Zweiter Theil.

Erstes Capitel. Pescade und Matifu.

Fünfzehn Jahre nach den Ereignissen, welche die Einleitung zu nachfolgender Geschichte bilden, am 24. Mai 1882, war Jahrmarkt in Ragusa, einer der bedeutendsten Städte in den dalmatinischen Provinzen.

Dalmatien ist nur eine schmale, geschickt zwischen dem nördlichen Theile der Dinarischen Alpen, der Herzegowina und dem Adriatischen Meere eingeschobene Landenge. Es ist dort gerade noch Raum genug für eine ziemlich eng sitzende Bevölkerung von vier-bis fünfmalhunderttausend Seelen.

Ein schöner Menschenschlag sind diese Dalmatiner, nüchtern, trotzdem ihr Land, dem das befruchtende Erdreich fehlt, ein dürres ist, stolz inmitten der zahlreichen politischen Verwandlungen, die sie erlitten, trotzig gegen Oesterreich, an welches sie durch den Vertrag von Campo Formio im Jahre 1815 kamen, schließlich über alle Maßen ehrenhaft; es paßt auf ihr Land die von Herrn Yriarte gebrauchte hübsche Bezeichnung eines »Landes der Thüren ohne Schlösser«.

In vier Kreise ist Dalmatien eingetheilt und diese wiederum theilen sich in einzelne Districte: die ersteren sind die von Zara, Spalato, Cattaro und Ragusa. In Zara, als der Hauptstadt der Provinz, ist der Sitz des Generalgouverneurs. In Zara tritt auch der Landtag zusammen, von dem einzelne Mitglieder zum Herrenhause in Wien gehören.

Die Zeiten haben sich seit dem sechzehnten Jahrhundert sehr geändert. Damals setzten noch die Usoken, türkische Flüchtlinge, dieses Meer in Schrecken und führten offenen Krieg mit den Muselmännern wie mit den Christen, mit dem Sultan wie mit der Republik Venedig. Die Usoken sind heute verschwunden und man findet Spuren von ihnen nur noch in Krain. Die Adria ist heute ein ebenso sicheres Gewässer wie irgend ein anderer Theil des herrlichen und poetischen Mittelmeeres.

Ragusa, oder vielmehr der kleine Staat von Ragusa, war lange Zeit hindurch eine Republik gewesen, bereits vor Venedig, das heißt mit anderen Worten seit dem neunten Jahrhundert. Erst 1808 wurde sie durch ein Decret Napoleons I. dem Königreiche Illyrien einverleibt und zu einem Herzogthum für den Marschall Marmont gemacht. Im neunten Jahrhunderte bereits besaßen die ragusischen Seefahrer, welche alle Meere der Levante befuhren, das alleinige Recht, mit den Ungläubigen Handel zu treiben, ein Recht, welches vom heiligen Stuhl verliehen wurde und Ragusa eine große Bedeutung unter diesen kleinen Republiken des südlichen Europas verschaffte. Ragusa zeichnete sich indessen auch noch durch andere, edlere Eigenschaften aus: das Ansehen seiner Gelehrten, der gute Ruf seiner Schriftsteller, der Geschmack seiner Künstler hatten ihm den ehrenden Namen eines slavonischen Athens eingebracht.

Zu einem überseeischen Handel gehört ein Hafen mit gutem Ankergrund und genügender Wassertiefe, der selbst Schiffe mit großem Tonnengehalte aufnehmen kann. Ein solcher Hafen fehlte Ragusa. Der Meerbusen ist schmal und von Felsen in Wasserhöhe umgeben; er kann nur kleine Küstenfahrer oder gewöhnliche Fischerfahrzeuge beherbergen.

Glücklicherweise hat eine halbe Meile nördlich von Ragusa, auf der inneren Seite einer der Ausbuchtungen der Bai von Ombla-Fumera, eine Laune der Natur einen jener vorzüglichen Häfen gebildet, welche nach allen Richtungen selbst der bedeutendsten Schifffahrt zu Hilfe kommen. Dieser Hafen ist Gravosa, er ist vielleicht der beste längs der ganzen dalmatinischen Küste. Dort finden selbst Kriegsschiffe eine hinlängliche Wassertiefe vor. Die Hafenanlage bietet für Trockendocks und für Schiffswerfte genügend Raum; dort können auch die großen Packetboote anlaufen, denen in Zukunft alle Meere der Erdkugel unterthan sein werden.

Die Straße von Ragusa nach Gravosa ist in Folge dieses günstigen Umstandes ein vollkommener Boulevard geworden; schöne Bäume stehen zu beiden Seiten, ebenso reizende Landhäuser; die Bevölkerung, die sich jetzt auf sechzehn-bis siebzehntausend Menschen beläuft, benützt diese Straße mit Vorliebe.

An obengenanntem Tage gegen vier Uhr Nachmittags konnte man beobachten, daß die Einwohner Ragusas in Folge des schönen Frühlingstages zahlreich nach Gravosa strömten.

In dieser Vorstadt – wenn man Gravosa, das allerdings vor den Thoren der Stadt liegt, so nennen kann – wurde ein locales Fest gefeiert mit verschiedenen Belustigungen, Buden fremder Händler, Musik und Tanz unter freiem Himmel, Marktschreiern, Akrobaten und Tausendkünstlern, deren Rufe, Instrumente, Lieder in den Straßen bis auf die Quais des Hafens hinaus großen Lärm machten.

Dem Fremden bot sich an diesem Tage eine günstige Gelegenheit, die verschiedenen Typen der slavischen Rasse, untermischt mit Zigeunern in den mannigfaltigsten Schattirungen kennen zu lernen. Doch nicht nur diese Nomaden waren zum Feste herbeigekommen, um daselbst die Neugier der Besucher auszubeuten, auch die Land-und Bergbewohner hatten Theil genommen an den öffentlichen Lustbarkeiten.

Frauen zeigten sich sehr zahlreich, Damen aus der Stadt, Bäuerinnen aus der Umgegend, Fischerinnen von der Küste. Die Kleidung der Einen zeigte das Bestreben, die neuesten Moden des abendländischen Europas aufzunehmen. Der Aufputz der Anderen wechselte, wenigstens in Kleinigkeiten, mit jedem District, dem seine Trägerinnen entstammten: weiße, an den Armen und der Brust mit Stickereien versehene Hemden, vielfarbige Röcke, mit tausenden von silbernen Stiften besetzte Gürtel – ein vollkommenes Mosaik, in dem die Farben ineinander gingen wie in einem persischen Teppiche – weiße Hauben auf den mit buntfarbigen Bändern durchflochtenen Haaren, die vom Schleier überdeckte »Okronga«, die wie der »Puskul« des orientalischen Turbans über den Rücken fällt, Beinharnische und Stiefel, die mit Bastschnüren am Fuße befestigt werden. Zur Krönung dieses Staates trug man Kostbarkeiten in Form von Armbändern, Halsketten oder Geldstückchen in hunderterlei Manieren zum Schmucke des Halses, der Arme, der Brust und der Hüften. Diese Kleinodien konnte man selbst am Anzuge der Bauern bemerken, welche die schillernden Stickereien ebenfalls nicht verschmähen, die den Saum der Kleiderstoffe schmücken.

Doch unter allen diesen ragùsischen Kleidungen, welche selbst die Seeleute mit Anmuth zu tragen verstanden, waren die Commissionäre – einer mit Vorrechten ausgestatteten Körperschaft – ganz danach angethan, vornehmlich die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wahrhaftige Orientalen schienen sie zu sein, diese Lastträger mit Turban Weste. Kamisol, faltigem türkischen Beinkleid und Pantoffeln. Sie würden den Quais von Galata oder dem Platz Top’hane in Constantinopel nicht zur Schande gereicht haben.

Die Festfreude hatte bereits den Höhepunkt erreicht. Weder die Buden in den Straßen noch die auf den Quais leerten sich. Es gab auch noch etwas ganz Besonderes zu sehen, das ganz dazu angethan war, eine große Anzahl Neugieriger anzulocken: den Stapellauf eines Trabocolo, eines eigenartigen Fahrzeuges, das man nur auf der Adria vorfindet; ein solches Schiff trägt zwei Maste und zwei Focksegel, die an der obersten und untersten Leik angeschlagen werden.

Der Stapellauf sollte um sechs Uhr Abends vor sich gehen und der Kiel des Trabocolo, von seinen Stützen bereits befreit, erwartete nur noch die Wegräumung des Hemmschuhes, um in das Meer gleiten zu können.

Bis dahin wetteiferten die Seiltänzer, fliegenden Musikanten, Akrobaten, um mit ihrem Talent oder ihrer Geschicklichkeit das schauende Publicum möglichst zufrieden zu stellen.

Die Musikanten, das muß man gestehen, fanden den größten Zuspruch. Unter ihnen wiederum hatten die Guzlaspieler die bedeutendste Einnahme zu verzeichnen. Zur Begleitung ihres eigenthümlichen Instrumentes sangen sie mit hohltönender Stimme die Lieder ihrer Heimat und diese waren es wohl werth, daß man stillstand und lauschte.

Die Guzla, deren sich diese Virtuosen der Landstraße bedienen, besteht aus mehreren Stricken, die über ein ausgehöhltes Griffbret gespannt sind und einzig und allein mit einer einfachen Darmsaite bestrichen werden.

Was die Stimme dieser Sänger betrifft, so gehen ihr die Töne gewiß nicht aus, weil sie wenigstens ebensoviele aus dem Kopfe wie aus der Brust herausholen.

Einer dieser Musikanten – ein großer gelbhäutiger und schwarzhaariger Bursche, der sein Instrument, ähnlich einem abgemagerten Cello, zwischen den Knieen hielt – begleitete in Haltung und mit Bewegungen sein Lied:


Wenn der Gesang erklingt,

Der Gesang der Zigeunerin,

Achte wohl, wie sie ihn singt,

Wie er aus der Kehle dringt,

Achte der Zigeunerin!

Hältst du dich noch fern von ihr,

Wächst die Gluth der schwarzen Augen,

Und du fühlst wie an der Fremden

Deine Sinne fest sich saugen.

Wenn der Gesang erklingt,

Der Gesang der Zigeunerin,

Achte wohl, wie sie ihn singt,

Wie er aus der Kehle dringt,

Achte der Zigeunerin!


Nach diesen ersten Strophen ging der Sänger mit seinem muldenartigen Instrumente bei den Umstehenden der Reihe nach herum und bettelte um die Gabe einiger Kupfermünzen. Die Einnahme schien ihm wohl etwas dürftig vorzukommen, denn er kehrte an seinen Platz zurück und versuchte seine Hörer durch ein zweite Strophe geschmeidiger zu machen:


Ruht auf dir ihr großes Auge,

Dunkel wie des Liedes Wort,

Zittern deines Herzens Schläge,

Ihr gehört’s, sie nimmt’s mit fort.

Wenn der Gesang erklingt,

Der Gesang der Zigeunerin,

Achte wohl, wie sie ihn singt,

Wie er aus der Kehle dringt,

Achte der Zigeunerin!


Ein Mann im Alter von fünfzig bis fünfundfünfzig Jahren hörte gelassen dem Vortrage des Zigeuners zu, er schien von solchen poetischen Verführungen nichts zu halten, denn seine Geldbörse hatte sich bis dahin noch nicht aufgethan. Es war nun allerdings auch keine Zigeunerin, die während ihres Gesanges ihn »mit dem großen dunklen Auge« anblickte, sondern ein ganz gewöhnlicher langer Teufel, der sich zum Interpreten hergab. Er wollte gerade seinen Platz verlassen, ohne Jenen mit einer Kleinigkeit bedacht zu haben, als ihn ein junges Mädchen, die ihn begleitete, festhielt und sagte:

»Ich habe kein Geld bei mir, Vater. Ich bitte Dich, gib diesem braven Manne etwas.«

Der Guzlaspieler erhielt vier oder fünf Kreuzer, die ihm ohne Vermittlung des jungen Mädchens sicher entgangen wären. Ihr Vater war reich und keineswegs geizig; er wollte sich also nicht etwa aus diesem Grunde ohne eine Gabe entfernen, sondern gehörte wahrscheinlich zu Denjenigen, die am menschlichen Elend ungerührt vorübergehen.

Beide wandten sich durch die Menge anderen nicht weniger lärmenden Schaustellungen zu, während der Guzlaspieler in die benachbarte Schänke ging, um das erhaltene Geld in Flüssigkeiten umzusetzen. Der scharfe, von der Pflaume destillirte »Silbovitz« wurde augenscheinlich nicht geschont, doch lief er wie Honigwasser durch die ausgepichte Kehle des Zigeuners.

Nicht allen unter freiem Himmel »arbeitenden« Sängern oder Seiltänzern wurde in gleicher Weise die Gunst des Publicums zu Theil. Zu denen, an welchen man ziemlich gleichgiltig vorüberging, gehörten zwei Akrobaten, die sich vergeblich auf der Estrade ihrer Bude abmühten, Zuschauer anzulocken.

Hinter dieser Estrade hing eine mit schreienden Farben übermalte, in ziemlich schlechtem Zustande bereits befindliche Leinwand herab; die Malerei stellte wilde, in Wasserfarben ausgeführte Thiere in denkbar abenteuerlichsten Gestaltungen vor, Löwen, Schakale, Hyänen, Tiger, Schlangen und so weiter; alle diese Thiere sprangen, bäumten und wanden sich inmitten der unwahrscheinlichsten Landschaften. Hinter diesem Vorhange befand sich eine kleine Arena, die von einer alten Segelleinwand eingeschlossen wurde. Dieselbe wies so viele Löcher auf, daß das Auge des Indiscreten unwillkürlich hier festgebannt wurde – den Schaden hatte natürlich die Einnahme.

An der Vorderseite, auf einer der schlecht befestigten Zeltstangen war ein im Rohzustande befindliches gewöhnliches Brett aufgenagelt, das folgende fünf, mit dick aufgetragener Kohle geschriebene Worte zeigte:


Pescade und Matifu

französische Akrobaten.


In ihrer äußeren Erscheinung und zweifellos auch in moralischer Hinsicht waren die beiden Männer so grundverschieden, wie eben nur zwei Menschen es sein können. Ihre gleiche Heimat hatte sie wahrscheinlich anfänglich einander genähert, um fortan gemeinsam durch die Welt zu ziehen und den »Kampf des Lebens« zu kämpfen. Sie stammten beide aus der Provence.

Woher mochten ihnen wohl die wunderlichen Namen gekommen sein, welche in ihrer fernen Heimat vielleicht als ihre Spitznamen gegolten hatten? Waren sie etwa den beiden bekannten geographischen Punkten entlehnt, zwischen denen sich der Golf von Algier öffnet – Kap Matifu und das Vorgebirge Pescade? Man ging in der letzteren Annahme nicht fehl; beide Namen waren angenommene, und sollten das Riesenhafte ihrer Leistungen, ähnlich wie der Name Atlas, auf ihren Kämpfen in der Fremde bezeichnen.

Kap Matifu ist eine gewaltige, mächtige unerschütterliche Anhöhe und erhebt sich auf der äußersten nordöstlichen Spitze der ungeheuren Rhede von Algier; sie scheint die Wuth der Elemente zu mißachten und den Ausspruch zu verdienen:


Ihre unzerstörbare Masse hat die Zeit ermüdet.


Denselben Eindruck machte auch der Athlet Matifu; er schien ein Alcide, ein Porthos, ein glücklicher Nebenbuhler der Ompdrailles, von Nicolas Creste und anderen berühmten Ringkämpfern zu sein, welche die Zierden der Arenen des südlichen Frankreichs bilden.

Dieser Riese – »man muß es sehen, um es zu glauben«, wäre man vielleicht versucht zu sagen – war fast sechs Fuß groß; er hatte einen mächtigen Kopf, die Schultern im Verhältniß, eine Brust wie ein Schmiedeblasebalg, Beine wie ein zwölfjähriges Laßreis, Arme wie die Zugstangen an Maschinen und Hände wie Blechscheeren. Hier zeigte die menschliche Kraft ihr ganzes Können und doch würde man überrascht gewesen sein, zu hören, daß dieser Koloß kaum sein zweiundzwanzigstes Lebensjahr erreicht hatte.

Dieser mit mittelmäßiger Intelligenz begabte Hüne besaß ein gutes Herz, einen anspruchslosen und sanften Charakter. Er kannte weder Haß noch Zorn. Er wäre nicht im Stande gewesen, Jemandem weh zu thun. Kaum daß er es wagte, Jemand die Hand zu drücken, weil er fürchtete, sie in der seinigen zu zerquetschen.

Nichts in seinem Wesen ließ den Tiger ahnen, über dessen Kräfte er verfügte. Er gehorchte jedem Worte, jedem Fingerzeige seines Genossen, als hätte eine Laune der Schöpfung ihn zum Riesensohne dieses Hanswurstes gemacht.

Auf der anderen Seite des Golfes von Algier liegt an der äußersten westlichen Spitze, dem Kap Matifu gegenüber, das Vorgebirge Pescade, eine dünne, langgedehnte, steinreiche Landzunge, die sich weit hinaus in das Meer erstreckt. Diesem Vorgebirge hatte der andere Künstler seinen Namen Pescade entlehnt, ein zwanzigjähriger, kleiner, schmächtiger junger Mann, der kaum den vierten Theil in Pfunden wog von dem, was der andere in Kilos schwer war; er war aber dafür geschmeidig, behend, einsichtsvoll, von einem unverwüstlichen Humor im Glück und Unglück, in seiner Art ein Philosoph, erfinderisch und praktisch – ein vollkommener Affe, doch ohne die Bosheit dieses Thieres – und auf Leben und Tod unzertrennlich von dem gutmüthigen, schwerfälligen Dickhäuter, den er durch alle Fährnisse und Zufälligkeiten des Artistenlebens bugsirte.

Sie waren Beide von Beruf Akrobaten und besuchten die Jahrmärkte. Matifu, oder Kap Matifu – wie man ihn nannte – war Ringkämpfer, zeigte Proben seiner Stärke, bog Eisenstangen auf seinem Ellbogen, hob mit gestrecktem Arme die schwersten Leute unter seinen Zuschauern und jonglirte mit seinem jüngeren Genossen gerade so, als wenn ein gewöhnlicher Mensch mit einem Billardballe spielt. Pescade oder Pointe Pescade – so hieß er gemeinhin –



Ragusa.


parodirte, sang, trieb Narrheiten und konnte das Publikum niemals genug mit seinen Hanswurstiaden unterhalten; er erregte ferner Aufsehen durch seine equilibristischen Productionen, die er geschickt zur Ausführung brachte und geradezu Staunen durch seine Kartenkunststücke, die ihn an die Seite der besten Taschenkünstler



Kap Matifu jonglirte mit seinem Genossen. (S. 160.)


stellten, denn es gelang ihm, selbst die argwöhnischsten Menschen durch irgend welche Zufalls-oder Berechnungskniffe vollständig zu täuschen.

»Ich habe meine Prüfung der Reise bestanden,« wiederholte er mit Vorliebe.

Aber »warum, werden Sie mir sagen« – ebenfalls eine vertrauliche Ansprache von Pointe Pescade – warum sahen an jenem Tage auf dem Quai von Gravosa gerade diese beiden armen Teufel die Zuschauer anderen Schaustellungen das Geld zutragen? Warum drohte jenen die magere Ausbeute – und sie brauchten das liebe Geld doch so sehr nothwendig – ganz zu entschwinden? Eine unbegreifliche Thatsache.

Ihre Sprache – ein ganz annehmbares Gemisch des Provençalischen und Italienischen – genügte vollkommen, um sie den dalmatinischen Besuchern verständlich zu machen. Ihre Eltern hatten sie nie gekannt, sie waren richtige Augenblickskinder gewesen und so hatten sie sich, seit sie ihre provençalische Heimat verlassen, schlecht und recht durchgeholfen, sie besuchten die Märkte und Messen, lebten eher schlecht als recht, aber lebten wenigstens und, wenn sie auch nicht alle Tage frühstücken konnten, so aßen sie wenigstens regelmäßig zu Abend, das genügte ihnen, denn – um mit Pointe Pescade zu reden – man muß nicht das Unmögliche verlangen.

Und wenn der tapfere Junge es auch nicht am besagten Tage verlangte, so versuchte er es wenigstens, er gab sich alle Mühe, ein Dutzend Neugieriger vor seinem Schaugerüst zu versammeln, mit der Hoffnung, sie sich zum Betreten seiner ärmlichen Arena entschließen zu sehen. Doch weder seine Redensarten, denen ihre fremdländische Aussprache etwas Gefälliges gab, noch seine schlechten Witze, die das Glück eines Possendichters begründet hätten, noch sein Gesichterschneiden, das einem Heiligen in der Nische irgend einer Kirche ein Lachen abgenöthigt hätte, noch seine Verdrehungen und Hüftenverschlingungen, wahre Wunder der Verrenkungskunft, noch das Spielen seiner Clownperrücke, deren Bockbartspitze über dem rothen Stoff seines Wamses auf und niederwippte, noch seine des römischen Pulcinello oder des florentinischen Stentareito würdigen Sprünge, übten eine Anziehungskraft auf das Publicum aus.

Und dabei befanden sich Beide schon seit mehreren Monaten inmitten der slavischen Bevölkerung.

Nach dem Verlassen der Provence waren sie – man könnte sagen Einer auf dem Andern – über die Seealpen in die Lombardei, in das mailändische und venetianische Gebiet hinuntergestiegen, Kap Matifu, berühmt durch seine Stärke, Pointe Pescade durch seine Gewandtheit. Ihr Ruf hatte sie veranlaßt, nach Triest zu wandern. Von Triest waren sie durch Istrien an die dalmatinische Küste gekommen, nach Zara, Spalato, Ragusa; sie fanden eben bei ihrem Weiterwandern ein besseres Auskommen, als wenn sie dieselbe Tour noch einmal in umgekehrter Richtung gemacht hätten. Wo sie einmal gewesen, da waren sie bekannt und hatten sich überlebt; wohin sie aber zum ersten Male kamen, da flossen ihnen durch ihre ungewöhnliche und neuartige Kunstfertigkeit jedenfalls einige Einnahmen zu. Jetzt mit einem Male bemerkten sie zu ihrem Schrecken, daß ihre Tournee, die glänzend nie gewesen war, recht bedenklich zu werden begann. Die armen Kerle hatten begreiflicher Weise jetzt nur noch den einen Wunsch – sie wußten nur nicht, wie sie ihn verwirklichen sollten – in ihr Vaterland, in die Provence heimkehren zu können, um nie wieder so weitführende abenteuerliche Fahrten anzutreten. Aber sie schleppten eine Kugel am Fuße, die des Elends, und es war hart, mehrere hundert Meilen mit dieser Kugel am Fuße zurücklegen zu müssen.

Ehe an die Zukunft gedacht werden konnte, verlangte die Gegenwart noch ihr Recht, mit anderen Worten, die Sorge um das Abendbrot konnte noch nicht als gesichert betrachtet werden. Nicht ein Kreuzer befand sich in der Kasse, sofern man diese anspruchsvolle Bezeichnung der Schnupftuchecke beilegen darf, in welche Pointe Pescade gewöhnlich das Vermögen der beiden Geschäftstheilnehmer einzuwickeln pflegte. Vergeblich mühte er sich auf dem Schaugerüst ab. Vergeblich schallte sein verzweiflungsvolles Lärmen über den Platz. Vergeblich stellte Kap Matifu seine Muskeln zur Schau, deren Sehnen wie die Verästelungen des Epheus um einen knorrigen Stamm sich ausnahmen. Kein Vorübergehender zeigte Lust, den Raum innerhalb der Leinwand zu betreten.

»Verdammt hartleibig diese Dalmatiner, sagte Pointe Pescade.

– Die reinen Pflastersteine, echote Kap Matifu.

– Ich glaube bestimmt, daß es uns Mühe kosten wird, uns heute einen Feiertag zu leisten. Wir werden wandern müssen, Kap Matifu.

– Um wohin zu gehen?

– Du bist sehr neugierig, erwiderte Pointe Pescade.

– Sage es nur.

– Nun, was würdest Du von einem Lande halten, in dem man ganz gewiß täglich ein Mal essen könnte.

– Wie heißt dieses Land, Pointe Pescade?

– O, es liegt weit, sehr, sehr weit von hier… und selbst noch weiter als sehr weit, Kap Matifu.

– Am Ende der Erde.

– Die Erde ist endlos, antwortete Pointe Pescade in schulmeisterndem Tone. Wenn sie ein Ende hätte, so würde sie nicht rund sein, wenn sie nicht rund wäre, könnte sie sich nicht drehen, wenn sie sich nicht drehen würde, wäre sie unbeweglich, und wenn sie unbeweglich wäre…

– Nun dann? fragte Kap Matifu.

– Würde sie auf die Sonne fallen, in kürzerer Zeit, als es mir möglich wäre, ein Kaninchen zu stehlen.

– Und dann?

– Und dann würde eintreten, was einem ungeschickten Jongleur passirt, wenn zwei seiner Kugeln in der Luft zusammentreffen. Krach! Alles zerbricht, fällt und das Publicum pfeift und verlangt sein Geld wieder; man muß es ihm wiedergeben und man kann natürlich an dem betreffenden Tage nicht zu Abend essen.

– Wenn die Erde auf die Sonne fällt, bekommen wir also kein Abendbrod?« fragte Kap Matifu.

Und er versenkte sich in die unendlichen Folgen, welche dieser furchtbare Umstand nach sich ziehen könnte. Er setzte sich in eine Ecke der Estrade, kreuzte die Arme über sein Tricot, nickte mit dem Kopfe, wie eine chinesische Pagode und sagte nichts mehr, sah nichts mehr, hörte nichts mehr. Er war vollständig von der unlogischen Aneinanderreihung seiner Gedanken in Anspruch genommen. In seinem dicken Kopfe ging Alles drunter und drüber. In seinem Innern schien sich Alles wie in einem Strudel rund herumzudrehen. Dann kam es ihm so vor, als flöge er hoch, sehr hoch… immer noch höher und noch höher als sehr hoch. Die Ausdrucksweise Pointe Pescades in Verbindung mit der Entfernung der Dinge von einander hatte ihn stark mitgenommen. Plötzlich ließ man ihn los, er fiel… in seinen eigenen Bauch, das heißt in die Leere.

Ein Alpdrücken hatte ihn befallen. Der Aermste erhob sich mit gespreizten Händen blindlings von seinem Schemel. Beinahe wäre er von der Höhe des Gerüstes heruntergefallen.

»He, Kap Matifu, was ist Dir? schrie Pointe Pescade; er ergriff seinen Kameraden am Arm und zerrte ihn nicht ohne Mühe nach rückwärts.

– Ich… ich… was mir ist?

– Ja… Dir!

– Ich habe, stotterte Kap Matifu, während er seine Gedanken wieder allmälich sammelte, was ein schwieriges Stück Arbeit schien, obgleich ihrer nicht viele waren, ich… ich muß mit Dir sprechen, Pointe Pescade.

– Rede, mein guter Kap, rede nur und besorge nicht, daß man Dich hört. Fort, Zuschauer, fort!«

Kap Matifu ließ sich auf dem Gerüste nieder und holte mit seinem kräftigen Arme, aber so sanft, als hätte er Furcht, ihm ein Glied zu zerbrechen, seinen tapferen Gefährten zu sich heran.

Zweites Capitel. Der Stapellauf des Trabocolo.

»Es geht also nicht? fragte Kap Matifu.

– Was geht nicht? erwiderte Pointe Pescade.

– Mit unseren Geschäften?

– Sie könnten unleugbar besser gehen, aber sie könnten auch noch schlechter gehen.

– Pescade?

– Matifu?

– Sei mir nicht böse, wenn ich Dir etwas sage.

– Gewiß werde ich Dir böse sein, wenn Du es verdienst, daß man mit Dir zankt.

– Also… Du müßtest mich verlassen.

– Verstehe ich recht, ich sollte Dich verlassen?… Dich allein auf dem Plan lassen? fragte Pointe Pescade.

– Ja!

– Fahre fort, Herkules meiner Träume, die Sache wird interessant.

– Ja… Ich bin überzeugt, daß es Dir besser gehen würde, wenn Du allein wärest…. Ich genire Dich und wenn ich nicht wäre, würdest Du schon die Mittel finden…

– Sage mal, Kap Matifu, fragte Pointe Pescade äußerst bedächtig, Du bist stark?

– Ja.

– Und groß?

– Ja!

– Nun gut, so stark und groß wie Du bist, so dumm bist Du auch; denn anders kann ich mir das, was Du eben gesagt hast, nicht erklären.

– Und warum bin ich dumm, Pointe Pescade?

– Ich soll Dich verlassen, Abgott meines Herzens? Ich frage Dich nur, mit wem wolltest Du jongliren, wenn ich nicht mehr bei Dir wäre?

– Mit wem?

– Wer sollte den gefährlichen Sprung auf Deinen Hinterkopf ausführen?

– Ich sage nicht…

– Oder den großen Luftsprung zwischen Deinen beiden Händen?

– Verdammt, ja…, entfuhr es Kap Matifu, der vor so vielen wichtigen Fragen nicht aus noch ein wußte.

– Vor einem Beifall klatschenden Publicum – wenn zufällig ein Publicum da ist.

– Ein Publicum! murmelte Kap Matifu.

– Also schweige, fing Pescade von Neuem an. Wir wollen jetzt an weiter nichts, als daran denken, wie wir uns unser Abendbrot verdienen können.

– Ich habe keinen Hunger!

– Du hast immer Hunger, Kap Matifu, doch, Du hast immer Hunger, antwortete Pointe Pescade und klappte mit seinen beiden Händen das mächtige Kauwerk desselben auseinander, das den Weisheitszahn ganz gut entbehren konnte, weil auch ohne ihn zweiunddreißig Zähne vorhanden waren. Ich erkenne das an Deinen Augenzähnen, die so lang sind, wie die Hakenzähne einer Bulldogge. Du hast Hunger, sage ich Dir, und wenn wir auch nur einen halben Gulden verdienen, ja selbst nur einen viertel Gulden, so sollst Du zu essen bekommen.

– Aber Du, kleiner Pescade?

– Ich? Ein kleines Hirsekorn ist für mich genug. Ich brauche nicht kräftig zu sein, während Du, mein Sohn… Folge wohl meiner Ansicht. Je mehr Du ißt, je stärker wirst Du! Je stärker Du wirst, ein desto größeres Phänomen bist Du!

– Ich ein Phänomen?… Ja!

– Ich dagegen werde noch magerer, wenn ich wenig esse und je mehr ich abmagere, ein desto größeres Phänomen werde ich ebenfalls. Ist das nicht so?

– Allerdings, antwortete Kap Matifu, der größte Einfaltspinsel der Welt. Ich muß also in meinem eigenen Interesse essen, Pointe Pescade.

– Wie Du es sagst, so ist es, mein dicker Kerl, und in meinem Interesse liegt es, daß ich nicht esse.

– Angenommen also, daß unser Geld nur für Einen reicht…?

– So wird es für Dich verwendet.

– Wenn es aber für Zwei ausreicht?

– Dann wird es ebenfalls für Dich verwendet. Zum Teufel auch, Kap Matifu, Du giltst doch für Zwei.

– Für vier, sechs, zehn!« schrie der Herkules, dem allerdings nicht zehn Männer die Stange gehalten haben würden.

Das schwülstige Uebertreiben ist allen Athleten der alten und der neuen Welt gemeinsam, Kap Matifu nicht ausgenommen. Daß ihm aber bisher Alle, die sich in einen Ringkampf mit ihm eingelassen hatten, unterlagen, war volle Wahrheit.

Man erzählt sich von ihm zwei Züge, die allerdings den besten Beweis seiner beispiellosen Körperstärke liefern können.

Eines Abends in Nimes gab in dem aus Holz errichteten Circusgebäude einer der Balken, welche die Bedachung zusammenhielten, plötzlich nach. Ein Krachen scheuchte die geängstigten Zuschauer auf, die in Gefahr geriethen, durch das Herunterstürzen des Daches zerschmettert oder beim Hinauseilen in den Gängen erdrückt zu werden. Aber Kap Matifu war zur Stelle. Er sprang gegen den aus der festen Lage gekommenen Balken an in dem Augenblicke, als das ganze Gebälk sich bereits zu lösen begann, und er hielt es mit seinen kräftigen Schultern so lange zusammen, bis der Saal sich geleert hatte. Dann rettete er sich durch einen zweiten Sprung ebenfalls nach draußen, während hinter ihm des Dach einstürzte.

Zeigte dieser Vorfall die Kraft seiner Schultern, so gab ein zweiter einen schlagenden Beweis seiner Muskelstärke.

Eines Tages durchbrach in den Ebenen der Camarga ein wild gewordener Stier das Gehege, in welches er eingepfercht war; er verfolgte und verwundete mehrere Menschen und würde ohne die Dazwischenkunft Kap Matifu’s noch größeres Unheil angerichtet haben. Kap Matifu ging dem Thiere entgegen und erwartete es mit fest eingestemmtem Fuße. In demselben Augenblicke, als sich die Bestie mit gesenktem Haupte auf ihn stürzte, ergriff er sie bei den Hörnern, legte sie mit einem Ruck seiner Muskeln auf den Rücken und hielt sie in dieser Lage, mit den vier Hufen nach oben, so lange fest, bis der Zorn des Thieres sich gelegt hatte und es Niemandem mehr schaden konnte.

Noch andere Beispiele dieser übermenschlichen Kraft ließen sich anführen, doch genügen diese, um nicht nur die Stärke Kap Matifu’s darzuthun, sondern auch seinen Muth und seine Opferwilligkeit; denn er zögerte niemals, sein Leben zu wagen, wenn es sich darum handelte, seinen Mitmenschen zu Hilfe zu kommen. Er war ein ebenso gutmüthiges als starkes Geschöpf. Wie Pointe Pescade es mehrfach wiederholt hatte, war es also durchaus nothwendig, daß Kap Matifu aß, um nichts von seinen Kräften einzubüßen; er zwang ihn zu essen und entbehrte lieber selbst, wenn das Geld nur für Einen oder selbst für Zwei reichte. An jenem Abend aber war am Horizont noch kein Schimmer von einer Mahlzeit, nicht einmal für Einen, zu entdecken.

»Wir bekommen Nebel,« wiederholte Pointe Pescade.

Und um ihn zu zerstreuen, begann der muthige Junge mit seinen Redensarten und Gesichtsverrenkungen von Neuem. Er durchmaß das Gerüst, er zappelte sich ab, er zerrte seine Glieder auseinander, ging auf den Händen, wenn es ihm nicht mehr behagte, auf seinen Füßen zu stehen – er hatte nämlich die Beobachtung gemacht, daß der Hunger weniger fühlbar war, wenn der Kopf nach unten hing. Er schrie in halb provençalischer, halb slavischer Sprache jene ewigen Paraderedensarten in die Menge, die überall gang und gäbe sind, wo es einen Clown gibt, welcher sie den Leuten vorplappert und Maulaffen, die sie gern hören.

»Immer herein, herein, meine Herrschaften! schrie Pointe Pescade. Man zahlt erst beim Herausgehen… einen Kreuzer nur die Person!«

Wenn Menschen irgendwo herausgehen sollen, müssen sie naturgemäß zuvor erst hineingegangen sein. Fünf bis sechs Personen blieben wohl vor der bemalten Leinwand stehen, doch Keiner entschloß sich, die kleine Arena zu betreten.

Pescade tippte mit einer schlanken Gerte auf die wilden Thiere, die auf die Leinwand gepinselt waren. Er hätte zwar keine Menagerie den geehrten Herrschaften zu bieten, doch wollte er ihnen nur sagen, daß diese schrecklichen Thiere wahr und wahrhaftig in gewissen Ecken Afrikas und Indiens leben und daß sie, wenn sie Kap Matifu in den Weg kämen, von ihm einfach zu einer Mahlzeit verarbeitet werden würden.

Der Hercules unterbrach mit dem gutmüthigsten Gesicht von der Welt diese Marktschreierei durch gelegentliche Schläge auf die große Pauke, die wie Kanonenschläge durch das Meßgewühl hallten.

»Hier die Hyäne, meine Herrschaften, gebürtig vom Kap der guten Hoffnung, ein gewandtes und blutdürstiges Thier, es überspringt die Kirchhofsmauern und sucht sich die Leichen zum Fraß!«

Dann wies er auf einen anderen Theil der Leinwand, auf dem gelbliches Wasser und blaue Blumen den Hintergrund abgaben.

»Sehen Sie hier das junge und interessante Rhinoceros, fünfzehn Monate alt! Es wurde auf Sumatra erzogen; während der Ueberfahrt hätte es mit seinem furchtbaren Horn das Schiff beinahe zum Sinken gebracht.«

Die Gerte klatschte an eine andere Stelle, wo inmitten eines grünlichen Flecks die Reste von menschlichen Gerippen lagen:



»Immer herein, meine Herrschaften, man zahlt erst beim Herausgehen!« (S. 168.)


»Hier, meine Herrschaften, ist ferner zu sehen der schreckliche Löwe vom Atlas! Er haust im Innern der Sahara, in dem heißen Sande der Wüste. Wenn die Hitze mörderisch wird, zieht er sich in die Höhlen zurück. Wenn er einige Tropfen Wassers findet, stürzt er sich auf sie und geht durchnäßt ab. Deshalb nennt man ihn auch den numidischen Löwen!«

Diese vielen Anstrengungen nützten indessen nichts, Pointe Pescade ereiferte sich ganz unnöthig. Vergebens schlug Kap Matifu bis zur Verzweiflung auf die große Pauke.

Mehrere Dalmatiner, kräftige Bergbewohner, blieben endlich vor dem Riesen Matifu stehen, den sie als Kenner zu betrachten schienen.

Sofort ergriff Pointe Pescade die Gelegenheit, und reizte diese Leute, sich mit Kap zu messen.

»Herein, meine Herren, herein! Die Gelegenheit ist günstig! Ergreifen Sie den Augenblick! Großer Ringkampf unter Männern! Ringkampf mit der flachen Hand! Die Schultern müssen sich berühren! Kap Matifu verpflichtet sich, die Kunstfreunde zu Boden zu werfen, die ihm die Ehre ihres Vertrauens schenken wollen. Ein baumwollenes Ehrenwickelzeug für den Sieger! Ist’s gefällig, meine Herren?« setzte Pointe Pescade hinzu und wandte sich an drei kräftige Burschen, die ihn ganz bestürzt ansahen.

Aber die drei kräftigen Burschen hielten es doch nicht für gerathen, ihre Stärke in diesem Kampfe zu erproben, so ehrenhaft er auch für die Gegner des Riesen war.

Pointe Pescade sah sich daher veranlaßt, zu verkünden, daß wenn Keiner Muth besäße, ein Kampf zwischen ihm selbst und dem Riesen stattfinden würde. Ja wohl! »Die Geschicklichkeit wird sich mit der Kraft messen!«

»Hereinspaziert, meine Herren, nur hereinspaziert, folgen Sie der Gesellschaft, wiederholte fast athemlos der bedauernswerthe Pescade. Sie sehen hier, was Sie noch nie gesehen haben! Pointe Pescade und Kap Matifu im Handgemenge! Die beiden Zwillinge der Provence! Ja ja! die zwei Zwillinge… wenn auch nicht von gleichem Alter und von derselben Mutter!… He? Sehen wir uns nicht ähnlich? Ich namentlich!«

Ein junger Mann war vor dem Schaugerüste stehen geblieben. Er hörte andächtig die abgenutzten Redensarten bis zu Ende an.

Dieser junge, höchstens zweiundzwanzig Jahre alte Mann war über das Mittelmaß groß. Seine, ein wenig von der Arbeit ermüdeten angenehmen Züge, der von einem gewissen Ernste überhauchte Gesichtsausdruck, kündeten eine denkende Natur an, die vielleicht in der Schule der Leiden groß gezogen worden war. Die großen schwarzen Augen, der Vollbart, den er kurz gehalten trug, der Mund, der es wenig gewohnt war, zu lächeln, aber unter dem zierlichen Schnurrbarte sich deutlich abzeichnete, kündeten auf tausend Schritte den Ungar an, in dessen Adern das magyarische Blut vorherrschte. Er war einfach gekleidet, modern, doch ohne das Bestreben, der neuesten Mode gerecht zu werden. Seine Haltung erlaubte keine Täuschung: in diesem Jünglinge war der Mann bereits fertig.

Er lauschte, wie gesagt, dem nutzlosen Geplapper Pointe Pescade’s. Er sah ihn, nicht ohne Betrübniß, sich auf dem Gerüste abmühen. Eigene Leiden hatten ihn zweifellos dahin gebracht, fremdes Elend nicht mitansehen zu können.

»Zwei Franzosen sind es, dachte er bei sich, arme Teufel, die heute noch nichts verdient haben«

Und schnell kam ihm der Gedanke, für sich allein ein Publicum – ein zahlendes Publicum – zu bilden. Es sollte sein Eintrittsgeld schließlich nichts anderes als ein Almosen sein, aber wenigstens ein verkapptes, und wahrscheinlich kam es sehr gelegen. Er wendete sich der Thüre zu, das heißt, dem Stückchen Leinwand, das man aufheben mußte, um zu dem kleinen Circus zu gelangen.

»Treten Sie näher, mein Herr, rief Pointe Pescade, die Vorstellung beginnt sofort!

– Ich sehe, ich bin allein, bemerkte der junge Mann im wohlwollendsten Tone.

– Mein Herr, erwiderte Pointe Pescade mit prahlerischem Stolze, wahre Künstler sehen auf die Qualität, nicht auf die Quantität ihres Publicums.

– Sie erlauben also…«, meinte der junge Mann und zog seine Börse.

Er nahm zwei Gulden heraus und legte sie auf den Zinnteller, der in einer Ecke des Gerüstes stand.

»Edles Herz!« sagte Pointe Pescade bei sich.

Dann, sich gegen seinen Genossen wendend rief er diesem zu:

»Auf die Mensur, Kap Matifu, auf die Mensur! Der Herr soll für sein Geld etwas zu sehen bekommen!«

Gerade als der einzige Besucher der französischen und provençalischen Arena eintreten sollte, sah man ihn hastig forteilen. Er hatte soeben jenes junge Mädchen mit seinem Vater bemerkt, das eine Viertelstunde vorher vor dem Guzlaspieler gestanden hatte. Dieser junge Mann und dieses junge Mädchen waren sich in demselben Gedanken der Barmherzigkeit begegnet. Die Eine hatte dem Zigeuner ein Almosen gegeben, der Andere ließ ein solches den Akrobaten zu Theil werden.

Diese heimliche Uebereinstimmung genügte aber augenscheinlich dem jungen Manne nicht, der, sobald er das Fräulein bemerkt hatte, seine Eigenschaft als Zuschauer und den Preis, den er für seinen Platz erlegt, ganz vergaß und sich schnell der Richtung zuwandte, in welcher sich Jene in der Menge verloren hatte.

»He! Mein Herr!… Mein Herr! rief Pointe Pescade ihm nach. Ihr Geld! Wir haben es uns noch nicht verdient, zum Teufel auch!… Wohin ist er?… Verschwunden?… He! Mein Herr!«

Er suchte vergebens sein »Publicum«. Es war ihm ausgekniffen. Dann blickte er Kap Matifu an, der, nicht weniger betroffen als er selbst, mit offenem Munde dastand.

»Gerade, als wir beginnen wollten! sagte endlich der Riese. Kein Glück!

– Beginnen wir trotzdem!« erwiderte Pointe Pescade und stieg die kleine Treppe hinunter, die zur Arena führte.

Auf diese Weise, indem sie vor den leeren Bänken spielten – die, nebenbei bemerkt, nicht vorhanden waren – verdienten sie sich wenigstens ihr Geld.

Gerade jetzt erhob sich auf den Quais des Hafens ein wüster Lärm. Die Menge schien nach einer sehr ausgesprochenen Richtung hin zu drängen, nach derjenigen, welche dem Meere zuführte, und von mehreren hundert Stimmen wurde der Ruf laut:

»Der Trabocolo!… Der Trabocolo!«

Der Augenblick war gekommen, in welchem das kleine Fahrzeug vom Stapel gelassen werden sollte. Dieses anziehende Schauspiel war ganz dazu angethan, die Neugier des Publicums zu erregen. Der Platz und die Quais, welche die Menge vorher angefüllt hatte, waren bald verlassen und Alles strömte der Werft zu, auf welcher der Stapellauf vor sich gehen sollte.

Pointe Pescade und Kap Matifu sahen ein, daß für den Augenblick gewiß auf keine Zuschauer zu rechnen war. Auch begierig, des einzigen Menschen wieder habhaft zu werden, der beinahe ihre Arena betreten hatte, verließen sie dieselbe, ohne sich erst die Mühe zu geben, den Eingang zu verschließen. Wogegen hätten sie ihn auch verschließen sollen? Sie gingen ebenfalls der Schiffswerft zu.

Diese befand sich außerhalb des Hafens von Gravosa, auf der äußersten Spitze einer Landzunge und einem abschüssigen Terrain, das die Brandung mit einem leichten Schaume bedeckte.

Pointe Pescade und Kap Matifu gelangten unter Anwendung ihrer Ellbogen bis in die vorderste Reihe der Neugierigen. Selbst an ihren Benefizabenden hatten sie keinen solchen Andrang vor ihrem Schaugerüste erlebt, wie hier. O, über diese Talmikunst!

Der Trabocolo, von den Stützen, die seine Seitenwände aufrecht hielten, bereits befreit, stand zum Auslaufen fertig Der Anker hing bereit an Ort und Stelle; er brauchte nur herniedergelassen zu werden, sobald sich der Kiel im Wasser befand, um dessen Lauf zu hemmen, der ihn sonst zu weit in die Fahrbahn hinausgeführt haben würde. Obgleich der Trabocolo nur auf fünfzig Tonnengehalt geaicht war, bildete er doch eine ziemlich ansehnliche Masse, zu deren Schutze alle Vorsichtsmaßregeln sorgfältig getroffen worden waren. Zwei Werftarbeiter waren auf dem Hinterdeck postirt, dicht neben dem Hinterdecksmast, an welchem die dalmatinische Flagge wehte, und zwei andere standen auf dem Bug zum Werfen des Ankers bereit.

Der Trabocolo wurde, wie üblich bei solchen Vorgängen, mit dem hinteren Theile nach vorne gewendet vom Stapel gelassen. Sein auf dem eingeseiften Gerippe ruhender Kiel wurde nur noch durch den Hemmschuh gehalten. Um das Gleiten hervorzurufen, war es nur nöthig, diesen Hemmschuh zu entfernen; die einmal in Bewegung gesetzte Masse vermehrte ihre Schnelligkeit durch das Gesetz der Schwere und das Schiff strebte von selbst seinem natürlichen Elemente zu.

Ein halbes Dutzend mit eisernen Schlägeln ausgerüsteter Zimmerleute klopften noch an den vorher bereits unter den Kiel geschobenen Klötzen umher, um diesen etwas zu heben und dadurch die Bewegung genauer zu fixiren, welche den Trabocolo in das Meer führen sollte.

Jeder folgte dieser Verrichtung mit dem lebhaftesten Interesse, während ein allgemeines Schweigen sich über die Menge lagerte.

In diesem Augenblicke erschien an der Krümmung des Vorgebirges, welches nach Süden hin den Hafen von Gravosa schützt, eine Vergnügungsyacht. Es war ein Schooner von ungefähr dreihundertfünfzig Tonnengehalt. Er versuchte durch Laviren an dem Vorsprunge vorüber zu kommen, auf dem sich die Schiffswerft befand, um glatt in den Hafen einlaufen zu können. Da die Brise aus Nordwest wehte, so kniff er mit den Halsen auf Backbord den Wind, so daß er sich von diesem nur treiben zu lassen brauchte, um seinen Ankerplatz zu erreichen. In weniger als zehn Minuten mußte der Schooner bereits die Segel streichen, und er vergrößerte sich vor den Blicken in der That so schnell, als beobachtete man ihn mittelst eines Fernglases, dessen Tubus man durch fortgesetztes Drehen verlängerte.

Um genau in die Hafeneinfahrt einzulaufen, mußte das Fahrzeug dicht vor der Werft vorüber, auf welcher der Stapellauf des Trabocolo vorbereitet wurde. Sobald der Schooner signalisirt worden war, war es daher für angezeigt erachtet worden, den Stapellauf noch aufzuschieben. Derselbe sollte erfolgen, sobald die Yacht das Fahrwasser des Trabocolo durchmessen haben würde. Ein Zusammenstoß zwischen den beiden Schiffen, von denen das eine mit dem Hintertheile anrennen mußte, während das andere sich in voller Fahrt befand, hätte ganz gewiß eine bedenkliche Katastrophe an Bord der Yacht zu Wege gebracht.

Die Arbeiter hörten auf, die Balken mit den Schlägeln zu bearbeiten und der mit der Wegräumung des Hemmschuhes beauftragte Mann erhielt den Befehl, zu warten. Es konnte sich nur um Minuten handeln.

Die Yacht näherte sich zusehends. Man konnte beobachten, daß sie bereits die Vorbereitungen zum Ankerwerfen traf. Ihre beiden Langbäume wurden schon abgeführt und man zog die Tauecke des großen Segels an, während zu gleicher Zeit das Focksegel aufgegeit wurde. Sie lief in Folge der erlangten Geschwindigkeit indessen noch eine ziemlich schnelle Fahrt unter dem Vorstag und dem zweiten Focksegel.

Aller Blicke richteten sich auf das graziöse Fahrzeug, dessen weiße Segel unter den schrägen Strahlen der Sonne wie vergoldet erschienen. Seine Matrosen in der Tracht der Levante, den rothen Fez auf dem Kopfe, manövrirten, während der Kapitän auf seinem Posten hinten neben dem Steuermanne seine Befehle mit ruhiger Stimme ertheilte.

Der Schooner, der nur noch so viel Tuch führte, als nöthig war, die letzte Landzunge vor dem Hafen zu umsegeln, befand sich gerade vor der Schiffswerft.

Plötzlich ein allgemeiner Schrei des Entsetzens. Der Trabocolo ist in Bewegung. Aus irgend einer unbedeutenden Ursache hatte der Hemmschuh nachgegeben und das Schiff setzt sich genau in dem Augenblicke in Bewegung, als die Yacht ihm ihre Steuerbordseite zuwendet.

Der Zusammenstoß zwischen den beiden Fahrzeugen war unvermeidlich. Zeit und Mittel fehlten, um ihn zu verhindern; kein Manöver konnte hier verfangen. Den Schreckensrufen der Zuschauer hatte ein furchtbarer Schrei seitens der Mannschaft der Yacht geantwortet.

Der Kapitän, der seine Kaltblütigkeit bewahrte, hatte inzwischen das Steuer herumwerfen lassen, aber es war trotzdem ganz unmöglich, daß sein Schiff noch schnell genug auswich oder in die Fahrbahn des Trabocolo einlenkte, um so dem Stoße zu entgehen.

Der Trabocolo glitt das Gestell entlang. Ein durch die Reibung erzeugter weißer Rauch quoll unter dem Schnabel hervor, während sein Hintertheil bereits in die Fluthen des Golfes tauchte.

Plötzlich springt ein Mann nach vorn. Er ergreift ein Tau, das auf der einen Seite des Schiffes herunterhängt. Doch vergebens stemmt er sich gegen den Boden und zieht das Seil an, selbst auf die Gefahr hin, mitgerissen zu werden: er bringt das Schiff nicht zum Stehen. Zum Glück befindet sich an derselben Stelle ein altes, in die Erde getriebenes Kanonenrohr, das als Anlegeblock dient. Das Seil ist im Augenblicke herumgeschlungen und wickelt sich nun ganz langsam ab, während der Mann es trotz der ihm drohenden Gefahr, ergriffen und zermalmt zu werden, zurückhält und fast zehn Secunden hindurch mit übermenschlicher Kraft Widerstand leistet.

Das Tau reißt. Aber diese zehn Secunden haben genügt. Der Trabocolo ist in die Wellen des Golfes hinabgetaucht und wie beim Stampfen auf hoher See wieder hinaufgeschossen. Er ist kaum einen Fuß hinter der Yacht vorüber in seine Wasserbahn hineingesaust und fliegt vorwärts, bis der Boden fassende Anker durch die Spannung der Kette ihn zum Stillstand bringt.

Der Schooner war gerettet.

Dieser Mann, dem keiner zu Hilfe kommen konnte, weil der ganze Vorgang sich so unerwartet und blitzschnell abspielte, war Kap Matifu.

»Gut, sehr gut!« schrie Pointe Pescade; er lief dem Kameraden nach, der ihn in seine Arme schloß, nicht um mit ihm zu jongliren, sondern um ihn zu umarmen, wie er zu umarmen pflegte, daß man nämlich ersticken konnte.

Und dann brach das Beifallrufen auf allen Seiten hervor. Die ganze große Menge drängte an den Hercules heran, der nicht minder bescheiden als der berühmte Verrichter der zwölf Arbeiten der Sage war und die Begeisterung des Volkes nicht recht begriff.

Fünf Minuten später hatte die Yacht im Hafen Anker geworfen; ein eleganter Sechsriemer brachte den Besitzer derselben an das Land.

Er war ein hochgewachsener, fünfzig Jahre alter Mann mit fast weißen Haaren und einem ins Graue



Das Seil wickelt sich langsam ab. (S. 175.)


spielenden, auf orientalische Weise zugeschnittenen Barte. Fragende, große dunkle Augen von einer eigenthümlichen Beweglichkeit belebten sein sonnverbranntes Gesicht, dessen Züge regelmäßig und noch schön zu nennen waren. Was aber von Anfang an auffiel, war der Adel, ja selbst eine Erhabenheit, die seine ganze Erscheinung ausströmte. Seine seemännische Kleidung, in dunkelrothes Beinkleid, eine gleichfarbige Jacke mit gelben Knöpfen, ein schwarzer Gürtel,



Der Fremde streckte dem Athleten die Hand hin. (S. 178.)


der unter der Jacke die Blouse zusammenhielt, sein leichter Hut aus braunem Segeltuch – Alles stand ihm gut und ließ einen kräftigen, herrlich gebauten Körper ahnen, dem das Alter noch nichts anhaben konnte.

Sobald diese Persönlichkeit, in welcher man sogleich einen energischen und vielvermögenden Mann vermuthete, den Fuß auf das Land gesetzt hatte, ging sie auf die beiden Akrobaten zu, welche die Menge umringte und bejubelte.

Man machte dem Fremden ehrerbietig Platz.

Als er vor Kap Matifu angekommen war, zog er nicht etwa gleich die Börse, um ihr eine reichliche Belohnung zu entnehmen. Er streckte dem Athleten die Hand hin und sagte zu ihm auf italienisch:

»Dank, mein Freund, für das, was Ihr gethan habt!«

Kap Matifu schämte sich fast dieser Ehre, die ihm nach seiner Meinung für die verrichtete Kleinigkeit gar nicht zukam.

»Ja, es war schön, es war herrlich, Kap Matifu, fing Pointe Pescade mit dem ganzen Wortschwall provençalischer Beredtsamkeit von Neuem an.

– Ihr seid Franzosen? fragte der Fremde.

– Mehr als das! brüstete sich Pointe Pescade. Wir sind Franzosen aus dem Süden Frankreichs.«

Der Fremde betrachtete sie mit augenscheinlicher Rührung. Ihr Elend stand ihnen zu offenkundig auf der Stirn geschrieben, als daß man sich darüber täuschen konnte. Er hatte sicherlich zwei arme Artisten vor sich, von denen Einer ihm mit Gefahr seines Lebens soeben einen großen Dienst geleistet hatte, denn ein Zusammenstoß der Yacht mit dem Trabocolo hätte unter Umständen zahlreiche Opfer gefordert.

»Besucht mich an Bord! sagte er zu ihnen.

– Und wann, mein Fürst? fragte Pointe Pescade und producirte seine schönste Begrüßung.

– Morgen Mittag um ein Uhr.

– In der ersten Stunde also,« antwortete Pointe Pescade, während Kap Matifu durch einmaliges Nicken mit dem Kopfe sein stummes Einverständniß gab.

Die Menge hatte sich während dieser Unterhaltung von dem Helden dieses Ereignisses nicht entfernt. Sie hätte ihn sicher im Triumphe davongetragen, wenn sein Gewicht nicht die Entschlossensten und Kräftigsten unter ihr zurückgeschreckt hätte.

Pointe Pescade, stets auf dem Posten, glaubte die günstige Stimmung eines so zahlreichen Publicums ausnützen zu müssen. Nachdem der Fremde sich mit einer freundschaftlichen Handbewegung nach dem Quai hin entfernt hatte, schrie er mit seiner spitzen Ausruferstimme:

»Der Kampf zwischen Kap Matifu und Pointe Pescade, meine Herrschaften! Nur näher meine Herren, nur näher! Man zahlt erst nach Schluß der Vorstellung… oder, wenn man will, auch vorher!«

Dieses Mal wurde seine Aufforderung von einem so zahlreichen Publicum befolgt, wie er es wahrscheinlich noch nie zuvor erlebt hatte.

Der Raum um die Arena war zu klein! Man mußte Zuschauer abweisen! Man zahlte sogar das Geld zurück!

Der Fremde sah sich nach einigen in der Richtung nach dem Quai zurückgelegten Schritten dem jungen Mädchen und deren Vater gegenüber, die Zeugen des ganzen Vorganges gewesen waren.

Der junge Mann, der ihnen gefolgt war, hielt sich in einiger Entfernung; der alte Herr hatte seinen Gruß sehr von oben herab erwidert, was der Fremde wohl bemerkte.

Dieser konnte, als er jenen ältlichen Mann sah, eine Bewegung nicht unterdrücken. Seine ganze Gestalt schien vor etwas zurückzubeben, während es aus seinen Augen wie ein Blitz zuckte.

Inzwischen war der Vater des jungen Mädchens an ihn herangetreten und sagte zu ihm:

»Sie sind, Dank dem Muthe dieses Akrobaten, einer sehr großen Gefahr entgangen, mein Herr?

– Allerdings, mein Herr,« antwortete der Fremde, dessen Stimme, zufällig oder nicht, von einer unbesiegbaren Bewegung erzitterte.

Dann sich an den Fragesteller wendend, sagte er:

»Darf ich wissen, mein Herr, mit wem ich augenblicklich die Ehre habe zu sprechen?

– Silas Toronthal aus Ragusa, antwortete der ehemalige Banquier von Triest. Und darf ich meinerseits erfahren, wer der Besitzer jener Vergnügungsyacht ist?

– Doctor Antekirtt,« erwiderte der Fremde.

Dann trennten sich die beiden Herren mit einem förmlichen Gruße, während Hochrufe und Beifallklatschen aus der Arena der französischen Akrobaten herüber schallten.

An diesem Abende aß Kap Matifu nicht nur für sein Theil, das heißt für Vier, es blieb noch für mehr als für Einen etwas übrig. Und damit war ein tapferer Genosse Pointe Pescade sehr zufrieden.

Drittes Capitel. Der Doctor Antekirtt.

Es gibt Leute, deren Ruf die geschwätzige, tausendmündige Fama nicht genug nach allen Richtungen der Windrose ausposaunen kann.

Das war auch der Fall mit dem berühmten Doctor Antekirtt, der soeben im Hafen von Gravosa angelangt war. Seine Ankunft war von einem Vorfalle begleitet gewesen, der auch auf den gewöhnlichsten Reisenden die allgemeine Aufmerksamkeit gelenkt haben würde. Er gehörte nichts weniger als zu den gewöhnlichen Reisenden.

Seit einigen Jahren hatte sich um diesen Doctor Antekirtt in den sagenreichen Ländern des fernen Orients ein wahrer Kranz von Märchen gewunden. In Asien von den Dardanellen bis zum Canal von Suez, in Afrika, von Suez bis an die Grenzen von Tunis, am Rothen Meere, auf arabischem Gebiete wurde sein Name unablässig wiederholt als derjenige eines Mannes, der außergewöhnlich in den Naturwissenschaften bewandert war, als derjenige eines Gnostikers, eines Taleb, dem die geheimsten Regungen des Weltalls bekannt sind. Zu biblischen Zeiten würde man ihn Epiphanes genannt haben. Im Lande des Euphrat würde man ihn als Nachkommen der alten Magier verehrt haben.

Was war an seinem Rufe übertrieben? Alles das, was aus einem alten Magier einen Zauberkünstler machte, Alles, was ihm ein übernatürliches Können zuschrieb. Doctor Antekirtt war nur ein gewöhnlicher Mann wie jeder andere, allerdings ein sehr gebildeter Mann von geradem und kräftigem Geist, mit einem sicheren Urtheil, einer äußerst genauen Denkweise, einem wunderbaren Scharfblick; allen diesen seltenen Eigenschaften waren merkwürdiger Weise auch günstige Umstände stets zu Hilfe gekommen. So hatte er einmal in einer der inneren Provinzen Kleinasiens die gesammte Bevölkerung vor einer bis dahin für ansteckend gehaltenen Krankheit durch ein von ihm erfundenes Radicalmittel bewahrt. Natürlich wurde sein Ruf in Folge des Gelingens dieser Cur ein unerschütterlicher.

Was seine Berühmtheit vor allen Dingen vermehrte, war das Geheimniß, welches seine Person umgab. Woher war er gekommen? Kein Mensch wußte es. Welche Vergangenheit lag hinter ihm? Man wußte hierüber eben so wenig. Niemand konnte sagen, wo und in welchen Verhältnissen er früher gelebt hatte. Man bestätigte lediglich, daß dieser Doctor Antekirtt von der Bevölkerung Kleinasiens und des orientalischen Afrikas geradezu angebetet wurde, daß er dort für einen außerordentlichen Arzt galt, daß das Gerücht von seinen Wundercuren auch bis in die bedeutendsten wissenschaftlichen Kreise Europas gedrungen war und daß er seine Sorgfalt den ärmsten Leuten genau so wie den Reichen und den Paschas dieser Provinzen angedeihen ließ. In den Abendländern dagegen hatte man ihn niemals zu Gesicht bekommen, man kannte sogar seit einigen Jahren nicht einmal seinen eigentlichen Wohnsitz. Daher stammte dieses Bestreben, ihn zu einem geheimnißvollen Weisen aus Hindugeblüt, zu einem übernatürlichen Wesen, das sich übernatürlicher Mittel bediente, zu stempeln.

Wenn auch Doctor Antekirtt seine Kunst selbst bisher noch nicht in den größeren Städten Europas erprobt hatte, das Gerücht von derselben war auch schon bis dahin ihm vorausgedrungen. Obwohl er in Ragusa nur als ein einfacher Reisender – als ein reicher Tourist, der auf seiner Yacht die verschiedenen Punkte des Mittelländischen Meeres zu seinem Vergnügen besucht – angekommen war, so befand sich trotzdem bald sein Name in Aller Mund. In der Erwartung, den Doctor selbst zu Gesicht zu bekommen, zog der Schooner unablässig die Blicke auf sich. Der durch den Muth Kap Matifu’s glücklich vermiedene Unfall that das seinige, die allgemeine Neugierde noch zu vermehren.

Diese Yacht hätte in der That auch dem reichsten, prunkliebendsten Gentleman des Wassersports in Amerika, England und Frankreich Ehre gemacht. Ihre zwei kerzengeraden, nahe dem Mittelpunkte des Schiffes errichteten Maste – wodurch eine bedeutende Entfaltung des Vorstag-und Großsegels ermöglicht wurde – die Länge des Bugspriets, das mit zwei Focks angetakelt war, die Kreuzung der viereckigen Segel, welche sie am Fockmast trug, der kühne Schwung ihres Schnabels, die gesammte Auftakelung überhaupt mußte ihr in jedem Wetter eine wunderbare Schnelligkeit verleihen. Der Schooner faßte dreihundertfünfzig Tonnen. Lang und schlank, mit viel Fall-und Ueberschießen und doch breiten Querbalken, mit hinreichendem Tiefgange versehen, so daß ein Kentern nicht zu fürchten war, war der Schooner das, was man ein seetüchtiges Fahrzeug nennt; er gehorchte leicht der Hand des Steuermannes und konnte den Wind zu vier Vierteln klemmen. Bei Backstagswind und kräftiger Brise hinderte ihn nichts, mit Leichtigkeit seine dreizehn und einen halben Knoten in der Stunde zurückzulegen. Die »Boadicäas«, »Gaetanas« und »Mordons« der Vereinigten Staaten würden ihm in einem internationalen Match kaum Stange gehalten haben.

Die Sauberkeit und Schönheit im Aeußeren wie im Inneren der Yacht konnte sich selbst der peinlich eigenste Seemann nicht besser wünschen. Das Deck aus kanadischem Sandelholze schimmerte in blendender Weiße und zeigte keinen einzigen Ast, die inneren, sein abgehobelten Wände, die Kapotten und Luken waren aus Teakholz hergestellt, die kupfernen Beschläge funkelten wie Gold; die ausgelegte Arbeit am Steuerrade, die Anordnung der Maste unter ihren blitzend weißen Ueberzügen, das Zierliche der Klüsen, die Hißtaue, die Hängeschoten und das laufende Takelwerk, dessen Farbe im Ton ausgezeichnet harmonirte mit dem galvanisirten Eisen der Stags, die Wandtaue und Pardunen, der Schnitt der gefirnißten Aushilfsboote, welche graziös in ihren Ständern hingen, das glänzende Schwarz des ganzen Rumpfes, unterbrochen von einem einfachen goldenen Bande, das vom Vordersteven zum Hintertheil führte, das Maßvolle in den Zierrathen hierselbst – alles das an dem Fahrzeuge bewies einen ausgesuchten Geschmack und äußerste Eleganz.

Es ist durchaus nothwendig, daß wir die Yacht, wie von außen, auch von innen kennen lernen, denn sie bildete die schwimmende Behausung jener mysteriösen Persönlichkeit, welche der Held dieser Geschichte werden soll. Der Besuch der Yacht stand keineswegs frei. Der Erzähler aber besitzt bekanntlich die Gabe des zweiten Gesichtes, die ihm sogar das zu beschreiben erlaubt, was er nie mit seinen leiblichen Augen erschaut hat.

Der Luxus wetteiferte mit dem Comfort im Innern des Schiffes. Die Salons und Cabinen, der Speisesaal waren mit Malereien und kostbaren Decorationen geschmückt. Die Tapeten, Teppiche, Alles, was zu einer Ausstattung gehört, war genial den Erfordernissen einer Vergnügungsyacht angepaßt. Dieses so ausgezeichnet durchgeführte System der Verschmelzung des Nützlichen mit dem Angenehmen fand sich nicht nur in den Zimmern des Kapitäns und der Officiere vor, sondern auch in der Wirthschaftscabine, wo das silberne und Porzellangeschirr gegen das Stampfen und Rollen des Schiffes gesichert war, in der Küche, in welcher eine holländische Sauberkeit herrschte, und in dem Raume, wo die Hängematten der Mannschaft nach Gefallen hin und her schaukelten. Die Bemannung, aus zwanzig Köpfen bestehend, trug die kleidsame Tracht der Malteser Seeleute, kurzes Beinkleid, Wasserstiefel, gestreiftes Hemd, braunen Gurt, rothen Fez und Matrosenkittel, auf dem mit weißen Buchstaben die Namen der Yacht und ihres Eigenthümers eingenäht waren.

Doch in welchen Hafen mochte diese Yacht wohl gehören? In welcher Schiffsliste wurde sie angeführt? In welchem an das Mittelmeer grenzenden Lande pflegte sie ihr Winterquartier zu nehmen? Welches war ihre Nationalität? Man wußte hierauf eben so wenig eine Antwort, wie auf die Frage nach der Persönlichkeit des Doctors selbst. Eine grüne Flagge mit einem rothen Kreuz an der inneren Kante, welches fast die ganze Höhe des Tuches selbst erreichte, flatterte an der Gabel. Man hätte diese Zusammenstellung vergeblich in der endlosen Reihe der Flaggen gesucht, die man auf allen Meeren der Welt findet.

Die Schiffspapiere waren jedenfalls, bevor noch der Doctor Antekirtt das Land betreten hatte, dem Hafenofficier eingehändigt worden und dieser mußte sie wohl in Ordnung befunden haben, da man nach dem Besuche der Sanitätsbehörde die Besatzung ungehindert schalten und walten ließ.

Der Name des Schiffes stand mit kleinen goldenen Buchstaben ohne Angabe des heimatlichen Hafens auf dem Spiegel der Yacht verzeichnet; sie hieß die »Savarena«.

So beschaffen war das Lustfahrzeug, das augenblicklich im Hafen von Gravosa Bewunderung erregte. Pointe Pescade und Kap Matifu, welche am nächsten Tage von Doctor Antekirtt an Bord desselben erwartet wurden, betrachteten es mit eben so viel Neugierde, aber mit etwas größerer Erregung als die Seeleute des Hafens. In ihrer Eigenschaft als Eingeborene des Küstenstriches der Provence besaßen sie, namentlich Pointe Pescade, einen verständnißinnigen Blick für die bewundernswerthe Bauart des Fahrzeuges. Dieses müßige Gassen bildete ihre Beschäftigung noch an demselben Abende.



Pescade und Matifu betrachteten das Schiff mit Neugierde. (S. 183.)


»Ah! machte Kap Matifu.

– Oh! sagte Pointe Pescade.

– He, Pointe Pescade!

– Ich sage ganz dasselbe, Kap Matifu.«

Diese kurzen Ausrufe der Bewunderung besagten in dem Munde dieser beiden armen Akrobaten mehr als lange Reden von den Lippen Anderer.

Die Manöver an Bord der »Savarena«, welche dem Ankerwerfen gefolgt, waren jetzt bereits beendigt; die Segel ruhten gerefft auf ihren Raaen, das Takelwerk hing sorgfältig geordnet an Ort und Stelle, das Zeltdach war zusammengeschoben. Der Schooner zeigte sich in einer Ecke des Hafens verankert, was auf die Absicht eines längeren Aufenthaltes schließen ließ.

Doctor Antekirtt begnügte sich an diesem Abende mit einem Umherschlendern in der Umgebung von Gravosa. Während Silas Toronthal und seine Tochter in ihrem Wagen, der sie auf dem Quai erwartete, nach Ragusa zurückkehrten, während der uns bekannte junge Mann, ohne das Ende der Messe abzuwarten, zu Fuß durch die lange Allee heimkehrte, suchte Doctor Antekirtt in der Nähe des Hafens seiner Bewegung Herr zu werden.

Der Hafen ist einer der besten längs der ganzen Küste und man findet in ihm stets eine ganze Menge Fahrzeuge der verschiedensten Nationalitäten versammelt. Der Doctor ging, nachdem er die Stadt selbst verlassen, an dem Ufer des Golfs von Ombra Fiumera entlang, der sich in einer Länge von zwölf Meilen bis zur Mündung der kleinen Ombra erstreckt, deren Bett tief genug ist, um selbst Schiffe mit starkem Wassergange fast bis an den Fuß des Vlastiza-Gebirgsstockes gelangen zu lassen. Gegen neun Uhr Abends traf



Das Boot legte an Steuerbord an. (S. 188.)


er wieder auf den Molen ein und wohnte der Ankunft des großen Packetdampfers des Lloyd bei, der aus Indien kam; er ließ sich dann wieder an Bord bringen, stieg in sein Zimmer hinunter, das von zwei Lampen erhellt war und blieb dort bis zum frühen Morgen.

Das war so seine Gewohnheit und der Kapitän der »Savarena« – ein Mann in den vierziger Jahren, Namens Narsos – hatte den Befehl erhalten, den Doctor während dieser Stunden einsamer Arbeit niemals zu stören.

Mehr als die große Menge wußten auch die Officiere und die Mannschaft des Schiffes nicht von der Persönlichkeit des Doctors. Nichtsdestoweniger waren sie ihm mit Leib und Seele ergeben. Doctor Antekirtt litt nicht die geringste Störung der Disciplin an Bord, dafür war er auch gütig gegen Alle und sorgte für Alle und schenkte, ohne das Geld anzusehen. Es gab schwerlich einen Matrosen, der nicht gewünscht hätte, seinen Namen in der Liste der »Savarena« zu erblicken. Niemals war ein Verweis zu ertheilen, niemals eine Strafe zu verhängen, nie war eine Ausstoßung von Nöthen. Die Mannschaft des Schooners bildete eine große Familie.

Nach der Heimkehr des Doctors wurden alle Maßregeln für die Nacht getroffen. Die Laternen wurden am Vorder-und Hintertheil des Schiffes aufgehißt, die Wache zog auf, vollkommenes Schweigen herrschte.

Doctor Antekirtt hatte auf einem Divan Platz genommen, der eine Ecke seines Zimmers ausfüllte. Auf einem Tische lagen mehrere Zeitungen, welche sein Diener für ihn in Gravosa gekauft hatte. Der Doctor durchlas sie flüchtig; er überging die großen Artikel und verweilte lieber bei den Tagesneuigkeiten, den Schiffsberichten und den Mittheilungen aus dem gesellschaftlichen Leben der höheren Kreise. Dann warf er die Zeitungen bei Seite. Eine schlaftrunkene Betäubung überfiel ihn. Gegen elf Uhr entkleidete er sich ohne Hilfe des Dieners und legte sich schlafen; es währte indessen noch eine geraume Zeit, bis er entschlummert war.

Wenn man im Stande gewesen wäre, den Gedanken zu lesen, der ihn vornehmlich beschäftigte, so würde man vielleicht erstaunt gewesen sein über seinen Inhalt, welcher lautete:

»Wer mag wohl jener junge Mann gewesen sein, der Silas Toronthal auf dem Quai von Gravosa grüßte?«

Am folgenden Morgen gegen acht Uhr kam Doctor Antekirtt auf Deck. Der Tag versprach sehr schön zu werden. Die Sonne bestrahlte bereits die Gipfel der Berge, welche das Panorama im Hintergrunde des Golfes abschließen.

Die Schatten begannen vom Hafen zu schwinden und flüchteten über die Wogen. Die »Savarena« lag alsbald im vollen Sonnenscheine da.

Kapitän Narsos näherte sich dem Doctor, um seine Befehle entgegen zu nehmen, die dieser ihm nach erfolgter und freundlich erwiderter Begrüßung mit einigen Worten ertheilte.

Später ging ein mit vier Mann und einem Steuermann besetztes Boot vom Schiffe ab und legte am Quai an, um Pointe Pescade und Kap Matifu, wie verabredet, zu erwarten.

Ein bedeutsamer, feierlicher Tag im Nomadenleben dieser ehrlichen Jungens, die so weit von ihrem Lande, ihrer Provence verschlagen waren, nach der sie Heimweh empfanden.

Beide warteten bereits am Ufer. Sie hatten ihren Berufsputz abgelegt und gebrauchte, doch sauber aussehende Kleidungsstücke angezogen. Sie bewunderten die Yacht wie am vergangenen Tage. Kap Matifu und Pointe Pescade hatten nicht nur Tags vorher zu Abend gegessen, sondern auch an diesem Morgen bereits gefrühstückt. Ein fürchterlicher Leichtsinn, dessen Erklärung die Höhe der Einnahme, zweiundvierzig Gulden, abgab.

Sie hatten sich indessen wohl gehütet, diese ganze Summe zu verprassen. Pointe Pescade war klug und vorsichtig; auf fernere zehn Tage mindestens war ihr Leben gefristet.

»Jedenfalls haben wir Dir Alles zu verdanken, Kap Matifu.

– O Pescade!

– Ja, Dir, meinem großen Manne!

– Schön, schön, da Du es haben willst,« erwiderte der Riese.

Das Boot von der »Savarena« legte am Ufer an. Der Steuermann erhob sich, legte die Hand an die Mütze und sagte, daß er zur Verfügung der »Herren« stände.

»Der Herren? rief Pointe Pescade. Welcher Herren?

– Von Ihnen selbst. Herr Doctor Antekirtt erwartet die Herren an Bord.

– Gut. Jetzt sind wir also schon Herren,« sagte Pointe Pescade.

Kap Matifu riß seine großen Augen noch weiter auf und drehte seinen Hut mit verlegener Miene in der Hand.

»Wenn es gefällig ist, meine Herren? sagte der Steuermann.

– Jawohl, jawohl!« erwiderte Pointe Pescade mit herablassender Handbewegung.

Einen Augenblick später saßen Beide auf der schwarzen, roth eingefaßten Decke, welche über die Sitzbank ausgebreitet war, während der Steuermann hinter ihnen Platz nahm.

Unter dem Gewichte des Hercules lag der Rand des Bootes höchstens vier bis fünf Zoll über der Wasserlinie; die Enden der Decke mußten in das Boot hineingenommen werden, damit sie nicht in das Wasser tauchten. Der Steuermann gab mit der Pfeife das Zeichen zur Abfahrt und die vier Riemen senkten sich gleichzeitig in das Wasser. Das Boot schoß auf die »Savarena« zu.

Die beiden armen Teufel fühlten sich seltsam bewegt, wenn nicht gar beklommen. Zwei Akrobaten wurde so viel Ehre erwiesen! Kap Matifu wagte sich nicht zu rühren. Pointe Pescade konnte trotz seiner Verwirrung ein gutmüthiges Lächeln nicht unterdrücken, das sein seines und intelligentes Gesicht belebte.

Das Boot fuhr um das Schiffshintertheil herum, und legte an Steuerbord an – der Ehrenseite.

Auf der Strickleiter, deren Sprossen sich unter Kap Matifu bogen, kletterten die beiden Freunde auf das Deck empor; sie wurden sogleich vor Doctor Antekirtt geführt, der sie auf dem Hinterdeck erwartete.

Nach einer freundlichen Bewillkommnung und einigen Förmlichkeiten hatten sich endlich Kap Matifu und Pointe Pescade auf zwei Stühle niedergelassen.

Der Doctor betrachtete sie einige Minuten schweigend. Sein kühl blickendes und schönes Gesicht machte auf sie Eindruck. Schwebte auch kein Lächeln auf seinen Lippen, so doch in seinem Herzen; man konnte sich darin nicht täuschen.

»Meine Freunde, sagte er nach längerer Pause, Ihr habt gestern meine Mannschaft und mich vor einer großen Gefahr behütet. Ich wollte Euch noch einmal hierfür meinen Dank abstatten und habe Euch deshalb zu mir kommen lassen.

– Herr Doctor, antwortete Pointe Pescade, der seine Sicherheit bereits wiedergewann. Sie sind sehr freundlich. Die Sache ist nicht des Aufhebens werth. Mein Kamerad hat nur gethan, was jeder Andere an seiner Stelle auch gethan hätte, wenn er seine Kraft besessen haben würde. Nicht so, Kap Matifu?«

Dieser nickte einmal mit dem Kopfe, was als Zeichen der Zustimmung galt.

»Es mag sein, sagte der Doctor, aber so stark ist nicht ein Jeder; Euer Genosse hat sein Leben gewagt und ich betrachte mich deshalb als seinen Schuldner.

– O, Herr Doctor, erwiderte Pointe Pescade, Sie machen meinen Kap erröthen; da er sehr vollblütig ist, so ist es gefährlich, wenn ihm das Blut zu Kopfe steigt…

– Gut. Ich sehe, meine Freunde, daß Ihr die Complimente nicht besonders liebt. Ich will also davon absehen. Da aber jeder Dienst…

– Herr Doctor, ich bitte um Verzeihung, daß ich es wage, Sie zu unterbrechen, aber ich bin der Meinung, daß jede gute That ihre Vergeltung in sich selbst trägt, wenigstens behaupten es die Bücher über die Moral; wir sind also belohnt genug.

– Schon? Und wie? fragte der Doctor in der Furcht, es könnte ihm schon Jemand vorgegriffen haben.

– Gewiß! Nach der gestrigen außergewöhnlichen Kraftprobe unseres Hercules wollte das Publicum auch ein Urtheil über seine sonstigen künstlerischen Fähigkeiten gewinnen. Es strömte in Menge in unsere provençalische Arena. Kap Matifu warf ein halbes Dutzend der kräftigsten Gebirgsleute und der robustesten Packträger von Gravosa in den Sand und wir hatten dadurch eine riesige Einnahme.

– Riesig?

– Ja… beispiellos in unseren akrobatischen Tournées. – Und wie viel betrug diese »riesige« Einnahme?

– Zweiundvierzig Gulden!

– Wirklich?… Das wußte ich nicht, antwortete Doctor Antekirtt mit gutgemeinter Spöttelei. Wenn ich geahnt hätte, daß Ihr eine Vorstellung geben würdet, so hätte ich mir ein Vergnügen daraus gemacht, ihr ebenfalls beizuwohnen. Ihr werdet mir trotzdem erlauben, meinen Platz zu bezahlen.

– Heute Abend, Herr Doctor, heute Abend, wenn Sie unsere Kämpfe durch Ihre Gegenwart verherrlichen wollen.«

Kap Matifu verbeugte sich höflich, wobei seine breiten Schultern hin und her wogten, »die noch nie den Staub geküßt hatten«, wie sich das Programm aus dem Munde Pointe Pescades ausdrückte.

Doctor Antekirtt sah ein, daß die Akrobaten schwerlich zu bewegen sein würden, eine Belohnung in Form eines Geldgeschenkes von ihm anzunehmen. Er beschloß, anders zu verfahren. Sein Plan stand auch schon seit dem vorausgegangenen Tage bei ihm fest. Die Erkundigungen, die er noch am Abend vorher eingezogen hatte, hatten erhellt, daß beide Akrobaten ehrenhafte Leute und jedes Vertrauens würdig waren.

»Wie nennt Ihr Euch? fragte er.

– Ich kenne mich nur unter dem Namen Pointe Pescade, Herr Doctor.

– Und Ihr heißt?

– Matifu.

– Kap Matifu, ergänzte Pointe Pescade; er sprach den vollen Namen, der in allen Arenen Südfrankreichs einen guten Klang hatte, mit nicht zu verkennendem Stolze aus.

– Das sind doch nur angenommene Namen? bemerkte der Doctor.

– Wir besitzen keine anderen, erwiderte Pointe Pescade, wenn wir wirklich andere gehabt haben, so sind sie uns unterwegs durch unsere zerrissenen Taschen abhanden gekommen.

– Und… Eure Eltern?

– Eltern, Herr Doctor? Wir haben uns diesen Luxus nie erlaubt. Wenn wir eines Tages reich werden sollten, so finden sich vielleicht noch welche, die uns beerben wollen.

– Ihr seid Franzosen? Aus welchem Theile des Landes?

– Aus der Provence, antwortete Pointe Pescade stolz, wir sind also doppelte Franzosen.

– Ihr seid stets bei guter Laune, Pointe Pescade?

– Mein Beruf erfordert das. Stellen Sie sich einen Hanswurst vor, Herr Doctor, einen Hauswurst auf dem Schaugerüst, der die Ohren hängen läßt. Es würden ihm in einer Stande mehr Aepfel an den Kopf fliegen, als er Zeit seines Lebens essen kann. Ich bin stets vergnügt, sehr vergnügt; das muß so sein.

– Und Kap Matifu?

– O, Kap Matifu ist ernster, gesetzter, mehr nach innen, sagte Pointe Pescade und klopfte diesen zärtlich, als hätte er ein Pferd vor sich, dem er schmeicheln wollte. Zu seinem Amte gehört der Ernst. Wenn man mit fünfzig Pfunden jonglirt, so muß man sehr ernst sein. Wenn man ringt, so ringt man nicht nur mit den Armen, sondern auch mit dem Kopfe. Und Kap Matifu hat stets gerungen… selbst mit dem Elend. Und es hat ihn noch nicht zu Boden geworfen!«

Doctor Antekirtt hörte mit Interesse dem braven Menschen zu, dessen bisheriges Schicksal gewiß hart genug gewesen war, der aber deshalb doch nicht mit diesem haderte. Er durchschaute, daß in ihm ebenso viel Gemüth als Schlauheit steckte und dachte darüber nach, was aus ihm hätte werden können, wenn ihm das Leben von Anfang an reichliche Mittel in die Hand gegeben haben würde.

»Und wohin geht Ihr von hier aus? fragte er weiter.

– Dem Zufalle nach. Doch ist er mitunter ein ganz guter Führer, der Zufall, und im Allgemeinen kennt er die Wege gut. Ich fürchte nur, er hat uns diesmal zu weit von unserer Heimat fortgeführt. Aber schließlich sind wir selbst Schuld daran. Wir hätten ihn erst fragen sollen, wohin er ging.«

Doctor Antekirtt beobachtete sie Beide einen Augenblick. Dann begann er von Neuem:

»Was also kann ich für Euch thun?

– Nichts, Herr Doctor, erwiderte Pointe Pescade, rein nichts!

– Würdet Ihr keine Lust haben, jetzt gleich in die Provence zurückzukehren?«

Die Augen der Akrobaten glänzten.

»Ich könnte Euch vielleicht dorthin fahren.

– Das wäre herrlich!« rief Pointe Pescade.

Dann sich an seinen Gefährten wendend, fragte er diesen:

»Wie denkst Du darüber, Kap Matifu, möchtest Du heimkehren?

– Ja… wenn Du mitkommst, Pointe Pescade.

– Was sollen wir aber dort anfangen? Wovon sollen wir dort leben?«

Kap Matifu rieb sich die Stirn, was er in allen schwierigen Lagen des Lebens zu thun pflegte.

»Wir werden… wir werden… murmelte er.

– Du weißt es nicht… ich eben so wenig… Aber was thut das schließlich! Wir sind in der Heimat. Ist es nicht einzig, Herr Doctor, daß zwei arme Teufel, wie wir, eine Heimat haben, daß zwei so elende Kerls, die nicht einmal Eltern besitzen, irgendwo geboren sind? Das war mir schon immer unerklärlich.

– Ihr könntet Euch also entschließen, bei mir zu bleiben?« fragte Doctor Antekirtt.

Bei diesem unerwartet kommenden Vorschlage sprang Pointe Pescade lebhaft auf, während der Hercules ihn ansah und nicht wußte, ob er sich ebenfalls erheben sollte.

»Bei Ihnen bleiben, Herr Doctor? antwortete endlich Pointe Pescade. Was sollen wir Ihnen nützen? Kraft-und Geschicklichkeits-Touren – Anderes haben wir nie kennen gelernt. Wenn Sie das während Ihrer Reise oder in Ihrem Lande unterhalten kann…

– Hört mir zu, unterbrach ihn Doctor Antekirtt, ich kann muthige, ergebene, geschickte und einsichtige Menschen gebrauchen, die mir bei der Ausführung meines Vorhabens von Nutzen sein können. Ihr habt nichts, was Euch hier fesselt, nichts, was Euch in die Heimat zurückruft. Wollt Ihr zu mir stehen?

– Wenn aber Ihre Pläne ausgeführt sind… wandte Pointe Pescade ein.

– So sollt Ihr mich auch noch nicht verlassen, wenn es Euch bei mir gefällt, antwortete der Doctor. Ihr werdet bei mir an Bord bleiben. Halt!



»Wollt Ihr zu mir stehen?« (Seite 191.)


Ihr könnt meiner Mannschaft Unterricht im Luftsprunge geben. Wenn Ihr es aber vorzieht, in Eure Heimat zurückzukehren, so soll es Euch unbenommen sein, und auch dann würde für Euer künftiges Leben ausreichend gesorgt sein.

– Herr Doctor! rief Pointe Pescade, Sie verstehen Ihren Antrag hoffentlich nicht dahin, daß wir ganz unbeschäftigt bleiben sollen? Zu nichts gut sein, könnte uns nicht passen!



Pointe Pescade bestand darauf, sein Cornet à piston zu retten. (Seite 196.)


– Ich verspreche Euch Arbeit, mit der Ihr zufrieden sein werdet.

– Ihr Anerbieten klingt sehr verführerisch, Herr Doctor!

– Was habt Ihr dagegen einzuwenden?

– Eines vielleicht. Sie sehen hier uns Beide vor sich, Kap Matifu und mich. Wir stammen aus demselben Lande und würden ganz gewiß auch aus einer Familie sein, wenn wir eine solche hätten. Wir sind Herzensbrüder. Kap Matifu könnte nicht ohne Pointe Pescade leben und Pointe Pescade nicht ohne ihn. Denken Sie an die siamesischen Zwillinge. Man hat sie nie trennen gekonnt, weil eine Trennung ihnen das Leben gekostet hätte. Wir sind, um es kurz zu sagen, ebenfalls Siamesen. Wir haben uns sehr lieb, Herr Doctor!«

Und Pointe Pescade streckte Kap Matifu die Hand hin, der sie an seine Brust zog und sie dort wie ein Kind herzte.

»Es ist hier gar keine Rede von Eurer Trennung, meine Freunde; ich habe vollständig begriffen, daß Ihr Euch nie trennen könntet.

– Dann könnte ja die Sache gemacht werden, Herr Doctor, wenn…

– Wenn?

– Kap Matifu seine Einwilligung gibt.

– Sage ja, Pointe Pescade, und Du hast für uns Beide ja gesagt.

– Gut, die Angelegenheit ist also in Ordnung, antwortete der Doctor, und Ihr werdet Eure Zustimmung nicht zu bereuen haben. Von heute ab sollt Ihr nicht mehr arbeiten.

– Oho! Herr Doctor, sehen Sie sich vor! rief Pointe Pescade. Sie übernehmen vielleicht eine größere Last als Sie denken!

– Und wieso?

– Weil wir Ihnen theuer zu stehen kommen werden, Kap Matifu namentlich. Ein starker Esser ist mein Kap und Sie werden doch nicht wollen, daß er in Ihren Diensten seine Kräfte zusetzt?

– Ich behaupte, daß er sie verdoppeln wird.

– Dann sind Sie ruinirt, Herr Doctor!

– Man ruinirt mich nicht, Pointe Pescade.

– Indessen, zweimal, vielleicht dreimal essen am Tage…

– Fünf-, sechs-, siebenmal, wenn er Lust hat, antwortete Doctor Antekirtt lachend. Ich halte für Jedermann offenen Tisch.

– He! Kap! rief Pointe Pescade ganz entzückt. Du wirst also nach Deinem Belieben essen können.

– Und Ihr auch, Pointe Pescade.

– O, ich, ich bin nur ein Vogel. Doch darf ich fragen, Herr Doctor, ob wir oft in See gehen?

– Sehr oft. Ich habe jetzt in allen vier Ecken des Mittelmeeres zu thun. Meine Kundschaft ist so ziemlich über alle Ufer hin vertheilt. Ich halte darauf, die ärztliche Praxis in internationaler Weise auszuüben. Wenn ein Kranker in Tanger oder auf den Balearen nach mir ruft, während ich in Suez bin, muß ich da nicht zu ihm fahren? Wie ein Arzt in einer größeren Stadt von einem Stadttheil in den andern eilt, so fahre ich von Gibraltar nach dem griechischen Archipel, von der Adria nach dem Golf von Lyon, von dem Ionischen Meere nach dem Golf von Gabes. Ich besitze noch andere, zehnmal schnellere Fahrzeuge, als dieser Schooner ist und Ihr sollt mich am häufigsten begleiten.

– Das ist schön, Herr Doctor, antwortete Pointe Pescade sich die Hände reibend.

– Ihr fürchtet das Meer nicht? fragte der Doctor.

– Wir? Das Meer fürchten? Wir, die Kinder der Provence? Als Jungens schon sind wir im Boote den Fluß hinabgetrieben. Nein! Wir fürchten das Meer nicht und auch nicht die Seekrankheit, wir, die wir gewöhnlich mit dem Kopfe nach unten und den Füßen in der Luft herumspazieren. Wenn Herren und Damen, ehe sie auf See gehen, nur zwei Monate lang dieses Exercitium durchmachen, so werden sie es nicht mehr nöthig haben, während der Ueberfahrt zu jammern und zu stöhnen. Herein, herein! meine Damen und Herren, schließen Sie sich der Gesellschaft an!«

Und der fröhliche Pescade schlug den altgewohnten Ton an, als befände er sich wieder auf dem Schaugerüste seiner Bude.

»Bravo, Pointe Pescade! sagte der Doctor. Wir werden Beide mit einander wunderbar gut auskommen und ich empfehle Euch namentlich, nichts von Eurer guten Laune einzubüßen. Lacht, mein Junge, lacht und singt, so viel Ihr wollt. Die Zukunft birgt vielleicht noch viel Trauriges, daß Eure Heiterkeit unterwegs nicht zu verachten sein wird.«

Doctor Antekirtt war bei diesen Worten wieder ernst geworden. Pescade, der ihn beobachtete, fühlte, daß dieser Mann in früheren Zeiten einen großen Schmerz erfahren haben mußte, den auch er vielleicht noch eines Tages kennen lernen würde.

»Herr Doctor, beeilte er sich darum zu sagen, von heute an gehören wir Ihnen mit Leib und Seele!

– Und von heute an könnt Ihr Euch bereits häuslich in Eurer Cabine einrichten. Ich werde wahrscheinlich noch einige Tage in Gravosa und Ragusa bleiben; doch ist es gut, wenn Ihr Euch schon jetzt daran gewöhnt, an Bord der »Savarena« zu leben.

– Bis zu dem Augenblicke, in welchem Sie uns in Ihr Land führen werden, setzte Pointe Pescade hinzu.

– Ich besitze kein Heimatland, erwiderte der Doctor, oder vielmehr, ich besitze eines, das ich mir selbst geschaffen habe, ein Land, das mir gehört und, wenn Ihr wollt, auch das Eure werden wird.

– Vorwärts, Kap Matifu! rief Pointe Pescade, wir wollen unser Geschäftshaus liquidiren. Aengstige Dich nicht, wir schulden nichts und wir werden deshalb nicht in Concurs gerathen.«

Die Freunde verabschiedeten sich von Doctor Antekirtt vollkommen befriedigt und bestiegen das Boot, das sie noch erwartete und an die Quais von Gravosa brachte.

In zwei Stunden hatten sie ihr Inventar aufgenommen und einem Collegen das Gerüst, die bemalte Leinwand, die große Pauke und die Trommel abgetreten, die ihr ganzes Hab und Gut bildeten. Das dauerte nicht lange und war nicht schwierig und schwach wurden sie auch nicht von dem Gewichte der wenigen Gulden, die ihnen ihr Ausverkauf einbrachte.

Pointe Pescade bestand indessen darauf, aus dem Schiffbruche seines Akrobatenlebens noch sein Costüm und das cornet à piston zu retten und Kap Matifu seine Posaune und den Anzug eines Ringkämpfers. Sie hätten den Kummer, sich von ihren Instrumenten und diesem Flitterstaate trennen zu müssen, die sie an so viele Triumphe und Erfolge erinnerten, kaum ertragen. Diese Gegenstände wurden auf dem Boden des einzigen Koffers, der ihre Effecten enthielt, ihre Kleider, ihr ganzes Hab und Gut, verborgen.

Gegen Abend begaben sich Pointe Pescade und Kap Matifu an Bord der »Savarena« zurück. Eine große Cabine im vorderen Theil des Schiffes war bereits zu ihrer Verfügung gehalten, eine bequem eingerichtete, mit Allem, »was zum Schreiben gebraucht wurde«, sagte der heitere Pescade.

Die Mannschaft empfing die neuen Genossen, durch welche sie vor einem schrecklichen Schicksale bewahrt worden war, auf das Zuvorkommendste.

Pointe Pescade und Kap Matifu machten sofort nach ihrer Ankunft die Erfahrung, daß die Schiffsküche ein Bedauern über die entschwundenen Küchen provençalischer Arenas nicht aufkommen ließ.

»Siehst Du, Kap Matifu, sagte Pointe Pescade, ein Glas voll Astiwein leerend, wenn man sich gut führt, kommt man zu etwas. Gut führen muß man sich!«

Kap Matifu konnte nur durch ein Nicken mit dem Kopfe sein Einverständniß mit den Worten des Vorredners ausdrücken, denn er hatte gerade den Mund voll mit einem mächtigen Bissen gerösteten Schinkens, der mit zwei gebackenen Eiern in die Tiefen seines Magens verschwand.

»Wie groß würde unsere Einnahme sein, Kap, sagte Pescade, wenn man Dich so essen sehen könnte?«

Viertes Capitel. Die Witwe Stephan Bathory’s.

Die Ankunft des Doctors Antekirtt hatte nicht nur in Ragusa, sondern auch in der ganzen dalmatinischen Provinz von sich reden gemacht. Die Zeitungen, nachdem sie das Eintreffen der Yacht im Hafen von Gravosa gemeldet, warfen sich mit Heißhunger auf diese Beute, die eine Reihe lockender Notizen versprach. Der Besitzer der »Savarena« konnte somit den Ehren, aber auch den Nachtheilen, die eine Berühmtheit mit sich bringt, nicht entgehen. Seine Person bildete das Gespräch des Tages. Die Sage bemächtigte sich ihrer. Man wußte nicht, wer er war, woher er kam, wohin er ging. Das mußte die Neugierde des Publicums naturgemäß vergrößern. Wenn man aber nichts weiß, ist das Feld der Vermuthungen ein ungeheures, die Einbildungskraft zieht davon den Nutzen und der, welcher am besten unterrichtet erscheint.

Die Reporter eilten, in dem Wunsche, ihre Leser befriedigen zu können, so schnell sie konnten nach Gravosa, einige kamen sogar an Bord des Schooners. Sie bekamen die Persönlichkeit, mit der die öffentliche Meinung sich unablässig beschäftigte, nicht zu Gesicht. Die Befehle waren gemessener Natur. Der Doctor empfing Niemand. Auch die Auskünfte, welche Kapitän Narsos allen Fragen der Besucher entgegensetzte, waren unveränderlich dieselben:

»Woher kommt der Herr Doctor?

– Woher es ihm gefällt.

– Und wohin fährt er?

– Wohin es ihm zu fahren beliebt.

– Aber wer ist er?

– Niemand weiß es, vielleicht weiß er selbst nicht einmal mehr als die, welche nach ihm fragen.«

Ein gutes Mittel wäre das zwar gewesen, die Neugier der Leser durch Mittheilung dieser lakonischen Antworten zu befriedigen! Doch das ging nicht gut, es folgte daraus, daß die Einbildungskraft, welcher der kurze Bescheid einen weiten Spielraum einräumte, nicht zögerte, in den kühnsten Vermuthungen umherzuschweifen. Doctor Antekirtt wußte schon im Voraus, was man von ihm wollte. Ihm war es schon recht, Alles das gewesen zu sein, was jene indiscreten Plauderer für gut befanden, ihm anzudichten. Den Einen galt er als ein Piratenchef, den Anderen als König eines mächtigen afrikanischen Staates, der incognito reiste, um sich zu unterrichten. Diese behaupteten, daß er ein verbannter Politiker wäre, Jene, daß eine Revolution ihn aus seinen Staaten getrieben hätte und er nun als Philosoph und Wißbegieriger durch die Welt streife. Die Auswahl stand frei. Was den Doctortitel anbelangte, mit dem er sich schmückte, so waren die Meinungen derer, die ihm denselben zugestanden, getheilt: nach der Ansicht der Einen war er ein großer Arzt, der in hoffnungslosen Fällen noch erfolgreiche Curen machen konnte, nach derjenigen der Anderen war er der König der Charlatans und es würde ihm sehr schwer fallen, Patente oder Diplome aufzuweisen.

Die Mediciner in Ragusa und Gravosa würden kaum in die Lage gekommen sein, den Doctor wegen ungesetzlicher Ausübung der medicinischen Praxis belangen zu können. Denn derselbe verhielt sich beständig äußerst reservirt, und wenn man ihm die Ehre einer Consultation zu Theil werden lassen wollte, so pflegte er sich stets heimlich zu entfernen.

Der Besitzer der »Savarena« hatte auch kein Gelaß auf dem Festlande für die Zeit seines Aufenthaltes gemiethet. Er stieg nicht einmal in einem der Hotels der Stadt ab. Während der ersten zwei Tage seines Aufenthaltes in Gravosa ging er nicht weiter als bis in die Nähe von Ragusa. Er beschränkte sich darauf, einige Spaziergänge in der Umgebung zu unternehmen und ließ sich zwei-oder dreimal von Pointe Pescade begleiten, dessen natürliche Intelligenz ihm zusagte.

Während er selbst sich von Ragusa fern hielt, ging Pointe Pescade eines Tages für ihn dorthin. Mit dem Vertrauensauftrag beehrt, Erkundigungen für ihn einzuholen, gab der junge anstellige Mann nach der Rückkehr dem Doctor folgende Antworten auf dessen Fragen:

»Jener wohnt also im Stradone?

– Ja, Herr Doctor, in der schönsten Straße der Stadt. Er bewohnt ein Hotel in der Nähe des Platzes, auf welchem den Fremden der alte Dogenpalast gezeigt wird, ein prächtiges Hotel mit Dienerschaft und Wagen. Eine richtige Millionärswirthschaft.

– Und der Andere?

– Der Andere oder vielmehr die Anderen? erwiderte Pointe Pescade. Sie wohnen ebenfalls in diesem Stadttheile, aber ihr Haus steht wie verloren in einer der hügeligen, schmalen, gewundenen Gassen – wahre Treppen – durch welche man zu den bescheidenen Behausungen gelangt.

– Und ihr Haus?

– Ist niedrig, klein und bietet von außen wie von innen einen ärmlichen Anblick; ich denke mir aber, daß es äußerst sauber gehalten wird. Man merkt, daß arme, aber stolze Leute in ihm wohnen.

– Die Dame?

– Ich habe sie nicht gesehen und man erzählt sich, daß sie fast nie die Marinella-Straße verläßt.

– Ihr Sohn?

– Ich habe ihn gesehen, Herr Doctor, als er gerade zu seiner Mutter heimkehrte.

– Und was für einen Eindruck machte er auf Dich?

– Er schien mir etwas besorgt, ja fast beunruhigt zu sein. Man könnte sagen, daß der junge Mann schon eine Schule des Leidens durchgemacht hat. Man merkt es.

– Du, Pointe Pescade, hast ebenfalls viel gelitten und man merkt es Dir doch nicht an.

– Seelische und körperliche Leiden sind zweierlei, Herr Doctor. Deshalb habe ich die meinigen stets gut verbergen können und noch dabei gelacht.«

Der Doctor sagte zu Pointe Pescade bereits »Du«, was dieser sich als eine Gunst ausgebeten hatte und Kap Matifu sollte bald den Vortheil dieser vertraulichen Anrede genießen. Der Hercules war eine zu imposante Erscheinung, als daß man sich hätte so schnell erlauben können, ihn zu duzen.

Doctor Antekirtt hörte nach diesem Bescheide, den er von Pointe Pescade erhalten hatte, bald mit seinen Spaziergängen um Gravosa auf. Er schien irgend ein Ereigniß abzuwarten, dem er nicht durch sein Auftreten in Ragusa vorgreifen wollte, woselbst seine Ankunft auf der »Savarena« bekannt genug geworden war. Er blieb also an Bord, bis das von ihm erwartete Ereigniß eintrat.

Am 29. Mai in der elften Stunde befahl der Doctor, nachdem er die Quais des Hafens mit dem Fernrohr gemustert, sein Boot herabzulassen; er stieg hinein und ließ sich an den Molo bringen, woselbst ein Mann auf ihn zu warten schien.

»Er ist es, er ist es, sagte der Doctor bei sich. Ich erkenne ihn wieder, so sehr er sich auch verändert hat.«

Dieser Mann war ein von der Bürde des Alters geknickter Greis, obwohl er erst siebzig Jahre zählte. Weiße Haare bedeckten das sich vornüber neigende Haupt. Sein Gesicht zeigte einen ernsten traurigen Ausdruck, der kaum von einem halberloschenen Blick belebt wurde; die Thränen schienen es oft benetzt zu haben. Er stand unbeweglich auf dem Quai und ließ das Boot nicht aus den Augen, seitdem es vom Schooner abgestoßen war.

Der Doctor that absichtlich so, als bemerke er weder den Greis noch als erkenne er ihn wieder. Ihm schien nicht einmal dessen Anwesenheit aufzufallen. Doch kaum war er einige Schritte weit gegangen, so schritt der Greis auch schon auf ihn zu und sich demüthig entblößend, fragte er:

»Herr Doctor Antekirtt?

– Mein Name,« antwortete der Doctor und betrachtete den armen Mann, dessen Augenlider nicht einmal zuckten, als seine Augen sich auf ihn hefteten.

Dann fragte er:

»Wer seid Ihr, mein Freund, und was wünscht Ihr von mir?

– Ich heiße Borik, erwiderte der Greis, und stehe im Dienste der Frau Bathory. Meine Dame ersucht Sie, ihr ein Rendezvous zu bestimmen…

– Frau Bathory? wiederholte der Doctor. Sollte diese Dame die Witwe jenes Ungarn sein, der seinen Patriotismus mit dem Leben bezahlte?

– Dieselbe. Obwohl Sie Frau Bathory nie gesehen haben, so müssen Sie sie jedenfalls doch kennen, da Sie der Herr Doctor Antekirtt sind.«

Dieser horchte aufmerksam auf die Worte des alten Dieners, dessen Augen gesenkt blieben. Er schien sich zu fragen, ob sich in diesen Worten wohl ein Hintergedanke verberge.

»Was wünscht Frau Bathory von mir? fragte er dann.

– Aus Gründen, die Ihnen bekannt sein dürften, Herr Doctor, wünscht meine Dame eine Unterredung mit Ihnen.

– Ich werde sie besuchen.

– Sie würde es vorziehen, zu Ihnen auf das Schiff zu kommen.

– Warum?

– Es liegt ihr daran, daß diese Unterredung geheim bleibt.

– Geheim? Wem gegenüber?

– Ihrem Sohne. Peter braucht nicht zu erfahren, daß Frau Bathory einen Besuch von Ihnen empfangen hat.«



Der Doctor war bald am Borgo-Pille angelangt. (S. 203.)


Diese Antwort schien den Doctor zu befremden; doch ließ er sich vor Borik nichts merken.

»Ich ziehe es vor, Frau Bathory aufzusuchen, meinte er laut. Könnte ich nicht zu ihr kommen, wenn ihr Sohn nicht zu Hause ist?

– Sie können es, Herr Doctor, wenn Sie geneigt sind, nicht vor morgen zu kommen. Peter reist heute Abend nach Zara und wird erst einen Tag später zurückkehren.

– Und womit beschäftigt sich Peter Bathory?

– Er ist Techniker, hat aber bis jetzt keine Stellung finden können. Ja, ja! Mutter und Sohn haben ein entbehrungsreiches Leben geführt.

– Entbehrungsreich! entfuhr es den Lippen des Doctors. Madame Bathory verfügt also über keine Hilfsquellen?«

Er schwieg. Der Greis hatte den Rücken noch tiefer gebeugt und nur schwere Seufzer hoben seine Brust.

»Ich kann Ihnen nichts weiter sagen, Herr Doctor. In der Unterredung mit Ihnen wird Frau Bathory Ihnen gewiß Alles erzählen, was Sie wissen dürfen.«

Der Doctor mußte sich stark zusammennehmen, um nichts von seiner Bewegung merken zu lassen.

»Wo wohnt Frau Bathory? fragte er weiter.

– In Ragusa, im Stadttheile des Stradone, Marinella-Straße 17.

– Wird Frau Bathory morgen Mittag zwischen ein und zwei Uhr zu sprechen sein?

– Ja wohl, Herr Doctor, ich selbst werde Sie zu ihr führen.

– So sagt Frau Bathory, daß sie morgen zur eben genannten Stunde auf meinen Besuch rechnen kann.

– Ich danke Ihnen in ihrem Namen,« erwiderte der Greis.

Nach einigem Zögern setzte er noch hinzu:

»Sie dürfen annehmen, Herr Doctor, daß es sich um einen Frau Bathory zu leistenden Dienst handelt.

– Und worin bestände er? fragte lebhaft der Doctor.

– Ich kann es nicht sagen,« antwortete Borik.

Dann verneigte er sich tief und wendete sich der Straße zu, die von Gravosa nach Ragusa führt.

Die letzten Worte des alten Dieners hatten Doctor Antekirtt sichtlich überrascht. Er war unbeweglich auf dem Quai stehen geblieben und blickte dem sich entfernenden Borik nach. Nach seiner Rückkehr an Bord ertheilte er Pointe Pescade und Kap Matifu Urlaub; er schloß sich alsdann in sein Zimmer ein und wollte während der übrigen Tagesstunden nicht gestört sein.

Pointe Pescade und Kap Matifu nützten die erhaltene Erlaubniß ganz in der Weise wirklicher Rentner aus, die sie jetzt waren. Sie konnten es sich sogar nicht versagen, einige der Jahrmarktsbuden zu betreten. Wenn man behaupten wollte, daß unser gewandter Clown nicht Lust empfand, einen ungeschickten Equilibristen zurecht zu weisen, daß es dem mächtigen Kämpen nicht in den Fingern juckte, an dem Athletenkampfe Theil zu nehmen, so wäre das eine offene Unwahrheit. Beide erinnerten sich indessen rechtzeitig, daß sie die Ehre hatten, zur Besatzung der »Savarena« zu gehören. Sie blieben also einfache Zuschauer und kargten mit ihrem Beifalle nicht, wenn er ihnen verdient erschien.

Am nächsten Tage kurz vor zwölf Uhr ließ sich der Doctor an Land bringen. Nachdem er sein Boot wieder zurückgeschickt hatte, schlug er den Weg nach Ragusa ein durch die in der Höhe angelegte, zwei Kilometer lange, von Landhäusern und schattigen Bäumen eingefaßte Straße.

Die Allee war noch nicht so belebt, wie sie es gewöhnlich durch die auf und ab fahrenden Equipagen, durch die Menge der Fußgänger und Reiter einige Stunden später wurde.

Der Doctor, in Gedanken an das bevorstehende Zusammentreffen mit Frau Bathory verloren, hatte einen Seitenweg eingeschlagen und war bald am Borgo-Pille angelangt, einer Steinwand, die außerhalb der drei Befestigungswälle der Stadt gelegen ist. Das Ausfallsthor stand offen und der Weg führte unter den drei Wällen fort in das Innere der Stadt.

Dieser Stradone ist ein wundervoller, gepflasterter Straßenzug, der vom Borgo-Pille bis zur Vorstadt Plocce, also durch die ganze Stadt läuft. Er verbreitert sich am Fuße eines Hügels, auf dem sich ein vollständiges Amphitheater von Häusern aufbaut. An seinem Ende erhebt sich der alte Dogenpalast, ein schönes Bauwerk aus dem fünfzehnten Jahrhundert, mit einem inneren Hof, einer Säulen halle im Renaissancestyl und Fenstern mit Vollbögen; die schlanken Säulchen erinnern an die Blüthezeit der toscanischen Architektur.

Der Doctor brauchte nicht so weit zu gehen. Die Marinella-Straße, die ihm Borik Tags zuvor genannt hatte, biegt in der Mitte der Länge des Stradone nach links ab. Sein Schritt verlangsamte sich ein wenig, als er einen schnellen Blick an einem aus Granit erbauten Palaste emporwarf, dessen reiche Façade und Nebengebäude in schiefem Winkel zu seiner Rechten aufstiegen. Durch das offenstehende Hofportal konnte man einen Herrenwagen mit herrlichem Gespann davor, den Kutscher auf seinem Bocke und einen Bedienten erblicken, der vor dem von einer eleganten Veranda überdachten Perron wartete.

Ein Herr kam gerade jetzt aus dem Hause und bestieg den Wagen; die Pferde zogen an, trabten auf die Straße und hinter ihnen schloß sich das Thor.

Jener Herr war derselbe, der drei Tage zuvor Doctor Antekirtt auf dem Quai von Gravosa angesprochen hatte, der ehemalige Banquier in Triest, Silas Toronthal.

Der Doctor wollte ein Zusammentreffen mit demselben möglichst vermeiden und trat schnell bei Seite; er ging aber erst weiter, als der schnell dahinrollende Wagen am Ende des Stradone verschwunden war.

»Beide in derselben Stadt, murmelte er; Schuld des Zufalls, nicht die meinige.«

Eng, eckig, schlecht gepflastert, ärmlich aussehend sind die Straßen, die links vom Stradone abführen. Man möge sich einen breiten Strom vorstellen, der auf seiner einen Seite nur Regenbäche als Nebenflüsse aufweist. In dem Verlangen, etwas Luft zu genießen, scheinen die Häuser übereinander zu klettern, sich gegenseitig zu stoßen. Auge blickt in Auge, wenn man die Fenster oder Mansarden, die sich auf ihrer Vorderseite öffnen, so bezeichnen darf. So gestaltet ziehen sie sich bis auf die eine der Anhöhen hinauf, deren Gipfel von den Forts Mincetto und San Lorenzo gekrönt sind. Ein Wagen kann hier nicht fahren. Zur Regenzeit bilden diese Straßen vollständige Regenbäche; aber auch zu anderen Zeiten bilden sie wahre Schluchten, und man hat die Abhänge und Unebenheiten ihres Bodens durch Absätze und Stufen beseitigen müssen. Ein in die Augen springender Abstand zwischen den bescheidenen Behausungen hier und den Prachtbauten auf dem Stradone…

Der Doctor kam an den Eingang der Marinella-Straße und begann die unendliche Treppe derselben hinaufzusteigen. Er mußte mehr als sechzig Stufen nehmen, bis er vor das Haus Nummer 17 gelangte.

Dort öffnete sich sofort die Thür. Der alte Borik erwartete den Doctor. Er führte ihn, ohne ein Wort zu sprechen, in ein sauber gehaltenes, doch ärmlich ausgestattetes Gemach.

Der Doctor setzte sich. Nichts erweckte den Anschein, als ob seine Anwesenheit in dieser Behausung auch nur die leiseste Bewegung in ihm wachrief – nicht einmal als Frau Bathory eintrat und ihn ansprach:

»Herr Doctor Antekirtt?

– Jawohl, gnädige Frau, antwortete dieser sich erhebend.

– Ich hätte Ihnen gern die Mühe erspart, so weit zu kommen und so hoch zu steigen, Herr Doctor.

– Ich bestand darauf, Ihnen einen Besuch zu machen, gnädige Frau, und ich bitte Sie, glauben zu wollen, daß ich Ihnen vollständig zu Diensten stehe.

– Ich habe erst gestern von Ihrer Ankunft in Gravosa gehört, Herr Doctor, und habe sogleich Borik zu Ihnen geschickt und Sie um eine Unterredung mit mir ersuchen lassen.

– Ich bin, wie Sie sehen, bereit, das Nähere von Ihnen zu hören.

– Darf ich mich zurückziehen? fragte Borik.

– Nein, bleibe, sagte Frau Bathory. Du als einziger Freund meines Hauses weißt, was ich Herrn Doctor Antekirtt zu sagen habe.«

Frau Bathory setzte sich und der Doctor nahm vor ihr Platz, während der Greis am Fenster stehen blieb.

Die Witwe des Professors Stephan Bathory stand jetzt in ihrem sechzigsten Jahre. Obgleich ihre Haltung trotz des hohen Alters noch eine kerzengerade war, so verriethen ihr völlig weißes Haar und das von Falten durchfurchte Gesicht dennoch, wie sehr sie gegen den Kummer und das Elend hatte ankämpfen müssen. Man merkte indessen, daß auch jetzt noch nicht ihre frühere Willensstärke gewichen war. Man erkannte in ihr noch die tapfere Gefährtin, die intime Vertraute des Mannes wieder, der seine Stellung seiner vermeintlichen Pflicht zu Liebe geopfert hatte, seine Mitschuldige, als er sich mit Mathias Sandorf und Ladislaus Zathmar in die Verschwörung eingelassen hatte.

»Herr Doctor, sagte sie mit einer Stimme, deren Rührung sie vergebens zu unterdrücken sachte, wenn Sie wirklich Doctor Antekirtt sind, so schulde ich Ihnen die Erzählung der Ereignisse, welche sich vor fünfzehn Jahren in Triest zugetragen haben.

– Da ich wirklich der Doctor Antekirtt bin, gnädige Frau, so ersparen Sie sich, bitte, eine Wiederholung jener für Sie so schmerzlichen Thatsachen. Ich kenne sie und setze noch hinzu – da ich eben Doctor Antekirtt bin – daß ich auch weiß, wie Ihr Leben seit jenem unvergeßlichen 30. Juni des Jahres 1867 verflossen ist.

– So werden Sie mir auch sagen können, Herr Doctor, welchem Beweggrunde das Interesse, welches Sie an meinem Leben nehmen, entspringt?

– Es ist das Interesse, welches jeder Mann von Gemüth der Witwe des Magyaren schuldet, der nicht gezögert hat, seine Existenz für die Unabhängigkeit seines Vaterlandes hinzugeben.

– Sie haben meinen Mann, den Professor Stephan Bathory, gekannt? fragte die Witwe mit zitternder Stimme.

– Ich habe ihn gekannt, ihn geliebt und verehre alle Diejenigen, welche seinen Namen tragen.

– Stammen Sie aus dem Lande, für welches er sein Blut vergossen hat?

– Ich stamme aus keinem Lande, gnädige Frau.

– Wer sind Sie also?

– Ein Todter, der sein Grab noch nicht gefunden hat,« erwiderte Doctor Antekirtt kühl.

Frau Bathory und Borik überlief es bei dieser unerwarteten Antwort kalt. Der Doctor setzte schnell hinzu:

»Ich muß indessen die Erzählung, die ich Sie bat, mir nicht zu wiederholen, jetzt selbst noch einmal berühren, denn so viele Umstände Sie auch bereits kennen, so gibt es doch noch andere, welche Ihnen bisher unbekannt waren, die Ihnen aber jetzt nicht länger vorenthalten werden sollen.

– Ich höre, Herr Doctor.

– Vor fünfzehn Jahren, gnädige Frau, begann Doctor Antekirtt, stellten sich drei Edle Ungarns an die Spitze einer Verschwörung, welche Ungarns frühere Unabhängigkeit wieder herzustellen bezweckte. Diese Männer waren Graf Mathias Sandorf, Professor Stephan Bathory, Graf Ladislaus Zathmar, drei seit Langem derselben Hoffnung lebende Freunde, drei Wesen, denen das gleiche Herz in der Brust schlug.

– Am 8. Juni 1867, dem Tage vor dem zum Ausbruche des Aufstandes festgesetzten Termine, der sich über ganz Ungarn und Siebenbürgen erstrecken sollte, wurde das Haus des Grafen Zathmar in Triest, in welchem die Häupter der Verschwörung versammelt waren, von der Polizei umstellt. Graf Sandorf und seine beiden Genossen wurden verhaftet, fortgeführt, in derselben Nacht noch in den Thurm von Pisino eingesperrt und wenige Wochen später zum Tode verurtheilt.

– Ein junger Commis, Namens Sarcany, wurde gleichzeitig mit den Genannten im Hause des Grafen Zathmar verhaftet. Da sich im Verlaufe der Verhandlung herausstellte, daß er dem Complot völlig fern gestanden habe, so zögerte man nicht, die Anklage gegen ihn zurückzunehmen und ihn freizulassen.

– In der Nacht vor dem Tage der Urtheilsvollstreckung wurde von den Gefangenen, die in derselben Zelle vereinigt waren, ein Ausbruch versucht. Graf Sandorf und Stephan Bathory entkamen mit Hilfe des Blitzableiterkabels aus dem Wartthurme von Pisino und stürzten in dem Augenblicke in den Strudel der Foïba, als Ladislaus Zathmar von den Aufsehern ergriffen und seine Flucht vereitelt wurde.

– Obwohl die Flüchtigen wenig Aussicht hatten, dem Tode zu entgehen, da ein unterirdischer Strom sie in ein Land spülte, welches sie nicht kannten, so gelang es ihnen doch, das Ufer des Canals von Leme, später die Stadt Rovigno zu erreichen, wo sie in dem Hause des Fischers Andrea Ferrato ein Unterkommen fanden.

– Dieser Fischer – ein edelmüthiger Mann – traf alle Vorbereitungen, um sie auf die italienische Küste hinüber zu bringen. Ein Spanier, Namens Carpena jedoch, der ihren Schlupfwinkel aufgespürt hatte, verrieth sie aus Rachsucht gegen den Fischer der Polizei von Rovigno. Sie versuchten zum zweiten Male zu entkommen. Allein Stephan Bathory fiel verwundet in die Hände der Verfolger. Mathias Sandorf, der bis in das Meer hineingejagt wurde, fiel unter einem Hagel von Kugeln und das Meer hat nicht einmal seinen Leichnam herausgegeben.

– Zwei Tage später wurden Stephan Bathory und Ladislaus Zathmar in der Festung Pisino erschossen. Der Fischer Andrea Ferrato wurde, weil er die Flüchtlinge bei sich aufgenommen hatte, zu lebenslänglicher Sträflingsarbeit verurtheilt und nach Stein gebracht.«

Frau Bathory hatte den Kopf gesenkt. Sie hatte mit beklommenem Herzen der Erzählung des Doctors zugehört, ohne ihn zu unterbrechen.

»Sie kennen diese Einzelheiten, gnädige Frau? fragte dieser.

– Ja, mein Herr, aus den Zeitungen, wie Sie wahrscheinlich ebenfalls?

– Ja, gnädige Frau, ich kenne sie natürlich auch aus den Zeitungen, erwiderte der Doctor, doch was die Zeitungen ihren Lesern nicht mittheilen konnten, weil die ganze Affaire sich mit der größten Heimlichkeit abspielte, weiß ich allein, dank einer Indiscretion eines Festungsaufsehers, und Sie sehen mich bereit, es Ihnen mitzutheilen.

– Sprechen Sie, Herr Doctor, drängte Frau Bathory.

– Graf Mathias Sandorf und Stephan Bathory wurden in dem Hause des Fischers Ferrato gefunden und ergriffen, weil sie von dem Spanier Carpena verrathen wurden. In Triest waren sie drei Wochen früher verhaftet worden aus demselben Grunde, sie wurden durch Verräther der österreichischen Polizei angezeigt.

– Durch Verräther? rief Frau Bathory.

– Ja, gnädige Frau, und die Beweise des Verrathes gingen aus den Verhandlungen vor dem Kriegsgerichte deutlich genug hervor. Erstens hatten diese Menschen ein an den Grafen Sandorf gerichtetes chiffrirtes Billet vom Halse einer Brieftaube gestohlen und eine



Die unendliche Treppe der Marinella-Straße. (S. 204.)


Abschrift von diesem genommen. Zweitens setzten sie sich im Hause des Grafen Zathmar in den Besitz eines Abdrucks des Gitters, das zum Verständniß dieser chiffrirten Depeschen nothwendig war. Nachdem sie mit Hilfe dieses Gitters Kenntniß von dem Inhalte des Billets genommen, überlieferten sie Beides dem Gouverneur von Triest. Zweifellos bildete ein Theil der confiscirten Güter des Grafen Sandorf den Lohn für diesen Verrath.

– Kennt man diese Schurken? fragte Frau Bathory mit vor Aufregung zitternder Stimme.

– Nein, gnädige Frau, antwortete der Doctor. Vielleicht haben die drei Verurtheilten sie gekannt und sie würden vielleicht ihre Namen genannt haben, wenn sie noch einmal ihre Familie vor ihrem Tode bei sich hätten sehen können.«

Man wird sich erinnern, daß weder Frau Bathory, welche mit ihrem Sohne nicht mehr in Triest weilte, noch Borik, der noch im Gefängnisse saß, den Verurtheilten in ihren letzten Augenblicken zur Seite gestanden hatten.

»Und wird man die Namen nie erfahren können? fragte Frau Bathory.

– Fast stets pflegen Verräther schließlich sich selbst zu verrathen, gnädige Frau, erwiderte der Doctor. Ich muß nun noch etwas meiner Erzählung hinzufügen. Sie sind Witwe geblieben und besaßen einen achtjährigen Knaben, doch kein Vermögen. Borik, der Diener des Grafen Zathmar, wollte nach dem Tode seines Herrn Sie nicht verlassen; doch auch er war arm und konnte Ihnen nur mit seiner Ergebenheit zu Hilfe kommen.



»Ich bitte, Herr Doctor, nehmen Sie das Geld zurück.« (S. 211.)


– Sie verließen Triest und bezogen dieses bescheidene Heim hier in Ragusa. Sie haben gearbeitet und mit Ihrer Hände Arbeit das Nothwendigste, was man zum körperlichen und auch zum geistigen Leben braucht, verdient. Ihr Herzenswunsch war es, daß Ihr Sohn dieselben Bahnen der Wissenschaft einschlagen konnte, welche den Vater berühmt gemacht hatten. Wie viele unaufhörliche Kämpfe mußten Sie bestehen, wie viel Elend muthig ertragen! Ich verneige mich mit Hochachtung vor der edlen Dame, die so viel Willensstärke gezeigt, vor der Mutter, deren Aufopferung den Sohn zum Manne gemacht hat.«

Der Doctor hatte sich bei diesen Worten erhoben und durch seine gewöhnlich gezeigte Kälte drang es wie ein Hauch warmen Empfindens.

Frau Bathory erwiderte nichts. Sie wußte nicht, ob der Doctor seine Rede schon beendet hatte oder ob er sie noch fortzusetzen gedachte; sie erwog, wie sie ihm die Mittheilungen persönlicher Natur machen sollte, um deren willen sie um eine Unterredung mit ihm ersucht hatte.

Der Doctor, der ihre Gedanken zu errathen schien, fuhr fort:

»Aber über eine gewisse Grenze, gnädige Frau, reicht die menschliche Kraft nicht hinaus, und auch Sie, bereits krank und hinfällig durch so viele schwere Prüfungen, wären am Ende unterlegen, wenn nicht ein Unbekannter, nein, ein Freund des Professors Bathory Ihnen zu Hilfe gekommen wäre. Ich würde Ihnen nie davon gesprochen haben, wenn Ihr alter Diener mich nicht über das Verlangen aufgeklärt hätte, dem zu Folge Sie mich sprechen wollten.

– Allerdings, Herr Doctor, erwiderte Frau Bathory. Bin ich dem Herrn Doctor Antekirtt nicht Dank schuldig?

– Und warum, gnädige Frau? weil vor fünf oder sechs Jahren zum Gedächtniß der Freundschaft, welche den Grafen Sandorf und seine Gefährten verband und zur Unterstützung Ihres Werkes, dieser Doctor Antekirtt Ihnen eine Summe von hunderttausend Gulden zukommen ließ? War er nicht überglücklich, Ihnen dieses Geld zur Verfügung stellen zu können? Nein, gnädige Frau, ich habe Ihnen zu danken, daß Sie die Summe von mir annahmen, daß ich der Witwe und dem Sohne Stephan Bathory’s zu Hilfe kommen durfte.«

Die Witwe verneigte sich und sagte:

»Welchem Beweggrunde auch immer Ihre Großmuth entsprungen sein mag, ich muß Ihnen meine Erkenntlichkeit bezeugen. Das war auch der Grund, weshalb ich Ihnen einen Besuch abstatten wollte. Der zweite aber…

– Was für einer ist das?

– War, Ihnen dieses Geld zurückzuerstatten…

– Mir, gnädige Frau? rief der Doctor betroffen, Sie haben die Summe nicht von mir angenommen?

– Ich habe nicht geglaubt, das Recht zu haben, über dieselbe verfügen zu können. Herr Doctor. Ich kannte keinen Doctor Antekirtt. Ich hatte nicht einmal bis dahin seinen Namen vernommen. Dieses Geld konnte ein Almosen derer sein, die mein Gatte bekämpft hatte und deren Mitleid mir hassenswerth erschien. Deshalb habe ich nicht gewagt, es anzugreifen, nicht einmal zu dem Zwecke, für den der Doctor Antekirtt es bestimmt hatte.

– Das Geld also…

– Ist unberührt.

– Und Ihr Sohn?

– Mein Sohn soll Alles nur sich selbst zu verdanken haben…

– Und seiner Mutter,« ergänzte der Doctor; so viel Seelengröße und Charakterstärke mußten seine Bewunderung wachrufen und seine Achtung vor der Matrone erhöhen.

Inzwischen war Frau Bathory aufgestanden und hatte aus einem verschlossenen Schranke ein Packet Banknoten geholt, welches sie dem Doctor hinhielt.

»Ich bitte, Herr Doctor, sagte sie zu ihm, nehmen Sie das Geld zurück, denn es gehört Ihnen und empfangen Sie dieselben herzlichen Danksagungen einer Mutter, als wenn das Geld zur Erziehung ihres Sohnes benützt worden wäre.

– Das Geld gehört mir nicht mehr, gnädige Frau, antwortete der Doctor mit abweisender Geberde.

– Ich wiederhole Ihnen, daß es mir nie gehören durfte!

– Wenn aber Peter Bathory Gebrauch davon machen könnte…

– Mein Sohn wird eine Stellung finden, die seiner würdig ist, und ich würde dann auf ihn rechnen können, wie er auf mich gerechnet hat.

– Er wird das nicht zurückweisen, was ein Freund seines Vaters ihn anzunehmen bittet.

– Er wird es!

– Gestatten Sie mir wenigstens den Versuch, gnädige Frau?

– Ich bitte Sie, in dieser Hinsicht nichts zu unternehmen, Herr Doctor, antwortete Frau Bathory. Mein Sohn weiß nicht einmal, daß ich das Geld erhalten habe, und ich wünsche auch, daß er es nie erfährt.

– Es sei! Ich verstehe die Beweggründe Ihrer Handlungsweise, da ich Ihnen nur ein Unbekannter war und bin. Ja, ich begreife und bewundere sie. Ich wiederhole Ihnen aber trotzdem, daß das Geld, wenn es Ihnen nicht gehört, auch mir nicht gehört.«

Doctor Antekirtt erhob sich. Die Weigerung der Frau Bathory hatte nichts ihn persönlich Verletzendes. Dieses Zartgefühl mußte in ihm die höchste Achtung wachrufen. Er verneigte sich vor der Witwe und wollte sich entfernen, als eine Frage der Frau Bathory ihn noch zurückhielt:

»Sie haben mir von einer ehrlosen Handlung gesprochen, Herr Doctor, welche den Tod Ladislaus Zathmar’s, Stephan Bathory’s und des Grafen Sandorf veranlaßt hat?

– Ich habe Ihnen den wahren Sachverhalt erzählt, gnädige Frau.

– Und Niemand kennt die Verräther?

– O doch, gnädige Frau.

– Wer ist es?

– Gott!«

Doctor Antekirtt verneigte sich noch einmal und ging.

Frau Bathory blieb in Nachdenken versunken zurück. Durch eine geheime Sympathie, von der sie sich vielleicht nicht einmal Rechenschaft ablegen konnte, fühlte sie sich unwiderstehlich zu der geheimnißvollen Persönlichkeit hingezogen, welche sich in die intimsten Geschehnisse ihres Lebens eingemischt hatte. Würde sie ihn jemals wiedersehen und würde er nun nicht wieder in See gehen, nachdem er mit der »Savarena« nach Ragusa gekommen war, nur um ihr einen Besuch abzustatten?

Am folgenden Tage erzählten die Zeitungen, daß ein Unbekannter den Hospitälern der Stadt ein Geschenk von hunderttausend Gulden gemacht hätte.

Es war das Almosen des Doctors Antekirtt, zugleich auch dasjenige der Witwe, welche die Annahme desselben für sich und ihren Sohn verweigert hatte.

Fünftes Capitel. Verschiedene Zwischenfälle.

Der Doctor schien aber, entgegen der Annahme der Frau Bathory, durchaus keine Lust zu empfinden, Gravosa zu verlassen. Nach seinem erfolglosen Versuche, der Mutter zu Hilfe zu kommen, hatte er sich vorgenommen, dem Sohne unter die Arme zu greifen. Wenn auch Peter Bathory bis dahin keine seinen vorzüglichen Fähigkeiten entsprechende Stellung gefunden hatte, so würde er gewiß die Anerbietungen nicht von der Hand weisen, welche der Doctor ihm zu machen gewillt war. Ihm eine seiner Anlagen und seines Namens würdige Stellung zu verschaffen, konnte nicht als ein Almosen betrachtet werden. Es wäre das nur eine gerechte Wiedervergeltung, die man diesem jungen Manne schuldig war.

Peter Bathory war jedoch, wie Borik gesagt hatte, nach Zara in Geschäften gefahren.

Der Doctor zögerte trotzdem nicht, ihm zu schreiben. Er that es noch am selben Tage. Sein Brief beschränkte sich darauf, auszudrücken, wie glücklich er sich schätzen würde, Peter Bathory an Bord der »Savarena« zu empfangen, da er ihm einen ihn gewiß interessirenden Vorschlag zu machen hätte.

Dieser Brief wurde in Gravosa auf die Post gegeben und man mußte sich nun bis zur Rückkehr des jungen Ingenieurs in Geduld fassen.

Der Doctor lebte noch zurückgezogener als vorher an Bord des Schooners. Die in der Mitte des Hafens verankerte »Savarena« lag, umsomehr als auch ihre Bemannung niemals an Land ging, ebenso verlassen da, als befände sie sich an irgend einem einsamen Orte des Mittelländischen oder Atlantischen Meeres.

Das Außergewöhnliche war ganz dazu angethan, die Neugierigen, Reporter oder Andere zu intriguiren, welche keineswegs darauf verzichtet hatten, die räthselhafte Person des Doctors zu »interviewen«, obgleich man sie nicht an Bord der Yacht ließ, die nicht minder räthselhaft als ihr Eigenthümer sich zeigte. Da Pointe Pescade und sein Genosse Kap Matifu willkürlich schalten und walten konnten, so ließen sie es sich namentlich angelegen sein, diejenigen abzufertigen, welche für ihre Zeitungen Erkundigungen einzuziehen gedachten.

Pointe Pescade hatte, mit Genehmigung des Doctors natürlich, etwas Fröhlichkeit in das eintönige Schiffsleben gebracht. Während Kap Matifu so ernsthaft wie eine Schiffswinde blieb, deren Stärke er besaß, lachte und sang Pescade stets, lebhaft wie der Commandowimpel eines Kriegsschiffes, dessen Beweglichkeit der seinen gleichkam. Wenn er nicht zum größten Ergötzen der Bemannung, der er Unterricht im Luftsprunge gab, geschickt wie ein Matrose und gewandt wie ein Schiffsjunge im Tauwerk umherkletterte, so unterhielt er mit seinen endlosen Hanswurstiaden. Der Doctor Antekirtt hatte ihm nicht vergebens angerathen, sich seinen guten Humor zu bewahren. Nun wohl, er bewahrte ihn und ließ sogar Andere daran Theil nehmen.

Es war weiter oben schon gesagt worden, daß Kap Matifu und er vollständige Freiheit genossen. Mit anderen Worten, sie konnten gehen und kommen, wie es ihnen beliebte. Während die Mannschaft an Bord blieb, fuhren sie ans Land, wenn es ihnen einfiel. Daher stammte denn auch die natürliche Neigung der Neugierigen, ihnen zu folgen, ihnen zu schmeicheln, sie auszufragen. Doch Pointe Pescade ließ sich nicht sprechen, wenn er schweigen wollte; wenn er aber sprach, besagte sein Sprechen auch nichts.

»Was ist der Doctor Antekirtt?

– Ein berühmter Arzt. Er heilt alle Krankheiten, selbst die, welche Euch soeben in die andere Welt spedirt haben.

– Ist er reich?

– Er besitzt keinen Kreuzer… Ich, Pescade bin es, der ihm jeden Sonntag seine Löhnung auszahlt.

– Woher kommt er?

– Aus einem Lande, dessen Namen Niemand kennt.

– Und wo liegt dieses Land?

– Alles, was ich sagen kann, ist, daß es im Norden durch irgend etwas Mächtiges und im Süden durch nichts begrenzt wird.«

Es war ganz unmöglich, andere Antworten aus dem stets vergnügten Gefährten Kap Matifu’s heraus zu bekommen, der stumm wie ein Granitblock blieb.

Wenn nun auch die beiden Freunde den indiscreten Fragen der Reporter aus dem Wege gingen, so unterließen sie es doch nicht, sich unter vier Augen und zwar häufig über ihren neuen Herrn zu unterhalten. Sie hatten ihn schon liebgewonnen und liebten ihn sehr. Ihre stete Sorge war es, ihm ihre Ergebenheit zu beweisen. Zwischen ihnen und dem Doctor bestand eine Art Wahlverwandtschaft, eine Zusammengehörigkeit, die sie von Tag zu Tag enger aneinander knüpfte.

An jedem Morgen hofften sie in des Doctors Zimmer gerufen zu werden und dort die Worte zu hören:

»Ich bedarf Eurer, Freunde.«

Aber zu ihrem großen Verdrusse geschah nichts derartiges.

– Ob das wohl noch lange so fortgehen wird? fragte eines Tages Pointe Pescade. Es ist hart, zum Nichtsthun verurtheilt zu sein, namentlich wenn man dazu nicht erzogen worden ist, mein Kap.

– Ja, meinte der Hercules und betrachtete sorgfältig seine enormen, den Zugstangen der in Ruhe versetzten Maschinen ähnlichen Muskeln, meine Arme werden steif.

– Sag mal, Kap Matifu…

– Was soll ich Dir sagen, Pointe Pescade?

– Weißt Du, was ich vom Doctor Antekirtt halte?

– Nein, aber sage mir Deine Gedanken, Pointe Pescade, vielleicht verhelfen sie mir zu einer Antwort.

– Nun gut, daß es in seiner Vergangenheit Dinge gibt, Dinge… Man sieht das nämlich seinen Augen an, die mitunter Blitze werfen, als wollten sie Jemand blenden… Und an dem Tage, an dem der Donner losbrechen wird…

– Wird es einen großen Krach geben?

– Ja, Kap Matifu, es wird einen Krach geben… und Arbeit; ich denke mir nämlich, daß wir dann nicht unnütz herumstehen werden.«

Pointe Pescade sprach nicht ohne Grund in dieser Weise. Obwohl die größte Ruhe an Bord des Schooners herrschte, hatte der umsichtige Jüngling doch Manches gesehen, was ihm zu denken gab. Daß der Doctor nicht ein einfacher Reisender war, der auf seiner Vergnügungsyacht nur das Mittelmeer durchstreifte, war klar. Die »Savarena« konnte nur ein Centrum für die vielen Fäden sein, die in der Hand ihres Eigenthümers vereinigt lagen.

Briefe und Depeschen kamen nämlich fast aus allen Ecken und Enden dieses herrlichen Meeres, dessen



Der Hauptplatz in Ragusa.


Fluthen die Küsten so vieler verschiedener Länder, Frankreichs, Spaniens ebenso wie diejenigen von Marokko, Algerien und Tripolis, bespülen. Wer sandte obige? Jedenfalls Correspondenten des Doctors, welchen Angelegenheiten anvertraut waren, deren Bedeutung nicht mißzuverstehen war; weniger wahrscheinlich war es, daß diese Nachrichten von Patienten des Doctors herrührten, die auf schriftlichem Wege den berühmten Doctor consultirten.



»Ja, meine Arme werden steif,« erwiderte der Hercules. (S. 215.)


Selbst im Telegraphenbureau von Ragusa konnte man schwerlich den Sinn dieser Depeschen erfassen, denn sie waren in einer unbekannten Sprache, deren Zeichen nur dem Doctor verständlich waren, abgefaßt. Und wäre selbst diese Sprache zu verstehen gewesen, was hätte man schon aus solchen Phrasen, wie die folgenden, herauslesen können:

»Almeira: Man glaubte, Z. R. auf der Spur zu sein. – Falsche, jetzt verlassene Fährte.«

»Den Correspondent von H. V. 5 wiedergefunden. – Verbunden mit Truppe von K. 3, zwischen Catania und Syrakus. Zur Verfolgung.«

»In dem Manderaggio, La Valette, Malta habe ich das Passiren von T. K. 7 festgestellt.«

»Cyrene… Erwarten neue Befehle… Flotille von Antek… bereit. Electric 3 bleibt Tag und Nacht unter Druck.«

»R. O. 3. Seitdem im Gefängniß verstorben. – Beide verschwunden.«

Ein anderes Telegramm brachte mit Hilfe einer verabredeten Zahl folgende genauere Nachricht:

»2117. Sacc. Früher Handelsmakler… In Diensten Toronth. – Beziehungen mit Tripolis von Afrika unterbrochen.«

Auf die meisten dieser Depeschen ging von der »Savarena« folgende gleichlautende Antwort ab:

»Recherchen fortsetzen. Sparet weder Geld noch Mühe. Sendet neue Beweisstücke.«

Hier existirte also ein Austausch von Schriftstücken, deren unbegreiflicher Inhalt den ganzen schiffbaren Theil des Mittelmeeres in den Kreis ihrer Beobachtung zu ziehen schienen. Der Doctor war also doch nicht so unbeschäftigt, wie es den Anschein hatte. Aller Verschwiegenheit im Amte zum Trotze konnte dieser Depeschenwechsel nur schwer vor der Oeffentlichkeit geheim gehalten werden. Die Neugier betreffs der räthselhaften Persönlichkeit des Doctors verdoppelte sich also.

Einer der am meisten Vexirten aus den besseren Gesellschaftskreisen Ragusas war der einstmalige Banquier von Triest. Silas Toronthal hatte, wie man sich noch erinnern wird, wenige Augenblicke nach der Ankunft der »Savarena« den Doctor Antekirtt auf dem Quai von Gravosa angetroffen. Während dieses Zusammentreffens hatte sich auf der einen Seite ein lebhaftes Gefühl des Widerwillens, auf der anderen ein nicht weniger großes der Neugierde bemerkbar gemacht; doch bis zu dieser Stunde hatten die Umstände es dem Banquier nicht ermöglicht, letztere befriedigen zu können.

In Wahrheit hatte die Anwesenheit des Doctors einen eigenthümlichen Eindruck auf Silas Toronthal ausgeübt, den er sich selbst nicht erklären konnte. Was man sich von Ersterem in Ragusa erzählte, das Incognito, mit dem er sich umhüllte, die Schwierigkeit, bei ihm vorgelassen zu werden, hatte in Silas Toronthal den Wunsch lebhaft werden lassen, ihn wiederzusehen. Er hatte sich zu diesem Zwecke mehrfach nach Gravosa begeben. Dort pflegte er vom Quai aus den Schooner zu betrachten, vor Begierde brennend, an Bord desselben zu gelangen. Eines Tages hatte er sich sogar nach der Yacht übersetzen lassen, aber ebenfalls die unvermeidliche Antwort des Steuermannsgehilfen erhalten:

»Doctor Antekirtt ist nicht zu sprechen.«

Die Folge war, daß Silas Toronthal in einen Zustand sich steigernder Erbitterung gerieth gegenüber dem Geheimniß, das er nicht zu ergründen wußte.

Der Banquier faßte deshalb den Plan, den Doctor auf eigene Rechnung ausspioniren zu lassen. Er gab einem Agenten, den er als zuverlässig kannte, den Auftrag, Schritte und Wege des geheimnißvollen Reisenden zu beobachten, selbst wenn dieser sich darauf beschränkte, nur Gravosa oder seine Umgebung zu besuchen.

Man kann sich also die Unruhe vorstellen, die Silas Toronthal befiel, als er hörte, daß der alte Borik eine Unterredung mit dem Doctor gehabt hatte, und daß dieser am folgenden Tage der Frau Bathory einen Besuch abstattete.

»Was mag das nur mit diesem Manne auf sich haben?« fragte er sich unablässig.

Was konnte übrigens der Banquier in seiner jetzigen Stellung zu fürchten haben? Innerhalb der letzten fünfzehn Jahre war nichts von seinen einstigen Umtrieben laut geworden. Trotzdem mußte ihn Alles, was sich auf die Familie derjenigen bezog, welche er verrathen und verkauft hatte, beunruhigen. Wenn auch die Reue sein Gewissen nicht bedrückte, die Furcht schlich sich doch oft bei ihm ein und der Schritt, den dieser unbekannte, durch seinen Ruf und sein Vermögen mächtige Doctor gethan hatte, war ganz dazu angethan, ihm jede Ruhe zu nehmen.

»Was mag das nur mit dem Manne auf sich haben? sagte er wiederholt. Was mag er in Ragusa, in dem Hause der Frau Bathory zu suchen haben?… Ist er dorthin als Arzt gerufen worden?… Was mag sie mit ihm gemein haben?«

Er fand keine befriedigende Antwort auf diese Fragen. Was Silas Toronthal etwas beruhigte, war, daß er nach sorgfältiger Beobachtung die Gewißheit erhielt, daß der Frau Bathory gemachte Besuch nicht wiederholt wurde.

Der Entschluß des Banquiers, mit dem Doctor in Verbindung zu treten, koste es, was es wolle, wurde demnach immer hartnäckiger erwogen. Dieser Gedanke beherrschte ihn Tag und Nacht. Er mußte dieser Qual ein Ende machen. Das überreizte Gehirn spiegelte ihm vor, daß er seine Ruhe nur wiederfinden könnte, wenn er den Doctor Antekirtt wiedergesehen, sich mit ihm unterhalten, die Gründe seines Aufenthaltes in Gravosa kennen gelernt haben würde. Er sachte eifrig eine Gelegenheit zur Herbeiführung einer Begegnung.

Endlich glaubte er das Richtige gefunden zu haben. Seit einigen Jahren bereits litt Frau Toronthal an einer abzehrenden Krankheit, gegen welche die Aerzte in Ragusa kein Mittel kannten. Trotz ihrer Bemühungen und trotz der Pflege, mit welcher ihre Tochter sie umgab, siechte die Dame sichtlich dahin, ohne daß sie bettlägerig wurde. Lag diesem Zustande eine moralische Ursache zu Grunde? Vielleicht, doch Niemand konnte dahinterkommen. Der Banquier allein konnte wissen, ob seine Frau, die ja seine Vergangenheit kannte, nicht vielleicht einen unüberwindlichen Abscheu vor einer Existenz hegte, die ihr nur Schrecken verursachen konnte. Jedenfalls bot das Auftreten der Krankheit bei der von den Aerzten fast aufgegebenen Frau Toronthal dem Banquier die beste Gelegenheit, mit dem Doctor in Verbindung zu kommen. Es war zu erwarten, daß dieser einer erbetenen Consultation, einem Besuche, wäre es auch nur aus Nächstenliebe, nicht aus dem Wege gehen würde.

Silas Toronthal schrieb also einen Brief, den er durch einen seiner Leute nach der »Savarena« befördern ließ. »Er würde sich glücklich schätzen,« schrieb er in demselben, »die Ansicht eines Arztes von so unbestreitbarem Verdienste zu vernehmen.« Dann bat er, zugleich mit der Entschuldigung wegen der Störung, die sein Anliegen in das zurückgezogene Leben des Doctors bringen mußte, »ihm den Tag anzeigen zu wollen, an dem er ihn im Hotel am Stradone erwarten dürfte.«

Als am folgenden Tage der Doctor diesen Brief empfing, dessen Aufschrift er zuerst betrachtete, zuckte nicht ein Muskel in seinem Gesicht. Er las ihn bis zur letzten Zeile, aber nichts verrieth, welcher Natur seine Ueberlegung war, die durch den Brief in ihm wachgerufen wurde.

Welche Antwort war hier die richtige? Sollte er die ihm gebotene Gelegenheit, in das Haus Toronthal’s zu dringen, benützen und sich mit der Familie des Banquiers in Verbindung setzen? Konnte andererseits die Art und Weise, wie er das Haus des Banquiers betreten würde, selbst in seiner Stellung als Arzt, ihm genehm sein?

Der Doctor schwankte nicht. Er warf nur wenige Worte auf das Papier, welches dann dem Diener Toronthal’s eingehändigt wurde. Dieselben lauteten:

»Doctor Antekirtt bedauert, seine Sorgfalt Frau Toronthal nicht widmen zu können. Er ist kein europäischer Arzt.«

Weiter nichts.

Als der Banquier diese lakonische Antwort erhielt, zerknitterte er das Briefpapier mit der Geberde lebhaften Unwillens. Es war mehr als augenscheinlich, daß der Doctor nicht in Verbindung mit ihm zu treten wünschte. Die Absage ließ deutlich genug durchschimmern, daß diese eigenartige Persönlichkeit ihren unwiderruflichen Entschluß bereits gefaßt hatte.

»Und wenn er selbst kein europäischer Arzt ist, sagte er bei sich, warum wollte er es für Frau Bathory sein… vorausgesetzt, daß er sich als Doctor bei ihr eingeführt hat?… Was hätte er auch sonst dort zu thun?… Was können die Beiden miteinander haben?«

Diese Ungewißheit folterte Silas Toronthal, dessen ruhiges Leben durch die Anwesenheit des Doctors in Gravosa vollständig in Unordnung gerathen war und voraussichtlich so lange gestört blieb, als die »Savarena« im Hafen ankerte. Er sagte übrigens seiner Frau und seiner Tochter nichts von dem erfolglosen Schritte, den er gethan. Er zog es vor, das Geheimniß seiner sehr begründeten Unruhe für sich zu behalten, hörte aber nicht auf, den Doctor auch ferner überwachen zu lassen, um über alle Schritte unterrichtet zu sein, die dieser von Gravosa nach Ragusa noch machen würde.

Schon am nächsten Tage gab ihm ein neuer Vorfall Grund zu nicht weniger ernster Besorgniß.

Peter Bathory war entmuthigt von Zara zurückgekehrt. Er hatte sich betreffs der ihm angebotenen Stellung nicht einigen können, welche die Leitung eines bedeutenden metallurgischen Hüttenwerkes in der Herzegowina betraf.

»Die Bedingungen waren nicht annehmbar,« begnügte er sich seiner Mutter zu sagen.

Frau Bathory sah den Sohn an, wollte aber nicht fragen, weshalb die Bedingungen nicht annehmbar waren. Dann überreichte sie ihm den während seiner Abwesenheit für ihn eingelaufenen Brief.

Es war derselbe, durch den Doctor Antekirtt Peter Bathory aufforderte, zu ihm an Bord der »Savarena« zu kommen, um sich mit ihm über eine Angelegenheit zu unterhalten, deren Kenntniß für ihn gewiß von Interesse sein würde.

Peter Bathory reichte den Brief seiner Mutter. Dieses vom Doctor ausgehende Anerbieten konnte sie nicht überraschen.

»Ich war darauf gefaßt, sagte sie.

– Sie erwarteten diesen Vorschlag, Mutter? fragte der über diese Antwort nicht wenig erstaunte junge Mann.

– Ja, Peter. Der Doctor Antekirtt war während Deiner Abwesenheit bei mir.

– Wissen Sie, wer dieser Mann ist, von dem man seit Kurzem in Ragusa so viel spricht?

– Nein, mein Sohn. Doctor Antekirtt kannte Deinen Vater, er war ein Freund des Grafen Sandorf und führte sich als solcher bei mir ein.

– Welche Beweise hat Ihnen dieser Doctor gegeben, Mutter, daß er wirklich der Freund meines Vaters gewesen ist?

– Keine! erwiderte Frau Bathory, die nicht von der Uebersendung der hunderttausend Gulden sprechen wollte, was der Doctor vor dem jungen Manne ebenfalls geheim halten sollte.

– Und wenn er irgend ein Schleicher, ein Spion, ein Agent Oesterreichs ist? fragte Peter Bathory.

– Du wirst ihn richtig beurtheilen, mein Sohn.

– Sie rathen mir also zu ihm zu gehen?

– Ja, ich rathe es Dir. Man darf einen Mann nicht bei Seite schieben, welcher auf Dich die ganze Freundschaft, die er für Deinen Vater gefühlt, übertragen will.

– Was hat er aber in Ragusa zu suchen? Welche Absichten führen ihn in unser Land?

– Vielleicht denkt er daran, hier irgend etwas zu erwerben, erwiderte Frau Bathory. Er gilt für ungeheuer reich und es ist möglich, daß er Dir eine Deiner würdige Stellung anbieten will.

– Ich werde zu ihm gehen, liebe Mutter, und hören, was er will.

– Gehe noch heute zu ihm, mein Sohn, und statte ihm gleichzeitig den Besuch ab, den ich ihm schuldig bleiben muß.«

Peter Bathory umarmte seine Mutter. Er drückte sie lange an seine Brust. Ein Geheimniß schien ihn zu bedrücken, das er nicht zu offenbaren wagte. Konnte es in seinem Herzen etwas Schmerzliches, Gewichtiges geben, das er seiner Mutter nicht anvertrauen durfte?

»Mein armes Kind,« sagte Frau Bathory unhörbar.

Es war in der ersten Stunde Nachmittags, als Peter den Stradone hinab nach dem Hafen von Gravosa ging.

Als er am Hause Toronthal’s vorüberging, blieb er einen Augenblick stehen, nur einen Augenblick. Seine Blicke schweiften zu einem der runden Pavillons hinüber, dessen Fenster sich nach der Straße öffneten. Die Vorhänge waren heruntergelassen. Wenn das Haus unbewohnt gewesen wäre, hätte es auch nicht verschlossener erscheinen können.

Peter Bathory nahm seinen Marsch, den er mehr verlangsamt als unterbrochen hatte, von Neuem auf. Seine Bewegungen entgingen aber nicht den Blicken einer Frau, die auf der anderen Seite des Stradone auf und ab ging.

Sie war eine hochgewachsene Person. Ihr Alter?… Zwischen vierzig und fünfzig Jahre. Ihr Schritt?… Gemessen, fast mechanisch, als wäre Alles an ihr aus einem Stück. Diese Fremde – daß sie es war, ließ sich leicht an ihren braunen, dichtgelockten Haarflechten und ihrem marokkanischen Teint erkennen – war in einen dunkelfarbigen Mantel gehüllt, dessen Kapuze über das mit Zechinen geschmückte Haupt gezogen war. War es eine Zigeunerin, ein Wesen ägyptischer oder indischer Abstammung? Man hätte es mit Bestimmtheit nicht sagen können, da so viele Typen sich ähneln. Jedenfalls aber bat sie nicht um Almosen und hätte wahrscheinlich auch keine angenommen, wenn man sie ihr gereicht haben würde. Sie war da, um auf eigene Rechnung oder im Auftrage eines Anderen zu überwachen und auszuspioniren, sowohl was im Hause Toronthal als auch in der Marinella-Straße vor sich ging.

Sobald sie den jungen Mann gesehen hatte, der durch den Stradone auf Gravosa zu weiterging, folgte sie ihm so, daß sie ihn nicht aus den Augen verlieren konnte, doch auch so geschickt, daß ihr Geleit nicht auffällig wurde. Peter Bathory war auch viel zu sehr in Gedanken versanken, als daß er hätte bemerken können, was hinter ihm vorging. Als er vor dem Hotel Silas Toronthal’s seinen Schritt verlangsamte, that sie es ebenfalls. Als er weiterschritt, folgte sie ihm, indem sie ihre Schritte nach den seinen regelte.

An der ersten Umwallung Ragusas angelangt, durchschritt Peter Bathory dieselbe schnell, entfernte sich aber dadurch nicht von der Fremden. Jenseits des Ausfallthores fand sie ihn auf der Straße nach Gravosa wieder und ging in einer Entfernung von zwanzig Schritt durch die mit Bäumen bepflanzte Nebenallee hinter ihm her.

Zu derselben Zeit fuhr Silas Toronthal im offenen Wagen nach Ragusa zurück. Er mußte sich also nothwendigerweise mit Peter Bathory unterwegs kreuzen.

Als die Marokkanerin Beide sah, blieb sie stehen. Sie glaubte vielleicht, daß Einer sich dem Anderen nähern würde. Ihr Blick entzündete sich und sie sachte hinter einem dicken Baume Schutz. Wenn selbst die zwei Männer mit einander sprachen, wie hätte sie das hören sollen?

Doch geschah nichts derartiges. Silas Toronthal hatte Peter Bathory in einer Entfernung von zwanzig Schritt sich nähern gesehen. Diesmal antwortete er ihm nicht einmal mit einem Gruße von oben herab, wie auf dem Quai von Gravosa in Begleitung seiner Tochter, wo er sich schon dazu bequemen mußte. Er wandte in dem Augenblicke, als der junge Mann den Hut zog, den Kopf fort und sein Wagen trug ihn schnell nach Ragusa hinein, an Peter vorüber.

Die Fremde hatte nichts von dieser Scene verloren: ein Lächeln huschte über ihr unempfängliches Gesicht.

Peter Bathory, ersichtlich mehr betrübt als irritirt von der Handlungsweise des Banquiers, ging langsameren Schrittes, ohne sich umzublicken, weiter.

Die Marokkanerin folgte ihm in einiger Entfernung; man hätte zwischen ihren Lippen in arabischer Sprache die Worte vernehmen können:

»Es ist Zeit, daß er kommt.«

Eine Viertelstunde später langte Peter auf dem Quai von Gravosa an. Er blieb einige Augenblicke stehen, um die elegante Yacht zu betrachten, deren Wimpel an der Spitze des Großmastes in der schwachen Meerbrise sich kaum entfaltete.

»Woher mag dieser Doctor Antekirtt stammen? fragte er sich. Die Flagge ist mir unbekannt.«

Er wandte sich an einen auf dem Quai umherwandelnden Seemann mit der Frage:

»Kennen Sie jene Flagge, mein Freund?«

Der Seemann kannte sie auch nicht. Alles, was er ihm sagen konnte, war, daß die Yacht aus Brindisi gekommen war und daß ihre von der Hafenbehörde gemusterten Papiere in Ordnung waren. Da die Yacht als ein Vergnügungsfahrzeug angemeldet war, so hatte die Behörde das Incognito respectirt.

Peter Bathory rief ein Boot an und ließ sich an Bord der »Savarena« bringen, während die äußerst überraschte Marokkanerin ihn sich entfernen sah.

Bald darauf betrat der junge Mann das Deck des Schooners und fragte nach dem Doctor Antekirtt.

Der Befehl, der jeden Fremden von dem Betreten der »Savarena« ausschloß, schien für ihn nicht vorhanden zu sein. Der Quartiermeister gab ihm zur Antwort, daß sich Doctor Antekirtt auf seinem Zimmer befände. Peter Bathory gab seine Karte ab und bat zu fragen, ob der Doctor ihn empfangen würde.



Doctor Antekirtt saß in dem dunkleren Theile des Gemaches. (S. 226.)


Ein Matrose ging mit derselben die Treppe hinunter, die zu den hinteren Salons führte.

Eine Minute später kehrte der Matrose mit der Meldung zurück, daß der Doctor Herrn Peter Bathory erwarte.

Der junge Mann wurde sofort in den Salon geleitet, in dem ein durch die leichten Vorhänge an den Luken verursachtes Halbdunkel vorherrschte. Als er an der Thür anlangte, deren beide Flügel offen standen, wurde er von dem vollen Lichte, das aus den Spiegelgläsern an der Decke zurückstrahlte, getroffen.

Doctor Antekirtt saß in dem dunkleren Theile des Gemaches auf einem Divan. Er fühlte beim Eintritt des Sohnes von Stephan Bathory sich lebhaft überrascht, was Peter allerdings nicht bemerken konnte; ebenso konnte er die Worte nicht hören, die über des Doctors Lippen drangen:

»Ganz er…! Ganz sein Ebenbild!«

Peter Bathory ähnelte seinem Vater in der That augenfällig; anders konnte dieser im Alter von zweiundzwanzig Jahren auch nicht ausgesehen haben: dieselbe Willenskraft blickte aus den Augen, derselbe Adel der Haltung, derselbe Blick, bereit, sich für das Gute, Wahre, Schöne zu begeistern.

»Ich freue mich, Herr Bathory, sagte der Doctor, indem er sich erhob, daß Sie meiner an Sie gerichteten Aufforderung gefolgt sind.«

Und auf eine einladende Bewegung hin nahm Peter ihm gegenüber auf der anderen Seite des Salons Platz. Der Doctor hatte sich der ungarischen Sprache bedient, weil er wußte, daß Peter Bathory ihrer mächtig war.

»Ich würde hergekommen sein, antwortete Peter, um Ihnen, Herr Doctor, den Besuch zu erwidern, den Sie meiner Mutter gemacht haben, selbst wenn Sie mich nicht aufgefordert hätten, zu Ihnen an Bord zu kommen. Ich weiß, daß Sie einer der unbekannten Freunde sind, denen das Andenken meines Vaters und der mit ihm zusammen gestorbenen zwei Vaterlandsfreunde heilig ist. Ich danke Ihnen herzlich dafür, daß Sie ihm einen Platz in Ihrer Erinnerung bewahrt haben.«

Peter Bathory konnte, als er die ferne Vergangenheit heraufbeschwor, von seinem Vater und dessen Freunden, den Grafen Mathias Sandorf und Ladislaus Zathmar sprach, seine Rührung nicht unterdrücken.

»Ich bitte um Verzeihung, Herr Doctor, sagte er. Wenn ich daran denke, was sie gethan haben, so kann ich nicht…«

Fühlte er wirklich nicht, daß Doctor Antekirtt noch bewegter als er selbst war und daß er nur deshalb nicht gleich antwortete, um nicht zu zeigen, was in seinem Innern vorging?

»Herr Bathory, sagte er endlich, ich habe Ihrem ganz natürlichen Schmerze nichts zu vergeben. Sie sind auch Ungar von Geburt und welcher Sohn seines Vaterlandes wäre so entartet, daß er sich von solchen Erinnerungen nicht schmerzlich bewegt fühlen würde. Damals, vor fünfzehn Jahren – ja, fünfzehn Jahre sind es bereits her – waren Sie noch sehr jung. Sie können kaum behaupten, daß Sie Ihren Vater gekannt haben und die Ereignisse, an denen er betheiligt war.

– Meine Mutter ist, sozusagen, seine zweite Hälfte, Herr Doctor, antwortete Peter Bathory. Sie hat mich in dem Glauben an denjenigen erzogen, den sie noch jetzt beweint. Alles, was er versucht, was er gethan hat, sein ganzes Leben voll Ergebenheit für die Seinigen, voll Patriotismus für sein Land, ich kenne es durch sie. Als mein Vater starb, war ich erst acht Jahre alt, doch scheint es mir, als lebe er noch immer, da er mir in meiner Mutter neu erstanden ist.

– Sie lieben Ihre Frau Mutter, wie sie geliebt zu werden verdient, Herr Peter Bathory, sagte der Doctor, und wir, wir verehren sie als die Witwe eines Märtyrers.«

Peter dankte dem Doctor für die Gefühle, die er ausgesprochen. Sein Herz schlug ihm hörbar und er bemerkte selbst nicht, daß der Doctor mit einer ersichtlichen, natürlichen oder beabsichtigten, Kälte sprach, welche den Kern seines Wesens zu bilden schien.

»Darf ich fragen, ob Sie meinen Vater persönlich gekannt haben, Herr Doctor? begann Peter Bathory von Neuem.

– Ja, Herr Bathory, erwiderte der Doctor mit leisem Zögern, doch habe ich ihn nur gekannt, wie ein Student einen Professor kennt, der eine der Zierden der ungarischen Universitäten gewesen ist. Ich habe meine medicinischen und physikalischen Studien in Ihrem Vaterlande durchgemacht. Ich war der Schüler Ihres Vaters, trotzdem er nur vielleicht zwölf Jahre älter war als ich. Ich lernte ihn schätzen, lieben, denn ich fühlte in seinen Lehren schon das vibriren, was er später als glühender Patriot gethan hat und ich verließ ihn erst in dem Augenblick, als ich mich anschickte, in fremden Ländern meine in Ungarn begonnenen Studien zu vollenden. Kurz darauf mußte Stephan Bathory seinen für gerecht und edel erkannten Ideen seine Stellung opfern, ohne daß irgend welche Privatinteressen im Stande gewesen wären, ihn vom Wege der Pflicht abzulenken. Er verließ Preßburg, um sich in Triest niederzulassen. Ihre Frau Mutter hat ihm mit Rathschlägen und liebender Sorgfalt in den Tagen der Prüfung zur Seite gestanden. Sie besaß alle Tugenden der Frau, wie Ihr Vater diejenigen des Mannes besaß. Sie werden mir vergeben, Herr Peter, wenn ich schmerzliche Erinnerungen in Ihnen wachgerufen habe; ich habe es gethan, weil ich voraussetzen durfte, daß Sie nicht zu denen gehören, die derartiges vergessen können.

– Nein, Herr Doctor, nein! rief Peter mit jugendlicher Begeisterung, ebenso wenig wie Ungarn jemals die drei Männer vergessen kann, die sich für dasselbe geopfert haben: Ladislaus Zathmar, Stephan Bathory und den Kühnsten unter ihnen, Mathias Sandorf.

– Wenn er auch der Kühnste war, erwiderte der Doctor, so dürfen Sie mir schon glauben, daß seine beiden Freunde ihm ebenbürtig an Ergebenheit, Opferfreudigkeit und Muth waren. Alle drei haben Anrecht auf die gleiche Achtung. Alle drei haben dasselbe Anrecht, gerächt zu werden!«

Der Doctor schwieg. Er wußte nicht, ob Frau Bathory dem Sohne wiedererzählt hatte, unter welchen Umständen die Verschwörer gefangen genommen worden waren, ob sie vor ihm das Wort Verrath gebraucht hatte. Der junge Mann griff es nicht auf. Frau Bathory hatte allerdings hierüber geschwiegen. Sie wollte jedenfalls das Leben ihres Sohnes vom Haß freihalten und ihn nicht erst auf falsche Fährten leiten, da Niemand die Namen der Verräther kannte.

Der Doctor hielt sich für den Augenblick zu gleicher Zurückhaltung verpflichtet und stand vom weiteren Verfolgen des Gedankens ab.

Er zögerte aber nicht, zu betonen, daß ohne das gemeine Vorgehen des Spaniers, der die vom Fischer Andrea Ferrato aufgenommenen Flüchtlinge verrieth, Graf Mathias Sandorf und Stephan Bathory voraussichtlich den Nachstellungen der Polizei in Rovigno entgangen wären. Wären sie einmal, gleichviel in welcher Richtung, über die österreichischen Grenzen entkommen, so hätten ihnen gewiß alle Thüren offengestanden.

»Bei mir, setzte er hinzu, hätten sie sicher ein Obdach gefunden, in dem sie stets geborgen gewesen wären.

– In welchem Lande, Herr Doctor? fragte Peter.

– Ich wohnte damals auf Cephalonia.

– Ja, ja! Auf den ionischen Inseln, unter dem Schutze Griechenlands wären sie gerettet gewesen und mein Vater noch am Leben.«

Die Unterhaltung wurde einen Augenblick unterbrochen. Die Gedanken schweiften in die Vergangenheit zurück. Der Doctor begann dann von Neuem:

»Ihre Erinnerungen, Herr Peter, haben Sie etwas der Gegenwart entrückt. Wünschen Sie, daß wir jetzt von etwas Anderem, namentlich von Ihrer eigenen Zukunft, wie ich sie mir denke sprechen?

– Ich höre, Herr Doctor, sagte Peter. Aus Ihrem Briefe ersah ich, daß es sich bei dem Besuche bei Ihnen vielleicht um meine eigenen Interessen handeln könnte.

– So ist es, Herr Bathory, und da ich wohl weiß, wie groß die Hingebung Ihrer Frau Mutter während der Jugend ihres Sohnes gewesen ist, da ich auch weiß, daß Sie sich derselben würdig gezeigt haben und nach harten Prüfungen ein Mann geworden sind….

– Ein Mann! erwiderte Peter Bathory mit Bitterkeit. Ein Mann, der noch nicht einmal für sich selbst sorgen, geschweige der Mutter zurückerstatten kann, was sie für ihn gethan hat.

– Mag sein, sagte der Doctor, doch tragen Sie nicht die Schuld. Ich weiß genau, wie schwer es ist, sich bei dieser Concurrenz einen Platz zu verschaffen, während so viele tüchtige Kräfte um so wenige offene Stellungen ringen. Sie sind Ingenieur?

– Ja, Herr Doctor! Ich habe die Akademie mit diesem Titel verlassen, bin aber ungebunden und habe keine Berechtigung zum Staatsdienste. Ich habe versucht, bei irgend einer industriellen Unternehmung anzukommen, aber bis jetzt, wenigstens in Ragusa, nichts gefunden, was mir zusagen könnte.

– Und außerhalb?

– Außerhalb…, erwiderte Peter Bathory und stockte.

– Ja. Sind Sie nicht vor einigen Tagen behufs Meldung zu einer Stellung nach Zara gereist?

– Man hat mir allerdings von einer solchen erzählt, die bei einem metallurgischen Unternehmen offen stehen sollte.

– Und diese Stellung?

– Ist mir auch angeboten worden.

– Sie haben sie nicht angenommen?

– Ich glaubte sie ausschlagen zu müssen, weil ich mich endgiltig in der Herzegowina hätte niederlassen müssen.

– In der Herzegowina? Hätte Frau Bathory Sie dorthin nicht begleiten können?

– Meine Mutter wäre mir gewiß überallhin gefolgt, wohin mein Interesse mich zu gehen genöthigt hätte.

– Warum also haben Sie das Angebotene ausgeschlagen? fragte der Doctor eindringlich.

– In der Lage, in der ich mich augenblicklich befinde, Herr Doctor, meinte Peter, verpflichten mich ernsthafte Gründe, Ragusa nicht zu verlassen.«

Der Doctor bemerkte, daß eine gewisse Verlegenheit in dem Wesen Peter Bathory’s sich bei dieser Antwort geltend machte. Seine Stimme zitterte bei der Offenbarung dieses Wunsches, stärker gesagt dieses Entschlusses, Ragusa nicht zu verlassen. Es konnte nur ein sehr gewichtiger Grund sein, der ihn veranlaßt hatte, die ihm gemachten Vorschläge von der Hand zu weisen.

»– Dann wird auch die Angelegenheit hinfällig, wegen der ich mit Ihnen zu reden hatte, sagte Doctor Antekirtt.

– Es handelt sich um eine Abreise?

– Ja, in ein Land, in dem ich umfangreiche Arbeiten ausführen lassen will. Ich wäre glücklich gewesen, dieselben unter Ihrer Leitung zu wissen.

– Ich bedaure ebenfalls, Herr Doctor, doch glauben Sie mir wohl, daß ich, nachdem ich einmal den Entschluß gefaßt habe…

– Ich glaube es, Herr Peter, und bedaure es vielleicht mehr als Sie! Ich hätte mich gefreut, auf Sie die volle Neigung übertragen zu können, welche ich für den Vater gefühlt habe.«–

Peter Bathory antwortete nicht. Er litt unsäglich durch einen inneren Kampf. Der Doctor fühlte, daß er sprechen wollte, aber es nicht wagte. Und doch zog etwas Unwiderstehliches Peter Bathory zu diesem Manne hin, der so viel Sympathien für seine Mutter und ihn selbst zeigte

»Herr Doctor, sagte er mit nicht zu verhehlender Bewegung, glauben Sie nicht, daß es eine Laune oder Eigensinn von mir ist, wenn ich Ihnen absage. Sie haben zu mir als Freund Stephan Bathory’s gesprochen. Sie beabsichtigten Ihre Freundschaft für ihn auf mich zu übertragen. Auch ich fühle für Sie, Herr Doctor, obgleich ich Sie erst seit wenigen Augenblicken kenne. Ja, Herr Doctor, ich fühle für Sie dieselbe Liebe, welche ich für meinen Vater empfunden habe.

– Peter! Mein lieber Junge! rief der Doctor und ergriff die Hand Peters mit warmem Drucke.

– Ja, Herr Doctor, Ihnen will ich auch Alles sagen. Ich liebe ein junges Mädchen aus dieser Stadt. Doch gibt es zwischen uns Beiden einen Abgrund, denjenigen, der die Armuth vom Reichthume trennt. Ich habe diesen Abgrund nicht sehen wollen und vielleicht hat auch sie nicht an ihn gedacht. So selten ich sie auch am Fenster oder auf der Straße bemerke, so ist das für mich ein Glück, dem ich nicht entsagen kann. Bei der bloßen Idee, daß ich fort von hier muß, und vielleicht auf lange Zeit, werde ich schon schwindlich. Nun, Herr Doctor, begreifen Sie… und verzeihen mir vielleicht meine Weigerung.

– Ich begreife Sie vollkommen, Peter, sagte Doctor Antekirtt, ich habe Ihnen auch nichts zu verzeihen. Sie haben wohl daran gethan, völlig offen zu mir zu sprechen. Eines nur kann vielleicht die ganze Sachlage ändern. Weiß Ihre Mutter schon, was Sie mir soeben erzählt haben?

– Ich habe mit ihr noch nicht davon gesprochen, Herr Doctor. Ich wagte es nicht, weil sie vielleicht in Anbetracht unserer bescheidenen gesellschaftlichen Stellung mir jede Hoffnung genommen hätte. Vielleicht aber hat sie auch schon errathen und begriffen, worunter ich leide und leiden würde.

– Sie haben mir Ihr Vertrauen bewiesen, lieber Peter, und es war gut so. Das junge Mädchen ist also reich?

– Sehr reich! Zu reich! antwortete der junge Mann. Ja, zu reich für mich.

– Und Ihrer würdig?

– Hätte ich je daran denken können, meiner Mutter eine Tochter zuzuführen, die ihrer nicht werth wäre, Herr Doctor?

– Nun, Peter, vielleicht ist der Abgrund noch zu überbrücken.

– Herr Doctor, zeigen Sie mir nicht eine Hoffnung, die nie erfüllbar sein wird.

– Nie erfüllbar?«

Der Ton, in welchem der Doctor das sagte, verrieth ein so großes Selbstvertrauen, daß Peter Bathory sich wie umgewandelt fühlte, daß er sich mit einem Male als Herr über Gegenwart und Zukunft sah.

»Haben Sie Vertrauen zu mir, Peter! Sie werden es als angemessen betrachten, daß ich, um handeln zu können, den Namen des jungen Mädchens erfahren muß.

– Warum sollte ich ihn Ihnen verhehlen, Herr Doctor? antwortete Peter Bathory. Es ist Fräulein Toronthal.«

Die Gewalt, die sich der Doctor anthun mußte, um bei Nennung dieses verabscheuten Namens ruhig zu bleiben, war diejenige eines Mannes, zu dessen Füßen der Blitzstrahl niederfährt und der kaum zu zittern wagt. Einen Augenblick – einige Secunden nur – blieb er unbeweglich und stumm.

Dann sagte er, ohne daß seine Stimme irgend welche Bewegung verrieth:

»Gut, Peter, gut. Lassen Sie mich über Alles nachdenken. Lassen Sie mich sehen.

– Ich gehe, Herr Doctor, antwortete der junge Mann und drückte die ihm gereichte Hand. Erlauben Sie mir Ihnen zu danken, wie ich meinem Vater gedankt haben würde.«

Peter Bathory verließ den Salon, in welchem der Doctor allein zurückblieb; er stieg auf Deck und dann in sein Boot hinunter, welches ihn an der Falltreppe erwartete. Dieses brachte ihn zurück an den Molo, von wo er die Heimkehr nach Ragusa antrat.

Die Fremde, die auf ihn die ganze Zeit über, so lange er an Bord der »Savarena« geblieben war, gewartet hatte, folgte ihm von Neuem.

Peter Bathory fühlte sich in seinem Innern ungeheuer glücklich. Endlich hatte sein Herz gesprochen! Er hatte sich einem Freunde anvertrauen können, der vielleicht mehr als ein bloßer Freund war. Er genoß einen jener herrlichen Tage, mit deren unverfälschtem Glück das Schicksal auf Erden geizt.

Er konnte heute kaum noch daran zweifeln, daß, als er an einem gewissen Hotel des Stradone vorüberging, an einem Fenster des Pavillons ein Zipfel des Vorhanges sich hob, um ebenso schnell wieder herabgelassen zu werden.

Aber auch die Fremde hatte dieses Manöver gesehen und sie blieb in Folge dessen unbeweglich vor dem Hotel stehen, bis Peter Bathory um die Ecke der Marinella-Straße verschwunden war. Dann begab sie sich auf das Telegraphenbureau und sandte eine Depesche ab, die nichts weiter enthielt als:

»Komme!«

Die Adresse dieser Depesche lautete:

»Sarcany, postlagernd, Syrakus, Sicilien.«

Sechstes Capitel. Die Mündungen von Cattaro.

Der unglückselige Zufall, der in den Ereignissen auf Erden eine Hauptrolle spielt, hatte die Familien Bathory und Toronthal in derselben Stadt vereinigt. Er hatte sie nicht nur in Ragusa wohnen lassen, sondern sie noch näher zusammengebracht, da sie beide das Stadtviertel des Stradone bewohnten. Sarah Toronthal und Peter Bathory hatten sich gesehen, getroffen, geliebt – Peter der Sohn des Mannes, der durch Verrath in den Tod getrieben, Sarah, die Tochter desjenigen, welcher der Verräther gewesen war.

Als der junge Bathory ihn verlassen hatte, sagte Doctor Antekirtt zu sich:

»Peter geht voller Hoffnung fort und ich bin es, der ihm diese Hoffnung, die er vordem nicht besaß, gemacht hat.«

War der Doctor der Mann, diesen undankbaren Kampf gegen das Fatum aufzunehmen? Fühlte er in sich die Macht, die Geschicke der Menschen nach seinem Willen lenken zu können? Würde ihn diese Kraft, diese moralische Energie, deren er bedurfte, um dem Schicksal ein Paroli zu biegen, nicht im Stiche lassen?

»Nein, ich werde kämpfen! rief er. Eine solche Liebe ist hassenswerth, verbrecherisch. Wenn Peter Bathory der Gatte der Tochter von Silas Toronthal geworden ist und eines Tages die Wahrheit erfährt, würde er seinen Vater nicht mehr rächen können. Es bliebe ihm nichts weiter übrig, als sich aus Verzweiflung zu tödten… Ich werde ihm also, wenn es sein muß, Alles sagen… Ich werde ihm erzählen, was diese Familie der seinigen angethan hat… Ich werde diese Liebe, gleichviel wie, vernichten.«

Eine solche Verbindung wäre in der That ungeheuer gewesen.

Man möge Folgendes nicht vergessen: In seiner Unterhaltung mit Frau Bathory hatte der Doctor erwähnt, daß die drei Führer der Verschwörung in Triest die Opfer einer erbärmlichen List geworden waren, wie es sich im Verlaufe der Verhandlungen herausgestellt, und daß eine Indiscretion eines der Thurmwächter von Pisino ihm dieselbe mitgetheilt hatte.

Man wird sich ferner erinnern, daß Frau Bathory aus gewissen Gründen ihrem Sohne nichts von dem Verrathe erzählt hatte, deren Urheber sie auch nicht kannte. Sie wußte nicht, daß der Eine, reich und angesehen, in Ragusa, nicht weit von ihr im Stradone wohnte. Der Doctor hatte jene nicht genannt. Warum? Wahrscheinlich weil die Zeit noch nicht gekommen war, sie zu entlarven. Er kannte sie aber. Er wußte, daß Silas Toronthal Einer dieser Verräther war, und Sarcany der Andere. Und wenn er in seinen vertraulichen Mittheilungen nicht weiter als bis hierher gegangen war, so hatte er es gethan, weil er auf die Hilfe Peter Bathory’s rechnete, weil er den Sohn theilnehmen lassen wollte an dem Werke der Gerechtigkeit, die über die Mörder seines Vaters hereinbrechen sollte und mit ihm dessen beide Gefährten, Ladislaus Zathmar und Mathias Sandorf rächen.

Deshalb konnte er auch dem Sohne Stephan Bathory’s nicht mehr sagen, wollte er ihm nicht das Herz brechen.

Nachdem Doctor Antekirtt diesen Entschluß einmal gefaßt hatte, war die nächste Frage, wie sollte er weiter vorgehen? Sollte er Frau Bathory oder ihrem Sohne die Vergangenheit des Triester Banquiers enthüllen? Besaß er denn die thatsächlichen Beweise des Verrathes? Gewiß nicht, da Mathias Sandorf, Stephan Bathory und Ladislaus Zathmar, die Einzigen, welche je solche Beweise in Händen gehabt hatten, todt waren. Sollte er in der Stadt das Gerücht jener That niedriger Gesinnungsart verbreiten lassen, ohne die Familie Bathory davon zu unterrichten? Ja, das hätte zweifellos genügt, um einen neuen Abgrund zwischen Peter und dem jungen Mädchen zu schaffen – diesmal eine unüberschreitbare Kluft. Doch wenn dieses Geheimniß einmal bekannt geworden war, stand nicht zu erwarten, daß Silas Toronthal sich beeilen würde, Ragusa zu verlassen?

Der Doctor wollte aber durchaus nicht, daß der Banquier verschwand. Der Verräther mußte von dem Rächer zu erreichen sein, wenn die Stunde der Gerechtigkeit schlug.

Zu diesem Zwecke mußten die Dinge einen ganz anderen Verlauf nehmen, als er sich bisher vorstellte.

Der Doctor war, nachdem er das Für und das Gegen der Frage reiflich erwogen, zu dem Entschlusse gelangt, nicht direct gegen den Banquier vorzugehen, aber doch so schnell als möglich zu handeln. Vor allem mußte Peter Bathory aus dieser Stadt entfernt werden, in welcher die Ehre seines Namens Gefahr lief. Ja! Er mußte versuchen, ihn so weit fortzubringen, daß Niemand seine Spur entdecken konnte. Hatte er ihn einmal in seiner Macht, so wollte er ihm Alles sagen, was er von Silas Toronthal und seinem Mitschuldigen Sarcany wußte; er wollte ihn theilnehmen lassen an seinem Werke. Nicht ein Tag war zu verlieren.

Zu diesem Zwecke ließ eine Depesche des Doctors von seinem Ankerplatze eines seiner schnellsten Beförderungsschiffe an die Bucht von Cattaro, südlich von Ragusa, kommen. Es war einer jener wunderbaren Thornycrofts, welche den heutigen Torpedobooten als Muster gedient haben. Der einundvierzig Meter lange, spindelförmige, stählerne Rumpf von siebzig Tonnen Tragkraft führte weder Mast noch Schornstein, sondern zeigte äußerlich nur eine Plattform und ein metallenes Gehäuse mit linsenförmigen Luftöffnungen, welches dem Steuermanne zum Aufenthalte diente und luftdicht verschlossen werden konnte, wenn der Zustand des Meeres es erforderte. Dieses Fahrzeug konnte bei Wind und Wetter vorwärts kommen, ohne durch das Wellengewoge der hohlen See Zeit und Cours zu verlieren. Mit einer weit höheren Geschwindigkeit ausgestattet, als sämmtlichen Torpedobooten der alten und neuen Welt zu eigen ist, legte es bequem seine fünfzig Kilometer in der Stunde zurück. Dank dieser außergewöhnlichen Schnelligkeit hatte der Doctor schon bei vorkommenden Gelegenheiten überraschende Ueberfahrten auf ihm bewerkstelligen können. Daher stammte auch die Gabe der Allgegenwart, die man ihm zuschrieb, wenn er zum Beispiel aus den inneren Inselgruppen des Archipels verschwand und in verhältnißmäßig kurzer Zeit am äußersten Ende des Meeres der beiden Syrten auftauchte.

Ein bemerkenswerther Unterschied aber existirte noch zwischen den Thornycrofts und den Fahrzeugen des Doctors. Während dort überhitzter Dampf die fördernde Kraft ist, war es hier die Elektricität, welche mittelst mächtiger, von ihm selbst erfundener Accumulatoren die Triebkraft bildete; er konnte in ihnen den elektrischen Strom mit einer fast unendlich zu nennenden Spannung aufspeichern. Diese Eilschiffe führten sämmtlich den Namen »Electric« und zur Unterscheidung eine fortlaufende Nummer. Es war der »Electric 2«, der an die Bucht von Cattaro beordert wurde.

Nach Ertheilung dieses Befehles wartete der Doctor den Augenblick des Handelns ab. Er ließ gleichzeitig Pointe Pescade und Kap Matifu wissen, daß er ihre Dienste demnächst in Anspruch nehmen würde.

Es ist kaum nöthig, noch hervorzuheben, wie glücklich beide Freunde waren, endlich Beweise ihrer Ergebenheit ablegen zu können.

Eine Wolke nur warf einen Schatten auf die Freude, mit der jene die Botschaft aufnahmen.

Pointe Pescade sollte in Ragusa bleiben, um das Hotel am Stradone und das Haus in der Marinella-Straße zu beobachten, während Kap Matifu den Doctor nach Cattaro begleiten mußte. Eine Trennung also, die erste nach so vielen Jahren, während welcher die Genossen des Elends Seite an Seite gelebt hatten. Kap Matifu zeigte deshalb eine rührende Unruhe, wenn er daran dachte, daß sein kleiner Pescade sich nicht mehr bei ihm befinden würde.

»Geduld, mein Kap, Geduld, sagte Pointe Pescade zu ihm. Es wird nicht lange dauern! Nur die Zeit über, in der das Stück spielen wird, dann ist Alles wieder gut. Wenn ich mich nicht täusche, ist es ein famoses Stück, welches man unter Leitung eines ebenso famosen Directors vorbereitet, der Jedem von uns eine famose Rolle zutheilt… Glaube mir, Dir wird Dein Antheil schon zusagen.

– Du denkst?

– Ich bin dessen gewiß. Den Liebhaber sollst Du allerdings nicht spielen. Dieses Genre liegt nicht in Deiner Natur, obwohl Du teuflisch sentimental bist. Ebenso wenig den Intriguant. Dich hindert daran Deine gutmüthige dicke Gestalt. Nein, Du sollst den guten Genius darstellen, der bei der Lösung des Knotens erscheint, um das Laster zu bestrafen und die Tugend zu belohnen.

– Wie in den Ausstattungsstücken? fragte Kap Matifu.

– Genau so. Ich sehe Dich schon in dieser Rolle, lieber Kap. Gerade, wenn es der Bösewicht am wenigsten erwartet, erscheinst Du mit Deinen breiten geöffneten Händen, und Du brauchst sie nur zu schließen, um das gute Ende herbeizuführen. Wenn auch Deine Rolle nicht sehr groß ist, so ist sie doch sympathisch und Bravos und silbernen Lohn erhältst Du wohlfeil.

– Das wird schon so sein, erwiderte der Hercules, doch vorläufig müssen wir uns trennen!

– Nur für wenige Tage! Versprich mir nur, während meiner Abwesenheit nicht abzumagern. Nimm genau Deine sechs Mahlzeiten zu Dir und mäste Dich, lieber Kap. Und jetzt schließe mich in Deine Arme, oder vielmehr thue nur so wie auf der Bühne, sonst erdrückst Du mich am Ende. Zum Teufel auch, man muß lernen, in dieser Welt Komödie spielen zu können. Umarme mich noch einmal und vergesse nicht Deinen kleinen Pointe Pescade, der niemals seinen dicken Kap Matifu vergessen wird.«

Auf diese Weise nahmen die Freunde rührenden Abschied, als sie sich trennen mußten. Kap Matifu war das Herz in der riesigen Brust nicht wenig beklommen, als er sich allein auf der »Savarena« befand. Noch am selben Tage hatte sich sein Genosse auf Anordnung des Doctors hin in Ragusa einquartiert; sein Auftrag lautete, Peter Bathory nicht aus den Augen zu verlieren, das Hotel Toronthal zu überwachen und sich über Alles im Laufenden zu erhalten.

Während der langen Stunden, die Pointe Pescade im Stadttheile des Stradone zu verbringen hatte, hätte er auf jene Fremde stoßen müssen, die denselben Auftrag wie er zu haben schien. Dieses Zusammentreffen wäre auch zweifellos erfolgt, wenn nicht die Marokkanerin nach Absendung jener Depesche Ragusa verlassen haben würde, um sich an einem vorher verabredeten Orte mit Sarcany zu treffen. Pointe Pescade fühlte sich also in seinen Operationen durchaus nicht genirt und konnte sich seines Auftrages mit seiner gewohnheitsmäßigen Geschicklichkeit entledigen.

Peter Bathory wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß er in der allernächsten Nähe beobachtet wurde; er hätte nie geahnt, daß die Augen jener Spionin von denen Pointe Pescade’s abgelöst worden waren. Nach seiner Unterredung mit dem Doctor, nach dem Geständniß, das er ihm abgelegt, fühlte er sich vertrauensseliger als je. Warum hätte er auch jetzt noch die Unterhaltung, die er an Bord der »Savarena« gehabt, der Mutter verheimlichen sollen? Würde sie nicht so wie so in seinen Blicken wie in seiner Seele gelesen haben? Würde sie nicht sofort bemerkt haben, daß eine Veränderung mit ihm vorgegangen war, daß der Kummer, die Verzweiflung in ihm der Hoffnung und dem Glücke Platz gemacht hatten.

Peter Bathory berichtete also Alles seiner Mutter. Er erzählte ihr, wer diese junge Dame war, die er liebe, daß er ihretwegen Ragusa nicht habe verlassen wollen. Ihre gesellschaftliche Stellung mache so gut wie nichts aus. Doctor Antekirtt habe ihm ja gesagt, daß er hoffen könne.

»Also deshalb hast Du so viel gelitten, mein Kind, erwiderte Frau Bathory. Möge Gott Dir beistehen und Dir das volle Glück gewähren, welches Dir bis jetzt gefehlt hat.«

Frau Bathory lebte sehr zurückgezogen in dem Hause der Marinella-Straße. Sie ging mit ihrem alten Diener nur zur Messe, da sie ihre religiösen Pflichten mit der strengen und überzeugten Frömmigkeit der katholischen Ungarn erfüllte. Sie hatte noch nie von der Familie Toronthal reden gehört. Ihr Blick hatte sich noch nie zu dem Hotel erhoben, an dem sie vorüberging, wenn sie sich zur Erlöser-Kirche begab, die mit dem Franziskaner-Kloster verbunden, fast am Eingange zum Stradone liegt. Sie kannte also die Tochter des früheren Banquiers von Triest gar nicht.

Peter mußte sie ihr körperlich und seelisch schildern, ihr sagen, wo er sie zum ersten Male gesehen hatte, woran er erkannte, daß seine Liebe erwidert wurde. Alle diese Einzelheiten berichtete er mit einem Eifer, daß Frau Bathory nicht wenig erstaunt war, in ihrem Sohne ein so zärtliches und leidenschaftliches Gefühl zu entdecken.

Als aber Peter von der Stellung berichtete, welche die Familie Toronthal einnahm, als sie erfuhr, daß das junge Mädchen eine der reichsten Erbinnen Ragusas wäre, konnte sie ihre Besorgniß nicht unterdrücken. Würde der Banquier jemals einwilligen, daß sein einziges Kind die Frau eines Mannes ohne Mittel, ja fast ohne Zukunft würde?

Peter hielt es jedenfalls nicht für nöthig, die Kälte, ja fast die Verachtung zu erwähnen, mit der Silas Toronthal ihn bis jetzt behandelt hatte. Er begnügte sich, die Worte des Doctors zu wiederholen. Dieser hatte betheuert, daß er zum Freunde seines Vaters Vertrauen haben könnte, sogar müßte, daß er für ihn ein geradezu väterliches Wohlwollen empfände, woran Frau Bathory allerdings nicht zweifeln durfte, wußte sie doch, was der Doctor für sie und die Ihrigen bereits hatte thun wollen. Sie glaubte schließlich ebenso wie ihr Sohn und wie Borik, der seine Meinung auch aussprechen zu müssen glaubte, einer guten Hoffnung leben zu können und so war ein Schimmer des Glückes in das bescheidene Haus in der Marinella-Straße eingezogen.

Peter Bathory empfand diese Freude noch, als er am folgenden Sonntage Sarah Toronthal in der Kirche der Franziskaner wiedersah. Das stets traurige Gesicht des jungen Mädchens heiterte sich auf, als sie Peter wie umgewandelt sah. Beide sprachen sich mit den Blicken und verstanden sich. Und als Sarah lebhaft angeregt in ihr Heim zurückkehrte, trug sie ein gutes Theil des Glückes mit hinein, das sie so deutlich auf dem Antlitze des jungen Mannes hatte lagern sehen.

Peter sah den Doctor nicht wieder. Er erwartete eine Einladung, an Bord der Yacht zu kommen. Mehrere Tage verflossen, doch kein zweiter Brief forderte ihn zu einem abermaligen Zusammentreffen auf.

»Der Doctor wird jedenfalls erst Erkundigungen einziehen wollen, überlegte er. Er wird selbst nach Ragusa gekommen sein oder geschickt haben, um sich einige Auskünfte über die Familie Toronthal zu verschaffen…. Vielleicht wollte er auch Sarah erst persönlich kennen lernen…. Ja! Es ist nicht unmöglich, daß er ihren Vater bereits gesehen und diesem von dem Vorfalle Kenntniß gegeben hat…. Eine Zeile von ihm, ein Wort von ihm hätte mir jedenfalls Freude gemacht, namentlich wenn dieses Wort gelautet hätte: Kommen Sie!«

Das Wort kam nicht. Frau Bathory konnte die Ungeduld ihres Sohnes nur schwer zügeln. Er verzweifelte und nun war es ihre Aufgabe, ihm ein wenig Hoffnung zu machen, die sie selbst kaum theilte. Das Haus in der Marinella-Straße stand dem Doctor offen, das mußte er wissen, und trotz des Interesses, das er für Peter fühlte, trotz des Interesses, welches ihm diese Familie einflößte, für welche er schon ein so großes Mitgefühl an den Tag gelegt hatte, schien er nicht zu bewegen zu sein, dasselbe aufzusuchen.

Peter zählte die Stunden und Tage und hatte schließlich nicht mehr die Kraft, sich zu gedulden. Er mußte den Doctor Antekirtt um jeden Preis wiedersehen. Mit unbezwinglicher Gewalt zog es ihn nach Gravosa. An Bord der Yacht würde man seine Ungeduld schon verstehen und seinen Schritt entschuldigen, sollte er selbst voreilig unternommen sein.

Am 7. Juni gegen acht Uhr Morgens verließ Peter seine Mutter, ohne ihr ein Wort von seinem Vorhaben zu sagen. Er verließ Ragusa und ging mit so schnellen Schritten nach Gravosa, daß ihm Pointe Pescade kaum hätte folgen können, wenn dieser nicht eben äußerst flink gewesen wäre. Auf dem Quai angelangt, gegenüber der Stelle, wo die »Savarena« bei seinem letzten Besuche vor Anker gelegen hatte, blieb er betroffen stehen:

Die Yacht war aus dem Hafen verschwunden.

Peter ließ seine Blicke umherschweifen, weil er glaubte, sie hätte nur den Platz gewechselt…. Das Schiff blieb verschwunden.

Er fragte einen Matrosen, der auf dem Quai umherschlenderte, was aus der Yacht des Doctors Antekirtt geworden wäre.

Die »Savarena« wäre am Abend vorher unter Segel gegangen, wurde ihm geantwortet und gerade wie man nicht gewußt hätte, woher sie gekommen, so wüßte man auch nicht, wohin sie gegangen sei.

Die Yacht fort! Doctor Antekirtt ebenso geheimnißvoll wieder verschwunden wie aufgetaucht!

Peter Bathory ging nach Ragusa zurück, diesmal in größerer Verzweiflung als je.



Der »Electric 2« ankerte in der Entfernung einiger Längen von Cattaro. (S. 242.)


So viel ist gewiß, wenn Peter Bathory eine Ahnung davon gehabt hätte, daß die Yacht nach Cattaro gesegelt war, so wäre er ihr unbedingt nachgeeilt. Allerdings wäre diese Reise ganz nutzlos gewesen. Denn die »Savarena« war nicht in die Bucht eingelaufen. Der Doctor hatte sich in der Begleitung Kap Matifu’s durch eines seiner Boote ans Land setzen lassen, die Yacht selbst aber war sogleich wieder nach einem unbekannten Bestimmungsorte in See gegangen.



Die Anderen ließen einen kleinen Hammel schmoren. (S. 247.)


Es gibt in ganz Europa, vielleicht in allen alten Erdtheilen, keinen sonderbareren Ort als die Art der Zusammenstellung von Land und Wasser, die man die Bocche di Cattaro nennt.

Cattaro ist durchaus kein Fluß, wie man vielleicht zu glauben geneigt ist, sondern eine Stadt mit dem Sitze eines Bischofs, die man überdies zur Kreishauptstadt ernannt hat. Unter der Bezeichnung der Bocche versteht man sechs Baien: dieselben liegen hintereinander und sind durch schmale Canäle mit einander verbunden; um sie zu passiren, gebraucht man sechs Stunden. Von dieser Kette von kleinen Seen, die sich um die Ufergebirge reiht, bildet das letzte Glied zu Füßen des Berges Norri die Grenze des österreichischen Reiches. Jenseits desselben beginnt das montenegrinische Gebiet.

Am Eingange zu diesen Mündungen also ließ sich der Doctor nach einer schnellen Ueberfahrt ausschiffen. Dort erwartete ihn ein von elektrischen Motoren bedientes Schnellboot, das ihn zur innersten Bai brachte. Nachdem er das Vorgebirge von Ostro umsegelt hatte, an Castelnuovo vorübergekommen war, an Panoramen von Ortschaften und Capellen links und rechts, an Stolivo, Risano, Perasto, einem berühmten Wallfahrtsorte, wo die dalmatinischen Trachten sich schon mit denen der Türken und Albanesen zu mischen beginnen, langte er von einem See zum andern im letzten Kreise an, in dessen Hintergrunde Cattaro sich erhebt.

Der »Electric 2« ankerte in der Entfernung einiger Längen vor der Stadt, auf diesen dunklen, schläfrigen Gewässern, welche kein Luftzug an diesem schönen Juniabend bewegte.

Der Doctor nahm indessen nicht an Bord Wohnung. Er wollte jedenfalls nicht, behufs besserer Ausführung der jüngst gefaßten Pläne, daß man ihn als den Besitzer jenes Fahrzeuges kannte. Er landete also in Cattaro selbst, um in einem der dortigen Hotels ein Unterkommen zu suchen, Kap Matifu mußte ihn begleiten.

Das Boot, das sie hergeführt hatte, verlor sich in der Dunkelheit rechts vom Hafen, wo es sich hinter einem Ufervorsprunge verbarg. In Cattaro konnte der Doctor ebenso unbemerkt weilen, als wenn er sich in dem verstecktesten Winkel der Erde verborgen hätte. Denn den Bocchesen, den Einwohnern dieses reichen Districtes von Dalmatien, von Abstammung Slaven, konnte kaum die Anwesenheit eines Fremden auffallen.

Von der Bai aus scheint es, als ob die Stadt Cattaro in eine mächtige Höhlung des Berges Norri hineingebaut worden sei. Ihre vordersten Häuser bilden einen jedenfalls dem Meere abgewonnenen Quai im Hintergrunde der zugespitzten Ecke des kleinen Sees, dessen letzter Ausläufer sich tief in den massigen Gebirgsstock hinein erstreckt. An der Spitze dieses, durch seine schönen Bäume mit den dahinterliegenden grünen Abhängen einen sehr heiteren Anblick gewährenden Trichters, legen stets die Packetboote des Lloyd und die großen Küstenfahrzeuge des Adriatischen Meeres an.

An jenem Abend beschäftigte sich der Doctor nur damit, eine passende Wohnung für sich zu suchen. Kap Matifu folgte ihm, ohne gefragt zu haben, wo man sich denn eigentlich befände. Es war ihm ganz gleichgiltig, ob man in Dalmatien oder in China war. Wie ein treuer Hund folgte er seinem Herrn, wohin dieser ging. Er war nur ein Werkzeug, eine gehorsame Maschine, eine Maschine zum Drehen, Bohren, Stoßen, die der Doctor in Betrieb setzen konnte, wann es ihm beliebte.

Beide durchschritten den in Rautenform angelegten Quai und die befestigte Umwallung von Cattaro; dann gelangten sie in eine Folge schmaler und bergiger Straßen, in welchen eine Bevölkerung von vier-bis fünftausend Menschen durcheinanderwimmelt. Man schloß gerade das Meerthor, dasjenige, welches mit Ausnahme der Tage, an denen die Packetboote einlaufen, nur bis acht Uhr Abends offen bleibt.

Der Doctor hatte es bald heraus, daß sich kein einziges Hotel in der Stadt befand. Man mußte also irgend Jemandes habhaft werden, der geneigt war, ein Gemach abzutreten, was übrigens die Hauseigenthümer von Cattaro gegen gute Bezahlung sehr gern thun.

Ein Vermiether fand sich, eine Wohnung ebenfalls. Der Doctor sah sich bald in einer ziemlich sauberen Straße, im Erdgeschosse eines für seine und Kap Matifu’s Bedürfnisse ausreichenden Hauses einquartiert. Vor allen Dingen wurde vereinbart, daß Kap Matifu von dem Besitzer gespeist wurde und trotzdem dieser einen ungewöhnlich hohen Preis hierfür verlangte, der allerdings in. Anbetracht der enormen Leibesstärke des neuen Gastes berechtigt war, wurde diese Angelegenheit zur Zufriedenheit beider Theile erledigt. Doctor Antekirtt behielt sich das Recht vor, seine Mahlzeiten außerhalb des Hauses einnehmen zu können.

Er begann am nächsten Tage, nachdem er Kap Matifu die Erlaubniß gegeben, über seine freie Zeit nach Belieben zu verfügen, seine Promenade mit einem Gange zur Post, um zu fragen, ob Briefe oder Depeschen unter gewissen verabredeten Zeichen für ihn eingetroffen wären. Es war noch nichts angelangt. Er verließ dann die Stadt, um sich in ihrer Umgebung umzusehen. Er fand bald eine passende Gastwirthschaft, in welcher sich gewöhnlich die Gesellschaft Cattaros zu treffen pflegt, österreichische Officiere und Beamten, die sich hier wie in der Verbannung, noch stärker gesagt, wie im Gefängniß vorkommen.

Der Doctor wartete jetzt nur noch den Augenblick zum Handeln ab. Sein Plan bestand aus Folgendem.

Er war entschlossen, Peter Bathory zu entführen. Diese Aufhebung wäre au Bord der Yacht, während sie in Gravosa ankerte, schwer zu bewerkstelligen gewesen. Der junge Ingenieur war dort bekannt und da sich die öffentliche Aufmerksamkeit bereits auf die »Savarena« und ihren Besitzer gelenkt hatte, würde das Unternehmen, vorausgesetzt, daß es geglückt wäre, schnell Lärm gemacht haben. Die Yacht war ferner nur ein Segelschiff; wenn also ein Hafendampfer sich an die Verfolgung gemacht hätte, so würde er sie in Folge seiner größeren Schnelligkeit jedenfalls eingeholt haben.

In Cattaro dagegen war eine Entführung unter unendlich besseren Verhältnissen ausführbar. Peter Bathory war mit Leichtigkeit dorthin zu locken. Er würde ganz gewiß auf ein Wort des Doctors hin abreisen. In Cattaro war er ebenso unbekannt, wie dieser selbst; sobald er sich an Bord des »Electric« befinden würde, sollte dieser die offene See gewinnen und Peter Bathory Alles erfahren, was er von der Vergangenheit Silas Toronthal’s noch nicht kannte. Das Bild Sarah’s mußte dann vor der Erinnerung an seinen Vater erblassen.

Die Ausführung des Planes bot also keine Schwierigkeiten. In zwei oder drei Tagen – der späteste Termin, den sich der Doctor gestellt hatte – konnte das Werk gethan, Peter auf immer von Sarah getrennt sein.

Am folgenden Tage, dem 9. Juni, kam ein Brief von Pointe Pescade. Dieser berichtete, daß es im Hotel des Stradone nichts Neues gab. Peter Bathory wollte Pointe Pescade seit jenem Tage nicht wiedergesehen haben, an dem er sich nach Gravosa begeben hatte, zwölf Stunden nach dem Auflaufen der Yacht.

Peter könne indessen Ragusa nicht verlassen haben. Er hätte sich ganz gewiß in dem Hause seiner Mutter eingeschlossen. Pointe Pescade vermuthete – und er irrte darin nicht – daß die Abfahrt der »Savarena« diese Aenderung in den Gewohnheiten des jungen Ingenieurs herbeigeführt hatte, umsomehr, als derselbe nach der Abfahrt verzweifelt nach Hause zurückgekehrt war.

Der Doctor entschloß sich, schon am nächsten Tage seine Operationen damit zu beginnen, daß er einen Brief an Peter Bathory schrieb, einen Brief, der ihn aufforderte, unverzüglich zu ihm nach Cattaro zu kommen.

Ein völlig unerwartetes Ereigniß sollte diese Vorsätze ändern und es dem Zufalle überlassen, die Betheiligten an dasselbe Ziel zu führen.

Am Abende desselben Tages gegen acht Uhr befand sich der Doctor auf dem Quai von Cattaro, als das Einlaufen des Packetbootes »Saxonia« signalisirt wurde.

Die »Saxonia« kam von Brindisi, welche Stadt sie angelaufen hatte, um Passagiere aufzunehmen. Von dort begab sie sich nach Triest, wobei sie Cattaro, Ragusa, und Zara und andere Häfen an der österreichischen Küste des Adriatischen Meeres anlief.

Der Doctor stand gerade dicht bei der Anlegebrücke, mittelst derer das Ein-und Ausschiffen der Reisenden bewerkstelligt wurde, als sein Blick im letzten Tagesschimmer sich starr auf einen Reisenden richtete, dessen Gepäck man soeben auf den Quai hinübertrug.

Dieser, ungefähr vierzig Jahre alte Mann von hochmüthigem, fast unverschämtem Aussehen, gab seine Befehle mit lauter Stimme. Es war eine jener Persönlichkeiten, deren schlechte Erziehung man empfindet, selbst wenn sie höflich sind.

»Er!… Hier, in Cattaro!…«

Diese Worte wären den Lippen des Doctors entschlüpft, wenn er sie nicht mit Gewalt unterdrückt hätte, ebenso wie eine Bewegung des Zornes, der aus seinen Blicken drang.

Der Passagier war Sarcany. Fünfzehn Jahre waren seit jener Zeit verflossen, in der er die Obliegenheiten eines Buchhalters im Hause des Grafen Zathmar erfüllt hatte. Er war nicht mehr, am wenigsten in seiner Kleidung, der Abenteurer, den man durch die Straßen Triests zu Beginn dieser Erzählung hat irren sehen. Er trug ein elegantes Reisecostüm unter einem Staubmantel nach der neuesten Mode und seine Gepäckstücke mit ihrem vielseitigen Messingbeschlag, bewiesen, daß der einstige tripolitanische Makler jetzt comfortabel zu leben verstand.

Sarcany hatte seit fünfzehn Jahren, Dank dem riesigen Antheile an dem Vermögen des Grafen Sandorf, ein Leben voll Luxus und Freude geführt. Was war ihm davon übrig geblieben? Seine besten Freunde, wenn er solche gehabt hätte, würden es nicht haben sagen können. Jedenfalls trug sein Antlitz Spuren der Befangenheit, ja selbst der Besorgniß, deren Ursache diese in sich verschlossene Natur schwerlich errathen ließ.

»Woher kommt er?… Wohin geht er?« fragte sich der Doctor, der ihn nicht aus den Augen verlor.

Woher Sarcany kam, konnte man leicht durch den Commissär der »Saxonia« erfahren. Dieser Passagier hatte in Brindisi das Dampfboot bestiegen. Doch ob er aus Ober-oder Unter-Italien kam, wußte man nicht. Er kam aus Syrakus. Auf die Depesche der Marokkanerin hin hatte er sofort Sicilien verlassen und war nach Cattaro abgereist.

Cattaro war nämlich schon früher als Rendezvousort verabredet worden. Jene Frau, deren Mission in Ragusa nun zu Ende zu sein schien, erwartete ihn hier.

Die Fremde stand ebenfalls auf dem Quai und harrte auf das Schiff. Der Doctor bemerkte sie, er sah Sarcany auf sie zueilen und hörte noch, was sie zu ihm in arabischer Sprache sagte:

»Es war die höchste Zeit.«

Sarcany antwortete nur durch ein Nicken mit dem Kopfe. Nachdem er das Ueberführen seines Gepäckes in das Zollhaus überwacht hatte, zog er die Marokkanerin nach der rechten Seite hin, um an der Umwallung der Stadt entlang zu gehen und nicht durch das Meerthor dieselbe zu betreten.

Der Doctor zögerte einen Augenblick. Sollte er Sarcany entschlüpfen lassen? Sollte er ihm folgen?

Er bemerkte, während er sich umsah, Kap Matifu, der wie ein harmloser Maulaffe das Ein-und Ausschiffen der Passagiere der »Saxonia« beobachtete. Er brauchte nur ein Zeichen zu geben, der Hercules war sofort an seiner Seite.

»Siehst Du diesen Mann, Kap Matifu? sagte der Doctor, auf den sich entfernenden Sarcany zeigend.

– Ja!

– Wenn ich Dir befehle, Dich seiner zu bemächtigen, wirst Du es thun?

– Ja!

– Und Du wirst ihn wehrlos machen, wenn er Widerstand leistet?

– Ja!

– Denke daran, daß ich ihn lebendig haben muß.

– Ja!«

Kap Matifu machte keine Redensarten, konnte aber dafür das Verdienst beanspruchen, um so klarere Antworten zu geben. Der Doctor wußte, daß er auf ihn zählen durfte. Wenn Jener einen Befehl auszuführen hatte, so führte er ihn auch aus.

Die Marokkanerin konnte gebunden und geknebelt in irgend einen Winkel geworfen werden. Ehe sie im Stande war, Lärm zu schlagen, konnte Sarcany schon an Bord des »Electric« sein.

Die Dunkelheit, obgleich sie noch nicht dicht genannt werden konnte, mußte die Ausführung des Planes erleichtern.

Sarcany und die Fremde setzten inzwischen ihren Weg längs der Umwallung der Stadt fort, ohne zu bemerken, daß sie gesehen und verfolgt wurden. Sie sprachen nicht miteinander. Sie wollten augenscheinlich so lange schweigen, bis sie an einen Ort gelangt waren, an dem sie sich im sicheren Versteck wähnen konnten. So kamen sie bis fast an das Südthor, das auf die Straße hinausführt, welche in die Gebirge zur österreichischen Grenze läuft.

Dort befindet sich ein bedeutender Marktplatz, ein den Montenegrinern wohl bekannter Bazar. Hier treiben diese ihren Handel, weil man sie nur in beschränkter Anzahl in die Stadt hineinläßt und erst, nachdem sie ihre Waffen abgelegt haben. Am Dienstag, Donnerstag, Sonnabend jeder Woche kommen diese Bergbewohner von Njegus oder Cettinje herbei. Sie müssen fünf bis sechs Stunden unterwegs bleiben, um hier Eier, Kartoffeln, Geflügel und Reis, dessen Absatz bedeutend ist, an den Mann bringen zu können

Jener Tag war gerade ein Dienstag. Einige Gruppen, deren Geschäfte sich sehr in die Länge gezogen hatten, befanden sich noch auf dem Marktplatze, um hier die Nacht zuzubringen. An dreißig Bergbewohner kamen, gingen, plauderten und stritten miteinander. Die Einen hatten sich schon zum Schlafen auf den Boden ausgestreckt, die Anderen ließen über einem Kohlenfeuer einen kleinen, auf einen hölzernen Spieß (nach albanesischer Sitte) gezogenen Hammel schmoren.

Dorthin zogen sich Sarcany und seine Begleiterin zurück; sie schienen den Ort schon zu kennen. Hier war es in der That leicht, ungestört zu plaudern und selbst während der ganzen Nacht zu bleiben, ohne erst nach einem ungewissen Quartier auf die Suche gehen zu müssen. Seit ihrer Ankunft in Cattaro übrigens hatte sich die Fremde wegen eines anderen Unterkommens unbesorgt gezeigt.

Der Doctor und Kap Matifu traten Einer hinter dem Anderen in den dunklen Bazar ein. Hier und dort knisterte es auf einigen Feuerherden, doch helle Flammen waren nicht zu sehen und deshalb fehlte jeder Lichtschein. Die Aufhebung Sarcany’s war unter diesen Umständen eine sehr schwierige Sache, namentlich wenn er den Bazar nicht vor Tagesanbruch wieder verließ. Der Doctor bedauerte sehr, nicht schon auf dem Gange zwischen dem See-und Südthore gehandelt zu haben. Jetzt war es zu spät. Man mußte sich auf das Warten verlegen, um jede Gelegenheit, die sich bieten konnte, benützen zu können.

Das Boot lag hinter den Klippen, kaum zweihundert Schritte vom Bazar entfernt und zwei Ankerlängen weiter konnte man die flüchtigen Umrisse des »Electric« bemerken, dessen Ankerplatz eine kleine am Bug aufgehißte Laterne bezeichnete.

Sarcany und die Marokkanerin hatten sich in eine sehr dunkle Ecke, in die Nähe einer Gruppe schon schlafender Bergbewohner zurückgezogen. Sie hätten sich also von ihren Angelegenheiten ungestört unterhalten können, ohne Besorgniß gehört zu werden, wenn es dem in seinen Reisemantel eingehüllten Doctor nicht gelungen wäre, sich unter die Gruppe zu mischen, was weiter keine Aufmerksamkeit erregte. Kap Matifu verbarg sich, so gut er konnte, hielt sich aber in der Nähe, um dem ersten Zeichen Folge zu leisten.

Sarcany und die Fremde glaubten sich schon dadurch, daß sie arabisch sprachen, gesichert, in der Voraussetzung, daß hier Niemand diese Sprache verstehen würde.



Sarcany und die Marokkanerin hatten sich in eine sehr dunkle Ecke zurückgezogen. (S. 247.)


Sie täuschten sich, denn Doctor Antekirtt war zugegen. Ihm, der mit allen Idiomen des Orients und Afrikas vertraut war, entging nicht ein einziges Wort von der Unterhaltung.

»Du hast also meine Depesche in Syrakus erhalten? fragte die Marokkanerin.



Cattaro.


– Ja, Namir, antwortete Sarcany, und ich bin gleich am folgenden Tage mit Zirone aufgebrochen.

– Wo ist Zirone?

– In der Nähe von Catania, wo er seine neue Bande sich zusammenstellt.

– Du mußt morgen in Ragusa sein und sofort zu Silas Toronthal gehen, Sarcany.

– Ich werde dort sein und mit ihm reden. Du hast Dich also nicht getäuscht, Namir? Es war Zeit, daß ich kam?

– Ja, die Tochter des Banquiers…

– Die Tochter des Banquiers! wiederholte Sarcany in einem so eigenartigen Tone, daß es den Doctor wider Willen kalt überlief.

– Ja… seine Tochter! wiederholte Namir.

– Wie? Sie erlaubt sich ihr Herz sprechen zu lassen und ohne meine Einwilligung? fragte Sarcany ironisch.

– Das überrascht Dich, Sarcany. Und doch ist es mehr als gewiß. Du wirst aber noch mehr überrascht sein, wenn ich Dir gesagt haben werde, wen Sarah Toronthal heiraten will.

– Irgend einen ruinirten Edelmann, der sich mit Hilfe der Millionen des Vaters wieder arrangiren will.

– Stimmt, meinte Namir, einen jungen Mann von edler Abkunft, doch ohne Vermögen.

– Und dieser Unverschämte heißt?…

– Peter Bathory!

– Peter Bathory! rief Sarcany. Peter Bathory will Sarah Toronthal heiraten?

– Beruhige Dich, Sarcany, beschwichtigte Namir den Gefährten. Daß die Tochter von Silas Toronthal und der Sohn Stephan Bathory’s sich lieben, ist kein Geheimniß mehr für mich. Vielleicht aber weiß es Silas Toronthal noch nicht.

– Er sollte es nicht wissen? fragte Sarcany.

– Nein, und übrigens würde er nie seine Einwilligung geben…

– Ich weiß gar nichts, antwortete Sarcany. Silas Toronthal ist zu Allem fähig… selbst dazu, seine Einwilligung zu dieser Heirat zu geben, nur um sein Gewissen zu beschwichtigen, falls dasselbe etwa nach fünfzehn Jahren wieder zu Kräften gekommen sein sollte…. Ich bin glücklicherweise noch da, um ihm sein Spiel zu verderben, morgen schon bin ich in Ragusa.

– Gut! meinte Namir, die einen gewissen Einfluß auf Sarcany auszuüben schien.

– Die Tochter von Silas Toronthal soll keinem Anderen als mir gehören verstehst Du, Namir? Mit ihrer Hilfe werde ich mein Vermögen wieder zurechtflicken.«

Der Doctor hatte hiermit Alles gehört, was er wissen wollte. Was Sarcany und die Fremde sich nun noch zu erzählen hatten, konnte ihm ziemlich gleichgiltig sein.

Ein Schurke, der das Recht hatte, sich aufzudrängen, beanspruchte die Tochter eines zweiten Schurken. Gott selbst intervenirte bei dem Werke menschlicher Gerechtigkeit. Es war nun nichts mehr für Peter Bathory zu befürchten, den ein solcher Nebenbuhler jetzt aus dem Felde schlagen wollte. Es war nicht mehr von Nöthen, ihn nach Cattaro zu entbieten, namentlich unnöthig, sich des Mannes zu bemächtigen, der die Ehre beanspruchen wollte, der Schwiegersohn von Silas Toronthal zu werden.

»Mögen diese Spitzbuben sich nur ruhig miteinander verbinden und eine Familie bilden, sagte sich der Doctor. Wir werden ja sehen!«

Er zog sich zurück und gab Kap Matifu ein Zeichen, ihm zu folgen.

Kap Matifu, der nicht gefragt hatte, warum er den Passagier der »Saxonia« aufheben sollte, fragte jetzt auch nicht, warum er auf diese Entführung verzichten mußte. ‘

Am nächsten Tage, dem 10. Juni, öffneten sich in der achten Abendstunde die Thüren des großen Salons im Hotel des Stradone in Ragusa und ein Diener meldete mit lauter Stimme:

»Herr Sarcany!«


Siebentes Capitel. Verwickelungen.

Vor vierzehn Jahren hatte Silas Toronthal Triest verlassen und in Ragusa, in dem prächtigen Hotel am Stradone Wohnung genommen. Als Dalmatiner war es nur natürlich, daß er daran gedacht hatte, nach der Aufgabe seines Geschäftes sich in seinem Heimatlande niederzulassen.

Man hatte Wort gehalten und das Geheimniß der Verräther gehütet. Der Preis für den Verrath war ihnen prompt ausbezahlt worden. Aus dieser That war dem Banquier und Sarcany, seinem einstigen Agenten in Tripolis, ein bedeutendes Vermögen erwachsen.

Nach der Hinrichtung der beiden Verurtheilten im Gefängnisse von Pisino, nach der Flucht des Grafen Sandorf, der seinen Tod in den Fluthen der Adria gefunden hatte, war das Urtheil durch die Confiscation ihrer Güter vervollständigt worden. Von dem Hause und dem kleinen Landgute, welche Ladislaus Zathmar gehörten, war nichts übrig geblieben, nicht einmal so viel, um dem alten Diener die materiellen Sorgen zu erleichtern. Von dem Besitze Stephan Bathory’s war ebenfalls nichts mehr vorhanden, da er, ohne Vermögen, nur von dem Ertrage seines Unterrichtes lebte. Aber Schloß Artenak und seine Dependenzen, die benachbarten Minen, die Forste auf den nördlichen Abhängen der Karpathen, bildeten für den Grafen Mathias Sandorf einen beträchtlichen Besitz. Aus diesen Gütern wurden zwei Theile gebildet; der eine, der öffentlichen Jurisdiction unterstellt, diente dazu, die Angeber zu belohnen; der andere, unter Sequester gestellt, sollte für die Erbin des Grafen bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahre verwaltet werden. Falls dieses Kind vor diesem Alter sterben sollte, hatte ihr Antheil an den Staat zurückzufallen.

Die beiden Viertel, welche den Verräthern zu Theil geworden waren, hatten mehr als anderthalb Millionen Gulden betragen, von denen sie nach Belieben Gebrauch machen konnten.

Vorerst dachten die Genossen daran, sich zu trennen. Sarcany lag wenig daran, in der Nähe von Silas Toronthal zu sein. Dieser bestand darauf, in keiner Weise mit seinem früheren Agenten in Verbindung zu bleiben. Sarcany reiste also von Triest ab, gefolgt von Zirone, der ihn im Unglücke nicht verlassen hatte und ihn im Glücke nun gewiß nicht verlassen wollte. Beide verschwanden und der Banquier hörte nicht mehr von ihnen reden. Wohin waren sie gegangen? Jedenfalls in eine große Stadt Europas, dort wo Niemand daran denkt, weder dem Herkommen der Leute nachzuforschen, vorausgesetzt, daß sie reich sind, noch der Quelle des Vermögens, vorausgesetzt, daß sie es vergeuden, ohne zu rechnen. Kurz, es war in Triest nicht mehr die Rede von den Abenteurern, wo sie schließlich auch nur von Silas Toronthal gekannt worden waren.

Der Banquier athmete nach ihrer Abreise wieder auf. Er glaubte nun nichts mehr zu fürchten zu haben von einem Manne, der ihn nach gewissen Seiten hin im Garne hielt und diese Situation stets ausnützen konnte. Wenn Sarcany für den Augenblick auch reich war, so war doch kein Verlaß auf solchen Verschwender und es anzunehmen, daß er sich wieder an seinen einstigen Mitschuldigen machen würde, sobald er sein Vermögen wieder vergeudet hatte.

Sechs Monate später liquidirte Silas Toronthal seine Geschäfte, nachdem er die Differenzen seines stark bloßgelegten Hauses ausgeglichen hatte, und er verließ Triest, um sich endgiltig in Ragusa anzusiedeln. Obwohl er keine Indiscretion des Gouverneurs zu befürchten hatte, welcher der Einzige war, der es wußte, welche Rolle er bei der Aufdeckung der Verschwörung gespielt hatte, so war das doch gerade genug für einen Mann, der nichts von seinem Ansehen einbüßen wollte und dem sein Vermögen erlaubte, ein Leben auf großem Fuße überall da zu führen, wo er sich niederzulassen wünschte.

Vielleicht wurde dieser Entschluß, Triest zu verlassen, auch noch durch einen besonderen Umstand vorgeschrieben – – auf den später zurückgekommen werden muß – von dem allein Frau Toronthal und er Kenntniß hatten. Es war derselbe Umstand, der ihn – ein einziges Mal nur – mit jener Namir zusammenführte, deren Bekanntschaft mit Sarcany wir bereits gesehen haben.

Ragusa also wählte der Banquier zu seinem neuen Wohnsitze. Er hatte diese Stadt in frühester Jugend verlassen, da er weder Eltern noch Familie besaß. Man erinnerte sich seiner nicht mehr, und so war es ein Fremder, der in die Stadt einzog, woselbst er seit fast vierzig Jahren nicht wieder aufgetaucht war.

Dem reichen Manne, der unter solchen Umständen sich einführte, bereiteten die höheren Kreise Ragusas natürlich einen freundlichen Empfang. Sie kannten von ihm nur das Eine, daß er in Triest eine hervorragende Stellung bekleidet hatte. Der Banquier sachte und erstand ein Hotel in dem aristokratischen Theile der Stadt. Er führte einen großen Haushalt mit einer Schaar Diener, die sämmtlich in Ragusa erst angeworben wurden. Er empfing und wurde empfangen. Da Niemand etwas von seiner Vergangenheit wußte, so galt er als einer der Privilegirten, welche man die Glücklichen dieser Erde nennt.

Silas Toronthal war gegen das, was man Gewissensbisse nennt, so gut wie taub. Wenn er nicht Furcht gehabt hätte, daß das Geheimniß seines gemeinen Verrathes eines Tages entdeckt werden könnte, hätte nichts sein Leben beunruhigt.

Doch ihm zur Seite, wie ein stummer, aber lebendiger und beredter Vorwurf stand Frau Toronthal.

Diese unglückliche, gerade und rechtschaffene Frau besaß Kenntniß von diesem elenden Complot, das drei Patrioten in den Tod getrieben hatte. Ein ihrem Gatten entschlüpftes Wort, als seine Geschäfte auf der Kippe standen, die unvorsichtig ausgesprochene Hoffnung, daß ein Theil des Sandorf’schen Vermögens ihm wieder auf die Beine helfen könnte, Unterschriften, welche er von seiner Frau erbeten hatte, alles das hatte ihm das Geständniß seiner Betheiligung an der Aufdeckung der Verschwörung von Triest abgezwungen.

Ein unüberwindliches Gefühl der Abneigung vor dem Manne, an den sie gebunden war, bemächtigte sich der Frau Toronthal, ein Gefühl, das um so verständlicher, als sie selbst eine Ungarin von Geburt war. Sie war aber, wie schon gesagt, eine Frau ohne moralische Stärke. Sie konnte sich nach dem Schlage, den sie erhalten, nicht wieder aufraffen. Seit jenem Ereigniß, erst in Triest, dann in Ragusa lebte sie für sich allein, so weit solches möglich war und nach dem Verhältniß ihrer gesellschaftlichen Stellung. Sie erschien an den Empfangsabenden im Hotel des Stradone, weil sie es mußte und ihrem Manne gegenüber diese Verpflichtung übernommen hatte; wenn jedoch ihre Rolle als Dame von Welt ausgespielt war, zog sie sich in das Innerste ihrer Gemächer zurück. Dort widmete sie sich ganz der Erziehung ihrer Tochter, auf welche sie alle zärtlichen Gefühle übertragen hatte und versuchte zu vergessen. Vergessen, wenn der Mann, der bei jenem Geheimniß betheiligt gewesen war, unter demselben Dache mit ihr lebte!

Genau zwei Jahre nach ihrer Niederlassung in Ragusa sollte sich dieser Stand der Dinge noch verwickelter gestalten. Bereitete diese Verwickelung dem Banquier einen neuen Verdruß, so erblickte Frau Toronthal darin einen neuen Gegenstand des Schmerzes.

Frau Bathory, ihr Sohn und Borik waren ebenfalls von Triest nach Ragusa übersiedelt, woselbst noch einige Verwandte von ihnen am Leben waren. Die Witwe Stephan Bathory’s kannte Silas Toronthal nicht; sie wußte nicht einmal, daß jemals irgend ein Zusammenhang zwischen dem Banquier und Mathias Sandorf existirt hatte. Wie hätte sie auch jemals erfahren sollen, daß dieser Mann Theil an dem Verbrechen genommen hatte, welches drei edlen Ungarn das Leben kostete, da ihr Gatte vor seinem Tode nicht mehr Gelegenheit gehabt, ihr die Namen der Elenden zu nennen, welche ihn der österreichischen Behörde verkauft hatten.

Wenn auch Frau Bathory Silas Toronthal nicht kannte, so war das doch umgekehrt in um so verstärkterem Maße der Fall. Sie in derselben Stadt zu erblicken, ihr oftmals auf der Straße zu begegnen, zu sehen, wie sie arm war und arbeitete, um ihr Kind erziehen zu können, mußte ihm mehr als unangenehm sein. So viel ist gewiß, wenn Frau Bathory schon in Ragusa gewohnt hätte, als er sich daselbst niederlassen wollte, so würde er sofort von seinem Vorhaben abgestanden sein. Doch als die Witwe ihr bescheidenes Heim in der Marinella-Straße bezog, war sein Hotel schon gekauft, seine Einrichtung fertiggestellt, sein gesellschaftlicher Empfang angenommen und erwidert. Er konnte sich nicht dazu entschließen, seinen Wohnsitz abermals zu wechseln.

»Der Mensch gewöhnt sich an Alles,« sagte er zu sich selbst.

Und er beschloß, die Augen vor diesem lebendigen Denkmal seines Verrathes zu schließen.

Wenn Silas Toronthal die Augen schloß, so genügte das, wie es schien, um ihn auch in seinem Innern nichts sehen zu lassen.

Was dem Banquier schließlich nur unangenehm war, wurde für Frau Toronthal eine unaufhörliche Quelle des Schmerzes und der Gewissensbisse. Sie versuchte es mehrfach, der Witwe heimlich Unterstützungen zukommen zu lassen, welche nur durch ihre Arbeit ihren Lebensunterhalt erwarb, doch ihre Unterstützungen wurden stets ebenso abgewiesen wie diejenigen, welche unbekannte Freunde der Witwe aufdrängten. Die energische Frau verlangte nichts und wollte nichts empfangen.

Ein unvorhergesehener, auch unberechenbarer Umstand sollte diese Sachlage noch unerträglicher gestalten und sogar furchtbar machen durch die Verwickelungen, welche er herbeiführte.

Frau Toronthal hatte ihre volle Liebe auf ihre Tochter übertragen, welche gegen Ende des Jahres 1867, als sie und ihr Mann nach Ragusa kamen, kaum zwei und ein halbes Jahr alt war.

Sarah zählte nun fast siebzehn Jahre. Sie war eine reizende Person, die sich mehr dem ungarischen als dem dalmatinischen Typus näherte. Schwarze, krause Haare, feurige Augen, die sich mit elegantem Schnitt unter der hohen Stirn zeigten, einer Stirn von »psychischer Form«, wenn man sich dieser Bezeichnung bedienen darf, welche die Handschriftendeuter der Hand beizulegen pflegen, ein wohlgeformter Mund, ein warmer Teint, eine edle, etwas über das Durchschnittsmaß große Figur – dieses Zusammenwirken von körperlichen Eigenschaften ließ keinen Blick gleichgiltig.

Namentlich aber überraschte an ihrer Person und machte auf empfindlichere Naturen einen um so nachhaltigeren Eindruck das ernste Aussehen des jungen Mädchens, das nachdenkliche Gesicht, welches stets auf der Suche nach verblichenen Erinnerungen zu sein schien. Dieser Umstand hielt ihr auch alle Diejenigen vom Leibe, welche in den Salons ihres Vaters verkehrten, und die, welche ihr mehrfach im Stradone begegneten.

Man wird es unschwer glauben, daß Sarah als Erbin eines Vermögens, welches für ungeheuer groß galt und eines Tages ganz allein an sie fallen mußte, sehr gesucht war. Es waren ihr auch schon mehrere Heiraten vorgeschlagen worden, die nach jeder Richtung hin Annehmbares boten, das junge, von der Mutter bevormundete Mädchen hatte jedoch alle Anträge bisher von der Hand gewiesen, ohne sich herbeizulassen, die Gründe für ihre Weigerung anzugeben. Silas Toronthal hatte sie in dieser Beziehung niemals weder beeinflußt noch gedrängt. Augenscheinlich hatte sich ihm der Schwiegersohn, den er brauchen konnte – er mehr als Sarah – noch nicht gezeigt.

Es gehört sich, daß zur Vollendung des Gemäldes von Sarah Toronthal ihre sehr ausgesprochene Neigung, tugendhafte und muthige Thaten zu bewundern, welche der Vaterlandsliebe verschwägert sind, hervorgehoben wird. Sie beschäftigte sich mit der Politik durchaus nicht, doch die Erzählung dessen, was ihr Vaterland anging, die demselben geweihten Opfer, die neueren Beispiele, deren sich die Geschichte ihres Landes rühmt, erregten sie tief. In dem Zufalle ihrer Geburt waren solche Gefühle kaum zu suchen – von Silas Toronthal rührten sie ganz gewiß nicht her – sie selbst also, edel und edelmüthig wie sie war, konnte sie nur in ihrem eigenen Herzen gefunden haben.

Diese Neigung erklärt auch auf ganz natürliche Weise – gerade als wäre es vorher so bestimmt worden – die sympathische Annäherung Sarah Toronthal’s an Peter Bathory. Ja, eine Art Schicksalstücke, die in das Spiel des Banquiers griff, hatte sich darin gefallen, die beiden jungen Leute sich kennen lernen zu lassen. Sarah stand im zwölften Lebensjahre, als man ihr eines Tages Peter gezeigt und gesagt hatte:

»Das ist der Sohn eines Mannes, der für Ungarn gestorben ist.«

Diese Worte waren ihrem Gedächtnisse nie entschwunden. Beide waren dann größer geworden. Sarah dachte schon an Peter, ehe dieser sie kannte. Sie sah ihn so schwermüthig und grübelnd. Wenn er auch arm war, so arbeitete er doch, um des Namens seines Vaters würdig zu werden, und sie kannte dessen Geschichte.

Man weiß das Uebrige, man weiß wie Peter Bathory seinerseits von dem Anblicke Sarah’s entzückt und begeistert wurde, deren Natur mit der seinigen übereinstimmte, wie der junge Mann sie bereits mit einer innigen Liebe, die sie aber bald theilen sollte, umfaßte, ehe sie sich noch über das Gefühl klar wurde, welches in ihr aufwuchs.



Sarah zählte nun fast siebzehn Jahre. (S. 255.)


Alles was Sarah Toronthal sonst noch angeht, ist gesagt, sobald man die Stellung, die sie in ihrer Familie einnahm, kennen gelernt hat.

Ihrem Vater gegenüber hielt sich Sarah stets äußerst reservirt. Niemals bemerkte man einen Zug des Herzens auf Seiten des Vaters, niemals ein kindliches Schmeicheln bei der Tochter. Bei dem Einen war es Gefühllosigkeit, bei der Anderen rührte diese Entfremdung von einer Verschiedenheit der Ansichten in allen Dingen her. Sarah besaß für ihren Vater nur die Achtung, welche die Tochter dem Vater schuldet, nichts mehr. Er ließ sie im Uebrigen nach Gefallen ihre Wege gehen, er stellte ihren Geschmacksrichtungen keine Hindernisse entgegen, er beschränkte sie nicht in ihren Werken der Mildthätigkeit, denen er sich sogar anschloß, doch nur um damit zu prahlen. Er zeigte sich, Alles in Allem genommen, indifferent. Bei ihr war es, offen gesagt, mehr Widerwille als Abneigung.

Frau Toronthal gegenüber zeigte Sarah eine ganz andere Gesinnung. Wenn auch die Frau des Banquiers der Herrschsucht ihres Gatten sich unterordnete, der ihr wenig Ehrerbietung zeigte, so war sie wenigstens eine gutmüthige Natur und durch ihren ehrenhaften Lebenswandel, durch ihre Sorgfalt, persönlich würdig zu erscheinen, tausendmal mehr werth als jener. Frau Toronthal liebte Sarah herzlich. Unter der Zurückhaltung des jungen Mädchens hatte sie die seltensten Gaben zu entdecken gewußt. Doch diese in ihr widerhallende Neigung war gleichsam eine überspannte, Bewunderung mischte sich in ihr mit Achtung, ja fast mit ein wenig Furcht. Die Erhabenheit in dem Charakter Sarah’s, ihre Geradheit und stellenweise Unbeugsamkeit konnten diese befremdliche Form der mütterlichen Liebe erklären. Die Tochter erwiderte indessen Neigung mit Neigung. Auch ohne die Bande der Blutsverwandtschaft würden die Beiden aneinander großen Gefallen gefunden haben.

Man wird also nicht weiter überrascht sein zu hören, daß Frau Toronthal die Erste war, welche ahnte, was im Geist und Herzen Sarah’s vorging. Das junge Mädchen hatte mit ihr oft über Peter Bathory und seine Familie gesprochen, ohne den schmerzlichen Eindruck zu gewahren, den dieser Name auf ihre Mutter ausübte. Sobald Frau Toronthal bemerkt hatte, daß Sarah Peter liebte, sagte sie sich:

»Gott will also doch!«

Man ahnt, welchen Sinn diese Worte aus dem Munde Frau Toronthal’s hatten, doch was man noch nicht wissen kann, ist, eine wie gerechte Entschädigung für das der Familie Bathory zugefügte Unrecht die Liebe Sarah’s zu Peter gewesen wäre.

Wenn Frau Toronthal wirklich glauben konnte, daß diese Liebe nach den Absichten der Vorsehung entstanden war, so mußte sie, deren Seele fromm und gläubig war, auch ihren Mann zu bewegen suchen, eine Annäherung der beiden Familien zu Stande zu bringen. Ohne Sarah etwas davon zu sagen, beschloß sie, sich mit ihm über diesen Punkt auszusprechen.

Bei den ersten Worten, die seine Frau sprach, ging Silas Toronthal in einer Anwandlung von Zorn, über die er nicht Meister werden konnte, über jedes Maß hinaus. Frau Toronthal, durch die Anstrengung hinfällig, mußte sich bei seinen Drohungen schleunigst in ihr Gemach zurückziehen.

»Nehmen Sie sich in Acht, Madame! hatte er schließlich geschrieen. Wenn Sie jemals wagen, mit mir nochmals von diesem Project zu sprechen, so dürften Sie es sehr bereuen!«

Also das, was Silas Toronthal das Fatum nannte, hatte nicht nur die Familie Bathory nach Ragusa geführt, sondern auch Sarah und Peter zu einander; sie hatten sich kennen gelernt und nicht gezögert sich ineinander zu verlieben.

Man wird sich vielleicht fragen, woher dieser große Zorn des Banquiers stammte. Hatte er vielleicht schon geheime Absichten auf die Zukunft Sarah’s, welche deren Gefühle nun durchkreuzten? Mußte es ihm im Gegentheile nicht ganz lieb sein, daß den Folgen, welche eine Entdeckung seiner unwürdigen Angeberei haben mußte, schon im Voraus nach Möglichkeit entgegengearbeitet wurde? Was hätte Peter Bathory noch sagen können, wenn er der Gatte Sarah Toronthal’s geworden wäre? Was hätte dann Frau Bathory unternehmen können? Es wäre allerdings eine schreckliche Situation geworden, der Sohn des Opfers verheiratet mit der Tochter des Mörders, aber schrecklich für sie selbst, nicht für ihn, Silas Toronthal.

Es hätte also Alles besser gestanden, wenn Sarcany nicht gewesen wäre, von dem man ohne Nachrichten war. Seine Rückkehr war immer noch möglich und eventuelle Verpflichtungen der Beiden höchst wahrscheinlich noch vorhanden. Sarcany war gewiß der Mann dazu, sich dieser zu erinnern, sobald das Glück ihm den Rücken wenden sollte.

Silas Toronthal war zweifellos sehr besorgt, was aus seinem ehemaligen Geschäftsträger in Tripolis geworden war. Seit ihrer Trennung nach der Triester Affaire hatte er von ihm nichts mehr gehört und das war nun schon an fünfzehn Jahre her. Selbst in Sicilien, wo Sarcany, wie er wußte, durch seinen Freund Zirone Verbindungen unterhielt, waren die Nachforschungen erfolglos geblieben. Und doch konnte Sarcany von einem Tage zum andern auftauchen. Daher bildete er ein fortwährendes Schreckniß für den Banquier, umsomehr, als keine Nachricht vom Tode desselben an ihn gelangte – eine Botschaft, die ihn mit lebhafter Freude erfüllt haben würde. Vielleicht hätte er dann die Möglichkeit einer Verbindung der Familie Bathory’s mit der seinigen von einem anderen Gesichtspunkte aus betrachtet. Jedenfalls konnte für den Augenblick an eine solche nicht gedacht werden.

Silas Toronthal wollte seiner Frau nicht noch einmal solchen Empfang bereiten, als sie zufällig mit ihm wieder von Peter Bathory sprach. Er gab ihr übrigens keinen Aufschluß in dieser Beziehung. Er nahm sich nur vor, Sarah für die Folge strenger zu überwachen, ja, selbst beobachten zu lassen. Er nahm sich ferner vor, dem jungen Ingenieur mit Hochmuth zu begegnen, den Kopf fortzuwenden, wenn er seiner ansichtig wurde, und so zu verfahren, daß diesem jede Hoffnung benommen würde. Es gelang ihm nur zu gut, zu zeigen, daß jeder Schritt von Peter’s Seite durchaus unnütz sein würde.

So lagen die Verhältnisse, als am Abend des 10. Juni der Name Sarcany’s im Salon des Hotels im Stradone ausgerufen wurde, nachdem die Thür sich vor diesem unverschämten Menschen geöffnet hatte. Am Morgen desselben Tages hatte Sarcany in der Begleitung von Namir die Eisenbahn von Cattaro nach Ragusa bestiegen. Er war in einem der vornehmsten Hotels der Stadt abgestiegen, hatte eine elegante Toilette gemacht und ohne Zeit zu verlieren, sich bei seinem ehemaligen Mitschuldigen eingestellt.

Silas Toronthal empfing ihn und gab Befehl, sie nicht zu stören. Wie nahm er den Besuch auf? War er Herr genug über sich selbst, um sich nicht merken zu lassen, was er bei dem Wiedersehen empfand und spielte er sich mit ihm? Zeigte sich Sarcany von seiner Seite so befehlerisch frech wie früher? Rief er dem Banquier vielleicht übereingekommene Versprechungen, vor langer Zeit geschlossene Verträge in das Gedächtniß zurück? Sprachen sie von der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft? Niemand hätte es sagen können, denn die Unterhaltung wurde von keinem Menschen gestört.

Das Resultat aber war folgendes:

Vierundzwanzig Stunden später durchlief eine Aufsehen machende Neuigkeit die Stadt. Man sprach von der Heirat eines gewissen Sarcany – eines reichen Mannes aus Tripolis – mit Fräulein Sarah Toronthal.

Der Banquier hatte ersichtlich vor den Drohungen eines Mannes nachgeben müssen, der ihn mit einem Wort verderben konnte. Weder die Bitten seiner Frau, noch Sarah’s offenbares Erschrecken, deren Vater sich die alleinige Verfügung über ihre Hand anmaßte, konnten seinen Sinn ändern. – Das einzige Interesse, welches Sarancy an dem Zustandekommen seiner Heirat hatte, war von ihm vor Silas Toronthal nicht verheimlicht worden. Er war jetzt ruinirt. Der Vermögensantheil, welcher dem Banquier dazu gedient hatte, den Credit seines Hauses wiederherzustellen, hatte für den Abenteurer die fünfzehn Jahre hindurch knapp ausgereicht. Seit seiner Abreise von Triest hatte Sarcany Europa durchreist; er lebte verschwenderisch; für ihn hatten die ersten Hotels in Paris, London, Berlin, Wien und Rom nicht Fenster genug, um das Geld mit vollen Händen, je nachdem ihn eine Laune anwandelte, hinauszuwerfen. Nachdem er alle möglichen Vergnügungen ausgekostet, überließ er es den Chancen des Zufalles, seinen Ruin zu vollenden, sowohl in den Städten der Schweiz und Spaniens, wo das öffentliche Spiel noch erlaubt ist, als auch auf den grünen Tischen Monacos, welches die Grenzen Frankreichs umklammern.

Zirone war natürlich sein Helfershelfer während dieser ganzen Zeit. Dann, als sie nur noch einige tausend Gulden besaßen, waren Beide in das dem Sicilianer theure Land, den östlichen Theil Siciliens zurückgegangen. Sie blieben dort nicht unthätig und warteten die Ereignisse ab, das heißt die gelegene Zeit, um mit dem Banquier von Triest wieder in Verbindung zu kommen. Es gab in der That nichts Einfacheres, um Sarcany’s Vermögen wieder herzustellen, als wenn dieser Sarah, die einzige Erbin des reichen Silas Toronthal heiratete, der Sarcany nichts abschlagen konnte.

Eine Weigerung war unmöglich und wurde nicht einmal versucht. Es gab jedenfalls zwischen diesen beiden Männern und dem Problem, dessen Lösung sie versuchten, noch ein unbekanntes Etwas, dessen Enthüllung der Zukunft vorbehalten bleiben mußte.

Von Sarah’s Seite wurde nichtsdestoweniger eine klare Erklärung gefordert. Warum verfügte ihr Vater so eigenmächtig über sie?

»Meine Ehre hängt von dieser Heirat ab, gab Silas Toronthal auf ihr Drängen zu, folglich wird sie vor sich gehen.«

Als Sarah diesen Bescheid ihrer Mutter überbrachte, fiel diese halb ohnmächtig in die Arme der Tochter und vergoß Thränen der Verzweiflung.

Silas Toronthal hatte also die Wahrheit gesagt.

Die Schließung der Ehe wurde auf den 6. Juli festgesetzt.

Man kann sich denken, welches Leben Peter Bathory in diesen drei Wochen führte. Seine Bestürzung war unbeschreiblich. Eine Beute der ohnmächtigsten Wuthanfälle, schloß er sich bald im mütterlichen Hause ein, bald eilte er aus der verwünschten Stadt und Frau Bathory mußte befürchten, ihn nicht wiederzusehen.

Womit hätte sie ihn trösten können? So lange keine Rede von Sarah’s Heirat gewesen, konnte Peter Bathory, obwohl er von ihrem Vater zurückgestoßen war, doch noch ein wenig Hoffnung hegen. War jedoch Sarah erst einmal verheiratet, dann erschloß sich ihm ein neuer, diesmal unüberbrückbarer Abgrund. Auch Doctor Antekirtt hatte Peter trotz seiner Versprechungen verlassen. Wie hatte nur, so fragte Peter sich, das junge Mädchen, das ihn liebte, deren eigenmächtige Natur er kannte, dieser Verbindung beistimmen können? Welch ein Geheimniß brütete über dem Hotel im Stradone, wo solche Dinge vor sich gingen? Peter hätte in der That besser gethan, Ragusa zu verlassen, die Stellungen außerhalb anzunehmen, die ihm angeboten worden waren, und weit fort von Sarah zu gehen, die man diesem Fremden, Sarcany auslieferte.

»Nein, rief er dann wieder, es ist ganz unmöglich!… Ich liebe sie zu sehr!«

Die Verzweiflung war also wieder in das Haus eingekehrt, welches ein schwacher Strahl des Glückes mehrere Tage hindurch erleuchtet hatte.

Der stets auf dem Posten befindliche Pointe Pescade, welcher Alles wußte, was in der Stadt vor sich ging, war einer der Ersten, die von diesen Vorgängen unterrichtet waren. Sobald er die Neuigkeit von der Heirat Sarah Toronthal’s mit Sarcany erfahren hatte, schrieb er nach Cattaro. Sobald er den jämmerlichen Zustand bemerkt hatte, in welchem sich der junge Ingenieur befand – für den er sich lebhaft interessirte – machte er dem Doctor Antekirtt davon Mittheilung.

Er empfing an Stelle einer eingehenden Antwort nur die Weisung, die Vorgänge in Ragusa weiter zu beobachten und nach Cattaro zu berichten.

Je mehr man sich dem Unglückstage des 6. Juli nahte, desto mehr verschlimmerte sich der Zustand Peter Bathory’s. Seine Mutter war nicht mehr im Stande, ihn zu beruhigen. Silas Toronthal’s Pläne waren schlechterdings nicht zu hintertreiben. Zeigte die Hast, mit der die Heirat veröffentlicht und festgesetzt wurde, nicht offenbar, daß sie schon seit langer Zeit beschlossen war, daß Sarcany und der Banquier sich schon gekannt hatten und daß dieser »reiche Tripolitaner« einen ganz besonderen Einfluß auf den Vater Sarah’s haben mußte?

Von seinen ihn völlig beherrschenden Ideen fortgerissen, beschloß Peter Bathory, acht Tage vor der festgesetzten Hochzeitsfeier an Silas Toronthal zu schreiben.

Der Brief blieb ohne Antwort.

Peter versuchte, dem Banquier auf der Straße zu begegnen. Es gelang ihm nicht.

Er wollte in das Hotel selbst dringen. Man verwehrte ihm den Eingang.

Sarah und ihre Mutter waren jetzt unsichtbar. Es gab keine Möglichkeit, bis zu ihnen zu dringen.

Doch während Peter Sarah und ihren Vater nicht zu Gesicht bekam, sah er sich im Stradone mehrfach Sarcany gegenüber. Den Blick des Hasses des jungen Mannes beantwortete Sarcany nur mit der unverschämtesten Mißachtung. Peter Bathory hegte den Gedanken, ihn zu provociren, damit er sich mit ihm schlagen müßte. Doch unter welchem Vorwande und warum hätte Sarcany ein Duell annehmen sollen, welches sein Interesse am Vorabende seiner Ehe mit Sarah Toronthal zu vermeiden vorschrieb?

So vergingen noch sechs Tage. Peter verließ trotz der inständigen Bitten seiner Mutter, trotz der Bitten Borik’s das Haus in der Marinella-Straße am Abend des 4. Juli. Der alte Diener versuchte, ihm zu folgen, doch er hatte ihn bald aus den Augen verloren. Peter ging auf gut Glück durch die ödesten Straßen Ragusas, an den Befestigungsmauern entlang, als ob er närrisch geworden wäre.

Eine Stunde später brachte man ihn sterbend seiner Mutter. Ein Messerstich hatte den oberen Theil des linken Lungenflügels durchbohrt.

Es war kein Zweifel möglich: Peter hatte sich in einer Anwandlung von Verzweiflung selbst tödten wollen.

Pointe Pescade eilte, sobald er das Unglück vernommen zum Telegraphenbureau.

Nach einer Stunde war die Nachricht von dem Selbstmorde des jungen Mannes im Besitz des Doctors Antekirtt in Cattaro.

Es ist unmöglich, den Schmerz der Frau Bathory zu schildern, als sie vor ihrem Sohne, der nur noch wenige Stunden zu leben hatte, aus ihrer Ohnmacht erwachte. Doch die Energie der Mutter siegte über die Schwäche der Frau. Erst galt es zu sorgen. Thränen konnten später fließen.



Man brachte Peter Bathory sterbend seiner Mutter. (S. 263.)


Ein Arzt wurde geholt. Er kam sogleich, untersuchte den Verwundeten und lauschte auf den schwachen und pausirenden Athem seiner Brust. Er sondirte die Wunde, legte den ersten Verband an und that, was in seinen Kräften stand; allein Hoffnung konnte er nicht geben.

Fünfzehn Stunden später hatte sich der Zustand Peter’s in Folge Hinzutretens einer sehr starken Blutung noch verschlechtert und sein Athem, kaum hörbar, drohte in jedem Augenblicke mit einem letzten Seufzer zu entfliehen.



Ihre Mutter sank vor dem Bett auf die Knie. (S. 270.)


Frau Bathory war auf die Knie gesunken und betete zu Gott, er möge ihr den Sohn erhalten.

Plötzlich öffnete sich die Thür des Zimmers. Doctor Antekirtt trat herein und ging auf das Bett des Sterbenden zu.

Frau Bathory wollte ihm in den Weg treten. Ein Zeichen von ihm hemmte ihren Schritt.

Der Doctor beugte sich über Peter und untersuchte ihn aufmerksam, ohne ein Wort zu sprechen. Dann betrachtete er ihn mit unwiderstehlicher Stetigkeit.

Gleichsam als strömte aus seinen Augen eine magnetische Kraft, schien dieser Blick in das Gehirn zu dringen, wo die Gedanken zu erlöschen drohten, das eigene Leben mit dem eigenen Willen.

Peter drehte sich plötzlich auf die Seite. Seine Augenlider erhoben sich, er sah den Doctor an… und fiel leblos zurück.

Frau Bathory stürzte mit einem Schrei über ihren Sohn und sank dann ohnmächtig in die Arme des alten Borik.

Der Doctor schloß die Augen des jungen Todten; er richtete sich dann wieder auf und verließ das Zimmer. Man hätte ihn jenen Spruch aus den indischen Legenden murmeln hören können:

»Der Tod zerstört nicht, er macht nur unsichtbar!«

Achtes Capitel. Ein Zusammentreffen im Stradone.

Peter’s Tod machte in der Stadt gewaltiges Aufsehen, doch Niemand ahnte den wahren Beweggrund von Peter Bathory’s Selbstmord, namentlich argwöhnte kein Mensch, daß Sarcany und Silas Toronthal Schuld an diesem Unglück hatten.

Am nächsten Tage, dem 6. Juli, sollte die Hochzeit Sarah Toronthal’s mit Sarcany gefeiert werden.

Von dem unter so rührenden Umständen erfolgten Selbstmorde hatten weder Frau Toronthal noch ihre Tochter eine Ahnung. Silas Toronthal hatte im Einverständnisse mit Sarcany seine Vorsichtsmaßregeln in dieser Hinsicht getroffen.

Man war übereingekommen, daß die Heirat in bescheidener Form vollzogen würde. Man wollte einen Todesfall in der Familie Sarcany’s vorschützen. Dergleichen entsprach zwar nicht den prunkliebenden Gewohnheiten Toronthal’s, doch unter diesen Umständen hielt er es selbst für besser, daß die Dinge ohne großes Aufsehen zu erregen ihren Verlauf nahmen. Die Neuvermählten sollten nur wenige Tage in Ragusa bleiben und dann nach Tripolis abreisen, wo Sarcany’s ständiger Wohnsitz wäre, so sagte man. Ein Empfang im Hotel des Stradone sollte ebenfalls unterbleiben, sowohl bei Verlesung des Ehecontractes, welcher der jungen Frau ein beträchtliches Vermögen sicherstellte, als auch nach der kirchlichen Handlung in der Franziskaner-Kirche, welche unmittelbar der standesamtlichen Trauung folgen sollte.

An jenem Tage lustwandelten, während im Hotel Toronthal die letzten Vorbereitungen zur Hochzeit getroffen wurden, zwei Männer auf der gegenüberliegenden Seite des Stradone.

Es waren Kap Matifu und Pointe Pescade.

Doctor Antekirtt hatte Kap Matifu von Ragusa zurückgebracht. Seine Gegenwart war in Cattaro nicht mehr von Nöthen und daß die beiden Freunde, die beiden »Zwillinge«, wie Pointe Pescade sie nannte, über ihre Wiedervereinigung sehr glücklich waren, kann kaum bezweifelt werden.

Als der Doctor kaum in Ragusa angelangt war, hatte er sofort den Besuch in der Marinella-Straße gemacht; dann hatte er sich in ein bescheidenes Hotel in der Vorstadt Plocce zurückgezogen, woselbst er die Heirat Sarcany’s mit Sarah Toronthal abwarten wollte, ehe er weitere Schritte unternahm.

Bei einem zweiten Besuche, den der Doctor am folgenden Morgen Frau Bathory machte, hatte er selbst geholfen, Peter in den Sarg zu legen; er war dann wieder in sein Hotel zurückgekehrt, nachdem er Pointe Pescade und Kap Matifu beauftragt hatte, den Stradone zu überwachen.

Während Pointe Pescade ganz Auge und Ohr war, hinderte ihn nichts am Sprechen.

»Ich finde, Du bist dicker geworden, mein Kap, sagte er und richtete sich auf, um die Brust des Hercules zu befühlen.

– Ja… und stets solid.

– Ich habe es schon an Deiner Umarmung gemerkt.

– Doch das Stück, von dem Du mit mir sprachst? fragte Kap Matifu, der an seiner Rolle festhielt.

– Es geht vorwärts, es geht vorwärts! Du mußt bedenken, daß die Handlung eine sehr verwickelte ist.

– Eine verwickelte?

– Ja! Es ist kein Lust-, sondern ein Trauerspiel und schon der Anfang ist sehr packend.«

Pointe Pescade schwieg. Ein schnell heranrollendes Coupé hielt vor dem Hotel des Stradone.

Der Schlag des Wagens, in welchem Pointe Pescade Sarcany erblickt hatte, öffnete und schloß sich sofort.

»Ja!… Sehr packend, wiederholte er, und er kündet einen großen Erfolg an.

– Und der Bösewicht? fragte Kap Matifu, den diese Persönlichkeit am Meisten interessirte.

– Nun, der Bösewicht triumphirt augenblicklich, wie das immer in einem gut aufgebauten Stücke der Fall ist…. Aber Geduld…. Warten wir das Ende ab!

– In Cattaro, sagte Kap Matifu, glaubte ich schon, daß ich sollte…

– In die Handlung eingreifen?

– Ja, Pointe Pescade, ja!«

Und Kap Matifu erzählte Alles, was sich im Bazar von Cattaro zugetragen hatte, das heißt, wie seine beiden Arme für eine Entführung verlangt wurden, die nachher nicht zu Stande kam.

»Aha, es war also noch zu früh, erwiderte Pointe Pescade, der »sprach, um zu sprechen«, wie man sagt, wobei er unaufhörlich nach links und rechts blickte. Du sollst eben erst im vierten oder fünften Act auftreten, lieber Kap. Vielleicht erscheinst Du auch erst in der letzten Scene. … Aber sei unbesorgt, Du wirst eine erdrückende Wirkung ausüben. … Darauf kannst Du Dich verlassen.«

Jetzt ließ sich ein fernes Geräusch in dem Stradone von der Ecke der Marinella-Straße her vernehmen.

Ein Leichenconduct, der aus der letztgenannten Straße herauskam, wendete sich den Stradone entlang der Franziskaner-Kirche zu, wo eine Todtenfeier abgehalten werden sollte.

Wenige Personen nur waren bei dieser Beerdigung zugegen, deren einfache Erscheinungsweise die öffentliche Aufmerksamkeit nur in geringem Maße auf sich zog – ein schmuckloser, mit einem schwarzen Tuche bedeckter Tragesarg.

Der Zug ging langsam einher. Plötzlich faßte Pointe Pescade mit lautem Ausrufe des Erstaunens krampfhaft den Arm Kap Matifu’s.

»Was hast Du? fragte Kap Matifu.

– Nichts! Es würde zu lange dauern, um es Dir zu erklären.«

Er hatte soeben Frau Bathory erkannt, welche hinter dem Leichname ihres Sohnes einherschritt.

Die Kirche hatte ihre Segnungen diesem Todten nicht verschlossen, den die Verzweiflung zum Selbstmorde getrieben hatte; der Priester, der ihn zum Kirchhofe begleiten sollte, erwartete ihn in der Kapelle der Franziskaner.

Frau Bathory wankte trockenen Auges einher. Sie besaß nicht mehr die Kraft zum Weinen. Ihre unnatürlich vergrößerten Augen wendeten sich bald zur Seite, bald bohrten sie sich in das Bahrtuch, welches den Körper des Sohnes bedeckte.

Der alte Borik schleppte sich zum Erbarmen neben ihr her.

Pointe Pescade fühlte, daß ihm die Thränen in die Augen traten. Wenn der brave Mensch nicht auf seinem Posten hätte bleiben müssen, würde er nicht gezögert haben, sich den wenigen Freunden und Nachbarn anzuschließen, welche den Ueberresten Peter Bathory’s die letzte Ehre erwiesen.

Gerade als der Leichenzug an dem Hotel Toronthal vorüber wollte, öffnete sich das große Portal desselben. Zwei Wagen standen vor dem Perron am Hofe zum Ausfahren bereit.

Der erste fuhr bereits zum Thore hinaus und wendete um, um den Stradone hinabzufahren.

Pointe Pescade erblickte in ihm Silas Toronthal, seine Frau und seine Tochter.

Frau Toronthal, vom Schmerz halb gebrochen, saß neben Sarah, die noch weißer als ihr Brautschleier aussah.

Sarcany, von einigen Verwandten oder Freunden begleitet, hatte im zweiten Wagen Platz genommen.

Wie bei der Bestattungsfeier fehlte auch bei der Feier der Hochzeit jeder Aufwand. Auf beiden Seiten dieselbe fürchterliche Traurigkeit.

Plötzlich hörte man, in dem Augenblicke, als der erste Wagen durch das Thor fuhr, einen herzzerreißenden Schrei.

Frau Bathory war stehen geblieben und die Hand gegen Sarah ausstreckend, hatte sie jene verflucht.

Sarah war es gewesen, die den Schrei ausgestoßen. Sie hatte die Mutter in Trauerkleidung gesehen und Alles begriffen, was man ihr verheimlichte…. Peter war gestorben, durch sie und für sie, sein Leichenzug war es, der an ihr vorüberging, gerade als sie der Wagen zur Trauung führte.

Sie fiel ohnmächtig zurück. Frau Toronthal, völlig kopflos, sachte sie ins Leben zurückzurufen. Es war vergebens…. Sie athmete kaum noch.

Silas Toronthal konnte seinen Zorn nicht unterdrücken. Doch Sarcany, der eilends herbeigekommen war, wußte sich zu fassen.

Unter diesen Umständen war es unmöglich, vor den Priester zu treten und es mußte den Kutschern der Befehl ertheilt werden, in das Hotel zurückzukehren, dessen Thor hinter ihnen lärmend zufiel

Sarah wurde in ihr Zimmer getragen und auf ihr Bett gelegt, sie rührte sich nicht. Ihre Mutter sank vor dem Bett auf die Knie und ein Arzt wurde in aller Eile herbeigeholt. Während dessen setzte der Leichenzug Peter Bathory’s seinen Weg nach der Franziskaner-Kirche fort; nach abgehaltener Todtenfeier fand die Bestattung auf dem Kirchhofe von Ragusa statt.

Pointe Pescade hatte begriffen, daß Doctor Antekirtt so schnell als möglich von dem unvorhergesehenen Zwischenfalle unterrichtet werden mußte. Er sagte also zu Kap Matifu:

»Bleibe hier und gib Obacht!«

Er selbst eilte in die Vorstadt Plocce.

Der Doctor blieb während der Erzählung Pointe Pescade’s stumm.

»Bin ich über meine Befugnisse hinausgegangen? sagte er bei sich. Nein!… Habe ich einer Unschuldigen wehe gethan? Zweifellos ja! Doch diese Unschuldige ist nun einmal die Tochter von Silas Toronthal!«

– Er wandte sich dann an Pointe Pescade:

»Wo ist Kap Matifu?

– Vor dem Hotel im Stradone.

– Ich brauche Euch Beide heute Abend.

– Um wie viel Uhr?

– Um neun.

– Wo sollen wir Sie erwarten?

– Am Thor des Kirchhofes.«

Pointe Pescade suchte sofort Kap Matifu auf, den er auf seinem Posten vorfand.

Am Abend gegen acht Uhr ging der Doctor, in einen weiten Mantel gehüllt, auf das Thor von Ragusa zu. Links, an einem Vorsprunge der Mauer, suchte er eine kleine, zwischen den Klippen liegende Bucht auf, die oberhalb des Hafens in das Gestade einschnitt.

Der Ort lag völlig vereinsamt da. Weder Häuser noch Boote sah man hier. Die Fischerbarken ankerten hier nicht aus Furcht vor den zahlreichen Rissen, welche die Bucht einschließen. Der Doctor blieb hier stehen, sah sich um und stieß einen Ruf aus, der jedenfalls verabredet war. Denn alsbald näherte sich ein Matrose mit den Worten:

»Zu Befehl, Meister!

– Ist das Boot da, Pazzer?

– Ja, hinter diesem Felsen.

– Mit der ganzen Mannschaft?

– Ja.

– Und der »Electric«?

– Liegt weiter nördlich, drei Ankerlängen außerhalb der kleinen Bucht.«

– Und der Matrose zeigte auf eine langgestreckte, in der Dunkelheit größer erscheinende Masse, deren Gegenwart kein einziges Licht verrieth.

»Wann ist er von Cattaro angekommen? fragte der Doctor.

– Vor einer Stunde ungefähr.

– Und er ist von Niemandem bemerkt worden?

– Von Niemandem! Er glitt an den Klippen entlang.

– Kein Mann soll seinen Posten verlassen, Pazzer; wenn es nicht anders geht, soll man hier die ganze Nacht auf mich warten.

– Ja, Meister!«

Der Matrose ging zum Boote zurück, welches mit den äußersten Uferfelsen fast in eins verschmolz.

Doctor Antekirtt hielt sich noch kurze Zeit am Ufer auf. Er wollte jedenfalls hier warten, bis die Nacht dunkler geworden war. Er ging zeitweilig mit großen Schritten auf und ab. Dann machte er wieder Halt, und sein Blick verlor sich in das Adriatische Meer, als hätte er ihm seine Geheimnisse anvertraut.

Nicht Mond, nicht Sterne erglänzten am Himmel. Kaum einer der Landwinde, die sich am Abend zu erheben und einige Stunden zu dauern pflegen, machte sich fühlbar. Hochliegende, doch ziemlich dichte Wolken bedeckten den ganzen Himmelsraum bis zum westlichen Horizonte, wo der letzte Rauchstreifen aus dem Schlote eines Dampfers, der sich hell vom Himmel abgehoben hatte, soeben verflog.



»Dort hinein!« sagte Doctor Antekirtt. (S. 274)


»Vorwärts,« ermahnte sich selbst der Doctor.

Er ging an der Umwallung der Stadt entlang dem Kirchhofe zu.

Vor dem Thore desselben warteten Pointe Pescade und Kap Matifu; sie hatten sich hinter einem Baume verborgen, so daß sie nicht gesehen werden konnten.

Der Kirchhof war um diese Stunde bereits geschlossen. Ein schwaches Licht schimmerte noch im Hause des Wächters. Vor Anbruch des Tages kam Niemand mehr, um ihn zu betreten.

Der Doctor besaß augenscheinlich eine genaue Kenntniß von der Anlage des Kirchhofes. Seine Absicht war es jedenfalls nicht, durch die Thür einzutreten – wobei, wenn es hätte geschehen sollen, sehr verschwiegen hätte zu Werke gegangen werden müssen.

»Folgt mir!« sagte er zu Pointe Pescade und seinem Genossen, die auf ihn zugeeilt waren.

Sie gingen an der äußeren Mauer entlang, welche das wellenförmige Terrain zu einer ansehnlichen Höhe führte. Nach einem Marsche von zehn Minuten blieb der Doctor stehen; er zeigte auf eine Lücke in der Mauer, welche von einem erst kürzlich stattgehabten Rutsche derselben herrührte.

»Dort hinein!« sagte er.

Er schlüpfte durch die Lücke. Pointe Pescade und Kap Matifu kletterten ihm nach.

Unter den großen Bäumen, welche die Gräber beschatteten, herrschte tiefe Dunkelheit. Der Doctor folgte ohne zu zögern einer Allee, dann einer Querallee, die zu dem höher gelegenen Theile des Kirchhofes führte.



Das Boot legte an dem »Electric« an. (S. 276.)


Einige in ihrem Fluge aufgescheuchte Nachtvögel flatterten hier und dort auf. Außer diesen Eulen und Käuzchen gab es ringsumher kein lebendes Wesen zwischen den im Grase lagernden Gedächtnißsäulen.

Bald machten die Drei vor einem bescheidenen Monumente Halt, einer Art kleiner Kapelle, deren Gitter mit keinem Schlüssel verschlossen war.

Der Doctor stieß das Gitter auf; dann drückte er auf den Knopf einer kleinen elektrischen Laterne; er ließ einen Strahl aus derselben fallen, doch so, daß ihn von außen Niemand bemerken konnte.

»Tritt ein!« sagte er zu Kap Matifu.

Kap Matifu betrat die kleine Kapelle und sah sich einer Mauer gegenüber, in welche drei Marmorplatten eingelassen waren.

Auf der mittleren standen die Worte:


Stephan Bathory.

1867.


Die Platte zur Linken trug keine Inschrift. Die zur Rechten sollte bald eine solche erhalten.

»Hebe diese Platte aus!« befahl der Doctor.

Kap Matifu that dies ohne Schwierigkeiten, da sie noch nicht vermauert war; er legte sie auf die Erde und ein Sarg wurde in der Wölbung, welche in der Mauer angebracht war, sichtbar.

Es war der Sarg, welcher den Körper Peter Bathory’s enthielt.

»Ziehe den Sarg heraus!« sagte der Doctor.

Kap Matifu zog diesen hervor, ohne daß Pointe Pescade anzufassen brauchte, so schwer er auch war, und nachdem er mit ihm die kleine Kapelle verlassen hatte, stellte er ihn auf den Boden.

»Nimm dieses Werkzeug, sagte der Doctor zu Pointe Pescade und reichte ihm einen Schraubenzieher. Hebe damit den Sargdeckel ab.«

Das war in wenigen Minuten geschehen.

Doctor Antekirtt zog mit der Hand das weiße Tuch ab, welches den Todten bedeckte und legte seinen Kopf auf die Brust, um die Schläge des Herzens zu hören. Er erhob sich und sagte zu Kap Matifu.

»Nimm den Körper heraus.«

Kap Matifu gehorchte, ohne daß er oder Pointe Pescade, trotzdem sie wußten, daß es sich um eine verbotene Ausgrabung einer Leiche handelte, Einspruch erhoben hätten.

Als der Körper Peter Bathory’s in das Gras gelegt worden war, wickelte ihn Kap Matifu wieder in das Leichentuch ein, über welches der Doctor nun seinen Mantel warf. Der Deckel wurde alsdann wieder aufgeschraubt, der Sarg in die Mauerhöhlung geschoben und die Platte wieder vor die Oeffnung gelegt, welche sie genau wie vorher bedeckte.

Der Doctor schloß das Licht der Laterne und die frühere Dunkelheit herrschte wieder.

»Nimm den Körper« sagte er zu Kap Matifu.

Kap Matifu hob mit seinen robusten Armen den Körper des Jünglings auf, als wenn er ein Kind emporzuheben hätte. Dann ging es wieder, der Doctor voran, Pointe Pescade hinterher, durch die Querallee zurück, geraden Weges auf die Mauerbresche zu.

Fünf Minuten später war diese überschritten und der Doctor, Pointe Pescade und Kap Matifu gingen an der Stadtmauer entlang dem Gestade zu

Nicht ein Wort war gewechselt worden; der gehorsame Kap Matifu dachte ja überhaupt nur wie eine Maschine; welche Folge von Gedanken aber wälzte sich in dem Kopfe Pointe Pescade’s umher!

Auf der Strecke vom Kirchhofe zur Küste waren Doctor Antekirtt und seine Begleiter keinem einzigen Menschen begegnet. Doch als sie sich der kleinen Bucht näherten, wo das Boot vom »Electric« sie erwarten sollte, sahen sie einen Zollwächter auf den Klippen des Ufers entlang wandern.

Sie setzten ihren Weg fort, ohne über dessen Anwesenheit besorgt zu sein. Ein lauter Ruf, vom Doctor ausgestoßen, ließ den Führer des Bootes, das bis dahin unsichtbar geblieben war, herbeieilen.

Kap Matifu ging auf ein Zeichen an den Klippen hinunter und schickte sich an, den Fuß in das Boot zu setzen.

Der Zollwächter aber war auch schon zur Stelle und da er die Anstalten zur Einschiffung sah, so rief er die Fremden an:

»Wer seid Ihr?

– Leute, die Euch die Wahl zwischen zwanzig Gulden baar und einem Faustschlag lassen – ebenfalls baar,« erwiderte Pointe Pescade, indem er auf Kap Matifu zeigte.

Der Zollwächter zauderte nicht: er nahm die zwanzig Gulden.

»In See!« commandirte der Doctor.

Einen Augenblick später war das Boot in der Dunkelheit verschwunden. Nach ferneren fünf Minuten legte es an dem spindelförmigen Fahrzeuge an, das man vom Ufer aus nicht bemerken konnte.

Das Boot wurde an Bord gehißt, und der von seiner geräuschlosen Maschine in Bewegung gesetzte »Electric« hatte bald die offene See gewonnen.

Kap Matifu hatte den Körper Peter Bathory’s auf einen Divan in einer schmalen Cabine gelegt, die keine Luftöffnung besaß, durch welche ein Lichtstrahl hätte nach außen dringen können.

Der Doctor blieb allein hier zurück; er beugte sich über Peter und seine Lippen küßten die entfärbte Stirn.

»Erwache jetzt, Peter, sagte er. Ich will es!«

Sofort öffnete Peter die Augen, als wäre er nur in einen magnetischen Schlaf, der dem Tode so ähnlich sieht, versanken gewesen.

Etwas wie Widerwillen malte sich zuerst auf seinen Zügen, als er den Doctor Antekirtt erkannte.

»Sie? murmelte er. Sie, der Sie mich verlassen haben?!

– Ich bin es, Peter!

– Aber wer sind Sie eigentlich?

– Ein Todter, wie Du!

– Ein Todter?

– Ich bin Graf Mathias Sandorf!«…


Ende des zweiten Theiles.


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