Dritter Theil.

Erstes Capitel. Das Mittelmeer.

»Das Mittelmeer ist schön, vornehmlich durch zwei Eigenschaften: seinen harmonievollen Rahmen und die Lebhaftigkeit, Durchsichtigkeit seiner Luft und seines Lichtes… So wie es ist, härtet es bewundernswerth den Menschen ab. Es gibt ihm die ausdauerndste, straffe Kraft; es erzeugt die dauerhaftesten Rassen.«

Michelet hat das gesagt und er hat das Richtige gesagt. Doch zum Glück für die Menschheit hat die Natur, in Ermangelung eines Hercules, den Felsen von Calpe von dem von Abyla getrennt, um die Meerenge von Gibraltar zu formen. Man kann ganz getrost über die Behauptung so mancher Geologen hinwegsehen, und behaupten, daß diese Meerenge schon von jeher vorhanden gewesen ist. Ohne sie gäbe es kein Mittelmeer. Die Verdunstung entführt in Wirklichkeit diesem Meere dreimal so viel Wasser, als ihm seine sämmtlichen Zuflüsse zuführen; wenn also der es wiederergänzende Strom aus dem Atlantischen Ocean sich nicht durch die Meerenge wälzen würde, so wäre es schon seit vielen Jahrhunderten eine Art Todten Meeres, anstatt das lebendige Meer »par excellence« zu sein.

In einer der verborgensten und unbekanntesten Gegenden dieses ungeheuren Mittelländischen Sees hatte Graf Sandorf – er mußte bis zur festgesetzten Stunde, bis zur vollständigen Vollendung seines Werkes der Doctor Antekirtt bleiben – sein Leben geborgen, um alle Vortheile, die ihm sein falscher Tod bringen mußte, genießen zu können.

Es gibt auf der Erdkugel zwei Mittelmeere, eines in der alten, eines in der neuen Welt. Das amerikanische Mittelmeer ist der Golf von Mexiko; es nimmt nicht weniger als vier und eine halbe Million Quadratkilometer ein. Während indessen das lateinische Mittelmeer nur über eine Oberfläche von zwei Millionen achtmalhundertfünfundachtzigtausend fünfhundert und zweiundzwanzig Quadratkilometer verfügt, also nur halb so groß ist als das andere, erscheint es in seiner ganzen Gestaltung viel bunter, an prächtigen Bassins und Meerbusen reicher und an breiten hydrographischen Unterabtheilungen, welche den Namen von Meeren verdienen. So der griechische Archipel, das Meer von Creta oberhalb der gleichnamigen Insel, das untere Lybische Meer, das Adriatische zwischen Italien, Oesterreich, der Türkei und Griechenland, das Ionische, welches Korfu, Xante, Kephalonia und die anderen Inseln bespült, das Tyrrhenische im Westen Italiens, das Aeolische bei der Gruppe der Liparischen Inseln, der Golf von Lyon, der Meerbusen der Provence, der Golf von Genua, die Bucht der Ligurischen Halbinsel, der Golf von Gabes, die Bai des tunesischen Gestades, die beiden Syrten, die so tief zwischen der Cyrenäischen Halbinsel und Tripolis in den afrikanischen Continent einschneiden.

Welchen verborgenen Theil dieses Meeres, von dem einige Küsten noch wenig bekannt sind, hatte Doctor Antekirtt zu seinem Wohnsitze auserkoren? Es gibt im Umfange dieses ungeheuren Bassins hunderte, ja tausende kleinerer Inseln. Es würde vergebene Mühe sein, ihre Kaps und Baien zu zählen. Wie viele Völker verschiedenster Rasse, verschieden in Sitten, politischen Zuständen drängen sich nicht auf diesen Gestaden, denen die Geschichte der Menschheit seit mehr als zwanzig Jahrhunderten ihr Siegel aufgedrückt hat: Franzosen, Italiener, Spanier, Oesterreicher, Türken, Griechen, Araber, Aegypter, Tripolitaner, Tunesen, Algerier, Marokkaner – sogar Engländer in Gibraltar, Malta und Cypern? Drei ungeheure Continente bilden die Ufer dieses Meeres: Europa, Asien, Afrika. Wo also hatte Graf Mathias Sandorf, jetzt Doctor Antekirtt – ein Name, der den Orientalen theuer war – seine ferne Residenz aufgeschlagen, in der das Programm seines neuen Lebens sich abspielte? Peter Bathory sollte es bald erfahren.

Nachdem er einen Augenblick die Augen aufgeschlagen hatte, war er wieder in die vollständige Bewußtlosigkeit zurückgefallen, und ebenso unempfindlich wie in dem Augenblick, als der Doctor ihn für todt in dem Hause in Ragusa zurückgelassen hatte. Damals hatte der Doctor eines jener physiologischen Experimente ausgeführt, bei denen der Wille eine so bedeutende Rolle spielt und deren phänomenale Erscheinungen nicht mehr angezweifelt werden. Mit einer außerordentlichen Eingebungskraft begabt, hatte er vermocht, ohne erst das Magnesiumlicht oder einen brillirenden Metallknopf anwenden zu müssen, nur durch das Durchbohrende seines Blickes einen hypnotischen Zustand hervorzurufen und seinen Willen an Stelle desjenigen Peter’s zu setzen. Dieser, vom Blutverluste geschwächt, gab kein Lebenszeichen mehr von sich, er war entschlummert und nach dem Willen des Doctors wieder erwacht. Jetzt handelte es sich darum, das zum Verlöschen neigende Leben zu erhalten. Ein schwieriges Unternehmen, denn es erforderte ungeheure Sorgfalt und alle Hilfsmittel der medicinischen Kunst. Der Doctor durfte darin nichts versehen.

»Er wird leben!… Ich will es, daß er lebt! wiederholte er. Warum habe ich auch in Cattaro meinen ersten Plan nicht ausgeführt?… Warum hat die Ankunft Sarcany’s in Ragusa mich abgehalten, ihn dieser verwünschten Stadt zu entreißen?… Ich werde ihn aber retten!… In Zukunft soll Peter Bathory der rechte Arm von Mathias Sandorf sein!«

Seit fünfzehn Jahren war es der beständige Gedanke des Doctors Antekirtt, rächen und Vergeltung üben zu können. Was er seinen Genossen, Stephan Bathory und Ladislaus Zathmar, mehr noch als sich selbst schuldig war, hatte er nicht vergessen. Jetzt war die Stunde zum Handeln gekommen und deshalb hatte die »Savarena« ihn nach Ragusa gebracht.

Des Doctors Aussehen war während dieser langen Zeit ein völlig anderes geworden, so daß Niemand ihn hätte wiedererkennen können. Seine Haare, die er bürstenförmig trug, waren weiß geworden und sein Teint hatte eine glanzlose Farbe angenommen. Er war einer jener Fünfziger, welche sich die Kraft der Jugend erhalten, während sie die Kälte und Ruhe des reisen Alters gewonnen haben. Das gewellte Haar, die angehauchte Hautfarbe, der Bart vom venetianischen Blond, die dem jungen Grafen zu eigen gewesen waren, alles das konnte in keiner Weise in der Erinnerung Jener wieder auftauchen, die dem strengen und frostigen Doctor Antekirtt gegenüberstanden. Doch mehr geläutert und abgehärtet, war er eine jener eisenfesten Naturen geblieben, von denen man sagen kann, daß sie die Magnetnadel schon durch ihre bloße Annäherung erzittern machen. Nun wohl, aus dem Sohne Stephan Bathory’s wollte er dasselbe machen, wozu er selbst geworden war.

Doctor Antekirtt war übrigens schon seit geraumer Zeit der Letzte aus der großen Familie der Sandorf’s. Man wird nicht vergessen haben, daß er ein Kind, ein Töchterchen besessen hatte, welches nach seiner Verhaftung der Frau Landeck’s, des Verwalters von Schloß Artenak, anvertraut worden war.

Dieses Mädchen, damals zwei Jahre alt, war die einzige Erbin des Grafen. An sie sollte, sobald sie das achtzehnte Lebensjahr erreicht haben würde, die Hälfte der Güter ihres Vaters ausgeliefert werden. Durch denselben Urtheilsspruch, der die Confiscation der Besitzthümer und den Tod des Besitzers verfügte, war ihr diese Gunst zu Theil geworden. Da Intendant Landeck in seiner Stellung als Verwalter des unter Sequester gestellten Theiles der siebenbürgischen Domäne belassen worden war, so waren er und seine Frau mit dem Kinde auf dem Schlosse geblieben, dem sie ihr ganzes ferneres Leben weihen wollten. Doch es schien, als schwebte ein Verhängniß über die nur noch aus diesem kleinen Wesen bestehende Familie Sandorf. Einige Monate nach der Verurtheilung der Verschwörer von Triest und den Ereignissen, welche darauf folgten, verschwand das Kind, ohne daß es gelang, seiner wieder habhaft zu werden. Man fand nur sein Hütchen am Rande eines der zahlreichen Bäche, welche von den benachbarten Abhängen der Berge in den Park sich ergießen. Man mußte leider annehmen, daß die Kleine in einen der Abgründe gerissen worden war, durch welche die Karpathenströme ihren Weg nehmen; eine fernere Spur fand man nicht. Rosena Landeck, die Frau des Intendanten, traf dieser Schlag tödtlich; einige Wochen nach der Katastrophe starb sie. Die Regierung wollte trotzdem eine Aenderung ihrer einmal erlassenen Verfügungen nicht eintreten lassen. Das Sequester über den einen reservirten Theil der Sandorf’schen Besitzungen blieb in Kraft, und die Güter des Grafen sollten nur dann an den Staat fallen, wenn seine Erbin, deren Tod nicht in gesetzmäßiger Weise constatirt werden konnte, nicht innerhalb der festgesetzten Zeit wieder zum Vorschein käme, um die Erbschaft in Empfang zu nehmen.

Dieses war der letzte Schlag, der die Sandorf’s getroffen hatte, deren Geschlecht durch das Verschwinden der einzigen Sprossin dieser edlen und mächtigen Familie so gut wie erloschen schien. Die Zeit that im Uebrigen ihr Werk und bald war dieses Ereigniß ebenso wie die anderen Vorfälle vergessen, die sich an die Verschwörung geknüpft hatten.

In Otranto, wo damals Graf Mathias Sandorf im strengsten Incognito lebte, erfuhr derselbe den Tod seines Kindes. Mit ihm verschwand Alles, was ihm noch von der Gräfin Réna geblieben, welche nur so kurze Zeit seine Gattin und von ihm so heiß geliebt worden war. Unbemerkt wie er gekommen, verließ er eines Tages Otranto und Niemand hätte verrathen können, wo er ein neues Leben begann.



Pointe Pescade wurde dem Genesenden als Pfleger beigesellt. (S. 284.)


Als fünfzehn Jahre später Graf Mathias Sandorf wieder auf der Bildfläche erschien, vermuthete Niemand, daß er es war, der sich unter dem Namen und dem Spiel der Rolle des Doctor Antekirtt verbarg.

Mathias Sandorf lebte nun vollständig der Erfüllung seiner Pläne. Er stand jetzt allein auf der Welt und hatte nur noch ein Werk zu vollenden, ein Werk, dessen Durchführung er als eine heilige Aufgabe betrachtete. Mehrere Jahre, nachdem er Otranto verlassen hatte, nachdem er mächtig durch jene Macht geworden, welche allein ein ungeheures Vermögen verleiht, erworben unter Umständen, die wir bald kennen lernen werden, nachdem er vergessen war und durch sein Incognito geschützt wurde, begann er jenen nachzuspüren, die er entschädigen, beziehungsweise bestrafen wollte. Peter Bathory – so war es längst seine Absicht gewesen – sollte diesem Werke der Gerechtigkeit verbündet werden. Er hatte Agenten in den verschiedensten Städten an der Küste des Mittelländischen Meeres angeworben. Sie wurden reichlich belohnt, dafür aber angehalten, unverbrüchliches Schweigen über ihre Thätigkeit zu beobachten. Sie correspondirten nur mit dem Doctor, theils vermittelst der Eilschiffe, die wir bereits kennen, theils durch das unterseeische Kabel, welches die Insel Antekirtta mit den elektrischen Drähten auf Malta, und Malta wiederum mit Europa verband.

Dadurch, daß er den Berichten seiner Agenten die eigenen Untersuchungen folgen ließ, gelangte er schließlich auf die Spuren aller derer, welche direct oder indirect an der Verschwörung des Grafen Sandorf betheiligt gewesen waren. Er konnte sie so von Weitem überwachen, sich über ihre Unternehmungen im Laufenden erhalten und ihnen, namentlich seit vier oder fünf Jahren, sozusagen auf Schritt und Tritt folgen. Er wußte, daß Silas Toronthal Triest verlassen und sich mit Frau und Kind im bewußten Hotel im Stradone von Ragusa niedergelassen hatte. Er beobachtete Sarcany’s Rundreise durch die verschiedenen Hauptstädte Europa’s, in denen er sein Vermögen verschwendete, dann seinen Aufenthalt in den östlichen Provinzen Siciliens, woselbst er und sein Genosse Zirone über die Coups nachsannen, mit Hilfe derer sie sich flott erhalten konnten. Er wußte, daß Carpena von Rovigno und Istrien nach Italien und Oesterreich gegangen und so lange müßig geblieben war, als die wenigen tausend Gulden, der Judaslohn, dies gestatteten. Er hätte Andrea Ferrato ganz gewiß aus dem Gefängnisse von Stein in Nieder-Oesterreich erlöst, wo er für seine edelmüthige Handlungsweise an den Flüchtlingen von Pisino büßte, wenn nicht schon nach einigen Monaten der Tod den ehrbaren Fischer von Ketten und Banden erlöst haben würde. Seine Kinder, Maria und Luigi, hatten Rovigno gleichfalls verlassen und kämpften wahrscheinlich gegen das Unglück eines zweimal gebrochenen Lebens an. Sie hatten sich indessen so gut zu verbergen gewußt, daß es bisher nicht möglich gewesen war, sie aufzufinden. Frau Bathory, die sich mit ihrem Sohne Peter und Borik, dem früheren Diener des Grafen Ladislaus Zathmar, in Ragusa niedergelassen, hatte der Doctor niemals aus den Augen verloren und man weiß, daß er ihnen eine bedeutende Summe hatte zukommen lassen, die von der stolzen und muthigen Frau aber nicht angenommen worden war.

Endlich war nun die Stunde gekommen, in welcher der Doctor seinen schwierigen Feldzug beginnen konnte. Als ein schon seit fünfzehn Jahren todter Mann fühlte er sich sicher, nach so langer Abwesenheit von Keinem erkannt zu werden, und so kam er nach Ragusa, gerade gelegen, um den Sohn Stephan Bathory’s und die Tochter Silas Toronthal’s in Liebe zu einander entbrannt zu sehen, die er um jeden Preis vernichten mußte. Man wird nicht vergessen haben, was damals geschah, Sarcany’s Dazwischenkunft und die Folgen für beide Theile, wie Peter in das Haus seiner Mutter gebracht wurde und was Doctor Antekirtt in dem Augenblicke that, als der junge Mann zu sterben schien, wie und unter welchen Umständen er ihn ins Leben zurückrief und sich ihm unter seinem wirklichen Namen Mathias Sandorf vorstellte.

Jetzt mußte Peter geheilt werden und Alles erfahren, was er noch nicht wußte, das heißt, daß ein gemeiner Verrath zugleich mit seinem Vater dessen beide Genossen betroffen hatte; es mußte ihm gesagt werden, wer die Verräther waren, er mußte nun zum unerbittlichen Richter in der Sache werden, welche der Doctor abseits von der Gerichtsbarkeit der Menschen entscheiden wollte, da er selbst ein Opfer dieser Gerechtigkeitspflege geworden war.

Zunächst die Heilung Peter Bathory’s! Und dieser Heilung widmete der Doctor sein ganzes Können.

Während der ersten acht Tage nach seiner Transportirung auf die Insel schwebte Peter thatsächlich zwischen Leben und Tod. Nicht nur, daß seine Wunde ein sehr bedenkliches Aussehen hatte, auch sein Verstand schien schwer erkrankt. Die Erinnerung an Sarah, welche er jetzt mit Sarcany verheiratet wähnen mußte, der Gedanke an seine Mutter, die ihn beweinte, dann die Auferstehung des Grafen Mathias Sandorf, der unter dem Namen des Doctors Antekirtt lebte – Mathias Sandorf’s, des ergebensten Freundes seines Vaters – Alles das konnte ein schon so hart geprüftes Gemüth recht wohl in Verwirrung setzen.

Der Doctor wollte Peter Tag und Nacht nicht allein lassen. Er hörte ihn in seinen Fieberträumen den Namen Sarah Toronthal’s unablässig wiederholen. Er sah recht, wie tief die Liebe in ihm wurzelte und welche Qual Peter die Heirat Derjenigen, die er liebte, verursachte. Er mußte sich schließlich fragen, ob eine so große Liebe nicht Allem widerstehen würde, selbst der Mittheilung, daß Sarah die Tochter des Mannes sei, der seinen Vater verrathen, verkauft, getödtet hätte. Und doch wollte der Doctor es ihm sagen. Er war dazu entschlossen, solches seine Pflicht.

Zwanzig Male glaubte man Peter unterliegen zu sehen. An Körper und Geist sterbenskrank, war er dem Tode so nahe, daß er Mathias Sandorf, der an seinen Kissen stand, nicht mehr erkannte. Er besaß nicht einmal die Kraft mehr, den Namen Sarah auszusprechen.

Die ihn umgebende Sorgfalt half ihm endlich über die Krisis fort. Die Kraft der Jugend gewann die Oberhand. Der Kranke begann bereits am Körper zu genesen, als der Geist noch krankte Die Wunde fing an zu vernarben, die Lungenflügel nahmen ihre regelmäßige Thätigkeit wieder auf, am 17. Juli konnte der Doctor es als gewiß ansehen, daß Peter am Leben blieb.

An diesem Tage erkannte dieser den Doctor wieder Mit einer noch schwachen Stimme konnte er ihn bei seinem wirklichen Namen nennen.

»Für Dich, mein Sohn, bin ich Mathias Sandorf, antwortete dieser ihm, doch nur allein für Dich.«

Und da Peter ihn mit einem Blick betrachtete, der ungeduldig Erklärungen zu fordern schien, setzte er hinzu:

»Später, später.«

In einem traulichen Gemache, das durch seine sich nach Norden und Osten öffnenden Fenster der gesunden Meeresluft freien Eintritt gestattete und im Schatten schöner Bäume gelegen war, denen munter fließende Gewässer ein ewiges Grün verliehen, mußte die Gesundheit Peter’s schnell und sicher wieder zunehmen. Der Doctor hörte nicht auf, ihn mit jeder nur denkbaren Sorgfalt zu umgeben; von Minute zu Minute war er bei ihm, seitdem aber die Heilung gesichert schien, hatte er billigerweise einen Pfleger angestellt, dessen Umsicht und gutem Willen er durchaus Vertrauen schenkte.

Es war das Pointe Pescade, der Peter Bathory ebenso ergeben war wie dem Doctor. Er sowohl wie Kap Matifu hatten selbstverständlich über die Vorgänge auf dem Kirchhofe von Ragusa reinen Mund gehalten; ebenso gewiß war es, daß sie nie darüber sprechen würden, daß der junge Mann noch lebend seinem Grabe entrissen worden war.

Pointe Pescade war ziemlich tief in alle Geschehnisse eingeweiht worden, die sich während des Verlaufes dieser wenigen Monate zugetragen hatten. Er hatte demgemäß ein erhöhtes Interesse an seinem Kranken. Diese Liebe Peter Bathory’s, welche das Dazwischentreten Sarcany’s gekreuzt hatte – ein Unverschämter in seinen Augen, der ihm eine wohl gerechtfertigte Antipathie einflößte – das Zusammentreffen des Trauerzuges mit den hochzeitlichen Kutschen vor dem Hotel im Stradone, die auf dem Kirchhofe von Ragusa vorgenommene Ausgrabung, alles das hatte das gutmüthige Wesen sehr zum Mitleid angeregt, umsomehr als er sich den Plänen des Doctors Antekirtt verbunden fühlte, ohne das Endziel derselben begreifen zu können.

Es geht aus Gesagtem hervor, daß Pointe Pescade mit Eifer den Auftrag, den Kranken zu pflegen, entgegennahm. Es wurde ihm gleichzeitig vom Doctor anempfohlen, Peter durch seinen drolligen Humor so viel als möglich zu zerstreuen. Daran konnte es ihm nun nicht fehlen. Er betrachtete überdies seit dem Feste in Gravosa Peter Bathory als seinen Gläubiger und hatte sich schon längst vorgenommen, gelegentlich auf die eine oder die andere Weise mit ihm abzurechnen.

Deshalb gab sich Pointe Pescade nach erfolgter Installirung bei dem Kranken alle Mühe, die Gedanken Peter’s durch Plaudern und Schwatzen abzulenken und ihm keine Zeit zum Nachdenken zu lassen.

So wurde er eines Tages auf eine directe Frage Peter’s hin veranlaßt, zu erzählen, wie er die Bekanntschaft des Doctors Antekirtt gemacht habe.

»Bei dem Stapellaufe des Trabocolo, Herr Peter, gab er zur Antwort. Sie müssen sich dessen doch noch erinnern? Die Geschichte mit dem Trabocolo, welche aus Kap Matifu einen Helden gemacht hat?«

Peter hatte keineswegs das ernste Ereigniß vergessen, welches das Jahrmarktsfest in Gravosa bei der Ankunft der Vergnügungs-Yacht unterbrochen hatte; doch das wußte er bisher nicht, daß auf den Vorschlag des Doctors hin die beiden Akrobaten ihre Künste aufgegeben hatten und bei Letzterem in Dienst getreten waren.

»Ja. Herr Peter, meinte Pointe Pescade, das war es und die Aufopferung Kap Matifu’s ist für uns ein großes Glück geworden. Doch dürfen wir über dem was wir dem Doctor schulden, nicht vergessen, Ihnen zu danken.

– Mir?

– Ihnen, Herr Peter, der Sie an jenem Tage beinahe unser ganzes und einziges Publicum gewesen wären; das heißt mit anderen Worten, wir hatten zwei Gulden verdient, ohne sie verdient zu haben, weil das geehrte Publicum uns im Stiche ließ, obwohl es seinen Platz bezahlt hatte.«

Und Pointe Pescade rief Peter Bathory ins Gedächtniß zurück, wie dieser, kaum nachdem er die zwei Gulden erlegt hatte und im Begriffe stand, die provençalische Arena zu betreten, plötzlich verschwunden war.

Der junge Mann hatte an diesen Vorfall nicht mehr gedacht, doch jetzt erinnerte er sich desselben mit einem traurigen Lächeln, denn es fiel ihm gleichzeitig ein, daß er sich nur, um Sarah Toronthal wieder zu finden, in der Menge verloren hatte.

Seine Augen schlossen sich. Er sann darüber nach, wie Alles von jenem Tage an gekommen war. Sobald er an Sarah dachte, die er jetzt verheiratet glaubte, folterte ihn eine schmerzende Beklemmung und er war oft nahe daran, Jenen zu fluchen, die ihn dem Tode entrissen hatten.

Pointe Pescade sah wohl, daß dieses Fest in Gravosa in Peter trübe Erinnerungen wachrief. Er sprach also nicht weiter von demselben und hüllte sich selbst in Schweigen, indem er bei sich meinte:

»Mein Kranker soll alle fünf Minuten einen halben Löffel voll guter Laune einnehmen. So wünscht es der Herr Doctor, aber es ist nicht so leicht.«

Peter selbst war es, der von Neuem zu fragen begann, als er einige Augenblicke später die Augen wieder aufschlug:

»Kanntet Ihr den Doctor Antekirtt schon vor dem Stapellaufe des Trabocolo, Pointe Pescade?

– Wir hatten ihn nie zuvor gesehen, Herr Peter, antwortete Pointe Pescade, und kannten bis dahin nicht einmal seinen Namen.

– Von jenem Tage an aber habt Ihr ihn nie verlassen?

– Niemals, außer wenn er mich mit einigen Aufträgen beehrte.

– In welchem Lande befinden wir uns hier? Könnt Ihr mir das sagen, Pointe Pescade?

– Ich muß annehmen, daß wir uns auf einer Insel befinden, da das Meer uns auf allen Seiten umgibt.

– Jedenfalls, doch in welchem Theile des Mittelmeeres?

– Ja so! Offen gestanden, ich weiß es nicht, ob im Norden, Westen, Süden oder Osten, meinte Pointe Pescade. Es ist das auch im Uebrigen vollständig gleichgiltig. Eines ist sicher, daß wir uns nämlich beim Doctor Antekirtt befinden und daß man uns gut beköstigt, kleidet, schlafen läßt, ohne der Auszeichnungen zu gedenken…

– Aber Ihr werdet doch wenigstens wissen, wie diese Insel heißt, wenn Ihr auch nicht ihre Lage kennt? fragte Peter.

– Wie sie heißt?… O gewiß! Sie heißt Antekirtta!« erwiderte Pointe Pescade.

Peter Bathory strengte vergebens sein Gedächtniß an, um sich zu erinnern, ob eine Insel des Mittelmeeres diesen Namen trüge. Er blickte Pointe Pescade an.

»Ja, Herr Peter, Antekirtta! beantwortete dieser die stumme Frage. Meinem Onkel würde nichts übrig bleiben, »unter keinem Längen-und keinem Breitengrade« auf die Adresse eines Briefes an mich zu schreiben, vorausgesetzt, daß ich einen Onkel hätte; leider aber hat mir der Himmel bis jetzt diese Freude versagt. Es gibt aber nichts Erstaunliches an der Sache, daß diese Insel sich Antekirtta nennt, weil sie dem Doctor Antekirtt gehört. Ob nun der Doctor seinen Namen der Insel entlehnt hat oder ob die Insel den Namen des Doctors angenommen hat, das zu sagen ist mir ganz unmöglich, und wenn ich selbst Generalsecretär einer geographischen Gesellschaft wäre.«

Die Reconvalescenz Peter’s nahm ihren regelmäßigen Verlauf. Keiner der Zufälle, die befürchtet werden konnten, trat hinzu. Mit Hilfe einer consistenteren, doch vorsichtig bereiteten Mahlzeit nahm der Kranke von Tag zu Tag an Kräften zu. Der Doctor besuchte ihn häufig und sprach mit ihm über alles Mögliche, nur nicht von solchen Dingen, die Peter directer interessiren konnten. Und Peter, der nicht vorzeitige Vertraulichkeiten wachrufen wollte, wartete, bis es dem Doctor gefallen würde, sich ihm zu eröffnen.

Pointe Pescade hatte dem Doctor getreulich die Brocken der Unterhaltung hinterbracht, die zwischen ihm und dem Kranken ausgetauscht worden waren. Das Incognito, welches nicht nur den Grafen Mathias Sandorf beschützte, sondern sich auch auf die von ihm bewohnte Insel erstreckte, beschäftigte die Gedanken Peter Bathory’s augenscheinlich. Ebenso ersichtlich war es, daß er beständig noch an Sarah Toronthal dachte, die ihm jetzt so entfernt weilte, da jede Verbindung zwischen Antekirtta und dem europäischen Continente abgeschnitten schien. Doch der Augenblick war nahe, in welchem er stark genug sein sollte, Alles zu erfahren.

Ja! Alles zu hören, und an jenem Tage wollte der Doctor, wie ein operirender Chirurg, mitleidslos den Wehrufen des Patienten gegenüber sein.

Mehrere Tage verstrichen. Die Wunde des jungen Mannes war vollständig vernarbt. Er konnte schon aufstehen und an dem Fenster seiner Stube Platz nehmen. Die mildthätige Sonne des Mittelländischen Meeres schmeichelte ihm, eine lebhafte Meeresbrise blähte seine Lungen auf und gab ihm Gesundheit und Kraft wieder. Er fühlte sich wider Willen gefunden. Seine Augen hefteten sich hartnäckig an den grenzenlosen Horizont, über den hinaus sein Blick gern geschweift wäre; sein Gemüth war eben noch sehr leidend. Die ungeheure Wasserwüste rings um die Insel lag fast immer verlassen da. Kaum einige Küstenfahrzeuge, Schebecken oder Tartanen, Polaken oder Speronaren tauchten auf der offenen See auf, hielten aber nie auf die Insel zu, um hier anzulegen. Ein großes Handelsschiff oder ein Packetboot einer der Linien, welche diesen großen europäischen See nach allen Richtungen der Windrose durchziehen war hier nie zu sehen.

Man hätte mit Recht behaupten können, daß Antekirtta an die Grenzen der Erde verbannt worden sei.

Am 24. Juli kündete der Doctor Peter Bathory an, daß er am folgenden Nachmittage ausgehen dürfte und er bot sich selbst zu seiner Begleitung auf dieser ersten Promenade an.

»Wenn ich die Kraft habe, auszugehen, Doctor, sagte Peter, so habe ich auch die Kraft, von Ihnen zu hören.

– Von mir zu hören, Peter? Was meinst Du damit?

– Ich will sagen, daß Sie meine ganze Lebensgeschichte kennen, ich aber nicht die Ihrige.«

Der Doctor betrachtete ihn aufmerksam, mehr als Arzt denn als Freund, um zu prüfen, ob es gerathen sein würde, Feuer und Eisen in das gesunde Blut des Kranken zu mischen. Dann setzte er sich zu ihm und sagte:

»Du sollst meine Geschichte kennen lernen. Peter. Höre zu.«

Zweites Capitel. Vergangenheit und Gegenwart.

»Zuerst die Geschichte des Dotors Antekirtt, welche in dem Augenblicke beginnt, in welchem Graf Mathias Sandorf sich in die Wellen der Adria stürzte.

– Ich ging aus dem Hagel von Kugeln, den mir die letzte Salve der Polizisten nachsandte, heil und unverletzt hervor. Die Nacht war sehr dunkel.

Man konnte mich nicht sehen. Der Strom trug mich dem Meere zu und ich hätte nicht an das Land zurückgelangen können, selbst wenn ich es gewollt. Ich wollte es auch nicht. Lieber sterben, als aufgegriffen, um nach Pisino zurückgebracht und dort füsilirt zu werden, so dachte ich. Wenn ich unterlag, war Alles zu Ende. Wenn mir meine Rettung gelang, so konnte ich wenigstens für todt gelten. Nichts konnte mich dann mehr in dem Werke der Gerechtigkeit behindern, das zu erfüllen ich dem Grafen Zathmar, Deinem Vater, und mir selbst geschworen hatte… und das ich erfüllen werde.

– Ein Werk der Gerechtigkeit? fragte Peter, dessen Auge sich bei dem ihm unerwartet kommenden Worte belebte.

– Ja, Peter, und Du sollst dieses Werk kennen lernen, denn um Dich an demselben Theil nehmen zu lassen, habe ich Dich, todt wie ich selbst es bin, und lebendig, so wie ich es bin, dem Kirchhofe von Ragusa entrissen.«



Das Schiff kam direct auf mich zu. (S. 292.)


Peter Bathory fühlte sich bei diesen Worten an die Zeit vor fünfzehn Jahren erinnert, damals, als sein Vater auf dem Schloßhofe der Festung Pisino fiel.

»Das ganze Meer, fuhr der Doctor fort, lag bis zur italienischen Küste hin offen vor mir. Ein so guter Schwimmer ich auch war, durfte ich es nicht wagen, es zu durchschneiden. Wenn mir nicht die göttliche Vorsicht zu Hilfe kam, sei es in Gestalt einer Planke oder eines fremdländischen Fahrzeuges, welches mich an Bord nehmen konnte, war ich verloren. Doch wenn man sein Leben zum Opfer bringen muß, wird man auch stark genug, es zu vertheidigen, vorausgesetzt, daß eine Vertheidigung möglich ist.

– Ich war zuerst wiederholt untergetaucht, um den letzten Flintenschüssen zu entgehen. Als ich sicher war, nicht mehr bemerkt zu werden, hielt ich mich auf der Oberfläche des Meeres und wandte mich der offenen See zu. Meine Kleidungsstücke behinderten mich wenig, denn sie waren sehr leicht und schlossen sich dem Körper an.

– Es mußte so neunundeinhalb Uhr des Abends sein. Nach meiner Schätzung schwamm ich bereits länger als eine Stunde in einer der Küste entgegengesetzten Richtung; ich entfernte mich jedenfalls von dem Hafen von Rovigno, dessen Feuer ich nach und nach verlöschen sah.

– Wohin schwamm ich und worauf gründete sich meine Hoffnung? Ich hatte ganz gewiß keine, Peter, aber ich fühlte in mir eine übermenschliche Widerstandskraft, Zähigkeit und einen eben solchen Willen, die mich aufrecht erhielten. Es war nicht mehr mein Leben, das ich zu retten sachte, sondern das Werk der Zukunft. Wenn in diesem Augenblicke eine Fischerbarke vorübergekommen wäre, ich würde sogleich untergetaucht sein, um von ihr nicht bemerkt zu werden. Wie viele Verräther hätte ich nicht noch finden können, die ebenso bereit gewesen wären, gegen eine gute Belohnung mich auszuliefern, wie Carpena den ehrbaren Andrea Ferrato!

– Gegen Ende der ersten Stunde geschah Folgendes: Ein Fahrzeug tauchte fast plötzlich aus dem Schatten auf. Es kam von der See und hatte alle Segel beigesetzt, um das Land zu erreichen. Da ich bereits ermüdet war, so hatte ich mich auf den Rücken gelegt, doch instinctiv drehte ich mich um, zum Verschwinden bereit. Es war eine Fischerbarke, die zu einem der Häfen Istriens gehörte, sie mußte mir also verdächtig erscheinen.

– Man war auf mich bereits aufmerksam geworden. Einer der Matrosen rief im dalmatinischen Dialekt den übrigen zu, den Curs zu wechseln. Ich tauchte schnell unter und das Schiffchen flog über meinen Kopf fort, ohne daß die Mannschaft mich gesehen hätte.

– Um Athem zu schöpfen, kam ich an die Oberfläche zurück und ich begann meine Schwimmfahrt westwärts fortzusetzen.

– Der Wind legte sich, jemehr die Nacht vorschritt. Die Wellen fielen mit dem Winde. Ich wurde nur noch von langgestreckten, rollenden Wogen emporgehoben, die mich auf die hohe See hinausführten.

– Auf diese Weise, bald schwimmend, bald ruhend, kam ich noch eine fernere Stunde lang von der Küste ab. Ich hatte nur den zu erreichenden Zweck im Auge, nicht den Weg, den ich durchschwimmen mußte, um dahin zu gelangen. Fünfzig Meilen hätte ich zurücklegen müssen, um über die Adria zu gelangen; ich wollte sie durchschwimmen, ja ich hätte sie durchschwommen! Ach, Peter, man muß solche Prüfungen bestanden haben, um zu wissen, wessen der Mensch fähig ist, was die menschliche Maschine durch die Vereinigung der moralischen mit der physischen Kraft leisten kann.

– Ich hielt mich also auch noch in der zweiten Stunde aufrecht. Dieser Theil des Adriatischen Meeres war vollkommen öde. Die Vögel selbst hatten ihn verlassen, um ihre Nester auf den Klippen aufzusuchen. Nur die Seemöven flatterten noch an meinem Kopfe vorüber und schossen mit grellem Schrei pfeilschnell davon.

– Trotzdem ich nichts von Ermüdung wissen wollte, wurden meine Arme nun doch matt, meine Beine träge. Meine Finger schlossen sich nicht mehr dicht aneinander, nur mit großer Mühe gelang es mir, die Hände noch geschlossen zu halten. Mein Kopf ward mir so schwer, als trüge ich eine Kugel auf der Schulter und ich war nicht mehr im Stande, ihn über Wasser zu halten.

– Eine Art Hallucination befiel mich. Meine Gedankenrichtung entschlüpfte mir. Befremdliche Ideen stiegen in meinem Geiste auf. Ich fühlte, daß ich nur noch undeutlich hören und sehen konnte, ob es ein Geräusch war, das sich plötzlich in einiger Entfernung geltend machte, oder ein Licht, in dessen Strahl ich mich plötzlich befand. Folgendes geschah:

– Es mußte ungefähr Mitternacht sein, als sich dieses dumpfe und ferne Grollen in östlicher Richtung bemerkbar machte, ein Brausen, dessen Natur ich nicht erkennen konnte. Ein Lichtschimmer drang durch meine Augenlider, die sich gegen meinen Willen gesenkt hatten. Ich versuchte den Kopf zu wenden, es gelang mir aber nur dadurch, daß ich mich zur Hälfte versinken ließ. Dann blickte ich aus.

– Ich gebe alle diese Einzelheiten wieder, Peter, weil Du sie kennen lernen sollst und aus ihnen auch mich kennen lernen kannst.

– Ich kenne Sie sehr gut, Doctor, erwiderte der junge Mann. Glauben Sie, daß meine Mutter mir nicht erzählt hat, wer Graf Mathias Sandorf gewesen ist?

– Sie mag Mathias Sandorf gekannt haben, Peter, aber den Doctor Antekirtt gewiß nicht. Und diesen sollst Du eben kennen lernen. Höre also weiter zu:

– Das Geräusch, welches ich vernommen, rührte von einem großen Schiffe her, das von Osten kam und der italienischen Küste zufuhr. Das Licht war eine weiße Laterne, die am Stag des Fockmastes aufgehißt war, also einen Dampfer anzeigte. Seine Positionsfeuer bemerkte ich eben so schnell, das rothe auf Backbord, das grüne auf Steuerbord; da ich sie zu gleicher Zeit sah, so wußte ich, daß das Schiff direct auf mich zu kam.

– Der nächste Augenblick mußte entscheidend sein. Da der Dampfer von der Richtung, wo Triest lag, kam, so sprach Alles dafür, daß er unter österreichischer Flagge fuhr. Ihn um Aufnahme bitten, hieß genau so viel, als sich in die Hände der Gensdarmen von Rovigno begeben. Ich war vollständig entschlossen, es nicht zu thun, aber nicht weniger entschlossen, das Rettungsmittel, das sich mir bot, zu benützen.

– Der Dampfer war ein Eilboot. Je mehr er sich mir näherte, desto unermeßlicher erschien sein Umfang, und ich sah das Meer unter seinem Vordersteven aufschäumen. In weniger als zwei Minuten mußte er die Stelle passiren, woselbst ich fast unbeweglich lag.

– Ich zweifelte nicht daran, daß es ein österreichischer Dampfer war. Doch war es nicht unmöglich, daß seine Bestimmung auf Brindisi oder Otranto lautete, oder daß er dort Station machte. Wenn das der Fall war, so mußte er in ungefähr vierundzwanzig Stunden dort eintreffen.

– Mein Entschluß war gefaßt: ich wartete ab. In der Gewißheit, inmitten der Dunkelheit nicht bemerkt zu werden, hielt ich mich in der Richtung, welche die ungeheure Masse verfolgte, deren Geschwindigkeit eine nur mäßige war und die in der rollenden See kaum schwankte.

– Endlich hatte der Dampfer mich erreicht. Sein über zwanzig Fuß aus dem Wasser ragender Vordersteven beherrschte das Meer rings umher. Ich wurde in den Schaum des Bugs verwickelt, doch nicht von ihm fortgeschleudert. Der lange eiserne Schnabel streifte mich und ich stieß mich kräftig mit der Hand ab. Das dauerte kaum einige Secunden. Dann, als ich die hohen Formen des Hintertheiles sich abzeichnen sah, klammerte ich mich auf die Gefahr hin, von der Schraube erfaßt zu werden, an das Steuerruder an.

– Der Dampfer hatte glücklicher Weise volle Ladung, so daß seine tiefliegende Schraube nicht die Oberfläche des Wassers peitschte, denn sonst hätte ich dem Wirbel nicht widerstehen und mich nicht an der Handhabe festklammern können, wie ich es gethan. Wie bei allen diesen Schiffen, so hingen auch hier zwei eiserne Ketten vom Hintertheile herunter, die an dem Steuerruder befestigt waren. Ich ergriff eine dieser Ketten und zog mich bis zu ihrer Verankerung, dicht über dem Wasserspiegel empor; dort installirte ich mich, so schlecht und recht es eben anging, nahe dem Hintersteven…. Ich befand mich in verhältnißmäßiger Sicherheit.

– Drei Stunden später brach der Tag an. Ich überlegte, daß ich noch zwanzig Stunden in dieser Lage ausharren müßte, falls der Dampfer in Brindisi oder Otranto anlegte. Vom Hunger und Durst mußte ich am Meisten leiden…. Sehr wichtig war der Umstand, daß ich vom Deck aus nicht bemerkt werden konnte, nicht einmal von dem Rettungsboote aus, das auf dem Hinterdeck zwischen seinen Trägern ruhte. Von uns entgegenkommenden Schiffen konnte ich allerdings gesehen und signalisirt werden, doch nur wenige Schiffe kreuzten uns an diesem Tage und diese fuhren in so großer Entfernung an uns vorüber, daß sie kaum den Menschen erblicken konnten, der in den Ketten des Steuerruders hing.

Die glühenden Sonnenstrahlen gestatteten mir bald, meine Kleidungsstücke zu trocknen, deren ich mich entledigte. Die dreihundert Gulden Andrea Ferrato’s befanden sich noch immer in dem Gürtel um meinem Leibe. Sie mußten mir Sicherheit verschaffen, sobald ich am Lande war. Dort hatte ich nichts mehr zu befürchten. Im fremden Lande drohte mir von den Agenten Oesterreichs keine Gefahr. Es gab noch keinen Auslieferungsvertrag bezüglich politischer Flüchtlinge. Ich wollte indessen nicht nur, daß mein Leben gerettet war, sondern auch, daß man an meinen Tod glaubte. Niemand durfte erfahren, daß der letzte Flüchtling aus dem Wartthurme von Pisino den Fuß auf italienischen Boden gesetzt hatte.

– Was ich wollte, ging in Erfüllung. Der Tag ging ohne Zwischenfälle vorüber. Die Nacht brach herein. Gegen zehn Uhr Abends blitzte südwestlich ein Feuer in regelmäßigen Pausen auf. Es rührte vom Leuchthurme von Brindisi her. Zwei Stunden später lenkte der Dampfer in das Fahrwasser zum Hafen ein.

– Doch bevor noch der Lootse an. Bord gekommen war, zwei Seemeilen vom Lande entfernt, verließ ich die Ketten des Steuerruders, nachdem ich aus meinen Kleidungsstücken ein Bündel gemacht und mir um den Hals gebunden hatte; ich ließ mich sanft in das Wasser gleiten.

– Eine Minute später hatte ich das Schiff aus den Augen verloren, dessen Dampfpfeife seine heulenden Signale gab.

– Nach einer halben Stunde landete ich bei ruhigem Meere an einem brandungfreien Ufer, vor jedem Blicke geborgen; ich zog mich zwischen die Klippen zurück, kleidete mich dort wieder an und inmitten einer mit trockenem Seetang ausgefüllten Mulde entschlummerte ich: die Abspannung besiegte den Hunger.

– Bei Tagesanbruch ging ich nach Brindisi hinein, ich sachte eines der einfachsten Gasthäuser auf und wartete dort die Ereignisse ab, bevor ich mir den Plan zu einem ganz neuen Leben zurechtlegte.

– Nach zwei Tagen belehrten mich die Zeitungen, daß die Verschwörung von Triest ihr Ende erreicht habe. Man schrieb auch, daß Nachforschungen nach dem Verbleib des Körpers des Grafen Mathias Sandorf angestellt worden waren, doch keinen Erfolg gehabt hätten. Ich wurde für todt gehalten – für ebenso todt, als wenn ich mit meinen beiden Genossen, Ladislaus Zathmar und Deinem Vater Stephan, auf dem Schloßhofe von Pisino erschossen worden wäre.

– Ich todt!… Nein, Peter, und man soll noch sehen, daß ich am Leben bin!«

Peter Bathory hatte aufmerksam der Erzählung des Doctors gelauscht. Er war ebenso lebhaft davon ergriffen, als wenn das Gesagte zu ihm aus der Grabesgruft hinübergeschallt hätte. Ja, so nur konnte Graf Mathias Sandorf sprechen! Ihm gegenüber, der ein lebendiges Abbild seines Vaters vorstellte, war die gewöhnlich gezeigte Kälte allmählich gewichen; er hatte ihm vollständig seine Seele geöffnet, er wollte sich ihm so zeigen, wie er war, nachdem er so viele Jahre hindurch sich hatte verstellen müssen. Mathias Sandorf hatte aber bisher noch nichts davon gesagt, was zu hören Peter eifrig verlangte, noch nichts davon, wobei er auf seine Hilfe rechnete.

Was der Doctor von seiner kühnen Ueberfahrt über das Adriatische Meer erzählt hatte, entsprach bis in die kleinsten Einzelheiten der Wahrheit. Er war heil und gesund in Brindisi angekommen, während Mathias Sandorf ein für alle Male todt war.

Es handelte sich zunächst für ihn darum, Brindisi so schnell als möglich zu verlassen. Diese Stadt ist nur ein Durchfahrtshafen. Man schifft sich dort nach Indien ein, oder nach Europa aus. Sie liegt gewöhnlich verlassen da, nur an einem oder zwei Tagen in der Woche herrscht in ihr reges Leben, wenn die überseeischen Dampfer eintreffen, namentlich diejenigen der »Peninsular and Oriental Company«. Der durch diese bewirkte Verkehr genügte aber gerade, um den Flüchtling von Pisino unter Umständen erkannt werden zu lassen und wenn er auch, um es nochmals zu wiederholen, für sein Leben nichts zu fürchten hatte, so war es ihm doch von großer Wichtigkeit, daß man an seinen Tod glaubte.

Darüber dachte der Doctor nach, als er am Tage nach seiner Ankunft in Brindisi am Fuße der Terrasse lustwandelte, welche die Säule der Kleopatra beherrscht, gerade dort, wo die alte appische Straße beginnt. Den Plan seines neuen Lebens hatte er sich schon zurechtgelegt. Er wollte nach dem Orient gehen, dort Reichthümer sammeln und mit ihnen Macht. Es paßte aber nicht in seinen Plan, auf einem der Packetboote, inmitten von Passagieren aller Nationalitäten, die Ueberfahrt zu machen, welche den Verkehr mit der Küste Kleinasiens unterhalten. Er konnte sich nur eines weniger auffälligen Transportschiffes bedienen, das er allerdings in Brindisi nicht finden konnte. Er fuhr also noch am selben Abend mit der Eisenbahn nach Otranto.

In anderthalb Stunden hatte der Zug diesen Ort erreicht, der fast am Endpunkte des Absatzes des italienischen Stiefels, an jenem Canale gelegen ist, welcher den schmalen Eingang zum Adriatischen Meere bildet. In diesem halbverlassenen Hafen konnte der Doctor mit dem Eigenthümer einer Schebecke handelseinig werden, die zum Auslaufen nach Smyrna bereit lag und eine Partie albanesischer Pferde an Bord hatte, für welche sich in Otranto kein Käufer gefunden.

Am folgenden Tage stach die Schebecke in See und der Doctor konnte am Horizont den Leuchtthurm von Punta di Lucca, auf der äußersten Spitze verschwinden sehen, während auf der gegenüberliegenden Küste die Akrokeraunischen Berge im Nebel versanken. Einige Tage später, nach einer ungestörten Ueberfahrt, wurde Kap Matapan am äußersten Ende Süd-Griechenlands umsegelt und die Schebecke in den Hafen von Smyrna bugsirt.



Ich ergriff eine dieser Ketten. (S. 293.)


Der Doctor hatte Peter mit kurzen Worten diesen Theil seiner Reise erzählt, dann auch, wie er aus den Zeitungen den Tod seiner Tochter erfahren hatte, die ihn ganz allein auf Erden zurückließ.

»Endlich, fuhr er fort, befand ich mich auf dem Boden Kleinasiens, woselbst ich nun so viele Jahre unbekannt leben sollte. Die Studien der Medicin, Chemie und Naturwissenschaften, denen ich während meiner Jugend auf den Schulen und Universitäten Ungarns – an denen Dein Vater mit so ausgezeichnetem Rufe lehrte – obgelegen hatte, mußten jetzt herhalten, um meinen Unterhalt zu bestreiten.



Ich zog mich zwischen die Klippen zurück. (S. 294.)


– Das Glück war mir über Erwarten hold, und zuerst in Smyrna, wo ich sieben oder acht Jahre wohnen blieb, verschaffte ich mir einen bedeutenden Ruf als Arzt. Einige glücklich ausschlagende Curen brachten mich mit den reichsten Persönlichkeiten dieser Gegenden in Verbindung, in welchen die ärztliche Kunst sich noch in dem Urzustande befindet. Ich entschloß mich, die Stadt zu verlassen. Und wie die Professoren von ehedem, theils selbst heilend, theils Unterricht gebend in der Heilkunde, theils mich selbst belehrend über die mir unbekannte Therapie der Talebs Kleinasiens und der Panditen Indiens, durchzog ich die Provinzen, in denen ich hier einige Wochen, dort Monate hindurch mich aufhielt; ich wurde gerufen und befragt in Karahissar, Bender, Adama, Haleb, Tripoli, Damas; mein Ruf ging mir voran, wuchs ohne Unterlaß und verschaffte mir ein Vermögen, welches mit meinem Rufe sich vermehrte.

– Doch das genügte mir nicht. Ich mußte mir eine grenzenlose Macht verschaffen, eine solche, wie sie jene im Ueberflusse lebenden indischen Rajahs besitzen, deren Wissen ihrem Reichthume gleichkommt.

– Eine günstige Gelegenheit stellte sich ein:

– In Homs im nördlichen Syrien wohnte ein Mann, der an einer schleichenden Krankheit dahinsiechte. Kein Arzt war bis zu meiner Ankunft im Stande gewesen, die Natur derselben zu erkennen, es in Folge dessen eine Unmöglichkeit, ihr mit geeigneten Mitteln zu Leibe zu gehen. Dieser Mann mit Namen Faz-Rhat hatte hohe Stellungen bei der Pforte bekleidet. Er war erst fünfundvierzig Jahre alt und bedauerte es umsomehr, schon sterben zu müssen, als ein unermeßliches Vermögen ihm gestattete, alle Freuden des Lebens auszukosten. Faz-Rhat hatte von mir vernommen, denn mein Ruf war damals schon ein weitverbreiteter. Er ließ mich ersuchen, nach Homs zu kommen und ich folgte seiner Einladung.

– Doctor, sagte er zu mir, die Hälfte meines Vermögens gehört Dir, wenn Du mich dem Leben wiedergibst.

– Behalte die Hälfte Deines Vermögens, antwortete ich ihm. Ich werde Dich behandeln und heilen, wenn Gott es erlaubt.

– Ich studirte eifrig diesen Kranken, den die Aerzte aufgegeben. Sie hatten ihm auf nur wenige Monate noch Hoffnung gemacht. Ich war glücklich genug, eine sichere Diagnose stellen zu können. Ich blieb drei Wochen lang bei Faz-Rhat, um die Wirkungen der Behandlung, welche ich ihm angedeihen ließ, zu beobachten. Seine Heilung war eine vollständige. Als er sich mit mir abfinden wollte, beanspruchte ich nur den Lohn, der mir nach meinem Ermessen zukam. Dann verließ ich Homs.

– Drei Jahre später verlor Faz-Rhat in Folge eines Jagdunfalles sein Leben. Da er keine Verwandten und directen Erben besaß, bestimmte sein Testament mich als den alleinigen Erben aller seiner Güter, die einen wirklichen Werth von mindestens fünfzig Millionen Gulden repräsentirten.

– Dreizehn Jahre waren gerade verflossen, seitdem der Flüchtling von Pisino die Provinzen Kleinasiens betreten hatte. Der Name des Doctors Antekirtt, dessen sich schon die Sage bemächtigt hatte, war in ganz Europa bereits bekannt geworden. Ich hatte also den Erfolg erreicht, den ich mir gewünscht. Es blieb jetzt nur noch das übrig, was den einzigen Zweck meines Lebens bildet.

– Ich war entschlossen, nach Europa zurückzukehren, oder wenigstens nach einem Punkte des Mittelmeeres, auf seiner äußersten Grenze. Ich besuchte die afrikanische Küste und machte mich durch Erlegung einer bedeutenden Kaufsumme zum Besitzer einer wichtigen, reichen, fruchtbaren Insel, deren materielle Erträgnisse die Lebensbedürfnisse einer kleinen Kolonie befriedigen konnten, der Insel Antekirtta. Hier, Peter, bin ich Herrscher, unumschränkter Herr, König ohne Unterthanen, aber über ein Personal, das mir mit Leib und Seele ergeben ist, über Vertheidigungsmittel, die furchtbar sein werden, wenn ich sie vollendet habe, über Leitungsdrähte, die mich mit den verschiedenen Punkten des Mittelländischen Inselkreises verbinden, über eine Flottille von solcher Schnelligkeit, daß ich aus diesem Meer, sozusagen, meine Domäne gemacht habe.

– Wo liegt also die Insel Antekirtta? fragte Peter Bathory.

– In den Gewässern der großen Syrte, deren Ruf von Altersher allerdings nicht der beste ist, am äußersten Ende dieses Meeres, das die Nordwinde selbst für die neueren Schiffsgattungen so gefährlich machen, im Innern des Golfes von Sidra, welcher zwischen dem Tripolitanischen und Cyrenäischen Reiche die afrikanische Küste ausbuchtet.«

Dort liegt in der That, im Norden der Gruppe der Syrten-Inseln, Antekirtta. Viele, viele Jahre früher bereiste der Doctor die Cyrenäischen Küsten, Susa, den alten Hafen von Cyrene, das Land von Barcah, alle die Städte, welche aus dem alten Ptolemaïs, Berenike, Adrianopolis entstanden sind, mit einem Worte, die alte, einst griechische, macedonische, römische, persische, sarazenische und so weiter, jetzt arabische und vom Paschalik von Tripolis abhängige Pentapolis. Die Zufälligkeiten seiner Reise – er reiste eben dahin, wohin man ihn gerade rief – führten ihn bis auf die zahlreichen Inseln, die vor der lybischen Küste besonders stark ausgesät zu sein scheinen: auf Pharos und Anthírode, die Zwillingsinseln von Plinthine, Enesipte, die Tyndarienischen Felsen Pyrgos, Platea, Ilos, die Hyphalen, Pontienen, die Weißen Inseln und endlich auf die Syrten.

Dort, im Golfe von Sidra, dreißig Meilen südwestlich von dem türkischen Vilajet Ben-Ghazi, zog der dem Festlande zunächst gelegene Punkt, die Insel Antekirtta, besonders seine Aufmerksamkeit auf sich. Man nannte die Insel so, weil sie vor den anderen Inseln der Syrten-oder Kyrten-Gruppen gelegen ist. Der Doctor nahm sich von jenem Tage an vor, sie einstmals für sich zu erwerben, und gleichsam als Pfand für die spätere Besitzergreifung legte er sich den Namen Antekirtt bei, ein Name, dessen Bedeutung sich bald über ganz Kleinasien erstreckte.

Zwei sehr gewichtige Gründe hatten ihm diese Wahl vorgeschrieben: erstlich war Antekirtta geräumig genug – achtzehn Meilen im Umfange groß – um das Personal aufnehmen zu können, das er hier zu vereinigen gedachte; die Insel lag hoch genug, denn ein Felskegel, der sich zu einer Höhe von achthundert Fuß erhebt, gestattete es, den Golf bis zur Küste von Cyrene zu überschauen; ihre Erzeugnisse wechselten sehr ab und kleine Gewässer befeuchteten sie, so daß sie den Bedürfnissen von einigen tausend Einwohnern vollständig genügen konnte. Sodann war sie im Innern des Meeres gelegen, das furchtbar durch seine Stürme war, und in alten Zeiten den Argonauten gefährlich wurde; Apollonius von Rhodos, Horaz, Virgil, Properz, Seneca, Valerius Flaccus, Lucanus und viele andere Geographen und Dichter, Polybius, Sallust, Strabo, Mela, Plinius, Procopus schilderten und besangen die Gefahren, die aus den Syrten erwachsen, aus den »Hinunterziehenden«. – Diese Bedeutung liegt ihrem Namen zu Grunde.

Die Insel bildete also ein kleines Reich für sich, wie es dem Doctor Antekirtt gerade paßte. Er erwarb sie für eine beträchtliche Summe als alleiniges Eigenthum, ohne feudale oder sonstige Verpflichtungen; der Abtretungsact wurde vom Sultan unterzeichnet und machte den Doctor Antekirtt zum souveränen Eigenthümer.

Drei Jahre bereits herrschte er auf dieser Insel. Ungefähr dreihundert europäische und arabische Familien hatten sich durch seine Anerbietungen und die Zusicherung eines sorgenlosen Lebens bewegen lassen, hier eine kleine Kolonie zu bilden, die im Ganzen vielleicht zweitausend Seelen umfaßte. Die Einwohner waren weder des Doctors Sclaven noch seine Unterthanen, sondern nur ihrem Oberhaupte ergebene Genossen, denen in diesem Winkel unserer Erdkugel ein neues Vaterland entstanden war.

Nach und nach wurde eine regelrechte Verwaltung mit einer zur Vertheidigung der Insel gebildeten Miliz eingeführt, ein Magistrat setzte sich aus den Edleren unter den Kolonisten zusammen, der jedoch kaum dazu kam, seines Amtes zu walten. Dann wurde nach den eigenen Plänen des Doctors, der dieselben den vorzüglichsten Werften Englands und Amerikas zusandte, jene wunderbare Flottille erbaut, Dampfschiffe, Dampfyachten, Schooners und »Electrics«, mit denen schnelle Fahrten durch das Bassin des Mittelmeeres unternommen werden konnten. Gleichzeitig begannen sich Befestigungen auf Antekirtta zu erheben; sie waren bis jetzt noch nicht vollendet worden, obgleich der Doctor diese Arbeiten, nicht ohne gewichtige Gründe, nach Kräften beschleunigte.

Antekirtta hatte also in diesen Strichen des Golfes von Sidra einen Feind zu befürchten? Ja! Und zwar eine furchtbare Secte, eine vollkommene Piratenverbrüderung, die mit neidischem und haßerfülltem Herzen einen Fremden diese Kolonie in der Nachbarschaft der libyschen Küste gründen sah.

Diese Secte war die muselmanische Brüderschaft des Sidi Mohammed Ben’ Ali-Es-Senusi. In diesem Jahre (1300 der Hedschra) zeigte sie sich drohender als je, und ihre geographische Domäne zählte fast drei Millionen Anhänger. Sie besaß in Aegypten, im europäischen und im asiatischen Theile des türkischen Reiches, im Lande der Baëlen und Tubus, im östlichen Nubien, in Tunis, Algerien, Marokko, in der unabhängigen Sahara, im Sudan weitverbreitete Actionscentralplätze und ihre Zaumas und Vilajets existirten in noch größerer Anzahl in Tripolis und Cyrene. Von dort erwuchs den europäischen Besitzungen in Nord-Afrika eine stete Gefahr, so unter Anderen dem herrlichen Algerien, welches das reichste Land der Erde sein könnte, und besonders der Insel Antekirtta, wie man noch sehen wird. Die Vereinigung aller neuzeitlichen Vertheidigungs-und Schutzmittel auf der Insel war also nur ein Act der Klugheit seitens des Doctors.

Alles das erfuhr Peter im Verlaufe der Unterhaltung, die ihm viel Belehrendes bot. Auf die Insel Antekirtta war er also gebracht worden, tief hinein in das Meer der beiden Syrten, an einen der unbekanntesten Orte der alten Welt; hunderte von Meilen trennten ihn von Ragusa, wo er zwei Wesen zurückgelassen hatte, deren Andenken in seinem Herzen nie erlöschen konnte: seine Mutter und Sarah Toronthal.

Der Doctor vervollständigte mit wenigen Worten die Einzelheiten, welche auf diese zweite Periode seines Lebens Bezug hatten. Während er die beregten Veranstaltungen zur Sicherheit seiner Insel traf, während er die Reichthümer des Bodens zu verwerthen und ihn für die materiellen und moralischen Bedürfnisse seiner kleinen Kolonie nutzbar zu machen strebte, wurde er über Alles, was seine einstigen Freunde thaten, deren Spuren er nie verloren hatte, im Laufenden erhalten, unter Anderem, was Frau Bathory, ihr Sohn und Borik begannen, als sie von Triest nach Ragusa übersiedelt waren.

Peter begriff nun auch, warum die »Savarena« unter Umständen in Gravosa angekommen war, welche die Neugierde des Publicums über alle Maßen erregt hatten, warum der Doctor Frau Bathory besucht und diese, ohne daß der Sohn jemals eine Ahnung davon gehabt, das ihr zur Verfügung gestellte Geld zurückgewiesen hatte, wie es schließlich dem Doctor gelungen war, gerade rechtzeitig zurückzukommen, um Peter dem Grabe zu entreißen, in welchem er nur einen magnetischen Schlaf erduldet hatte.

»Und Du mein Sohn, Du verlorst den Kopf und schrecktest vor einem Selbstmorde nicht zurück?« schloß der Doctor fragend.

Mit einer heftigen Bewegung des Unwillens drehte sich Peter dem Doctor zu.

»Vor einem Selbstmorde? rief er. Sie haben also glauben können, daß ich mich selbst erstechen wollte?

– Peter! Ein Augenblick der Verzweiflung und…

– Ja, verzweifelt war ich allerdings!… Ich glaubte mich von Euch Allen verlassen, von Ihnen, dem Freunde des Vaters, verlassen nach den Versprechungen, die Sie mir freiwillig machten, ohne daß ich Sie darum gebeten hatte. Verzweifelt war ich und – bin es auch noch!… Aber Gott befiehlt nirgends, daß man in der Verzweiflung Hand an sich legen soll…. Er sagt, daß man leben solle… um sich zu rächen!

– Nein… um zu bestrafen, verbesserte der Doctor. Wer also war es, der Dich ermorden wollte, Peter?

– Ein Mann, den ich hasse, erwiderte dieser, ein Mann, mit dem ich an jenem Abend zufällig in einer öden Straße, längs der Mauern Ragusas zusammentraf. Vielleicht glaubte dieser Mensch, daß ich mich auf ihn stürzen und ihn herausfordern würde…. Er kam mir zuvor!… Er erstach mich!… Dieser Mann, dieser Sarcany ist…«

Peter konnte nicht vollenden. Bei dem Gedanken an diesen Elenden, in welchem er Sarah’s Gatten erblickte, verwirrten sich seine Sinne, seine Augen schlossen sich, das Leben schien aus ihm zu entfliehen, seine Wunde von Neuem aufgebrochen.

Der Doctor hatte ihn bald wieder zu sich gebracht; er ließ ihn zur Besinnung kommen und sagte, ihn betrachtend, leise:

»Sarcany!… Sarcany!«

Peter mußte nothwendigerweise nach dem Anfalle, der ihn betroffen, etwas Ruhe haben. Es verlangte ihn aber nach keiner.

»Nein! sagte er. Sie haben mir anfänglich gesagt: Zuerst die Geschichte des Doctors Antekirtt, die mit dem Augenblicke beginnt, als Graf Mathias Sandorf sich in die Fluthen des Adriatischen Meeres stürzte.

– Ganz recht Peter.

– Jetzt bleibt Ihnen noch übrig, mir das zu erzählen, was ich vom Grafen Sandorf noch nicht weiß.

– Hast Du auch die Kraft, mir zuzuhören?

– Sprechen Sie nur!

– Es sei! antwortete der Doctor. Es ist besser, Du lernst mit einem Male alle Geheimnisse, die zu erfahren Du ein Recht hast, mit sammt dem Schrecklichen, was die Vergangenheit enthält, kennen, als daß wir noch einmal darauf zurückkommen müssen. Du hast also glauben können, Peter, daß ich Dich verlassen hätte, weil ich von Gravosa fort mußte!… Höre also!… Du wirst mich dann besser verstehen!

– Du weißt, Peter, daß am Abende vor der Hinrichtung meine Genossen und ich aus der Festung Pisino zu entfliehen versuchten. Ladislaus Zathmar wurde indessen in dem Augenblicke von den Wächtern ergriffen, als er am Fuße des Wartthurmes zu uns stoßen wollte. Dein Vater und ich waren, durch die Strömung des Buco fortgerissen, schon aus ihrem Bereich.

– Nachdem wir wunderbarer Weise den Wirbeln der Foïba entgangen waren, wurden wir, als wir am Canal von Leme festen Fuß faßten, von einem Schurken bemerkt, der nicht zögerte, unsere Köpfe zu verkaufen, auf welche die Regierung einen Preis gesetzt hatte. Wir wurden bei einem Fischer in Rovigno entdeckt, gerade als dieser sich anschicken wollte, uns auf die andere Küste der Adria hinüberzubringen; Dein Vater wurde gefangen genommen und nach Pisino zurückgebracht. Ich war glücklicher und entkam. Wie, das weißt Du bereits. Folgendes aber ist Dir noch unbekannt.

– Vor der Angeberei dieses Spaniers, Namens Carpena, die dem Fischer Andrea Ferrato die Freiheit und einige Monate später das Leben kostete, hatten zwei Männer bereits das Geheimniß der Verschwörer von Triest verkauft.

– Ihre Namen? rief Peter Bathory ungeduldig.

– Frage zuerst, wie ihr Verrath aufgedeckt wurde, beschwichtigte der Doctor.

Er erzählte flüchtig, was in der Zelle des Thurmes vorgegangen war, wie ihm ein akustisches Phänomen die Namen der Verräther überliefert hatte.

»Ihre Namen, Doctor! rief Peter nochmals. Sie dürfen sie mir nicht verweigern.

– Ich werde sie Dir nennen.

– Wie lauten sie?

– Der Eine von den Verräthern, ist jener junge Buchhalter gewesen, der sich als Spion in das Haus Ladislaus Zathmar’s eingeschlichen hatte. Es ist derselbe, der Dich ermorden wollte – Sarcany!

– Sarcany! rief Peter und fand Kraft genug, auf den Doctor zuzugehen. Sarcany!… Dieser Schurke! Und Sie wußten es!… Und Sie, der Genosse Stephan Bathory’s, Sie, der Sie seinem Sohne Ihren Schutz anbieten, Sie, dem ich das Geheimniß meiner Liebe anvertraut habe, der mich ermuthigt hat, Sie haben diesen ehrlosen Menschen ruhig das Haus von Silas Toronthal betreten lassen, das Sie ihm mit einem Worte hätten verschließen können. Durch Ihr Schweigen haben Sie ihn zu diesem Verbrechen ermuthigt, ja, zu einem Verbrechen, denn nur durch ein solches ist das unglückliche Mädchen Jenem ausgeliefert worden.

– Ja, Peter, ich habe es gethan!

– Und warum?

– Weil sie nicht Deine Frau werden konnte.

– Sie nicht, sie nicht?

– Weil es ein noch abscheulicheres Verbrechen gewesen wäre, wenn Peter Bathory Fräulein Toronthal geheiratet hätte.

– Aber warum?… warum? fragte Peter, dem eine fürchterliche Angst fast die Kehle zuschnürte.

– Weil Sarcany einen Mitschuldigen hatte…. Ja, einen Genossen bei dieser gemeinen Machination, die Deinen Vater in den Tod getrieben hat. Und dieser Mitschuldige – Du mußt ihn endlich kennen lernen… ist der frühere Banquier von Triest, Silas Toronthal!«

Peter hatte gehört und begriffen!… Er konnte nichts erwidern. Ein Krampf schloß ihm die Lippen. Er hätte zu Boden sinken müssen, wenn nicht eine Starrheit seinen ganzen Körper gelähmt hätte. Durch die unförmig erweiterte Pupille schien sein Blick in eine unergründliche Finsterniß zu tauchen.



Brindisi.


Dieser Zustand hielt jedoch nur einige Secunden an, während welcher der Doctor sich mit Besorgniß fragte, ob der Patient dieser schrecklichen Operation, der er ihn unterzogen hatte, nicht unterliegen müßte.

Aber auch Peter Bathory war eine willensstarke Natur. Es gelang ihm, die Empörung seines Innern niederzuschlagen. Einige Thränen drangen aus seinen Augen… dann fiel er in seinen Sessel zurück und überließ seine Hand dem Doctor.

»Peter, sagte dieser mit ernster und sanfter Stimme, wir sind Beide für die ganze Welt gestorben. Ich stehe jetzt allein auf der Erde, ich habe keine Freunde, kein Kind mehr…. Willst Du mein Sohn sein?

– Ja!… Vater!« hauchte dieser.

Es war jedenfalls ein wahres väterliches und kindliches Gefühl zugleich, das sie Beide einander in die Arme führte.

Drittes Capitel. Was in Ragusa geschah.

Während diese Ereignisse sich in Antekirtta vollzogen, spielten sich in Ragusa folgende Vorgänge ab.

Frau Bathory befand sich damals bereits nicht mehr in dieser Stadt. Nach dem Tode ihres Sohnes hatte Borik, unterstützt von mehreren Freunden, sie weit fort aus dem Hause der Marinella-Straße gebracht. Während der ersten Tage hatte man gefürchtet, daß der Verstand der unglücklichen Mutter unter diesem letzten Schicksalsschlage leiden würde. So energisch diese Frau auch war, so zeigte ihr Benehmen doch Anzeichen von Geistesgestörtheit, die selbst die Aerzte erschreckten. Auf ihren Rath wurde in Folge dieser Anzeichen Frau Bathory in den Flecken Vinticello, zu einem Freunde ihrer Familie, gebracht. Dort wurde ihr jede nur mögliche aufmerksame Pflege zu Theil. Doch welchen Trost konnte man dieser Mutter, dieser Gattin spenden, die zweimal in ihrer Liebe, zum Sohne wie zum Manne, tödtlich getroffen worden war?

Ihr alter Diener hatte sie nicht verlassen wollen. Nachdem er das Haus in der Marinella-Straße gut verschlossen, folgte er ihr, um ihr ein ergebener und pflichtgetreuer Vertrauter ihrer Schmerzen zu bleiben.

Von Sarah Toronthal, welcher die Mutter Peter Bathory’s geflucht hatte, war zwischen ihnen niemals wieder die Rede; sie wußten nicht einmal, daß deren Heirat auf eine spätere Zeit verschoben worden war.

Der Zustand, in welchem sich das junge Mädchen befand, nöthigte sie, das Bett zu hüten. Sie hatte einen ebenso unerwarteten, als furchtbaren Schlag erhalten. Der, den sie liebte, war todt… jedenfalls aus Verzweiflung gestorben…. Und sein Körper war es gewesen, den man gerade auf den Kirchhof getragen hatte, als sie das Hotel verließ, um jene verabscheuenswerthe Verbindung einzugehen.

Während zehn Tage, das heißt bis zum 16. Juli, war die Lage Sarah’s eine sehr bedenkliche. Ihre Mutter wich nicht von ihrer Seite. Es war übrigens die letzte Sorgfalt, die sie ihr angedeihen lassen konnte, denn sie selbst sollte tödtlich erkranken.

Welche Gedanken mochten wohl während der langen Stunden ungestörten Beisammenseins zwischen Mutter und Tochter ausgetauscht werden? Man ahnt es und es ist kaum nöthig, darauf näher einzugehen. Zwei Namen tauchten unaufhörlich zwischen Schluchzen und Thränen auf, derjenige Sarcany’s, um ihm zu fluchen – und der Name Peter’s, der wirklich nur noch ein auf dem Grabstein eingemeißelter Name war, um ihn zu beweinen.

Aus diesen Unterhaltungen, denen beizuwohnen Silas Toronthal sich versagte – er vermied es sogar, seine Tochter zu sehen – ging ein nochmaliger Versuch Frau Toronthal’s, ihren Gatten umzustimmen, hervor. Sie verlangte, daß er auf Schließung dieser Ehe verzichtete, deren bloßer Gedanke schon Sarah Schrecken und Abscheu einflößten.

Der Banquier verharrte unbeugsam bei seinem Entschlusse. Wenn er sich selbst überlassen und keinem Drucke unterworfen gewesen wäre, hätte er vielleicht den Vorstellungen, die ihm gemacht wurden und die er sich selbst machen mußte, nachgegeben. Doch da er mehr noch als man glauben sollte von seinem Mitschuldigen geleitet wurde, so verweigerte er Frau Toronthal jede weitere Unterhaltung. Die Heirat Sarah’s und Sarcany’s war einmal beschlossen und sollte vollzogen werden, sobald der Gesundheitszustand Sarah’s es gestatten würde.

Man kann sich leicht die Bestürzung Sarcany’s vorstellen, als jener unvorhergesehene Zwischenfall eintrat, mit welchem wenig versteckten Zorn er die Störung seines Spieles ansah und mit welchen Anklagen er Silas Toronthal zu Leibe ging. Es handelte sich, bei Licht besehen, hier schließlich nur um einen Aufschub, doch gerade dieser Aufschub drohte, wenn er sich verlängerte, das ganze System umzuwerfen, auf dem er seine Zukunft aufgebaut hatte. Andererseits verhehlte er es sich durchaus nicht, daß Sarah für ihn nur eine unbesiegbare Abneigung empfinden konnte.

Was wäre wohl aus dieser Abneigung geworden, wenn das junge Mädchen geahnt hätte, daß Peter Bathory unter dem Messer des Mannes gefallen war, den man ihr als Gatten aufdrängte?

Sarcany konnte sich allerdings nur Glück dazu wünschen, daß er bei dieser Gelegenheit seinen Rivalen hatte verschwinden lassen können. Keine Spur von Gewissensbissen drang in dieses jeder menschlichen Regung verschlossene Herz.

»Es trifft sich gut, sagte er eines Tages zu Silas Toronthal, daß dieser Jüngling Selbstmordgedanken hegte. Je weniger von diesem Geschlecht der Bathory’s am Leben bleiben, desto besser für uns. Der Himmel meint es wirklich nicht schlecht mit uns«

Was war wirklich jetzt noch von den drei Familien Sandorf, Bathory und Zathmar am Leben? Eine alte Frau, deren Tage gezählt waren. Gott schien die Elenden in der That beschützen zu wollen, denn seine Güte erstreckte sich scheinbar bis zum Aeußersten, das heißt, bis zu dem Tage, an welchem Sarcany der Mann Sarah Toronthal’s und zugleich Herr über ihr Vermögen werden sollte.

Doch Gott schien ihn auch auf seine Geduld hin prüfen zu wollen, denn die Verzögerung, welche die Heirat betroffen, zog sich in die Länge.

Als die Kranke – körperlich wenigstens – sich von dem schrecklichen Zufalle wieder erholt hatte, als Sarcany annehmen konnte, daß nun die Rede von der Wiederaufnahme seiner Projecte sein würde, erkrankte Frau Toronthal ebenfalls. Die Lebenssäfte dieser bedauernswerthen Frau waren vollständig aufgebraucht. Nach dem Leben, das sie seit den Ereignissen in Triest geführt, und seitdem sie erfahren, an welch unwürdigen Mann sie gebunden war, kann das nicht wunderbar erscheinen. Dann kamen, wenn auch nicht die Kämpfe, so doch die Anstrengungen über sie, welche sie die letzten Schritte, die sie zu Gunsten Peters gethan, gekostet. Ihr verlangte danach, einen Theil des Unrechts abzutragen, das man der Familie Bathory angethan hatte. Schließlich der Aerger über das Unnütze ihrer Bitten gegenüber dem Einflusse des so unvermuthet in Ragusa eingetroffenen Sarcany.

Von den ersten Tagen der Krankheit an war es offenbar, daß dieses Leben endgiltig entfloh. Die Aerzte machten Frau Toronthal nur noch auf wenige Tage Hoffnung. Sie mußte an Entkräftung sterben. Kein Mittel konnte ihr helfen, selbst wenn Peter Bathory seinem Grabe entstiegen wäre und ihre Tochter geheiratet hätte.

Sarah konnte ihr all die Liebe und Pflege noch vergelten, die sie ihr hatte angedeihen lassen und verließ Tag und Nacht nicht das Schmerzenslager.

Was Sarcany in Folge dieses neuen Aufschubs litt, ist begreiflich. Er zankte und schalt unaufhörlich auf den Banquier ein, der ebenso wie er lahm gelegt war.

Die Klärung dieser Lage konnte nicht auf sich warten lassen.

Am 29. Juli, also einige Tage später, schien Frau Toronthal’s Befinden ein besseres, ihre Kräfte schienen sich wieder einzustellen.

Ein hitziges Fieber gab sie ihr, dessen heftiges Auftreten sie innerhalb 48 Stunden dahinraffen mußte.

Wilde Fieberphantasien entstiegen ihrem Gehirn; sie begann Unverständliches wirr durcheinander zu sprechen.

Ein Name – ein Name, der unaufhörlich dabei zum Vorschein kam – war namentlich dazu angethan, Sarah zu überraschen. Es war der Name Bathory, nicht der des Sohnes, sondern derjenige der Mutter, welchen die Kranke in einem fort nannte, rief, beschwor, als würde sie von Gewissensbissen gefoltert.

»Verzeihung, Madame!… Verzeihung!«

Und als Frau Toronthal während einer durch die Fieberanfälle verursachten Erschöpfung von dem jungen Mädchen dieserhalb befragt wurde, rief sie erschrocken:

»Schweige, Sarah!… Schweige!… Ich habe nichts gesagt!«

So kam die Nacht vom 30. auf den 31. Juli heran. Einen Augenblick glaubten die Aerzte, daß die Krankheit der Frau Toronthal, nachdem sie ihren Höhepunkt überschritten hatte, im Abnehmen begriffen sei.

Der Tag war ein besserer gewesen, ohne Gehirnaffectionen, und ein vollständiger, überraschender, weil unerwarteter Wechsel in der Krankheit war eingetreten. Die Nacht versprach ebenso ruhig zu bleiben, als es der Tag gewesen war.

Dieser günstige Umstand hatte seinen guten Grund. Frau Toronthal fühlte nämlich noch kurz vor ihrem Tode eine Willensstärke in sich, deren man sie nie für fähig gehalten hätte. Nachdem sie sich mit ihrem Gott versöhnt, hatte sie einen Entschluß gefaßt, zu dessen Ausführung sie den günstigen Augenblick abwartete.

Sie verlangte von ihrer Tochter, daß sie in dieser Nacht mehrere Stunden ruhen sollte. Sarah mußte trotz aller Einwände, die sie erhob, ihrer Mutter gehorchen, da sie ihren festen Willen sah.

Gegen elf Uhr Nachts kehrte Sarah in ihr Zimmer zurück. Frau Toronthal blieb allein in dem ihrigen. Alles schlief im Hause, wo jetzt eine Stille herrschte, die man mit Recht als das »Schweigen des Todes« bezeichnet.

Frau Toronthal erhob sich und diese Kranke, deren Schwäche sie an der leisesten Bewegung hinderte, wie man glaubte, besaß die Kraft, sich anzukleiden und vor einem kleinen Schreibtische Platz zu nehmen.

Hier griff sie nach einem Blatt Papier und mit zitternder Hand schrieb sie einige Zeilen nieder, welche sie mit ihrem Namenszuge unterzeichnete. Dann steckte sie diesen Brief in ein Couvert, siegelte dieses und beschrieb es mit folgender Adresse:


Frau Bathory, Marinella-Straße, Stradone,

Ragusa.


Frau Toronthal kämpfte mit Gewalt gegen die Müdigkeit an, welche sie in Folge dieser jetzt ungewohnten Thätigkeit befallen hatte, sie öffnete die Thür ihres Zimmers, stieg die Haupttreppe hinab, durchschritt den Hof des Hotels und öffnete mit Anstrengung die kleine Pforte, welche auf die Straße hinausführte; sie befand sich im Stradone.

Dieser lag in dieser Stunde verlassen und öde da; es mußte bereits Mitternacht sein.

Frau Toronthal leppte sich mit schwankendem Gange ungefähr fünfzig Schritt weiter das Trottoir links hinauf bis zu einem Briefkasten, in den sie ihr Schreiben warf; dann kehrte sie in das Hotel zurück.

Nun war aber auch die gesammte Kraft, die sie zur Durchsetzung ihres letzten Willens aufgeboten hatte, völlig erschöpft, ohnmächtig fiel sie auf der Schwelle zur Kutscherwohnung zu Boden.

Hier wurde sie eine Stunde später aufgefunden. Silas Toronthal und Sarah brachten sie hier wieder zu sich. Man trug sie auf ihr Zimmer zurück, wo ihr Bewußtsein sofort wieder schwand.

Am nächsten Tage erzählte Silas Toronthal Sarcany, was vorgefallen war. Weder der Eine noch der Andere konnten ahnen, daß Frau Toronthal in der letzten Nacht einen Brief zur Post befördert hatte. Warum hatte sie das Hotel verlassen? Sie fanden keine erklärbare Antwort auf diese Frage und somit blieb der räthselhafte Vorgang für sie ein Gegenstand der Beunruhigung.

Die Kranke siechte noch vierundzwanzig Stunden dahin. Sie gab nur durch convulsivische Zuckungen Lebenszeichen von sich; es waren die letzten Regungen einer Seele, die im Entschwinden begriffen. Sarah hielt ihre Hand gefaßt, als wollte sie die Mutter noch zurückhalten in einer Welt, in der sie nun bald ganz schutzlos dastand. Doch der Mund der Mutter blieb stumm und selbst der Name Bathory entschlüpfte nicht mehr ihren Lippen. Ihr Gewissen war nun beruhigt, ihr letzter Wunsch erfüllt. Frau Toronthal brauchte keine Bitte mehr auszusprechen, keine Verzeihung mehr zu erflehen.

In der folgenden Nacht gegen drei Uhr Früh, während Sarah sich allein bei der Mutter befand, machte diese eine Bewegung und ihre Hand sachte die ihrer Tochter zu erfassen.

Ihre Augen öffneten sich bei dieser Berührung halb, ihr Blick lenkte sich auf Sarah. Dieser Blick war ein so fragender, daß ihn Sarah nicht verstehen konnte.

»Mutter!… Mutter!… Willst Du etwas?«

Frau Toronthal machte ein Zeichen der Bejahung.

»Mit mir sprechen?

– Ja!« ließ sich deutlich vernehmen.

Sarah hatte sich über das Bett gebeugt; ein abermaliges Zeichen forderte sie auf, sich noch mehr zu nähern.

Sarah legte nun ihren Kopf dicht an den der Mutter, die zu ihr sagte:

»Mein Kind, es geht zu Ende!

– Mutter!… Mutter!

– Leiser! mahnte diese, leiser…. Niemand darf uns hören!«

Dann, mit einer abermaligen Aufraffung sagte sie:

»Sarah, ich muß Dich um Verzeihung bitten, daß ich Dir übel mitgespielt habe; ich hatte nicht den Muth, das Schlimme zu verhüten.

– Du, Mutter, Du?… Du willst mir weh gethan haben?… Du bittest mich um Verzeihung?

– Einen letzten Kuß, Sarah!… Ja?… Einen letzten!… Sage mir damit, daß Du mir verzeihest.«

Das junge Mädchen legte sanft ihre Lippen auf die bleiche Stirn der Sterbenden.

Diese hatte die Kraft, ihren Arm um den Hals der Tochter zu schlingen. Dann machte sie sich von ihr los und sie mit beängstigender Stetigkeit anschauend, sagte sie:

»Sarah!… Sarah, Du bist nicht die Tochter von Silas Toronthal!… Du bist nicht meine Tochter!… Dein Vater –«

Sie konnte nicht vollenden. Ein Krampf ließ sie den Armen Sarah’s entschlüpfen, ihre Seele entflog mit den letzten Worten.

Das junge Mädchen hatte sich über die Todte gebeugt… Es versuchte, sie ins Leben zurückzurufen… Es war vergebens.

Sie rief nach Hilfe. Man lief von allen Seiten herbei. Silas Toronthal kam als einer der ersten in das Zimmer seiner Frau.

Sarah wurde, als sie ihn sah, von einem unbeschreiblichen Gefühle des Widerwillens ergriffen; sie bebte förmlich vor diesem Manne zurück, den zu verachten, zu hassen sie jetzt das Recht hatte, denn es war ja nicht ihr Vater. Die Sterbende hatte es gesagt und man stirbt nicht mit einer Lüge auf den Lippen.

Sarah zog sich zurück, erschrocken über das, was ihr die unglückliche Frau erzählt hatte, die sie wie ihre Tochter geliebt hatte, vielleicht auch noch mehr erschrocken über das, was zu sagen Frau Toronthal keine Zeit mehr gehabt hatte.

Am nächstfolgenden Tage wurden die Leichenfeierlichkeiten mit großem Pompe begangen. Welch’ eine Menge von Freunden zählt nicht jeder reiche Mann, also auch dieser Banquier! Neben ihm schritt Sarcany einher; seine Anwesenheit bewies, daß sein Vorhaben, in die Familie Toronthal zu treten, noch das alte war. Es war das in der That sein Hoffen; doch sollte es sich jemals verwirklichen, mußten zuvor noch viele Hindernisse aus dem Wege geräumt werden. Sarcany glaubte übrigens, daß die gegenwärtigen Umstände seinen Projecten durchaus günstig waren, denn sie ließen Sarah noch mehr als zuvor von seiner Gnade abhängen.

Der Verzug, den die Krankheit Frau Toronthal’s hervorgerufen hatte, mußte durch ihren Tod naturgemäß ein noch ausgedehnterer werden. Während der Dauer der Familientrauer konnte von der Heirat gar keine Rede sein. Die Schicklichkeit verlangte es, daß mindestens mehrere Monate nach dem Dahinscheiden vorübergehen mußten, ehe an eine Heirat zu denken war.

Auch das kam Sarcany, dem die Beendigung der Angelegenheit natürlich am Herzen lag, sehr in die Quere. Wie dem auch immer war, er mußte sich der Nothwendigkeit fügen, doch nicht ohne mit Silas Toronthal wiederholt in heftigen Wortwechsel gerathen zu sein. Ihre Unterhaltungen schlossen stets mit der von dem Banquier angewendeten Redensart:

»Ich kann daran nichts ändern und übrigens haben Sie, wenn die Heirat noch vor dem Ablaufe von fünf Monaten zu Stande kommen sollte, keinen Grund besorgt zu sein.«



Frau Toronthal stieg die Haupttreppe hinab. (S. 310.)


Diese beiden Männer kannten ersichtlich einander. Jedesmal wenn Toronthal das sagte, gerieth Sarcany regelmäßig in Zorn und mehrfach entstanden dann Auftritte von ungewöhnlicher Heftigkeit.

Beide waren nach wie vor höchst beunruhigt über den unbegreiflichen Schritt, den Frau Toronthal kurz vor ihrem Tode gethan hatte. Sarcany kam sogar der Gedanke, daß die Sterbende vielleicht die Absicht gehabt hatte, einen Brief auf die Post zu befördern, dessen Bestimmung sie verheimlicht habe. Der Banquier, dem Sarcany seine Ansicht mittheilte, schien dieselbe fast glaublich.

»Wenn dem so ist, folgerte Sarcany, bedroht uns dieser Brief direct und in sehr bedenklichem Maße. Ihre Frau hat Sarah stets gegen mich einzunehmen gewußt, sie unterstützte sogar meinen Nebenbuhler, und wer weiß, ob sie nicht im Sterben eine Willenskraft wiedergefunden hat, um unsere Geheimnisse zu verrathen, deren wir sie nicht für fähig gehalten haben würden. Thäten wir nicht besser daran, in diesem Falle allen Möglichkeiten vorzubeugen und eine Stadt zu verlassen, in der wir, Sie sowohl wie ich, mehr zu verlieren als zu gewinnen haben?

– Wenn dieser Brief uns bedrohte, bemerkte Silas Toronthal einige Tage später, so würde die Drohung schon ihre Wirkung hervorgebracht haben, bis jetzt aber hat sich unsere Lage in keiner Hinsicht geändert.«

Sarcany konnte dieser Beweisführung gegenüber nur schweigen. Wenn sich der Brief in der That auf ihre künftigen Pläne bezogen hatte, so waren die Folgen seines Inhaltes bis jetzt nicht zu spüren und bis dahin schien keine Gefahr im Verzuge. Wenn eine Gefahr wirklich drohte, war immer noch Zeit zum Handeln.

Die Gefahr trat vierzehn Tage nach dem Tode Frau Toronthal’s ein, aber von einer Seite her, auf die sie Beide nie gekommen wären.

Seit dem Tode ihrer Mutter hatte sich Sarah stets abseits gehalten, sogar ihr Zimmer nie verlassen. Man sah sie nur zur Stunde der Mahlzeiten. Den ihr gegenüber genirten Banquier gelüstete es nach keinem Alleinsein mit ihr, welches ihn nur in Verlegenheit gebracht haben würde. Er ließ ihr also freien Willen und lebte seinerseits in einem anderen Flügel des Hotels.

Mehr als einmal hatte Sarcany Toronthal darüber heftige Vorwürfe gemacht, daß er in diese Absonderung willigte. In Folge dieser von dem jungen Mädchen angenommenen Gewohnheit hatte er keine Gelegenheit mehr, mit demselben zusammenzutreffen. Das konnte aber seinen neuesten Plänen nicht förderlich sein. Er erklärte es auch dem Banquier rund heraus. Obwohl keine Rede von einer Feier der Hochzeit während der ersten Trauermonate sein konnte, wollte er wenigstens verhüten, daß Sarah zu der Annahme käme, ihr Vater und er hätten auf diese Verbindung Verzicht geleistet.

Schließlich zeigte sich Sarcany so befehlerisch und anmaßend Silas Toronthal gegenüber, daß dieser am 16. August Sarah benachrichtigen ließ, er wünsche am Abend mit ihr zu sprechen. Da er sie gleichzeitig wissen ließ, daß Sarcany bei ihrer Unterhaltung zugegen sein würde, erwartete er eine Weigerung. Er täuschte sich. Sarah ließ zurücksagen, daß sie seinem Wunsche Folge leisten würde.

Als der Abend angebrochen war, erwarteten Toronthal und Sarcany Sarah ungeduldig im großen Salon des Hotels. Der Erste war fest entschlossen, sich nicht von ihr leiten zu lassen, da er über sie als Vater Macht und Recht zu beanspruchen hatte. Der Andere, entschlossen sich zu mäßigen, mehr zuzuhören als zu sprechen, wollte vor allen Dingen entdecken, welche die geheimen Gedanken des jungen Mädchens waren. Er fürchtete stets, daß sie über manche Dinge besser unterrichtet sein könnte, als es den Anschein hatte.

Sarah betrat den Salon zur festgesetzten Stunde. Sarcany erhob sich, als sie eintrat; aber auf den Gruß, den er ihr bot, antwortete sie nicht einmal durch ein Neigen des Kopfes. Sie schien ihn nicht bemerkt zu haben oder vielmehr, sie wollte ihn jedenfalls nicht bemerken.

Sie setzte sich auf eine Einladung von Silas Toronthal hin. Regungslos und mit einem Antlitz, das die Trauergewänder noch bleicher erscheinen ließen, wartete sie auf die erste Frage, die an sie gestellt werden würde.

»Sarah, sagte der Banquier, ich habe die Trauer geachtet, die der Tod Deiner Mutter Dir verursacht hat und Deine Zurückgezogenheit nicht stören wollen. Diese traurigen Ereignisse haben indessen Folgen nach sich gezogen und über gewisse Angelegenheiten von Interesse muß nothwendiger Weise gesprochen werden…. Obwohl Du die Großjährigkeit noch nicht erreicht hast, ist es gut, daß Du erfährst, welcher Erbtheil Dir zufällt….

– Wenn es sich nur um eine Vermögensfrage handelt, erwiderte Sarah, brauchen wir uns nicht lange darüber zu unterhalten. Ich beanspruche nichts von der Erbschaft, von der Sie sprechen wollen.«

Sarcany machte eine Bewegung, die ebenso gut eine lebhafte Enttäuschung als auch, vielleicht, eine mit Besorgniß gepaarte Ueberraschung ausdrücken konnte.

»Ich glaube, Sarah, begann Silas Toronthal von Neuem, daß Du nicht recht die Tragweite meiner Worte begriffen hast. Ob Du willst oder nicht, Du bist die Erbin von Frau Toronthal, Deiner Mutter, und das Gesetz verpflichtet mich, Dir Rechnung abzulegen, sobald Du großjährig geworden sein wirst…

– Wenn ich nicht schon vorher auf das Erbe verzichte, erwiderte das junge Mädchen gelassen.

– Und warum?

– Weil ich zweifellos kein Recht darauf habe.«

Der Banquier wendete sich auf seinem Fauteuil herum. Auf diese Antwort wäre er nie und nimmermehr gefaßt gewesen. Sarcany sagte nichts. Nach seiner Ueberzeugung spielte Sarah ein Spiel und er gab sich lediglich Mühe, ihr in die Karten blicken zu können.

»Ich weiß nicht, Sarah, sagte Silas Toronthal, ungeduldig über die von dem jungen Mädchen bewahrte kühle Haltung, ich weiß nicht, wohin Deine Worte zielen, auch nicht, wer sie Dir eingegeben hat. Ich will auch hier nichts weniger als mit Dir über Recht und Rechtswissenschaft streiten. Du stehst unter meiner Vormundschaft und hast gar keine Befugniß etwas von der Hand zu weisen oder anzunehmen. Du wirst Dich also der Autorität Deines Vaters unterwerfen, die Du doch nicht in Abrede stellen kannst, wie ich annehme?…

– Vielleicht, antwortete Sarah.

– Also wirklich, rief Silas Toronthal, der nun ein wenig seine Kaltblütigkeit zu verlieren begann, also wirklich! Du sprichst drei Jahre zu früh, Sarah. Wenn Du mündig geworden bist, kannst Du über Dein Geld nach Belieben verfügen. Bis dahin sind Deine Interessen mir anvertraut und ich werde sie vertheidigen, wie ich es für gut erachte.

– Schön, sagte Sarah, so werde ich warten.

– Worauf willst Du warten? erwiderte der Banquier. Du vergißt zweifellos, daß Deine Stellung sich ändern wird, sobald die Schicklichkeit es erlaubt. Du hast also um so weniger das Recht, Dein Vermögen zum Fenster hinauszuwerfen, als Du bei diesem Geschäft nicht mehr allein interessirt sein wirst….

– Ja… Ein Geschäft ist es! bemerkte Sarah in verächtlichem Tone.

– Glauben Sie mir, mein Fräulein, glaubte hier Sarcany einschalten zu müssen, auf den das mit der schneidendsten Verachtung ausgesprochene Wort zu zielen schien, daß ein edleres Gefühl…«.

Sarah sah nicht so aus, als ob sie das Gesagte gehört hätte und blickte unentwegt den Banquier an, der mit etwas unsicher gewordener Stimme zu ihr sagte:

»Nein, Du bist nicht mehr allein – da der Tod Deiner Mutter an unseren Projecten nichts hat ändern können.

– Welche Projecte sind das? fragte Sarah.

– Das Ehebündniß, welches Du vergessen zu haben heuchelst, welches Herrn Sarcany zu meinem Schwiegersohne machen wird.

– Sind Sie auch dessen ganz gewiß, daß diese Heirat Herrn Sarcany zu Ihrem Schwiegersohne machen wird?«

Die Drohung war diesmal eine so direct ausgesprochene, daß Silas Toronthal sich erhob, um das Zimmer zu verlassen, weil er seine Verwirrung zu verbergen wünschte. Auf ein Zeichen Sarcany’s blieb er. Dieser wollte bis ans Ende gehen, er wollte durchaus wissen, woran er wäre.

»Hören Sie mich, mein Vater, denn es ist das letzte Mal, daß ich Ihnen diesen Namen gebe, fuhr das junge Mädchen fort. Nicht mich wünscht Herr Sarcany zu heiraten, sondern mein Vermögen, auf das ich von heute an keinen Anspruch mehr habe. Wie groß auch seine Unverfrorenheit ist, er wird es nicht wagen, mich Lügen zu strafen. Da er mich daran erinnert, daß ich dieser Heirat zugestimmt hatte, so soll auch meine Antwort schnell gegeben sein. Ja! Ich fühlte mich verpflichtet, mich selbst zum Opfer zu bringen, als ich noch glauben konnte, daß die Ehre meines Vaters in dieser Frage auf dem Spiele stand; mein Vater aber, das wissen Sie sehr wohl, kann in diesen schändlichen Handel nicht hineingezogen werden! Wenn Sie also Herrn Sarcany zu bereichern wünschen, so geben Sie ihm mein Vermögen…. Mehr verlangt er nicht.«

Das junge Mädchen war aufgestanden und wendete sich der Thüre zu.

»Sarah, rief Silas Toronthal, der sich ihr in den Weg stellte, in Deinen Worten… liegt so viel Zusammenhangloses, daß ich sie einfach nicht verstehe… Du verstehst sie wahrscheinlich selbst nicht… Ich bin versucht, mich zu fragen, ob nicht vielleicht der Tod Deiner Mutter…

– Meiner Mutter… ja! Es war meine Mutter, dem Gefühle nach! murmelte das junge Mädchen.

–… Ob nicht der Schmerz Deine Vernunft getrübt hat, fuhr Silas Toronthal, der nur noch sich selbst reden hörte, fort. Ja, ob Du nicht etwa toll geworden bist…

– Toll!

– Was ich beschlossen habe, geschieht! Ehe sechs Monate vorüber sind, bist Du Sarcany’s Frau!

– Niemals!

– Ich werde Dich zu zwingen wissen!

– Und mit welchem Recht? fragte das junge Mädchen mit einer Geberde des Unwillens, die ihr schließlich entschlüpfte.

– Mit dem Rechte meiner väterlichen Gewalt!

– Sie! Sie!… Sie sind gar nicht mein Vater und ich heiße nicht – Sarah Toronthal!«

Der Banquier, der auf diese Worte nichts zu erwidern wußte, wich zurück und das junge Mädchen ging, ohne auch nur den Kopf zu wenden, aus dem Salon in ihr Zimmer zurück.

Sarcany, der Sarah aufmerksam während der ganzen Unterredung beobachtet hatte, war von dem Ausgange derselben, den er hatte kommen sehen, keineswegs überrascht. Er hatte ihn bereits geahnt. Was er gefürchtet, war eingetreten. Sarah wußte, daß zwischen ihr und der Familie Toronthal kein verwandtschaftliches Band existirte.

Der Banquier war von dem unvorhergesehenen Schlage um so empfindlicher getroffen worden, als er nicht mehr genug Herr seiner selbst gewesen war, um ihn kommen zu sehen.

Sarcany ergriff nun das Wort und mit seiner üblichen Knappheit entwarf er ein Bild der Situation. Silas Toronthal begnügte sich, ihm zuzuhören. Er mußte ihm in Allem zustimmen, denn die Folgerungen seines einstigen Genossen wurden von einer unbestreitbaren Logik dictirt.

»Es ist nicht mehr darauf zu rechnen, daß Sarah jemals, freiwillig gewiß nicht, dieser Heirat zustimmt, sagte er. Aus den Gründen indessen, die wir kennen, müßte die Heirat jedenfalls vollzogen werden. Was weiß sie von unserer Vergangenheit? Nichts, denn sonst hätte sie etwas gesagt. Sie weiß nur, daß sie Ihre Tochter nicht ist. Das ist Alles. Kennt sie ihren Vater? Keine Spur, denn sonst wäre es der erste Name gewesen, den sie uns ins Gesicht geschleudert hätte. Ist sie seit Langem von ihrer wirklichen Stellung Ihnen gegenüber unterrichtet? Nein, wahrscheinlich hat Frau Toronthal erst kurz vor ihrem Tode darüber mit ihr gesprochen. Doch was nicht weniger wahrscheinlich, ist, daß sie Sarah nicht gesagt hat, was sie thun soll, um dem Manne den Gehorsam zu verweigern, der nicht ihr Vater ist.«

Silas Toronthal billigte durch ein Nicken mit dem Kopfe die Beweisführung Sarcany’s. Man weiß, daß dieser sich weder über die Art, wie das junge Mädchen von diesen Dingen unterrichtet wurde, noch über den Zeitabschnitt, seitdem sie jene kannte, noch über das, was ihr von dem Geheimniß ihrer Geburt verrathen worden war, täuschte.

»Zum Schluß also, fuhr Sarcany fort. So wenig Sarah von dem auch kennt, was sie betrifft und obwohl sie über unsere Vergangenheit im Unklaren gelassen ist, so sind wir dennoch Beide bedroht. Sie in der ehrenhaften Stellung, die Sie sich in Ragusa geschaffen haben, ich in den bedeutenden Interessen, die mir diese Heirat zusichern muß und auf die ich nicht verzichten werde Was also geschehen muß und zwar so schnell als möglich, ist Folgendes: Ragusa verlassen, Sie und ich, Sarah mitnehmen, lieber heute als morgen, ohne daß sie Jemand vorher sehen oder sprechen kann, und nicht eher hierher zurückkehren, als bis die Heirat vollzogen ist und Sarah als meine Frau ein Interesse daran haben wird, zu schweigen. Befindet sie sich erst einmal draußen, so ist sie vor jedem Einflusse so gut geborgen, daß wir von ihr nichts zu befürchten haben werden. Es ist meine Sache, sie dahin zu bringen, daß sie freiwillig in die Verbindung einwilligt; der Verzug soll mir zum Vortheile gereichen, und Gott verdamme mich, wenn mir das nicht gelingt.«



Sie! Sie!… Sie sind gar nicht mein Vater. (S. 318.)


Silas Toronthal stimmte dem bei: die Situation war eine solche, wie sie Sarcany gezeichnet hatte. An ein Ausweichen konnte nicht gedacht werden. Da er mehr und mehr von seinem Genossen beherrscht wurde, so hätte er überhaupt nicht anders gekonnt. Und warum sollte er es auch gethan haben? Dieses Mädchens wegen, vor dem er stets eine unüberwindliche Abneigung empfunden hatte, welchem sein Herz sich nie geöffnet hatte?

Es wurde an demselben Abend noch festgestellt, daß das Beschlossene zur Ausführung kommen sollte, noch ehe Sarah das Hotel zu verlassen im Stande wäre. Silas Toronthal und Sarcany trennten sich dann. Mit übergroßer Hast betrieben sie die Vorbereitungen zur Inscenirung ihres Vorhabens, sie hatten, wie man sehen wird, nicht Unrecht.

Am nächstfolgenden Tage kam Frau Bathory begleitet von Borik, aus Vinticello zum ersten Male seit dem Tode ihres Sohnes in das Haus der Marinella-Straße zurück. Sie war entschlossen, dasselbe ein für alle Male zu verlassen, ebenso wie die Stadt, die ihr zu reich an herzzerreißenden Erinnerungen war: sie wollte ihre Vorbereitungen zum Auszuge treffen.

Als Borik die Hausthür aufgeschlossen hatte, fand er einen Brief in dem zum Hause gehörigen Briefkasten vor.

Es war derselbe, den Frau Toronthal am Abend vor ihrem Tode auf die Post unter Umständen gegeben hatte, die man gewiß nicht vergessen hat.

Frau Bathory nahm diesen Brief in Empfang, öffnete ihn und betrachtete zuerst die Unterschrift; dann las sie im Fluge die von der Hand der Sterbenden hingeschriebenen wenigen Zeilen, welche das Geheimniß von Sarah’s Geburt enthüllten.

Eine jähe Verbindung schloß im Geiste Frau Bathory’s mit einem Male der Name Peter’s mit demjenigen Sarah’s!

»Sie!… Er!…« rief sie aus.

Und ohne ein Wort hinzuzusetzen – sie hätte es auch nicht vermocht – ohne ihrem alten Diener ein Wort zu erwidern, den sie zurückstieß, als er sie halten wollte, stürzte sie aus dem Hause hinaus, die Marinella-Straße hinab, durch den Stradone und stand erst vor der Thür des Hotels Toronthal wieder still.

Begriff sie nicht die Tragweite dessen, was sie thun wollte? Begriff sie nicht, daß es richtiger gewesen wäre, mit weniger Uebereilung vorzugehen und folglich mit mehr Klugheit in Sarah’s eigenem Interesse? Nein! Sie fühlte sich mächtig zu dem jungen Mädchen hingezogen, ihr war es, als riefen ihr Gatte Stephan, ihr Sohn Peter aus ihren Gräbern ihr zu:

»Rette sie!… Rette sie!«

Frau Bathory klopfte an die Thür des Hotels. Sie öffnete sich. Ein Diener zeigte sich und fragte nach ihrem Begehr Frau Bathory wollte Sarah sprechen.

Sie befand sich nicht mehr im Hotel.

Frau Bathory wollte den Banquier Toronthal sprechen.

Der Banquier war am Abend zuvor abgereist, ohne zu sagen wohin und hatte das Fräulein mitgenommen.



Den Hafen, in dessen Hintergrunde sich Antekirtta erhob…(S. 324.)


Frau Bathory, von diesem neuen Schlag hart getroffen, wankte und fiel in die Arme Borik’s, der sie gerade zur rechten Zeit erreichte.

Als der alte Diener sie in das Haus in der Marinella-Straße zurückgebracht hatte, sagte sie:

»Morgen, lieber Borik, gehen wir zusammen auf die Hochzeit Peter’s und Sarah’s.«

Frau Bathory hatte den Verstand verloren.

Viertes Capitel. In den Gewässern Malta’s.

Peter Bathory fühlte sich, während sich die soeben erzählten, ihn so nahe angehenden Vorgänge in Ragusa abspielten, von Tag zu Tag mehr gesunden. Er brauchte sich bald nicht mehr über seine Verwundung zu beunruhigen, deren Heilung eine vollständige war.

Doch vieles mußte Peter noch leiden, wenn er an seine Mutter dachte und an Sarah, die er nun für sich auf immer verloren glaubte.

An seine Mutter?… Man konnte sie unmöglich unter dem Schicksalsschlag, den dieser fälschliche Tod ihres Sohnes ihr beigebracht, belassen. Und so war es denn auch verabredet worden, ihr mit Vorsicht die Ueberzeugung beizubringen, daß ihr Sohn sich noch am Leben befand, um ihre schließliche Uebersiedelung nach Antekirtta bewerkstelligen zu können. Einer der Agenten des Doctors in Ragusa hatte den Auftrag erhalten, sie nicht aus den Augen zu lassen, bis der Zustand Peter’s sich gebessert haben würde, was nicht lange auf sich warten lassen konnte.

Was Sarah betrifft, so hatte Peter sich verschworen, vor dem Doctor Antekirtt niemals wieder von ihr zu sprechen. Wenn er aber auch annehmen mußte, daß sie jetzt die Frau Sarcany’s wäre, so konnte er sie doch unmöglich vergessen. Hatte er sie zu lieben aufgehört, seitdem er wußte, daß sie die Tochter von Silas Toronthal war? Nichts weniger. War Sarah denn schließlich für das von ihrem Vater begangene Verbrechen verantwortlich? Und doch war es dieses Verbrechen gewesen, das Stephan Bathory in den Tod getrieben hatte. Es tobte daher in ihm ein Kampf, über dessen furchtbare und unaufhörliche Krisen Peter allein hätte Aufschluß geben können.

Der Doctor fühlte das heraus. Um seinem Gedankengange eine andere Richtung zu geben, hörte er daher nicht auf, ihn an den Act der gerechten Vergeltung zu erinnern, den sie gemeinsam zur Ausführung bringen wollten.

Die Verräther mußten und würden bestraft werden. Darüber, wie man ihnen beikommen müßte, war noch nichts beschlossen, aber abgefaßt sollten sie werden!

»Tausend Wege führen zu dem einen Ziel,« pflegte der Doctor zu sagen.

Und wenn es nöthig, war er gewiß der Mann dazu, diese tausend Wege einzuschlagen.

Während der letzten Tage seiner Genesung konnte Peter bereits auf der Insel umherpromeniren und sie zu Fuß und zu Wagen besuchen und bewundern. Wer hätte nicht darüber gestaunt, wenn er gesehen haben würde, was aus dieser kleinen Kolonie unter der Verwaltung des Doctors geworden war?

Man arbeitete zunächst noch ohne Unterbrechung an den Befestigungen, welche die am Fuße des Bergkegels erbaute Stadt, den Hafen und die Insel selbst vor jedem Angriffe sichern sollten. Waren diese Arbeiten erst vollendet, dann konnten die, mit Geschützen von großer Tragkraft armirten Batterien in Folge der Kreuzung ihres Feuers jede Annäherung eines feindlichen Fahrzeuges vereiteln.

Die Elektricität sollte eine große Rolle bei diesem Vertheidigungssysteme spielen, theils sollte sie die Entladung der Torpedos bewirken, mit denen das Fahrwasser besetzt war, theils sollte sie bei der Abfeuerung der einzelnen Geschützstücke mitwirken. Der Doctor hatte es verstanden, mit diesem Bewegungsmittel, dem die Zukunft gehört, die wunderbarsten Resultate zu erzielen. Eine mit Dampfmotoren und den dazugehörigen Dampfkesseln ausgestattete Centralstation speiste zwanzig dynamische Maschinen, die nach einem neuen, sehr vervollständigten Systeme angelegt waren. Es wurden dort elektrische Ströme erzeugt, welche specielle Accumulatoren von außergewöhnlicher Intensität für die verschiedensten Einrichtungen auf Antekirtta dienstbar machten, als da waren Wasserleitung, Beleuchtung der Stadt, Telegraph, Telephon, die Beförderung auf Schienenwegen durch das Innere und um den Umkreis der Insel. Mit einem Worte, der Doctor hatte, unterstützt durch die Studien seiner Jugend, einen der heiß ersehntesten Wünsche der modernen Wissenschaft erfüllt, die Thätigkeit der Elektricität als Uebertragungsmittel der Kraft auf die Entfernung in Anwendung zu bringen. Dank der Nutzbarmachung dieser Kraft, deren Handhabung so einfach ist, hatte er jene Schiffe construiren können, von denen schon gesprochen wurde, die »Electrics« mit ausnehmend großer Schnelligkeit, welche es ihm ermöglichten, mit eilzugartiger Geschwindigkeit sich von einem Endpunkte des Mittelmeeres zum anderen zu begeben.

Da die Steinkohle für die Dampfmaschinen, welche der Production der Elektricität dienten, unentbehrlich war, so war stets ein beträchtlicher Vorrath davon in den Magazinen Antekirtta’s zu finden und dieses Kohlenlager wurde unaufhörlich mittelst eines Schiffes ergänzt, das die Kohlen direct von England herbeischaffte.

Den Hafen, in dessen Hintergrunde sich die kleine Stadt amphitheatralisch erhob, hatte die Natur gebildet, doch umfangreiche Arbeiten hatten ihn verbessert. Zwei Hafendämme, ein Molo mit Wellenbrecher schützten ihn sehr, woher auch immer der Wind kam. Ueberall war genügende Wassertiefe vorhanden, selbst an dem senkrecht abfallenden Quai. Daher war die Flotille des Doctors vor jedem Sturme vollkommen und gut geborgen. Diese Flotille umfaßte den Schooner »Savarena«, das von Dampfkraft getriebene Kohlenschiff, welches von Swansea und Cardiff her die Steinkohlen heranschleppte, eine Dampf-Yacht von sieben-bis achthundert Tonnen Gehalt, genannt der »Ferrato«, und drei »Electrics«, von denen zwei als Torpedoboote Dienste thun und somit die Vertheidigung der Insel wirksam unterstützen konnten.

Antekirtta sah also auf Betreiben des Doctors seine Widerstandsfähigkeit von Tag zu Tag wachsen. Das wußten die Piraten von Tripolis und der Cyrenäischen Halbinsel recht gut. Ihr größter Wunsch wäre es gewesen, sich der Insel bemächtigen zu können, denn der Besitz derselben würde die Pläne des Großmeisters der senusischen Bruderschaft, Sidi Mohammed El-Mahdi, sehr gefördert haben. Doch da er sehr wohl die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens kannte, so wartete er die Gelegenheit zum Handeln mit jener Geduld ab, die eine der hervorragendsten Eigenschaften des Arabers ist. Der Doctor wußte das und daher betrieb er die Fertigstellung der Vertheidigungswerke mit fieberhafter Eile. Um sie nach ihrer Vollendung zu demoliren, hätte es der neuzeitigen Zerstörungsmaschinen bedurft, über welche die Senusisten noch nicht verfügten. Ueberdies waren die Einwohner der Insel im Alter von achtzehn bis vierzig Jahren nach Art des Militärs in Compagnien eingetheilt, mit Schnellfeuergewehren ausgerüstet und in artilleristischen Manövern geübt. Die Besten unter ihnen waren zu Anführern ausgebildet worden, so daß diese Miliz in einer Stärke von fünf-bis sechshundert Mann, auf die man sich verlassen konnte, in Action treten konnte.

Während einige Kolonisten das Land in eigens eingerichteten Pächtereien bewohnten, siedelte sich der größte Theil derselben in der kleinen Stadt an, welche den siebenbürgischen Namen Artenak erhalten hatte, als Erinnerung an das Eigenthum des Grafen Sandorf auf dem Abhange der Karpathen. Artenak bot einen malerischen Anblick dar. Es umfaßte höchstens einige hundert Häuser. Diese standen nicht in Vierecken bei einander, und waren nicht nach amerikanischer Weise in schnurgerade Straßen und Alleen eingetheilt, sondern erhoben sich in regelloser Ordnung auf den Anschwellungen des Bodens längs den von Elevatoren gespeisten, mit fließendem Wasser gefüllten Canälen; ihre Mauern standen inmitten blühender Gärten, ihre Dächer versteckten sich unter Baumkronen, und ihre Formen zeigten im bunten Durcheinander theils europäischen, theils arabischen Styl. Alles das machte einen frischen, liebenswürdigen, anziehenden Eindruck. Artenak konnte auf die Bezeichnung »Stadt« einen nur bescheidenen Anspruch erheben, ihre Einwohner genossen aber den Vorzug, man möchte sagen, als Mitglieder einer Familie zu einer Gemeinde zu zählen, und dennoch in der Ruhe und Unabhängigkeit ihres eigenen Heims leben zu können.

Wie glücklich waren nicht die Eingebornen von Antekirtta! »Ubi bene, ibi patria« ist zweifellos ein wenig patriotischer Ausspruch; doch paßte er vortrefflich auf die ehrenwerthen Leute, die dem Werberufe des Doctors gefolgt waren; sie waren in ihrem Heimatlande arm gewesen, und hatten in beschränkten Verhältnissen gelebt, auf dieser gastfreundlichen Insel fanden sie Glück und Bequemlichkeit.

Das Haus des Doctors Antekirtt nannten die Kolonisten das »Stadthaus«. Dort wohnte nicht ihr Herr, wohl aber der Erste unter ihnen. Das Stadthaus war eines jener entzückenden maurischen Gebäude mit Miradoren und Muscharabis, einem inneren Patio, Galerien, Portiken, Fontainen, Salons und Zimmern, die von geschickten Decorationskünstlern aus den arabischen Provinzen ausgeschmückt worden waren.

Zu seinem Bau hatte man die kostbarsten Materialien verwendet, Marmor und Onyx; dieses Gestein rührte aus dem reichen Gebirge Filfila am Numidischen Golfe, wenige Kilometer von Philippeville entfernt, her und wurde durch einen ebenso gelehrten als geschickten Ingenieur ausgebeutet. Die kohlenschwarzen Salze hatten sich allen Phantasien des Architekten in bewundernswerther Weise angeschmiegt und in dem kräftigen afrikanischen Klima jene Goldfarbe angenommen, welche die Sonne wie mit einem Pinsel mit ihren glühenden Strahlen in den Ländern des Orients zu Wege bringt.

Das etwas dahinter liegende Artenak wurde von dem zierlichen Glockenthurme einer kleinen Kirche überragt, zu deren Bau derselbe Steinbruch weißen und schwarzen Marmor geliefert hatte, der sich allen Bedürfnissen der Architektur und Bildhauerei fügte; dessen türkischblauer Marmor und sein gelber Achat glichen wunderbar den einstigen Erzeugnissen von Carrara und Paros.

Außerhalb der Stadt – »passim« – auf den benachbarten Anhöhen erhoben sich noch andere Behausungen von mehr selbständiger Erscheinungsweise, einige Landhäuser, ein kleines Hospital in einer reineren Luftzone; dorthin konnte der Doctor, der zugleich der einzige Arzt seiner Kolonie war, seine Kranken schicken, wenn er solche hatte. Auf den Abhängen, die zum Meere abfielen, bildeten wieder andere zierliche Häuschen eine Art Curort. Eines der am bequemsten eingerichteten, das sich aber wie ein Blockhaus untersetzt und stämmig repräsentirte – es stand dicht am Molenthor – hätte Villa Pescade und Matifu genannt werden können. Dort waren nämlich die beiden Unzertrennlichen mit einem für ihren persönlichen Dienst angestellten Sack untergebracht worden. Niemals hätten sie sich einen solchen Besitz träumen lassen.

»Hier läßt sich’s gut leben, meinte Kap Matifu unaufhörlich.

– Zu gut, hatte Pointe Pescade erwidert, unserer gesellschaftlichen Bildung nach passen wir gar nicht hierher. Eigentlich, Kap Matifu, müßten wir nun erst noch die Schule besuchen, lernen, Lyceumspreise davontragen und uns das Zeugniß der Reise erwerben.

– Du bist ja gebildet, Pointe Pescade, meinte der Hercules. Du kannst lesen, schreiben, rechnen…«

Neben seinem Kameraden hätte Pointe Pescade allerdings für einen kenntnißreichen Mann gelten können. Der arme Kerl wußte nur zu gut, wie viel ihm noch an seiner Bildung fehlte. Wo und wann hätte er auch, der niemals die Schule besucht hatte oder nur die »Karpfenschule von Fontainebleau«, wie er sich ausdrückte, etwas lernen sollen? Er benutzte jetzt fleißig die Bibliothek von Artenak, er sachte sich zu bilden, er las und büffelte, während Kap Matifu mit Erlaubniß des Doctors zwischen dem Sande und den Klippen des Gestades aufräumte, um daselbst einen kleinen Angelhafen anzulegen.

Peter Bathory feuerte Pointe Pescade’s Wißbegier besonders an; er hatte dessen Intelligenz richtig erkannt, der nur die Schulung fehlte. Er wurde sein Professor und förderte ihn so weit, daß Pointe Pescade eine vollständige Kenntniß der Anfangsgründe der Wissenschaft von ihm empfing; der Schüler machte rasche Fortschritte. Auch andere Gründe noch machten, daß Peter sich näher an Pointe Pescade anschloß. Dieser war über seine Vergangenheit unterrichtet. Er hatte den Auftrag gehabt, das Toronthal’sche Haus in Ragusa zu überwachen. Dort war es gewesen, wo Sarah beim Passiren seines Leichenzuges bewußtlos zusammensank. Mehr als ein Mal hatte Pointe Pescade ihm von jenen schmerzlichen Ereignissen berichten müssen, an denen er indirect Antheil genommen hatte. Mit ihm allein sprach er darüber, so oft sein Herz überwallte. Daher stammte das Band, das sie Beide so eng aneinander schloß.

Die Zeit nahte inzwischen heran, in welcher der Doctor seinen zweifachen Plan zur Ausführung bringen wollte: erst vergelten, dann bestrafen.

Die Schuld, die er an den wenige Monate nach seiner Verhaftung im Gefängniß von Stein verstorbenen Andrea Ferrato nicht mehr hatte abtragen können, hätte er gern dessen Kindern entrichtet. Unglücklicherweise wußte er, trotz der großen Mühe, die sich seine Agenten gegeben hatten, immer noch nicht, was aus Luigi und seiner Schwester geworden war. Nach dem Tode ihres Vaters hatten Beide Rovigno und Istrien verlassen und sich somit zum zweiten Male einer Heimat beraubt. Wohin waren sie gegangen? Niemand konnte es wissen, Niemand wußte es zu sagen. Den Doctor betrübte sein Mißerfolg auf diesem Felde sehr. Doch gab er die Hoffnung noch nicht auf, die Kinder des Mannes wiederzufinden, der sich für ihn geopfert hatte und auf sein Betreiben wurden die Nachforschungen unermüdlich fortgesetzt.



Am selben Abend noch ging die Abfahrt von Statten. (S. 331.)


Peter’s sehnsüchtiger Wunsch war es, Frau Bathory nach Antekirtta kommen lassen zu können. Der Doctor aber, der aus dem vorgeschobenen Tode Peter’s gerade wie aus dem seinigen Nutzen ziehen wollte, machte ihm begreiflich, daß nur mit ganz besonderer Vorsicht zu Werke gegangen werden dürfte. Im Uebrigen wollte er warten, einerseits, bis sein Genesender so viele Kräfte gesammelt haben würde, um ihn in den vorbereiteten Feldzug begleiten zu können, andererseits, bis die Heirat Sarcany’s und Sarah’s – von deren Aufschiebung durch den erfolgten Tod der Frau Toronthal er Kenntniß hatte – vollzogen sein würde. Einer seiner Agenten in Ragusa gab ihm von allen dortigen Vorgängen Nachricht und überwachte ebenso sorgfältig das Haus der Frau Bathory als dasjenige im Stradone.

So lagen die Dinge. Der Doctor wartete mit Ungeduld darauf, daß die ganze Verzögerung zu Ende war. Wenn er auch noch nicht wußte, was aus Carpena geworden war, dessen Spur man, nachdem er Rovigno verlassen, verloren hatte, so konnten ihm doch Silas Toronthal und Sarcany nicht entgehen, die sich noch immer in Ragusa befanden.

Man kann sich denken, wie sehr der Doctor unter dieser ungünstigen Stellung der Parteien litt. Da kam, am 20. August, eine Depesche seines Agenten in Ragusa über Malta im Stadthause von Antekirtta an. Der Inhalt derselben besagte, daß Silas Toronthal mit Sarah und Sarcany abgereist und daß auch Frau Bathory



Als die Passagiere am folgenden Morgen das Deck betraten…(S. 332.)


mit Borik aus Ragusa verschwunden wären, ohne daß es möglich gewesen, zu entdecken, wohin sie gegangen.

Der Doctor konnte nun nicht länger zögern. Er ließ Peter zu sich kommen. Er verheimlichte ihm nichts von dem Gemeldeten. Was für ein Schlag war diese Nachricht für Peter! Seine Mutter verschwunden, Sarah von Silas Toronthal, wer weiß wohin, entführt und immer noch in den Händen Sarcany’s, woran er nicht zweifeln konnte.

»Wir werden morgen bereits abfahren, sagte der Doctor.

– Heute noch! rief Peter. Doch wo sollen wir meine Mutter finden?… Wo sie suchen?«

Er konnte diesen Gedanken nicht zu Ende führen. Der Doctor Antekirtt hatte ihn unterbrochen und zu ihm gesagt:

»Ich kann in diesen Vorfällen nur ein zufälliges Zusammentreffen gleicher Absichten erkennen. Wenn Silas Toronthal und Sarcany bei dem Verschwinden Deiner Mutter die Hand im Spiele gehabt haben, erfahren wir es noch zeitig genug. Diese beiden Schurken müssen wir vor allen Dingen aufsuchen.

– Wohin können sie sich gewandt haben?

– Nach Sicilien… vielleicht!«

Man wird sich erinnern, daß im Verlaufe des vom Grafen Sandorf im Wartthurme erlauschten Gespräches davon die Rede gewesen war, daß Sicilien der Schauplatz von Zirone’s erhabenen Thaten zu sein pflegte, auf den zurückzukehren er seinem Genossen vorgeschlagen hatte, wenn es eines Tages die Umstände erfordern würden. Der Doctor hatte diese Bemerkung ebenso wenig vergessen wie den Namen Zirone selbst. Es war ja nur ein schwacher Faden, an dem man sich hierbei halten konnte, doch da andere Merkzeichen fehlten, konnte er vielleicht auf die Fährte von Sarcany und Silas Toronthal verhelfen.

Die unverzügliche Abreise wurde also beschlossen. Pointe Pescade und Kap Matifu, davon benachrichtigt, daß sie den Doctor begleiten sollten, mußten sich reisefertig machen. Pointe Pescade erfuhr bei dieser Gelegenheit, wer Silas Toronthal, Sarcany und Carpena eigentlich wären.

»Drei Schufte! sagte er. Ich zweifelte nie daran.«

Dann wendete er sich an Kap Matifu:

»Du wirst jetzt auf die Scene treten.

Bald?

– Ja, aber warte Dein Stichwort ab.«

Am selben Abend noch ging die Abfahrt von Statten. Der »Ferrato«, stets fertig in See zu stechen, erhielt vollen Proviant und gefüllte Kammern; seine Compasse waren regulirt, um acht Uhr ging es unter Dampf.

Man zählt vom inneren Ende der großen Syrte bis zum südlichsten Punkte auf Sicilien, Kap Portio di Palo, ungefähr neunhundertfünfzig Seemeilen. Die flinke Dampf-Yacht, welche bei mittlerer Geschwindigkeit achtzehn Meilen in der Stunde zurücklegte, gebrauchte für diese Ueberfahrt höchstens anderthalb Tage.

Der »Ferrato«, der Kreuzer der Flotte von Antekirtta, war ein prächtiges Fahrzeug. In Frankreich, auf den Werften der Loire erbaut, konnte er nahe an fünfzehnhundert effective Pferdekräfte entwickeln. Seine nach dem System Belleville hergestellten Kessel – ein System, nach welchem die Tuben Wasser anstatt Feuer enthalten – hatten den Vorzug, wenig Kohlen zu verzehren, eine schnelle Dampfentwicklung zu erzeugen, und die Spannkraft des Dampfes bis auf vierzehn und fünfzehn Kilogramme zu erhöhen, ohne Gefahr einer Explosion. Dieser, von Neuem durch Rechauffeure eingesogene Dampf wurde dadurch ein mechanisches Mittel von zauberhafter Wirkung und ermöglichte der Yacht, obwohl sie weniger lang war als die großen Avisos der europäischen Geschwader, es ihnen an Schnelligkeit gleichzuthun.

Es braucht wohl kaum noch gesagt zu werden, daß der »Ferrato« mit einem Comfort ausgestattet war, der seinen Passagieren jede Bequemlichkeit gewährte. Er führte überdies vier Hinterlader-Stahlgeschütze, die über die Brustwehr schossen, zwei Revolver-Kanonen nach dem System Hotchkiß und zwei Gatlings-Mitrailleusen; ferner am Bug ein Jagdrohr, das auf sechs Kilometer ein kegelförmiges Geschoß von dreizehn Centimetern schleudern konnte.

Der Stab des Schiffes bestand aus einem Kapitän, Namens Köstrik, einem Dalmatiner von Geburt, einem zweiten und zwei Lieutenants; zur Bedienung der Maschine waren da ein erster und zweiter Mechaniker, vier Heizer und zwei Gehilfen; die Equipage bestand aus dreißig Matrosen unter der Leitung eines Meisters und zweier Quartiermeister; den Dienst in der Küche und in den Salons versahen zwei Küchen-Chefs und drei Saïks, welche die Dienerschaft vorstellten – im Ganzen befand sich ein Personal von vier Officieren und dreiundvierzig Mann an Bord.

In den ersten Stunden ließ sich die Ausfahrt aus dem Golfe der Sidra ganz günstig an Obwohl ein widriger Wind wehte – eine ziemlich frische Brise aus Nordwesten – konnte der Kapitän den »Ferrato« auf eine ganz annehmbare Schnelligkeit bringen; doch unmöglich war es, das Tuch zu entfalten, die Fock-, Vorstags-und viereckigen Segel des Fockmastes und die einseitig angeschlagenen Segel des Haupt-und Besanmastes.

Während der Nacht konnte der Doctor und Peter in den beiden Cabinen, die nebeneinander lagen, und Pointe Pescade und Kap Matifu in den Cabinen unter Vorderdeck ungestört ausruhen, die Bewegungen der Dampf-Yacht, welche diejenigen eines jeden guten Seglers waren, brauchten sie nicht zu beunruhigen. Um wahrhaftig zu sein, muß gesagt werden, daß der Schlaf den beiden Freunden nicht abging, während der Doctor und Peter, eine Beute der lebhaftesten Sorgen, kaum etwas ruhten.

Als die Passagiere am folgenden Morgen das Deck betraten, waren in den zwölf Stunden seit der Abfahrt von Antekirtta bereits mehr als hundertzwanzig Meilen durchmessen. Der Wind wehte noch aus derselben Richtung mit wachsender Heftigkeit. Die Sonne hatte sich über einem Horizonte erhoben, der Sturm verkündete und die schon drückende Luft ließ den bevorstehenden Kampf der Elemente ahnen. Pointe Pescade und Kap Matifu wünschten dem Doctor und Peter einen guten Morgen.

»Dank, Freunde, erwiderte der Doctor. Habt Ihr in Euren Bettchen gut geschlafen?

– Wie die Siebenschläfer mit gutem Gewissen, antwortete Pointe Pescade vergnügt.

– Hat Kap Matifu schon sein erstes Frühstück eingenommen?

– Ja, Herr Doctor, eine Suppenschüssel voll schwarzen Kaffees mit zwei Kilo Schiffszwieback.

– Hm… Ein bischen hart dieser Zwieback.

– Pah! Ein Mann, der sonst Kieselsteine als Zwischenspeise zu verzehren pflegte…«

Kap Matifu wiegte sanft seinen dicken Kopf – das galt ihm als Zeichen, daß er die Antworten seines Kameraden billigte.

Der »Ferrato« dampfte inzwischen, nach dem expressen Befehle des Doctors mit voller Schnelligkeit weiter; zwei dicke Schaumstreifen bezeichneten weit hinaus die Bahn, welche sein Kiel durchschnitten hatte.

Die Eile war nur ein Zeichen der Klugheit. Schon hatte Kapitän Köstrik mit dem Doctor überlegt, ob es nicht gerathen wäre, in Malta anzulegen, deren Leuchtfeuer man voraussichtlich in der achten Abendstunde zu Gesicht bekommen würde.

In der That wurde das Aussehen der Luft immer bedrohlicher. Trotz einer gegen Sonnenuntergang stärker werdenden westlichen Brise stiegen die Dunstmassen aus dem Osten immer weiter herauf; sie breiteten sich bereits über drei Viertel des Himmels aus. Dicht über der Wasserfläche lagerte eine durchsichtige graue Schicht, die sich in ein tiefes Tintenschwarz verwandelte, wenn ein Sonnenstrahl sich durch ihre Risse stahl. Schon durchfurchten hier und da die Blitze lautlos die elektrische Wolkenschicht, deren oberer Rand sich zu immer dichter herunterhängenden Massen aufballte, die kaum ihre Contouren veränderte. Es schien sich ein Kampf zwischen den westlichen und östlichen Winden entspinnen zu wollen, noch fühlte der Mensch ihn nicht, doch das unruhig gewordene Meer schien schon den Zusammenstoß zu empfinden; die Wellen thürmten sich zur Sturzsee auf, sie zerstoben und begannen das Deck der Yacht zu überfluthen. Gegen sechs Uhr trat durch die, nunmehr den ganzen Himmel bedeckenden dichten Wolkenmassen völlige Dunkelheit ein. Der Donner grollte und feurige Blitze erleuchteten die undurchdringliche Finsterniß.

»Manövriren Sie nach Gutdünken, sagte der Doctor zum Kapitän.

Es wird nicht anders gehen, Herr Doctor, antwortete dieser. Auf dem Mittelmeer muß man auf alles gefaßt sein. Ost-und Westwind streiten um die Herrschaft und da sich das Gewitter hineinmischt, so fürchte ich, daß der Sieg dem ersteren bleiben wird. Das Meer wird jenseits von Gozzo oder Malta sehr aufrührerisch sein und uns wahrscheinlich etwas geniren. Ich will Ihnen nicht vorschlagen, gerade in La Vallette Schutz zu suchen, doch halte ich es für rathsam, hinter die westliche Küste der einen oder der anderen Insel zu flüchten.

– Thun Sie, was Sie für richtig halten,« sagte der Doctor.

Die Dampf-Yacht befand sich gerade auf der westlichen Seite von Malta, vielleicht noch dreißig Meilen von der Insel entfernt. Auf der Insel Gozzo, die etwas nordwestlich von Malta gelegen und von dieser Insel durch zwei schmale, durch ein kleines Eiland gebildete Meerarme getrennt ist, wird ein Leuchtfeuer erster Ordnung unterhalten, welches auf siebenundzwanzig Meilen hinaus seinen Schein wirst.

Noch vor Ablauf einer Stunde mußte der »Ferrato« trotz der Wuth des Meeres in den Bereich dieses Leuchtfeuers gelangen. Die erste Sorge galt dem Aufsuchen des letzteren; man mußte versuchen, ihm nahe zu kommen, ohne sich dem Lande zu sehr zu nähern, um während einiger Stunden Schutz vor dem Unwetter zu finden.

Das that denn auch Kapitän Köstrik; er traf aber die Vorsicht, die Schnelligkeit des »Ferrato« zu vermindern, um jedem Unfalle, sei es an der Maschine, sei es am Schnabel, vorzubeugen.

Doch selbst nach Verlauf einer vollen Stunde war das Leuchtfeuer von Gozzo noch nicht zu bemerken. Es war völlig unmöglich, Land zu erkennen, obgleich die Klippen dieser Insel zu einer ziemlich bedeutenden Höhe aufsteigen.

Das Gewitter tobte mit aller Heftigkeit. Ein warmer Regen fiel in Gestalt von dicken Tropfen hernieder. Die ganze Masse der am Horizont aufgethürmten Wolken wurde jetzt vom Wind mit rasender Schnelligkeit über den Himmelsraum dahingepeitscht. Dort, wo er sie zerriß, leuchteten plötzlich vereinzelte Sterne auf Augenblicke auf, um ebensobald wieder zu verschwinden. Drei gespaltene Blitze trafen die Wogen an ebensovielen Stellen; sie hüllten oft die Dampf-Yacht vollständig in ihren Schein ein und das Rollen des Donners hörte nicht mehr auf, die Luft zu erschüttern.

Bis dahin war die Lage der Seefahrer eine schwierige gewesen, jetzt sollte sie schnell eine beunruhigende werden.

Der Kapitän Köstrik, der sich mindestens bereits zwanzig Meilen im Bereiche des Leuchtfeuers der Insel Gozzo wußte, wagte es nicht, sich der Insel noch mehr zu nähern. Er konnte sogar befürchten, daß es nur die Höhe der Wellen war, die ihn hinderte, das Feuer zu bemerken. Er mußte jedenfalls der Insel sehr nahe sein. Lief man auf den isolirt stehenden Klippen am Fuße der Uferwände auf, so war man unrettbar verloren.

Gegen neun und ein halb Uhr entschloß sich der Kapitän, unter geringem Dampf zu fahren. Er wollte nicht ganz und gar stoppen, sondern die Schraube noch schwache Drehungen machen lassen; dadurch erzielte er, daß das Schiff sich dem Steuerruder gehorsam zeigte und seinen Schnabel stets den Wellen entgegenhielt. Unter diesen Umständen wurde die Yacht allerdings tüchtig zusammengerüttelt, sie entging aber gleichzeitig der Gefahr zu kentern.

Fast drei Stunden, bis gegen Mitternacht dauerte dieses Manövriren. Dann verschlimmerte sich die Situation noch mehr. Wie es häufig bei Gewitterstürmen der Fall ist, so auch hier. Der Kampf zwischen den sich gegenüberstehenden Oft-und Westwinden schwieg plötzlich. Die Brise wehte plötzlich wieder aus jener Richtung der Windrose, die sie Tags über innegehalten hatte, mit der Heftigkeit eines Windstoßes. Ihr durch die conträren Luftströmungen während einiger Stunden zurückgedrängtes Ungestüm gewann inmitten der elektrischen Garben des Himmels wieder die Oberhand.

»Feuer, auf Steuerbord« meldete ein Matrose der Wache, der am Fuße des Bugspriets auf Posten stand.

»Herum mit dem Steuer,« commandirte Köstrik, der von der Küste abtreiben wollte.

Er hatte ebenfalls das signalisirte Feuer gesehen. Es war ein Blickfeuer, also jedenfalls dasjenige von Gozzo. Es war gerade noch Zeit, nach der entgegengesetzten Richtung zu steuern, denn die conträren Winde entfesselten sich mit einer unvergleichlichen Wuth. Der »Ferrato« befand sich nur noch zwei Meilen entfernt von der Stelle, auf der plötzlich der Leuchtthurm aufgetaucht war.

Der Befehl »voll Dampf« wurde dem Maschinisten ertheilt, doch plötzlich arbeitete die Maschine langsamer, anstatt schneller.

Der Doctor, Peter Bathory, die Mannschaft, Alles was sich auf Deck befand, ahnte eine bedenkliche Beschädigung.

In der That war der Maschine ein Unfall zugestoßen. Das Ventil der Luftpumpe arbeitete nicht mehr, der Condensator functionirte schlecht, und nach einigen lärmenden Umdrehungen, die sich anhörten, als hätten einige Explosionen stattgefunden, stand die Schraube plötzlich still.

Ein solcher Schaden war, wenigstens in der Lage, in welcher sich das Schiff befand, nicht auszubessern. Man hätte die Pumpe abmontiren müssen, was mehrere Stunden Zeit beansprucht haben würde. In zwanzig Minuten schon konnte die von der Windsbraut niedergedrückte Dampf-Yacht gekentert sein.

»Hißt das Sturmsegel!… Hißt das große Focksegel!… Hißt das Marssegel!«

So lauteten die in rascher Folge gegebenen Befehle des Kapitäns Köstrik, der das Schiff nur noch mit Hilfe des Segelzeuges über Wasser halten konnte, die Mannschaft kam diesen Befehlen schnell nach und manövrirte in einem bewundernswerthen Ensemble. Daß Pointe Pescade mit seiner Geschicklichkeit und sein Gefährte mit seiner Riesenkraft ihr zu Hilfe kamen, brauchte wohl kaum noch besonders hervorgehoben zu werden. Die Hißtaue mußten dem Drucke Kap Matifu’s nachgeben oder – reißen.

Die Lage des »Ferrato« war aber jetzt durchaus noch keine gesicherte. Ein Dampfschiff mit seiner länglichen Gestalt, seiner geringen Wassertiefe, seinem



Die Mannschaft manövrirte in einem bewundernswerthen Ensemble… (S. 335).


ungenügenden Segelwerke, ist nicht dazu angethan, gegen den Wind zu steuern oder unter ihm zu laviren. Wenn es so nah als möglich unter dem Winde geht, läuft es, selbst wenn die See nicht sehr tobt, schon Gefahr, das Takelwerk zu verlieren und mastenlos in die Wogen zu schießen.

Dieses Schicksal drohte auch dem »Ferrato«. Abgesehen davon, daß es ernstliche Schwierigkeiten hatte, ihn mit Segeln zu bekleiden, war es ganz unmöglich, nach Westen gegen den Wind zu kommen. Es wurde allmählich gegen die Brandung getrieben und es blieb nun nur noch übrig, einen Ort auszuwählen,



Der Fischer wäre unbedingt umgekommen… (S. 338.)


an welchem das Ufer einigermaßen günstige Bedingungen bot. Inmitten der pechschwarzen Nacht aber konnte Kapitän Köstrik unglücklicherweise die Form des Ufers nicht im Geringsten erkennen. Er wußte wohl, daß zwei Engen die Insel Gozzo von der Insel Malta trennen und zwar zu beiden Seiten eines Eilandes, die eine ist der nördliche Comino, die andere der südliche Comino. Doch wie ihre Oeffnungen in dieser Dunkelheit finden, wie bei dieser aufgeregten See hindurchfahren um einen Schlupfwinkel an der westlichen Küste der Insel oder wenn es möglich wäre, vielleicht den Hafen von La Vallette zu erreichen? Ein Lootse oder ein in diesen Gewässern bewanderter Seemann nur hätte dieses gefahrvolle Manöver ausführen können. Welcher Fischer aber sollte es bei der undurchsichtigen Luft, in dieser Regen-und Sturmnacht wagen, bis an das verloren scheinende Schiff heranzukommen?

Die Dampfpfeife der Yacht kreischte trotzdem ihre markerschütternden Töne in das Geheul der Windsbraut hinaus und drei Kanonenschüsse wurden nacheinander gelöst.

Plötzlich erschien von der Landseite her ein dunkler Punkt inmitten des Nebels. Ein Boot mit gerefften Segeln fuhr auf den »Ferrato« zu. Es barg zweifellos einen Fischer, den der Sturm genöthigt hatte, sich auf die kleine Rhede von Melleah zurückzuziehen. Dort hatte er sein Boot gewiß inmitten der Klippen geborgen gehabt und er selbst war wohl in die wundervolle Grotte der Kalypso hineingestiegen, die mit der berühmten Fingalshöhle auf den Hebriden verglichen werden kann; hier hatte er die Nothpfeife und die Kanonenschüsse der Yacht vernommen.

Dieser Mann zögerte nicht, der halb verloren sich gebenden Dampf-Yacht mit Gefahr des eigenen Lebens zu Hilfe zu kommen. Wenn der »Ferrato« noch zu retten war, so konnte er nur durch die Hilfe dieses Mannes gerettet werden.

Das Boot trieb nach und nach näher. Ein Tau wurde an Bord bereit gehalten, das ihm zugeworfen werden sollte, sobald es anlegen würde. Es konnte nur noch einige Minuten dauern, bis das geschah, doch diese Minuten schienen eine Ewigkeit. Die Klippen waren höchstens noch eine halbe Ankerlänge vom Schiffe entfernt.

In diesem Augenblicke wurde das Seil geworfen, doch eine ungeheure Welle hob das Boot empor und warf es gegen die Seitenwand des »Ferrato«. Es wurde in Stücke zerschmettert und der Fischer, der es leitete, wäre unbedingt umgekommen, wenn Kap Matifu ihn nicht rechtzeitig am Arm ergriffen und wie ein Kind auf Deck gehoben haben würde.

Ohne ein Wort zu sprechen – dazu war auch gar keine Zeit – sprang dieser Fischer auf die Commandobrücke, ergriff das Steuerrad, und gerade als der Bug des »Ferrato« auflaufen wollte, um an den Felsen zu zerschmettern, flog das Schiff herum und lenkte in den schmalen Paß von Nord-Comino; es flog mit dem Wind im Rücken hindurch und in weniger als zwanzig Minuten befand es sich gegenüber der östlichen Küste von Malta in einer ruhigeren See. Mit vollen Schooten fuhr es auf der Strecke von einer halben Meile längs des Landes dahin. Gegen vier Uhr Morgens, als das erste Tageslicht den Horizont zu färben begann, lenkte es in den Kanal von La Vallette ein und warf am Quai der Senglea, bei der Einfahrt zum Kriegshafen, Anker.

Doctor Antekirtt trat nun zu dem jungen Manne auf die Commandobrücke:

»Ihr habt uns gerettet, mein Freund, sagte er zu ihm.

– Ich that nur meine Schuldigkeit.

– Seid Ihr ein Lootse?

– Nein, Herr, ich bin nur ein Fischer.

– Euer Name?

– Luigi Ferrato!«

Fünftes Capitel. Malta.

Der Sohn des Fischers von Rovigno also war es, der soeben seinen Namen dem Doctor Antekirtt genannt hatte. Durch eine Fügung der Vorsehung war es Luigi Ferrato, dessen Muth und Geschicklichkeit die Dampf-Yacht, ihre Passagiere, die ganze Mannschaft vor einem sicheren Untergange retten sollte.

Der Doctor stand schon im Begriffe, auf Luigi zuzustürzen, um ihn in seine Arme zu schließen. Er hielt sich jedoch zurück. Denn Graf Sandorf wäre es gewesen, der sich durch dieses voreilige Wiedererkennen verrathen hätte, Graf Sandorf aber sollte für Alle todt sein, selbst für den Sohn Andrea Ferrato’s.

Peter dagegen, der zu derselben Zurückhaltung und aus denselben Gründen verpflichtet war, hätte beinahe sein Versprechen vergessen, wenn nicht der Doctor ihn mit einem Blicke gewarnt haben würde. Beide stiegen in den Salon hinab, wohin Luigi zu folgen ersucht wurde.

»Seid Ihr, mein Freund, so fragte ihn der Doctor, der Sohn jenes Fischers in Rovigno, der sich Andrea Ferrato nannte?

– Ja, mein Herr, antwortete Luigi.

– Habt Ihr nicht eine Schwester?

– Ja, wir wohnen bei einander in La Vallette. – Haben Sie, so setzte er zögernd hinzu, vielleicht meinen Vater gekannt?

– Ihren Vater? Nein, erwiderte der Doctor. Ihr Vater gab vor fünfzehn Jahren zwei Flüchtlingen Obdach in seinem Hause in Rovigno. Diese Flüchtlinge waren zwei meiner Freunde, welche seine Ergebenheit nicht zu retten vermochte. Doch diese Ergebenheit hat Andrea Ferrato Freiheit und Leben gekostet, er wurde nach Stein geschickt und starb dort….

– Ohne seine That bedauert zu haben,« antwortete Luigi.

Der Doctor ergriff die Hand des jungen Fischers.

»Ich bin es, Luigi, sagte er, dem meine Freunde den Auftrag gegeben haben, die Verbindlichkeit, die gegen Euren Vater eingegangen wurde, zu lösen. Seit einer Reihe von Jahren habe ich vergebens zu erfahren versucht, was aus Euch und Eurer Schwester geworden war; allein man hatte Eure Spuren von Rovigno aus verloren. Gott sei gelobt, daß er Euch gerade zu meiner Hilfe gesandt hat. Dem Schiffe, das Ihr gerettet habt, habe ich zum Gedächtniß an Andrea den Namen »Ferrato« gegeben…. Laßt mich Euch umarmen, mein Freund!«

Während der Doctor Luigi an die Brust drückte, fühlte dieser seine Augen sich mit Thränen füllen.

Peter konnte sich angesichts dieser rührenden Scene nicht zurückhalten. Es war ihm, als zöge ihn sein ganzes Selbst mit unwiderstehlicher Gewalt zu dem jungen, fast gleichaltrigen Manne hin, dem braven Sohne des Fischers von Rovigno.

»Auch mich, auch mich! rief er mit ausgebreiteten Armen.

– Sie, mein Herr?

– Mich auch… den Sohn Stephan Bathory’s.«

Der Doctor konnte es schwerlich bedauern, daß dieses Geständniß Peter entschlüpft war. Gewiß nicht. Er war überzeugt, daß Luigi Ferrato das Geheimniß bewahren würde, wie Pointe Pescade und Kap Matifu es ebenfalls gethan hatten.

Luigi wurde alsdann von Allem unterrichtet und erfuhr namentlich, welchen Zweck Doctor Antekirtt verfolgte. Nur eine Sache wurde ihm verheimlicht: der junge Fischer sollte nicht wissen, daß er vor dem Grafen Mathias Sandorf stand.

Der Doctor wollte sich unverzüglich zu Maria Ferrato führen lassen. Er brannte darauf, sie wiederzusehen, namentlich das Leben, das sie jetzt führte, kennen zu lernen, gewiß ein Leben voller Arbeit und Armuth, da der Tod Andrea’s ihr den Bruder auf dem Hals gelassen hatte.

»Gut, Herr Doctor, sagte Luigi, wenn Sie wollen, gehen wir sofort an Land. Maria wird überdies meinetwegen sehr besorgt sein. Es sind nun bald achtundvierzig Stunden her, daß ich sie verlassen habe, um auf der Rhede von Melleah zu fischen, und sie glaubt vielleicht, daß mir bei dem Unwetter in dieser Nacht ein Unglück zugestoßen ist.

– Ihr liebt Eure Schwester sehr? fragte Doctor Antekirtt.

– Sie ist mir Mutter und Schwester zugleich,« erwiderte Luigi.

Gehört die hundert Kilometer von Sicilien gelegene Insel Malta zu Afrika oder zu Europa? Das ist eine Frage, deren Lösung die Geographen schon vielfach in Aufregung versetzt hat. Wie dem auch immer sei, nachdem sie von Karl V. den Johanniterrittern geschenkt worden war, die von Soliman aus Rhodus vertrieben wurden und hier den Namen Malteserritter annahmen, gehört sie jetzt den Engländern und es würde sehr schwer halten, sie diesen wieder zu nehmen.

Malta ist eine Insel, deren Länge achtundzwanzig, deren Breite sechzehn Kilometer beträgt. Ihre Hauptstadt bildet La Vallette und deren Ausläufer; es liegen noch andere Städte und Ortschaften auf der Insel, so Citta Vecchia – einer Art heiliger Stadt, die zur Zeit der Ritter der Sitz des Bischofs war – Bosquet, Dinghi, Zebug, Ita, Berkercara, Luca, Farrugi und so fort. Sehr fruchtbar in ihrem östlichen, sehr dürr in ihrem westlichen Theile, bietet sie einen auffallenden Contrast, der sich deutlich dadurch ausdrückt, daß die Bevölkerung – im Ganzen über einmalhunderttausend Seelen – im östlichen Theile viel dichter als am entgegengesetzten Ende sitzt.

Was die Natur für diese Insel dadurch gethan hat, daß sie in das Gestade vier bis fünf Häfen – die schönsten der Welt – eingelassen hat, spottet jeder Einbildungskraft. Ueberall Wasser, überall Landspitzen, Kaps und Anhöhen, die sich zur Aufnahme von Befestigungen und Batterien eignen. Hatten schon die Ritter die Insel zu einem schwer einnehmbaren Platz gemacht, um wie viel mehr erst die Engländer, welche sie trotz des Friedens von Amiens behielten und sie geradezu uneinnehmbar machten. Kein Panzerschiff, so scheint es, wäre im Stande, den Eingang zur Großen Marse oder großen Hafen, noch weniger zum Quarantaine-Hafen oder Marse Muscetto zu erzwingen. Vorausgesetzt, daß ein solches sich nähern könnte, so würde es jetzt Zweihunderttonnengeschütze vorfinden, die mit Hilfe ihrer hydraulischen Lade-und Zielvorrichtungen ein neunhundert Kilo schweres Geschoß fünfzehn Kilometer weit schleudern können. Dies den Mächten zur Nachricht, welche mit Bedauern diese herrliche Station in den Händen der Engländer sehen, die das centrale Mittelmeer beherrscht, innerhalb welcher sämmtliche Flotten oder Geschwader des vereinigten Königreiches Platz finden können.

Natürlich gibt es Engländer in Malta. Man findet dort einen Generalgouverneur, der in dem einstigen Palast des Großmeisters des Ordens wohnt, einen Admiral, der der Chef der Marine und der Häfen ist, eine Garnison von vier-bis fünftausend Mann; doch leben auch Italiener dort, die sich daselbst gern zu Hause fühlen möchten, ferner findet man eine kosmopolitische wandernde Bevölkerung vor, wie auf Gibraltar, und namentlich Malteser.

Die Malteser sind. Afrikaner. In den Häfen lenken sie ihre mit grellen Farben angestrichenen Barken; in den Straßen leiten sie ihre Fuhrwerke über Schwindel erregende Abhänge; auf den Märkten verkaufen sie Früchte, Hülsenfrüchte, Fleisch, Fische im Scheine einer kleinen, buntangestrichenen Heiligenlampe, inmitten eines betäubenden Lärms. Man könnte behaupten, daß alle diese Menschen sich gleichen mit ihrem schwarzbraunen Teint, ihren schwarzen, etwas krausen Haaren, ihren glühenden Augen und ihrer mittelgroßen, aber kräftigen Gestalt. Man möchte darauf schwören, daß die Frauen einer einzigen Familie entstammen; ihre langwimprigen Augen sind gleich groß, ihre Haare gleich dunkel, ihre Hände entzückend, ihre Füße zierlich, ihre Hüften schlank und geschmeidig, ihre Haut ist von einer Weiße, welche die Sonne unter der »Falzetta«, einer Art Mantel aus schwarzer Seide, nicht bräunen kann; dieser Mantel wird nach tunesischer Mode getragen, er ist allen Classen gemeinsam und dient zu gleicher Zeit als Haarschmuck, Mantille und selbst als Fächer.

Die Malteser besitzen kaufmännischen Sinn. Man trifft sie überall da, wo es etwas zu handeln gibt. Sie sind arbeitsam, ökonomisch, industriell, nüchtern, aber auch heftig, rachsüchtig, eifersüchtig, so weit man wenigstens vom niederen Volke schließen kann, das sich am meisten dem Studium des Beobachters darbietet. Sie sprechen eine Art von Patois, dem das Arabische zu Grunde liegt, ein Ueberbleibsel von der Eroberung, welche dem Niedergange des römischen Kaiserreiches folgte, eine lebhafte, bewegte, malerische Sprache, die sich vortrefflich zu Gleichnissen, Bildern, zur Poesie eignet. Die Malteser sind treffliche Seeleute, wenn man sie zu fesseln versteht, und kühne Fischer, welche die häufigen Stürme dieser Meere mit allen Gefahren vertraut gemacht haben.

Auf dieser Insel also übte Luigi sein Gewerbe jetzt mit derselben Kühnheit aus, als wenn er Malteser gewesen wäre, und hier wohnte er seit fast fünfzehn Jahren mit seiner Schwester Maria.

La Vallette und seine Ausläufer wurde oben gesagt. Die Stadt besteht nämlich thatsächlich aus wenigstens sechs Städten, die um die beiden Häfen der Großen Marse und den Quarantaine-Hafen herum liegen. Floriana, La Senglea, La Cospiqua, La Vittoriosa, La Sliema, La Misida sind keine Vororte, auch keine bloßen Anhäufungen von Häusern, welche arme Leute bewohnen, sondern wirkliche Städte, mit prächtigen Wohnungen, Hotels, Kirchen, die der Hauptstadt von fünfundzwanzigtausend Menschen zur Zierde gereichen, in welcher man Paläste bewundern kann, die sich »auberges de Provence, de Castille, d’Auvergne, d’Italie und de France« nennen.

Bruder und Schwester wohnten in La Vallette selbst. Es wäre vielleicht richtiger, zu sagen: unter La Vallette, denn sie bewohnten eine Art unterirdisches Quartier, genannt das Manderaggio, zu dem sich der Eingang in der Strada San Marco befindet. Dort hatten sie ein Unterkommen finden können, das ihren bescheidenen Einkünften entsprach, und hierhin führte Luigi den Doctor und Peter, sobald die Dampf-Yacht vor Anker gegangen war.

Alle drei stiegen am Quai aus, nachdem sie hunderte von Barken, die ihnen ihre Dienste anboten, hatten abweisen müssen. Sie durchschritten die Porta della Marina, halb betäubt von dem Spiel und Getön der Glocken, das sich wie klingende Luft über die Hauptstadt von Malta legt. Nachdem sie das Fort mit doppelten Kasematten passirt hatten, stiegen sie eine steile Rampe hinauf, sodann eine aus Stufen sich aufbauende schmale Straße. An den hohen Häusern mit grünlichem Vorbau und Nischen mit angezündeten Heiligenlampen vorüber gelangten sie zur Kathedrale vom heiligen Johannes, die inmitten der lärmendsten Bevölkerung der Erde gelegen ist.

Nachdem sie in der Nähe der Kathedrale den Rücken der Anhöhe erreicht, stiegen sie wieder hinunter und sie wendeten sich nunmehr dem Quarantaine-Hafen zu; dann in der Strada San Marco machten sie in halber Höhe des Abhanges vor einer Treppe Halt, die zur Rechten zu den tiefer gelegenen Theilen der Stadt hinabführt.

Das Manderaggio ist ein Stadttheil, der sich mit seinen engen Straßen, in welche die Sonne niemals hineindringt, und mit seinen hohen gelblichen Mauern, die unregelmäßig von tausenden theils vergitterten, theils offenen als Fenster dienenden Löchern durchsiebt sind, bis unter die Wälle hinzieht. Ueberall Wendeltreppen, die zu vollkommenen Cloaken hinabführen, niedrige, feuchte, schmutzige Thüren wie in den Häusern einer Kasbah, schluchtartige Laufgräben, dunkle Tunnels, die nicht einmal den Namen von Gäßchen verdienen. Und vor allen Oeffnungen und Luftlöchern, in den schief getretenen Hausfluren, auf den wackelnden Stufen eine entsetzliche Menschheit; alte Weiber mit Hexengesichtern, Mütter mit blutleerem Antlitz, deren Blutlosigkeit durch den Mangel an frischer Luft herbeigeführt wird, in Lumpen gehüllte Mädchen jeden Alters, kränklich aussehende, halbnackte Knaben, die sich im Schlamme wälzen, Bettler, welche ihre verschiedenen, goldene Früchte tragenden Entstellungen und Wunden zur Schau stellen, Männer, Lastträger oder Fischer mit wildem Aussehen, zu allen schlechten Thaten schnell bereit – und inmitten dieses Menschengewimmels einige phlegmatische Polizisten, welche sich an diese unglaubliche Gesellschaft schon gewöhnt haben und nicht nur mit diesem Schwarm vertraut, sondern auch verwandt sind. Ein vollkommener »Hof der Wunder«, doch sichtbar inmitten befremdlicher Bauwerke, deren letzte Verästelungen in vergitterte Kellerwohnungen enden, deren Mauern die Dicke von Vorhängen besitzen und die in gleicher Tiefe mit dem Quai des Quarantaine-Hafens liegen, der von der Sonne beschienen und von der Seebrise überhaucht wird.

In einem dieser Häuser und zwar im obersten Stockwerke wohnten Maria und Luigi Ferrato. Nur zwei Kammern nannten sie ihr Eigen. Der Doctor fühlte sich von der Armuth, aber auch von dem reinlichen Aussehen dieser Wohnung eigenthümlich berührt. Man erkannte hier überall die Hand der sorgsamen Haushälterin, die einst über das Haus des Fischers von Rovigno waltete.

Als der Doctor und Peter eintraten, erhob sich Maria schnell. Dann sich dem Bruder zuwendend, rief sie:

»Mein Kind!… Mein Luigi!«

Man begreift, welche Angst sie während des Sturmes in der vergangenen Nacht ausgestanden hatte.

Luigi umarmte die Schwester und stellte ihr seine Begleiter vor.

Der Doctor erzählte mit wenigen Worten, unter welchen Umständen Luigi sein Leben in die Schanze geschlagen hatte, um das dem Untergange geweihte Schiff zu retten und zu gleicher Zeit verwies er sie auf Peter, den Sohn Stephan Bathory’s. Während er sprach, betrachtete ihn Maria mit so großer Aufmerksamkeit, daß der Doctor einen Augenblick mit Recht befürchten konnte, sie hätte in ihm den Grafen Sandorf wiedererkannt. Doch war es nur ein flüchtiges Aufblitzen in ihren Augen gewesen, das bald wieder erlosch. Wie hätte sie ihn auch nach fünfzehn Jahren wiedererkennen sollen, ihn, der außerdem nur auf wenige Stunden der Gast ihres Vaters gewesen war.

Die Tochter von Andrea Ferrato war jetzt dreiunddreißig Jahre alt. Sie war immer noch schön zu nennen durch die Reinheit der Linien ihres Antlitzes und das Feuer ihrer großen Augen. Nur einige wenige weiße Haare, die sich in das schwarze Gelock ihres Hauptes mischten, besagten, daß sie mehr durch die Härten ihrer jetzigen Lebensweise als durch die lange Dauer derselben gelitten hatte. Das Alter war unschuldig an diesem frühzeitigen Weiß, welches seine Entstehung der Ueberanstrengung, den Sorgen und



An den hohen Häusern mit grünlichem Vorbau und Nischen vorüber…(S. 343.)


Schmerzen verdankte, die sie seit dem Tode des Fischers von Rovigno durchkostet hatte.

»Eure und Luigi’s Zukunft gehören von nun an uns, mit diesen Worten schloß der Doctor seine Erzählung. Sind meine Freunde nicht die Schuldner Andrea Ferrato’s geblieben? Ihr erlaubt also, Maria, daß sich Luigi von uns nicht mehr trennt?

– Mein Bruder hat in dieser Nacht nur gethan, was er thun mußte, meine Herren, antwortete Maria, und ich danke dem Himmel, daß er ihm diesen guten Gedanken eingegeben. Er ist der Sohn eines Mannes, der stets nur Eines gekannt hat, die Erfüllung seiner Pflicht.

– Und wir kennen ebenfalls nur Eines, erwiderte der Doctor, nämlich unser Recht, die Schuld der Erkenntlichkeit den Kindern desjenigen abzustatten…«

Er hielt inne. Maria betrachtete ihn von Neuem und dieser Blick drang ihm durch und durch. Er fürchtete zuviel gesagt zu haben.

»Ihr würdet Luigi gewiß nicht hindern, Maria, mein Bruder zu sein? fragte Peter Bathory.

– Und Ihr selbst habt doch gewiß nichts dagegen, Maria, wenn ich Euch zu meiner Tochter mache?« setzte der Doctor hinzu und reichte Jener die Hand.

Maria mußte nun ihr Leben seit ihrem Auszuge aus Rovigno schildern, wie ihr dort das Spioniren der österreichischen Agenten das Leben unerträglich machte, warum sie den Gedanken faßte, nach Malta zu übersiedeln, woselbst Luigi Gelegenheit fand, sich zum Seemann auszubilden und nebenbei das Gewerbe als Fischer zu betreiben, wie sie die vielen Jahre zugebracht hatten, in deren Verlauf sie gegen das Elend ankämpfen mußten, denn ihre schwachen Hilfsmittel waren nur zu bald erschöpft.

Doch Luigi wetteiferte an Kühnheit und Geschicklichkeit bald mit den Maltesern, deren Ruf ein äußerst guter ist. Ein vortrefflicher Schwimmer wie sie selbst, hätte er sich mit dem berühmten Nicolo Pesci messen können, aus La Valette gebürtig, der, wie man sagt, Depeschen von Neapel nach Palermo überbrachte, indem er das Aeolische Meer durchschwamm. Luigi besaß auch große Geschicklichkeit in der Jagd auf wilde Tauben und Gewittervögel, deren Nestern man bis in das Innere jener unermeßlichen Grotten nachgeht, welche die Brandung des Meeres so gefährlich macht. Ein kühner Fischer, hatte er sein Boot noch nie vor einem Windstoße geborgen, wenn es sich darum handelte, seine Netze oder Leinen auszuwerfen. Daher kam es auch, daß er in der vergangenen Nacht auf der Rhede von Melleah gerade Zuflucht gesucht hatte, als er die Signale der in Noth befindlichen Dampf-Yacht vernahm.

Doch in Malta herrscht ein so großer Ueberfluß an Seefischen, Seevögeln, Mollusken, daß ihr billiger Preis die Fischerei wenig ergiebig macht. Trotz seines Eifers hatte Luigi Mühe genug, den kleinen Haushalt mit dem Nöthigsten zu versorgen, wenngleich auch Maria ihm durch Anfertigung von Nähereien zu Hilfe kam. Daher hatte man, um das schon auf das Aeußerste beschränkte Budget nicht völlig zu belasten, eine Wohnung im Manderaggio nehmen müssen.

Während Maria ihre Geschichte erzählte, kehrte Luigi, der inzwischen in sein Zimmer gegangen war, mit einem Briefe in der Hand zu den Uebrigen zurück. Dieser enthielt die wenigen Zeilen, die Andrea Ferrato noch kurz vor seinem Tode geschrieben hatte:

»Maria, so lauteten sie, ich empfehle Dir Deinen Bruder! Er wird bald nur noch Dich auf Erden haben. Ich empfinde kein Bedauern über das, was ich gethan habe, liebe Kinder, vielleicht nur darüber, daß es mir nicht gelungen ist, durch Aufopferung meiner Freiheit und meines Lebens die zu retten, welche sich mir anvertraut hatten. Was ich gethan habe, würde ich gern nochmals thun. Vergeßt nie Euren Vater, der noch im Tode Euch seine letzten herzlichen Gefühle übermittelt. Andrea Ferrato.«

Peter Bathory war nicht im Stande, während der Verlesung dieses Briefes seine Betrübniß zu verbergen, während der Doctor Antekirtt den Kopf abwendete, um sein Gesicht den Blicken Maria’s zu entziehen.

»Luigi, sagte er dann mit absichtlicher Barschheit, Euer Boot ist heute Nacht durch den Anprall an meine Yacht in Stücke gegangen.

– Es war schon alt, Herr Doctor, erwiderte Luigi, und für jeden Anderen würde sein Verlust kein großer sein.

– Das mag sein, Luigi, doch müßt Ihr mir schon erlauben, es durch ein anderes zu ersetzen, und zwar durch das Schiff selbst, welches Ihr gerettet habt.

– Wie?

– Wollt Ihr zweiter Officier an Bord des »Ferrato« sein? Ich könnte einen jungen, thätigen Menschen und tüchtigen Seemann schon gebrauchen

– Nimm an, Luigi, nimm an! rief Peter.

– Aber meine Schwester?

– Eure Schwester wird zu der großen Familie gehören, die meine Insel Antekirtta bewohnt, antwortete der Doctor. Euer Leben gehört für die Folge mir, und ich werde Euch so glücklich machen, daß Eure Vergangenheit nichts Bedauerliches mehr für Euch haben wird, es müßte denn der Umstand sein, daß Ihr Euren Vater verloren habt.«

Luigi hatte sich stürmisch über die Hände des Doctors gebeugt, er drückte und küßte sie, während Maria ihre Erkenntlichkeit nur durch Thränen beweisen konnte.

»Ich erwarte Euch morgen an Bord,« sagte der Doctor.

Und schnell war er zur Thüre hinaus; es schien, als könnte er seine Bewegung nicht mehr meistern; Peter hatte er ein Zeichen gegeben, ihm zu folgen.

»Ah, sagte er zu ihm, es ist doch ein angenehmes Gefühl, wenn man belohnen kann.

– Ja, ein schöneres, als wenn man bestraft, meinte Peter.

– Und doch muß gestraft werden!«

Am nächsten Tage erwartete der Doctor Maria und Luigi an Bord seines Schiffes.

Kapitän Köstrik hatte inzwischen bereits seine Dispositionen dahin getroffen, daß die Beschädigungen, welche die Maschine der Dampf-Yacht erlitten, unverzüglich ausgebessert wurden. Dank der Beihilfe der Herren Samuel Grech und Compagnie, Schiffsagenten der Strada Levante, denen das Schiff consignirt worden war, gingen die Arbeiten schnell von Statten. Sie sollten trotzdem fünf bis sechs Tage in Anspruch nehmen, denn die Luftpumpe und der Condensator mußten vollständig auseinandergenommen werden, weil einige Röhren ungenügend functionirten. Dieser Verzug kam dem Doctor Antekirtt höchst ungelegen, denn es verlangte ihn sehnlichst, die sicilische Küste zu erreichen. Er hatte sogar eine Zeit lang die Absicht, den Schooner »Savarena« nach Malta kommen zu lassen, doch ließ er den Plan wieder fallen. Es schien ihm richtiger, sich lieber noch einige Tage zu gedulden und dann mit einem tüchtigen und gut bewaffneten Schiffe nach Sicilien zu fahren.

Vorsichtshalber und für den Fall, daß nicht vorherzusehende Zwischenfälle eintreten sollten, wurde eine Depesche mittelst des unterseeischen Kabels, welches Malta mit Antekirtta verbindet, nach der letzteren Insel befördert. Der Inhalt dieser Depesche ertheilte dem »Electric 2« den Befehl, unverzüglich an der Küste von Sicilien, in den Gewässern bei Kap Portio di Palo, zu kreuzen.

Gegen neun Uhr Früh brachte ein Boot Maria Ferrato mit ihrem Bruder an Bord. Beide wurden von dem Doctor mit den Ausdrücken der herzlichsten Freude empfangen.

Luigi wurde dem Kapitän, den Quartiermeistern und der Mannschaft als zweiter Officier vorgestellt. Der Lieutenant, der bis dahin diese Stellung bekleidet hatte, sollte auf den »Electric 2« übergehen, sobald man diesen vor der südlichen Küste Siciliens angetroffen haben würde.

Wenn man Luigi betrachtete, so gab es keine Täuschung; er war ein vollkommener Seemann. Seinen Muth, seine Kühnheit kannte man; sechsunddreißig Stunden vorher hatte er sie auf der Rhede von Melleah gezeigt. Er wurde willkommen geheißen. Sein Freund Peter und Kapitän Köstrik erwiesen ihm die Honneurs beim Ansehen des Schiffes, denn er wünschte es in allen seinen Einzelheiten kennen zu lernen. Während dieser Zeit unterhielt sich der Doctor mit Maria; er sprach mit ihr von dem Bruder in Ausdrücken, die sie tief ergreifen mußten.

»Ja, er ist der ganze Vater,« sagte sie.

Der Doctor ließ ihr die Wahl, an Bord zu bleiben, bis die geplante Expedition zu Ende geführt sein würde, oder direct nach Antekirtta zurückzukehren, wohin sie sicher geleitet werden sollte. Maria bat ihn, auf dem Schiffe die Fahrt nach Sicilien mitmachen zu dürfen. Es wurde deshalb verabredet, daß sie den Aufenthalt, den der »Ferrato« in La Vallete nehmen mußte, dazu benutzen sollte, ihre Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, ihre kleinen Habseligkeiten zu verkaufen, die kaum den Werth von Andenken für sie besaßen, kurz das flüssig zu machen, was sie besaß, so zwar, daß sie sich am Tage vor der Abfahrt in der für sie eingerichteten Cabine häuslich niederlassen konnte.

Der Doctor hatte Maria darüber nicht im Unklaren gelassen, welches seine Pläne waren, die er bis zu ihrer völligen Erfüllung verfolgen wollte. Ein Theil seines Vorhabens hatte sich nun schon dadurch verwirklicht, daß er sich über die Zukunft der Kinder von Andrea Ferrato keine Sorgen mehr zu machen brauchte. Jetzt galt es noch, einerseits Silas Toronthal und Sarcany ausfindig zu machen, sodann sich Carpena’s zu bemächtigen; Beides mußte geschehen. Die Spuren der beiden Ersteren mußten, so rechnete man, in Sicilien wiederaufgefunden werden. Nach dem Dritten sollte dann weiter geforscht werden.

Maria bat darauf den Doctor, ihn unter vier Augen sprechen zu dürfen.

»Ich wollte Ihnen etwas mittheilen, sagte sie zu ihm, was ich bis heute meinem Bruder verbergen zu müssen glaubte. Er hätte sich jedenfalls nicht halten können, wenn er erfahren hätte, was ich weiß, und neues Unglück würde über uns hereingebrochen sein.

– Luigi besichtigt jetzt gerade die Cabinen der Mannschaft, erwiderte der Doctor. Wir wollen in den Salon hinuntergehen, Maria; dort könnt Ihr ohne Besorgniß gehört zu werden sprechen.«

Als sich die Thür des Salons hinter ihnen geschlossen hatte, nahmen Beide auf einem Divan Platz und Maria sagte:

»Carpena befindet sich hier, Herr Doctor!

– Auf Malta?

– Ja, seit wenigen Tagen.

– In La Vallette?

– Sogar im Manderaggio, wo wir wohnen.«

Der Doctor war sehr überrascht und befriedigt zugleich von dem soeben Gehörten. Dann fragte er:

»Täuscht Ihr Euch auch nicht, Maria?

– Nein, ich täusche mich nicht. Die Gestalt dieses Menschen haftet zu genau in meinem Gedächtnisse. Ich würde ihn noch nach hundert Jahren mit unfehlbarer Sicherheit wiedererkennen… Er ist hier.

– Luigi weiß es nicht?

– Nein, Herr Doctor, und Sie werden begreifen, warum ich meine Entdeckung vor ihm verheimlicht habe. Er würde diesen Carpena aufgesucht, ihn gereizt haben, vielleicht…

– Ihr habt vollständig richtig gehandelt, Maria. Mir allein gehört dieser Mann. Glaubt Ihr, daß er Euch wiedererkannt hat?

– Ich weiß es nicht, Herr Doctor. Zwei oder dreimal traf ich ihn in den Straßen des Manderaggio; er drehte sich stets mit einer mißtrauischen Aufmerksamkeit nach mir um. Wenn er mir nachgegangen ist, wenn er nach meinem Namen gefragt hat, so muß er auch wissen, wer ich bin.

– Er hat Euch nie angesprochen?

– Niemals.

– Und wißt Ihr vielleicht auch, warum er nach La Vallette gekommen ist, Maria, was er hier thut?

– Alles was ich sagen kann, ist, daß er inmitten der verworfensten Bevölkerung des Manderaggio lebt. Er verläßt kaum die verdächtigsten Wirthshäuser und sacht dort die verwegensten Banditen auf. Da er stets bei Gelde zu sein scheint, so glaube ich, daß er sich damit beschäftigt, die ihm ebenbürtigen Spitzbuben zum Eintritt in eine Verbrecherbande zu verleiten.

– Hier?

– Ich weiß es leider nicht, Herr Doctor.

– Ich werde es schon erfahren.«

Peter betrat jetzt gerade den Salon, ihm folgte der junge Fischer. Die Unterredung war also zu Ende.

»Nun, seid Ihr befriedigt von dem, was Ihr gesehen habt, Luigi? fragte Doctor Antekirtt.

– Der »Ferrato« ist ein Prachtschiff! erwiderte Luigi.

– Ich freue mich, daß er Euch gefällt, Luigi, entgegnete der Doctor, denn Ihr sollt mein zweiter Officier nur so lange bleiben, bis es die Umstände erlauben werden, Euch zum Kapitän zu machen.

– O, Herr Doctor!…

– Lieber Luigi, meinte Peter, denke daran, daß, wenn der Doctor etwas sagt, es auch sicher geschieht.

– Gewiß geschieht es, Peter, aber sage lieber mit Gottes Hilfe.«

Maria und Luigi verabschiedeten sich vom Doctor und von Peter, um in ihre kleine Behausung zurückzukehren. Es wurde verabredet, daß Luigi seinen Dienst erst nach der Installirung seiner Schwester an Bord antreten sollte. Maria’ sollte deshalb nicht allein im Manderaggio zurückbleiben, so wollte es der Doctor, weil es doch möglich war, daß Carpena in ihr die Tochter von Andrea Ferrato wiedererkannt hatte.

Als Bruder und Schwester gegangen waren, ließ der Doctor Pointe Pescade kommen, mit dem er in Gegenwart Peter Bathory’s sprechen wollte.

Pointe Pescade kam sofort und nahm die Haltung an, wie sie ein Mann bewahrt, der bereit ist, einen Auftrag entgegenzunehmen und ihn auch auszuführen.

»Ich bedarf Deiner, Pointe Pescade, sagte der Doctor zu ihm.

– Meiner und Kap Matifu’s?

– Vorläufig Deiner allein.

– Was soll ich thun?

– Du gehst sofort an Land und begibst Dich in das Manderaggio, das ist eines der unter La Vallette gelegenen Stadtviertel; dort miethest Du Dir irgend eine Wohnung, ein Zimmer oder eine Kammer, und zwar in der gewöhnlichsten Herberge.

– Verstanden.

– Von dort hast Du die Thätigkeit eines Mannes zu überwachen, der mir – die Sache ist sehr wichtig – nicht mehr entschwinden darf. Doch kein Mensch soll ahnen, daß wir uns kennen. Wenn es nöthig ist, verkleidest Du Dich.

– Das ist mein Fall.

– Dieser Mann soll, so hat man mir erzählt, fuhr der Doctor fort, die verwegensten Schurken des Manderaggio für baares Geld anwerben. Für wessen Rechnung oder zu welchem Zwecke er es thut, weiß man nicht. Du sollst dieses nun so schnell als möglich ausfindig machen.

– Ich werde es erfahren.

– Wenn Du erst weißt, woran Du Dich zu halten hast, so kehre nicht an Bord zurück, weil man Dir vielleicht nachgeht. Begnüge Dich damit, mir mit der Post in La Vallette ein Wort zu schreiben und gib mir ein Rendezvous am Abend am äußersten Ende der Vorstadt La Senglea. Dort wirst Du mich finden.

– Einverstanden, antwortete Pointe Pescade. Doch woran werde ich diesen Mann erkennen?

– Das wird Dir nicht schwer fallen. Du bist einsichtsvoll, mein Freund, ich rechne auf Deine Intelligenz.

– Kann ich wenigstens den Namen dieses Gentlemans erfahren?

– Er heißt Carpena.«

Kaum vernahm Peter diesen Namen, so rief er laut:

»Wie? Dieser Spanier ist hier?

– Ja! erwiderte Doctor Antekirtt; er wohnt in demselben Stadttheile, in welchem wir die Kinder von Andrea Ferrato wiedergefunden haben, den er in das Gefängniß und in den Tod geschickt hat.«

Der Doctor erzählte Alles, was Maria gesagt hatte. Pointe Pescade begriff nun auch, wie dringend nothwendig es war, Einsicht in das Spiel dieses Spaniers zu gewinnen, der ganz gewiß in diesen Diebeshöhlen von La Vallette an irgend einem Werke der Finsterniß mitarbeitete.

Eine Stunde später verließ Pointe Pescade die Yacht. Um jede Spionage zu vereiteln, im Falle er verfolgt wurde, begann er die lange Strada Reale entlang zu schlendern, welche vom Fort Sanct Elmo bis zur Floriana führt. Als der Abend anbrach, wandte er sich dem Manderaggio zu.

Um eine Bande von Schuften zusammenzustellen, die schon von Natur aus zum Morde wie zum Raube neigten, konnte man in der That keinen geeigneteren Ort finden, als diese unterirdische Stadt. Es gab dort zweifellos Leute aus aller Herren Länder, schuftige Kerle aus dem Morgen-und Abendlande, Flüchtlinge von Handelsschiffen und Deserteure der Kriegsmarine, vor Allem aber Malteser aus der Hefe des Volkes, verrufene Halsabschneider, die in ihren Adern noch das Piratenblut haben, welches ihre Ahnen zur Zeit der Barbaresken-Raubzüge so furchtbar machte.

Carpena, beauftragt, eine Handvoll entschlossener Burschen – zu Allem entschlossener – ausfindig zu machen, konnte dort in keine Verlegenheit der Auswahl wegen kommen. Er verließ seit seiner Ankunft kaum die Schänken der am tiefsten gelegenen Straßen des Manderaggio, wo seine Kundschaft ihn zu finden wußte. Pointe Pescade hatte daher so gut wie keine Mühe, seinen Mann ausfindig zu machen; das Schwierige bei der Sache war lediglich, herauszubekommen, für wessen Rechnung der Spanier mit dem Gelde in der Hand operirte.



Während dieser Zeit unterhielt sich der Doctor mit Maria. (S. 349.)


Das Geld gehörte augenscheinlich nicht ihm selbst. Die Prämie von fünftausend Gulden, die er sich nach den Vorfällen in Rovigno erschachert hatte, war schon längst verzehrt worden. Carpena war durch die öffentliche Meinung aus Istrien, aus allen Salinen an der Küste gejagt worden; er hatte sich daher entschlossen, ziellos durch die Welt zu streifen. Sein Geld zerfloß pfeilschnell; war er schon vor jener Heldenthat ein elender Kerl, so sank er jetzt noch tiefer.

Es wird also Niemand Wunder nehmen, ihn jetzt im Dienste einer großen Räuberbande zu erblicken, für welche er eine Anzahl Schufte anwarb, welche die durch den Strick der Gerechtigkeit leer gewordenen Plätze wieder ausfüllen sollten. Zu diesem Zwecke war er nach Malta, und besonders in den Stadttheil Manderaggio gekommen

Wohin Carpena seine Bande führen wollte, hütete er sich wohl zu sagen, denn er war seinen neu angeworbenen Genossen gegenüber sehr mißtrauisch. Denen war es übrigens gleichgiltig, ob sie es wußten oder nicht. Vorausgesetzt, daß man sie baar bezahlte, vorausgesetzt, daß man sie in eine an Diebstählen und Räubereien reiche Zukunft blicken ließ, wären sie bis aus Ende der Welt gegangen.

Es muß hier angemerkt werden, daß Carpena nicht wenig überrascht war als er Maria in den Straßen des Manderaggio wiederfand. Trotzdem er sie fünfzehn Jahre hindurch nicht gesehen, hatte er sie auf der Stelle wiedererkannt, wie es auch bei ihr der Fall gewesen war. Er fühlte sich übrigens sehr mißgestimmt darüber, daß sie wahrscheinlich unterrichtet war von dem, was er in La Vallette zu thun beabsichtigte.

Pointe Pescade mußte also sehr schlau zu Werke gehen, um das zu erfahren, woran dem Doctor sehr viel lag und was der Spanier sorgsam hütete. Carpena wurde trotzdem bald von Jenem hinter’s Licht geführt. Wie hätte ihm auch dieser frühreife junge Bandit entgehen sollen, der sich so eng an seine Person anschloß, sich in sein Vertrauen drängte, der ihn von allen Kanaillen im Manderaggio am Besten zu nehmen wußte, der sich brüstete, schon einen Actenstoß auf seine Rechnung angehäuft zu haben, dessen kleinste Seite ihm den Strick auf Malta, die Guillotine in Italien, die Garotte in Spanien einbringen mußte, der die tiefste Mißachtung vor allen den Memmen des Viertels zur Schau trug, welchen beim Anblick eines Polizisten schon schlimm wurde, kurz ein prächtiger Bursche! Carpena, der sich in dieser Gattung Menschen sehr bewandert wußte, mußte ihn zu schätzen wissen.

Aus dieser so geschickt gespielten Rolle erwuchs denn auch das Resultat, daß Pointe Pescade sein Ziel erreichte. Am Morgen des 26. August empfing Doctor Antekirtt eine Zeile, die ihm ein Rendezvous für denselben Abend am äußersten Ende der Senglea gab.

Während der letzten Tage waren die Arbeiten an Bord des »Ferrato« emsig gefördert worden. In drei Tagen längstens waren die Reparaturen beendet, Kohlen eingenommen, das Schiff konnte wieder in See stechen.

Am Abend begab sich der Doctor an den von Pointe Pescade bezeichneten Ort. Es war ein kleiner Arkadenplatz, nahe dem Rundengange, in der äußersten Vorstadt.

Es schlug acht Uhr. An fünfzig Personen wohl bewegten sich noch auf dem Platze, denn es wurde hier ein Markt abgehalten, der noch nicht geschlossen war.

Doctor Antekirtt spazierte zwischen den Leuten umher, Männern und Frauen; sie waren fast Alle Einheimische. Plötzlich fühlte er, daß eine Hand sich auf seinen Arm legte.

Ein gemeiner Schnapphahn in schmutzige Lumpen gekleidet und mit einem alten zerknüllten Hute bedeckt, bot ihm ein Taschentuch an mit den Worten:

»Ich habe das Ding da soeben Eurer Excellenz gestohlen. Ein anderes Mal geben Excellenz besser Acht auf Ihre Taschen.«

Pointe Pescade war’s, den man in seiner angelegten Verkleidung nicht wiedererkannte.

»Ein schlechter Spaß, sagte der Doctor.

– Ein Spaß ist es, allerdings, aber ein schlechter nicht, Herr Doctor!«

Dieser erkannte jetzt Pointe Pescade und konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Dann, ohne jeden Uebergang, fragte er hastig nach Carpena.

»Er arbeitet in der That an der Anwerbung einer Handvoll der ausgefeimtesten Schurken des Manderaggio.

– Für wen?

– Für Rechnung eines gewissen Zirone.«

Des Sicilianers Zirone, des Genossen von Sarcany? Welche Verbindung konnte zwischen diesem Elenden und Carpena bestehen?

Als der Doctor genauer darüber nachdachte, fand er auch eine Erklärung für dieses merkwürdige Zusammentreffen und er täuschte sich in seinen Schlüssen nicht.

Der Verrath des Spaniers, der die Festnahme der Flüchtlinge aus dem Thurme von Pisino zur Folge hatte, konnte Sarcany nicht verborgen geblieben sein. Dieser hatte Carpena zweifellos aufsuchen lassen und ihn in den jämmerlichsten Verhältnissen gefunden. Er hatte deshalb nicht gezaudert, ihn zu einem der Agenten Zirone’s zu machen, deren Dienste dieser im Interesse seiner Genossenschaft beanspruchte. Carpena bildete also die erste Etappe auf der Spur, welche der Doctor nun nicht mehr im Dunkeln zu verfolgen brauchte.

»Weißt Du, zu welchem Zwecke diese Anwerbung geschieht? fragte er Pointe Pescade.

– Für eine Bande, die auf Sicilien thätig ist.

– Auf Sicilien? Ja, ja!… Es stimmt!… Und wo dort?

– In den östlichen Provinzen, zwischen Syrakus und Catania.«

Der Ausgangspunkt des Unternehmens war endlich gefunden.

»Wie gelang es Dir, das zu erfahren?

– Von Carpena selbst, der mir seine Freundschaft angetragen hat und den ich Eurer Excellenz empfehle.«

Ein Nicken mit dem Kopfe bildete die ganze Antwort des Doctors.

»Du kannst jetzt an Bord zurückkehren, sagte er, und Dir ein anständigeres Gewand anlegen.

– Noch nicht, denn dieses gefällt mir gerade.

– Wieso?

– Weil ich die Ehre habe, Bandit in der Truppe des vorgenannten Zirone zu sein.

– Nimm Dich in Acht, mein Freund. Du wagst bei diesem Spiele Dein Leben…

– In Ihren Diensten, Herr Doctor, sagte Pointe Pescade, und Ihnen schulde ich es.

– Braver Junge!

– Ich bin übrigens so ein kleiner Spitzbube, ohne mir zu schmeicheln, und ich will jene Kerle sämmtlich in meinem Sack voll Bosheit verschwinden lassen.«

Der Doctor sah ein, daß unter diesen Umständen die Beihilfe Pointe Pescade’s seinem Vorhaben sehr nützen könnte. Dadurch, daß Pointe Pescade die Rolle eines Bösewichtes spielte, hatte er sich das Vertrauen von Carpena zu erwerben gewußt, er kannte sogar jetzt dessen Geheimnisse, es war also gut, ihn nach Gutdünken handeln zu lassen.

Nach weiteren fünf Minuten war die Unterredung zu Ende; der Doctor und Pointe Pescade trennten sich, um nicht zusammen gesehen zu werden. Pointe Pescade ging an den Quais der Senglea entlang, nahm im großen Hafen ein Boot und kehrte auf diesem Wege in das Manderaggio zurück.

Ehe er dort wieder eintraf, war der Doctor schon auf seine Dampf-Yacht zurückgekehrt. Dort erzählte er Peter, was sich zugetragen. Er glaubte zugleich es vor Kap Matifu nicht verheimlichen zu dürfen, daß Pointe Pescade sich zum allgemeinen Wohle in ein äußerst gefährliches Unternehmen eingelassen hatte.

Der Hercules hob den Kopf auf und öffnete und schloß dreimal seine riesigen Hände. Dann sagte er wiederholt, wie zu sich selbst:

»Wehe, wenn ihm nur ein Haar auf dem Kopfe fehlt, nur ein Haar…«

Die letzten Worte besagten mehr als Alles, was Kap Matifu hätte reden können, wenn er überhaupt das Talent gehabt hätte, viel Redensarten zu machen.

Sechstes Capitel. In den Umgebungen von Catania.

Wenn ein Mensch beauftragt gewesen wäre, den Erdglobus herzustellen, so würde er ihn zweifellos in einem Zuge hergestellt, er würde ihn auf mechanischem Wege bereitet haben, wie eine Billardkugel, ohne auf ihm eine Unebenheit oder eine Runzel zurückzulassen. Allein der Schöpfer war es, der das Werk unternommen. Daher fehlen auf der sicilianischen Küste, zwischen Aci-Reale und Catania, Kaps, Klippen, Höhlen, Felskegel und Gebirge nicht dem unvergleichlichen Gestade.

In diesem Theile des tyrrhenischen Meeres beginnt die Meerenge von Messina, deren gegenüberliegendes Ufer von den Ketten der calabrischen Gebirge eingerahmt wird. Wie diese Meerenge, diese Küste, diese Berge, welche der Aetna überragt, zu den Zeiten des Homer gewesen sind, so sind sie es noch heute – herrlich! Wenn auch der Wald, in welchem Aeneas den Achemeniden fand, verschwunden ist, so sind doch die Grotte der Galathea, die des Polyphemos, die Inseln der Cyklopen, und etwas nördlicher die Felsen der Scylla und Charybdis auf ihren geschichtlichen Plätzen geblieben und man kann sogar noch auf derselben Stelle festen Fuß fassen, wo der troische Held aus Land stieg, als er sich anschickte, ein neues Reich zu gründen.

Daß der Riese Polyphemos Heldenthaten ausführte, welche der Hercules Kap Matifu nicht zu Stande gebracht haben würde, muß billigerweise anerkannt werden. Dafür hatte aber Kap Matifu den Vorzug, noch am Leben zu sein, während Polyphemos schon mindestens dreitausend Jahre todt ist – wenn er überhaupt jemals gelebt hat, obgleich es Odysseus behauptet. Elisée Reclus hat die höchst wahrscheinlich klingende Behauptung aufgestellt, daß mit diesem Cyklop Niemand anderes als der Aetna selbst gemeint ist, »dessen Krater während der Ausbrüche wie ein ungeheures offenes Auge auf der Spitze des Berges glänzt und der von der höchsten Stelle der Abhänge Steinstücke schleudert, die Inselchen werden und zu Klippen, wie die Farraglioni.«

Diese Faraglioni, die einige hundert Meter vor der Küste und der Straße nach Catania liegen, welch’ letztere jetzt von der von Syrakus nach Messina führenden Eisenbahn doublirt wird, sind die einstigen Cyklopeninseln. Die Höhle des Polyphemos liegt nicht weit von ihnen ab, und längs dieser ganzen Küste ist dieses betäubende Getöse der Wellen vernehmbar, welches das Meer innerhalb der Basalthöhlen hervorbringt.

Genau inmitten dieser Felsen plauderten am Abend des 29. August zwei Männer miteinander, die nicht danach aussahen, als fragten sie viel nach dem Reize geschichtlicher Erinnerungen; denn sie sprachen von Dingen, die zu vernehmen den Gendarmen Siciliens nicht gerade unlieb gewesen wäre.

Der eine dieser Männer, der einige Zeit bereits auf die Ankunft des Zweiten gewartet hatte, war Zirone. Der Andere, der auf der Straße von Catania aufgetaucht, war Carpena.

»Endlich bist Du da, fuhr ihn Zirone an. Du hast sehr gezögert. Ich glaubte wahrhaftig schon, Malta wäre, wie einst ihre Nachbarin, die Insel Julia, verschwunden und Du hättest bereits den Thunfischen und den Bonits auf dem herrlichen Grunde des Mittelmeeres als Pastete gedient.«

Man sieht, trotzdem fünfzehn Jahre über den Scheitel des Genossen von Sarcany dahingezogen waren, hatte sich seine Schwatzhaftigkeit der langen Zeit zum Trotze doch nicht vermindert, ebenso wenig wie seine ihm angeborene Frechheit. Mit dem Hut auf dem Ohre, einer bräunlichen Kapuze, die ihm um die Schulter hieng, mit bis zum Knie verschnürten Fußschienen hatte er ganz das Aussehen dessen, was zu sein er nie aufgehört hatte – eines Banditen.

»Es war mir unmöglich, früher zurückzukehren, erwiderte Carpena, erst heute Früh hat mich das Packetboot in Catania gelandet.

– Dich und Deine Leute?

– Ja.

– Wie viele bringst Du mit?

– Ein Dutzend.

– Nur?

– Ja, aber tüchtige Leute.

– Aus dem Manderaggio?

– Nur theilweise, aber namentlich Malteser.

– Gute Recruten also und doch sind ihrer nicht genug, denn seit einigen Monaten ist der Dienst hart und kostspielig geworden, sagte Zirone. Man möchte meinen, daß die Gensdarmen auf Sicilien jetzt aus dem Boden sprießen. Das hilft nun aber nichts. Wenn Deine Waare wirklich von guter Qualität ist…

– Ich glaube es, Zirone, erwiderte Carpena, und Du wirst nach dem ersten Versuche, den Du machst, darüber am besten urtheilen können. Ich bringe übrigens einen netten Kerl mit, einen früheren Meßbudenakrobaten, einen geschickten und anstelligen Menschen, aus dem man unter Umständen leicht ein Mädchen machen kann; ich denke, er wird uns große Dienste leisten.

– Was that er auf Malta?

– Er stahl Uhren, wenn sich ihm Gelegenheit darbot, Taschentücher, wenn er keine Uhren bekommen konnte.

– Er heißt?

– Pescador.



Catania.


– Schön, meinte Zirone. Man wird sich seine Talente und seine Einsicht zu Nutze machen. Wo hast Du die ganze Bande gelassen?

– In der Herberge von Santa Grotta, oberhalb von Nicolosi.

– Du wirst doch Deine Functionen als Herbergsvater wieder aufnehmen?

– Von morgen an.

– Nein, heute Abend noch, erwiderte Zirone, da ich neue Verhaltungsbefehle empfangen habe. Ich warte hier auf die Vorbeifahrt des Zuges von Messina. Durch eine Thür des letzten Waggons soll mir ein Zeichen gegeben werden.

– Ein Zeichen… von ihm?

– Ja… von ihm!… Dadurch, daß er mit seiner Heirat noch immer Pech gehabt hat, zwingt er mich zu arbeiten, damit er leben kann. Pah! Was würde man für einen so tapferen Kumpan nicht noch thun?«

Ein fernes Rollen, das sich von dem Gebrüll der Wogen deutlich abhob, ließ sich von der Seite Catanias her jetzt vernehmen. Es rührte von dem Eisenbahnzuge her, den Zirone erwartete. Carpena und er stiegen die Felsen hinauf, in wenigen Augenblicken gelangten sie an den Weg, dessen Ausgänge kein Sicherheitszaun versperrte.

Zwei Pfiffe, welche bei der Einfahrt in einen kleinen Tunnel von der Locomotive ausgestoßen wurden, zeigten die Annäherung des Zuges an, der mit einer nur mäßigen Geschwindigkeit herannahte; bald drückte sich das Schnauben der Locomotive deutlicher aus, ihre Laternen durchbohrten mit ihren großen weißen Lichtreflexen die Finsterniß und die Schienen erglänzten auf eine weite Strecke schon im Voraus. Zirone verfolgte mit aufmerksamen Blicken den Zug, der nur drei Schritte weit entfernt an ihm vorüberrollte.



Dort zündete Zirone eine kleine Laterne an… (S. 362.)


Kurz bevor der letzte Wagen sich auf gleicher Höhe mit ihm befand, wurde eine Waggonscheibe heruntergelassen und eine Frau streckte den Kopf zum Fenster hinaus. Sobald sie den Sicilianer auf seinem Posten gesehen hatte, warf sie flink eine Orange aus dem Wagen, die auf den Weg rollte, auf dem Zirone stand und wenige Schritte vor ihm liegen blieb.

Diese Frau war Namir, die Spionin Sarcany’s. Einige Augenblicke später war sie mit dem Zuge in der Richtung nach Aci-Reale verschwunden.

Zirone machte sich daran, die Orange aufzuheben oder vielmehr die beiden Hälften einer Orangenschale, welche durch eine Nadel zusammengehalten wurden. Der Spanier und er gingen dann den Weg wieder zurück und verbargen sich hinter einem hohen Felsen. Dort zündete Zirone eine kleine Laterne an, nahm die beiden Hälften der Orange auseinander und enthüllte dadurch einen Zettel, auf dem folgende Benachrichtigung stand:

»Er hofft Euch in fünf bis sechs Tagen in Nicolosi anzutreffen. Mißtrauet namentlich einem gewissen Doctor Antekirtt!«

Sarcany hatte jedenfalls in Ragusa vernommen, daß diese geheimnißvolle Persönlichkeit, mit der sich die öffentliche Neugierde so lebhaft beschäftigte, zwei oder dreimal im Hause der Frau Bathory empfangen wurde. Daher stammte bei diesem, gewohnheitsmäßig Allem und Allen gegenüber mißtrauischen Menschen eine bestimmte Unruhe. Daher auch diese Benachrichtigung, welche er mit Umgehung der Post und durch Vermittlung von Namir seinem Genossen Zirone zukommen ließ.

Dieser steckte das Billet in die Tasche und löschte seine Laterne aus. Er wandte sich darauf an Carpena und fragte ihn:

»Hast Du schon jemals von einem Doctor Antekirtt sprechen gehört?

– Nein, antwortete dieser, doch kennt ihn vielleicht der kleine Pescador. Dieser schmucke Junge weiß Alles.

– Wir werden sehen, gab Zirone zurück. Sage, Carpena, wir haben doch keine Furcht, in der Nacht zu marschiren, he?

Weniger Furcht, als wenn wir am Tage marschieren müssen, Zirone.

– Richtig…. Am Tage stößt man auf die geschwätzigen Gensdarmen. Vorwärts also! Ehe drei Stunden um sind, müssen wir in dem Wirthshause von Santa Grotta sein.«

Beide überschritten den Bahndamm und lenkten in die Zirone wohlbekannten Fußpfade ein, die sich nach den Abhängen des Aetna hin über das Terrain secundärer Formation ziehen.

Vor achtzehn Jahren existirte in Sicilien, namentlich in Palermo, der Hauptstadt, eine furchtbare Verbrecherbande. Unter einander durch eine Art Freimaurergesetze verbunden, zählte sie mehrere tausende Anhänger. Diebstahl und Betrug mit Hilfe aller nur möglichen Mittel auszuführen, das war der Zweck dieser Genossenschaft der Maffia, der eine große Anzahl von Kaufleuten und Industriellen buchstäblich einen jährlichen Tribut zahlten, damit sie ihrem Gewerbe oder Handel ungestört und unbelästigt nachgehen konnten.

Damals befanden sich Sarcany und Zirone – und zwar vor der Verschwörungsgeschichte in Triest – unter den hervorragendsten Theilnehmern der Maffia, und auch nicht gerade unter den Unthätigsten.

Doch mit dem Vorwärtsschreiten aller Dinge, mit der besseren Verwaltung der Städte, wenn auch nicht der Landbezirke, begann diese Verbrüderung in ihrem Geschäftsbetriebe behindert zu werden. Die Abgaben und die Frohnleistungen verminderten sich. Auch trennte sich eine überwiegende Anzahl von Theilnehmern von den Anderen, die in der Räuberei ein lucrativeres Geschäft sahen.

Zu jener Zeit änderte sich auch gerade das politische Regime Italiens in Folge der vollzogenen Einigkeit. Sicilien mußte, wie die anderen Provinzen, ebenfalls dem gemeinsamen Schicksale sich fügen, sich den neuen Gesetzen unterwerfen und namentlich dem Joche der Conscription. Diese neue Ordnung der Dinge schuf Rebellen, die sich den Gesetzen nicht anbequemen wollten, und Ungehorsame, die sich weigerten zu dienen – Leute ohne Gewissensbisse, Massier oder Andere, deren Banden das Land ausplünderten.

Zirone stand an der Spitze einer dieser Banden, und als der von Sarcany für den Preis der Angeberei erworbene Antheil an den Gütern des Grafen Sandorf aufgezehrt worden war, nahmen Beide ihr altes Leben wieder auf, in der Erwartung, daß eine gewichtige Unternehmung ihr Vermögen wiederherstellen würde.

Die Gelegenheit hierzu hatte sich gezeigt: es war die Verheiratung Sarcany’s mit der Tochter von Silas Toronthal. Man weiß, wie erfolglos Sarcany’s Schritte in dieser Hinsicht bis dahin waren, und warum.

Dieses Sicilien ist ein dem Räuberwesen merkwürdig günstiges Land selbst bis auf den heutigen Tag. Was bietet die alte Trinakria nicht Alles innerhalb eines Umkreises von siebenhundertundzwanzig Kilometern und zwischen den drei vorspringenden Spitzen dieses Triangels, im Nordosten Kap Faro, im Westen Kap Marsala, im Südosten Kap Pessaro? Gebirgszüge wie die Peloren und Nebroden, eine selbständige Gruppe vulkanischer Berge, den Aetna, Wasserläufe wie die Giarella, Cantara, den Platani, Strudel, Thäler, Ebenen, Städte, die mit einander kaum in Verbindung stehen, Flecken, die höchst unbequeme Zugänge haben, Ortschaften, die auf kaum zugänglichen Höhen angelegt sind, Klöster in den Schluchten und auf den Abhängen der Berge, endlich eine große Menge von Zufluchtsorten, in welche ein Rückzug sich stets bewerkstelligen läßt, und unzählige Buchten, welche tausend Gelegenheiten zur Flucht auf das offene Meer bieten. Kurz, dieses Stückchen sicilischer Erde ist ein vollkommener Abklatsch des ganzen Erdglobus, weil sich in ihm Alles zusammenfindet, woraus die Erdkugel besteht: Berge, Vulcane, Thäler, Ebenen, Flüsse, Bäche, Seen, Strudel, Städte, Dörfer, Rheden, Häfen, Buchten, Vorgebirge, Kaps, Klippen und Brandungen. Und diese Gesammtheit von natürlichen und künstlichen Anlagen steht einer Bevölkerung von fast zwei Millionen zur Verfügung, die über eine Fläche von sechsundzwanzigtausend Quadratkilometern vertheilt sind.

Welcher Schauplatz könnte für die Thaten von Räuberbanden besser gelegen sein? Obwohl dieses Unwesen zum Abnehmen neigt, obwohl der sicilische wie der calabrische Brigant sich überlebt zu haben scheinen, obwohl sie in Acht erklärt sind – wenigstens von der modernen Literatur – obwohl schließlich man jetzt einsieht, daß aus der Arbeit mehr Segen erblüht als aus dem Diebstahl, ist es doch gerathen, daß die Reisenden nur mit Vorsicht in diesem Lande umherstreifen, welches dem Cacus theuer, und von Mercur gesegnet ist.

In den letzten Jahren hat die Gensdarmerie auf Sicilien, die ununterbrochen wachsam, und stets unterwegs ist, einige sehr glückliche Streifzüge durch die östlichen Provinzen unternommen. Mehrere in den Hinterhalt gefallene Banden wurden decimirt. Unter Anderen erging es auch Zirone’s Bande so, die jetzt nur noch dreißig Köpfe zählte. Aus diesem Umstande entsprang der Entschluß, etwas fremdes, namentlich maltesisches Blut der Truppe zuzuführen. Zirone wußte, daß in den Schlupfwinkeln des Manderaggio, in denen er einst ebenfalls heimisch gewesen war, zu Hunderten unbeschäftigte Banditen sich aufhalten. Deshalb war Carpena nach La Vallette gegangen, und wenn er auch nur ein Dutzend Männer aufgetrieben hatte, so waren es dafür auserlesene Leute.

Man möge nicht weiter darüber erstaunt sein, daß der Spanier sich Zirone so ergeben zeigte. Das Handwerk gefiel ihm; da er aber von Natur aus feige war, so stellte er sich so wenig als möglich an die Spitze der Unternehmungen, wo es Flintenschüsse gibt. Er begnügte sich mit dem wohlfeileren Ruhme, die Geschäfte vorzubereiten, die Pläne auszuhecken und die Functionen eines Herbergsvaters in jener Locanda von Santa Grotta auszuüben, einer furchtbaren Räuberhöhle, die sich in den ersten Höhen des Vulcans verbirgt.

Natürlich war Sarcany und Zirone aus der Vergangenheit Carpena’s alles das bekannt, was sich auf die Angelegenheit Andrea Ferrato bezog, Carpena dagegen wußte von den Triester Vorfällen nichts. Er nahm als selbstverständlich an, daß er mit ehrbaren Briganten in Verbindung gekommen wäre, die schon seit vielen Jahren in den Bergen Siciliens ihrem Geschäfte nachgingen.

Zirone und Carpena erlebten während ihres Marsches von acht italienischen Meilen, von den Felsen des Polyphemos an bis nach Nicolosi, kein böses Abenteuer, mit anderen Worten, es zeigte sich auf ihrem Wege kein einziger Gensdarm. Sie verfolgten ziemlich beschwerliche Fußpfade zwischen Maulbeer-, Oliven-, Orangen-und Citronenbaumfeldern, durch Gebüsche von Eschen, Korkeichen und indischen Feigenbäumen. Oftmals stiegen sie über die Betten jener eingetrockneten Ströme, die, von Weitem gesehen, chaussirte Wege zu sein scheinen, auf denen die glättende Walze die Kieselsteine noch nicht in den Boden gedrückt hat. Der Sicilianer und der Spanier passirten die Ortschaften San Giovanni und Tramestieri, die schon in einer ziemlichen Höhe über dem Spiegel des Mittelmeeres gelegen sind. Gegen zehn und ein halb Uhr hatten sie Nicolosi erreicht. Es ist das eine im Mittelpunkte eines ungeheuren Rundkreises liegende Ortschaft, welche im Norden und Westen die Ausbruchskegel von Monpilieri, die Monte Rossi und die Serra Pizzuta flankiren.

Dieser Flecken besitzt sechs Kirchen, ein Kloster, das unter dem Schutze des heiligen Nikolaus von Arena steht, und zwei Herbergen – letzterer Umstand namentlich macht seine Bedeutung aus. Allein mit diesen Wirthshäusern hatten Zirone und Carpena nichts zu schaffen. Die Locanda von Santa Grotta erwartete sie in einer Entfernung von noch einer Stunde, in einem der dunkelsten Schlünde des Aetna-Gebirgsstockes. Sie erreichten sie, noch bevor die Kirchenglocken von Nicolosi Mitternacht geschlagen hatten.

Man schlief keineswegs in Santa Grotta. Man speiste noch in Begleitung von Geschrei und Gezänk. Die von Carpena neu Angeworbenen waren dort vereinigt; ein Greis der Bande, Namens Benito – er hieß wahrscheinlich aus Widerspruchsgeist so – machte die Honneurs des Ortes. Der übrige Theil der Räuber, an vierzig Bergbewohner und Ausreißer, befanden sich noch zwanzig Meilen weiter westlich; sie durchforschten die gegenüber liegenden Abhänge des Aetna und mußten bald zu den Anderen stoßen. In Santa Grotta war also nur das Dutzend Malteser vorhanden, das der Spanier angeworben hatte. In ihrer Gesellschaft nahm Pescador – oder Pointe Pescade, wie er sonst hieß – tapfer Theil an diesem Concert von Fluchreden und Aufschneidereien. Doch hörte, beobachtete, notirte er auch, um nichts von dem zu vergessen, was ihm irgenwie nützlich sein konnte. So vergaß er unter Anderem auch die Rede nicht, die Benito seinen Gästen kurz vor dem Eintreffen von Carpena und Zirone hielt, um ihr überlautes Schwatzen etwas zu dämpfen.

»Schweigt doch, Ihr Teufelsmalteser, schweigt doch! Man hört Euch wahrhaftig in Cassone, wohin der Centralcommissär, der liebenswürdige Quästor der Provinz, ein Detachement Carabiniers gesandt hat!«

Eine sehr scherzhafte Drohung, denn Cassone lag ziemlich weit ab von Santa Grotta. Doch die Neulinge glaubten wirklich, ihr Geschrei könnte zu den Ohren der Carabiniers, der Gensdarmen dieses Landes, dringen. Sie mäßigten also ihre lauten Ausrufe und sprachen dafür um so tapferer den dickbäuchigen Flaschen voll Aetnaweines zu, den Benito selbst ihnen zum Willkomm einschänkte. Sie waren schließlich sämmtlich mehr oder weniger betrunken, als sich die Thür der Locanda öffnete.

»Nette Jungens! rief Zirone beim Eintritt. Carpena hat eine glückliche Hand gehabt und ich sehe, Benito hat seine Sache ebenfalls gut gemacht.

– Die tapferen Kerle starben vor Durst, erwiderte Benito.

– Und da das die schlimmste aller Todesarten ist, sagte Zirone lachend, so hast Du sie ihnen ersparen wollen. Schön! Mögen sie jetzt schlafen. Morgen werden wir sie näher kennen lernen.

– Warum bis morgen warten? fragte einer der Recruten.

– Weil Ihr zu betrunken seid, um begreifen und gehorchen zu können, erwiderte Zirone.

– Betrunken!… Betrunken!… Weil wir einige Flaschen Eures ungegohrenen Weines da geleert haben? Pah, man ist an den Gin und Whisky der Kneipen des Manderaggio gewöhnt!

– Wer ist denn der Mensch da? fragte Zirone.

– Es ist der kleine Pescador! anwortete Carpena.

– Wer ist denn der Mensch da? fragte nun auch Pescador seinerseits, indem er auf den Sicilianer zeigte.

– Das ist Zirone! gab ihm der Spanier zur Antwort.«

Zirone betrachtete mit Neugierde den jungen Räuber, den ihm Carpena so sehr gerühmt hatte und der sich ihm so völlig ungenirt vorstellte. Er fand zweifellos, daß das Aussehen Jenes kühn und intelligent zugleich sei, denn er machte eine beistimmende Bewegung. Dann sich an Pescador wendend, fragte er:

»Hast Du ebenso viel getrunken wie die Anderen?

– Mehr als die Anderen.

– Und Du hast Deine Vernunft noch?

– Man ersäuft sie nicht gleich in dem Bischen da.

– Sage mal, Kleiner, fuhr Zirone fort, Carpena hat mir gesagt, Du könntest mir vielleicht Auskunft ertheilen über eine Sache.

– Umsonst?

– Fange auf!«

Und Zirone warf ihm einen halben Piaster zu, den Pescador unverzüglich in die Tasche seiner Jacke verschwinden ließ, gerade so wie ein Taschenspieler von Profession mit einer Muscatnuß verfährt.

»Das ist allerliebst, sagte Zirone.

– Sehr allerliebst, erwiderte Pescador. Um was handelt es sich also.

– Du kennst Malta gut?

– Malta, Italien, Istrien, Dalmatien und das Adriatische Meer, gab Pescador zurück.

– Du bist gereist?

– Sehr viel, doch stets auf meine Kosten.

– Ich rathe Dir, nie anders zu reisen, denn sonst bezahlt die Regierung die Reise…

– Das wäre mir zu theuer, meinte Pescador.

– So ist es, erwiderte Zirone, entzückt von diesem neuen Genossen, mit dem man wenigstens plaudern konnte.

– Und nun weiter?… fing der einsichtige Bursche von Neuem an.

– Ja, weiter! Hast Du auf Deinen vielen Reisen vielleicht einmal von einem Doctor Antekirtt sprechen gehört, Pescador?«



Man schlief keineswegs in Santa Grotta. (S. 365.)


Trotz seiner Schlauheit war Pointe Pescade auf diese Frage nicht gefaßt gewesen. Er war aber doch Herr genug über sich selbst, um sich seine Ueberraschung nicht merken zu lassen.

Wie hatte nur Zirone, der doch weder in Ragusa gewesen war zur Zeit als die »Savarena« dort ankerte, noch in La Vallette während des Aufenthaltes des »Ferrato« daselbst, von dem Doctor gehört und wie kam es, daß er sogar dessen Namen kannte? Er begriff unverzüglich mit seinem schnell fassenden Geiste, daß die erste Antwort, die er gab, ihm weiterhelfen mußte und er zögerte deshalb nicht, sie zu geben.



Die Farriglioni oder Polyphems-Klippen. (S. 375.)


»Doctor Antekirtt? erwiderte er. Richtig!… Man spricht ja in allen Ländern des Mittelmeeeres von dem Manne!

– Hast Du ihn schon einmal gesehen?

– Niemals.

– Weißt Du auch nicht, was dieser Doctor eigentlich ist?

– Ein ganz armer Teufel, er ist nichts weiter als ein hundertfacher Millionär, so sagt man, der nicht anders als mit einer Million in jeder Tasche seines Reiseanzuges ausgeht, und dieser Anzug hat mindestens sechs Taschen.

Ein Unglücklicher, der aus Liebhaberei den Arzt spielt, bald auf seinem Schooner, bald auf seiner Dampf-Yacht und der für jede der zweiundzwanzigtausend Krankheiten, mit denen die Menschenrasse beglückt ist, ein entsprechendes Heilmittel führt.«

Der Clown von ehedem kam in Pointe Pescade zur gelegenen Zeit, wieder zur Erscheinung und seine gute Laune bezauberte Zirone ebenso sehr wie Carpena, der zu sagen schien:

»Ein guter Recrut der da! He?«

Pescador schwieg. Er hatte sich eine Cigarette angezündet, deren eigensinniger Rauch zu gleicher Zeit aus Nase, Augen und sogar aus den Ohren zu dringen schien.

»Du sagst, der Doctor ist reich? fragte Zirone.

– So reich, daß er Sicilien kaufen und aus der Insel einen englischen Garten machen könnte,« antwortete Pescador.

Dann schoß es ihm durch den Kopf, daß jetzt vielleicht gerade ein günstiger Augenblick gekommen wäre, um Zirone den Plan beizubringen, dessen Ausführung er im Sinne hatte.

»Haltet mal, Hauptmann Zirone, fuhr er daher fort, ich habe zwar diesen Doctor Antekirtt selbst nie gesehen, dagegen eine seiner Yachten; man erzählt sich, daß ihm für seine Spazierfahrten auf der See eine ganze Flotille zur Verfügung stände.

– Eine seiner Yachten?

– Ja, seinen »Ferrato«. Ein herrliches Fahrzeug. Auf diesem Schiffe in dem Golf von Neapel mit einer oder zwei Prinzessinnen von Geblüt herumkreuzen zu können, das wäre ganz mein Fall.

– Wo hast Du die Yacht gesehen?

– In Malta, antwortete Pescador.

– Und wann war das?

– Vorgestern in La Vallette. Als wir uns mit unserem Sergeanten Carpena einschifften, ankerte sie noch im Kriegshafen. Doch sagte man, daß sie vierundzwanzig Stunden nach uns in See gehen würde.

– Wohin?

– Nach Sicilien und zwar nach Catania.

– Nach Catania? wiederholte Zirone.«

Dieses merkwürdige Zusammentreffen der Abreise des Doctors Antekirtt mit der empfangenen Weisung, Jenem zu mißtrauen, mußte nothwendiger Weise den Verdacht Zirone’s rege machen. Pointe Pescade bemerkte wohl, daß irgend ein geheimer Gedanke sich in dem Gehirn Zirone’s umherwälzte; doch wie lautete dieser? Da er ihn schwerlich errathen konnte, so entschloß er sich, dem Hauptmann direct auf den Leib zu rücken.

Als Zirone gesagt hatte:

»Was mag dieser Teufelsdoctor hier auf Sicilien und gerade in Catania nur zu suchen haben?« meinte Pescador:

»Was wird er weiter wollen? Bei der heiligen Agathe, sich die Stadt ansehen. Er wird eine Besteigung des Aetna unternehmen. Er wird als reicher Mann, der er ist, umherreisen wollen.

– Pescador, sagte Zirone, in welchem von Zeit zu Zeit ein unbestimmtes Gefühl des Mißtrauens aufstieg, Du scheinst mir doch von diesem Doctor mehr zu wissen, als gerade nöthig ist.

– Gerade so viel ich wissen muß, wenn die Gelegenheit sich bietet, antwortete Pescador.

– Was willst Du damit sagen?

– Ich will nur damit sagen, daß, wenn der Doctor, wie es ja den Anschein hat, hier in unserer Gegend herumspaziert, es nur in der Ordnung ist, daß er uns ein anständiges Wegegeld zahlt.

– Wirklich? erwiderte Zirone.

– Und wenn ihn dieser Scherz ein oder zwei Millionen selbst kostet, kommt er nicht noch immer billig davon?

– Findest Du?

– Und in diesem Falle würden Zirone und seine Freunde doch noch große Dummköpfe gewesen sein.

– Auf dieses Compliment hin, das Du uns machst, sagte Zirone lachend, magst Du jetzt schlafen gehen.

– Ganz einverstanden, antwortete Pescador. Ich weiß schon, wovon ich träumen werde.

– Nun wovon?

– Von den Millionen des Doctors Antekirtt… Goldene Träume übrigens!«

Pescador stieß den letzten Rauch der Cigarette von sich und sachte seine Kumpane in der Scheuer der Herberge auf, während sich Carpena auf sein Zimmer begab.

Der muthige Jüngling aber, anstatt zu schlafen, schickte sich an, in seinem Geiste Alles, was er soeben gethan und gesagt hatte, sich zurechtzulegen.

Hatte er von dem Augenblicke an, als Zirone zu seinem größten Erstaunen vom Doctor Antekirtt gesprochen, nach seinem besten Wissen die Interessen gefördert, die ihm anvertraut worden waren? Man möge selbst darüber urtheilen.

Der Doctor kam deshalb nach Sicilien, weil er hoffte, dort Sarcany vorzufinden und auch Silas Toronthal, falls sie noch zusammen waren, was immerhin möglich, weil Beide Ragusa verlassen hatten. Sollte er Sarcany verfehlen, so wollte er sich an dessen Genossen machen, sich Zirone’s bemächtigen und dann, entweder durch Drohungen oder Versprechungen, diesen dahin bringen, zu sagen, wo Sarcany und Silas Toronthal anzutreffen wären. Das war sein Plan. Auf folgende Weise gedachte er ihn auszuführen.

Der Doctor hatte in jungen Jahren mehrfach Sicilien und namentlich die Provinz um den Aetna durchreist. Er kannte die verschiedenen Straßen, welche Bergsteiger frequentiren, deren am häufigsten benutzte dicht unter einem Hause vorüberführt, das zur Erkennung des Centralkegels erbaut ist und die Hütte der Engländer, Casa Inglese,1 genannt wird.

Gerade jetzt brandschatzte Zirone’s Bande, für die Carpena neue Mannschaften auf Malta angeworben hatte, auf den Abhängen des Aetna umher. Es war gewiß, daß die Ankunft einer so berühmten Persönlichkeit, wie die des Doctors Antekirtt es war, ihre gewöhnliche Wirkung auch in Catania ausüben würde. Da überdies der Doctor so auffällig als möglich seine Absicht, den Aetna zu besteigen, verkünden ließ, so war mit Bestimmtheit anzunehmen, daß Zirone davon Wind bekommen würde – namentlich wenn Pointe Pescade sich dahinter steckte. Man hat gesehen, daß der Beginn der Handlung ohne Schwierigkeiten von Statten gegangen, da Zirone es gewesen war, der Pescador über den vielgenannten Doctor ausgefragt hatte.

Die Falle, in die jetzt Zirone gelockt werden mußte, bestand aus Folgendem, und man konnte schon mit Bestimmtheit annehmen, daß er hineinging.

Am Abend vor dem Tage der Besteigung des Kraters sollten sich zwölf gut bewaffnete Leute von der Mannschaft des »Ferrato« heimlich in die Casa Inglese begeben. Am nächsten Tage wollte der Doctor begleitet von Luigi, Peter und einem Führer Catania verlassen und die gewöhnliche Straße verfolgen, und zwar so, daß er die Casa Inglese um acht Uhr Abends erreichen mußte, um dort die Nacht zuzubringen. Das thun alle Touristen so, welche die Sonne von der Höhe des Aetna über die calabrischen Berge aufgehen sehen wollen.

Es unterlag keinem Zweifel, daß Zirone, von Pointe Pescade gedrängt, versuchen würde, sich des Doctors Antekirtt zu bemächtigen, in dem Glauben, es nur mit diesem und seinen beiden Gefährten zu thun zu haben. Sobald er aber die Casa Inglese angriff, sollte er von den Matrosen des »Ferrato« empfangen und jeder Widerstand von seiner Seite vereitelt werden.

Pointe Pescade, der diesen Plan kannte, hatte geschickt die Umstände zu benützen gewußt und in den Gedanken Zirone’s den Wunsch lebendig gemacht, sich dieses Doctors Antekirtt zu bemächtigen; Jener betrachtete diesen als eine reiche Beute, welche er ohne Gewissensbisse gemäß der Aufklärung, die er empfangen, ausplündern durfte. Da er im Uebrigen dieser Persönlichkeit mißtrauen sollte, so war es wohl das Beste, sich ihrer zu bemächtigen, selbst wenn er des Lösegeldes verlustig gehen sollte. Dazu entschloß sich also Zirone, während er weitere Instructionen von Sarcany abwarten wollte. Um ganz sicher an sein Ziel zu gelangen, beabsichtigte er, da er seine augenblicklich zerstreute Bande nicht so schnell vereinen konnte, diese Unternehmung mit den Maltesern Carpena’s auszuführen, welcher Umstand schließlich Pointe Pescade sehr kühl ließ, da dieses Dutzend Bösewichter mit den Leuten vom »Ferrato« gewiß kein leichtes Spiel haben würde.

Zirone überließ niemals etwas dem Zufalle. Da nach den Aussagen Pescador’s die Dampf-Yacht am folgenden Tage eintreffen mußte, so verließ er schon am frühen Morgen die Locanda von Santa Grotta und stieg nach Catania hinunter. Da er dort nicht bekannt war, so hatte das weiter keine Gefahr für ihn.

Die Dampf-Yacht lag schon seit einigen Stunden vor Anker. Sie hatte nicht dicht bei den Quais beigedreht, wo es stets von zahlreichen Schiffen wimmelt, sondern in einer Art Vorhafen, zwischen dem nördlichen Hafendamme und einer ungeheuren Masse schwärzlicher Lava, welche der Ausbruch von 1669 bis in das Meer getrieben hat.

Schon bei Tagesanbruch waren Kap Matifu und elf Mann der Besatzung unter dem Befehle Luigi’s bei Catania gelandet; von dort aus hatten sie einzeln den Aufstieg nach der Casa Inglese unternommen.

Zirone wußte von dieser Landung natürlich nichts und da der »Ferrato« gut eine Ankerlänge vom Festlande ab lag, so konnte er nicht einmal beobachten, was an Bord vorging.

Gegen sechs Uhr Abends setzte ein Schiffsboot zwei Passagiere der Dampf-Yacht auf dem Quai aus. Es waren der Doctor und Peter Bathory. Sie gingen durch die Via Steficoro und die Strada Etnea der Villa Bellini zu, einem herrlichen öffentlichen Garten, vielleicht dem schönsten in ganz Europa, mit seinen launigen Rampen, seinen von mächtigen Bäumen beschatteten Terrassen, seinen fließenden Gewässern und dem stolzen, in Rauchwolken sich hüllenden Vulcan, der den Horizont begrenzt.

Zirone folgte den beiden Fremden, denn er zweifelte nicht, daß der Eine von ihnen der gesuchte Doctor war. Er manövrirte sogar so, daß er ihnen inmitten der Menschenmasse, welche das Concert in die Villa gelockt hatte, dicht auf den Fersen blieb. Dieses sich Herandrängen an ihre Person mußte dem Doctor sowohl wie Peter auffallen, die denn auch mit gemischter Neugierde diesen Kerl von verdächtigem Aussehen sich näher betrachteten. Wenn sie gewußt hätten, daß das der gesuchte Zirone war, so würden sie die beste Gelegenheit gehabt haben, sich seiner zu bemächtigen, noch bevor er sich in den ihm gestellten Hinterhalt hätte locken lassen.

Gegen elf Uhr Abends, als Beide sich anschickten, den Park zu verlassen, um an Bord zurückzukehren, sagte der Doctor mit absichtlich lauter Stimme zu Peter:

»Das wäre also abgemacht. Wir werden morgen aufbrechen und in der Casa Inglese über Nacht bleiben.«

Der Lauscher wußte augenscheinlich nun, was er wissen wollte, denn einen Augenblick später war er verschwunden.

Fußnoten

1 Man verdankt diesen Unterkunftsplatz einigen Gentlemen, Freunden der Bequemlichkeit. Er ist dreitausend Meter über dem Meeresspiegel gelegen.


Siebentes Capitel. Die Casa Inglese.

Am folgenden Tage, in der ersten Nachmittagsstunde, schickten sich Doctor Antekirtt und Peter Bathory an, den »Ferrato« zu verlassen.

Das Boot nahm die Passagiere wieder auf; doch bevor der Doctor dasselbe bestieg, hatte er erst noch dem Kapitän Köstrik aufgetragen, auf die Ankunft des »Electric 2« Obacht zu geben, der von einem Augenblick zum anderen erwartet wurde und dieses Schiff sofort auf die Höhe der Farriglioni, mit anderen Worten der Polyphems-Klippen zu senden. Wenn der Plan gelang, wenn Sarcany oder wenigstens Zirone und Carpena zu Gefangenen gemacht werden konnten, sollte das Eilschiff bereit sein, sie nach Antekirtta zu transportiren, denn dort konnte der Doctor über das Schicksal der Verräther von Triest und Rovigno nach Gefallen bestimmen.

Das Boot stieß ab. In wenigen Minuten standen der Doctor und Peter auf einer der Quaitreppen von Catania. Sie waren nach Art der Bergsteiger gekleidet, die genöthigt sind, eine Temperatur zu ertragen, welche von dreißig Graden über Null, so ist sie am Meeresspiegel, bis zu sieben oder acht Graden unter Null sinkt. Ein von der Section des Alpenclubs, 17 Lincolnstraße, gestellter Führer erwartete sie mit Pferden, die in Nicolosi von Maulthieren abgelöst werden sollten, vortrefflichen Thieren mit sicherem und ausdauerndem Gange

Die Stadt Catania, deren Breite im Verhältniß zu ihrer Länge eine äußerst mittelmäßige ist, wurde schnell durchritten. Nichts verrieth, daß die kleine Gesellschaft ausgekundschaftet und verfolgt wurde. Sobald sie die Straße nach Belvedere eingeschlagen, bewegten sich der Doctor und Peter bereits auf den untersten Abhängen des Aetnastockes, dem die Sicilianer den Namen Mongibello geben und dessen Durchmesser nicht weniger als fünfundzwanzig Meilen beträgt.

Die Straße läuft natürlich steil und in krummen Linien. Sie macht oft Wendungen, um den Lavaströmen, den Basaltfelsen, deren Verhärtung auf ein Alter von Millionen von Jahren schließen läßt, ausgetrockneten Flußbetten, durch welche das Frühjahr reißende Gewässer strömen läßt, aus dem Wege zu gehen. Diese wilde Gebirgsnatur liegt aber noch inmitten einer üppigen Vegetation: Oliven-, Orangen-, Johannisbrod-, Eschenbäumen, Weinstöcken mit langen Armen, die sich um die nebenstehenden Bäume schlingen. Sie bildet die erste der drei Zonen, zu denen die verschiedenen Abstufungen des Vulcans sich aufbauen, dieses »Feuerofen-Berges«, wie die Phönizier den Berg Aetna nannten, dieses »Nagels der Erde und dieses Pfeilers des Himmels«, wie die Geologen zu einer Zeit ihn bezeichneten, in der es noch keine geologische Wissenschaft gab.

Nach zwei Stunden, während einer einige Minuten langen Pause, welche mehr den Thieren als den Reitern gegönnt werden mußte, konnten der Doctor und Peter zu ihren Füßen die ganze Stadt Catania, die herrliche Nebenbuhlerin von Palermo, erblicken, welche nicht weniger als fünfundachtzigtausend Einwohner zählt. Sie sahen die Flucht ihrer vornehmsten Straßen, die parallel von den Quais auslaufen, die Glocken und Thürme ihrer hundert Kirchen, ihre zahlreichen und malerischen Klöster, ihre sich in einem anspruchsvollen Stile des siebzehnten Jahrhunderts gefallenden Häuser und das Ganze eingerahmt von dem prachtvollsten Baumgürtel, den je eine Stadt um ihre Hüften geschlungen hat. Weiter vor dann den Hafen, dem der Aetna selbst natürliche Schutzdämme errichtet hat, nachdem er ihn theilweise während des furchtbaren Ausbruches von 1669 verschüttet hatte, der vierzehn Dörfer und Flecken zerstörte, achtzehntausend Menschenopfer forderte und mehr als eine Milliarde Kubikmeter Lava über die Landschaft ergoß.

Daß der Aetna in unserem Jahrhunderte sich weniger bemerkbar macht mag daher kommen, weil er jetzt einen gerechten Anspruch auf Ruhe hat. Man zählt seit Beginn der christlichen Zeitrechnung nicht weniger als dreißig Ausbrüche. Daß Sicilien dabei nicht zu Grunde gegangen ist, dankt es seiner soliden Verankerung. Es muß auch berücksichtigt werden, daß der Vulcan sich nicht nur einen einzigen, ununterbrochen thätigen Krater geschaffen hat. Er arbeitet wie und wann es ihm beliebt. Das Gebirge spaltet sich dort, wo einer seiner Feuerströme gerade hinausdrängt und durch die entstandene Oeffnung strömt die gesammte, in seinen Flanken angesammelte Lavamasse hinaus. Diesem Umstande entstammt die große Menge kleiner Vulcane, die Monte-Rossi, ein Doppelgebirge, das sich innerhalb dreier Monate in einer Höhe von hundertsiebenunddreißig Metern aus dem Sande und den Schlacken des Ausbruches von 1669 gebildet hat, die Frumento, Krater Simoni, Stornello, Crisinco; sie ähneln den rings um den Dom einer Kathedrale aufgehängten Glöckchen und haben zu Genossen noch die Krater der Ausbrüche von 1809, 1811, 1819, 1838, 1852, 1865 und 1879, deren Trichter die Flanken des Hauptkegels wie die Zellen die Bienenstöcke durchlöchern.

Nachdem der Flecken Belvedere durchritten war, schlug der Führer einen näheren Pfad ein, um die Straße von Tramestieri und dann diejenige von Nicolosi zu erreichen. Es ist immer noch die erste, cultivirte Zone des Gebirges, welche sich fast bis zu diesem Flecken,



Indessen sprossen hier und dort noch Eichen, Buchen… (S. 378.)


also zu einer Höhe von zweitausendeinhundertundzwanzig Fuß erstreckt. Es war ungefähr vier Uhr Nachmittags, als Nicolosi auftauchte, ohne daß die Reisenden irgend ein fatales Abenteuer auf der fünfzehn Kilometer langen Strecke erlebt hätten, welche sie bereits von Catania trennte; sie hatten weder Wölfe noch wilde Schweine zu Gesicht bekommen. Zwanzig Kilometer mußten noch bis zur Casa Inglese zurückgelegt werden.

»Wie lange wollen sich Eure Excellenz hier aufhalten? fragte der Führer.

– So kurze Zeit als möglich, erwiderte der Doctor, so daß wir Abends gegen neun Uhr in der Casa eintreffen können.

– Vielleicht vierzig Minuten?

– Schön, vierzig Minuten.«

Das war eine reichliche Zeit, um einen kräftigen Imbiß in einem der beiden Wirthshäuser des Ortes einnehmen zu können, welche das culinarische Ansehen, in welchem die Locanden Siciliens gemeinhin stehen, ein wenig erhöhen. Das muß zur Ehre der dreitausend Einwohner Nicolosi’s, einschließlich der Menge Bettler, die sich dort aufhalten, gesagt werden. Man erhält dort ein Stück Ziegenfleisch, Früchte, Weintrauben, Orangen, Granaten und Wein von San Placido, der in der Umgebung Catania’s gewonnen wird; es gibt in Italien sehr viele bedeutendere Städte als Nicolosi es ist, in denen mancher Hotelier ebensoviel nicht bieten kann und sehr in Verlegenheit käme, wenn man es verlangte.

Noch vor fünf Uhr bestiegen der Doctor, Peter und der Führer ihre Maulesel und die Thiere kletterten durch die zweite Zone, die Waldzone, weiter empor. Die Bäume sind dort durchaus nicht so zahlreich vertreten, wie es der Name besagt, denn auch dort, wie überall, arbeiten die Holzfäller und zerstören die alten, prächtigen Forsten, die bald nur noch eine mythologische Erinnerung ihres einstigen Bestehens bilden werden. Indessen sprossen hier und dort, theils in Gruppen, theils in Gebüschen vereint, längs der Säume der Lavaströme, auf den Rändern der Abgründe, noch Eichen, Buchen, Feigenbäume mit fast schwarzen Blättern, ferner in einer höheren Luftschicht Tannen, Fichten und Birken. Sogar die Aschenreste erzeugen, wenn sie sich mit Erdreich mischen, breite Büschel von Farrenkräutern, Malven und Eschwurz und bedecken sich mit einem dichten Rasenteppich.

Um acht Uhr Abends befanden sich der Doctor und Peter schon in einer Höhe von dreitausend Meter, die fast die Grenze des ewigen Schnees bildet. Auf den Abhängen des Aetna lagert ein solcher Ueberfluß von Schnee, daß er, ausgebreitet, gut und gern Italien bedecken könnte.

Sie waren jetzt in die Region der schwarzen Lava, der Asche, der Schlacken gekommen, die sich jenseits einer ungeheuren Kluft ausbreitet, in dem riesigen elliptischen Circus des Valle del Bove. Nun galt es die tausend bis dreitausend Meter hohen Klippen zu überwinden, deren Bestandtheile Schichten von Trachyten und Basalten zum Vorschein kommen lassen, gegen welche die Elemente noch nicht ankämpfen konnten.

Vor ihnen erhob sich der eigentliche Kegel des Vulcans, um den hier und da einige Phanerogamen grünende Kreise bildeten. Dieses centrale Höckersystem, das ein ganzes Gebirge für sich bildet – Pelion auf dem Ossa – schließt mit seiner äußersten Spitze in einer Höhe von dreitausenddreihundertsechzehn Metern über dem Meeresspiegel ab.

Dort erzitterte schon der Boden unter ihren Füßen. Schwingungen, hervorgebracht durch die plutonische Thätigkeit, die unermüdlich den Aetna durchtobt, pflanzten sich unter der Schneedecke fort. Streifen von Schwefeldämpfen, die der Wind aus der Oeffnung des Kraters trieb, wurden mitunter bis zur Basis des Kegels niedergedrückt und ein Schauer von Schlackenstückchen, ähnlich dem weißglühenden Cokes, fiel auf den weißen Teppich herab, auf dem dieselben zischend verloschen.

Die Luft war bereits eine bitter kalte – mehrere Grade unter Null – und die Schwierigkeit, Athem holen zu können, machte sich bereits in Folge der Verdünnung der Luft sehr fühlbar. Die Bergsteiger mußten sich fest in ihre Reisemäntel hüllen. Ein scharfer Wind, welcher das Gebirge bestrich, führte spitzige Flocken mit sich, die er dem Boden entrissen hatte und welche nun in der Luft umherwirbelten. Von dieser Höhe aus konnte man, unterhalb des feuerspeienden Rachens, in welchem sich ein schnaubendes Flammenmeer bemerkbar machte, andere Krater untergeordneter Gattung überblicken, schmale Schwefelgruben oder düstere Schachte, in deren Innerem unterirdische Feuer glühten. Ein fortwährendes Grollen mit orkanartigem Anschwellen machte sich vernehmbar, so wie es ähnlich ein ungeheurer Dampfkessel von sich geben würde, wenn der überhitzte Dampf die Ventile emporhebt. Ein Ausbruch war aber nicht zu befürchten. Dieser ganze innere Zorn des Berges verrieth sich nur durch das Grollen des obersten Kraters und ein Aufstoßen in den vulcanischen Rachen, welche den Gipfel durchlöcherten.

Die neunte Stunde war angebrochen. Am Himmel erglänzten Milliarden von Sternen, welche die Dünne der Luft in dieser Höhe noch funkelnder erscheinen ließ. Der aufsteigende Mond badete sich im Westen in den Wogen des äolischen Meeres. Auf einem anderen Gebirge, welches keinen thätigen Vulcan in sich barg wäre diese Ruhe der Nacht eine wahrhaft überwältigende gewesen.

»Wir müssen nun bald an Ort und Stelle sein? fragte der Doctor.

– Dort ist die Casa Inglese,« antwortete der Führer.

Und er wies auf eine Mauerwand, in welche zwei Fenster und eine Thür eingelassen waren, die sein bewanderter Blick in der Entfernung von fünfzig Schritten, das heißt also vierhundertachtundzwanzig Meter unterhalb des Randes des Centralkegels sich vom Schnee abheben sah. Es war das im Jahre 1811 von englischen Officieren auf einem von Lava gebildeten Plateau Namens Piano del Lago errichtete Haus.1

Dieses Haus, welches man auch die Casa Etnea nennt, wurde lange Zeit hindurch auf Kosten des Herrn Gemellaro, des Bruders des gelehrten Geologen gleichen Namens, unterhalten, neuerdings war es durch die Bemühungen des Alpenclubs wieder in Stand gesetzt worden. Nicht weit davon starrten durch die Dunkelheit einige Ruinen römischen Ursprunges den Kommenden entgegen; man hat ihnen den Namen »Thurm der Philosophen« gegeben. Von dort hat sich, so behauptet die Sage, Empedokles in den Krater gestürzt. In Wirklichkeit gehört schon eine ganz einzige Dosis von Philosophie dazu, acht Tage an diesem einsamen Orte zuzubringen und man kann sich die That des Philosophen von Agrigent wirklich erklären.

Der Doctor Antekirtt, Peter Bathory und der Führer hatten sich mittlerweile der Casa Inglese zugewendet. Sie klopften an die Thür, die sich ihnen sofort öffnete.

Einen Augenblick später befanden sie sich inmitten ihrer Leute. Diese Casa Inglese besteht nur aus drei Zimmern, die mit Tischen, Stühlen und Küchengeräthschaften ausstaffirt sind; diese Einrichtung genügt indessen den Aetna-Touristen vollständig, die zufrieden sind, wenn sie sich ruhen können, nachdem sie eine Höhe von zweitausendachthundertfünfundachtzig Meter erreicht haben.

Bis jetzt hatte Luigi, in der Furcht, daß die Anwesenheit seines kleinen Streifcorps sich verrathen könnte, kein Feuer anmachen wollen, obwohl die Kälte recht schmerzte. Doch nun war es nicht mehr nöthig, so große Vorsicht anzuwenden, da Zirone ja wußte, daß der Doctor die Nacht in der Casa Inglese zubringen würde. Man häufte darum auf dem Herde eine Handvoll von dem Holze auf, welches sich in der Holzkammer vorfand. Bald hatte eine prasselnde Flamme genügend Wärme und Licht, die bislang fehlten, verbreitet.

Der Doctor nahm Luigi bei Seite und fragte ihn, ob seit des Letzteren Ankunft irgend etwas vorgefallen wäre.

»Nichts! erwiderte Luigi. Ich fürchte nur, daß unsere Anwesenheit hier nicht so geheim mehr ist, als wir es gewünscht haben.

– Und wieso das?

– Weil wir, wenn ich mich nicht irre, von Nicolosi ab von einem Manne verfolgt wurden, der kurz bevor wir die Basis des Kegels erreicht hatten, verschwunden war.

– Das ist in der That bedauerlich, Luigi. Das könnte Zirone vielleicht die Lust nehmen, mich überraschen zu wollen. Und ist seit Anbruch der Nacht Niemand um die Casa Inglese geschlichen?

– Niemand, Herr Doctor, antwortete Luigi. Ich selbst habe vorsichtshalber die Ruinen des Thurmes der Philosophen durchsucht: sie sind völlig leer.

– Wir wollen es abwarten, Luigi, doch soll sich ein Mann stets als Wachposten vor der Thür aufhalten. Man kann eine ziemliche Strecke weit sehen, weil die Luft klar, und es ist von großer Wichtigkeit, daß wir nicht überrascht werden.«

Die Anordnungen des Doctors wurden sofort befolgt und als er auf einer Fußbank vor dem Herde Platz genommen hatte, legten sich seine Leute auf Strohdecken um ihn herum zum Schlafen nieder.

Kap Matifu näherte sich jetzt dem Doctor. Er sah ihn an, wagte aber nicht, zu sprechen. Es war nicht schwer, die Gedanken des Riesen zu errathen.

»Du willst wissen, was aus Pointe Pescade geworden ist? fragte ihn der Doctor. Geduld!… Er wird in Kurzem wieder bei uns sein, obwohl er jetzt ein Spiel wagt, wobei er unter Umständen aufgehenkt werden kann…

An unserem Halse,« setzte Peter rasch hinzu, der Kap Matifu’s Besorgnisse über das Schicksal seines kleinen Genossen zerstreuen wollte.

Eine fernere Stunde verging, während deren Verlauf nichts die um den Centralkegel sich ausbreitende lautlose Stille störte. Kein Schatten war vorn auf dem weißen Felde des Piano del Lago aufgetaucht. Peter und der Doctor begannen bereits ungeduldig und unruhig zu werden. Wenn Zirone unglücklicherweise die Gegenwart des kleinen Detachements ausgekundschaftet hatte, so würde er es gewiß niemals wagen, die Casa Inglese anzugreifen. Es wäre ein verfehlter Coup gewesen. Und doch mußte man sich unbedingt dieses Genossen Sarcany’s, in Ermangelung von diesem selbst, bemächtigen und ihm seine Geheimnisse entreißen.

Kurz vor zehn Uhr fiel ein Flintenschuß in einer Entfernung von vielleicht einer halben Meile unterhalb der Casa Inglese.

Alle traten in das Freie und hielten Umschau, sie sahen aber nichts Verdächtiges.

»Es war aber ein Flintenschuß, sagte Peter.

– Vielleicht ein Jäger, der auf dem Anstand im Gebirge steht, um Adler oder wilde Schweine zu schießen.

Wir wollen hineingehen, mahnte der Doctor, um nicht gesehen zu werden.«

Sie thaten es.

Doch zehn Minuten später stützte der draußen Posten stehende Matrose eilig herbei:

»Aufgepaßt! rief er. Ich glaube bemerkt zu haben…

– Mehrere Menschen? fragte Peter hastig.

– Nein, nur einen einzigen.«

Der Doctor, Peter, Luigi, Kap Matifu gingen an die Thür, paßten aber auf, daß sie nicht aus dem Schatten traten.

In der That kletterte ein Mann, flink wie eine Gemse auf dem alten Lavastrome, der sich auf das Plateau öffnet, empor. Er war allein und nach wenigen weiteren Sprüngen fiel er in zwei sich ihm öffnende Arme, diejenigen Kap Matifu’s.

Es war Pointe Pescade.

»Schnell! Schnell in den Versteck hinein, Herr Doctor!« rief er.

Im Augenblick waren alle in das Innere der Casa zurückgekehrt, deren Thür sich hinter ihnen sofort schloß.

»Und Zirone? fragte der Doctor. Was ist aus ihm geworden?… Du hast ihn verlassen können?

– Ja!… Um Sie zu benachrichtigen.

‘ – Kommt er?

– In zwanzig Minuten muß er hier sein.

– Um so besser.

– Nein! Um so schlimmer!… Ich weiß nicht, wer ihm verrathen hat, daß Sie ein Dutzend Leute voraufgeschickt haben.

– Ohne Zweifel der Bauer, der uns nachgeschlichen ist, rief Luigi.

– Kurz, er weiß es, erwiderte Pointe Pescade, und er hat eingesehen, daß Sie ihm eine Falle gestellt haben.

– Er möge nur kommen, rief Peter.

– Er kommt, Herr Peter! Dem Dutzend in Malta für ihn angeworbener Burschen hat sich’ der übrige Rest der Bande angeschlossen, die heute Früh in Santa Grotta eingetroffen ist.

– Wie stark ist jetzt die ganze Bande? fragte der Doctor.

– Fünfzig Mann,« antwortete Pointe Pescade.

Die Lage des Doctors und seiner kleinen Truppe, die lediglich aus elf Matrosen, Luigi, Peter, Kap Matifu und Pointe Pescade – sechzehn gegen fünfzig – bestand, wurde jetzt eine sehr bedrohliche. Jedenfalls mußte nun ein schneller Entschluß gefaßt werden, denn ein Angriff konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Doch bevor der Doctor fernere Maßregeln traf, wollte er vor allen Dingen von Pescade hören, was vorgefallen war und dieser erzählte Folgendes:

Am Morgen dieses Tages war Zirone von Catania, wo er die Nacht zugebracht hatte, zurückgekehrt. Er war jedenfalls mit dem Menschen, der in der Villa herumgelungert hatte, identisch. Als er die Locanda von Santa Grotta betrat, fand er einen Bauern vor, der ihm meldete, daß ein aus verschiedenen Richtungen kommender Trupp in Stärke von einem Dutzend Mann die Casa Inglese besetzt hätte.

Das zu wissen genügte Zirone, um die Situation zu überschauen. Er war es also nicht mehr, der den Doctor Antekirtt in einem Hinterhalt fing, sondern es war der Doctor selbst, vor dem man ihn gewarnt hatte, der ihn aufheben wollte. Pointe Pescade bestand trotzdem darauf, Zirone müsse die Casa Inglese angreifen und versicherte ihm, daß die Malteser leichtes Spiel mit den Leuten des Doctors haben würden. Zirone aber blieb unentschlossen und war noch nicht mit sich darüber einig, was er beginnen sollte. Das Drängen Pointe Pescade’s begann ihm nachgerade so verdächtig vorzukommen, daß er Befehl gab, diesen zu überwachen, was Pescador schnell bemerkte.

Zirone hätte es also ziemlich gewiß aufgegeben, unter diesen zweifelhaften Umständen sich des Doctors zu bemächtigen, wenn seine Bande nicht in der dritten Nachmittagsstunde zu ihm gestoßen wäre. Nun hatte er fünfzig Mann unter seinen Befehlen und er zauderte auch nicht länger; die ganze Bande verließ die Locanda von Santa Grotta und marschirte auf die Casa Inglese zu.

Pointe Pescade sah ein, daß der Doctor und die Seinigen verloren waren, wenn er sie nicht bei Zeiten warnen konnte; sie konnten dann vielleicht noch entschlüpfen oder wenigstens auf der Hut sein.



Es war Pointe Pescade. (S. 382.)


Er wartete also, bis die Bande Zirone’s in Sicht der Casa Inglese gekommen sein würde, deren Lage er nicht kannte. Das Licht, welches durch ihre Fenster drang, gestattete ihm sie in der neunten Abendstunde zu bemerken, trotzdem sie noch zwei Meilen bis



Zirone und die Seinen schlichen hinter den Felsen heran. (S. 386.)


an die Abhänge des Kegels zu marschiren hatten. Pointe Pescade stürmte plötzlich in dieser Richtung davon. Ein Flintenschuß, der ihm von Zirone nachgesendet wurde – derselbe, den man in der Casa Inglese gehört hatte – traf ihn nicht. Mit Hilfe seiner clownartigen Gewandtheit befand er sich bald außer Schußweite; auf diese Weise war er der Bande Zirone’s um zwanzig Minuten höchstens vorausgeeilt.

Ein Händedruck des Doctors belohnte den kühnen und intelligenten Jungen für seine Erzählung und seine Thaten; dann überlegte man, was zu thun sei.

Die Casa Inglese verlassen, einen Rückzug inmitten der Nacht, über die Abhänge dieses Gebirgsstockes unternehmen, dessen Fußpfade und Zufluchtsorte Zirone und seine Leute genau kannten, hieß sich einer vollständigen Vernichtung aussetzen. Es war hundertmal vortheilhafter, in dem Hause selbst den Tag abzuwarten, sich hier zu verschanzen und zu vertheidigen wie in einem Blockhause. Wenn der Tag erst angebrochen war und es nöthig sein sollte, abzumarschiren, so konnte der Rückzug wenigstens im vollen Tageslichte bewerkstelligt werden und man würde sich nicht der Gefahr auszusetzen haben, blindlings über die Abhänge, durch Bergstürze und Schwefellager herunterklettern zu müssen. Es wurde also beschlossen, zu bleiben und Widerstand zu leisten. Die Vorbereitungen zur Vertheidigung wurden sofort in Angriff genommen.

Vor allen Dingen mußten die Fenster der Casa geschlossen und ihre inneren Riegel nach Kräften verstärkt werden. Als Schießscharten mußten die offenen Stellen dienen, welche die Dachbalken zwischen sich und ihren Angelpunkten in der Mauer der Façade ließen. Jeder Mann war mit einem Schnellfeuergewehr und fünfzig Patronen ausgerüstet. Der Doctor, Peter und Luigi konnten ihnen mit ihren Revolvern zu Hilfe kommen. Kap Matifu verfügte nur über seine Arme, Pointe Pescade nur über seine Hände. Deshalb waren Beide wahrscheinlich nicht minder gut bewaffnet!

Fast vierzig Minuten verstrichen, ohne daß ein Angriffsversuch unternommen worden wäre. Hatte Zirone, der ja jetzt wissen mußte, daß Pointe Pescade den Doctor Antekirtt gewarnt hatte, und daß dieser nicht mehr zu überraschen war, seine Absichten aufgegeben? Das war indessen nicht anzunehmen, denn die fünfzig Mann, welche unter seinem Befehle standen, und der Vortheil, den ihm die Kenntniß der Ortschaft verschaffte, mußten nothwendigerweise ihm bedeutende Chancen bieten.

Plötzlich gegen elf Uhr trat der wachthabende Matrose hastig ein. Eine Bande Männer nahte heran, die so manövrirte, daß sie die Casa Inglese von drei Seiten einschloß, die vierte Seite des Hauses, die sich an den Berg anlehnte, bot keine Möglichkeit des Entkommens. Nachdem man Kenntniß von dieser Absicht der Angreifer genommen, wurde die Thür verschlossen, verbarrikadirt und Jeder nahm seinen Posten bei den Lücken der Dachsparren ein, mit dem strengen Befehl, die Patronen nicht unnütz zu verschießen.


Währenddessen rückten Zirone und die Seinigen langsam vorwärts; sie gebrauchten die Vorsicht, hinten den Felsen heranzuschleichen, um die First des Piano del Lago zu erreichen. Hier waren ungeheure Blöcke von Trachyt-und Basaltfelsen aufgeschichtet; sie sollten wahrscheinlich dazu dienen, die Casa Inglese vor Schneewehen im Winter zu bewahren. Hatten die Belagerer erst des Plateau erreicht, so konnten sie bequem gegen das Haus vorgehen, die Thür und die Fenster eindrücken und dann mit Hilfe ihrer Uebermacht sich des Doctors Antekirtt und seiner Leute bemächtigen.

Plötzlich fiel ein Schuß. Ein leichtes Rauchwölkchen kräuselte zwischen den Dachsparren empor. Ein Mann fiel, zu Tode getroffen. Die Truppe ging sofort einige Schritte zurück und duckte sich hinter die Felsen. Aber allmählich führte Zirone mit Benützung der Terrainunebenheiten seine Leute doch bis an den Fuß des Piano del Lago heran.

Während dieses Vorgehens fielen noch an ein Dutzend Schüsse aus der Verdachung der Casa Inglese – zwei fernere Angreifer wurden damit in den Schnee gestreckt.

Der Sturmruf wurde nun von Zirone ausgestoßen. Unter Aufopferung einiger neuer Verwundeter stürzte die Bande auf die Casa Inglese los. Die Thür wurde von Flintenkugeln durchlöchert und einige auf der Innenseite postirte Matrosen mußten, leicht verwundet, ihre Stellungen aufgeben.

Nun entspann sich ein lebhaftes Gefecht. Mit Haken und Piken gelang es den Stürmenden, die Thür und das eine Fenster zu durchbrechen. Ein Ausfall mußte versucht werden, um sie zurückzudrängen, und zwar inmitten des lebhaftesten Feuers beider Parteien. Luigi’s Hut wurde von einer Kugel durchbohrt und Peter wäre ohne die Dazwischenkunft Kap Matifu’s von einem Pikenstoß eines Räubers durchbohrt worden. Aber der Hercules paßte auf und mit derselben Pike, welche er dem Manne entrissen hatte, tödtete er diesen auf der Stelle.

Kap Matifu hauste während dieses Ausfalles furchtbar unter den Angreifern. Zwanzig Mal auf das Korn genommen, wurde er doch von keiner Kugel getroffen. Wenn Zirone den Sieg davon trug, war Pointe Pescade schon im Voraus ein Kind des Todes, und dieser Gedanke verdoppelte des Riesen Muth.

Vor einem solchen Widerstande mußten sich die Räuber zum zweiten Male zurückziehen. Der Doctor und seine Leute konnten sich ungehindert in die Casa Inglese zurückziehen und dort sich über ihr ferneres Verhalten schlüssig machen.

»Wieviel Munition ist noch vorhanden? fragte er.

– Zehn bis zwölf Patronen für den Mann, antwortete Luigi.

– Und wie spät ist es?

– Kaum Mitternacht.«

Also in vier Stunden erst brach der Tag an. Mit der Munition mußte deshalb sehr sparsam umgegangen werden, damit der Rückzug am Morgen unter dem Schutze der Waffen erfolgen konnte.

Doch wie einen neuen Sturm, wie die Erstürmung der Casa Inglese verhindern, wenn Zirone und seine Bande sich noch einmal näherten?

Und das geschah in der That nach einer viertelstündigen Pause, während welcher sie ihre Verwundeten in den Schutz eines Lavastromes zurückgeschleppt hatten, durch dessen Fluß eine Art verschanzten Lagers gebildet wurde.

Dann überklimmten die durch einen so energischen Widerstand und durch den Anblick ihrer fünf bis sechs kampfunfähig gemachten Kameraden wüthend gewordenen Räuber die Lava, sie durchmaßen den Zwischenraum, der sie von dem Basaltwalle trennte und tauchten wieder auf der Plateaufläche auf.

Nicht einen Schuß feuerte man in der Casa ab, während sie bis hierher vordrangen. Zirone folgerte daraus mit Recht, daß die Munition den Belagerten auszugehen drohte.

So groß war die Wuth, daß sie diesmal den Eingang zur Thür und zum Fenster erzwangen und sie hätten ganz gewiß das Hans erstürmt, wenn nicht eine neue Salve fünf oder sechs Mann getödtet haben würde. Sie mußten bis an den Fuß des Plateaus zurückweichen; doch auch zwei Matrosen waren so schwer verwundet worden, daß sie den Kampf aufgeben mußten.

Vier bis fünf Schuß für den Mann blieben nur noch den Vertheidigern der Casa Inglese. Unter diesen Umständen wurde selbst der Rückzug bei hellem lichten Tage unmöglich. Sie fühlten, daß sie verloren wären, wenn ihnen nicht rechtzeitig Hilfe würde. Doch woher sollte eine solche Hilfe kommen?

Man konnte unglücklicher Weise nicht darauf rechnen, daß Zirone und seine Genossen von ihrem Vorhaben abstehen würden Es waren ihrer immer noch vierzig Räuber, wohlbewaffnet und unversehrt. Sie wußten, daß man ihre Schüsse bald nicht würde erwidern können und versuchten einen abermaligen Sturm.

Plötzlich rollten enorme Felsblöcke von der Höhe des Plateaus wie die Steine einer Lawine hernieder und zerschmetterten drei Räuber, die ihnen nicht schnell genug ausweichen konnten.

Kap Matifu war es, der die Basaltfelsen heranrollte, um sie von der First des Piano del Lago herabzuwerfen.

Doch dieses Vertheidigungsmittel konnte nicht lange vorhalten. Das Material mußte bald zu Ende gehen. Es hieß also, unterliegen oder Hilfe von draußen herbeiholen.

Pointe Pescade hatte eine Idee, doch wollte er sie dem Doctor nicht mittheilen, weil er fürchtete, dieser würde ihm die Erlaubniß verweigern, sie auszuführen. Er theilte sie daher Kap Matifu mit.

Er wußte aus der Rede, die Benito in der Locanda von Santa Grotta gehalten hatte, daß eine Abtheilung Gensdarmen sich in Cassone befand. Um dorthin zu gelangen, gebrauchte man eine Stunde, eine ebenso lange Zeit zum Rückwege. Sollte es nicht möglich sein, dieses Detachement zu benachrichtigen? Ja, wenn es gelang, sich durch die Belagerer hindurchzustehlen und sich sofort nach Westen in das Gebirge hineinzuschlagen.

»Ich muß durchkommen und ich werde durchkommen, sagte Pointe Pescade zu sich selbst. Zum Teufel! Man ist entweder Clown oder man ist es nicht!«

Und er machte Kap Matifu mit dem Mittel bekannt, welches er zur Herbeiholung von Hilfe in Anwendung bringen wollte.

»Du riskirst aber…, meinte Kap Matifu bedenklich.

– Ich will es!«

Kap Matifu würde nie gewagt haben, Pointe Pescade zu widersprechen.

Beide gingen einer Stelle rechts von der Casa Inglese zu, woselbst der Schnee sich in großen Massen aufgethürmt hatte.

Zehn Minuten später, während der Kampf hinüber und herüber tobte, erschien Kap Matifu wieder, er trieb einen mächtigen Schneeball vor sich her. Inmitten der Felsblöcke, welche die Matrosen auf die Stürmenden herabsandten rollte auch die Schneemasse den Abhang hinab, sie fuhr durch die Räuberbande und blieb einige fünfzig Schritte weiter unten in einer Höhlung des Terrains liegen.

Der halb durch den Sturz geborstene Ball öffnete sich vollends und erlaubte einem flinken, lebendigen, »etwas boshaften Wesen«, wie es von sich selbst sagte, hervorzuschlüpfen.

Pointe Pescade war es. Eingeschlossen in diese Schildkrötenschale von hartem Schnee hatte er es gewagt, sich den Abhang herunterrollen zu lassen, auf die Gefahr hin, in irgend einen Abgrund zu stürzen. Jetzt war er frei und sprang behend die Fußpfade durch das Gebirge in der Richtung nach Cassone hinab.

Die Uhr zeigte jetzt eine halbe Stunde nach Mitternacht.

Der Doctor, der Pointe Pescade nicht mehr sah, fürchtete schon, er wäre verwundet worden. Er rief nach ihm.

»Fort! sagte Kap Matifu.

– Fort?

– Ja!… Er will Hilfe holen.

– Wie entkam er?

– Als Schneeball.«

Kap Matifu erzählte was Pointe Pescade gethan.

»Der tapfere Mensch! rief der Doctor. Muth, Freunde!… Sie sollen uns doch nicht bekommen, diese Banditen!«

Und die Steine klapperten weiter auf die Belagerer nieder. Doch dieses neue Vertheidigungsmittel drohte jetzt ebenso auszugehen wie das frühere.

Gegen drei Uhr Morgens mußten der Doctor, Peter, Luigi und Kap Matifu, gefolgt von ihren Leuten, welche die Verwundeten mit sich führten, das Haus räumen, welches nun in die Hände Zirone’s fiel. Zwanzig seiner Genossen waren bereits todt und trotzdem war die Uebermacht noch auf seiner Seite. Der Rückzug der kleinen Truppe konnte nur in der Weise bewerkstelligt werden, daß man an den Abhängen des Centralkraters hinaufkletterte, dieser Anhäufung von Lava, Schlacken, Asche, deren Spitze ein Krater bildete, das heißt ein unergründlicher, feuerspeiender Abgrund.

Dort hinauf zogen sich Alle zurück, die Verwundeten wurden natürlich mitgenommen. Von den dreihundert Metern, welche der Kegel mißt, durchmaßen sie zweihundertundfünfzig inmitten der Schwefeldämpfe, welche der Wind ihnen in das Gesicht blies.

Der Tag begann bereits heraufzudämmern und schon zeichneten sich die Umrisse der calabrischen Gebirge mit leuchtenden Farben oberhalb der östlichen Küste der Meerenge von Sicilien ab.

Doch in der Lage, in welcher sich der Doctor mit seiner Schaar befand, bot selbst der Tag keine Aussicht auf ein glückliches Entkommen mehr. Immer weiter mußte man sich zurückziehen, die Hügel bis an ihre äußersten Grenzen erklettern und die letzten Felsstücke versenden, was Kap Matifu mit einer fast übermenschlichen Kraft besorgte. Sie mußten sich wiederholt verloren geben, wenn die Flintenkugeln an die Basis des Kegels klatschten.

Plötzlich ein Augenblick der Unentschlossenheit in den Reihen der Banditen. Bald darauf stürzt Alles, was nur fliehen kann, die Abhänge herunter.

Sie hatten die Gensdarmen, die von Cassone herauskamen, Pointe Pescade an ihrer Spitze erkannt.

Der muthige Mensch hatte es nicht nöthig gehabt, bis in die Stadt selbst zu eilen. Die Gensdarmen, welche das Gewehrfeuer vernommen hatten, waren bereits unterwegs gewesen. Pointe Pescade hatte sie nur zur Casa Inglese zu führen gehabt.

Nun hatten der Doctor und die Seinigen die Oberhand. Kap Matifu, als ob er für seine Person allein schon eine Lawine gewesen wäre, sprang auf die Nächsten zu und erwürgte zwei, die nicht mehr Zeit hatten, zu entfliehen. Dann stürzte er auf Zirone zu.

»Bravo, mein Kap, Bravo! rief Pointe Pescade, der herbeigekommen war. Werf’ ihn!… Laß’ ihn die Erde mit den Schultern küssen!… Der Zweikampf zwischen Zirone und Kap Matifu, meine Herren!«

Zirone hörte diese Worte und mit der Hand, die ihm frei blieb, feuerte er seinen Revolver auf Pointe Pescade ab.

Dieser fiel lautlos zu Boden.

Nun ereignete sich eine fürchterliche Scene! Kap Matifu hatte Zirone gepackt und würgte an seinem Halse, ohne daß der halb erdrosselte Schurke dieser Umschlingung sich hätte entziehen können.

Vergebens rief der Doctor, der Zirone gern lebend haben wollte, ihm zu, diesen zu schonen. Vergebens waren Peter und Luigi herbeigesprungen, um Zirone freizumachen. Kap Matifu dachte an nichts weiter als daran, daß Zirone Pointe Pescade erschossen hatte. Er kannte sich selbst nicht mehr, er hörte und sah nicht, er hatte nur das Ueberbleibsel von einem Menschen vor Augen, das er jetzt mit gestreckten Armen von sich abhielt.

Mit einem nochmaligen Sprunge erreichte er den Rand des Kraters, diese gähnende Schwefelgrube, und in diesen Feuerbrunnen hinein schleuderte er Zirone.

Pointe Pescade, der ziemlich schwer verwundet, war vom Doctor zwischen die Kniee genommen worden, der die Wunde prüfte und verband. Als Kap Matifu zu ihm zurückgekehrt war, liefen dicke Thränen über dessen Gesicht.



Plötzlich rollten enorme Felsblöcke hernieder. (S. 388.)


»Habe keine Furcht, mein Kap…. Es ist wirklich nichts!« sagte leise Pointe Pescade.

Kap Matifu nahm ihn in seine Arme wie ein Kind und Alle stiegen die Anhöhe des Kegels hinunter, während die Gensdarmen Jagd auf die letzten Flüchtlinge von Zirone’s Bande machten. Sechs Stunden später hatten der Doctor und die Seinen Catania wieder erreicht und sich auf dem »Ferrato« eingeschifft.

Pointe Pescade wurde in seine Kabine gebettet. Mit dem Doctor als Arzt und Kap Matifu als Pfleger mußte es ihm gut gehen. Seine Wunde – ein Streifschuß an der Schulter – bot zu Befürchtungen keinen Anlaß. Ihre Heilung war nur eine Frage der Zeit. Wenn er schlafen sollte, erzählte Kap Matifu ihm Geschichten – stets die gleichen – und Pointe Pescade sank sofort in einen gefunden Schlaf.

Der Doctor hatte mit dem Beginn seines Feldzuges Unglück gehabt. Nachdem er beinahe selbst in die Hände Zirone’s gefallen war, hatte er sich nicht einmal dieses Genossen Sarcany’s bemächtigen, ihm seine Geheimnisse entreißen können – und das durch die Schuld Kap Matifu’s. Man konnte diesem aber deswegen doch nicht zürnen.

Obgleich der Doctor sich noch fernere acht Tage in Catania aufhielt, war es ihm doch nicht möglich, irgend welche Nachrichten über Sarcany zu erhalten. Wenn dieser wirklich die Absicht gehabt hatte, mit Zirone in Sicilien zusammenzutreffen, so waren seine Absichten inzwischen jedenfalls andere geworden, sobald er erfahren, daß der dem Doctor Antekirtt gestellte Hinterhalt verrathen worden war und Zirone selbst den Tod dabei gefunden hatte.



In diesen Feuerbrunnen schleuderte Kap Matifu Zirone. (S. 391.)


Am 8. September stach der »Ferrato« wieder in See und fuhr mit vollem Dampf nach Antekirtta, woselbst er nach einer schnellen ungetrübten Ueberfahrt eintraf.

Dort schickten sich der Doctor, Peter und Luigi an, die Projecte wiederaufzunehmen und weiter zu erwägen, in deren Ausführung ihr ganzes Leben gipfelte. Es handelte sich jetzt zunächst darum, Carpena aufzufinden, der wissen mußte, was aus Sarcany und Silas Toronthal geworden war.

Zum Unglück für den Spanier, welcher der Vernichtung der Bande Zirone’s dadurch entging, daß er in der Locanda von Santa Grotta zurückblieb, war seine Freiheit nur von kurzer Dauer.

Zehn Tage später meldete einer der Agenten des Doctors diesem, daß Carpena soeben in Syrakus verhaftet worden wäre – nicht als Genosse Zirone’s, sondern eines Verbrechens wegen, welches er vor fünfzehn Jahren schon begangen hatte, eines Todtschlages, wegen dessen er Almayata in der Provinz Malaga verlassen hatte und nach Rovigno in Istrien gewandert war.

Drei Wochen später wurde Carpena, nachdem dem Wunsche nach Auslieferung Folge geleistet war, zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurtheilt und er an die marokkanische Küste, nach Ceuta befördert, einer der größten Sträflingskolonien Spaniens.

»Endlich befindet sich einer dieser Verbrecher im Bagno, sagte Peter, und für immer.

– Für immer?… Nein! erwiderte der Doctor. Wenn Andrea Ferrato auch im Gefängnisse gestorben ist, so braucht Carpena darum noch nicht im Bagno zu sterben!«


Ende des dritten Theiles.


Fußnoten

1 Gegenwärtig sollen die Arbeiten in Angriff genommen werden, welche die Casa Inglese zu einem Observatorium umgestalten; die Kosten bestreitet die italienische Regierung und der Magistrat in Catania.


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