, zerriss es natürlich, aber es zeigte sich, dass die Spinne es äußerst umsichtig konstruiert hatte: Als es zerriss, stürzten sie nicht etwa ab, sondern schwangen in einem weiten Bogen zu Boden und setzten beinahe sanft auf.

Hastig entfernte sich Kim von dem Gitter. Das Metall war immer noch heiß, sodass auch die Spinne und der Pack es sehr eilig hatten, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Erst als sie ein gutes Stück jenseits des Fallgitters waren, wagte Kim es, stehen zu bleiben und sich noch einmal nach der hinterhältigen Falle umzusehen.

Es war in der Tat die gemeinste Konstruktion, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Nicht einmal den Zwergen hätte er eine solche Falle zugetraut - und er hatte schließlich am eigenen Leibe erfahren, wozu das Kleine Volk fähig war. Was immer sich in diesen Höhlen verbarg, musste für die Zwerge von ungeheurem Wert sein, wenn sie sich solche Mühe gaben, es vor unbefugtem Zutritt zu schützen. Kim fragte sich, welche weiteren unangenehmen Überraschungen noch auf sie warten mochten.

Sie waren gute hundert Schritte weiter in die Höhle vorgedrungen, als der Boden vor ihnen plötzlich nicht mehr da war. Wo er sein sollte, gähnte ein mindestens hundert Meter breiter bodenloser Abgrund.

Kim ließ sich auf Hände und Knie herabsinken und legte die letzten Meter kriechend zurück. Er erschrak bis ins Mark, als er in die Tiefe blickte. Wenn die Schlucht einen Boden hatte, dann war er so weit entfernt, dass er nicht mehr zu erkennen war. Alles, was Kim sah, war vollkommene, saugende Schwärze. Aber er konnte die gewaltige Tiefe regelrecht spüren. Auch wenn ihm sein Verstand sagte, dass es vollkommen unmöglich war, so war er in diesem Moment doch felsenfest davon überzeugt, dass dieser Abgrund bis ins Zentrum der Welt hinunterreichen musste.

»Was siehst du?«, fragte die Spinne.

»Nur ... Zwergengeschwätz«, antwortete Kim zögernd. »Allerdings ein ziemlich tiefes.« Sein Blick suchte aufmerksam den gegenüberliegenden Rand der Schlucht ab. Er schien ein gutes Stück tiefer zu liegen als der hiesige und war - zumindest über die große Entfernung betrachtet - vollkommen glatt. Es gab nicht die geringste Unterbrechung, nicht die kleinste Unebenheit. Nicht einmal die Andeutung einer Möglichkeit, den Abgrund zu überwinden.

»Das gibt es doch nicht«, murmelte er. »Es muss doch einen Weg auf die andere Seite geben. Schließlich können die Zwerge doch nicht fliegen!«

»Wahrscheinlich irgendeine verborgene Mechanik, die nur Zwerge und Eingeweihte verstehen«, sagte die Spinne.

»Vermutlich«, sagte Kim. Er kroch ein Stück vom Rand des Abgrundes zurück, richtete sich auf und machte einen Schritt nach hinten. Er hatte sich bisher immer für vollkommen schwindelfrei gehalten, aber in diesem Abgrund schien irgendetwas zu sein, was ihn hinunterzuziehen trachtete.

»Wir brauchen ein Seil«, sagte er mit einem bezeichnenden Bück auf die Spinne. »Ein langes Seil.«

»Wenn du eine Idee hast, wie wir es auf die andere Seite bekommen«, antwortete die Spinne. »Ich kann nämlich auch nicht -« Sie stockte, drehte sich ganz zu Kim herum und sah die Elfe auf seiner Schulter an, ehe sie in verändertem Ton schloss: »-fliegen.«

»O nein!«, sagte Twix entschlossen. »Vergiss es. Ich werde mich bestimmt nicht freiwillig -«

»Du hast es doch schon einmal getan«, unterbrach sie Kim. »Außerdem haben wir keine andere Wahl. Wir können nicht zurück.«

»Und keiner von uns weiß, was da drüben noch auf uns wartet.« Twix zog eine Grimasse. »Also gut. Fang schon an.«

Die Spinne produzierte einen Faden, aus dem Kim eine Schlinge knüpfte, die er behutsam um Twix' Hüfte schlang. Als er damit fertig war, schwang sich die Elfe Flügel schlagend in die Luft und die Spinne griff mit dem vorderen Beinpaar nach dem Faden und zog kurz und hart daran. Twix piepste entsetzt und wäre um ein Haar abgestürzt, hätte Kim sie nicht im letzten Moment aufgefangen.

»Lass das!«, sagte er streng. »Dafür ist jetzt wirklich nicht der richtige Moment!«

»Man wird ja wohl noch einmal einen kleinen Spaß machen dürfen«, nörgelte die Spinne.

Twix erhob sich flatternd wieder in die Luft, warf der Spinne einen giftigen Blick zu und flog los. Sie schmolz schon nach wenigen Augenblicken zu einem Punkt zusammen und war dann verschwunden. Der dünne Faden jedoch, den die Spinne abspulte, blieb weiter straff gespannt.

Die Schlucht musste weitaus breiter sein, als Kim angenommen hatte, denn es dauerte lange, bis der Zug an dem Seil aufhörte. Und danach vergingen noch einmal endlose Sekunden, ehe die Elfe zurückkam und verkündete, dass das Seil sicher befestigt sei. Die Spinne band das andere Ende um einen Felsen und rannte mit traumwandlerischer Sicherheit ein halbes Dutzend Mal über den Abgrund um den Faden zu verstärken. Kim und der Pack überwanden die Schlucht auf dieselbe Art, auf die sie versucht hatten den Wasserfall zu überwinden. Durch schlechte Erfahrung schlauer geworden, brachte die Spinne diesmal einen zusätzlichen Sicherheitsfaden an, der verhinderte, dass sie abstürzten. Trotzdem stand Kim Todesängste aus, während er sich Hand über Hand und mit dem Kopf nach unten hängend über den Abgrund hinweghangelte. Er brauchte länger als eine halbe Stunde dazu, und als er endlich auf der anderen Seite angekommen war, war er so erschöpft, dass er auf der Stelle zusammenbrach und minutenlang keuchend nach Atem rang. Selbst der Pack schien am Ende seiner Kräfte zu sein und sank zu einem zitternden Häufchen Elend zusammen.

Kim gönnte sich selbst zwei oder drei Minuten um wieder zu Kräften zu kommen, dann zwang er sich aufzustehen und eine auffordernde Geste zu machen.

Der Gang setzte sich vor ihnen in sanfter Neigung nach unten fort. Sein Ende war nicht zu erkennen, aber der Faden, den Twix über die Schlucht gezogen hatte, zog sich in knapp einem Meter Höhe weiter neben ihnen entlang. Die Elfe musste tatsächlich noch ein gutes Stück weit in den Stollen hineingeflogen sein, bis sie eine passende Stelle gefunden hatte, um ihn festzubinden.

»Was ist dort vorne, Twix?«, fragte Kim.

»Dort?« Twix hob die Schultern. »Eigentlich nichts Besonderes. Eine Menge Nichts mit noch mehr Stein drumherum. Wieso?«

»Da war noch eine dritte Warnung auf der Tür«, erinnerte Kim. »Wie lautete sie doch gleich? Irgendetwas mit einem ... Dach?«

»Ich glaube«, antwortete die Spinne unbehaglich.

»Vielleicht fällt uns ja gleich die Decke auf den Kopf«, sagte Twix.

»Wahrscheinlich bedeutet es gar nichts. Diese zwei Hindernisse waren mehr als ausreichend jeden normalen Eindringling aufzuhalten.«

»Willst du etwa behaupten, du wärest normal?«, fragte Twix. »Meistens schon. Aber in letzter Zeit werde ich immer reizbarer. Das macht der Hunger.«

Kim sparte sich den Atem, die beiden Streithähne zur Ordnung zu rufen. Wahrscheinlich waren sie genauso nervös wie er und das war eben ihre Art damit fertig zu werden.

Sie folgten dem Faden, der sich straff gespannt neben ihnen entlang zog. Nach einer Weile erkannte Kim einen großen, unregelmäßig geformten Umriss vor ihnen. Der Felsen, um den Twix das Führungsseil geschlungen hatte. Seine Form erinnerte ihn an etwas. Aber er wusste nicht, woran.

Nach zwei weiteren Schritten blieb er stehen. Seine Augen wurden groß.

»Dieses Wort auf der Tür«, murmelte er. »Bist du sicher, dass es Dach hieß?«

»Nein«, flüsterte die Spinne. »Wenn ... wenn ich es mir recht überlege...«

Kim beendete den Satz für sie: »Könnte es vielleicht auch Drache bedeuten.«

Nichts anderes blockierte den Tunnel vor ihnen.

Der Drache war riesig - vielleicht nicht ganz so groß wie Rangarig, aber viel hässlicher, ein bizarres Geschöpf, das nur aus Stacheln und Klauen und schuppigen Panzerplatten zu bestehen schien. Er hatte sich zum Schlafen zusammengerollt, sodass seine ganze Größe nicht genau zu erkennen war - aber darauf legte Kim eigentlich auch gar keinen Wert. Es war ein Drache. Selbst der kleinste Drache war immer noch groß.

»Sollten wir das hier überleben, dann schlage ich vor, dass du Sprachunterricht bei einem netten Zwerg nimmst«, sagte Twix.

»Es gibt keine netten Zwerge«, antwortete die Spinne. »Und deine Vorschläge kannst du dir meinetwegen -«

»Still!«, zischte Kim. »Er schläft! Wollt ihr ihn aufwecken?«

»Das wird kaum nötig sein«, unkte die Spinne. »Das ist ein Zwergendrache. Sie riechen Menschenfleisch meilenweit!«

Wie um seine Worte zu bestätigen regte sich der Drache im Schlaf. Seine gewaltigen Klauen scharrten über den Fels. Der Boden unter ihren Füßen zitterte spürbar. Kim und die anderen erstarrten für die Dauer von zwei-, drei Herzschlägen zur Reglosigkeit. Aber der Drache wachte nicht auf, sondern drehte sich nur ein kleines Stück auf die Seite und schlief weiter. Der Spinnfaden neben Kim summte wie ein straff gespannter Draht, aber er maß der Beobachtung keine Bedeutung bei.

»Vorsichtig«, flüsterte er. »Keinen Laut!«

Buchstäblich auf Zehenspitzen schlichen sie weiter. Der Drache blockierte fast den gesamten Gang vor ihnen, sodass nur ein schmaler Spalt blieb. Kim schob sich eng mit dem Rücken gegen den Fels gepresst an dem schlafenden Koloss vorbei. Trotzdem befand sich sein Gesicht nur Zentimeter von der schuppigen Flanke des Giganten entfernt.

Wieder regte sich der schlafende Drache. Der Spinnfaden gab ein Geräusch wie eine angeschlagene Gitarrensaite von sich und der Drache knurrte unwillig. Kim blieb stehen. Sein Herz hämmerte. Aber der Drache wachte auch diesmal nicht auf.

Der gefährlichste Moment kam, als er am Kopf des schlafenden Drachen vorbeimusste. Der gepanzerte Riese hatte den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt. Seine gewaltigen Nüstern blähten sich, wenn er ausatmete, sodass Kim das Haar aus der Stirn geblasen wurde. Sein Kopf war so groß wie eine Droschke und er hatte ein Paar riesiger, gebogener Hauer, die aus seinem Unterkiefer wuchsen und ihm fast das Aussehen eines schlecht gelaunten Wildschweins gaben. Und an einem dieser Hauer ...

»O nein«, murmelte Kim. »Twix!«

»Was ist denn?«, erkundigte sich die Elfe harmlos. »Ich denke, wir sollen ruhig sein?«

Der Drache bewegte sich erneut im Schlaf. Der straff gespannte Spinnfaden, den die Elfe an einem seiner mächtigen Hauer befestigt hatte, jaulte nun regelrecht, vibrierte immer heftiger - und zerriss mit einem peitschenden Knall! Kim stockte der Atem.

Eine, zwei Sekunden lang geschah gar nichts und Kim begann schon zu hoffen, dass sie doch noch einmal davonkommen würden. Dann öffnete der Drache langsam ein Auge und Kim starrte in eine Pupille, die ein gutes Stück größer als sein Gesicht war.

»Hal... lo«, sagte er stockend. »Schlaf ruhig weiter. Wir... wir wollten dich nicht wecken.«

»Oh«, grollte der Drache. »Frühstück.«

Und damit riss er das Maul auf, stieß ein ungeheuerliches Brüllen aus und versuchte Kim auf der Stelle zu verschlingen. Kim duckte sich blitzschnell. Die Schnauze des Drachen krachte über ihm mit solcher Gewalt gegen den Felsen, dass Funken und Steinsplitter flogen, und Kim ließ sich zur Seite fallen, kam mit einer Rolle wieder auf die Füße und rannte los, was das Zeug hielt.

Der Drache wirbelte mit einem noch lauteren, zornigen Brüllen herum und setzte zur Verfolgung an. Er bewegte sich nicht besonders schnell, aber bei seiner ungeheuerlichen Größe musste er das auch nicht. Wenn Kim zehn Schritte machte, dann machte er einen. Und er holte damit auf...

Kim warf einen Blick über die Schulter zurück und sah, dass die Spinne einen Lassofaden gewoben hatte, den sie mit erstaunlicher Zielsicherheit um einen der Vorderläufe des Drachen warf.

Leider auch mit einem noch erstaunlicheren Ergebnis.

Der Drache bemerkte das Hindernis gar nicht und die Spinne wurde einfach mitgerissen und hüpfte wie ein pelziger Ball hinter dem Drachen her. Der Pack wiederum hatte sich an den schuppigen Schwanz des Drachen geklammert und schlug vollkommen sinnlos mit den Fäusten darauf ein und Twix umkreiste den Kopf des Kolosses und ließ ununterbrochen goldenen Elfenstaub auf ihn herabregnen. Nichts von alledem irritierte den Drachen. Er stampfte weiter, holte Kim nach zwei oder drei Schritten ein und warf ihn mit einem fast spielerischen Prankenhieb zu Boden.

Kim schlitterte noch ein paar Meter weiter, rollte auf den Rücken und wollte aufstehen, aber der Drache drückte ihn mit einer gewaltigen Tatze wieder herab und senkte den Schädel. »Ich mag es, wenn mein Essen sich wehrt«, grollte er. »Das spart mir den Verdauungsspaziergang.«

Kim schlug mit beiden Fäusten auf die gigantische Pfote ein, die ihn zu Boden presste, aber genauso gut hätte er auch versuchen können den ganzen Berg mit bloßen Händen einzureißen. Der Drache spürte seine Hiebe wahrscheinlich nicht einmal. Seine gigantischen Kiefer senkten sich.

»Halt still!«, grollte er. »Oder willst du, dass ich dir wehtue?« Kim dachte natürlich nicht daran, still zu halten, sondern zappelte und schrie aus Leibeskräften. Der Drache legte den Kopf auf die linke Seite, dann auf die rechte und dann wieder auf die linke, als überlege er, aus welcher Richtung er sein Opfer am besten packen konnte, und der Pack, der noch immer mit beiden Fäusten auf seinem Schwanz herumhämmerte, kreischte schrill - und biss kräftig zu.

Anscheinend schien der Drache das doch zu spüren, denn er grunzte unwillig, drehte mit einem Ruck den Kopf und schlug den Schwanz dann mit solcher Gewalt gegen die Decke, dass der gesamte Berg zu dröhnen schien. Der Pack ließ seinen Halt los, stürzte aber nicht zu Boden, sondern kugelte hilflos über den Drachenschwanz und seinen stacheligen Rücken, weiter hinab über Nacken und Schädel, bis er genau auf der Nase des Drachen landete.

Der Drache sah für einen Moment regelrecht verwirrt drein. Offensichtlich wusste er nicht so recht, was er von diesem neu aufgetauchten Winzling halten sollte. Als sich der Pack aufrichtete und langsam über seinen Nacken nach oben zu marschieren begann, begann er zu schielen um ihn mit beiden Augen im Blick zu behalten.

»Wer bist denn du?«, grollte er.

Der Pack machte einen weiteren Schritt, schnatterte aufgeregt und betrachtete erst das rechte, dann das linke Auge des Drachen, dann wieder das rechte und wieder das linke ... und piekste dem schuppigen Riesen plötzlich mit dem Zeigefinger mitten in die Pupille!

»Auaaah!«, brüllte der Drache. »Na warte! Das hast du nicht umsonst getan! Dann fresse ich dich eben zuerst!«

Der Pack stach ihm auch noch in das andere Auge und der Drache brüllte noch lauter und begann den Kopf hin und her zu werfen. Der Pack wurde fast abgeworfen, klammerte sich aber im letzten Moment mit einer Hand und beiden Füßen an eine der riesigen Nüstern und begann mit den Fingernägeln der freien Hand das empfindliche Naseninnere zu bearbeiten. Der Drache heulte vor Schmerz, warf den Kopf in den Nacken und immer heftiger hin und her, war aber einfach nicht in der Lage den kleinen Quälgeist abzuschütteln. Er versuchte sogar mit der Pfote nach dem Pack zu angeln, erwischte ihn aber nicht. Unglücklicherweise versuchte er es nur mit einer Pfote. Mit der anderen drückte er Kim unbarmherzig weiter zu Boden.

Plötzlich schrie der Drache noch lauter, riss das Maul auf und angelte mit der langen, gespaltenen Schlangenzunge nach dem Pack. Nur eine Sekunde später schlossen sich die Kiefer mit einem krachenden Laut und der Drache schluckte hörbar.

»So«, knurrte er. »Und jetzt zu dir!« Sein riesiger Schädel senkte sich wieder auf Kim herab. »Ich hoffe, du machst nicht auch so viel Ärger wie dein ...«

Er stockte. Ein überraschter, aber nicht besonders erfreuter Ausdruck erschien auf dem faltigen Drachengesicht. Eindeutig verwirrt legte er den Kopf auf die Seite und verdrehte die Augen, als versuche er seinen eigenen Hals zu betrachten.

Etwas bewegte sich darin.

Hätte Kim nicht mit aller Kraft darum kämpfen müssen, überhaupt noch Luft zu bekommen, dann hätte er den Anblick wahrscheinlich sogar komisch gefunden. Für einen Moment sah der Drache aus wie eine Schlange, die ein zu großes Ei geschluckt hatte und nun drauf und dran war daran zu ersticken. In seinem Hals war eine regelrechte Beule entstanden, die sich wild hin und her bewegte, zitterte und zuckte.

Der Drache begann zu würgen. Er bewegte den Kopf, versuchte zu schlucken und hatte ganz offensichtlich mit einem Mal Mühe überhaupt noch zu atmen. Die Beule in seinem Hals zuckte immer heftiger. Kim glaubte den Abdruck einer Faust darin zu erkennen, dann den eines kleinen, glubschäugigen Gesichts.

Schließlich riss der Drache keuchend das Maul auf und der Pack kletterte mit hektischen Bewegungen aus seinem Rachen heraus. Seine Hände angelten nach der gespaltenen Schlangenzunge des Drachen und gruben sich tief hinein. Der Drache quiekte vor Schmerz und der Pack schwang sich wie Tarzan an einer Liane ins Freie.

Praktisch im selben Moment kam die Spinne herangerast. Sie produzierte einen Faden, den sie mit Hilfe des Pack drei-, vier-, fünfmal um die Zunge des Drachen wickelte um ihn anschließend noch sorgfältiger an einem der riesigen Hauer zu verknoten. Damit nicht genug, rannte sie kreuz und quer über das Maul des Drachen, wobei sie einen glitzernden Faden hinter sich herzog, den der Pack immer straffer spannte. Auf diese Weise verging nicht einmal eine Minute, bis das Maul des Drachen eingewickelt war wie ein Weihnachtspaket.

Endlich gelang es Kim, sich unter der riesigen Pfote hervorzuarbeiten. Hastig sprang er hoch, stolperte ein paar Schritte zurück und sah sich nach dem Pack und der Spinne um. »Alles in Ordnung?«

»Klar«, antwortete die Spinne. »Da muss schon mehr kommen als so eine altersschwache Eidechse um mich zu beeindrucken!« Sie deutete kichernd auf den Pack. »Und der Knirps da ist sowieso unkaputtbar. Wenn ich es mir recht überlege, dann bist du der Einzige hier, der -«

Der Drache brüllte, bäumte sich mit solcher Gewalt auf, dass er mit dem Kopf gegen die Höhlendecke krachte, und fiel benommen auf die Seite. Kim kam zu dem Schluss, dass es vermutlich klüger war, die Diskussion an einem anderen Ort fortzusetzen. Sie begann ihm ohnehin unangenehm zu werden.

»Los!«, befahl er. »Nichts wie weg.«

»Nawatetnu, bissicheuch kriege!«, nuschelte der Drache. »Dmit kommih nichduch! Dshtsich noch keinergwagt!« Seine Worte waren kaum zu verstehen. Mit zugebundenem Maul redete es sich anscheinend nicht besonders gut. Er lag auf der Seite und riss und zerrte mit beiden Vorderläufen an den klebrigen Fäden herum, die sein Maul zusammenhielten, erreichte damit aber nicht mehr als sich immer tiefer in das seidige Gespinst zu verstricken.

»Diesacheis nochnich vbei!«, dröhnte er. »Chkriegeeuchnoch!«

Kim, der Pack und die Spinne rannten in respektvollem Abstand an ihm vorüber, während Twix die Gelegenheit nutzte, noch einmal zurückzufliegen und dem Drachen einen kräftigen Boxhieb auf die Nase zu versetzen, ehe sie ihnen folgte. Sie rannten an der Stelle vorbei, an der sie auf den schlafenden Drachen gestoßen waren, stürmten weiter und hielten erst an, nachdem sie durch zwei oder drei Felsspalten geklettert waren, durch die ihnen ein Wesen von der Größe des Drachen niemals folgen konnte.

Schwer atmend sah sich Kim um. Sie befanden sich in einer unregelmäßig geformten, mit Zwergenrunen geschmückten Höhle, von der zwei oder drei weitere Gänge abzweigten. Sie waren allerdings eindeutig für Zwerge gemacht, sodass mit Ausnahme der Spinne alle weit geduckt darin gehen mussten. »Und wohin jetzt?«, fragte Twix.

Kim konnte nur unschlüssig mit den Schultern zucken, aber die Spinne kroch sofort an einer der Wände hoch und begann die Runenschrift zu studieren.

»O nein!«, keuchte Twix in gespieltem Entsetzen. »Lass es lieber sein!«

»Halt die Klappe!«, fauchte die Spinne. »Ich muss mich konzentrieren.«

»O ja!«, höhnte Twix. »Wir haben ja alle gesehen, was das letzte Mal passiert ist, als du dich auf etwas konzentriert hast!« Kim glaubte eine Bewegung in einem der Gänge zu erkennen, war aber nicht ganz sicher, und Twix fuhr in höhnischem Ton fort: »Wir wären um ein Haar gegrillt worden! Anschließend hätte uns fast die Erde verschlungen -«

Kims Herz machte einen erschrockenen Satz. Aus dem Tunnel trat eine kleine, in einen schwarzen Kapuzenumhang gehüllte Gestalt. Ein Zwerg!

»- und am Schluss wären wir fast von einem Drachen gefressen worden!«, schloss Twix. Der Zwerg trat mit einem Schritt vollends aus dem Stollen heraus, schlug die Kapuze zurück und sah sich verwirrt um. Er hatte ein hässliches, finsteres Gesicht, das nur aus einer riesigen Hakennase, tückisch blitzenden Augen und Tausenden von Falten und Runzeln zu bestehen schien.

»Ahm ... Entschuldigung ...«, begann er.

Die Spinne fuhr mit einem Zischen herum und funkelte Twix an. »Was das angeht, würde ich an deiner Stelle ganz still sein!«, schnappte sie. »Wer von uns war denn so schlau, den Faden an einem Drachenzahn festzubinden?«

»Entschuldigt bitte«, sagte der Zwerg noch einmal.

»Du hast gesagt, ich soll ihn irgendwo festmachen!«, sagte Twix schnippisch. »Du hast nicht gesagt, dass ich ihn irgendwo nicht festbinden soll!«

»He!«, sagte der Zwerg. Er begann unruhig mit dem Fuß zu wippen.

»Niemand bindet einen Faden an einen Drachenzahn!«

»Ich unterbreche euch ja nur ungern«, sagte der Zwerg, »aber -«

»Und woher sollte ich wissen, dass ein Drache hier ist?«, fragte Twix. »Du hast von einem Dach gesprochen, wenn ich mich recht erinnere. Ich habe nach Dachbalken gesucht und Ziegeln. Daran hätte ich ihn bestimmt nicht festgemacht!«

»Hallo!«, brüllte der Zwerg mit vollem Stimmaufwand. »Würdet ihr mir vielleicht verraten -«

Die Spinne fuhr mit einem wütenden Zischen zu ihm herum. »WAS?!«

Der Zwerg prallte entsetzt zurück, fand seine Fassung nur mühsam wieder und stotterte: »- was ... was ihr hier tut...«

»Wir streiten uns«, blaffte die Spinne. »Misch dich gefälligst nicht ein!«

»Und was habt ihr hier zu suchen?« Der Zwerg starrte die Spinne einen Moment lang an, bekam aber keine Antwort und wandte sich an den Pack.

»Du! Antworte!«

»Er kann nicht sprechen«, sagte Kim. »Jedenfalls nicht in deiner Sprache.« Gleichzeitig versuchte er die Dunkelheit hinter dem Zwerg mit Blicken zu durchdringen. Er konnte jedoch nichts erkennen. Der Gang schien leer zu sein. Offensichtlich war der Zwerg allein gekommen. Aber man konnte ja schließlich nie wissen ...

»Aber du kannst es«, sagte der Zwerg misstrauisch. »Also, antworte gefälligst: Was habt ihr hier zu suchen?«

Auch Kim sagte nichts - er konnte es gar nicht, denn ihm fiel beim besten Willen keine passende Ausrede ein - und so wandte sich der Zwerg erneut an die Spinne.

»Also?«

»Tut mir Leid«, sagte die Spinne. »Aber ich fürchte, ich darf nicht mit dir reden.« Sie deutete auf Kim. »Er kann es dir erklären.«

»Na, da bin ich ja mal gespannt«, sagte der Zwerg misstrauisch. »Also?«

»Nun, das ... hat etwas mit ihren Tischmanieren zu tun«, sagte Kim. »Aber das kannst du nicht wissen. Es ist auch wirklich nicht wichtig.«

»Und was ist wichtig?«, fragte der Zwerg. Er klang ein bisschen irritiert. Auch das war etwas, was Kim noch von den Zwergen wusste: Sie waren nicht besonders helle.

Diese Erinnerung brachte ihn auf eine Idee. »Wir müssen mit eurem Anführer sprechen«, sagte er. »Kannst du uns zu ihm bringen?«

»Sicher«, antwortete der Zwerg. »Aber das ist immer noch keine Antwort auf meine Frage: Was habt ihr hier verloren? Diese Höhlen sind nur für uns. Ihr großen Tölpel dürftet gar nicht hier sein!«

»Ich weiß«, zischelte die Spinne. »Wir haben eure gemeinen Fallen über -«

»Gesehen«, fiel ihr Kim hastig ins Wort. »Sie meint, wir haben eure Sicherheitsvorkehrungen bemerkt und entsprechend gewürdigt. Mein Kompliment.«

»Es war auch eine Menge Arbeit«, sagte der Zwerg geschmeichelt. »Eigentlich sollte niemand daran vorbeikommen.«

»Na, das ist doch der Beweis, dass wir hier sein dürfen«, sagte Kim.

»Wieso?«

»Niemand, der nicht dazu berechtigt ist, hätte die Feuergrube überlebt oder den Abgrund überwunden«, antwortete Kim. »Ganz zu schweigen von dem Drachen! Wenn wir also trotzdem hier sind, dann nur aus dem einzig möglichen Grund: Weil wir es dürfen.«

»Also, ich weiß nicht...« Der Zweig kratzte sich am Kopf. Es klang, als scharrten Nägel über einen Topfboden. Er überlegte einen Moment angestrengt, aber dann schüttelte er zögernd den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Das scheint mir nicht sonderlich einleuchtend.«

Kim seufzte. »Also gut«, sagte er. »Vielleicht überzeugt dich ja das.«

Und damit verpasste er dem Zwerg einen Kinnhaken, der ihn im wahrsten Sinne des Wortes aus den Stiefeln hob und ihn dann stocksteif und bewusstlos nach hinten fallen ließ.

»Saubere Arbeit«, kommentierte die Spinne. Der Pack sah ihn eindeutig bewundernd an und selbst die Elfe kicherte leise.

Kim massierte sich seine schmerzende Hand. »Fesselt ihn«, sagte er. »Aber gründlich. Nicht dass er sich losreißt und den Rest der Bagage alarmiert.«

Die Spinne wickelte den bewusstlosen Zwerg in ein engmaschiges Netz und Kim wartete, bis Twix seine pochende Hand mit Elfenstaub bestäubt und den Schmerz damit besänftigt hatte. Dann zog er sein Schwert und drang geduckt als Erster in den Stollen ein.

Der Gang zog sich endlos dahin. Der Boden führte in sanfter Neigung nach unten und nach einer Weile glaubte Kim einen kühlen Lufthauch zu spüren, der ihnen aus der Tiefe entgegenschlug. Sie marschierten gute zehn Minuten ohne auf weitere Zwerge zu treffen, dann noch einmal ebenso lange und plötzlich sagte Twix leise und in fast erschrockenem Ton: »Magie!«

Kim blieb stehen. »Wie bitte?«

»Magie!«, wiederholte Twix. Sie begann aufgeregt mit den Flügeln zu schlagen. »Ich spüre Magie! Ein Quell großer magischer Kraft! Nicht mehr weit vor uns!«

Kim hatte gewusst, dass es einen Grund geben musste, aus dem die Zwerge den Eingang zu diesen Höhlen so ganz besonders gesichert hatten.

»Weiter«, flüsterte er. »Aber vorsichtig!«

Seine Warnung war keinesfalls unnötig. Der Gang führte noch ein kurzes Stück geradeaus und endete dann vor einer lotrechten Wand, in der eine halbrunde Tür in Zwergengröße war. Dahinter konnte Kim einen schmalen, von einem kniehohen Geländer begrenzten Balkon erkennen.

Und die Silhouetten von zwei bewaffneten Zwergen.

Kim erstarrte für einen Moment. Hinter der Balkonbrüstung schien sich eine Höhle von enormem Ausmaß zu befinden, aus der ein dumpfes Raunen und Murmeln heraufdrang. Irgendetwas in der Tiefe nahm die volle Aufmerksamkeit der beiden Zwerge in Anspruch, sodass sie im Moment gar nicht in Gefahr waren entdeckt zu werden.

Vermutlich hätten sie sich einfach wieder zurückziehen können, ohne von den beiden Wächtern auch nur zur Kenntnis genommen zu werden.

Aber der Weg führte nur in diese eine Richtung.

Kim gab den anderen ein Zeichen, nur ja keinen Mucks von sich zu geben, schob sein Schwert lautlos in die Scheide zurück und schlich auf Zehenspitzen weiter. Als er die Tür erreichte, ließ er sich auf die Knie herabsinken, streckte vorsichtig die Arme aus und tippte den beiden Zwergen gleichzeitig von hinten auf die Schultern.

Die Zwerge reagierten genauso, wie er es gehofft hatte: Sie drehten sich gleichzeitig und blitzschnell herum und auf ihren faltigen Gesichtern erschien ein so verblüffter Ausdruck, dass er am liebsten laut aufgelacht hätte.

»Was -?«, begann einer der Zwerge.

Weiter kam er nicht. Kim packte sie beide zugleich an der Brust, zerrte sie mit einem einzigen, derben Ruck zu sich herein und hielt einem der Knirpse den Mund zu, während sich der Pack bereits auf den anderen hockte. Nur einen Moment später sank auch der zweite Zwerg bewusstlos zu Boden und die Spinne begann sie hastig zusammenzubinden.

»Das geht ja fast zu leicht«, maulte sie. »Wo bleibt denn da der Spaß?«

»Unterschätzt die Zwerge lieber nicht«, warnte Kim. »Sie wirken harmlos, aber sie sind es nicht. Sie schneiden dir die Kehle durch, noch während du dabei bist, über sie zu lachen.«

Er überzeugte sich, dass die beiden Zwerge sicher gefesselt und geknebelt waren, dann schob er sich auf Händen und Knien wieder durch die Tür und spähte nach rechts und links. Was er sah, stimmte ihn nicht gerade fröhlich.

Die Tür führte nicht auf einen Balkon, sondern auf eine Galerie hinaus, die zur Gänze um eine Höhle mit wahrhaft zyklopischen Ausmaßen herumlief. In regelmäßigen Abständen gab es weitere Türen und vor jeder einzelnen stand ein Zwergenpaar und hielt Wache. Wie die beiden, die er gerade überwältigt hatte, blickten sie jedoch so konzentriert in die Tiefe, dass sie nicht einmal Notiz von ihm nahmen. Das würde sich jedoch garantiert ändern, sobald er auf den Balkon hinaustrat. Im Vergleich zu den Zwergen war er ein Riese, der allein durch seine Größe einfach auffallen musste.

Er hätte gerne gewusst, was sich unten in der Höhle abspielte, aber er beherrschte seine Neugier noch und zog sich rasch in den Gang zurück. Nach kurzem Zögern bückte er sich zu einem der bewussdosen Zwerge, schälte ihn aus seinem Umhang und schlang sich den schwarzen Mantel um die Schultern. Es sah vollkommen lächerlich aus. Selbst der Pack grinste. Aber einem sehr flüchtigen Blick aus sehr großer Entfernung mochte es Stand halten.

Vorsichtig kroch er wieder auf die Galerie hinaus und beugte sich über das Geländer.

Im ersten Moment schwindelte ihm, so tief war die Höhle, über die sich die Galerie spannte. Auf den allerersten Blick sah er nichts als ein Durcheinander aus Formen und Bewegung.

Dann hätte er fast aufgeschrien.

Unter ihm erstreckte sich etwas wie ein gewaltiges Amphitheater. Die Ränge bestanden aus schwarzem Fels, der über und über mit magischen Runen und Symbolen bedeckt war, und Kim sah buchstäblich Tausende von Zwergen, wenn nicht gar Zehntausende. Es musste ein Gutteil des gesamten Zwergenvolkes sein, das sich hier versammelt hatte.

Sie waren zusammengekommen um einer Hinrichtung beizuwohnen.

Neben ihm raschelte etwas. Kim wandte kurz den Blick und gewahrte einen schwarzen Zwergenumhang, der auf acht Beinen herangetrippelt kam und sich neben ihm an der Brüstung aufrichtete.

Er konzentrierte sich wieder auf das Bild des Schreckens, das sich unter ihm bot.

Hatte er noch vorhin geglaubt, die Feuerfalle vor dem Eingang des Zwergenreichs wäre die teuflischste Konstruktion, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte, so musste er seine Meinung nun revidieren.

Ungefähr auf halber Höhe der Kuppelhöhle spannte sich etwas, das fast wie ein Spinnennetz aus Ketten und geflochtenen Stahlseilen aussah. Genau im Zentrum dieses Netzes war eine menschliche Gestalt angebunden. Die Ketten und Seile wiederum waren an ein kompliziertes System von Rollen, Zahnrädern und Flaschenzügen mit mehr als einem Dutzend großer, in hölzernen Rahmen befestigter Segel verbunden, die für Kim im allerersten Moment gar keinen Sinn zu ergeben schienen. Dann aber bewegte sich eines der Segel leicht. Die Kette, an der es hing, spannte sich klirrend und die Gestalt im Zentrum des stählernen Netzes schrie vor Schmerz auf.

»Das Pickelgesicht!«, keuchte die Spinne. »Das ... das ist der Windbeutel!«

Kim nickte stumm. Die rothaarige Gestalt im Zentrum des stählernen Netzes war niemand anderer als Sturm. Und nun verstand er auch den Zweck der auf dem ersten Blick so sinnlos anmutenden Konstruktion. Die Segel waren in allen nur denkbaren Winkeln angebracht. Wenn Sturm seine unheimlichen Kräfte entfesselte, so musste er immer mindestens zwei oder drei davon in Bewegung versetzen - mit dem Ergebnis, dass er buchstäblich in Stücke gerissen würde!

»Das ist teuflisch«, murmelte er.

»Ja«, pflichtete ihm die Spinne bei. »Ein reizendes kleines Völkchen, nicht? Und was tun wir jetzt?«

Kim überlegte angestrengt. Sie hatten nicht sehr viel Zeit, das war ihm klar. Selbst wenn sich Sturm beherrschte und darauf verzichtete, seine magischen Kräfte einzusetzen, würde er nicht ewig durchhalten. Er war in einer Position auf dem Kettengeflecht festgebunden, die ihm heftige Schmerzen bereiten musste. Und in der Höhle herrschte ein leichter Luftzug, der die Segel sich manchmal sacht bewegen ließ.

Konzentriert betrachtete er die Konstruktion aus Seilzügen und Zahnrädern. Sie wirkte kompliziert, war es im Grunde aber gar nicht. Es gab zwei Punkte, an denen alle Ketten und Stahltrossen zusammenliefen um sich dann wieder zu verlieren.

Er deutete in die entsprechende Richtung. »Siehst du das? Wenn wir die Flaschenzüge blockieren, funktioniert die ganze Maschinerie nicht mehr ... hoffe ich.«

»So«, sagte die Spinne. »Hoffst du.«

»Ich bin kein Ingenieur«, sagte Kim zornig.

»Und wenn du dich irrst, ist der Windbeutel tot.«

»Wenn ich nichts tue, auch«, sagte Kim. »Hast du eine bessere Idee?«

»Nein«, gestand die Spinne. »Ich habe nicht einmal eine Idee, wie wir die Flaschendingsbumse blockieren sollen. Ich kann es jedenfalls nicht. So weit kann ich nicht springen.«

»Das musst du auch nicht.« Kim löste den Bogen von seiner Schulter und legte einen Pfeil auf die Sehne. Einen zweiten legte er sorgsam vor sich auf den Boden. Mit aller Macht konzentrierte er sich auf das Bild des Flaschenzuges. Der Pfeil in seiner Hand begann zu zittern.

»Twix!«

Die Elfe kam gehorsam herbeigeflogen. Kim erschrak, als er sah, wie hell der goldene Schimmer ihrer Flügel geworden war. Die Nähe der gewaltigen magischen Kraft, von der Twix gesprochen hatte, blieb nicht ohne Wirkung. Die Elfe leuchtete wie eine 1000-Watt-Birne.

Kim sah erschrocken nach rechts. Mindestens einer der Zwerge war auf sie aufmerksam geworden und blickte misstrauisch in ihre Richtung. Kim verbarg die Elfe hastig unter seinem Umhang, aber es war zu spät. Der Zwerg tippte seinem Kameraden auf die Schulter und wechselte ein paar Worte mit ihm und die beiden setzten sich in Bewegung.

Nun hatten sie gar keine Wahl mehr.

Kim richtete sich hinter der ohnehin nur kniehohen Brüstung auf und hob den Bogen und Twix und die Spinne reagierten, ohne dass er auch nur ein einziges Wort zu sagen brauchte. Noch während er den Bogen spannte, schoss die Spinne einen Faden ab, der sich zielsicher um Twix' Hüften wickelte. Die Elfe jagte wie ein Funken sprühendes Geschöpf aus Licht los und Kim feuerte seinen ersten Pfeil ab und bückte sich hastig nach dem anderen. Er musste dem Geschoss nicht mit Blicken folgen um sicher zu sein, dass es sein Ziel traf.

Unter ihnen erhob sich ein vielstimmiges, wütendes Gebrüll und auch die beiden Zwerge rechts von ihnen schrien auf und begannen zu rennen. Kim sah aus den Augenwinkeln, wie der Pack hinter ihm aus der Tür gestürmt kam und sich ihnen entgegenwarf.

Er achtete auf nichts von alledem, sondern spannte seinen Bogen. Unter ihm hämmerte der erste Pfeil zielsicher in den Flaschenzug, und spätestens in diesem Moment wurde klar, dass es sich wahrhaftig um eine Zauberwaffe handelte. Der Pfeil blockierte die Maschine nicht einfach, wie Kim gehofft hatte, sondern zertrümmerte sie regelrecht.

Jetzt hatte die Elfe das eiserne Netz erreicht und begann den Faden daran festzubinden und die Spinne flitzte mit affenartiger Geschwindigkeit los. Kim schoss seinen zweiten Pfeil ab und der Pack erreichte die Zwerge, packte einen von ihnen an den Füßen und begann mit ihm auf seinen Kameraden einzudreschen.

Die gewaltige Konstruktion unter ihnen setzte sich in Bewegung. Ein Teil der Holzgestelle und Segel zerbarst und stürzte in die Tiefe, als der Gegendruck, den sie auslösen sollten, plötzlich nicht mehr da war, aber gut die Hälfte tat noch immer seinen Dienst. Sturm begann vor Schmerz und Todesangst zu brüllen, als sich die Ketten und Stahlseile spannten und seine Arme und Beine mit erbarmungsloser Kraft in verschiedene Richtungen gezerrt wurden.

Dann traf der zweite Pfeil sein Ziel. Zahnräder, Flaschenzüge und Ketten zerbarsten in einem Hagel von Metalltrümmern und Holzsplittern und Sturm hörte auf zu schreien.

Für ungefähr eine halbe Sekunde. Dann brüllte er umso lauter, als sich das gesamte geflochtene Netz von seinem Platz zu lösen begann und in die Tiefe stürzte. Die Spinne sprang ihm mit einem gewaltigen Satz hinterher, bekam ihn buchstäblich im allerletzten Moment zu fassen und hielt ihn mit drei oder vier Beinen fest.

Mittlerweile waren weitere Zwergenkrieger auf sie aufmerksam geworden. Der Pack schwang seine lebende Keule tapfer und hielt die Angreifer auf seiner Seite damit wirkungsvoll auf Distanz, aber auch aus der anderen Richtung stürmten nun Zwerge heran, die Speere, Keulen und Schwerter schwangen. Unter ihnen kreischte die Spinne. Kim beugte sich hastig vor und sah, dass sie immer mehr Mühe hatte Sturm zu halten. Es war nicht nur sein Gewicht, das an ihren Beinen zerrte, sondern vor allem das der Ketten und Stahltrossen, die ja noch immer an Sturms Armen und Beinen befestigt waren.

»Zieh mich rauf!«, kreischte sie.

»Pack!«, brüllte Kim.

Er warf sich vor, griff nach dem Spinnfaden und begann mit aller Kraft daran zu ziehen. Es gelang ihm nur, ihn zentimeterweise nach oben zu ziehen, und der dünne Seidenfaden schnitt dabei so tief in seine Hände ein, dass sie zu bluten begannen.

Erst als der Pack heran war und ebenfalls mit zupackte, wurde es ein wenig besser. Der haarige Kobold konnte ihm jedoch nicht lange helfen, denn schon waren die Zwerge heran, sodass er sich herumdrehen musste um sie abzuwehren. Trotzdem bekam Kim etliche derbe Schläge in Rücken und Kniekehlen, ehe es dem Pack gelang, die Zwerge wieder ein wenig zurückzutreiben.

Er ignorierte sie, stemmte die Füße gegen den Boden und zog und zerrte mit aller Kraft. Zentimeter für Zentimeter, wie es ihm schien, hievte er Sturm und die Spinne zu sich in die Höhe, und als er glaubte, sein Rücken und seine Arme müssten bei der nächsten Anstrengung einfach in Stücke brechen, erschienen die dünnen Beine der Spinne endlich über der Brüstung. Mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung zog er sie vollends zu sich herauf, fiel auf die Knie und überließ es der Spinne, auch Sturm auf die Galerie in Sicherheit zu bringen.

Falls man überhaupt noch von Sicherheit reden konnte.

Kim konnte sich nur wenige Sekunden Pause gönnen. Sämtliche Zwergenwächter, die auf der Galerie postiert gewesen waren - gute zwei Dutzend, schätzte Kim -, waren mittlerweile herangestürmt. Der Pack tat sein Möglichstes um sie zurückzuhalten, aber die Übermacht war einfach zu gewaltig. Er wurde Schritt für Schritt zurückgedrängt. Wäre er ein sterbliches Wesen gewesen, dann wäre es längst um ihn geschehen, denn die Zwerge machten rücksichtslos von ihren Waffen Gebrauch. Und sie kamen immer näher.

Kim taumelte auf die Füße, zog sein Schwert und schlug zwei der Zwerge mit der flachen Seite der Klinge nieder und auch die Spinne stand ein wenig wackelig wieder auf. Kim konnte nicht genau erkennen, was sie tat: Sie wob einen Faden, um wer weiß was daraus zu flechten. Nur Sturm blieb reglos und leise stöhnend liegen. Seine Hand- und Fußgelenke bluteten. Kim schwang seine Waffe und streckte einen weiteren Zwerg nieder, aber es war wie verhext: Die kleinen Kerle gingen leicht zu Boden, aber sie waren zäh genug um immer wieder aufzustehen. Wahrscheinlich musste man sie umbringen, damit sie endgültig liegen blieben, und das wollte Kim trotz allem nicht.

Die Zwerge hatten umgekehrt weitaus weniger Hemmungen. Kim bekam einen zwar ungefährlichen, aber reichlich schmerzhaften Stich in die Seite und ein weiterer Zwerg gab sich alle Mühe, mit einer gewaltigen Stachelkeule seinen linken Fuß zu löchern. Kim schickte sie beide ins Land der Träume und auch der Pack verpasste einem weiteren Zwerg eine Kopfnuss, die ihn stocksteif zu Boden fallen ließ. Dann schrie die Spinne: »Hinlegen!«

Kim - und zu seiner Überraschung auch der Pack - gehorchte instinktiv.

Die Zwerge nicht.

So kam es auch, dass sie allesamt von dem kunstvoll geflochtenen Netz ergriffen wurden, das die Spinne über ihren Köpfen ausbreitete. Kreischend und johlend versuchten die Zwerge sich zu befreien oder das Netz zu zerreißen, verstrickten sich auf diese Weise aber nur noch tiefer in den engen Maschen. Der Kampf war vorüber.

Wenigstens für den Moment. Kim ließ sein Schwert sinken, drehte sich erschöpft herum und erblickte genau das, was er befürchtet hatte: Eine gewaltige Armee aus Zwergen hatte sich von den Sitzen des Amphitheaters erhoben und stürmte den Ausgängen entgegen. Und bestimmt nicht um nach Hause zu gehen oder ein Mittagsschläfchen zu halten ...

Mühsam schleppte er sich zu Sturm hin, ließ sich neben ihm auf die Knie sinken und berührte ihn an der Schulter. Sturm wimmerte leise und öffnete die Augen, aber sein Blick war verschleiert. Kim erschrak, als er die tiefen, noch immer heftig blutenden Wunden sah, die die stählernen Fesseln in seine Hand- und Fußgelenke gescheuert hatten.

»Twix!«, rief er.

Die Elfe kam sofort herbeigeflogen und Kim deutete auf Sturms Hände. Während sich Twix daranmachte, seine Wunden zu versorgen, wandte sich Kim wieder direkt an Sturm.

»Ich weiß, es ist viel verlangt«, sagte er, »aber wir müssen weiter. Die Zwerge sind auf dem Weg hierher. Kannst du gehen?«

»Kein Problem«, antwortete Sturm. Um seine Behauptung unter Beweis zu stellen, richtete er sich auf, machte einen schwankenden Schritt und fiel prompt auf die Nase.

»Ja«, seufzte Kim, »genau so habe ich mir das vorgestellt. Pack! Hilf mir, bitte!«

Eine Stunde später begann sich Kim einzugestehen, dass sie sich verirrt hatten. Sie waren anfangs demselben Weg gefolgt, der sie hier herunter geführt hatte, dann aber ziemlich wahllos in einen der Seitengänge eingedrungen - keiner von ihnen hatte Lust, dem Drachen noch einmal zu begegnen, und außerdem war Kim fast sicher, dass sie das Fallgitter vor dem Ausgang ohnehin nicht aufbekommen würden. So hatten sie immer wieder die Tunnel gewechselt, bewegten sich aber nach wie vor bergauf. Irgendwann, so dachte Kim, würden sie auf diese Weise zwangsläufig auf einen Ausgang stoßen.

Sturm hatte sich weit genug erholt um aus eigener Kraft laufen zu können - wenigstens solange Kim und der Pack ihn abwechselnd stützten. Die Elfe hatte ein kleines Wunder vollbracht. Seine Wunden sahen noch immer schlimm aus und sie bereiteten ihm auch noch große Schmerzen, aber sie bluteten nicht mehr und hatten bereits sichtbar zu heilen begonnen.

Sie hatten eine weitere Gangkreuzung erreicht und waren dem nach oben führenden Weg ein Stück weit gefolgt, als Kim einen schwachen, kühlen Lufthauch auf dem Gesicht spürte. Er blieb stehen, sah konzentriert nach vorne und erblickte nichts als Dunkelheit. Aber der Luftzug war da, ganz eindeutig.

»Ich merke es auch«, sagte Twix. »Ich fliege voraus und sehe nach.«

Sie verschwand, noch bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, und Kim löste sanft Sturms Arm von seiner Schulter und ließ ihn behutsam zu Boden sinken.

»Es wird sowieso Zeit für eine Pause«, sagte er.

Sturm blickte ein wenig schuldbewusst drein. »Ich kann versuchen aus eigener Kraft weiterzugehen«, sagte er.

»Du sagst es«, murmelte Kim erschöpft. »Du kannst es versuchen.«

»Es tut mir Leid«, sagte Sturm niedergeschlagen. »Ich weiß, dass ich euch große Mühe bereite. Ihr habt mir das Leben gerettet... Wie kommt ihr überhaupt hierher?«

»Das beantworte ich dir, sobald du uns verraten hast, wie du hierher gekommen bist«, sagte Kim. Er deutete mit einer müden Geste auf die Spinne. »Sie hat erzählt, dass du dich mit uns treffen wolltest. Aber das ist drei Tage her.«

Загрузка...