Wo unheimliche Gestalten zu mitternächtlicher Musik tanzen, die nur sie selbst hören können.
The Book of Counted Sorrows
1
Janice Capshaw machte es Spaß, nachts zu laufen.
Janice zog beinahe jeden Abend zwischen zehn und elf Uhr den grauen Jogginganzug mit reflektierenden blauen Streifen auf Rücken und Brust an, streifte sich ein Stirnband über das Haar, schnürte die New Balance-Turnschuhe zu und lief sechs Meilen. Sie war fünfunddreißig, hätte aber als fünfundzwanzig gelten können, und sie schrieb das jugendliche Aussehen ihrer zwanzig Jahre währenden Hingabe ans Laufen zu.
Sonntagnacht, am 21. September, verließ sie das Haus um zehn Uhr und lief vier Blocks nach Norden, zur Ocean Avenue, der Hauptstraße von Moonlight Cove, wo sie links abbog und zum öffentlichen Strand hinunterlief. Die Geschäfte waren geschlossen und dunkel. Abgesehen vom matten Messingglanz der Natriumdampflampen waren die einzigen Lichter die in den Wohnungen über den Geschäften, in der Knight's Bridge Tavern und in der katholischen Kirche Our Lady of Mercy, die rund um die Uhr geöffnet hatte. Auf der Straße fuhren keine Autos, kein Mensch war zu sehen. Moonlight Cove war schon immer eine ruhige kleine Stadt gewesen und mied den Tourismus, den andere Küstenstädte so begierig suchten. Janice gefiel der langsame, gemächliche Gang des Lebens hier, auch wenn die Stadt manchmal spät-nachts nicht nur verschlafen, sondern tot wirkte.
Als sie die kurvenreiche Hauptstraße entlanglief, durch bernsteinfarben erleuchtete Plätze, durch von windgebeugten Zypressen und Pinien geworfene, schichtweise Schatten, nahm sie außer ihrer eigenen keine Bewegung wahr - abgesehen vom dünnen Nebel, der sich träge und schlangengleich durch die windstille Luft voranschob. Die einzigen Geräusche waren das gedämpfte Platsch-platsch der Gummisohlen ihrer Joggingschuhe auf dem Gehweg und ihr keuchendes Atmen. Allem äußeren Anschein zufolge hätte sie der letzte Mensch auf Erden sein können, der sich auf einen einsamen Post-Armageddon-Marathon eingelassen hatte.
Es gefiel ihr nicht, in der Frühe aufzustehen und vor der Arbeit zu laufen, und im Sommer war es angenehmer, ihre sechs Meilen zurückzulegen, wenn die Hitze des Tages nachgelassen hatte. Aber weder Abscheu vor den Morgenstunden noch die Hitze waren die tatsächlichen Gründe dafür, daß sie der Nacht den Vorzug gab; sie hielt sich im Winter an denselben Plan. Sie betrieb ihren Sport schlichtweg um diese Zeit, weil sie die Nacht mochte.
Schon als Kind hatte sie die Nacht dem Tag vorgezogen, saß gerne nach Sonnenuntergang unter dem funkelnden Sternenhimmel im Garten, lauschte Fröschen und Grillen. Die Dunkelheit wirkte beruhigend. Sie machte die scharfen Kanten der Welt weicher, dämpfte die zu grellen Farben. Wenn die Dämmerung anbrach, schien der Himmel zurückzuweichen; das Universum dehnte sich aus. Die Nacht war größer als der Tag, in ihrem Reich schien die Welt mehr Möglichkeiten zu bieten.
Jetzt kam sie an die Biegung der Ocean Avenue am Fuß des Hügels, sprintete über den Parkplatz und zum Strand. Am Himmel über dem dünnen Nebel zogen nur vereinzelte Wolken dahin, und der silberngelbe Glanz des Vollmonds spendete genügend Licht, daß sie sehen konnte, wohin sie lief. In manchen Nächten war der Nebel so dicht, der Himmel so verhangen, daß es nicht möglich war, am Strand zu laufen. Aber heute schäumte die weiße Gischt der ans Ufer rollenden Wellen mit geisterhafter Phosphoreszenz aus dem schwarzen Meer, und der breite Sandstreifen schimmerte blaß zwischen den wogenden Fluten und den Hügeln, und auch im Nebel selbst leuchteten sanft die Spiegelungen des herbstlichen Mondscheins.
Als sie über den Strand zum festeren, feuchten Sand direkt am Wasser lief und sich südwärts wandte, um eine Meile bis zur Spitze der Bucht zu laufen, fühlte Janice sich herrlich vital.
Richard - ihr verstorbener Mann, der vor drei Jahren einem Krebsleiden erlegen war -, hatte gesagt, ihr Biorhyth-mus wäre so sehr auf die Zeit der Mitternacht fixiert, daß sie mehr als nur ein Nachtmensch wäre. »Wahrscheinlich würde es dir gefallen, ein Vampir zu sein und zwischen Sonnenuntergang und Dämmerung zu leben«, hatte er gesagt, und sie hatte geantwortet:
»Ich will dir das Blut aussaugen.« O Gott, sie hatte ihn so sehr geliebt. Anfangs hatte sie geglaubt, das Leben als Frau eines lutherischen Priesters könnte langweilig sein, aber das war es nie gewesen, nicht einen Augenblick. Er fehlte ihr auch drei Jahre nach seinem Tod noch jeden Tag - und in der Nacht noch mehr. Er war...
Als sie an einer Gruppe zehn Meter hoher, in sich gewundener Zypressen vorbeikam, die mitten auf dem Strand wuchsen, auf halbem Weg zwischen dem Wasser und den Hügeln, war Janice plötzlich überzeugt davon, daß sie nicht allein in Nacht und Nebel war. Sie sah keine Bewegung, und sie hörte keinen Laut, abgesehen von den eigenen Schritten, dem keuchenden Atem und dem pochenden Herzschlag; nur ihr Instinkt verriet ihr, daß sie Gesellschaft hatte.
Anfangs war sie nicht ängstlich, weil sie dachte, ein anderer Läufer wäre am Strand unterwegs. Ein paar hiesige Fitneß-Fanatiker liefen gelegentlich nachts, freilich nicht aus freien Stücken, wie sie, sondern, weil sie keine andere Möglichkeit hatten. Sie begegnete ihnen zwei- oder dreimal im Monat auf ihrer Runde.
Aber als sie stehenblieb, sich umdrehte und in die Richtung zurücksah, aus der sie gekommen war, sah sie nur die verlassene Ausdehnung des Sands im Mondlicht, das gekrümmte Band leuchtender, schaumiger Gischt und die vagen aber vertrauten Umrisse von Felsformationen und vereinzelten Bäumen, die sich hier und da am Strand erhoben. Das leise Rauschen der Wellen war das einzige Geräusch.
Sie dachte, daß ihre Instinkte unzuverlässig wären und sie alleine wäre, und daher lief sie weiter am Strand entlang nach Süden und fand ihren Rhythmus bald wieder. Sie kam jedoch nur etwas fünfzig Meter weit, dann sah sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel, etwa zehn Meter links von ihr; ein von Nacht und Nebel verhüllter hastiger Umriß, der von einer Zypresse im Sand zu einer verwitterten Felsformation huschte, hinter der er wieder verschwand.
Janice blieb stehen, blinzelte zu dem Felsen, fragte sich, was sie gesehen hätte. Es schien größer als ein Hund zu sein, vielleicht so groß wie ein Mensch, aber da sie es nur am Rande gesehen hatte, hatte sie keine Einzelheiten erkennen können. Die Formation - sechs Meter lang, an manchen Stellen nur einen Meter hoch, an anderen bis zu drei - war von Wind und Regen bearbeitet worden, bis sie einem Berg halb geschmolzenen Wachses glich; sie war groß genug, das zu verbergen, was Janice gesehen hatte.
»Ist da jemand?« fragte sie.
Sie erwartete keine Antwort und bekam auch keine.
Ihr war unbehaglich zumute, aber sie hatte keine Angst. Wenn sie mehr gesehen hatte als eine Täuschung des Mondlichts oder Nebels, dann war es sicher ein Tier gewesen -aber kein Hund, denn ein Hund wäre schnurstracks auf sie zugelaufen und nicht so geheimnistuerisch gewesen. Da es an der Küste keine Raubtiere gab, die hätten gefährlich werden können, empfand sie auch mehr Neugier als Angst.
Sie stand reglos da, von einem dünnen Schweißfilm überzogen, und bemerkte allmählich die Kälte. Sie hüpfte auf einer Stelle, um sich warm zu halten, und behielt den Felsen im Auge, weil sie damit rechnete, daß das Tier aus seiner Deckung kommen und entweder nach Norden oder Süden am Strand entlanglaufen würde.
Ein paar Leute in der Gegend hielten Pferde, die Fosters hatten sogar eine Stallung am Meer, etwa zweieinhalb Meilen von hier hinter der Nordflanke der Bucht. Vielleicht war eines ihrer Tiere ausgebrochen. Das Ding, das sie aus dem Augenwinkel gesehen hatte, war zwar nicht so groß wie ein Pferd gewesen, aber es konnte ein Pony sein. Andererseits, hätte sie die Hufschläge eines Ponys nicht selbst im weichen Sand hören müssen? Wenn es sich tatsächlich um ein Pferd der Fosters handelte - oder von jemand anderem aus der Gegend -, sollte sie natürlich versuchen, es wieder einzufangen oder sie wenigstens wissen lassen, wo sie es wiederfinden könnten.
Da sich nichts bewegte, lief sie schließlich zu den Felsen und umkreiste sie einmal. Am Ansatz der Formation und in den Klüften im Fels waren ein paar samtweiche Schatten, aber der größte Teil lag im milchigen, schimmernden Mondschein, und dort war kein Tier zu sehen.
Sie dachte niemals ernsthaft an die Möglichkeit, daß sie etwas anderes als einen Läufer oder ein Tier gesehen haben, daß sie sich in echter Gefahr befinden könnte. Abgesehen von gelegentlichen Vorfällen von Vandalismus oder Einbrüchen - die immer auf das Konto eines oder mehrerer frustrierter Halbwüchsiger gingen - und Verkehrsunfällen, war die hiesige Polizei weitgehend beschäftigungslos. Verbrechen an Personen - Vergewaltigungen, Überfälle, Mord -waren in einer so kleinen und verschworenen Gemeinde wie Moonlight Cove selten; es war fast, als lebten sie an diesem Strandabschnitt in einem anderen, gnädigeren Zeitalter als der Rest von Kalifornien.
Als sie die Formation umkreist hatte und zu dem festen Sand nahe der schäumenden Brandung zurückkehrte, war Janice zu der Überzeugung gekommen, daß sie sich vom Mondschein und dem Nebel - zwei geschickten Täuschern -hätte narren lassen. Sie hatte sich die Bewegung nur eingebildet; sie war allein am Strand.
Sie stellte fest, daß der Nebel immer dichter wurde, aber sie lief dennoch weiter am sichelförmigen Strand entlang zur Südspitze der Bucht. Sie war sicher, daß sie dorthin gelangen und zur Ocean Avenue zurückkehren konnte, bevor die Sichtverhältnisse allzu schlecht wurden.
Wind kam auf und wehte übers Meer; er wirbelte den Nebel durcheinander, der sich von gazeartigem Dunst zu weißen Schlieren zu verfestigen schien, als wäre er Milch, die zu Butter gestampft wird. Als Janice das südliche Ende des schmäler werdenden Strands erreicht hatte, wehte der Wind heftiger, die Gischt war ebenfalls lebhafter, schäumende Schleier wurden aufgewirbelt, wenn Wellen auf den gemauerten, künstlichen Wellenbrecher brandeten, der als Erweiterung der natürlichen Landzunge erbaut worden war.
Jemand stand auf dieser fünf Meter hohen Mauer und sah zu ihr herunter. Janice sah auf, als sich eine Nebelschwade verzog und der Umriß im Mondlicht zu erkennen war.
Jetzt bekam sie Angst.
Der Fremde befand sich zwar direkt vor ihr, aber sie konnte sein Gesicht im Halbdunkel nicht sehen. Er schien groß zu sein, über einen Meter achtzig, aber das konnte auch eine Täuschung der Perspektive sein.
Abgesehen von seinem Umriß waren nur seine Augen zu erkennen, und diese erfüllten sie mit Angst. Sie leuchteten weich wie Bernstein, wie die Augen eines Tiers in Scheinwerfern.
Als sie direkt zu ihm aufsah, schlug sein Blick sie einen Moment in den Bann. Er war vom Mond beleuchtet, ragte über ihr auf, groß und reglos auf Mauersteinen, während Gischt rechts und links von ihm explodierte, er hätte ein aus Stein gehauenes Götzenbild mit Juwelen als Augen sein können, das von einem dämonenanbetenden Kult in einem längst vergangenen dunklen Zeitalter errichtet worden war. Janice wollte sich umdrehen und weglaufen, aber sie konnte sich nicht bewegen, sie schien am Strand festgewachsen und befand sich im Griff einer lähmenden Angst, wie sie sie bis -her nur in Alpträumen gekannt hatte.
Sie fragte sich, ob sie wach wäre. Vielleicht war ihr mitternächtlicher Lauf tatsächlich Teil eines Alptraums, vielleicht lag sie in Wirklichkeit wohlbehalten unter warmen Decken schlafend im Bett.
Dann gab der Mann ein eigentümliches, leises Knurren von sich, teilweise ein zorniges Fauchen, aber auch ein Zischen; teilweise ein heißer, drängender Schrei des Verlangens, aber gleichzeitig kalt, kalt.
Dann bewegte er sich.
Er ließ sich auf alle viere nieder und kam den hohen Wellenbrecher herunter, aber nicht wie ein gewöhnlicher Mensch die unebenen Steine heruntergekommen wäre, sondern mit katzenhafter Schnelligkeit und Anmut. Sekunden, dann würde er bei ihr sein.
Janice riß sich aus der Lähmung, drehte sich in ihren Fußstapfen um und lief zum öffentlichen Strandabschnitt zurück - der eine ganze Meile entfernt war. Häuser mit erleuchteten Fenstern standen auf der steilen Klippe, die über die Bucht aufragte, von einigen verliefen Treppen zum Meer herab, aber sie traute sich nicht zu, diese Treppen in der Dunkelheit zu finden. Sie verschwendete keine Energie für einen Schrei, denn sie bezweifelte, daß sie jemand hören würde. Wenn der Schrei sie verlangsamte, und seien es nur Sekundenbruchteile, würde sie vielleicht überwältigt und zum Schweigen gebracht, bevor jemand aus dem Ort auf ihre Schreie reagieren könnte.
Ihre zwanzigjährige Hingabe an das Laufen war noch nie so wichtig gewesen wie in diesem Augenblick; es ging nicht mehr um ihre Gesundheit, das spürte sie, sondern um ihr Leben. Sie preßte die Arme fest an die Seiten, senkte den Kopf, sprintete, mehr auf Schnelligkeit denn Ausdauer bedacht, weil sie sich dachte, daß sie nur bis zum ersten Block der Ocean Avenue kommen mußte, um in Sicherheit zu sein. Sie glaubte nicht, daß der Mann - oder was, zum Teufel, es auch war - sie bis auf die beleuchtete, bevölkerte Straße verfolgen würde.
Schnelle Wolkenstreifen huschten über einen Teil des Mondgesichts. Das Mondlicht wurde düster, heller, düster und wieder heller, ein ungleichmäßiger Rhythmus, der durch den zunehmend dichter werdenden Nebel pulsierte und so einen Schwärm Phantome erzeugte, die sie wiederholt erschreckten und scheinbar auf allen Seiten mit ihr Schritt zu halten schienen. Das unheimliche, pulsierende Licht trug seinen Teil zum traumartigen Charakter der Verfolgungsjagd bei, und sie war halb davon überzeugt, daß sie tatsächlich im Bett lag und fest schlief, aber sie blieb dennoch nicht stehen, um über die Schulter zu sehen, denn Traum oder nicht, der Mann mit den Bernsteinaugen war immer noch hinter ihr her.
Sie hatte die halbe Strecke zwischen der Spitze der Bucht und der Ocean Avenue hinter sich gebracht, und ihre Zuversicht wuchs mit jedem Schritt, als ihr klar wurde, daß zwei der Phantome im Nebel gar keine Phantome waren. Einer war etwa sechs Meter rechts von ihr und lief aufrecht wie ein Mensch; das andere war links, weniger als fünfzehn Schritte entfernt, es platschte auf allen vieren durch die schaumige Spitzendecke der Gischt, so groß wie ein Mensch, aber eindeutig kein Mensch, denn kein Mensch konnte in der Haltung eines Hundes so flink und behende sein. Sie hatte nur einen allgemeinen Eindruck von Gestalt und Größe, und von ihren Gesichtern konnte sie außer den seltsam leuchtenden Augen keinerlei Einzelheiten erkennen.
Sie wußte irgendwie, daß keines dieser Wesen der Mann war, den sie auf dem Wellenbrecher gesehen hatte. Er war hinter ihr und lief entweder aufrecht oder eilte auf allen vieren. Sie war beinahe umzingelt.
Janice unternahm keinen Versuch sich vorzustellen, was sie sein mochten. Die Analyse dieses unheimlichen Erlebnis -ses mußte auf später verschoben werden; vorerst akzeptierte sie einfach die Existenz des Unmöglichen, denn als Witwe eines Priesters und zutiefst gläubige Frau besaß sie die Fähigkeit, das Unbekannte und Überirdische zu akzeptieren, wenn sie damit konfrontiert wurde.
Sie ließ sich von der Angst antreiben, die sie zuvor gelähmt hatte, und lief schneller. Aber ihre Verfolger ebenfalls.
Sie hörte ein eigentümliches Wimmern und merkte erst allmählich, daß sie ihre eigene gequälte Stimme hörte.
Die Phantomgestalten rings um sie herum wurden von ihrer Angst offensichtlich erregt und fingen an zu plärren. Ihre Stimmen schwollen an und ab, bewegten sich zwischen schrillem, gedehntem Winseln und kehligem Knurren. Am schlimmsten aber war, daß diese heulenden Laute von einzelnen, hastig und drängend gesprochenen Worten kontra-punktiert wurden: »Schnappt das Flittchen, schnappt das Flittchen, schnappt das Flittchen...«
Was, in Gottes Namen, waren sie? Sicher keine Menschen, dennoch konnten sie wie Menschen aufrecht stehen und sprechen; was also konnten sie anderes sein als Menschen?
Janice spürte, wie sich das Herz in ihrer Brust ausdehnte und heftig schlug.
»Schnappt das Flittchen...«
Die geheimnisvollen Gestalten, die sie flankierten, kamen langsam näher, und sie versuchte, schneller zu laufen, um ihnen zu entkommen, aber sie ließen sich nicht abschütteln. Sie überbrückten die Entfernung allmählich. Sie konnte sie dicht neben sich erkennen, wagte aber nicht, sie direkt anzusehen, weil sie fürchtete, ihr Anblick könnte sie so sehr erschrecken, daß sie wieder gelähmt sein und starr vor Entsetzen niedergerissen werden könnte.
Sie wurde auch so niedergerissen. Etwas sprang sie von hinten an. Sie stürzte, eine gewaltige Last drückte sie nieder, und alle drei Kreaturen schwärmten über sie, berührten sie und zerrten an ihrer Kleidung.
Dieses Mal verdeckten Wolken den größten Teil des Mondes, Schatten fielen wie Fetzen eines Himmels aus schwarzem Tuch.
Janices Gesicht wurde fest in den feuchten Sand gedrückt, aber ihr Kopf war zur Seite gedreht, der Mund frei, daher konnte sie endlich schreien, auch wenn es kein sehr lauter Schrei wurde, weil sie völlig außer Atem war. Sie schlug um sich, trat aus, ruderte mit den Armen und versuchte verzweifelt, sie zu treffen, traf aber weitgehend Luft und Sand.
Jetzt konnte sie nichts mehr sehen, denn der Mond war vollkommen verdeckt.
Sie hörte Stoff reißen. Der Mann, der auf ihr saß, riß ihre Nike-Jacke herunter, zerfetzte den Stoff und zerkratzte ihr dabei die Haut. Sie spürte die heiße Berührung einer Hand, die rauh aber menschlich zu sein schien.
Er nahm sein Gesicht kurz von ihr, und sie schlängelte sich vorwärts und wollte entkommen, aber sie sprangen und stießen sie in den Sand. Dieses Mal war sie bei den Ausläufern der Wellen und hatte das Gesicht im Wasser.
Ihre Angreifer, die abwechselnd winselten, wie Hunde hechelten, zischten und knurrten, stießen hastige Worte hervor, während sie sie packten:
»...schnappt sie, schnappt sie, schnappt sie ...«
»...wollen, wollen es, wollen es ...«
»...jetzt, jetzt, schnell, jetzt schnell, schnell, schnell...«
Sie zerrten an ihrer Jogginghose und wollten sie ausziehen, aber sie war nicht sicher, ob sie sie vergewaltigen oder verschlingen wollten; vielleicht keins von beiden; was sie wollten, entzog sich ihrem Verständnis. Sie wußte nur, sie waren von einem überwältigend starken Bedürfnis überkommen worden, denn die kalte Nachtluft war ebenso stark von ihrem Verlangen wie von Nebel und Dunkelheit erfüllt. Einer drückte ihr Gesicht tiefer in den feuchten Sand, und jetzt war das Wasser rings um sie herum; es war nur Zentimeter tief, reichte aber aus, sie zu ertränken, und sie ließen sie nicht Atem holen. Sie wußte, sie würde sterben, sie wurde hilflos festgehalten, sie würde sterben, und das nur, weil sie gerne nachts lief.
2
Am Montag, dem 13. Oktober, zweiundzwanzig Tage nach dem Tod von Janice Capshaw, fuhr Sam Booker mit einem Mietwagen vom International Airport in San Francisco nach Moonlight Cove. Während der Fahrt spielte er ein grimmiges, aber auf finstere Weise amüsantes Spiel mit sich selbst, indem er sich im Geiste eine Liste der Gründe machte, warum er weiterleben sollte. Obwohl er länger als eine Stunde unterwegs war, fielen ihm nur vier Gründe ein: Guiness Stout, wirklich gutes mexikanisches Essen, Goldie Hawn und die Angst vor dem Sterben.
Das dunkle, starke irische Bier erfreute ihn immer wieder und ließ ihn vorübergehend das Elend der Welt vergessen. Restaurants, die ständig erstklassiges mexikanisches Essen anboten, waren schon ungleich schwerer zu finden als Gui-ness; dieser Trost war daher weniger häufig. Sam hatte sich schon vor langer Zeit in Goldie Hawn verliebt - besser gesagt, das Leinwandimage, das sie verkörperte -, weil sie schön und niedlich war, bodenständig und intelligent, und zudem schien ihr das Leben so verdammt viel Spaß zu machen. Seine Chancen, Goldie Hawn kennenzulernen, standen etwa eine millionmal schlechter als die, in einer nordkalifornischen Küstenstadt wie Moonlight Cove ein erstklassiges mexikanisches Restaurant zu finden; daher war er froh, daß sie nicht der einzige Grund zum Weiterleben war.
Als er sich seinem Ziel näherte, drängten sich hohe Pinien und Zypressen am Highway l, bildeten einen graugrünen Tunnel und warfen im spätnachmittäglichen Sonnenschein lange Schatten. Der Tag war wolkenlos und dennoch seltsam bedrohlich; der Himmel war hellblau und trotz seiner kristallenen Klarheit kahl, ganz anders als das tropische Blau, an das er in Los Angeles gewöhnt war. Die Temperatur lag zwar um die dreißig Grad, doch der grelle Sonnenschein, der einem von einer Eisfläche reflektierten Schimmer glich, schien die Farben der Landschaft einzufrieren und sie mit einem Hauch imitierten Frosts trübe zu machen.
Angst vor dem Sterben. Das war der beste Grund auf seiner Liste. Er war erst zweiundvierzig Jahre alt - einsachtundsiebzig groß, achtzig Kilo, momentan gesund -, dennoch war Sam Booker schon sechsmal am Ufer des Todes entlanggeschlittert, hatte in die Gewässer darunter gesehen und festgestellt, daß der Sprung hinein nicht einladend war.
An der rechten Seite des Highways tauchte ein Hinweisschild auf: OCEAN AVENUE, MOONLIGHT COVE, 2 MEILEN.
Sam fürchtete nicht die Schmerzen des Sterbens, denn die würden binnen eines Augenblicks vorbei sein. Er hatte auch keine Angst davor, sein Leben unvollendet zurückzulassen; er hatte seit mehreren Jahren keine Ziele oder Hoffnungen oder Träume mehr, er mußte nichts vollenden, nichts besaß Bedeutung oder Wichtigkeit. Aber er hatte Angst davor, was nach dem Leben kam.
Vor fünf Jahren hatte er mehr tot als lebendig auf einem Operationstisch beinahe ein Sterbeerlebnis gehabt. Während sich die Ärzte hektisch bemüht hatten, ihn zu retten, war er aus seinem Körper emporgestiegen und hatte von der Decke auf seinen Leichnam und das Ärzteteam, das ihn umringte, hinabgesehen. Dann war er plötzlich durch einen Tunnel gerast, auf grelles Licht zu, auf die andere Seite zu: das vollständige Sterbeklischee, wie man es auf den Titelseiten der Regenbogenpresse im Supermarkt immer wieder finden konnte. Der geschickte Arzt hatte ihn im allerletzten Augenblick ins Land der Lebenden zurückgezogen, aber erst, nachdem er einen Blick auf das geworfen hatte, was sich am Ende des Tunnels befand. Was er gesehen hatte, erfüllte ihn mit Entsetzen. Das Leben war, wenn auch manchmal grausam, dem vorzuziehen, was seiner Meinung nach danach folgte.
Er kam zur Ausfahrt Ocean Avenue. Am unteren Ende der Rampe, wo sich die Ocean Avenue unter dem Pacific Coast Highway nach Westen erstreckte, kam ein weiteres Schild: MOONLIGHT COVE y2 MEILE.
Ein paar Häuser standen in purpurner Düsternis zwischen den Bäumen auf beiden Seiten der zweispurigen Asphaltstraße; die Fenster waren schon eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit gelb erleuchtet. Einige waren in dem bayerischen Stil erbaut, der nach Meinung einiger Bauherrn der vierziger und fünfziger Jahre mit der nordkalifornischen Küstenlandschaft harmonierte - Fachwerk und tief gezogene Giebel. Andere waren Bungalows im Monterey-Stil mit wie-ßen Verschalungsbrettern oder schindelverkleideten Mauern und üppigen architektonischen Verzierungen in einem Märchen-Rokoko-Stil. Da Moonlight Cove erst in den zurückliegenden zehn Jahren gewachsen war, waren viele Häuser anmutige, moderne Bauwerke mit zahlreichen Fenstern, die an von einer unvorstellbaren Flut an Land geschleuderte Schiffe erinnerten, die auf den Klippen über dem Meer gestrandet waren.
Als Sam der Ocean Avenue in das sechs Blocks lange Geschäftsviertel folgte, überkam ihn sofort ein seltsames Ge -fühl, daß etwas nicht stimmte. Geschäfte, Restaurants, Tavernen, ein Markt, zwei Kirchen, die Stadtbücherei, ein Kino und andere gewöhnliche Einrichtungen befanden sich entlang der Hauptstraße, die sich bis zum Meer hinab erstreckte, aber für Sam hatte die Gemeinde etwas undefinierbares, aber überwältigend Seltsames an sich, und er erschauerte.
Er konnte diese ablehnende Reaktion auf den Ort nicht exakt begründen, aber sie war höchstwahrscheinlich auf das ernste Spiel von Licht und Schatten zurückzuführen. Im freudlosen Sonnenschein des sterbenden Herbsttages sah die aus grauem Stein erbaute katholische Kirche wie eine fremde Stahlkonstruktion aus, die nicht für menschliche Zwecke geschaffen worden zu sein schien. Ein weißgetünchter, stuckverzierter Spirituosenladen sah aus, als bestünde er aus im Lauf der Zeit gebleichten Knochen. Viele Schaufenster waren vom grauen Star gespiegelten Lichts der Sonne befallen, die dem Horizont entgegensank, als wären sie bemalt worden, um die Aktivitäten derjenigen, die dahinter arbeiteten, zu verbergen. Die Schatten, welche von Häusern, Pinien und Zypressen geworfen wurden, waren pechschwarz, kantig und rasiermesserscharf.
Sam bremste vor der Ampel an der dritten Kreuzung, auf halbem Weg durch das Geschäftsviertel. Da hinter ihm kein Verkehr wartete, ließ er sich Zeit, die Leute auf den Gehwegen zu studieren. Es waren nicht viele zu sehen, acht oder zehn, doch auch sie machten ihn mißtrauisch, obwohl die Gründe, weshalb er ihnen gegenüber gemischte Gefühle hegte, nicht so greifbar waren wie jene, die seine Vorbehalte gegenüber dem Ort selbst hervorriefen. Sie schritten stramm und zielstrebig dahin, hatten die Köpfe erhoben und eine Aura des Zeitdrucks um sich, die nicht zu einer entspannten Strandsiedlung mit nur dreitausend Seelen zu passen schien.
Er seufzte und fuhr weiter die Ocean Avenue entlang, wobei er sich sagte, daß seine Fantasie mit ihm durchging. Moonlight Cove und seine Einwohner hätten wahrschein -lich nicht im mindesten seltsam gewirkt, wäre er nur auf der Durchreise gewesen und von der Küstenstraße abgebogen, um in einem hiesigen Restaurant zu essen. Aber er war schon mit dem Wissen hergekommen, daß hier etwas faul war, daher war es kein Wunder, daß er selbst in einer vollkommen unschuldigen Szene düstere Zeichen erblickte. Jedenfalls sagte er das zu sich selbst. Aber er wußte es besser.
Er war nach Moonlight Cove gekommen, weil hier Menschen gestorben waren, weil die offiziellen Angaben zu den Todesursachen verdächtig waren und er eine Ahnung hatte, daß die Wahrheit, war sie erst auf gedeckt, außergewöhnlich beunruhigend sein würde. Er hatte im Lauf der Jahre gelernt, auf diese Ahnungen zu achten; das hatte ihn am Leben gehalten.
Er parkte den gemieteten Ford vor einem Geschenkartikelladen.
Im Westen sank die blutarme Sonne am äußersten Rand des schiefergrauen Meeres durch einen Himmel, der langsam düster rot wurde. Tentakelgleiche Nebelschwaden stiegen langsam von dem bewegten Meer empor.
3
Chrissie Fester, die in der Speisekammer neben der Küche saß und den Rücken an ein Regal voll Konservendosen lehnte, sah auf die Uhr. Sie sah im schroffen Licht der Glühbirne, die nackt in einer Fassung an der Decke hing, daß sie jetzt fast neun Stunden in der winzigen, fensterlosen Kammer eingesperrt war. Sie hatte die Armbanduhr zu ihrem elften Geburtstag bekommen, also vor mehr als vier Monaten, und sie hatte ihr gefallen, weil es keine Kinderuhr mit auf dem Zifferblatt aufgemalten Comicfiguren war; es war eine zierliche, damenhafte, vergoldete Armbanduhr mit römischen Ziffern statt Zahlen, eine echte Timex, wie ihre Mutter eine trug. Als sie sie betrachtete, wurde Chrissie von Traurigkeit überkommen. Die Uhr repräsentierte eine Zeit des Glücks und der Familienzusammengehörigkeit, die für immer dahin war.
Davon abgesehen, daß sie sich traurig, einsam und nach der stundenlangen Gefangenschaft unruhig fühlte, hatte sie auch Angst. Sie hatte selbstverständlich nicht so sehr Angst wie heute morgen, als ihr Vater sie durch das Haus getragen und in die Vorratskammer geworfen hatte. Da hatte sie um sich getreten und gekreischt und war entsetzt über das gewesen, was sie gesehen hatte. Über das, was aus ihren Eltern geworden war. Doch dieses weißglühende Entsetzen hatte sich nicht halten können; es war allmählich zu einem unterschwelligen Fieber der Angst geworden, durch das sie sich gleichzeitig heiß und kalt fühlte, unwohl und mit Kopfschmerzen, als befände sie sich im Anfangsstadium einer Erkältung.
Sie fragte sich, was sie mit ihr anstellen würden, wenn sie sie schließlich aus der Vorratskammer holten. Nun, eigentlich fragte sie sich gar nicht, was sie mit ihr anstellen würden, weil sie ziemlich sicher war, daß sie die Antwort darauf bereits wußte: Sie würden sie zu einer von ihnen machen. Sie fragte sich eigentlich nur, wie die Verwandlung bewerkstelligt werden würde - und was gmau sie werden würde. Sie wußte, ihre Mutter und ihr Vater waren keine gewöhnlichen Menschen mehr, sie waren etwas anderes, aber sie konnte mit Worten nicht beschreiben, was sie geworden waren.
Ihre Angst wurde noch von der Tatsache gesteigert, daß ihr auch die Worte fehlten, sich selbst zu erklären, was in ihrem eigenen Zuhause vor sich ging, denn sie hatte Worte schon immer gemocht und auf ihre Macht vertraut. Sie las einfach alles: Gedichte, Kurzgeschichten, Romane, die Tageszeitung, Zeitschriften und die Rückseiten von Frühstücksflockenkartons, wenn nichts anderes zur Verfügung stand. In der Schule war sie in der sechsten Klasse, aber Mrs. Tokawa, ihre Lehrerin, sagte, sie könne lesen wie eine Zehntkläßlerin. Wenn sie nicht las, schrieb sie manchmal selbst Kurzgeschichten. Sie hatte sich im Lauf des vergangenen Jahres entschieden, daß sie, wenn sie groß geworden war, selbst Romane schreiben wollte, wie die von Mr. Paul Zindel oder die tollen, etwas albernen von Mr. Daniel Pink-water, oder, am allerbesten, die von Ms. Andre Norton.
Aber jetzt halfen Worte nichts mehr; ihr Leben würde völlig anders verlaufen, als sie es sich vorgestellt hatte. Der Verlust der behaglichen Bilderbuchzukunft, die sie vorausgesehen hatte, machte ihr ebenso Angst wie die Veränderungen, die mit ihren Eltern vonstatten gegangen waren. Chrissie war acht Monate vor ihrem zwölften Geburtstag nachdrücklich auf die Unsicherheiten des Lebens aufmerksam gemacht worden, ein grimmiges Wissen, auf das sie nur unzulänglich vorbereitet war.
Nicht, daß sie schon aufgegeben hätte. Sie wollte kämpfen. Sie wollte sich nicht ohne Widerstand von ihnen verwandeln lassen. Kurz nachdem sie in die Vorratskammer geworfen worden war, als die Tränen getrocknet waren, hatte sie sich umgesehen, was die Regale enthielten, um eine Waffe zu haben. Die Kammer enthielt größtenteils Nahrungsmittel in Dosen, Flaschen oder Kartons, aber auch Wäsche und Arzneimittel und Haushaltwaren. Sie hatte etwas Perfektes gefunden: eine kleine Sprühdose WD-40, ein Schmiermittel auf Ölbasis. Sie war kaum ein Drittel so groß wie eine gewöhnliche Sprühdose und ließ sich mühelos verstecken. Wenn sie sie überraschen, es ihnen in die Augen sprühen und sie vorübergehend blenden könnte, gelänge ihr vielleicht die Flucht.
Sie sagte, als würde sie eine Zeitungsschlagzeile lesen: »Einfallsreiches junges Mädchen rettet sich selbst mit gewöhnlichen Haushaltsschmiemittel.«
Sie hielt das WD-40 in beiden Händen, weil es ihr Zuversicht gab.
Hin und wieder tauchte eine beunruhigende Erinnerung auf; das Gesicht ihres Vaters, wie es ausgesehen hatte, als er sie in die Kammer warf - rot und aufgedunsen und wütend, dunkle Ringe unter den Augen, geblähte Nasenflügel, zu einem Fauchen über die Zähne zurückgezogene Lippen, sämtliche Gesichtszüge vor Wut verzerrt. »Ich komme wieder zu dir«, hatte er gesagt und beim Sprechen gesabbert. »Ich komme wieder.«
Fr schlug die Tür zu und versperrte sie mit einem schräggestellten Stuhl, den er unter den Türknauf schob. Später, als es im Haus still geworden war und ihre Eltern weggegangen zu sein schienen, hatte Chrissie mit aller Kraft versucht, die Tür aufzumachen, aber der gekippte Stuhl erwies sich als unüberwindliches Hindernis.
Ich komme wieder zu dir.Ich komme wieder.
Sein verzerrtes Gesicht und die blutunterlaufenen Augen hatten sie an Robert Louis Stevensons Beschreibung des mordlüsternen Mr. Hyde in der Geschichte von Dr. Jekyll denken lassen, die sie vor ein paar Monaten gelesen hatte. Ihr Vater hatte den Wahnsinn in sich; er war nicht mehr derselbe Mann, der er einmal gewesen war.
Aber die Erinnerung daran, was sie oben im Flur gesehen hatte, als sie den Schulbus verpaßt und heimgekommen war und ihre Eltern überrascht hatte, war noch beunruhigender. Nein. Sie waren gar nicht mehr ihre Eltern. Sie waren... etwas anderes.
Sie erschauerte.
Sie umklammerte die Dose WD-40.
Dann hörte sie plötzlich, zum ersten Mal seit Stunden, Geräusche in der Küche. Die Hintertür des Hauses ging auf. Schritte. Mindestens zwei, möglicherweise drei oder vier Menschen.
»Sie ist da drin«, sagte ihr Vater.
Chrissies Herz stolperte, dann fand es einen neuen, schnelleren Rhythmus.
»Es wird nicht schnell gehen«, sagte ein anderer Mann. Chrissie kannte die tiefe, leicht krächzende Stimme nicht. »Sehen Sie, bei einem Kind ist es komplizierter. Shaddack ist nicht sicher, ob wir schon für Kinder bereit sind. Es ist nicht ohne Risiko.«
»Sie muß verwandelt werden, Tucker.« Das war Chrissies Mutter, Sharon, deren Stimme sich nicht wie sonst anhörte. Es war schon ihre Stimme, aber ohne die übliche Sanftheit, ohne den natürlichen, musikalischen Tonfall, der sie zur perfekten Märchenvorleserin gemacht hatte. »Selbstverständlich, ja, es muß geschehen«, sagte der Fremde, dessen Name offenbar Tucker war. »Das w^iß ich. Shaddack weiß es auch. Er hat mich schließlich hergeschickt, oder nicht? Ich wollte nur sagen, daß es länger als gewöhnlich dauern kann. Wir brauchen einen Ort, wo sie sie binden und während der Verwandlung beobachten können.«
»Hier. Oder in ihrem Zimmer.«
Verwandlung?
Chrissie stand zitternd auf und ging zur Tür.
Der gekippte Stuhl wurde schiebend und polternd unter dem Knauf weggezogen.
Sie hielt die Sprühdose in der rechten Hand, die an der Seite herabhing und nach hinten gedreht war, und legte den Zeigefinger auf den Knopf.
Die Tür ging auf, und ihr Vater sah zu ihr herein.
Alex Fester - Chrissie versuchte, ihn als Alex Fester zu betrachten, nicht als ihren Vater, nur Alex Fester, aber sie konnte nicht leugnen, daß er in mancherlei Hinsicht immer noch ihr Vater war. Außerdem war >Alex Foster< ebenso unzutreffend wie >Vater<, weil er etwas vollkommen anderes war.
Sein Gesicht war nicht mehr wutverzerrt. Er schien wieder ganz der Alte zu sein; dichtes blondes Haar; ein breites, freundliches Gesicht mit scharfgeschnittenen Zügen; Sommersprossen auf Wangen und Nase. Trotzdem konnte sie den gräßlichen Unterschied in seinen Augen sehen. Er schien von einem seltsamen Drängen erfüllt zu sein, einer nervösen Anspannung. Hungrig. Ja, das war es: Daddy schien hungrig zu sein... von Hunger verzehrt; verrückt vor Hunger, hungrig...aber nach etwas anderem als Essen. Sie verstand seinen Hunger nicht, aber sie spürte ihn, ein heftiges Bedürfnis, das seine Muskeln unablässig verkrampfte, ein Bedürfnis von so überwältigender Macht, so heiß, daß Wellen von ihm aufzusteigen schienen wie Dampf von kochendem Wasser.
Er sagte: »Komm heraus Chrissie.«
Chrissie ließ die Schultern sinken, blinzelte, als würde sie Tränen unterdrücken, übertrieb das Zittern, das durch sie lief und bemühte sich, klein, verängstigt und geschlagen auszusehen. Sie kam zögernd nach vorne.
»Komm schon, komm schon«, sagte er ungeduldig und winkte sie aus der Vorratskammer heraus.
Chrissie trat zur Tür heraus und sah ihre Mutter, die neben Alex und etwas hinter ihm stand. Sharon war hübsch -kastanienfarbenes Haar, grüne Augen -, aber sie hatte nichts Sanftes oder Mütterliches mehr an sich. Sie sah schroff und verändert aus und schien von derselben, kaum verhohlenen nervösen Energie erfüllt zu sein wie ihr Mann.
Am Küchentisch stand ein Fremder in Jeans und karierter Jägerjacke. Das war offenbar Tucker, mit dem ihre Mutter gesprochen hatte: groß, hager, nur vorstehende Knochen und Gelenke. Sein kurzgeschnittenes schwarzes Haar sträubte sich. Die dunklen Augen befanden sich unter einer flachen, knochigen Stirn; die scharfgeschnittene Nase war wie ein Keil aus Stein in sein Gesicht getrieben; der Mund war ein schmaler Schlitz, der Kiefer vorspringend wie der eines Raubtiers, das kleinen Tieren auflauert und sie mit einem einzigen Bissen in zwei Hälften teilt. Er hatte eine schwarze Arzttasche in einer Hand.
Ihr Vater streckte die Hand nach Chrissie aus, als sie aus der Vorratskammer kam, und sie riß die Dose WD-40 hoch und sprühte es ihm aus einer Entfernung von etwa fünfzig Zentimetern in die Augen. Während ihr Vater überrascht und unter Schmerzen aufheulte, wirbelte Chrissie herum und sprühte auch ihrer Mutter direkt ins Gesicht. Sie griffen halb blind nach ihr, aber sie entkam ihnen und rannte durch die Küche.
Tucker war verblüfft, konnte sie aber am Arm packen.
Sie drehte sich zu ihm herum und trat ihm zwischen die Beine.
Er ließ sie nicht los, aber seine großen Hände hatten keine Kraft mehr. Sie riß sich von ihm los und rannte in die Diele.
4
Von Osten senkte sich die Dämmerung über Moonlight Co-ve, als wäre sie kein Nebel aus Wasser, sondern aus rauchigem, purpurnem Licht. Es war kalt, als Sam Booker aus dem Auto ausstieg; er war froh, daß er einen Wollpullover unter dem Cordmantel trug. Als eine Fotozelle sämtliche Straßenlaternen auf einmal aufleuchten ließ, schlenderte er die Oce-an Avenue entlang, betrachtete Schaufenster und versuchte, ein Gefühl für den Ort zu bekommen.
Er wußte, daß es Moonlight Cove gut ging, daß es praktisch keine Arbeitslosigkeit gab - dank der Firma New Wave Mikrotechnologie, die hier vor zehn Jahren ihren Stammsitz gebaut hatte - trotzdem sah er Anzeichen wirtschaftlicher Zusammenbrüche. Taylor's Geschenkstudio und der Juwelier Saenger hatten ihre Geschäfte aufgegeben; er konnte durch die staubigen Fensterscheiben leere Regale, leere Schaukästen und tiefe, reglose Schatten sehen. New Attitudes, eine Boutique mit aktueller Mode, machte Ausverkauf wegen Geschäftsaufgabe, und man konnte dem Zustrom der Kunden entnehmen, daß die Kleidungsstücke selbst bei Preisnachlässen von fünfzig bis siebzig Prozent nur schleppend gingen.
Als er zwei Blocks nach Westen gegangen war, zum am Strand gelegenen Stadtrand, die Straße überquert und auf der anderen Seite der Ocean Avenue drei Blocks bis zur Knight's Bridge Tavern zurückgegangen war, verschwand der letzte Rest Dämmerung zunehmend. Perlmuttartiger Nebel kroch vom Meer herein, die Luft selbst schien phosphoreszierend zu sein und schwach zu schimmern; über allem lag ein pflaumenfarbener Dunst, nur dort nicht, wo die Straßenlaternen ihr vom Nebel aufgeweichtes gelbliches Licht verströmten, und über alldem senkte sich eine undurchdringliche Finsternis herab.
Ein einziges fahrendes Auto war drei Blocks weiter zu sehen, und Sam war momentan der einzige Fußgänger. In Verbindung mit dem seltsamen Licht des sterbenden Tages vermittelte diese Einsamkeit ihm den Eindruck, als wäre er in einer Geisterstadt, die ausschließlich von Toten bewohnt wurde. Der immer dichter werdende Nebel, der vom Pazifik emporkroch, trug seinen Teil zu der Illusion bei, daß alle Geschäfte der Gegend leerstehend seien, daß sie nur noch Spinnweben feilzubieten hätten, Stille und Staub.
Du bist ein sauertöpfischer Patron, sagte er zu sich. Um gut die Hälfte zu düster.
Erfahrungen hatten ihn zum Pessimisten gemacht. Und der traumatische Verlauf seines bisherigen Lebens schloß grinsenden Optimismus aus.
Nebeltentakel schlangen sich um seine Beine. Die fahle Sonne war halb im dunkelnden Meer versunken. Sam erschauerte und ging in die Kneipe, um etwas zu trinken.
Keiner der drei anwesenden Kunden war in besonders munterer Stimmung. In einer der mit schwarzen Vinyl ausgekleideten Nischen links saßen ein Mann mittleren Alters und eine Frau, die sich zueinandergebeugt hatten und sich gedämpft unterhielten. An der Theke stand ein Mann mit grauem Gesicht über ein Glas Bier gekauert, das er mit beiden Händen hielt und dabei ein Gesicht machte, als hätte er gerade einen Käfer darin schwimmen gesehen.
Knight's Bridge roch, wie um ihren Namen gerecht zu werden, nach imitierter britischer Atmosphäre. In die Rückenlehnen der Stühle waren handgeschnitzte Abzeichen von Waffengattungen, zweifellos aus einem alten Wappenbuch abkopiert, eingelassen und bemalt worden. In einer Ecke stand eine Ritterrüstung, Gemälde von Fuchsjagden hingen an den Wänden. Sam setzte sich acht Hocker von dem Mann mit dem grauen Gesicht entfernt an die Bar. Der Barkeeper eilte auf ihn zu und wischte dabei mit einem sauberen Baumwolltuch über die ohnehin makellose, polierte Eichentheke.
»Ja, Sir, was darfs sein?« Er war in jeder Hinsicht ein rundlicher Mann: kleiner runder Bauch; kräftige Unterarme mit dichtem schwarzem Haarwuchs; pummeliges Gesicht; der Mund so klein, daß er nicht mit den anderen Zügen harmonierte; eine Stupsnase, die in einem kleinen runden Ball endete; Augen, die so rund waren, daß er einen ständig überraschten Ausdruck zur Schau stellte.
»Haben Sie Guinness?« fragte Sam.
»Ich würde sagen, das ist Grundausstattung für jedes echte Pub. Wenn wir kein Guinness hätten, dann... nun, dann könnten wir ebensogut zur Teestube werden.« Er hatte eine singende Stimme; jedes Wort klang so glatt und rund, wie er aussah. Er schien übertrieben darauf bedacht zu sein zu gefallen. »Möchten Sie es kalt oder leicht gekühlt? Ich habe beides.«
»Sehr leicht gekühlt.«
»Gut, Mann!« Als er mit dem Guinness und einem Glas zurückkam, sagte der Barkeeper: »Ich heiße Burt Peckham. Mir gehört der Laden.«
Während er das Bier ganz langsam am Glasrand hinabfließen ließ, damit es möglichst wenig Schaum gab, sagte Sam: »Sam Booker. Hübsches Lokal, Burt.«
»Danke. Könnten Sie vielleicht weitersagen. Ich bemühe mich, es gemütlich und gut ausgerüstet zu halten, und es war immer ziemlich voll, aber in letzter Zeit scheint es, als wäre die ganze Stadt entweder zu den Antialkoholikern übergelaufen oder selbst zu Schnapsbrennern geworden, eins von beiden.«
»Nun, es ist Montagabend.«
»In den letzten paar Monaten war es nicht einmal ungewöhnlich, wenn es Samstagabend halb leer war, was sonst nie vorgekommen ist.« Burt Peckham verzog sorgenvoll das runde Gesicht. Er polierte beim Sprechen langsam die Theke. »Der Grund dafür...ich glaube, daß der Gesundheitstrip, auf dem sich Kalifornien schon so lange befindet, endgültig ausgerastet ist. Alle bleiben zu Hause, machen Aerobic vor dem Videorekorder, essen Buchweizen und Eiweiß oder was, zum Teufel, auch immer, und trinken nur noch Mineralwasser und Obstsaft und Meisenmilch. Hören Sie, ein oder zwei Glas am Tag tun einem gut.«
Sam trank einen Schluck Guinness, seufzte zufrieden und sagte: »Das hier schmeckt eindeutig, als würde es einem gut tun.«
»Tut es. Ist gut für den Blutdruck. Hält die Därme in Form. Die Pfarrer sollten jeden Sonntag seinen Wert predigen, und nicht dagegen wettern. Alles in Maßen - dazu gehören auch ein paar Bier täglich.« Er merkte möglicherweise, daß er die Bar ein wenig zu geflissentlich polierte, denn er hängte den Lappen an einen Haken und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sind Sie auf der Durchreise, Sam?« »Eigentlich«, log Sam, »mache ich eine ausgedehnte Reise an der Küste entlang, von L. A. bis zur Oregon Line, hänge herum und suche mir ein ruhiges Plätzchen für den Ruhestand.«
»Ruhestand? Ist das ein Witz?« » Vor-Ruhestand.«
»Aber Sie sind doch erst - wie alt, vierzig, einundvierzig?« »Zweiundvierzig.«
»Was sind Sie - Bankräuber?«
»Börsenmakler. Ich habe im Laufe der Jahre ein paar gute Investitionen gemacht. Ich glaube, ich kann es mir leisten, aus dem Leistungsdruck auszusteigen und mich nur noch um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Ich möchte mich irgendwo niederlassen, wo es ruhig ist, ohne Smog, ohne Verbrechen. Ich habe die Schnauze voll von L. A.«
»Man kann an der Börse tatsächlich Geld verdienen?« fragte Peckham. »Ich dachte, das wäre auch nicht besser als ein Spieltisch in Reno. Sind denn nicht alle vor die Hunde gegangen, als vor ein paar Jahren der große Börsenkrach war?«
»Für den kleinen Mann ist es ein Glücksspiel, aber als Makler kommt man zurecht, wenn man sich nicht von der allgemeinen Hysterie des Marktes anstecken läßt. Kein Markt geht ewig hoch oder runter; man muß einfach den richtigen Zeitpunkt erkennen, ab wann man gegen den Strom schwimmen muß.«
»Mit zweiundvierzig im Ruhestand«, sagte Peckham verwundert. »Und als ich ins Bar-Geschäft eingestiegen bin, habe ich gedacht, es wäre was fürs Leben. Ich sagte zu meiner Frau, in guten Zeiten trinken die Leute, um zu feiern, und in schlechten Zeiten trinken sie, um zu vergessen, daher gibt es keine bessere Branche. Und jetzt das.« Er gestikulierte ausholend mit der rechten Hand in den leeren Schankraum. » Selbst wenn ich Kondome im Kloster verkaufen würde, würde ich ein besseres Geschäft machen.«
»Bekomme ich noch ein Guinness?«
»He, vielleicht hat sich mein Glück wieder gewendet!«
Als Peckham mit der zweiten Flasche Bier zurückkam, sagte Sam: »Moonlight Cove könnte das sein, wonach ich suche. Ich denke, ich bleibe ein paar Tage und sehe mich um. Können Sie mir ein Motel empfehlen?«
»Es gibt nur noch eins: Dies ist nie eine Touristenstadt gewesen. Schätze, das wollte niemand hier. Bis diesen Sommer hatten wir vier Motels. Inzwischen sind drei pleite. Ich weiß nicht... so schön sie auch ist, vielleicht stirbt diese Stadt. Soweit ich sehen kann, nimmt die Bevölkerungszahl nicht ab, aber... verdammt, wir verlieren etwas.« Er nahm wieder den Lappen und fing an, die Eichentheke zu polieren. »Wie dem auch sei, versuchen Sie es im Cove Lodge an der Cypress Lane. Das ist die letzte Querstraße der Ocean Avenue; es liegt an der Klippe, wenn Sie Glück haben, bekommen Sie ein Zimmer mit Blick aufs Meer. Nettes, sauberes Haus.«
5
In der Diele riß Chrissie Foster die Eingangstür auf. Sie lief über die breite Veranda, die Stufen hinunter, stolperte, gewann das Gleichgewicht wieder, wandte sich nach rechts, floh an einem blauen Honda vorbei, der offenbar Tucker gehörte, über den Hof in Richtung der Ställe. Das harte Platschen ihrer Tennisschuhe schien wie Kanonenfeuer durch das dunkler werdende Dämmerlicht zu hallen. Sie wünschte sich, sie könnte lautlos laufen - und schneller. Auch wenn ihre Eltern und Tucker auf die Veranda kämen, wenn sie von den Schatten verschluckt worden wäre, würden sie hören können, wohin sie liefe.
F ast der ganze Himmel war schwarz, wie ausgebrannt, nur am westlichen Horizont war noch ein dunkles Leuchten zu sehen, als wäre das gesamte Licht des Oktobertags bis auf seine scharlachrote Essenz eingedickt worden, die sich am Boden des himmlischen Kessels niedergeschlagen hatte. Vom nahegelegenen Meer wehten Nebelschleier herein, und Chrissie hoffte, daß er rasch dichter werden würde, so dick wie Suppe, weil sie mehr Deckung brauchte.
Sie erreichte das erste der beiden Stallgebäude und rollte das schwere Tor beiseite. Der vertraute und nicht unangenehme Geruch - Stroh, Heu, Futtergetreide, Pferdefeli, Eini-ment, Sattelleder und trockener Dung - schlug ihr entgegen.
Sie drückte auf den Lichtschalter, und drei schwache Glühbirnen leuchteten auf, die das Gebäude erhellten, ohne die Tiere darin zu stören. Auf jeder Seite des Flures aus gestampfter Erde befanden sich zehn geräumige Boxen, neugierige Pferde sahen sie über einige der halbhohen Türen hinweg an. Einige gehörten Chrissies Eltern, aber die meisten waren von Leuten untergestellt, die in und um Moon-light Cove lebten. Die Pferde schnupperten und schnaubten, eines wieherte leise, als Chrissie an ihnen vorbei zur letzten Box links lief, wo ein Apfelschimmel namens Godi-va stand.
Man konnte auch von außen in die Boxen, aber in dieser kühlen Jahreszeit blieben die Doppeltüren oben wie unten verriegelt, damit keine Wärme aus dem Stall entweichen konnte. Godiva war ein ruhiges Pferd und Chrissie gegenüber besonders feinfühlig, aber es machte sie nervös, wenn man sich ihr im Dunkeln näherte; wenn sie um diese Tageszeit durch das Öffnen der Außentür überrascht wurde, scheute sie vielleicht oder ging hoch. Und weil Chrissie es sich nicht leisten konnte, auch nur ein paar Sekunden damit zu vergeuden, ihr Reittier zu beruhigen, mußte sie durch das Stallinnere zu dem Pferd gehen.
Godiva wartete auf sie. Das Pferd schüttelte den Kopf, warf die dichte weiße Mähne, derentwegen sie den Namen bekommen hatte, hin und her, und blies zur Begrüßung Luft durch die Nüstern.
Chrissie, die zur Stalltür sah und jeden Moment damit rechnete, daß Tucker und ihre Eltern hereinstürmen würden, entriegelte die Tür der Box. Godiva kam auf den Gang zwischen den Boxen heraus.
»Sei eine Dame, Godiva. Oh, bitte, sei lieb.«
Sie hatte keine Zeit, das Pferd zu satteln oder ihm Zaumzeug anzulegen. Sie legte eine Hand auf Godivas Flanke und führte das Pferd am Geräteschuppen und dem Futtermittellager vorbei, die das letzte Viertel des Stalls beanspruchten, wobei sie eine Maus aufschreckte, die in eine dunkle Ecke flüchtete. Sie rollte das Tor am anderen Ende auf, kühle Luft strömte herein.
Chrissie war zu klein, um ohne Steigbügel auf das Pferd steigen zu können.
In der Ecke, beim Gerätelager, stand das Haltepodest eines Hufschmieds. Chrissie nahm die Hand nicht von der Flanke Godivas, damit sie sie ruhig halten konnte, und zog das Podest mit einem Fuß an die Seite des Pferdes.
Hinter ihr, am anderen Ende des Stalls, schrie Tucker: »Da ist sie! Im Stall!« Er lief auf sie zu.
Das Podest war nicht besonders hoch und kein hinreichender Ersatz für den Steigbügel.
Sie konnte Tuckers hallende Schritte hören, näher, näher, aber sie sah ihn nicht an.
Er rief: »Ich habe sie!«
Chrissie packte Godivas herrliche Mähne, warf sich gegen das große Pferd und zog sich hoch, schwang das Bein in die Höhe, strampelte verzweifelt an der Flanke und zerrte heftig an der Mähne. Sie mußte Godiva weh getan haben, aber das alte Mädchen blieb ruhig. Sie bäumte sich nicht auf oder wieherte vor Schmerzen, als würde ihr ein innerer Instinkt sagen, daß das Leben des kleinen Mädchens von ihrer Ruhe abhing. Dann war Chrissie auf Godivas Rücken, koppte gefährlich, blieb aber oben, klammerte sich mit den Knien fest, hielt sich mit einer Hand in der Mähne und schlug dem Pferd auf die Seite.
»Los!«
Tucker war bei ihr, als sie dieses Wort rief, packte ihr Bein, riß an den Jeans. In seinen tiefliegenden Augen loderte Wut; die Nasenlöcher bebten, er hatte die dünnen Lippen zurückgezogen. Sie trat ihm unters Kinn, und er ließ sie los.
Im selben Augenblick sprang Godiva durch das offene Tor in die Nacht.
»Sie hat ein Pferd!« brüllte Tucker. »Sie reitet auf einem Pferd!«
Der Apfelschimmel lief schnurstracks auf den grasbewachsenen Hang zu, der zum ein paar hundert Meter entfernten Meer führte, wo das letzte trübe, rote Licht des Sonnenuntergangs schwache Fleckenmuster auf das schwarze Wasser malte. Aber Chrissie wollte nicht zum Meer hinun-ter, weil sie wußte, wie hoch die Flut war. An manchen Stellen an der Küste war der Strand nicht einmal bei Ebbe breit; wenn jetzt Flut herrschte, bedeutete das, das Wasser würde an manchen Stellen bis zu den Felsklippen reichen und ein Durchkommen unmöglich machen. Da sie von ihren Eltern und Tucker verfolgt wurde, konnte sie es nicht riskieren, in eine Sackgasse zu geraten.
Es gelang Chrissie auch ohne Sattel und bei gestrecktem Galopp, sich auf dem Pferd in eine bessere Position zu ziehen; kaum hing sie nicht mehr wie ein Stuntreiter auf einer Seite herunter, packte sie das dichte, rauhe Haar der Mähne mit beiden Händen und versuchte, damit die Zügel zu ersetzen. Sie drängte Godiva, nach links zu laufen und zu dem eine halbe Meile langen Weg der Zufahrt zur Landstraße, wo sie wahrscheinlicher Hilfe finden würde.
Anstatt angesichts dieser groben Methode der Führung zu rebellieren, gehorchte die geduldige Godiva unverzüglich und wandte sich so problemlos nach links, als hätte sie Zaumzeug im Mund und würde das Ziehen der Zügel spüren. Das Donnern der Hufe hallte von den Stallwänden wieder, als sie an dem Gebäude vorbeiritten.
»Du bist ein tolles altes Mädchen!« rief Chrissie dem Pferd zu. »Ich liebe dich, Mädchen!«
Sie ritten in sicherer Entfernung am Ostende des Stalls vorbei, wo sie zu dem Pferd gegangen war, und sie erblickte Tucker, der zum Tor herauskam. Er war eindeutig überrascht, daß sie in diese Richtung ritt, und nicht zum Meer hinunter. Er rannte auf sie zu, und er war überraschend schnell, aber keine Gefahr für Godiva.
Sie kamen zum Weg der Einfahrt, und Chrissie ließ Gbdi-va auf dem weichen Seitenstreifen laufen, der parallel zum geteerten Weg verlief. Sie beugte sich nach vorne und drückte sich so fest sie konnte gegen das Pferd, weil sie entsetzliche Angst hatte, sie könnte herunterfallen; sie spürte jedes Auftreten der Hufe als Rütteln durch den ganzen Körper. Sie hatte den Kopf auf die Seite gedreht, daher konnte sie links das Haus erkennen, dessen Fenster erleuchtet, aber keineswegs anheimelnd waren. Das war nicht mehr ihr Zuhau-se; es war die Hölle zwischen vier Wänden, daher erschien ihr das Licht in den Fenstern wie die dämonischen Feuer in den Höhlen des Hades.
Plötzlich sah sie etwas über den Rasen zum Weg eilen, in ihre Richtung. Es war geduckt und schnell, etwa so groß wie ein Mensch, lief aber auf allen vieren - jedenfalls beinahe - und verkürzte die Entfernung von zwanzig Metern zusehends. Dahinter sah sie eine weitere, gleichermaßen bizarre, aber etwas kleinere Gestalt. Obwohl sich beide Gestalten vor dem Licht vom Haus abzeichneten, konnte Chrissie wenig mehr als die Umrisse erkennen, aber sie wußte, was sie waren. Nein, das mußte sie verbessern; sie wußte, wer sie wahrscheinlich waren, aber sie wußte immer noch nicht, was sie waren, obwohl sie sie heute morgen oben im Flur gesehen hatte; sie wußte, was sie gewesen waren - Menschen wie sie selbst -, aber nicht, was aus ihnen geworden war.
»Lauf, Godiva, lauf!«
Obwohl Chrissie keine Reitpeitsche knallen lassen konnte, um das Tier anzuspornen, lief das Pferd schneller, als wäre es telepathisch mit ihr verbunden.
Dann hatten sie das Haus hinter sich gelassen und flohen parallel zum Weg über die Wiese, der weniger als eine halbe Meile östlich liegenden Landstraße entgegen. Das leichtfüßige Pferd ließ die gewaltigen Laufmuskeln spielen, der ausgereifte Schritt war so einlullend rhythmisch und erhebend, daß Chrissie die Holperigkeit des Ritts bald gar nicht mehr bemerkte; es war, als würden sie beinahe fliegend über den Boden gleiten.
Sie sah über die Schulter, konnte aber die zwei gebückten Gestalten nicht erkennen, obwohl sie ihr zweifellos immer noch durch die vielschichtigen Schatten folgten. Die Sicht war schlecht, da das trübe, rote Leuchten am westlichen Horizont zu Purpur wurde, die Lichter des Hauses rasch zurückblieben und die Mondsichel erst einen silbernen Punkt über der Hügelkette im Osten bildete.
Sie konnte die Verfolger, die zu Fuß unterwegs waren, zwar nicht sehen, dafür aber die Scheinwerfer von Tuckers blauem Honda um so deutlicher. Tucker wendete den Honda vor dem Haus, das mittlerweile ein paar hundert Meter hinter ihr lag, und fuhr den Weg entlang, um an der Jagd teilzunehmen.
Chrissie war ziemlich fest davon überzeugt, daß Godiva schneller als jeder Mensch oder jedes Tier laufen konnte, abgesehen von einem besseren Pferd, aber sie wußte, daß das Pferd es nicht mit dem Auto aufnehmen konnte. Tucker würde sie innerhalb von Sekunden eingeholt haben. Sie sah das Gesicht des Mannes in der Erinnerung deutlich vor sich: die knochige Stirn, die spitze Nase, die tiefliegenden Augen, die harten schwarzen Murmeln glichen. Er hatte auch diese Aura unnatürlicher Vitalität um sich gehabt, die Chrissie manchmal bei ihren Eltern bemerkt hatte - überschüssige, nervöse Energie, verbunden mit diesem seltsam hungrigen Ausdruck. Sie wußte, er würde alles tun, um sie aufzuhalten, er würde vielleicht sogar versuchen, Godiva mit dem Honda anzufahren.
Aber er konnte Godiva mit dem Auto selbstverständlich nicht über Land folgen. Chrissie setzte zögernd das Knie und die rechte Hand in der Mähne dazu ein, das Pferd vom Weg und der Landstraße abzuwenden, wo sie am wahrscheinlichsten Hilfe gefunden hätten. Godiva reagierte ohne zu zögern, und dann ritten sie auf den Wald zu, der fünfhundert Meter südlich am anderen Ende der Wiese lag.
Chrissie konnte den Wald lediglich als schwarze, struppige Masse ausmachen, die sich vor dem nur unwesentlich helleren Himmel abhob. Die Einzelheiten des Geländes, über das sie ritt, waren ihr besser in Erinnerung als sie sie sehen konnte. Sie betete, daß das nächtliche Sehvermögen des Tieres besser als ihres sein möge.
»Du bist mein altes Mädchen, lauf, lauf, gutes altes Mädchen, lauf!« rief sie dem Pferd ermutigend zu.
Sie erzeugten ihren eigenen Wind in der frischen, stillen Luft. Chrissie bemerkte Godivas heißen Atem, der als kondensierter Dampf an ihr vorbeiwehte, und ihren eigenen, der aus ihrem Mund drang. Ihr Herz schlug im Einklang mit dem Pochen der Hufe, und ihr war fast, als wären sie und Godiva nicht Reiter und Pferd, sondern ein Wesen mit ein und demselben Blut und Herz und Atem.
Sie floh zwar um ihr Leben, war aber dennoch ebenso aufgeregt wie ängstlich, und diese Erkenntnis verblüffte sie. Sich dem Tod gegenüberzusehen - oder in diesem Fall möglicherweise etwas Schlimmerem als dem Tod -, war besonders aufregend und auf eine dunkle Weise und in einem Ausmaß faszinierend, das sie sich nie hätte vorstellen können. Sie fürchtete sich vor diesem unerwarteten Kitzel fast ebensosehr wie vor den Leuten, die sie verfolgten.
Sie klammerte sich fest an den Apfelschimmel, prallte manchmal vom Rücken des Pferdes ab und hüpfte gefährlich in die Höhe, hielt sich aber dennoch fest, indem sie die Muskeln im Einklang mit denen des Pferds spannte und entspannte. Chrissie war nach jedem ausgreifenden Schritt überzeugter, daß sie es schaffen würden. Das Pferd hatte Charakter und Ausdauer. Als sie zwei Drittel der Wiese überquert hatten und der Wald vor ihnen aufragte, beschloß Chrissie, daß sie sich wieder nach Osten wenden würde, wenn sie die Bäume erreicht hätten, nicht direkt zur Landstraße, sondern ungefähr in die Richtung, und dann-Da stürzte Godiva.
Ein Fuß geriet in eine Vertiefung - den Bau eines Erdhörnchens, den Eingang zu einer Kaninchenhöhle, möglicherweise ein natürlicher Abwassergraben -, sie stolperte und verlor das Gleichgewicht. Sie versuchte vergebens, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, wieherte entsetzt und stürzte.
Chrissie hatte Angst, daß das Pferd auf sie fallen und sie zerquetschen oder ihr ein Bein brechen würde. Aber sie hatte keine Steigbügel, in denen sich die Füße verfangen konnten, und keinen Sattelknauf, an dem Kleidungsstücke hängenbleiben konnten, und da sie die Mähne des Pferdes instinktiv losließ, wurde sie sofort über den Kopf des Pferdes hinweg hoch in die Luft geschleudert. Der Boden war zwar weich und durch das hohe Gras zusätzlich gepolstert, dennoch prallte sie so stark auf, daß ihr die Luft aus den Lungen getrieben wurde und die Zähne so heftig aufeinanderschlugen, daß sie sich selbst die Zunge abgebissen hätte, wäre sie zwischen ihnen gewesen. Aber sie war drei Meter von dem Pferd entfernt und wenigstens in dieser Hinsicht in Sicherheit.
Godiva erhob sich als erste schon einen Augenblick nach dem Sturz. Sie tänzelte mit ängstlich aufgerissenen Augen an Chrissie vorbei und hielt dabei das rechte Vorderbein hoch, das offenbar nur verstaucht war; wäre es gebrochen gewesen, hätte das Pferd nicht mehr aufstehen können.
Chrissie rief das Pferd, weil sie Angst hatte, es würde weglaufen. Aber sie atmete keuchend, und so kam ihr der Name nur flüsternd über die Lippen: »Godiva!«
Das Pferd lief weiter nach Westen, zum Meer und den Ställen. Als Chrissie sich auf Hände und Knie aufgerichtet hatte, war ihr klargeworden, daß ihr ein lahmendes Pferd nicht von Nutzen war, daher unternahm sie keinen Versuch mehr, das Tier zurückzurufen. Sie rang keuchend nach Atem, und ihr war ein wenig schwindlig, aber sie wußte, sie mußte weiter, weil sie zweifellos immer noch verfolgt wurde. Sie konnte die Scheinwerfer des Hondas sehen, der mehr als dreihundert Meter entfernt am Wegesrand geparkt war. Der letzte Rest Sonnenschein war verschwunden, die Wiese schwarz. Sie konnte nicht erkennen, ob geduckte, huschende Gestalten da draußen waren, doch sie wußte, sie mußten näherkommen, und ae würde ihnen binnen einer oder zwei Minuten in die Hände fallen.
Sie rappelte sich auf, wandte sich nach Süden zum Wald, stolperte zehn oder fünfzehn Meter, bis sich ihre Beine vom Schock des Sturzes erholt hatten, dann fing sie schließlich wieder an zu laufen.
6
Sam Booker hatte im Verlauf vieler Jahre herausgefunden, daß die gesamte Länge der Küste Kaliforniens von bezaubernden Gaststätten mit Mauerwerk feinster Qualität, wettergezeichnetem Holz, gewölbten Dächern, facettiertem Glas und üppig angelegten Gärten mit Natursteinwegen geschmückt wurde. Trotz der anheimelnden Bilder, die sein Name heraufbeschwörte, und der einzigartigen malerischen Umgebung, in der es sich befand, gehörte das Cove Lodge nicht zu diesen Juwelen Kaliforniens. Es war nur dn stuckverzierter, zweistöckiger rechteckiger Klotz mit vierzig Zimmern, einer öden Cafeteria an einem Ende und ohne Swimmingpool. Die Annehmlichkeiten beschränkten sich auf je einen Eis - und Getränkeautomaten pro Stockwerk. Das Schild über dem Büro des Motels war weder auffallend noch im modernen Neonstil gehalten, nur klein und schlicht -und billig.
Der Nachtportier gab ihm ein Zimmer im zweiten Stock mit Blick aufs Meer, obwohl Sam keinen Wert auf die Aussicht legte. Wenn man den wenigen Autos auf dem Parkplatz trauen konnte, waren Zimmer mit dieser Aussicht aber offenbar nicht knapp. Jeder Stock des Hotels beherbergte zwanzig Zimmer in zwei Zehnerfluchten, zu denen man über einen Flur im Inneren gelangen konnte, dessen grellorangefarbener Teppichboden den Augen weh tat. Die Zimmer zum Osten überblickten die Cypress Lane; die im Westen den Pazifik. Sein Quartier befand sich in der nordwestlichen Ecke: ein übergroßes Bett mit durchgelegener Matratze und verschlissener, blaugrüner Steppdecke, ein Nachttisch mit Brandspuren von Zigaretten, ein auf einem Tischchen festgeschraubter Fernseher, ein Tisch, zwei Lehnstühle, eine Kommode mit Zigarettenspuren, Telefon, Bad und ein großes Fenster zum nachtverhüllten Meer.
Wenn niedergeschlagene Handlungsreisende, die das Glück verlassen hatte und die sich am Rande des wirtschaftlichen Ruins befanden, Selbstmord begingen, dann taten sie es in Zimmern wie diesem.
Er packte seine beiden Koffer aus und verstaute die Kleidungsstücke im Schrank und in den Schubladen der Kommode. Dann setzte er sich auf den Bettrand und sah das Telefon auf dem Nachttisch an.
Er sollte seinen Sohn Scott anrufen, der zu Hause in Los Angeles war, aber das konnte er von diesem Telefon aus nicht machen. Wenn sich später die hiesige Polizei für ihn zu interessieren anfinge, würde sie das Cove Lodge besuchen, seine Ferngespräche feststellen, die Nummern herausfinden, die er angerufen hatte, und versuchen, seine wahre Identität über die der anderen zu ermitteln, mit denen er gesprochen hatte. Damit sein Inkognito gewahrt bliebe, durfte er von diesem Telefon ausschließlich seine Kontaktnummer im Revier das Bureau in L. A. anrufen, eine sichere Leitung, unter der man sich lediglich mit »Birchfield Versicherungen, kann ich Ihnen helfen?« melden würde. Als weitere Sicherheit war Birchfield, die nichtexistierende Firma, bei der Sam angeblich Makler war, tatsächlich in den Unterlagen der Telefongesellschaft eingetragen; man konnte sie nicht ohne weiteres zum FBI zurückverfolgen. Er hatte noch nichts zu melden, daher nahm er den Hörer nicht ab. Er konnte Scott von einem öffentlichen Fernsprecher anrufen, wenn er zum Essen ginge.
Er wollte nicht mit dem Jungen reden. Es würde ein reiner Pflichtanruf werden. Sam graute davor. Die Unterhaltungen mit seinem Sohn waren vor mindestens drei Jahren unerfreulich geworden, als der Junge dreizehn und schon ein Jahr ohne Mutter gewesen war. Sam fragte sich, ob es mit dem Jungen so schnell oder überhaupt so weit gekommen wäre, wenn Karen noch leben würde. Dieser Gedankengang führte natürlich unweigerlich zu seiner eigenen Rolle am Niedergang von Scott: Wäre der Junge trotz der elterlichen Zuwendung, die er erhielt, schlecht geworden; war sein Niedergang unweigerlich, weil die Schwäche in ihm war oder in seinen Sternen stand? Oder war Scotts Versagen die direkte Folge des Unvermögens seines Vaters, ihn auf einen besseren, lichteren Weg zu führen?
Wenn er weiter darüber nachdachte, würde er direkt hier in Moonlight Cove zu einem Willy Lomann werden, obwohl er kein Handlungsreisender war.
Guinness Stout.
Gutes mexikanisches Essen.
Goldie Hawn.
Angst vor dem Sterben.
Seine Liste der Gründe zum Weiterleben war verdammt kurz und zu jämmerlich, ernsthaft darüber nachzudenken, aber vielleicht gerade lang genug.
Er ging auf die Toilette und wusch sich anschließend Hände und Gesicht mit kaltem Wasser. Er fühlte sich immer noch müde und nicht im geringsten erfrischt.
Er zog die Cordjacke aus und streifte ein dünnes, festes Schulterhalfter aus Leder über, das er aus dem Koffer nahm. Er hatte auch eine Chiefs Special, Kaliber 38, von Smith & Wessen eingepackt, die er jetzt lud. Er steckte sie ins Halfter, dann schlüpfte er wieder ins Jackett. Seine Kleidung war so geschneidert, daß sie die Waffe verbarg; sie erzeugte keine Wölbung und das Halfter saß auch so weit hinten, daß man es nicht einmal dann erkennen konnte, wenn er das Jackett aufgeknöpft hatte.
Sams Körper und Gesicht waren für geheime Ermittlungen ebenso maßgeschneidert wie seine Kleidung. Er war einsachtundsiebzig, weder groß noch klein. Er wog achtzig Kilo, hauptsächlich Knochen und Muskeln, wenig Fett, trotzdem war er kein stiernackiger Gewichthebertyp in Bestform, so daß er dadurch Aufmerksamkeit erregen könnte. Sein Gesicht wies nichts Besonderes auf: Es war weder häßlich noch schön, weder zu breit noch zu schmal, weder mit ungewöhnlich scharf geschnittenen noch mit besonders flachen Zügen, ohne Makel oder Narben. Das sandfarbene Haar hatte er in zeitloser mittlerer Länge geschnitten und in einem Stil, der im Zeitalter des Bürstenschnitts ebensowenig aufgefallen wäre wie in dem schulterlanger Locken.
Von sämtlichen Aspekten seiner Erscheinung waren einzig und allein die Augen bemerkenswert. Sie waren graublau mit dunkelblauen Linien. Frauen hatten ihm oft gesagt, er hätte die schönsten Augen, die sie je gesehen hätten. Früher war ihm einmal etwas daran gelegen gewesen, was Frauen zu ihm gesagt hatten.
Er zuckte die Achseln und vergewisserte sich, ob das Halfter richtig saß.
Er rechnete nicht damit, daß er die Waffe heute abend brauchen würde. Er hatte noch nicht angefangen herumzu-schnüffeln und Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; und da er bisher noch niemandem auf die Füße getreten war, würde auch niemand zurückschlagen.
Dennoch wollte er den Revolver von jetzt an tragen. Er konnte ihn nicht im Motelzimmer oder im Mietwagen lassen; wenn jemand eine Durchsuchung vornähme und die Waffe fände, würde seine Tarnung auffliegen. Kein Börsenmakler in mittleren Jahren, der nach einem Küstenstädtchen suchte, wo er sich vom Streß zurückziehen konnte, würde einen schallgedämpften 38er dieser Marke und dieses Modells bei sich haben. Es war die Waffe eines Bullen.
Er steckte den Zimmerschlüssel ein und ging zum Essen.
7
Nachdem sie sich eingetragen hatte, stand Tessa Lockland lange Zeit am Fenster ihres Zimmers im Cove Lodge, ohne das Licht einzuschalten. Sie sah auf den weiten, dunklen Pazifik hinaus und den Strand entlang, an dem ihre Schwester Janice angeblich eine gräßliche Mission der Selbstvernichtung begonnen hatte.
Die offizielle Geschichte war, daß Janice eines Nachts in einem Zustand akuter Depression alleine zum Strand gegangen war. Sie hatte eine Uberdosis Valium genommen und die Tabletten mit mehreren Schlucken aus einer Dose Diet Coke hinuntergespült. Dann hatte sie die Kleidung ausgezogen und war in Richtung Japan losgeschwommen. Sie hatte aufgrund des Schlafmittels bald das Bewußtsein verloren und war in die kalte Umarmung des Meeres hinabgesunken und ertrunken.
» Scheiße«, sagte Tessa leise, als spräche sie zu ihrem eigenen, vagen Spiegelbild in dem kühlen Glas.
Janice Lockland Capshaw war eine Person voller Hoffnung und unversiegbarem Optimismus gewesen - eine Eigenschaft, die bei Angehörigen des Lockland-Clans so verbreitet war, daß sie genetisch bedingt sein mußte. Janice hatte in ihrem ganzen Leben nicht ein einziges Mal in der Ecke gesessen und hatte sich selbst bemitleidet; hätte sie es versucht, dann hätte sie innerhalb von Sekunden über die Dummheit von Selbstmitleid gelacht und wäre aufgestanden, um ins Kino oder zu einem psychotherapeutischen Dauerlauf zu gehen. Nicht einmal nach Richards Tod hatte Janice ihren Kummer zu Depressionen wuchern lassen, obwohl sie ihn sehr geliebt hatte.
Was also konnte den unvermittelten emotionalen Absturz verursacht haben? Wenn sie an die Geschichte dachte, die die Polizei ihr weismachen wollte, wurde Tessa zu Sarkasmus getrieben. Vielleicht war Janice in ein Restaurant gegangen und hatte ein schlechtes Essen vorgesetzt bekommen, und dieses Erlebnis hatte sie so sehr niedergeschmettert, daß Selbstmord der einzig mögliche Ausweg war. Klar. Oder vielleicht war ihr Fernseher kaputtgegangen und sie hatte deshalb ihre Lieblingssendung verpaßt, was sie in unerträgliche Verzweiflung gestürzt hatte. Gewiß. Diese Szenarien waren schätzungsweise so plausibel wie der Unsinn, den ihr der Gerichtsmediziner und die Polizei von Moonlight Cove in ihren Berichten präsentiert hatten.
Selbstmord.
»Scheiße«, wiederholte Tessa.
Sie konnte vom Fenster ihres Motelzimmers nur einen kleinen Strandabschnitt sehen, wo gischtende Wellen brandeten. Der Sand wurde vage vom winterlichen Licht des gerade aufgegangenen Viertelmondes erhellt, ein blasses Band, das sich südwestlich und nordwestlich um die Bucht zog.
Tessa verspürte den Wunsch, an dem Strand zu stehen, wo ihre Schwester angeblich den mitternächtlichen Schwimmausflug zum Friedhof angefangen hatte, derselbe Strand, an den die Flut Tage später ihren aufgedunsenen, verstümmelten Leichnam geschwemmt hatte. Sie wandte sich vom Fenster ab und schaltete die Nachttischlampe ein. Sie nahm eine braune Lederjacke vom Kleiderbügel im Schrank, zog sie an, hängte die Handtasche über die Schulter, ging aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich ab. Sie war - auf irrationale Weise - sicher, daß sie durch er-staunliche Einsicht oder einen Funken der Intuition Hinweise auf den wahren Sachverhalt finden würde, indem sie nur an den Strand ginge und an der Stelle stünde, wo Janice angeblich gestanden hatte.
8
Als der wie gehämmertes Silber aussehende Mond über den dunklen Hügeln im Osten emporstieg, rannte Chrissie am Waldrand entlang und suchte nach einem Weg zwischen den Bäumen, bevor ihre seltsamen Verfolger sie fänden. Sie kam rasch zum Pyramidenfelsen, der so hieß, weil die Formation, die doppelt so groß war wie sie selbst, drei Seiten hatte und in einer verwitterten Spitze auslief; als sie jünger war, hatte sie sich immer vorgestellt, daß er von einem geographisch verirrten Stamm zentimetergroßer Ägypter erbaut worden war. Da sie seit Jahren auf dieser Wiese und im Wald spielte, war ihr das Gelände so vertraut wie die Zimmer in ihrem Haus, und sie kam hier sicher besser zurecht als ihre Eltern oder Tucker, was ihr einen Vo rteil verschaffte. Sie lief am Pyramidenfelsen vorbei und ins Dunkel unter den Bäumen, wo ein schmaler Wildpfad nach Süden führte.
Sie hörte niemanden hinter sich und vergeudete keine Zeit damit, in die Dunkelheit zu blinzeln. Aber sie ging davon aus, daß ihre Eltern und Tucker als Raubtiere stumme Verfolger sein und sich erst zu erkennen geben würden, wenn sie zuschlügen.
Die Wälder an der Küste bestanden größtenteils aus einer breiten Vielzahl von Pinien, aber es gediehen auch verein -zelte Tupelobäume, deren Blätter bei Tage eine scharlachrote Herbstfarbe hatten, jetzt aber so schwarz wie Fetzen eines Leichentuches waren. Chrissie folgte dem verschlungenen Pfad, während sich das Land zu einem Tal hin absenkte. In mehr als der Hälfte des Waldes standen die Bäume so weit auseinander, daß das kalte Licht des Viertelmonds bis ins Unterholz schien und den Pfad mit einer eisigen Kruste aus Licht überzog. Der aufsteigende Nebel war noch zu dünn, das fahle Licht zu verdecken, aber an anderen Stellen hielten ineinander verflochtene Zweige das Mondlicht ab.
Nicht einmal da, wo das Mondlicht schien, wagte Chrissie schnell zu laufen, denn sie würde sicher über die Oberflächenwurzeln der Bäume stolpern, die sich über den ausgetretenen Weg zogen. Hier und da bildeten herabhängende Zweige eine weitere Gefahr für einen Läufer, aber sie bemühte sich dennoch, so schnell sie konnte zu gehen.
Sie dachte, als würde sie aus einem Buch über ihre eigenen Abenteuer vorlesen, aus einem jener Bücher, die sie so gerne las: Die junge Chrissie war ebenso sicher zu Fuß, wie sie ausdauernd war, sie besaß eine rasche Auffassungsgabe und ließ sich von der Dunkelheit ebensowenig einschüchtern wie vom Gedanken an ihre monströsen Verfolger. Welch ein Mädchen!
Sie würde bald den Fuß des Hügels erreicht haben, wo sie sich nach Westen zum Meer oder nach Osten zur Landstraße wenden könnte, wo eine Brücke über das Tal verlief. In dieser Gegend, mehr als zwei Meilen vom Stadtrand von Moonlight Cove entfernt, wohnten nur wenige Leute; noch weniger wohnten am Meer, da Teile der Küste unter Naturschutz standen und nicht bebaut werden durften. Sie hatte zwar kaum Chancen, am Pazifik Hilfe zu finden, aber die Aussichten im Osten waren nicht nennenswert besser, denn die Landstraße war wenig befahren, und dort befanden sich kaum Häuser; zudem konnte es sein, daß Tucker mit seinem Honda dort Streife fuhr, weil sie davon ausgingen, daß sie dorthin laufen und das erstbeste Auto anhalten würde, das des Weges kam.
Sie überlegte sich verzweifelt, wohin sie sich wenden sollte, während sie die letzten Meter zurücklegte. Die Bäume rechts und links vom Weg wichen dem niederen, unentwirrbaren Filz von struppigen Krüppeleichen, die Chaparral genannt wurden. Gewaltige Farne, die wie geschafften waren für die gelegentlichen Küstennebel, wucherten über den Pfad, und Chrissie erschauerte, während sie sich durch sie drängte, denn ihr war, als würden zahllose, winzige Händchen nach ihr greifen.
Ein breiter, aber flacher Bach teilte das Tal; an seinem Ufer blieb sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Das Bachbett war weitgehend ausgetrocknet. Um diese Jahreszeit floß das Wasser nur ein paar Zentimeter breit träge durch die Mitte des Kanals und funkelte im Mondlicht.
Die Nacht war windstill.
Totenstill.
Sie schlug die Arme um sich und merkte jetzt erst, wie kalt es war. Sie war mit ihren Jeans und dem Flanellhemd für einen warmen Oktobertag angezogen, nicht für eine kalte, klamme Herbstnacht.
Sie war durchgefroren, außer Atem, ängstlich und wußte nicht, wie sie weiter vorgehen sollte, am meisten aber war sie wütend auf sich selbst, weil Körper und Geist so schwach waren. Ms. Andre Nortons wunderbare Abenteuergeschichten waren voll von kühnen jungen Heldinnen, die wesentlich längere Verfolgungen aushaken konnten - und bittere Kälte und andere Härten als diese, und sie hatten den Verstand immer beisammen und konnten schnelle Entscheidungen treffen - und meistens die richtigen.
Es spornte Chrissie an, sich mit einer Heldin von Andre Norton zu vergleichen, und sie trat entschlossen ins Bachbett hinunter. Sie überquerte drei Meter schlammige Erde, die die schweren Regenfälle des letzten Frühlings angeschwemmt hatten, und versuchte, über den schmalen, purpurnen Wasserlauf zu springen. Sie verfehlte das gegenüberliegende Ufer nur um Zentimeter und machte ihre Tennisschuhe naß. Sie ging dennoch unverdrossen weiter durch lehmigen Boden, der in Klumpen an ihren nassen Schuhen haften blieb, erklomm das gegenüberliegende Ufer des Bachbetts, wo sie sich weder nach Westen noch nach Osten wandte, sondern nach Süden, den gegenüberliegenden Hügelkamm hinauf und zum nächsten Ausläufer des Waldes.
Sie kam jetzt in neues Gelände am äußersten Abschnitt des Waldes, der jahrelang ihr Spielplatz gewesen war, aber sie hatte keine Angst davor, sich zu verirren. Sie konnte Westen und Osten anhand der dünnen Nebelschwaden und der Position des Mondes unterscheiden. Mit diesen Hilfsmitteln konnte sie einen zuverlässigen Südkurs einschlagen. Sie glaubte, daß sie innerhalb einer Meile zu einer Gruppe von Häusern und der ausgedehnten Anlage von New Wave Mikrotechnologie kommen würde, die zwischen den Stallungen der Fosters und der Stadt Moonlight Cove lag. Dort könnte sie Hilfe finden.
Aber dann würden natürlich erst ihre wahren Probleme anfangen. Sie mußte jemanden davon erzählen, daß ihre Eltern nicht mehr ihre Eltern waren, daß sie sich verändert hatten, von einem Geist besessen oder irgendwie verein -nahmt worden waren... von einer unbekannten Macht. Und daß sie sie selbst in eine von ihnen verwandeln wollten.
Klar, dachte sie. Viel Glück.
Sie war klug, redegewandt, verantwortungsbewußt, aber sie war nur ein elfjähriges Mädchen. Es dürfte ihr schwerfallen, jemanden davon zu überzeugen, ihr zu glauben. Diesbezüglich hatte sie keine Illusionen. Sie würden zuhören und nicken und lächeln, und dann würden sie ihre Eltern anrufen, und ihre Eltern würden sich glaubwürdiger anhören als sie selbst...
Aber ich muß es versuchen, sagte sie zu sich, während sie die südliche Wand des Tals zu erklimmen begann. Wenn ich nicht versuche, jemanden zu überzeugen, was kann ich sonst tun? Mich einfach aufgeben? Auf gar keinen Fall.
Ein paar hundert Meter hinter ihr kreischte etwas hoch oben am Hang, den sie gerade heruntergekommen war. Es war kein menschlicher Schrei, aber auch nicht der eines Tieres. Dem ersten schrillen Schrei antwortete ein zweiter, ein dritter und jeder Schrei war eindeutig von einem anderen Wesen, denn jeder wurde mit einer deutlich unterscheidbaren Stimme ausgestoßen.
Chrissie blieb auf dem steilen Hügel unter dem Baldachin eines süßlich riechenden Busches stehen und hielt sich mit der Hand an einer aufgesprungenen Birkenrinde fest. Sie drehte sich herum und lauschte, wie ihre Verfolger gleichzeitig zu heulen anfingen, ein hallender Schrei, der an das Bellen von Koyoten erinnerte...aber seltsamer, furchteinflö-ßender war. Das Geräusch war so kalt, daß es ihr durch Mark und Bein fuhr und sich wie eine Nadel in ihre Knochen bohrte.
Das Bellen war wahrscheinlich Ausdruck ihrer Zuversicht: Sie waren sicher, daß sie sie erwischen würden, daher mußten sie nicht mehr schweigen.
»Was seid ihr?« flüsterte sie.
Sie vermutete, daß sie in der Dunkelheit so gut wie Katzen sehen könnten.
Konnten sie sie auch wittern, wie Hunde?
Ihr Herz schlug beinahe schmerzhaft in der Brust.
Sie fühlte sich verwundbar und allein, als sie den heulenden Jägern den Rücken zudrehte und den Pfad zum südlichen Rand des Tals emporkletterte.
9
Am Fuß der Ocean Avenue schritt Tessa Lockland über den verlassenen Parkplatz zum öffentlichen Strand. Die nächtliche Brise vom Pazifik kam gerade auf, sanft aber kühl, und sie war froh, daß sie Hosen, einen Wollpullover und die Lederjacke anhatte.
Sie schritt über den weichen Sand zu den Schatten außerhalb des Lichtkreises der letzten Straßenlaterne, an einer am Strand wachsenden hohen Zypresse vorüber, die der Wind vom Meer so radikal geformt hatte, daß sie sie an eine Skulptur von Erte erinnerte, nur gekrümmte Linien und geschmolzene Formen. Auf dem feuchten Sand am Wasser, wo die Wellen Zentimeter von ihren Schuhspitzen entfernt ausrollten, sah Tessa nach Westen. Der Viertelmond reichte nicht aus, das weite, wogende Meer zu erhellen; sie konnte lediglich die ersten drei Reihen der flachen, schaumgekrönten Wellen sehen, die aus der Dunkelheit auf sie zubrandeten.
Sie versuchte, sich ihre Schwester vorzustellen, wie sie an diesem einsamen Strand stand, dreißig oder vierzig Valium mit Diet Coke hinunterspülte und sich dann nackt auszog und ins kalte Meer sprang. Nein. Nicht Janice.
Von der wachsenden Überzeugung erfüllt, daß die Behörden in Moonlight Cove entweder untaugliche Narren oder Lügner waren, schritt Tessa an der Krümmung des Strands entlang nach Süden. Sie betrachtete im perlmuttartigen Licht des verkümmerten Mondes den Sand, die verstreuten Zypressen weiter hinten am Strand und die von der Zeit abgetragenen Felsformationen. Sie suchte nicht nach greifbaren Spuren, die ihr verraten könnten, was Janice zugestoßen war; die waren in den vergangenen Wochen nur von Gezeiten und Winden verwischt worden. Sie hoffte statt dessen, die Landschaft selbst und die Elemente der Nacht - Dunkelheit, kühler Wind, Arabesken blassen, langsam dichter werdenden Nebels - würden sie inspirieren, eine Theorie darüber zu entwickeln, was Janice wirklich zugestoßen war, und wie sie anfangen könnte, diese Theorie zu beweisen.
Sie war Filmemacherin, die sich auf verschiedene Arten von Industrie- und Dokumentarfilmen spezialisiert hatte. Wenn sie Zweifel an Bedeutung oder Zweck eines Projektes hatte, konnte es sie, wie sie schon häufig festgestellt hatte, zu erzählerischen und thematischen Annäherungen an ein Thema inspirieren, wenn sie sich ganz in die bestimmte geographische Gegend versenkte. Wenn sie sich im Anfangsstadium eines neuen Reisefilms befand, verbrachte sie häufig ein paar Tage nur damit, ziellos durch die Straßen einer Stadt, wie Singapur oder Hongkong oder Rio, zu schlendern und Einzelheiten in sich aufzunehmen, was produktiver war, als stundenlang Hintergrundinformationen nachzulesen oder sich Gedanken zu machen, obwohl Lesen und Nachdenken selbstverständlich auch dazugehörten.
Sie war kaum sechzig Meter am Strand entlanggelaufen, als sie einen schrillen, unheimlichen Schrei hörte und stehenblieb. Das Geräusch war fern, schwoll an und senkte sich, schwoll an und senkte sich, verstummte.
Sie fragte sich, was sie gehört hatte, denn der seltsame Ruf machte sie kälter als die kühle Oktoberluft. Es war teilweise ein hundeähnliches Heulen gewesen, aber sie war sicher, daß es nicht von einem Hund stammte. Obwohl es auch etwas vom katzenhaften Maunzen und Wimmern gehabt hatte, war sie sicher, daß es auch nicht von einer Katze stammte; keine Hauskatze kpnnte so laut schreien, und soweit sie wußte, streiften keine Wildkatzen durch die Berge an der Küste, aber ganz bestimmt nicht in der Nähe einer Stadt wie Moonlight Cove.
Gerade als sie sich wieder in Bewegung setzen wollte, hallte derselbe klagende Schrei durch die Nacht, und jetzt war sie ziemlich sicher, daß er von der Klippe weiter südlich heruntertönte, die sich über den Strand erhob, wo die Lichter der meerwärts erbauten Häuser nicht so dicht waren wie in der Mitte der Bucht. Dieses Mal endete das Heulen mit einem abgehackteren, lehligeren Laut, der von einem großen Hund hätte stammen können, aber sie war immer noch davon überzeugt, daß er von einem anderen Geschöpf stammen mußte. Jemand, der an der Küste lebte, mußte sich ein exotisches Tier als Haustier halten: möglicherweise einen Wolf oder eine große Gebirgskatze, die nicht an der nördlichen Küste beheimatet war.
Diese Erklärung befriedigte sie freilich nicht völlig, denn der Schrei hatte etwas eigentümlich Vertrautes an sich gehabt, das sie nicht greifen konnte, eine Eigenheit, die nichts mit einem Wolf oder einer Gebirgskatze zu tun hatte. Sie wartete auf einen weiteren Schrei, aber es kam keiner mehr.
Die Dunkelheit um sie herum hatte zugenommen. Der Nebel ballte sich zusammen, eine dunkle Wolke schob sich halb vor die Mondsichel.
Sie entschied, daß sie die Einzelheiten der Landschaft am Morgen besser in sich aufnehmen könnte, und drehte sich wieder zu den nebelverschleierten Laternen am Ende der Ocean Avenue um. Sie merkte nicht, daß sie so schnell ging - beinahe rannte -, bis sie das Ufer hinter sich gelassen, den Parkplatz überquert und den ersten Block der Ocean Avenue passiert hatte, und da bemerkte sie ihre Hast nur, weil ihr plötzlich klar wurde, wie keuchend sie atmete.
10
Thomas Shaddack schwebte in vollkommener Schwärze, die weder warm noch kalt war, in der er schwerelos zu sein schien, er keinerlei Empfindungen mehr auf der Haut spürte, in der er ohne Gliedmaßen, Muskeln oder Knochen zu sein und überhaupt keinerlei stoffliche Substanz zu haben schien. Ein zäher Gedankenfaden verband ihn mit seinem körperlichen Selbst, und er war sich in den entferntesten Ecken seines Verstandes immer noch bewußt, daß er ein Mensch war - ein Hüne von einem Mann, einen Meter neunzig groß, achtundsiebzig Kilo schwer, schlacksig und knochig, mit zu schmalem Gesicht, hoher Stirn und braunen Augen, die so hell waren, daß sie fast Gelb wirkten.
Er war sich auch vage bewußt, daß er nackt war und in einer Kammer zum Entzug von Sinneswahrnehmungen schwebte, die sich auf dem neuesten Stand der Technik befand und ungefähr wie eine altmodische eiserne Lunge aussah, aber viermal so groß. Die einzige schwache Glühbirne war ausgeschaltet, kein Licht drang durch die Hülle des Tanks. Die Flüssigkeit, in der Shaddack schwebte, war etwa sechzig Zentimeter tief, eine zehnprozentige Lösung von Magnesiumsulfat in Wasser, des optimalen Auftriebs wegen. Die - wie jedes Element dieser Umgebung - von einem Computer überwachte Temperatur des Wassers schwankte zwischen vierunddreißig Grad Celsius, der Temperatur, bei der ein treibender Körper am wenigsten von der Schwerkraft beeinflußt wird, und siebenunddreißig Grad Celsius, bei denen der Wärmeunterschied zwischen der menschlichen Körpertemperatur und der Flüssigkeit vernachlässigbar ist.
Er litt nicht an Klaustrophobie. Eine oder zwei Minuten, nachdem er sich in die Kammer begeben und die Klappe geschlossen hatte, war das Gefühl, beengt zu sein, völlig verschwunden.
Ohne Sinneswahrnehmungen - kein Sehen, kein Hören, wenig oder gar kein Schmecken, keinerlei Geruchsstimulationen, kein Tastsinn, kein Gefühl für Gewicht oder Raum oder Zeit - ließ Shaddack seinen Verstand frei wandern; ohne die Behinderungen des Fleisches schwang er sich zu neuen Höhepunkten der Einsicht auf und erforschte Vorstellungskonzepte, die ansonsten zu komplex gewesen wären.
Er war auch ohne Unterstützung durch den Entzug von Sinneswahrnehmungen ein Genie. Das hatte das Time Magazin geschrieben, also mußte es stimmen. Er hatte New Wave Mikrotechnologie von einer ums Überleben kämpfenden Firma mit einem Startkapital von zwanzigtausend Dollar zu einem Unternehmen mit dreihundert Millionen Jahresumsatz gemacht, welches hochentwickelte Mikrotechnologie erforschte, plante und entwickelte.
Momentan unternahm Shaddack allerdings keinen Versuch, sich auf anstehende Probleme zu konzentrieren. Er benützte den Tank nur zur Erholung, um eine bestimmte Vision herbeizuführen, die ihn immer wieder in ihren Bann zog und erregte.
Seine Vision:
Abgesehen von dem dünnen Faden des Denkens, der ihn noch mit der Wirklichkeit verband, stellte er sich vor, er wäre in einer gewaltigen, arbeitenden Maschine, die so unermeßlich war, daß ihre Dimensionen ebenso schwer zu bestimmen waren wie die des Universums selbst. Es war die Landschaft eines Traums, aber unendlich plastischer und intensiver als in einem Traum. Er schwebte wie ein fortgewehter Splitter in den Eingeweiden dieses kolossalen imaginären Mechanismusses, an massiven Wänden und miteinander verbundenen Säulen stampfender Antriebskolben vorbei, rasselnden Antriebsketten, Myriaden stoßender Zylinder, die ihrerseits mit großen geschmierten Kurbelwellen verbunden waren, die Zahnräder verschiedenster Größen drehten. Servomotoren summten, Kompressoren zischten, Verteiler funkten, wenn elektrische Ströme durch Millionen verflochtener Kabel zu den entferntesten Stellen der Konstruktion flossen.
Für Shaddack war der erregendste Teil dieser visionären Welt die Art und Weise, wie Schäfte aus Stahl und Kolben aus Legierungen und Hartgummidichtungen und Alumi-niumabdeckungen mit organischen Teilen verbunden waren und so eine revolutionäre Einheit mit zwei Lebensformen bildeten: wirkungsvolle mechanische Animation und das Pulsieren organischen Gewebes. Als Pumpen hatte der Ingenieur menschliche Herzen genommen, die unablässig in ihrem alten Klopf-klopf-Rhythmus pochten und durch dicke Arterien mit Gummischläuchen verbunden waren, die sich in die Wände schlängelten; manche pumpten Blut in die Teile der Maschine, die organischer Schmierung bedurften, während andere hochviskoses Öl pumpten. In andere Teile der unendlichen Maschine waren Zehntausende von Lungenflügeln eingebaut, die als Blasebälge und Filter dienten; Sehnen und tumorartige Fleischwucherungen waren Verbindungsstücke für lange Röhren und Gummischläuche, die flexibler waren und dichter schlössen als gewöhnliche, nichtorganische Dichtungen das hätten bewerkstelligen können.
Hier waren die besten Konzepte von organischen und mechanischen Systemen zu einer einzigen perfekten Struktur vereint. Während Thomas Shaddack sich den Weg durch die endlosen Gründe seines erträumten Ortes vorstellte, war er fasziniert, wenngleich er nicht wußte - und ihm auch nichts daran lag -, welche endgültige Funktion alles hatte, welches Produkt oder welche Leistung es durch seine Funktion hervorbringen sollte. Das Gebilde erregte ihn, weil es eindeutig alles mit höchstem Wirkungsgrad erfüllte, weil die organischen und nichtorganischen Teile so brillant miteinander gekoppelt waren.
Shaddack hatte sich sein ganzes Leben lang, soweit er sich an seine einundvierzig Jahre erinnern konnte, darum bemüht, die Einschränkungen des menschlichen Daseins zu überwinden, hatte sich von ganzem Herzen und mit all seiner Willenskraft angestrengt, über das Schicksal seiner Rasse hinauszuwachsen. Er wollte mehr als nur ein Mensch sein. Er wollte die Macht eines Gottes haben und nicht nur seine eigene Zukunft bestimmen, sondern die der gesamten Menschheit. Wenn er in seinem privaten Tank, frei von Sinneswahrnehmungen, von der Vision seines kybernetischen Organismus mitgerissen wurde, war er dieser ersehnten Metamorphose näher als in der wirklichen Welt, und das löste sein Hochgefühl aus.
Denn für ihn war diese Vision nicht nur intellektuell stimulierend und emotional bewegend, sondern auch außerordentlich erotisch. Wenn er durch diese imaginäre halborganische Maschine schwebte und beobachtete, wie sie pochte und pulsierte, erlebte er einen Orgasmus, den er nicht nur in den Genitalien, sondern in jeder Faser spürte; tatsächlich bemerkte er seine heftige Erektion gar nicht, auch nicht die kraftvolle Ejakulation, um die sich sein ganzer Körper zusammenzuziehen schien, denn er empfand die Lust nicht auf den Penis konzentriert, sondern im ganzen Körper verteilt. Milchige Samenfäden trieben in dem dunklen Teich der Magnesiumsulfatlösung.
Ein paar Minuten später aktivierte die automatische Zeitschaltuhr der Kammer das Licht und einen leisen Wecker. Shaddack wurde aus seinem Traum in die Wirklichkeit von Moonlight Cove zurückgeholt.
11
Chrissie Fosters Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, sie konnte sich rasch durch das unbekannte Gelände bewegen.
Als sie den Rand des Tals erreichte, ging sie zwischen Montereyzypressen hindurch und fand einen weiteren Maultierpfad, der nach Süden durch den Wald rührte. Die gewaltigen Zypressen wurden von den umliegenden Bäumen vor dem Wind geschützt, daher waren sie üppig und stattlich, weder schlimm verkrümmt, noch von verkümmerten Ästen verunziert, wie direkt an der windumtosten Küste. Einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, sich zu diesen laubigen Höhen aufzuschwingen und zu hoffen, daß ihre Verfolger sie nicht bemerkten und vorüberzögen. Aber sie wagte nicht, dieses Risiko einzugehen; wenn sie sie witterten oder ihre Anwesenheit durch andere Mittel entdeck-ten, würden sie heraufgeklettert kommen, und sie hätte keinen Fluchtweg mehr.
Sie eilte weiter und kam wenig später zu einer Lücke zwischen den Bäumen. Dahinter befand sich eine Wiese, deren Hang von Ost nach West geneigt war, wie der größte Teil des Landes hier. Der Wind nahm zu und war so stark, daß er ihr blondes Haar unablässig zerzauste. Der Nebel war nicht mehr so dünn wie vorhin, als sie die Foster-Stallungen zu Pferde verlassen hatte, aber das Mondlicht konnte noch so ungehindert scheinen, daß es das kniehohe Gras, das sich im Wind wiegte, wie mit Frost überziehen konnte.
Während sie über die Wiese zur nächsten Baumgruppe lief, sah sie einen großen, weihnachtsbaumartig mit Lichtern geschmückten Lastwagen, der auf der fast eine Meile östlich gelegenen Autobahn Richtung Süden fuhr, auf der zweiten Hügelkette an der Küste. Aber sie entschied, daß sie niemanden auf der fernen Autobahn um Hilfe bitten würde, denn das waren allesamt Fremde, die zu fernen Orten unterwegs waren und ihr wahrscheinlich noch weniger glauben würden als die Einheimischen hier. Außerdem las sie Zeitungen und sah fern, daher wußte sie alles über die Massenmörder, die auf den Autobahnen unterwegs waren, und sie konnte sich die Schlagzeilen über ihr trauriges Schicksal mühelos vorstellen: JUNGES MÄDCHEN IN DODGE-LASTWAGEN VON UMHERZIEHENDER KANNIBALENHORDE GEFRESSEN; MIT BROKKOLI SERVIERT UND MIT PETERSILIE ANGERICHTET; KNOCHEN FÜR SUPPE AUSGEKOCHT.
Die Landstraße lag eine halbe Meile näher auf den Gipfeln der ersten Hügel, aber da war kein Verkehr zu sehen. Das machte nichts, denn sie hatte schon entschieden, daß sie dort keine Hilfe suchen wollte, weil sie Angst vor Tucker und seinem Honda hatte.
Aber sie hatte sich freilich eingebildet, sie hätte drei deutlich unterscheidbare Stimmen im unheimlichen Heulen ihrer Verfolger gehört, was bedeuten mußte, daß Tucker sein Auto verlassen hatte und jetzt mit ihren Eltern unterwegs war. Vielleicht konnte sie doch unbesorgt zur Landstraße gehen.
Sie dachte darüber nach, während sie über die Wiese lief.
Aber bevor sie sich entschieden hatte, die Richtung zu ändern, ertönten hinter ihr wieder die gräßlichen Schreie, immer noch im Wald, aber viel näher als zuvor. Zwei oder drei Stimmen heulten gleichzeitig, als wäre ihr eine Meute kläffender Hunde auf den Fersen, die aber seltsamer und wilder als gewöhnliche Hunde waren.
Dann trat Chrissie plötzlich ins Leere und fiel abwärts, Sekunden hatte sie den Eindruck, als stürzte sie in einen tiefen Abgrund. Aber es war nur ein zweieinhalb Meter breiter und eineinhalb Meter tiefer Abwasserkanal, der die Wiese teilte, und sie rollte unverletzt hinab.
Das wütende Kreischen der Verfolger war lauter, näher, und jetzt hatten ihre Stimmen einen frenetischeren Klang... einen Unterton von Gier und Hunger.
Sie rappelte sich auf und wollte gerade versuchen, die eineinhalb Meter hohe Betonwand des Grabens hinaufzukommen, als sie bemerkte, daß der Graben links v>n ihr, aufwärts, in ein gewaltiges Rohr überging, das sich in die Erde bohrte. Sie hielt aus halbem Wege inne und dachte über diese neue Möglichkeit nach.
Das helle Betonrohr bot dem schwachen Mondlicht gerade hinreichend Oberfläche, daß man es erkennen konnte. Als sie es sah, wußte sie sofort, daß dies die Hauptwasserleitung war, die das Regenwasser vom Highway und der Landstraße hoch oben sammelte und abfließen ließ. Den schrillen Schreien der Verfolger konnte sie entnehmen, daß ihr Vorsprung geringer wurde. Sie hatte immer mehr Angst, daß sie es nicht bis zu den Bäumen auf der anderen Seite der Wiese schaffen, sondern früher zu Fall gebracht werden würde. Vielleicht war das Rohr eine Sackgasse und bot nicht mehr Sicherheit als die Zypressen, die sie erklimmen wollte, aber sie entschied, daß sie das Risiko eingehen würde.
Sie glitt wieder auf den Grund des Grabens und hastete zur Öffnung. Das Rohr maß einen Meter zwanzig im Durchmesser. Wenn sie sich ein wenig bückte, konnte sie darin gehen. Aber sie kam nur ein paar Schritte, dann blieb sie stehen, weil sie einen so üblen Geruch wahrnahm, daß sie würgen mußte.
Etwas Totes lag in diesem finsteren Durchgang und verweste. Sie konnte nicht sehen, was er war, aber vielleicht war es besser, wenn sie es nicht sähe; der Kadaver sah vielleicht noch schlimmer aus als er roch. Ein krankes, sterbendes Tier mußte in diesem Rohr Schutz gesucht haben, und hier war es seiner Krankheit erlegen.
Sie wich hastig aus der Abwasserleitung zurück und atmete die frische Nachtluft ein.
Von Norden ertönten die gemeinsamen, hallenden Schreie, die ihr buchstäblich die Nackenhärchen sträubten.
Sie kamen rasch näher und hatten sie fast erreicht.
Sie hatte keine andere Wahl, als sich tief in dem Abwasserrohr zu verstecken und zu hoffen, daß sie ihre Witterung nicht aufnehmen könnten. Plötzlich wurde ihr klar, daß das verwesende Tier ihre Rettung sein könnte, denn wenn ihre Verfolger sie wie Hunde wittern konnten, könnte der Verwesungsgestank ihren eigenen Geruch verbergen.
Sie ging wieder in das pechschwarze Rohr und folgte dem konvexen Boden, der sich unter der Wiese allmählich nach oben krümmte. Nach zehn Metern trat sie mit dem Fuß in etwas Weiches und Glitschiges. Der gräßliche Verwesungsgestank hüllte sie noch stärker als zuvor ein, und sie wußte, sie war in das tote Dinge getreten.
»Oh, igitt.«
Sie würgte und spürte ihren Mageninhalt hochsteigen, aber sie biß die Zähne zusammen und weigerte sich, sich zu übergeben. Als sie an der verwesten Masse vorbei war, hielt sie inne und streifte den Schuh am Betonboden des Rohrs ab.
Dann eilte sie weiter in das Abflußrohr. Sie wuselte sich mit gebeugten Knien, eingezogenen Schultern und gesenktem Kopf vorwärts, und ihr wurde klar, daß sie wie ein Troll aussehen mußte, der in seine geheime Höhle verschwindet.
Fünfzig oder sechzig Schritte nach dem unbekannten toten Ding blieb Chrissie stehen, bückte sich und drehte sich um, damit sie zur Öffnung des Schachts sehen konnte. Sie konnte den Graben im Mondlicht durch die kreisförmige
Öffnung erkennen, sie sah sogar mehr als sie erwartet hatte, weil die Nacht im Kontrast zur Dunkelheit im Rohr heller wirkte als draußen.
Alles war still.
Von den Gullygittern der Highways östlich über ihr wehte ein sanfter Wind herab und trieb den Gestank des toten Tiers von ihr weg, so daß sie nicht einmal eine Spur mehr davon wahrnehmen konnte. Die Luft roch lediglich nach Dunkelheit und einem Hauch Mehltau.
Stille hielt die Nacht umklammert.
Sie hielt einen Augenblick den Atem an und lauschte angestrengt.
Nichts.
Sie blieb geduckt stehen und verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
Stille.
Sie fragte sich, ob sie tiefer in das Rohr vordringen sollte. Dann fragte sie sich, ob Schlangen im Abflußrohr sein könnten. War dies nicht der perfekte Ort für Schlangen, wenn sie Schutz vor der kühlen Nachtluft suchten?
Stille.
Wo waren ihre Eltern? Tucker? Vor einer Minute waren sie dicht hinter ihr gewesen, zum Greifen nah.
Stille.
Klapperschlangen waren in den Hügeln an der Küste zu Hause, aber um diese Jahreszeit nicht aktiv. Wenn ein Nest Klapperschlangen...
Die anhaltende unnatürliche Stille raubte ihr die Nerven, und sie verspürte den Drang zu schreien, nur um den Bann des Schweigens zu brechen.
Ein schriller Schrei zerriß die Stille draußen. Er hallte durch den Betontunnel, an Chrissie vorbei und prallte im Durchgang hinter ihr von Wand zu Wand, als würden sich ihr die Jäger nicht nur von außen, sondern auch aus den Tiefen der Erde hinter ihr nähern.
Schemenhafte Gestalten sprangen in den Graben außerhalb des Rohrs.
12
Sam fand zwei Blocks von seinem Motel entfernt ein mexikanisches Restaurant in der Serra Street. Er schnupperte nur einmal die Luft in dem Lokal und wußte, daß das Essen gut sein würde. Diese Melange war das geruchsmäßige Äquivalent eines Albums von Jose Feliciano: Chilipulver, kochendes Chorizo, das süße Aroma von mit masa harina gemachten Tortillas, Cilantro, Pfefferschoten, der strenge Geruch von Jalapenochilis, Zwiebeln...
Das Perez Family-Restaurant war so unprätentiös wie sein Name, ein einziger rechteckiger Raum mit Nischen aus blauen Vinyl an den Seitenwänden, Tischen in der Mitte, der Küche im hinteren Teil. Die Familie Perez hatte, anders als Burt Peckham in der Knight's Bridge Tavern, mehr Betrieb als sie verkraften konnte. Das Restaurant war zum Brechen voll, abgesehen von einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen hinten, an den Sam von einer Teenagerkellnerin geführt wurde.
Kellner und Kellnerinnen waren leger in Jeans und Pullover gekleidet, das einzige schwache Zugeständnis an eine Uniform waren weiße Halbschürzen, die sie um die Taillen gebunden hatten. Sam fragte nicht einmal nach Guinness, das er noch nie in einem mexikanischen Restaurant gefunden hatte, aber sie hatten Corona, und das war fein, wenn das Essen gut war.
Das Essen war sehr gut. Nicht wahrhaft, unvergleichlich großartig, aber besser als man in einer nördlich gelegenen Küstenstadt mit dreitausend Einwohnern hätte erwarten dürfen. Die Maisfladen waren hausgemacht, die Salsa dick und sämig, die Bondigas-Suppe wohlschmeckend und so scharf gewürzt, daß ihm ein wenig der Schweiß ausbrach. Als er die Krabbenenchiladas mit Tomatenpüree gegessen hatte, war er halb überzeugt, daß er tatsächlich so schnell wie möglich nach Moonlight Cove ziehen sollte, auch wenn er eine Bank ausrauben müßte, damit er sich den vorzeitigen Ruhestand leisten könnte.
Nachdem er die Überraschung wegen des Essens überwunden hatte, fing er an, den anderen Gästen ebensoviel Aufmerksamkeit zu schenken wie dem, was er auf dem Teller hatte. Allmählich fielen ihm einige Seltsamkeiten an ihnen auf.
Wenn man bedachte, daß sich achtzig bis neunzig Menschen in dem Restaurant aufhielten, war es ungewöhnlich still. Erstklassige mexikanische Restaurants - mit gutem Essen, gutem Bier und starken Margaritas - waren ausgelassene Orte. Bei Perez unterhielten sich jedoch nur etwa ein Drittel der Gäste angeregt an ihren Tischen. Die restlichen zwei Drittel aßen schweigend.
Nachdem er das Glas geneigt und sich aus der frischen Flasche Corona eingeschenkt hatte, die er gerade bekommen hatte, studierte Sam einige der schweigsamen Esser. Drei Männer mittleren Alters saßen in einer Nische an der rechten Seite des Raumes und aßen Enchiladas und Tacos und Chimichangas, sahen auf ihr Essen oder vor sich ins Leere, gelegentlich auch einander an, aber ohne ein Wort zu sprechen. Auf der anderen Seite des Zimmers hatten sich zwei Teenagerpaare über Vorspeisenteller hergemacht, ohne die Mahlzeit mit dem Schwatzen und Kichern zu untermalen, die man von Kindern ihres Alters erwartet hätte. Ihre Konzentration war so angestrengt, daß es Sam um so seltsamer vorkam, je länger er sie betrachtete.
Im ganzen Lokal waren Menschen verschiedenen Alters und in allen möglichen Gruppen einzig und allein aufs Es -sen konzentriert. Alles schienen herzhafte Esser zu sein und aßen Vorspeisen, Suppe, Salate und Beilagen; wenn sie fertig waren, bestellten manche >noch ein paar Tacos< oder >noch einen Burrito<, bevor sie Eis oder Nachtisch bestellten. Ihre Kiefermuskeln traten beim Kauen hervor, und kaum hatten sie geschluckt, schoben sie sich rasch mehr in den Mund. Manche aßen mit offenem Mund. Einige schluckten so heftig, daß Sam sie sogar hören konnte. Sie waren rot im Gesicht und schwitzten, zweifellos wegen der mit Jalapeno gewürzten Sauce, aber kein einziger gab eine Bemerkung wie >Junge, ist das scharf< oder >Verdammt gut gewürzt< oder elementarste Kommentare zu seinem Nachbarn von sich.
Das Drittel der Kunden, die sich fröhlich miteinander un-terhielten und ihr Essen mit normaler Geschwindigkeit verzehrten, bemerkte offenbar nichts vom hektischen Essen der anderen Gäste. Natürlich waren schlechte Tischsitten nicht selten; mindestens ein Viertel aller Gäste in jeder Stadt hätte Knigge in den Wahnsinn getrieben, wenn sie mit ihm gegessen hätten. Dennoch schien die Gier einiger Kunden der Familie Perez für Sam erstaunlich zu sein. Er vermutete, die manierlichen Gäste waren dem Benehmen der anderen gegenüber gleichgültig geworden, wsil sie es schon so häufig mit angesehen hatten.
Konnte die kalte Meeresluft der nördlichen Küste dermaßen appetitanregend sein? Lehnte sich ein eigentümlicher ethnischer Hintergrund oder ein Bruch in der gesellschaftlichen Entwicklung von Moonlight Cove gegen die universelle Entwicklung allgemein akzeptierter Tischsitten der westlichen Welt auf?
Was er im Perez Family-Restaurant sah, war ein Rätsel, auf das sich jeder Soziologiestudent, der verzweifelt nach einem Thema für seine Dissertation suchte, mit Vergnügen gestürzt hätte. Aber nach einer Weile mußte Sam sich von den gefräßigen Leuten abwenden, weil deren Benehmen ihm selbst den Appetit nahm.
Später, als er über die Höhe des Trinkgelds nachdachte und Geld auf den Tisch legte, um die Rechnung z begleichen, beobachtete er die Menge noch einmal, und jetzt stellte er fest, daß keiner der kräftigen Esser Bier, Margaritas oder sonst etwas Alkoholisches trank. Sie hatten Eiswasser oder Cola vor sich, manche tranken Milch, ein Glas nach dem anderen, aber jeder oder jede einzelne dieser Vielfraße schien Antialkoholiker zu sein. Wären er nicht Polizist gewesen -und zwar ein guter - und ausgebildet, nicht nur zu beobachten, sondern auch darüber nachzudenken, was er beobachtete, wäre ihm diese Einzelheit vielleicht gar nicht aufgefallen.
Er erinnerte sich, wie wenig Gäste in der Knight's Bridge Tavern Alkohol getrunken hatten.
Welche ethnische Kultur oder Religion lehnte Alkohol ab, während sie gleichzeitig schlechte Manieren und Gier ermu -tigte?
Ihm fiel keine ein.
Als Sam sein Bier getrunken hatte und aufstand, um zu gehen, sagte er sich, daß er die unhöflichen Leute zu ernst nähme, daß diese befremdliche Fixierung aufs Essen auf ein paar Menschen beschränkt bliebe und nicht so verbreitet wäre, wie er vermutete. Schließlich hatte er von seinem hinteren Tisch nicht den ganzen Raum und jeden Gast sehen können. Aber als er hinausging, kam er an einem Tisch vorbei, an dem drei attraktive und gut angezogene junge Frauen gierig aßen, aber keine sagte etwas, und ihre Augen waren glasig; zwei hatten Essenreste auf dem Kinn, was sie gar nicht zu bemerken schienen, und die dritte hatte soviel Fladenbrotkrümel auf dem königsblauen Pullover, daß es aussah, als wollte sie sich panieren, in die Küche gehen, in den Ofen klettern und selbst zu Essen werden.
Er war froh, als er draußen in der kühlen Nachtluft stand.
Er hatte sowohl wegen der scharf gewürzten Speisen wie auch wegen der Hitze im Restaurant geschwitzt und hätte gerne das Jackett ausgezogen, aber das konnte er wegen der Waffe im Schulterhalfter nicht. Jetzt genoß er den frischen Nebel, der von einem sanften, aber konstanten Wind nach Osten geweht wurde.
13
Chrissie sah sie in den Kanal springen und dachte einen Augenblick, sie würden alle auf der anderen Seite wieder hinaufklettern und in die Richtung über die Wiese weitergehen, in die sie gegangen wäre. Dann drehte sich einer zur Öffnung der Rohrs um. Die Gestalt kam auf allen vieren und mit wenigen schleichenden und geschmeidigen Schritten auf die Öffnung zu. Chrissie konnte zwar nur einen Umriß erkennen, aber sie wollte dennoch kaum glauben, daß dieses Ding ihr Vater, ihre Mutter oder Tucker sein konnte. Aber wer sollte es sonst sein?
Das Raubtier trat in den Schacht und spähte ins Dunkel.
Seine Augen leuchteten sanft bernsteinfarben, hier nicht so hell wie im Mondschein, dunkler als Leuchtfarbe, aber dennoch vage leuchtend.
Chrissie fragte sich, wie gut es in völliger Dunkelheit sehen könnte. Sein Blick konnte sicher nicht ein zvanzig bis fünfundzwanzig Meter dunkles Rohr bis zu der Stelle durchdringen, an der sie kauerte. Eine Sehfähigkeit dieser Schärfe wäre übernatürlich.
Es sah sie direkt an.
Aber wer konnte sagen, daß das, womit sie es hier zu tun hatte, nicht übernatürlich war? Vielleicht waren ihre Eltern... Werwölfe geworden.
Sie war in sauren Schweiß gebadet. Sie hoffte, daß der Gestank des toten Tiers ihren Körpergeruch verbergen würde.
Der Jäger erhob sich von allen vieren in eine kauernde Haltung, wodurch er das silberne Mondlicht am Rohrende fast völlig verdeckte, und kam langsam vorwärts.
Die gekrümmten Betonwände der Leitung verstärkten seinen Atem. Chrissie atmete flach durch den offenen Mund, um ihre Anwesenheit nicht zu verraten.
Nachdem er nur zehn Schritte in den Tunnel eingedrungen war, sprach der Jäger plötzlich mit rauher, flüsternder Stimme und einer solchen Eile, daß die Worte fast eine einzige zusammenhängende Silbenkette bildeten: »Chrissie, bist du da, du, du? Komm her, Chrissie, komm her, komm, will dich, will, will, brauche, brauche meine Chrissie, meine Chrissie.« Die bizarre, hektische Stimme beschwor in Chrissies Verstand das schreckliche Bild eines Geschöpfes herauf, das teils Echse, teils Wolf, teils Mensch und teils etwas Undefinierbares war. Sie vermutete, daß sein tatsächliches Äußeres noch schlimmer war, als sie sich vorstellen konnte.
»Dir helfen, will dir helfen, jetzt, komm her, komm, komm. Bist du da? Du da?«
Das Schlimmste an der Stimme war, daß sie trotz der kalten Heiserkeit und des flüsternden Tonfalls etwas Vertrautes hatte. Chrissie erkannte sie als die ihrer Mutter. Verändert, ja, aber dennoch die Stimme ihrer Mutter.
Chrissies Magen wurde von Angst verkrampft, aber sie wurde auch noch von einem anderen Schmerz erfüllt, den sie sich im Augenblick nicht erklären konnte. Dann wurde ihr klar, daß es der Schmerz des Verlustes war; sie vermißte ihre Mutter, wollte ihre Mutter zurückhaben, ihre echte Mutter. Hätte sie eines der verzierten Kruzifixe aus Silber besessen, wie sie immer in den Spätfilmen zu sehen waren, hätte sie sich wahrscheinlich gezeigt, wäre auf das verhaßte Dinge zugeschritten und hätte verlangt, daß es ihre Mutter wieder freigäbe. Wahrscheinlich hätte das Kruzifix nichts bewirkt, denn im wirklichen Leben war nichts so einfach wie in den Filmen; zudem war das, was ihren Eltern zugestoßen war, viel seltsamer als Vampire oder Werwölfe oder aus der Hölle emporgestiegene Dämonen. Aber wenn sie ein Kruzifix gehabt hätte, hätte sie es trotzdem versucht.
»Tod, Tod, rieche Tod, Gestank, Tod...«
Das Mutter-Ding drang rasch weiter in den Tunnel vor, bis es zu der Stelle kam, wo Chrissie in die glitschige, verwesende Masse getreten war. Der Glanz der Augen stand in direktem Zusammenhang zum Mondlicht, denn jetzt wurden sie trüber. Dann sah das Geschöpf das tote Tier auf dem Boden des Rohrs an.
Jenseits der Rohröffnung ertönten Geräusche von etwas, das sich im Kanal bewegte. Schritten und Poltern von Steinen folgte eine andere, gleichermaßen furchteinflößende Stimme, während der Jäger sich über das tote Tier kauerte. Sie rief ins Rohr: »Sie da, sie da? Was gefunden, was, was?« »...Waschbär...«
»Was, was ist, was?«
»Toter Waschbär, verwest, Maden, Maden«, sagte die erste. Chrissie verspürte die makabre Angst, sie könnte den Abdruck eines Turnschuhs in der verwesenden Masse des toten Waschbärs hinterlassen haben.
»Chrissie?« sagte der zweite, während er in den Tunnel trat.
Tuckers Stimme. Ihr Vater suchte offenbar jenseits der Wiese im angrenzenden Waldstück nach ihr.
Die beiden Jäger zappelten unablässig. Chrissie konnte hören, wie ihre - Krallen? - auf dem Betonboden der Röhre streiften. Auch hörten sich beide wie in Panik an. Nein, nicht unbedingt wie in Panik, denn Angst konnte man in ihren Stimmen nicht hören. Hektisch. Unbeherrscht. Es war, als würde ein Motor in ihrem Inneren schneller und schneller laufen, fast außer Kontrolle.
»Chrissie da, sie da, sie?« fragte Tucker.
Das Mutter-Ding sah von dem toten Waschbären auf und blickte Chrissie durch den dunklen Tunnel direkt an.
Du kannst mich nicht sehen, dachte-betete Chrissie. Ich bin unsichtbar.
Das Leuchten der Augen des Jägers war zu zwei Pünktchen matten Silbers verblaßt.
Chrissie hielt den Atem an.
Tucker sagte: »Muß essen, essen, will essen.«
Das Geschöpf, das ihre Mutter gewesen war, sagte: »Mädchen finden, Mädchen, sie zuerst finden, dann essen, dann.«
Sie hörten sich an, als wären sie wilde Tiere, denen durch Zauberei rudimentäre Sprechfähigkeit verliehen worden war.
»Jetzt, jetzt, verbrennen, jetzt essen, jetzt verbrennen«, sagte Tucker drängend und beharrlich.
Chrissie zitterte so heftig, daß sie beinahe fürchtete, sie könnten ihr Schlottern hören.
Tucker sagte: »Verbrennen, kleine Tiere auf Wiese, höre sie, rieche sie, aufspüren, essen, essen, jetzt.«
Chrissie hielt den Atem an.
»Nichts hier«, sagte das Mutter-Ding. »Nur Maden, Gestank, gehen, essen, dann sie finden, essen, essen, dann sie finden, gehen.«
Die beiden Jäger wichen aus dem Rohr zurück und verschwanden.
Chrissie wagte wieder zu atmen.
Nachdem sie eine Minute gewartet hatte, um sicher zu sein, daß sie tatsächlich gegangen waren, drehte sie sich um und ging nach Troll-art tiefer in das aufwärts laufende Rohr, wobei sie sich blind an den Wänden entlangtastete und nach einer Abzweigung suchte. Sie mußte zweihundert Meter gegangen sein, bis sie eine fand: ein Zuflußrohr, dessen Durch-messer halb so dick wie der des Hauptabflusses war. Sie schlüpfte - Füße voraus und auf dem Rücken - hinein, dann drehte sie sich auf den Bauch und sah in den breiteren Tunnel hinaus. Hier würde sie die Nacht verbringen. Wenn sie in das Rohr zurückkehrten, um ihre Witterung in der reineren Luft hinter dem toten Waschbären aufzunehmen, würde sie außerhalb des Luftzuges sein, der im Haupttunnel wehte, und sie würden sie vielleicht nicht riechen können.
Sie war zuversichtlich, denn die Tatsache, daß sie nicht tiefer in den Tunnel vorgedrungen waren, bewies eindeutig, daß sie nicht über übernatürliche Fähigkeiten verfügten und weder allsehend noch allwissend waren. Sie waren unnatürlich schnell und stark, seltsam und furchteinflößend, aber sie konnten auch Fehler machen. Sie kam zur Überzeugung, daß sie, wenn es Tag geworden war, eine Chance von fünfzig zu fünfzig haben würde, aus dem Wald herauszukommen und Hilfe zu finden, bevor sie erwischt würde.
14
Sam Booker sah im Licht außerhalb des Perez Family-Re-staurants auf die Uhr. Erst neunzehn Uhr zehn.
Er ging auf der Ocean Avenue spazieren und nahm den Mut zusammen, Scott in Los Angeles anzurufen. Die Aussicht auf die Unterhaltung mit seinem Sohn beschäftigte ihn zunehmend und verdrängte alle Gedanken an die rüden, gierigen Essensgäste aus seinem Denken.
Um neunzehn Uhr dreißig blieb er vor einer Telefonzelle in der Nähe der Shell-Tankstelle Ecke Juniper Lane und Oce-an Avenue stehen. Er rief mit seiner Kreditkarte per Ferngespräch in seinem Haus in Sherman Oaks an.
Scott hielt sich mit seinen sechzehn Jahren für alt genug, alleine zu Hause zu bleiben, wenn sein Vater in einem Auftrag unterwegs war. Sam stimmte dem nur teilweise zu und hätte es vorgezogen, wenn der Junge bei seiner Tante Edna geblieben wäre. Aber Scott behielt die Oberhand, indem er das Leben für Edna zur Hölle machte, daher wollte Sam sie dieser Prüfung nur ungern aussetzen.
Er hatte dem Jungen wiederholt Sicherheitsprozeduren eingebleut - alle Türen und Fenster verschlossen halten; wissen, wo die Feuerlöscher waren; wissen, wie man bei einem Erdbeben oder einem anderen Notfall von jedem Zimmer aus dem Haus gelangen konnte - und er hatte ihm beigebracht, wie man mit einer Handfeuerwaffe schoß. Sams Meinung nach war Scott noch lange nicht reif genug, über Tage hinweg allein im Haus zu bleiben; aber wenigstens war der Junge hinreichend auf alle Eventualitäten vorbereitet.
Das Telefon klingelte neunmal. Sam verspürte schuldbewußte Erleichterung darüber, daß er nicht durchkam, und wollte schon wieder auflegen, als Scott schließlich abnahm. »Hallo.«
»Ich bin es, Scott. Dad.«
»Ja?«
Im Hintergrund spielte lautstark Heavy Metal Rock. Er war wahrscheinlich in seinem Zimmer und hatte die Stereoanlage so aufgedreht, daß die Fensterscheiben bebten.
Sam sagte: »Könntest du die Musik leiser stellen?«
»Ich kann dich gut hören«, murmelte Scott.
»Vielleicht, aber ich habe Mühe, dich zu hören.«
»Ich habe sowieso nichts zu sagen.«
»Bitte, mach leiser«, sagte Sam mit Betonung auf dem >bitte<.
Scott legte den Hörer weg, der auf seinem Nachttisch polterte. Der Laut tat Sam im Ohr weg. Der Junge machte die Lautstärke der Anlage nur unmerklich leiser. Er nahm das Telefon wieder und sagte: »Ja?«
»Wie geht es dir?«
»Ganz gut.«
»Alles in Ordnung?«
»Warum nicht?«
»Ich hab' ja nur gefragt.«
Plötzlich: »Wenn du angerufen hast, ob ich eine Party mache, keine Bange. Ich mache keine.«
Sam zählte bis drei, um die Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen. Nebelschwaden wehten an den Glasscheiben der Telefonzelle vorbei. »Wie war es heute in der Schule?«
»Glaubst du, ich war nicht dort?«
»Ich weiß, daß du dort warst.«
»Du vertraust mir nicht.«
»Ich vertraue dir«, log Sam.
»Du denkst, ich wäre nicht dort gewesen.«
»Warst du dort?«
»Ja.«
»Und wie war es?«
»Lächerlich. Immer dieselbe alte Scheiße.«
»Scott, bitte, du weißt, ich habe dich gebeten, solche Ausdrücke nicht zu gebrauchen, wenn du mit mir sprichst.« Sam merkte, daß er gegen seinen Willen in einen Streit gezogen wurde.
»Tut mir leid. Dieselben alten Fäkalien«, sagte Scott in einem Tonfall, daß er ebensogut den Tag in der Schule wie Sam hätte meinen können.
»Hier ist es ziemlich schön«, sagte Sam.
Der Junge antwortete nicht.
»Bewaldete Hänge direkt bis zum Meer.«
»Und?«
Sam folgte dem Rat des Familienberaters, den er und Scott gemeinsam und jeder für sich besucht hatten, biß die Zähne zusammen, zählte wieder bis drei und versuchte es auf andere Art. »Hast du schon gegessen?«
»Ja.«
»Hast du Hausaufgaben?«
»Keine.«
Sam zögerte, entschied dann aber, es dabei zu belassen. Der Berater, Dr. Adamski, wäre stolz auf soviel Toleranz und kühle Selbstbeherrschung gewesen.
Die Lichter der Shell-Tankstelle hinter der Telefonzelle bekamen vielfache Heiligenscheine, während die Stadt im zunehmend dichter werdenden Nebel versank.
Schließlich sagte Sam: »Was treibst du heute abend?« »Ich habe Musik gehört.«
Manchmal glaubte Sam, daß die Musik teilweise dazu beigetragen hatte, den Jungen zu verderben. Dieser stampfende, frenetische, unmelodische Heavy Metal Rock war eine Sammlung monotoner Akkorde und noch monotonerer atonaler Riffs, so seelenlos und abstumpfend, daß es die Musik einer Zivilisation denkender Maschinen, lange nachdem die Menschheit von der Erde verschwunden war, hätte sein können.
Nach einer gewissen Zeit hatte Scott das Interesse an den meisten Heavy Metal Bands verloren und war zu U2 übergewechselt, aber deren simples soziales Bewußtsein war keine Konkurrenz für Nihilismus. Er interessierte sich bald wieder für Heavy Metal, aber diesmal Black Heavy Metal, die Bands, die mit Satanismus kokettierten oder dessen dramatisches Zubehör verwendeten; er wurde zunehmend verschlossener, gesellschaftsfeindlich und ernst. Sam hatte mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt, die Plattensammlung des Jungen zu konfiszieren, sie zu zerschmettern und wegzuwerfen, aber das schien eine absurde Übertreibung zu sein. Schließlich war Sam selbst sechzehn gewesen, als die Beatles und die Rolling Stones auf der Bildfläche erschienen waren, und seine Eltern hatten gegen diese Musik gewettert und vorhergesagt, daß sie Sam und seine ganze Generation in den Untergang führen würde. Und er war trotz John, Paul, George und Ringo und den Stones etwas geworden.
Er war ein Kind einer Zeit nie dagewesener Toleranz, und er wollte nicht so engstirnig werden, wie es seine Eltern gewesen waren.
»Ich gehe jetzt besser wieder«, sagte Sam.
Der Junge schwieg.
»Wenn sich unvorhergesehene Probleme ergeben, ruf deine Tante Edna an.«
»Sie kann nichts für mich tun, was ich nicht selbst könnte.«
»Sie hat dich gern, Scott.«
»Ja, klar.« »Sie ist die Schwester deiner Mutter; sie würde dich gerne wie ihren eigenen Sohn lieben. Du mußt ihr nur die Möglichkeit dazu geben.« Nach weiterem Schweigen holte Sam tief Luft und sagte: »Ich hab' dich auch gern, Scott.«
»Ja? Und was soll ich jetzt tun - vor Rührung zerfließen?« »Nein.«
»Tue ich auch nicht.«
»Ich habe nur gesagt, wie es ist.«
Der Junge zitierte offenbar einen seiner Lieblingssongs, als er sagte.
»Nichts währt ewig,
Auch Liebe ist eine Lüge,
Ein Werkzeug der Manipulation,
Im Himmel wohnt kein Gott.«
Klick.
Sam stand einen Augenblick da und hörte das Freizeichen an. »Perfekt.« Er legte den Hörer auf die Gabel.
Seine Frustration wurde nur noch von seiner Wut übertroffen. Er wollte etwas oder jemanden blutig schlagen und so tun, als würde er dasjenige oder denjenigen verprügeln, der ihm seinen Sohn genommen hatte.
Und er hatte ein leeres, schmerzliches Gefühl in der Magengegend, denn er hatte Scott wirklich gern. Die Entfremdung des Jungen war erschütternd.
Er wußte, er konnte jetzt noch nicht ins Motel zurückkehren. Er war noch nicht müde, und die Aussicht, ein paar Stunden vor der Verdummungskiste zu verbringen und dämliche Komödien oder Spielfilme anzusehen, war unerträglich.
Als er die Tür der Telefonzelle aufmachte, wirbelten Nebelschwaden herein und schienen ihn in die Nacht hinauszuziehen. Er schlenderte eine Stunde durch die Straßen von Moonlight Cove, tief in die angrenzenden Bezirke hinein, wo keine Straßenlaternen leuchteten und Bäume und Häuser im Nebel zu schweben schienen, als wären sie nicht fest mit dem Boden verankert, sondern nur lose angebunden und kurz davor, davonzuschweben.
Vier Blocks nördlich der Ocean Avenue, am Iceberry Way, schritt Sam heftig aus und reagierte seine Wut durch die Anstrengung und die Kälte ab, als er hastige Schritte hörte. Jemand lief. Drei Personen, vielleicht vier. Es war ein unmißverständliches Geräusch, aber seltsam verstohlen, nicht das deutliche Tapp-tapp-tapp von näher kommenden Joggern.
Er drehte sich um und sah die in Düsternis gehüllte Straße entlang.
Die Schritte verstummten.
Da der Mond von Wolken verdeckt war, wurde die Szenerie lediglich vom Licht erhellt, das aus den Fenstern von Häusern im bayerischen, englischen, spanischen und im Monterney-Stil fiel, welche sich auf beiden Seiten der Straße zwischen Pinien und Wacholderbüschen an die Hänge schmiegten. Das Viertel war alt und hatte seinen Reiz, aber da moderne Häuser mit großen Panoramafenstern fehlten, war alles noch dunkler. Zwei Anwesen des Viertels hatten eine indirekte, verkleidete Malibu-Beleuchtung, einige Kutschenlaternen am Ende von Wegen, aber der Nebel dämpfte deren Licht. Soweit Sam sehen konnte, war er allein auf dem Iceberry Way.
Er ging weiter, war aber noch keinen halben Block weit gekommen, als er die hastigen Schritte wieder hörte. Er wirbelte herum, sah aber wieder niemanden. Dieses Mal wurden die Schritte leiser, als wären die Läufer vom asphaltierten Weg auf weichen Erdboden getreten und dann zwischen zwei Häusern hindurch.
Vielleicht liefen sie auf einer anderen Straße. Nebel und Kälte konnten einem Streiche spielen.
Aber er war argwöhnisch und neugierig, daher trat er leise vom riesigen, aufgesprungenen Gehweg herunter, in einen Vorgarten und in die Schwärze einer ausladenen Zypresse. Er behielt die Gegend im Auge, und nach einer halben Minute sah er verstohlene Bewegungen an der Westseite der Straße. Vier schattenhafte Gestalten tauchten an einer Hausecke auf und eilten geduckt weiter. Als sie über einen Rasen schlichen, der stellenweise von Sturmlampen auf Eisenpfählen beleuchtet wurde, schnellten ihre verzerrten Schatten unbändig über die weiße Stuckfassade des Hauses.
Bevor er ihre Größe oder etwas anderes feststellen konnte, gingen sie wieder hinter dichtem Gebüsch in Deckung. Halbstarke, dachte Sam, die nichts Gutes im Schilde führen.
Er wußte nicht, weshalb er so sicher war, daß es sich um Halbstarke handelte; vielleicht, weil ihre Schnelligkeit und ihr Verhalten nicht zu Erwachsenen paßten. Entweder wollten sie einem verhaßten Nachbarn einen Streich spielen -oder sie waren hinter Sam her. Sein Instinkt sagte ihm, daß er verfolgt würde.
Konnten jugendliche Kriminelle in einer so kleinen und verschworenen Stadt wie Moonlight Cove ein Problem sein?
Es gab in jeder ein paar unartige Kinder. Aber in einer beinahe ländlichen Atmosphäre wie hier gehörten zur Jugendkriminalität selten Banden verbrechen wie Überfall, bewaffneter Raub, Diebstahl oder Totschlag. Auf dem Land hatten Halbstarke Ärger wegen schneller Autos, Alkohol, Mädchen und ein paar harmloser Diebstähle, aber sie streiften nicht als Banden durch die Straßen, wie ihre Altersgenossen in den Großstädten.
Dennoch begegnete Sam dem Quartett, das drei Häuser westlich von ihm auf der anderen Straßenseite in den Schatten hinter Farnen und Azaleen kauerte, mit Mißtrauen. Schließlich war etwas faul in Moonlight Cove, und die Probleme konnten durchaus etwas mit Jugendkriminalität zu tun haben. Die Polizei verheimlichte die Wahrheit über mehrere Todesfälle im Verlauf der letzten Monate, vielleicht schützten sie jemanden; so unwahrscheinlich es sich anhören mochte, vielleicht deckten sie ein paar Kinder reicher Familien, die die Privilegien ihrer Schicht zu weit getrieben und das zulässige zivilisierte Verhalten übertreten hatten.
Sam hatte keine Angst vor ihnen. Er wußte, wie er sich verhalten mußte, und er hatte seinen 38er dabei. Es hätte ihm sogar gefallen, den Bälgern eine Lektion zu erteilen. Aber ein Streit mit einer Jugendbande würde eine anschließende Begegnung mit der Polizei nach sich ziehen, und er zog es vor, nicht die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu lenken, um seine Ermittlungen nicht zu gefährden.
Es kam ihm seltsam vor, daß sie ihn in einer Wohngegend wie dieser hier angreifen wollten. Ein Schrei von ihm würde Leute auf die Veranden locken, die nachsehen würden, was los war. Aber da er nicht einmal soviel Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, würde er selbstverständlich nicht rufen.
Das alte Sprichwort, wonach Vorsicht der bessere Teil von Tapferkeit war, galt nirgendwo mehr als hier. Er entfernte sich von der Zypresse, unter der er sich versteckt hatte, ging weg von der Straße und auf das unbeleuchtete Haus hinter sich zu. Er war überzeugt, daß die Halbstarken nicht wußten, wohin er gegangen war, daher wollte er einfach aus der Gegend verschwinden und sie abschütteln.
Er kam zum Haus, eilte daran entlang und gelangte in einen Garten, in dem eine Schaukel von Nebel und Schatten so verzerrt wurde, daß sie wie eine gigantische Spinne aussah, die durch das Halbdunkel auf ihn zugekrochen kam. Am Ende des Gartens kletterte er über einen Scherenzaun, hinter dem sich ein schmaler Weg befand, der zu den Garagen des Blocks führte. Er wollte nach Süden gehen, zurück zur Ocean Avenue und ins Stadtzentrum, aber der Hauch einer Vorahnung ließ ihn eine andere Richtung einschlagen. Er überquerte den schmalen Weg, ging an einer Reihe metallener Mülleimer vorbei, kletterte über den gegenüberliegenden Zaun und gelangte so in den Garten eines anderen Hauses, dessen Fassade sich zur Parallelstraße des Iceberry Way hin befand.
Er hatte den Weg kaum verlassen, da hörte er leise, hastige Schritte auf dem Asphalt. Die Halbstarken - wenn es welche waren - hörten sich so schnell, aber nicht mehr so verstohlen wie vorher an.
Sie kamen vom Ende des Blocks in Sams Richtung. Er hatte das seltsame Gefühl, daß sie mit einem sechsten Sinn spüren würden, in welchen Garten er gegangen war und daß sie ihn aufspüren würden, bevor er die nächste Straße erreichen könnte. Sein Instinkt riet ihm, nicht mehr wegzulaufen, sondern sich zu Boden zu werfen. Er war in Bestform, ja, aber er war zweiundvierzig, während sie zweifellos siebzehn Jahre oder noch jünger waren, und jeder Mann in seinem Alter, der glaubte, er könnte Jungs davonlaufen, war ein Narr.
Anstatt durch den Garten zu laufen, eilte er rasch zum Seitentor der angrenzenden Garage und hoffte, daß sie nicht abgeschlossen sein würde. Sie war es nicht. Er trat in völlige Dunkelheit und zog die Tür in dem Augenblick zu, als er hörte, wie die vier Verfolger vor dem großen Tor am anderen Ende des Bauwerks stehenblieben. Sie blieben nicht dort stehen, weil sie wußten, wo er war, sondern wahrscheinlich, weil sie überlegten, in welche Richtung er gegangen sein könnte.
Sam tastete in völliger Schwärze nach einem Schloß oder Riegel, mit dem er die Tür, durch die er hereingekommen war, versperren könnte. Er fand nichts.
Er hörte die vier Halbstarken miteinander tuscheln, konnte aber nicht verstehen, was sie sagten. Ihre Stimmen hörten sich seltsam an; flüsternd und drängend.
Sam blieb an der Nebentür stehen. Er umklammerte den Knauf mit beiden Händen, damit er sich nicht drehte, falls die Burschen um die Garage herumschlichen und es versuchen sollten.
Sie verstummten.
Er lauschte angestrengt. - Nichts.
Die kalte Luft roch nach Q und Staub. Er konnte nichts sehen, vermutete aber, daß ein oder zwei Autos hier standen.
Er hatte zwar keine Angst, kam sich aber allmählich albern vor. Wie hatte er sich in diese Lage bringen können? Er war ein erwachsener Mann, ein in verschiedenen Techniken der Selbstverteidigung ausgebildeter FBI-Agent, der einen Revolver bei sich trug, mit dem er ausgezeichnet umgehen konnte, und dennoch versteckte er sich vor vier Bengeln in einer Garage. Er war hierher gekommen, weil er instinktiv gehandelt hatte, und normalerweise vertraute er seinen Instinkten blind, aber das war...
Er hörte verstohlene Bewegungen an der Außenwand der Garage. Er erstarrte. Schlurfende Schritte näherten sich der Tür, hinter der er stand. Soweit Sam es abschätzen konnte, hörte er nur einen der vier.
Sam hielt den Knauf mit beiden Händen umklammert, lehnte sich zurück und zog die Tür fest gegen den Rahmen.
Die Schritte verstummten vor ihm.
Er hielt den Atem an.
Eine Sekunde tickte vorbei, zwei, drei.
Versuch es mit dem verdammt en Knauf und geh weiter, dachte Sam gereizt.
Er kam sich mit jeder Sekunde alberner vor und war kurz davor, den Burschen direkt anzusprechen. Er könnte wie ein Jack-in-the-Box aus der Tür herausschnellen und würde dem Balg wahrscheinlich einen verdammten Shrecken einjagen, so daß er schreiend davonlaufen würde.
Dann hörte er eine Stimme auf der anderen Seite der Tür, Zentimeter von ihm entfernt, und er wußte zwar nicht, was in Gottes Namen er da hörte, doch wurde ihm klar, daß er gut daran getan hatte, seinen Instinkten zu vertrauen und sich zu verstecken. Die Stimme war dünn, krächzend und furchteinflößend, die drängende, abgehackte Sprechweise war die eines rasenden Psychopathen oder eines Junkie, dessen Schuß längst überfällig war:
»Brennen, Verlangen, Verlangen...«
Er schien mit sich selbst zu sprechen und bemerkte vielleicht nicht einmal, daß er sprach, wie ein fiebriger Mann im Delirium plappern mochte.
Ein harter Gegenstand kratzte außen an der Holztür entlang. Sam versuchte sich vorzustellen, was das sein könnte. »Das Feuer löschen, Feuer, essen, essen«, sagte der Junge mit dünner, hektischer Stimme, die teils Flüstern und teils Winseln und teils ein leises, bedrohliches Knurren war. Sie hatte mit keiner Teenagerstimme Ähnlichkeit, die Sam je gehört hatte - auch nicht mit der eines Erwachsenen, was das anbelangte.
Seine Stirn war trotz der Kälte mit Schweiß bedeckt.
Der unbekannte Gegenstand kratzte wieder an der Tür.
War der Junge bewaffnet? Wurde der Griff eines Revolvers über das Holz gezogen? Eine Messerklinge? Nur ein Stock?
»...brennt, brennt...«
Eine Kralle?
Das war eine verrückte Vorstellung. Trotzdem wurde er sie nicht los. Er sah vor dem geistigen Auge das deutliche Bild einer scharfen, hornähnlichen Kralle - eine Klaue -, die Splitter von der Tür ablöste, während sie Furchen ins Holz kratzte.
Sam hielt den Knauf fest umklammert. Schweiß rann ihm an den Schläfen herunter.
Schließlich versuchte der Junge, die Tür aufzumachen. Der Knauf drehte sich in Sams Hand, aber er hielt ihn zurück.
»...o Gott, es brennt, tut weh, o Gott...«
Allmählich bekam Sam es mit der Angst zu tun. Der Junge hörte sich so verdammt unheimlich an. Wie ein PCD-Junkie, der irgendwo außerhalb des Mars-Orbits schwebte, nur viel schlimmer, seltsamer und gefährlicher als jeder Angel-DustFreak. Sam bekam es mit der Angst, weil er verdammt noch mal nicht wußte, womit er es zu tun hatte.
Der Junge versuchte, die Tür aufzuziehen.
Sam zog sie fest an den Rahmen heran.
Rasche, frenetische Worte: »...das Feuer löschen, das Feuer löschen... «
Ich frage mich, ob er mich hier drinnen riechen kann, überlegte Sam, und diese bizarre Vorstellung schien unter den gegebenen Umständen nicht verrückter als das Bild der Jungen mit Krallen.
Sams Herz hämmerte. Stechender Schweiß lief ihm in die Augenwinkel. Die Muskeln in Hals, Schultern und Armen schmerzten; er strengte sich viel mehr als nötig an, um die Tür zuzuhalten.
Nach einem Augenblick schien der Junge zu dem Ergebnis zu kommen, daß sein Opfer doch nicht in der Garage war, und gab auf. Er lief an der Seite der Garage entlang zum Weg zurück. Während er davonhastete, gab er ein kaum hörbares Winseln von sich; es war ein Laut von Schmerz und Verlangen... und tierischer Erregung. Er bemühte sich, das Winseln zu unterdrücken, stieß es aber dennoch aus.
Sam hörte katzenhafte Schritte aus allen Richtungen näher kommen. Die drei anderen potentiellen Täter gesellten sich wieder zu dem Jungen auf den Weg; ihre Stimmen waren von derselben Hektik erfüllt, die auch seine kennzeichnete, aber sie waren jetzt so weit entfernt, daß Sam nicht mehr verstehen konnte, was sie sagten. Sie verstummten unvermittelt, und einen Augenblick später liefen sie gemeinsam den Weg entlang nach Norden, als wären sie Angehörige eines Wolfsrudels, die instinktiv auf die Witterung von Wild oder Gefahr reagierten. Ihre verstohlenen Schritte wurden leiser, wenig später war die Nacht wieder still wie ein Grab. Sam stand noch mehrere Minuten, nachdem die Meute verschwunden war, in der dunklen Garage und hielt den Türknauf fest.
15
Der tote Junge lag in einem Abwasserkanal an der Landstraße südöstlich von Moonlight Cove. Sein frostweißes Gesicht war blutbefleckt. Seine aufgerissenen Augen sahen im Licht von zwei auf dreibeinigen Stativen stehenden Scheinwerfern der Polizei starr zu einem Ufer, das unendlich ferner war als das des nahen Pazifik.
Loman Watkins, der neben einem der Scheinwerfer stand, sah auf den kleinen Leichnam hinab und zwang sich, den Tod von Eddie Valdoski zu begreifen, denn Eddie, der erst acht Jahre alt gewesen war, war sein Patenkind. Loman war mit George, Eddies Vater, in die High School gegangen, und er hatte Eddies Mutter, Nella, auf eine rein platonische Weise fast zwanzig Jahre lang geliebt. Eddie war ein prächtiger Junge gewesen, klug und wißbegierig und wohlerzogen. War gewesen. Und jetzt... Gräßlich verstümmelt, wild gebissen, zerkratzt und zerfetzt, und mit gebrochenem Genick, war der Junge wenig mehr als ein Haufen verwesender Abfall, sein vielversprechendes Potential war vernichtet, die Flamme ausgepustet, man hatte ihm das Leben genommen -und ihn dem Leben.
Loman hatte in einundzwanzig Jahren Polizeidienst viel Schreckliches gesehen, aber dies war wahrscheinlich das Schlimmste. Und er hätte aufgrund seiner persönlichen Beziehung zu dem Opfer völlig erschüttert und am Boden zerstört sein müssen. Doch der Anblick des kleinen, verstümmelten Leichnams berührte ihn kaum. Trauer, Bedauern, Wut und eine Vielzahl andere Empfindungen erfüllten ihn, aber nur leicht und kurz, so wie ein unsichtbarer Fisch im dunklen Meer an einem Schwimmer vorbeiziehen mochte. Kummer, der ihn wie Nägel hätte durchbohren sollen, verspürte er keinen.
Barry Sholnick, ein neuer Beamter der kürzlich erst erweiterten Polizei von Moonlight Cove, kauerte über dem Graben, einen Fuß auf jeder Seite, und machte ein Foto von Eddie Valdoski. Einen Moment spiegelte sich die silberne Reflektion des Blitzlichts in den starren Augen des Jungen. Lomans zunehmendes Unvermögen, etwas zu empfinden, war seltsamerweise das einzige, das starke Empfindungen in ihm hervorrief. Es machte ihm eine Heidenangst. Seine Unfähigkeit, Gefühle zu erzeugen, machte ihm in letzter Zeit zunehmend zu schaffen; es war eine unerwünschte, aber offenbar unumkehrbare Verhärtung des Herzens, die seinen Herzvorhof bald in Marmor und die Herzkammern in gewöhnlichen Stein verwandeln würde.
Er gehörte jetzt zu den Neuen Menschen und unterschied sich in vieler Hinsicht von dem Mann, der er einst gewesen war. Er sah immer noch gleich aus - einsfünfundsiebzig, untersetzt, ein für einen Mann in seinem Beruf ungewöhnlich breites und unschuldiges Gesicht -, aber er war nicht nur das, was er zu sein schien. Vielleicht war bessere Beherrschung der Gefühle, eine stabilere und analytischere Denkweise der unvorhergesehene Vorteil der Veränderung. Aber war es wirklich ein Vorteil? Keine Gefühle? Keine Trauer?
Die Nacht war zwar kalt, dennoch brach ihm auf Gesicht, den Handrücken und unter den Achseln saurer Schweiß aus.
Dr. Jan Fitzgerald, der Gerichtsmediziner, war anderswo beschäftigt, aber Victor Callan, der Inhaber von Callans Bestattungsunternehmen und stellvertretender Gerichtsmediziner, half einem anderen Beamten, Jules Timmermann, den Boden zwischen dem Graben und dem nahe gelegenen Wald abzusuchen. Sie suchten nach Spuren, die der Killer hinterlassen haben konnte.
Dabei spielten sie den Anwohnern der Gegend, die sich auf der anderen Straßenseite versammelt hatten, nur etwas vor. Selbst wenn Spuren gefunden würden, würde niemand für dieses Verbrechen verhaftet werden. Es würde nie zu einer Verhandlung kommen. Wenn sie Eddies Mörder fänden, würden sie ihn verstecken und sich auf ihre Weise um ihn kümmern, damit sie die Existenz der Neuen Menschen vor denen geheimhalten konnten, die die Verwandlung noch nicht hinter sich gebracht hatten. Denn der Killer war zweifellos einer von denen, die Thomas Shaddack >Regressive< nannte; einer der Neuen Menschen, die böse geworden waren. Sehr böse.
Loman wandte sich von dem toten Jungen ab. Er schritt die Landstraße entlang zum Haus der Valdoskis, das sich ein paar hundert Meter nördlich befand und von Nebel verhüllt war.
Er achtete nicht auf die Schaulustigen, obwohl ihm einer von ihnen zurief: »Chief? Was, zum Teufel, ist denn da los, Chief?«
Dies war eine ländliche Gegend, die gerade noch zur Gemarkung der Stadt gehörte. Die Häuser hier standen vereinzelt, ihre verstreuten Lichter vermochten die Nacht nicht zurückzudrängen. Er fühlte sich isoliert, bevor er den halben Weg zum Valdoski-Haus zurückgelegt hatte, obwohl er noch in Rufweite der Männer am Ort des Verbrechens war. Bäume, die von jahrhundertelangem Wind vom Meer in unruhigeren Nächten als dieser gepeinigt worden waren, beugten sich zur Straße, ihre verkrümmten Zweige hingen über den Schotterstreifen, auf dem er ging. Er bildete sich Bewegungen in den dunklen Ästen über ihm und in der Schwärze und dem Nebel zwischen den gekrümmten Baumstämmen ein.
Er legte die Hand auf den Griff des Revolvers im Seitenhalfter.
Loman Watkins war seit neun Jahren Polizeichef von Mo-onlight Cove, und in seinem Bezirk war im Verlauf des vergangenen Monats mehr Blut vergossen worden als in den vorhergehenden acht Jahren und elf Monaten. Er war davon überzeugt, daß es noch schlimmer kommen würde. Er hatte so eine Ahnung, als wären die Regressiven zahlreicher und ein größeres Problem als Shaddack klar war - oder er zugeben wollte.
Er fürchtete die Regressiven fast ebensosehr, wie er seine eigene neue, kalte und teilnahmslose Denkweise fürchtete. Angst war, anders als Glück und Trauer und Freude und Kummer, ein Überlebensmechamsmus, daher würde er zu ihr möglicherweise nicht so sehr den Zugang verlieren als zu anderen Empfindungen. Dieser Gedanke machte ihn so unbehaglich wie die eingebildeten Bewegungen in den Bäumen. Ist die Angst, fragte er sich, die einzige Empfindung in dieser schönen neuen Welt, die wir erschaffen?
16
Nach einem fettigen Cheeseburger, öligen Pommes frites und einer eiskalten Flasche Dos Equis in der verlassenen Cafeteria des Cove Lodge begab sich Tessa Lockland wieder in ihr Zimmer, setzte sich, von Kissen gestützt, aufs Bett und rief ihre Mutter in San Diego an. Marion nahm den Hörer nach dem ersten Läuten ab, und Tessa sagte: »Hi, Mom.«
»Wo bist du, Teejay?« Als Kind hatte sich Tessa nie entscheiden können, ob sie mit ihrem ersten oder zweiten Vornamen gerufen werden wollte, nämlich Jane, daher hatte ihre Mutter sie stets mit den Initialen gerufen, als wären sie der Name selbst.
»Cove Lodge«, sagte Tessa.
»Hübsch?«
»Das Beste, was ich finden konnte. Dies ist keine Stadt, die Wert auf erstklassige Touristeneinrichtungen legt. Wenn die wunderschöne Aussicht nicht wäre, würde das Cove Lodge zu den Hotels gehören, die nur überleben, weil sie im Fernsehen hausinterne Pornofilme zeigen und Zimmer stundenweise vermieten.«
»Ist es sauber?«
»Ausreichend.«
»Wenn es nicht sauber wäre, würde ich darauf bestehen, daß du sofort anderswo hinzögest.«
»Mom, du weißt doch, wenn ich unterwegs bin und einen Film drehe, bin ich auch nicht immer luxuriös untergebracht. Als ich den Dokumentarfilm über die Meskitoindia-ner in Mittelamerika gemacht habe, bin ich mit ihnen auf die Jagd gegangen und habe im Schlamm geschlafen.«
»Teejay, Liebes, du darfst nie jemandem sagen, daß du im Schlamm geschlafen hast. Schweine schlafen im Schlamm. Du mußt sagen, daß du gezeltet oder gecampt hast, aber niemals, daß du im Schlamm geschlafen hast. Auch unangenehme Erlebnisse können sich lohnen, wenn man seine Würde und seinen Stil dabei nicht vergißt.«
»Ja, Mom, ich weiß. Ich wollte damit nur sagen, das Cove Lodge ist nicht toll, aber besser, als im Schlamm zu schlafen.«
»Zu zelten.«
»Besser als zelten«, sagte Tessa.
Beide schwiegen einen Augenblick. Dann sagte Marion: »Verdammt, ich sollte bei dir sein.«
»Mom, du hast ein gebrochenes Bein.«
»Ich hätte, schon als ich hörte, daß sie die arme Janice gefunden haben, nach Moonlight Cove gehen sollen. Wenn ich dort gewesen wäre, hätten sie die Leiche nicht verbrannt. Bei Gott, das hätten sie nicht! Ich hätte es verhindert und eine andere Autopsie bei vertrauenswürdigen Behörden verlangt, dann wäre es jetzt nicht nötig, daß du dich darum kümmerst. Ich bin so böse auf mich selbst.«
Tessa ließ sich in die Kissen sinken und seufzte. »Mom, laß das sein. Du hast dir drei Tage, bevor Janices Leichnam gefunden wurde, das Bein gebrochen. Du kannst jetzt nicht reisen, und du konntest damals nicht reisen. Es ist nicht deine Schuld.«
»Früher hätte mich ein gebrochenes Bein nicht aufhalten können.«
»Du bist nicht mehr zwanzig, Mom.«
»Ja, ich weiß, ich bin alt«, sagte Marion kläglich. »Manchmal denke ich darüber nach, wie alt ich bin, und das macht mir Angst.«
»Du bist erst vierundsechzig, du siehst keinen Tag älter als fünfzig aus, und du hast dir das Bein beim Fallschirmspringen gebrochen, um Gottes willen, daher hast du von mir kein Mitleid zu erwarten.«
»Trost und Mitleid erwartet eine ältere Mutter von ihrer guten Tochter.«
»Wenn du mich dabei erwischen würdest, wie ich dich älter nenne oder dich mitleidig behandle, würdest du mich per Arschtritt bis nach China befördern.«
»Die Möglichkeit, ihrer Tochter dann und wann einmal in den Arsch zu treten, gehört zu den Freuden des Alters einer Mutter, Teejay. Verdammt, wo ist überhaupt dieser Baum hergekommen? Ich mache jetzt seit dreißig Jahren Fallschirmspringen, und ich bin noch nie in einem Baum gelandet; und ich schwöre, er war nicht da, als ich bei der Landung nach unten gesehen habe, um mir die Landestelle anzusehen.«
Ein großer Teil des unerschütterlichen Optimismusses und der heiteren Einstellung zum Leben kam in der Familie Lockland von Bernard, Tessas verstorbenen Vater, aber etwas - und jede Menge Unbeugsamkeit dazu - stammte auch aus Marions Genen.
Tessa sagte: »Nachdem ich angekommen war, ging ich heute abend zum Strand hinunter, wo sie sie gefunden haben.«
»Es muß schrecklich für dich sein, Teejay.«
»Ich werde damit fertig.«
Als Janice gestorben war, hatte Tessa ländliche Regionen von Afghanistan bereist, um die Auswirkungen des völkermörderischen Krieges auf das afghanische Volk und dessen Kultur zu studieren, weil sie das Buch für einen Dokumentarfilm zu diesem Thema schreiben wollte. Ihre Mutter hatte sie erst zwei Wochen, nachdem der Leichnam in Moonlight Cove ans Ufer gespült worden war, von Janices Tod in Kenntnis setzen können.
Sie hatte Afghanistan vor fünf Tagen, am achten Oktober, mit dem Gefühl, als hätte sie ihre Schwester irgendwie im Stich gelassen, per Flugzeug verlassen. Ihre Schuldgefühle wogen mindestens ebenso schwer wie die ihrer Mutter, aber es stimmte, was sie sagte: Sie wurde damit fertig.
»Du hattest recht, Mom. Die offizielle Version stinkt zum Himmel.«
»Was hast du herausgefunden?«
»Noch nichts. Aber ich stand genau an der Stelle im Sand, wo sie angeblich die Valium genommen hat, wo sie zum letzten Mal schwimmen ging, wo sie sie zwei Tage später gefunden haben, und ich wußte, ihre ganze Geschichte ist Müll. Das habe ich in meinem Innersten gespürt, Mom. Und ich werde so oder so herausfinden, was tatsächlich geschehen is t.«
»Du mußt vorsichtig sein, Liebes.«
»Das werde ich.«
»Wenn Janice... ermordet... worden ist...«
»Ich passe auf.«
»Und wenn man der Polizei dort nicht trauen kann, wie wir vermuten... «
»Mom, ich bin einen Meter siebzig groß, blond, blauäugig, keck und sehe schätzungsweise so gefährlich aus wie ein Backenhörnchen von Walt Disney. Ich mußte mein Leben lang gegen mein Aussehen arbeiten, um ernst genommen zu werden. Frauen wollen mich alle bemuttern oder meine große Schwester sein, und Männer wollen entweder mein Vater sein oder mich in die Horizontale bringen, aber verdammt wenige durchschauen mein Äußeres und erkennen, daß ich ein Gehirn habe, das, wie ich fest überzeugt bin, größer als das einer Maus ist; normalerweise müssen sie mich erst eine Weile kennen, bis ihnen das klar wird. Daher werde ich mein Aussehen einfach verkaufen, anstatt dagegen zu arbeiten. Hier wird mich niemand als Bedrohung ansehen.« »Meldest du dich wieder?«
»Selbstverständlich.«
»Wenn du denkst, daß du in Gefahr bist, dann geh einfach weg, und zwar schnell.«
»Ich passe auf.«
»Versprich mir, daß du nicht bleibst, wenn es gefährlich wird«, beharrte Marion.
»Ich verspreche es. Aber du mußt mir versprechen, daß du in nächster Zeit nicht mehr aus Flugzeugen springen wirst.« »Dafür bin ich zu alt, Liebes. Ich bin jetzt älter. Uralt. Ich werde Hobbys finden müssen, die meinem Alter angemes -sen sind. Ich wollte zum Beispiel immer Wasserskifahren lernen, und in dem Dokumentarfilm über Sandbahnrennen, den du gedreht hast, schien man mit diesen kleinen Motorrädern einen Heidenspaß haben zu können.«
»Ich liebe dich so sehr, Mom.«
»Ich dich auch, Teejay. Mehr als das Leben selbst.«
»Ich werde dafür sorgen, daß sie für Janice bezahlen müssen.«
»Wenn es jemanden gibt, der bezahlen muß. Vergiß nicht, Teejay, daß unsere Janice nicht mehr ist, aber du bist noch da, und deine oberste Verpflichtung sollte niemals die gegenüber den Toten sein.«
17
George Valdoski saß am Küchentisch mit der Kunststoffplatte. Seine von harter Arbeit gezeichneten Hände waren fest um ein Glas Whiskey geklammert, aber das konnte nicht verhindern, daß sie zitterten; die Oberfläche des bernsteinfarbenen Bourbon bebte unablässig.
Als Loman Watkins eintrat und die Tür hinter sich zumachte, sah George nicht einmal auf Eddie war sein einziges Kind gewesen.
George war groß, mit breiter Brust und breiten Schultern. Aufgrund tiefliegender, dicht beieinanderstehender Augen, einem Mund mit schmalen Lippen und scharfgeschnittenen Gesichtszügen, hatte er trotz seiner sonstigen Schönheit ein verkniffenes, hartes Aussehen. Sein bedrohliches Äußeres trog jedoch, denn er war ein feinsinniger, sanfter und freundlicher Mensch.
»Wie geht es dir?« fragte Loman.
Diesesmal nickte George nicht einmal.
Als Loman die grell erleuchtete Küche durchquerte, quietschten seine Gummisohlen auf dem Linoleum. Unter der Tür zu dem kleinen Eßzimmer blieb er stehen und sah seinen Freund an. »Wir werden den Dreckskerl finden, George. Das schwöre ich.«
Jetzt sah George endlich von seinem Whiskey auf. Tränen schimmerten in seinen Augen, aber er ließ sie nicht fließen. Er war ein stolzer, hartherziger Pole, der entschlossen war, stark zu sein. Er sagte: »Eddie spielte bei Dämmerung hinten im Garten, hier hinten im Garten, wo man ihn sehen konnte, wenn man zum Fenster hinaussah, in seinem eigenen Garten. Als es dunkel war, rief Nella ihn zum Abendessen, und da er keine Antwort gab, vermuteten wir, daß er zu einem Nachbarn gegangen war, um mit anderen Kindern zu spielen, ohne zu fragen, wie er es hätte tun sollen.« Er hatte das alles schon mehr als einmal erzählt, aber er schien es nochmals durchgehen zu müssen, als würde die Wiederholung die häßliche Wirklichkeit abnutzen und dadurch verändern, so wie man auf einer Kassette nur noch weißes Rauschen hören konnte, und keine Musik mehr, wenn man sie zehntausendmal abgespielt hatte. »Wir haben nach ihm gesucht, konnten ihn nicht finden, machten uns aber anfangs noch keine Sorgen; wir waren sogar etwas wütend auf ihn; aber dann machten wir uns Sorgen, und dann bekamen wir Angst, ich wollte dich gerade anrufen und um Hilfe bitten, als wir ihn dort im Graben gefunden haben, gütiger Herrgott, völlig zerfetzt im Graben.« Er atmete tief durch, dann noch einmal und die zurückgehaltenen Tränen glitzerten hell in seinen Augen. »Was für ein Monster kann einem Kind so etwas antun, es verschleppen und das mit ihm machen und dann noch grausam genug sein, ihn wieder zurückzubringen und hinzuwerfen, wo wir ihn finden mußten? Muß so gewesen sein, denn wenn nicht hätten wir die... die Schreie hören müssen, wenn der Mistkerl ihm das hier in der Nähe angetan hätte. Muß ihn weggeschleppt, ihm das angetan und ihn dann hierher zurückgebracht haben, damit wir ihn finden. Was für ein Mensch, Loman? Um Gottes willen, was für ein Mensch?«
»Ein Psychopath«, sagte Loman, wie schon vorher, und das jedenfalls stimmte. Die Regressiven waren Psychopathen. Shaddack hatte einen Ausdruck für ihren Zustand geprägt: metamorphosebedingte Psychose. »Wahrscheinlich auf Drogen«, fügte er hinzu, und jetzt log er. Drogen - jedenfalls die üblichen illegalen Mittel - hatten nichts mit dem Tod von Eddie zu tun. Loman war immer noch überrascht, wie leicht es ihm fiel, einen guten Freund zu belügen, denn das war etwas, das er früher nicht gekonnt hätte. Das Unmo -ralische des Lügens war ein Konzept, das mehr zu den Alten Menschen und ihrer turbulenten emotionalen Welt gehörte. Altmodische Konzepte, herkömmliche Moralbegriffe, würden letztlich für die Neuen Menschen bedeutungslos werden, denn wenn sie sich alle so veränderten, wie Shaddack glaubte, würden Leistungsfähigkeit und Zielstrebigkeit und höchster Wirkungsgrad die einzigen absoluten moralischen Werte sein. »Heutzutage krankt das ganze Land an Drogenfreaks. Ausgebrannte Gehirne. Keine Moral, keine Ziele, außer billigem Nervenkitzel. Sie sind unser Erbe das kürzli-chen Zeitalters des Jeder-für-sich. Der Kerl war ein von Drogen kaputtgemachter Freak, George, und ich schwöre dir, daß wir ihn erwischen.«
George sah wieder in seinen Whiskey. Er trank davon.
Dann sagte er mehr zu sich selbst als zu Loman: »Eddie spielte bei Dämmerung hinten im Garten, hier hinten im Garten, wo man ihn sehen konnte, wenn man zum Fenster hinaussah... « Seine Stimme erstarb.
Loman ging widerstrebend die Treppe hinauf zum Schlafzimmer, um nach Nella zu sehen.
Sie lag von Kissen gestützt im Bett, und Dr. Jim Worthy saß auf einem Sessel, den er zu ihr geschoben hatte. Er war der jüngste der drei Ärzte in Moonlight Cove, achtunddreißig, ein ernster Mann mit ordentlich geschnittenem Schnurrbart, einer Nickelbrille und einer Vorliebe für Krawatten.
Die Tasche des Arztes stand zu seinen Füßen auf dem Boden. Ein Stethoskop hing ihm um den Hals. Er zog eine ungewöhnlich große Spritze aus einer Hasche voll goldener Flüssigkeit auf.
Worthy drehte sich zu Loman um, ihre Blicke begegneten sich, und sie mußten nichts sagen.
Nella Vadolski hatte Lomans leise Schritte entweder gehört oder seine Anwesenheit auf subtilere Weise gespürt, denn sie schlug die vom Weinen roten und geschwollenen Augen auf. Sie war immer noch eine reizende Frau mit flachsblondem Haar und Gesichtszügen, die zu fein schienen, um das Werk der Natur zu sein, und mehr an die erlesene Kunst eines meisterlichen Bildhauers erinnerten. Ihr Mund wurde weicher und zitterte, als sie seinen Namen aussprach: »Oh, Loman.«
Er ging um das Bett herum, zur Seite, die Dr. Worthy gegenüberlag, und ergriff die Hand, die Nella ihm entgegenstreckte. Sie war klamm, kalt und zitterte.
»Ich gebe ihr ein Beruhigungsmittel«, sagte Worthy. »Sie muß sich entspannen - oder schlafen, wenn sie kann.«
»Ich will nicht schlafen«, sagte Nella. »Ich kann nicht schlafen. Nicht nach... nicht nach alledem... nie mehr nach alledem.«
»Ruhig«, sagte Loman und streichelte sanft ihre Hand. Er setzte sich auf die Bettkante. »Dr. Worthy wird sich um dich kümmern. Es ist zu deinem Besten, Nella.«
Loman hatte diese Frau, die Frau seines besten Freundes, sein halbes Leben lang geliebt, ohne jemals seinen Gefühlen entsprechend zu handeln. Er hatte sich immer gesagt, daß sie eine rein platonische Faszination ausübte. Doch als er sie jetzt ansah, wußte er, daß auch Leidenschaft dazugehört hatte.
Das Beängstigende war... nun, er wußte, was er all die Jahre für sie empfunden hatte, aber obwohl er sich daran erinnerte, konnte er es nicht mehr empfinden. Seine Liebe, die Leidenschaft, sein angenehmes, aber melancholisches Begehren, alles war ebenso verschwunden wie seine anderen emotionalen Empfindungen; er wußte noch um seine früheren Gefühle ihr gegenüber, aber sie waren wie ein anderer Aspekt von ihm, der sich abgespalten hatte und davonschwebte wie eine Seele den verstorbenen Körper verlassen mochte.
Worthy legte die gefüllte Spritze auf den Nachttisch. Er knöpfte den Ärmel von Nellas Bluse auf und schob ihn hoch, dann schnallte er ihr ein Gummiband um den Oberarm, damit die Vene deutlicher hervortrat.
Während der Arzt Nellas Arm mit einem alkoholgetränkten Wattebausch abrieb, sagte sie: »Loman, was sollen wir nun tun?«
»Alles wird gut«, sagte er und streichelte ihre Hand.
»Nein. Wie kannst du das sagen? Eddie ist tot. Er war so lieb, so klein und lieb, und jetzt ist er tot. Nichts wird je wieder gut werden.«
»Dir wird es schon sehr bald besser gehen«, versicherte Loman ihr. »Der Kummer wird vorübergehen, bevor du es richtig bemerkst. Er wird nicht mehr so wichtig sein wie jetzt. Das verspreche ich dir.«
Sie blinzelte und sah ihn an, als würde er Unsinn reden, aber sie wußte ja auch nicht, was man mit ihr machen würde.
Worthy stach ihr die Nadel in den Arm.
Sie zuckte zusammen.
Die goldene Flüssigkeit strömte aus der Spritze in ihren Blutkreislauf.
Sie machte die Augen zu und fing wieder leise an zu weinen, aber nicht, weil die Nadel weh tat, sondern aus Kummer um ihren Sohn.
Vielleicht ist es besser, nicht so sehr zu empfinden, nicht so sehr zu lieben, dachte Loman.
Die Spritze war leer.
Worthy zog die Nadel aus der Vene.
Loman sah dem Arzt wieder in die Augen.
Nella bebte.
Die Verwandlung würde noch zwei Injektionen erfordern, und jemand mußte die nächsten vier oder fünf Stunden bei Nella bleiben, und zwar nicht nur, um ihr das Mittel zu verabreichen, sondern um darauf zu achten, daß sie sich während der Verwandlung nicht selbst Schaden zufügte. Es war kein schmerzloser Vorgang, zu einem Neuen Menschen zu werden.
Nella erbebte erneut.
Worthy neigte den Kopf, das Licht der Lampe fiel in einem anderen Winkel auf die Brille und verwandelte die Gläser in Spiegel, die einen Moment lang seine Augen verbargen und ihm ein ungewöhnlich bedrohliches Aussehen verliehen.
Ein heftigeres, anhaltenderes Beben schüttelte Nella die-sesmal.
George Valdoski sagte von der Tür: »Was geht hier vor?« Loman hatte sich so auf Nella konzentriert, daß er George nicht kommen gehört hatte. Er stand sofort auf und ließ Nel-las Hand los. »Der Arzt dachte, sie bracht...«
»Was soll diese Pferdespritze?« sagte George und deutete auf die Spritze, deren Nadel nicht größer als die einer normalen Spritze war.
»Beruhigungsmittel«, sagte Dr. Worthy. »Sie muß...« »Beruhigungsmittel?« unterbrach ihn George. »Sieht aus, als hätten Sie ihr genügend gegeben, einen Bullen damit einzuschläfern.«
Loman sagte: »Also George, der Doktor weiß, was er...«
Nella, die auf dem Bett lag, geriet ganz unter den Einfluß der Injektion. Ihr ganzer Körper wurde plötzlich starr, sie ballte die Hände zu Fäusten und biß die Zähne zusammen, ihre Kiefermuskeln verkrampften sich. Die Arterien an Hals und Schläfen schwollen an und pulsierten deutlich, als sich der Herzschlag drastisch beschleunigte. Ihre Augen wurden glasig, sie verfiel in die eigentümliche Dämmerung der Veränderung, weder bei Bewußtsein noch bewußtlos.
»Was hat sie denn?« wollte George wissen.
Nella gab zwischen zusammengebissenen Zähnen und verzerrten Lippen hervor ein seltsames, leises Stöhnen von sich. Sie krümmte den Rücken, bis nur noch Schultern und Fersen Kontakt mit dem Bett hatten. Sie schien voll gewaltsamer Energie zu sein, wie ein Boiler, der unter zu hohem Dampfdruck steht, und einen Augenblick schien es, als würde sie explodieren. Dann sank sie wieder auf die Matratze und zitterte heftiger denn je, während ihr kalter Schweiß ausbrach.
George sah von Worthy zu Loman. Ihm war eindeutig klargeworden, daß etwas nicht stimmte, aber er begriff nicht einmal ansatzweise, was das war.
»Halt.« Loman zog den Revolver, als George in Richtung Flur zurückwich. »Komm hierher, George, und leg dich neben Nella aufs Bett.«
George Valdoski erstarrte unter der Tür und betrachtete den Revolver ungläubig und mißbilligend.
»Wenn du zu fliehen versuchst«, sagte Loman, »muß ich dich erschießen, und das würde ich wirklich nicht gerne tun.«
»Das würdest du nicht fertigbringen«, sagte George, der darauf baute, daß ihre jahrzehntelange Freundschaft ihn schützte.
»Doch, das würde ich«, sagte Loman kalt. »Ich würde dich umbringen, wenn es sein muß, und wir würden uns als Tarnung eine Geschichte ausdenken, die dir ganz und gar nicht gefallen würde. Wir würden sagen, wir hätten dich einer Falschaussage überführt, wir hätten Beweise gefunden, daß du Eddie getötet hast, daß du deinen eigenen Jungen umgebracht hast, eine krankhafte Sex-Sache, und als wir dich mit den Beweisen konfrontierten, hast du meinen Revolver aus dem Halfter gezogen. Es kam zum Handgemenge. Du bist erschossen worden. Fall abgeschlossen.«
Lomans Drohung war, da sie von einem Mann kam, der angeblich ein enger und geschätzter Freund war, so monströs, daß George zuerst sprachlos war. Als er dann wieder ins Zimmer trat, sagte er: »Du würdest jeden denken lassen, daß ich... Eddie so etwas Schreckliches antun würde? Warum? Was machst du da, Loman? Was, zum Teufel, machst du da? Wen... wen beschützt du?« »Leg dich aufs Bett«, sagte Loman.
Dr. Worthy bereitete eine Spritze für George vor.
Nella auf dem Bett schlotterte unablässig, zuckte, warf sich hin und her. Schweiß rann ihr übers Gesicht; ihr Haar war feucht und verfilzt. Sie hatte die Augen offen, schien aber nicht zu bemerken, daß noch jemand im Zimmer war. Vielleicht wußte sie nicht einmal, wo sie sich befand. Sie sah einen Ort jenseits des Zimmers oder sah in sich selbst hinein; Loman wußte nicht, was von beidem, und er konnte sich nicht mehr an seine eigene Verwandlung erinnern, davon abgesehen, daß die Schmerzen unerträglich gewesen waren. George Valdoski näherte sich zögernd dem Bett und sagte: »Was ist los, Loman? Herrgott, was soll das? Was geht hier vor?«
»Es wird alles gut werden«, versicherte Loman ihm. »Es ist am besten so. Wirklich am besten.«
»Was ist am besten? Was, in Gottes Namen...«
»Leg dich hin, George. Alles wird gut.«
»Was geschieht mit Nella?«
»Leg dich hin, George. Es ist am besten so.«
»Am besten«, stimmte Dr. Worthy zu, während er die Spritze aus einer neuen Flasche voll goldener Flüssigkeit füllte.
»Es ist wirklich am besten so«, sagte Loman. »Vertraue mir.« Er winkte George mit dem Revolver zum Bett und lächelte beruhigend.
18
Harry Talbots vom Bauhaus inspiriertes Haus war aus Rotholz erbaut und hatte viele Fenster. Es lag drei Blocks südlich vom Herzen von Moonlight Cove an der Ostseite der Conquistador Avenue, einer Straße, die nach der Tatsache benannt worden war, daß vor Jahrhunderten spanische Conquistadoren hier ihr Lager aufgeschlagen hatten, als sie katholische Geistliche entlang der Küste Kaliforniens beglei-teten, um Missionen zu errichten. Ab und zu träumte Harry einmal, daß er zu diesen uralten Soldaten gehörte und nach Norden in unerforschtes Land marschierte, und es war immer ein schöner Traum, weil er in diesem Abenteuer der Fantasie nie an den Rollstuhl gefesselt war.
Der größte Teil von Moonlight Cove war auf den bewaldeten Hügeln am Meer erbaut worden, und Harrys Grundstück verlief bis zur Conquistador hinab, was den idealen Ausblick für einen Mann bot, dessen Hauptbeschäftigung im Leben es war, seine Mitmenschen zu beobachten. Er konnte von seinem Schlafzimmer im dritten Stock an der Nordwestseite des Hauses zumindest bestimmte Abschnitte sämtlicher Straßen zwischen der Conquistador und der Bucht sehen - Juniper Lane, Serra Street, Roshmore Way und Cypress Lane -, ebenso die Seitenstraßen, die in ostwestlicher Richtung verliefen. Im Norden konnte er bis auf Teile der Ocean Avenue und sogar noch weiter sehen. Weite und Tiefe seines Beobachtungsfeldes wären selbstverständlich drastisch eingeschränkt gewesen, hätte sein Haus nicht einen Stock mehr gehabt als die meisten angrenzenden Häuser, und wäre er nicht mit einem 60-mm-f /8-Spiegelteleskop und einem guten Fernglas ausgerüstet gewesen.
Am 13. Oktober, einem Montagabend, saß Harry um halb zehn auf seinem spezialangefertigten Stuhl zwischen den großen Nord- und Westfenstern und war über die Linse des Teleskops gebeugt. Der hohe Stuhl hatte Armlehnen und eine Rückenlehne, wie ein normaler Stuhl, vier schräge, starke Beine für optimales Gleichgewicht und einen beschwerten Sockel, damit er nicht so leicht kippte, wenn Harry sich aus dem Rollstuhl hob und darauf setzte. Zudem hatte der Stuhl einen Sicherheitsfurt, ähnlich wie im Auto, der es Harry ermöglichte, sich zum Teleskop vorzubeugen, ohne vom Stuhl zu rutschen und auf den Boden zu fallen.
Weil er das linke Bein und den linken Arm nicht gebrauchen konnte, weil sein rechtes Bein so schwach war, daß er sich nicht darauf stützen konnte, weil er sich nur auf den rechten Arm verlassen konnte - den die Vietkong zum Glück verschont hatten -, war es schon ein qualvolles Unterfangen, aus dem batteriebetriebenen Rollstuhl auf den Stuhl zu klettern. Aber die Anstrengung lohnte sich, denn Harry Talbot lebte jedes Jahr mehr durch das Fernglas als das Jahr vorher. Wenn er auf seiner Stuhl-Spezialanfertigung saß, vergaß er manchmal sogar fast seine Behinderung, denn er hatte auf seine Weise Anteil am Leben.
Sein Lieblingsfilm war Das Fenster zum Hof mit Jimmy Stewart. Er hatte ihn wahrscheinlich schon hundertmal gesehen.
Augenblicklich war das Teleskop in den Hinterhof von Callans Bestattungsinstitut gerichtet, dem einzigen Bestattungsunternehmen von Moonlight Cove an der Ostseite der Juniper Lane, die parallel zur Conquistador verlief, aber einen Block näher am Meer lag. Er konnte dorthin schauen, indem er zwischen zwei Häusern auf der anderen Seite seiner eigenen Straße hindurchsah, am dicken Stamm einer großen Big Cone-Pinie vorbei und über den Verbindungsweg zwischen Juniper und Conquistador hinweg. Der Hinterhof grenzte an diesen Weg an, und Harry konnte auch eine Ecke der Garage sehen, in der der Leichenwagen parkte, den Hintereingang des Hauses selbst und den Eingang zum neuen Flügel, wo die Leichen einbalsamiert und zum letzten Abschied vorbereitet oder eingeäschert wurden.
Harry hatte im Verlauf der letzten zwei Monate einige seltsame Vorkommnisse bei Callan gesehen. Heute jedoch belebte nichts Ungewöhnliches Harrys geduldige Wache über den Hof.
»Moose?«
Der Hund erhob sich von seinem Ruheplatz in der Ecke und trottete durch das dunkle Schlafzimmer zu Harry. Es war ein ausgewachsener schwarzer Labrador, der in der Dunkelheit so gut wie nicht zu sehen war. Er strich an Harrys Bein entlang, dem rechten, in dem Harry noch etwas Gefühl hatte.
Harry ließ die Hand sinken und tätschelte Moose. »Hol mir ein Bier, alter Kumpel.«
Moose war ein Behindertenhund, der von Canine Compa-nions for Independence abgerichtet worden war, und er freute sich immer, wenn er gebraucht wurde. Er eilte zu dem keinen Kühlschrank in der Ecke, der als Einbauelement unter Restauranttheken gedacht war und mit einem Fußpedal geöffnet werden konnte.
»Da ist keins«, sagte Harry. »Ich habe heute nachmittag vergessen, einen Sechserpack aus der Küche heraufzubringen.«
Der Hund hatte bereits festgestellt, daß im Kühlschrank im Schlafzimmer kein Coors war. Er tappste auf den Flur, seine Krallen klickten leise auf dem Parkettboden. Keine Teppiche, denn der Rollstuhl rollte auf glatten, harten Flächen besser. Der Hund sprang im Flur hoch und erwischte die Taste des Fahrstuhls mit einer Pfote, worauf sofort das Summen des Lifts durch das Haus dröhnte.
Harry richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Teleskop und den Hinterhof von Callans Bestattungsinstitut. Nebelschwaden trieben durch die Stadt, manche dicht und undurchdringlich, manche hauchzart. Aber der Innenhof des Instituts wurde von Scheinwerfern erhellt, so daß er deutlich sehen konnte; durch das Teleskop schien er zwischen den gemauerten Pfosten zu stehen, die auf beiden Seiten der Einfahrt zum hinteren Teil des Grundstücks standen. Wäre die Nacht nicht neblig gewesen, hätte er die Nieten in der Eisentür des Krematoriums sehen können.
Hinter ihm gingen die F ahrstuhltüren auf. Er hörte, wie Moose in den Lift sprang. Dann senkte er sich in den ersten Stock hinunter.
Da Callans ihn langweilte, drehte Harry das Teleskop langsam nach links und verlagerte seinen Sehbereich nach Süden, zu dem großen, unbebauten Grundstück neben dem Bestattungsinstitut. Er stellte die Schärfe ein, sah über das verlassene Gelände und über die Straße zum Haus der Gos-dales an der Westseite der Juniper, wo er das Eßzimmer anvisierte.
Er schraubte mit seiner intakten Hand das Okular ab, legte es auf einen hohen Metalltisch neben dem Stuhl und schraubte rasch eines von mehreren anderen Okularen an, um den Blick auf die Gosdales zu verbessern. Da der Nebel momentan dünner war, konnte er so gut ins Eßzimmer der Gosdales sehen, als würde er auf ihrer Veranda kauern und das Gesicht ans Fenster drücken. Herman und Louise Gos-dale spielten mit Dan und Vera Kaiser, ihren Nachbarn, Pinnokel, wie immer montagsabends und manchmal freitags.
Der Fahrstuhl war im Erdgeschoß angekommen; der Motor hörte auf zu summen, Schweigen erfüllte das Haus wieder. Moose war jetzt zwei Stockwerke tiefer und eilte durch den Flur zur Küche.
In ungewöhnlich klaren Nächten konnte Harry manchmal sogar das Pinnokelblatt von Dan Kaiser erkennen, wenn dieser mit dem Rücken zum Fenster und im richtigen Winkel saß. Er hatte schon ein paarmal die Verlockung verspürt, Herman Gosdale anzurufen, ihm die Karten seines Gegenspielers zu beschreiben und ihm einen Rat zu geben, wie er den Trick ausspielen könnte.
Aber er wollte die Leute nicht wissen lassen, daß er den größten Teil des Tages im Schlafzimmer verbrachte - das nachts unbeleuchtet war, damit man seinen Umriß nicht am Fenster erkennen könnte - und heimlich an ihrem Leben teilnahm. Sie würden ihn nicht verstehen. Gesunde standen Krüppeln von vorneherein immer mit einem gewissen Argwohn gegenüber, denn sie glaubten nur zu bereitwillig, daß sich Mißbildungen an Armen und Beinen auch auf den Verstand ausdehnten. Sie würden ihn für naseweis halten; noch schlimmer, sie könnten ihn als Spanner verurteilen, als elenden Eindringling.
Das war nicht der Fall. Harry Talbot hatte sich strenge Regeln gesetzt, was Teleskop und Fernglas anbelangte, und an diese hielt er sich felsenfest. Zuallererst würde er niemals versuchen, eine nackte Frau zu beobachten.
Arnella Scarlatti wohnte drei Häuser nördlich auf der anderen Straßenseite, und er hatte versehentlich einmal herausgefunden, daß sie manche Abende nackt im Schlafzimmer verbrachte und Musik hörte oder las. Sie hatte nur das Nachttischlämpchen eingeschaltet, vor ckn Fenstern hingen Gazeschleier, und sie ging nie ans Fenster, daher hielt sie es nicht für nötig, immer die Vorhänge zuzuziehen. Tatsächlich hätte niemand sie sehen können, der nicht über Harrys Ausrüstung verfügte. Arnella war hübsch. Harry hatte ihren makellosen Körper selbst durch den Gazestoff und im schwachen Licht deutlich erkennen können. Ihre Nacktheit hatte ihn verblüfft, die sinnlichen Wölbungen ihres langbeinigen Körpers mit den vollen Brüsten hatten ihn gebannt und fasziniert, und daher hatte er sie vielleicht eine Minute lang betrachtet. Dann hatte er das Teleskop von ihr weggedreht, weil er heiße Verlegenheit verspürt hatte, aber ebenso heißes Verlangen. Harry hatte zwar seit über zwanzig Jahren keine Frau mehr gehabt, aber er war trotzdem nicht wieder in Arnellas Schlafzimmer eingedrungen. Morgens hatte er in einem anderen Winkel oft in das Seitenfenster ihrer kleinen, blitzsauberen Küche im Erdgeschoß gesehen und sie beim Frühstück beobachtet, ihr perfektes Gesicht, während sie ihren Saft trank und Brötchen oder Toast und Eier aß. Sie war so wunderschön, daß ihm die Worte dafür fehlten, und nach allem, was er über ihr Leben wußte, schien sie auch sehr nett zu sein. Er schätzte, daß er sie irgendwie liebte, so wie ein Junge eine Lehrerin lieben mochte, die ihm immer fern sein würde, aber er benützte diese unerfüllte Liebe niemals als Ausrede, ihren entkleideten Körper mit seinen Blicken zu liebkosen.
Er sah auch weg, wenn er andere Nachbarn in einer peinlichen Situation erwischte. Er sah zu, wenn sie miteinander stritten, ja, und wenn sie miteinander lachten, aßen, Karten spielten, bei ihrer Diät mogelten, Geschirr spülten und die zahllosen anderen Vorgänge des täglichen Lebens ausführten, aber nicht, weil er bei ihren Dreck am Stecken herausfinden oder sich ihnen überlegen fühlen wollte. Sie zu beobachten, verschaffte ihm keinen billigen Kitzel. Er wollte an ihrem Leben teilhaben, wollte sie erreichen - und sei es nur einseitig - und eine Art ferne Familie aus ihnen machen; er wollte Gründe erhalten, daß ihm etwas an ihnen lag, um dadurch ein erfüllteres Gefühlsleben zu haben.
Der Fahrstuhl summte wieder. Moose war offenbar in der Küche gewesen, hatte eine der vier Türen des Kühlschranks unter der Arbeitsplatte geöffnet und eine kalte Dose Coors herausgeholt. Jetzt kam er mit dem Bier zurück.
Harry Talbot war ein geselliger Mensch; als er mit nur einem gebrauchsfähigen Körperteil aus dem Krieg heimgekommen war, hatte man ihm den Rat gegeben, in ein Pflegeheim für Körperbehinderte zu gehen, wo er ein geselliges Leben in verständnisvoller Umgebung führen könnte. Die ärztlichen Ratgeber warnten ihn, daß er nicht akzeptiert werden würde, wenn er versuchte, in der Welt der Normalen und Gesunden zu leben; sie sagten, die meisten Menschen würden ihn mit unbewußter, aber dennoch schmerzhafter Grausamkeit begegnen, besonders der Grausamkeit gedankenlosen Ausschließens, und er würde schließlich in eine schreckliche und tiefe Einsamkeit verfallen. Aber Harry war ebenso störrisch wie gesellig, und die Aussicht, in einem Pflegeheim und nur in Gesellschaft von anderen Behinderten und Pflegepersonal zu leben, schien schlimmer zu sein als gar keine Gesellschaft. Jetzt lebte er allein, abgesehen von Moose, und hatte nur wenige Besucher, außer der Haushälterin, Mrs. Hunsbok (vor der er Teleskop und Fernglas in einem Schrank versteckte), die einmal wöchentlich kam. Vieles, wovor die Ärzte ihn gewarnt hatten, erwies sich im täglichen Leben als wahr; aber sie hatten nicht mit Harrys Fähigkeit gerechnet, hinreichend Trost und ein Gefühl der Familienzugehörigkeit durch heimliche, aber freundschaftliche Beobachtung seiner Nachbarn zu finden.
Der Fahrstuhl kam im dritten Stock an. Die Tür ging auf, und Moose trottete ins Zimmer, direkt zu Harrys Stuhl.
Das Teleskop stand auf einem Stativ mit Rollen, das Harry beiseite schob. Er ließ die Hand sinken und tätschelte den Kopf des Hundes. Er nahm dem Labrador die kalte Dose aus der Schnauze. Moose hatte sie maximaler Hygiene wegen am unteren Ende gehalten. Harry klemmte die Dose zwischen die gelähmten Beine, nahm eine Taschenlampe vom Tisch auf der anderen Seite des Stuhls und richtete den Lichtstrahl auf die Dose, um sich zu vergewissern, daß es Coors und kein Diet Coke war.
Der Hund war abgerichtet worden, diese beiden Getränke zu holen, und die treue Seele erkannte den Unterschied zwischen den Worten >Bier< und >Coke< meistens und konnte den Befehl bis zur Küche im Gedächtnis behalten. Selten einmal vergaß er ihn unterwegs und kam mit dem falschen Ge -tränk zurück. Noch seltener war, daß er seltsame Gegenstände brachte, die nichts mit dem erteilten Befehl zu tun hatten: einen Hausschuh; eine Zeitung; zweimal einen ungeöffneten Beutel Hundekuchen; einmal ein hartgekochtes Ei, das er so behutsam zwischen den Zähnen hielt, daß die Schale nicht einen Riß hatte; und am seltsamsten, einmal eine Klosettbürste aus dem Arsenal der Haushälterin. Wenn er etwas Falsches gebracht hatte, machte Moose es beim zweitenmal immer richtig.
Harry war schon vor langer Zeit zu der Überzeugung gekommen, daß der Hund sich häufig gar nicht irrte, sondern einen Spaß mit ihm machte. Sein enger Umgang mit dem Hund hatte die Gewißheit in ihm hervorgerufen, daß Hunde einen Sinn für Humor besaßen.
Diesesmal hatte er sich weder geirrt noch einen Witz gemacht, sondern das gebracht, was ihm gesagt worden war. Als Harry die Dose Coors sah, wurde er noch durstiger.
Er schaltete die Taschenlampe aus und sagte: »Guter Junge. Guter, guter, guuuter Hund.«
Moose winselte glücklich. Er saß aufmerksam neben dem Stuhl in der Dunkelheit und wartete darauf, daß er auf einen weiteren Botengang geschickt würde.
»Geh, Moose. Leg dich hin. Guter Hund.«
Der Labrador schlich enttäuscht in eine Ecke und rollte sich auf dem Boden zusammen, während sein Herr wieder die Nacht, die Nachbarschaft und damit seine weitläufige Familie beobachtete.
Die Gosdales und Kaisers spielten immer noch Karten.
In Callans Bestattungsinstitut bewegte sich nur wabernder Nebel.
Einen Block südlich der Conquistador und momentan von den Bürgersteiglampen am Sternback-Haus beleuchtet, schlenderte Ray Chang, der Inhaber des einzigen Fernseh-und Elektronikhandels der Stadt, in diese Richtung. Er führte seinen Hund Jack, einen Apportierhund, Gassi. Sie gingen gemächlichen Schrittes, und Jack schnupperte an jedem Baum am Gehweg und suchte nach dem richtigen, um sich zu erleichtern.
Die Ruhe und Vertrautheit all dieser Szenen freute Harry, aber diese Stimmung wurde unvermittelt zunichte gemacht, als er seine Aufmerksamkeit durch das Nordfenster zum Haus der Simpsons wandte. Ella und Denver Simpson bewohnten ein cremefarbenes spanisches Haus mit Ziegeldach auf der anderen Seite der Conquistador und zwei Blocks nördlich, gleich nach dem katholischen Friedhof und einen Block diesseits der Ocean Avenue. Im Friedhof stand Harry nichts im Weg - abgesehen vom Teil eines Baumes -, daher konnte er die Fenster an zwei Häuserseiten genau, wenn auch in einem Winkel, überblicken. Er richtete das Teleskop aufs erleuchtete Küchenfenster. Als das Bild im Teleskop sich von einem verschwommenen Wirrwarr zu einem scharfen Motiv kristallisierte, sah er Ella Simpson, die gegen den Kühlschrank gepreßt war, mit ihrem Mann kämpfen; sie wand sich in seinem Griff, krallte nach seinem Gesicht und schrie.
Ein Schauer lief Harrys kriegsverletztes Rückgrat entlang.
Er wußte sofort, daß das, was sich da im Haus der Simpsons abspielte, mit anderen beunruhigenden Dingen, die er in letzter Zeit gesehen hatte, in Zusammenhang stand. Denver war Postmeister von Moonlight Cove, Ella führte einen erfolgreichen Schönheitssalon. Beide waren Mitte Dreißig, eines der wenigen hiesigen farbigen Ehepaare, und soweit Harry wußte, waren sie glücklich verheiratet. Ihr handgreiflicher Konflikt war so ungewöhnlich, daß er mit anderen unerklärlichen und geheimnisvollen Ereignissen, die Harry in letzter Zeit gesehen hatte, in Verbindung stehen mußte.
Ella befreite sich von Denver. Sie kam aber nur einen linkischen Schritt von ihm weg, dann schlug er mit der Faust nach ihr. Der Schlag erwischte sie am Hals. Sie fiel hin. Schwer.
In Harrys Schlafzimmer spürte Moose in der Ecke die innere Anspannung seines Herrn. Der Hund hob den Kopf und schnaubte einmal, zweimal.
Harry, der sich auf dem Stuhl nach vorne gebeugt hatte und förmlich am Okular klebte, sah zwei Männer aus einem Teil der Küche der Simpsons kommen, der außerhalb der Fensterlinie lag. Sie trugen zwar keine Uniformen, aber er erkannte Mitglieder der Polizei von Moonlight Cove in ihnen: Paul Hawthorne und Reese Dorn. Ihre Anwesenheit bestätigte Harrys Intuition, daß dieser Zwischenfall Teil eines bizarren Musters von Gewalt und Verschwörung war, das ihm in den vergangenen Wochen zunehmend deutlicher geworden war. Er wünschte sich nicht zum ersten Mal, er könnte herausbekommen, was in dieser einst so friedlichen Stadt vor sich ging. Hawthorne und Dorn hoben Ella vom Boden auf und hielten sie fest zwischen sich. Sie schien nur halb bei Bewußtsein und benommen von dem Schlag zu sein, den ihr ihr Mann verpaßt hatte.
Denver sagte etwas zu Hawthorne, Dorn oder seiner Frau. Es war nicht auszumachen, zu wem. Sein Gesicht war von einer so durchdringenden Wut verzerrt, daß Harry fröstelte.
Ein dritter Mann kam hinzu, der schnurstracks zum Fenster trat und die Vorhänge zuzog. Vom Meer wehte eine dichte Nebelschwade herein und trübte den Blick, aber Harry erkannte auch diesen Mann: Dr. lan Fitzgerald, der älteste der drei Ärzte von Moonlight Cove. Er hatte seit fast dreißig Jahren seine Praxis in der Stadt und wurde liebevoll Doc Fitz genannt. Er war Harrys eigener Arzt, ein stets gütiger und teilnahmsvoller Mann, aber im Augenblick sah er kälter als ein Eisberg aus. Kurz bevor die Vorhänge zugezogen waren, sah Harry Doc Fitz direkt ins Gesicht und sah verkniffene Züge und stechende Augen, die überhaupt nicht zu dem Mann paßten; dank des Teleskops schien Harry nur einen Schritt von dem Arzt entfernt zu stehen, und er sah ein bekanntes Gesicht, das zugleich das eines völlig Fremden war.
Da er nicht mehr in die Küche sehen konnte, suchte er den Rest der Hausfassade ab. Er drückte sich zu fest gegen das Teleskop, dumpfe Schmerzen strahlten von den Augenhöhlen über das ganze Gesicht ab. Er verfluchte den wallenden Nebel, versuchte aber, sich zu entspannen.
Moose winselte fragend.
Nach einer Minute ging in einem Zimmer an der südöstli-chen Ecke im zweiten Stock des Simpson-Hauses das Licht an. Harry zoomte sofort auf dieses Fenster. Das Schlafzimmer. Er sah trotz des verhüllenden Nebels, wie Hawthorne und Dorn Ella aus dem oberen Flur hereintrugen. Sie warfen sie auf die über das große Ehebett gebreitete blaue Steppdecke.
Denver und Doc Fitz folgten ihnen ins Zimmer. Der Arzt stellte die schwarze Ledertasche auf den Nachttisch. Denver zog die Vorhänge des vorderen Fensters zur Conquistador Avenue hinaus zu, dann kam er zum Fenster an der Friedhofseite, durch das Harry hineinsah. Denver starrte einen Augenblick in die Nacht, und Harry hatte das unheimliche Gefühl, als könnte der Mann ihn sehen, obwohl er zwei Blocks entfernt war, als würde er über die Sehfähigkeit von Superman verfügen, über ein eingebautes biologisches Teleskop. Dasselbe Gefühl hatte Harry schon bei anderen Gelegenheiten gehabt, wenn er >Auge-in-Auge< mit anderen Menschen war, schon lange bevor die seltsamen Ereignisse in Moonlight Cove angefangen hatten; daher wußte er, daß Denver ihn gar nicht sehen konnte. Aber er war trotzdem erschrocken. Dann zog der Postmeister auch diese Vorhänge vor, aber nicht so dicht, wie er es hätte tun sollen, denn er ließ einen fünf Zentimeter breiten Spalt zwischen den Hälften offen.
Harry, der inzwischen zitterte und schweißnaß war, wechselte die Okulare, justierte die Vergrößerung des Teleskops und versuchte, den Brennpunkt schärfer zu stellen, bis er das Fenster so nahe herangeholt hatte, daß der schmale Schlitz zwischen den Vorhängen das gesamte Bild ausfüllte. Er schien nicht nur am Fenster zu sein, sondern dahinter, schien hinter den Vorhängen im Schlafzimmer zu stehen.
Die dichteren Nebelschwaden trieben nach Osten, dünnere Schleier wehten vom Meer herein, was Harrys Sicht noch besser machte.
Hawthorne und Dorn hielten Ella Simpson auf dem Bett fest. Sie schlug um sich, aber sie hatten sie an Armen und Beinen gepackt, und sie war kein Gegner für sie.
Denver hielt das Gesicht seiner Frau am Kinn fest und stopfte ihr ein zusammengeknülltes Taschentuch oder ein Stück weißen Stoffes in den Mund und knebelte sie.
Harry konnte ganz kurz das Gesicht der Frau sehen, während sie mit ihren Widersachern rang. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen.
»Oh, Scheiße.«
Moose stand auf und kam zu ihm.
Im Haus der Simpsons war Ellas Rock durch ihre heftige Gegenwehr aufgerissen. Die hellgelben Schlüpfer waren zu sehen. Knöpfe der grünen Bluse waren aufgegangen. Aber die Szene vermittelte nicht das Gefühl einer kurz bevorstehenden Vergewaltigung, nicht einmal die Andeutung sexu -eller Erregung. Was sie mit ihr machten, war möglicherweise noch bedrohlicher und grausamer - und sicherlich seltsamer - als Vergewaltigung.
Doc Fitz trat ans Fußende des Bettes, so daß Harry Ella und ihre Angreifer nicht mehr sehen konnte. Der Arzt hielt eine Phiole voll bernsteinfarbener Flüssigkeit in der Hand, die er in eine Spritze füllte.
Sie verabreichten Ella eine Injektion.
Aber womit?
Und warum?
19
Nachdem sie mit ihrer Mutter in San Diego gesprochen hatte, setzte sich Tessa Lockland auf das Bett und sah sich einen Natur-Dokumentarfilm im PBS an. Sie übte lautstark Kritik an Kameraführung, der Komposition von Einstellungen, der Ausleuchtung, den Schnittechniken, den Kommentaren und anderen Aspekten der Produktion, bis ihr unvermittelt klar wurde, daß sie sich albern anhörte, wie sie mit sich selbst sprach. Dann machte sie sich über sich selbst lustig, indem sie verschiedene Fernsehkritiker nachahmte und in der jeweiligen Art des Betroffenen Kommentare zu dem Dokumentarfilm abgab, was Spaß machte, weil die meisten Fern-sehkritiker auf die eine oder andere Weise pompös waren, ausgenommen Robert Ebert. Trotzdem führte Tessa Selbstgespräche, obwohl sie ihren Spaß hatte, und das war selbst für eine Nonkonformistin zu exzentrisch, die dreiunddreißig Jahre alt geworden war, ohne jemals eine geregelte Arbeit annehmen zu müssen. Daß sie sich am Schauplatz des >Selbstmordes< ihrer Schwester aufhielt, machte sie nervös. Sie suchte im Herumalbern Erleichterung von dieser grimmigen Pilgerfahrt. Aber zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten war selbst die ununterdrückbare Frohnatur der Locklands unangemessen.
Sie schaltete den Fernseher ab und nahm den leeren Plastikeimer für Eiswürfel vom Schreibtisch. Sie ließ die Tür ihres Zimmers angelehnt und ging mit einigen Münzen zum Südende des Flurs, wo sich Eiskasten und Getränkeautomat befanden.
Tessa war immer stolz darauf gewesen, daß sie die Mühlen geregelter Arbeitszeit vermieden hatte. Auf absurde Weise stolz, wenn man die Tatsache in Rechnung stellte, daß sie so häufig zwölf bis vierzehn Stunden täglich arbeitete, anstatt der üblichen acht, und ein strengerer Chef war als alle, für die sie hätte arbeiten können. Und auch was ihr Einkommen betraf, hatte sie kaum Grund zu prahlen. Sie hatte ein paar fette Jahre gehabt, als sie, auch wenn sie es versucht hätte, nicht hätte aufhören können, Geld zu verdienen; aber die Jahre, in denen sie kaum das Existenzminimum erwirtschaftet hatte, überwogen bei weitem. Als sie kürzlich einmal ihr durchschnittliches Einkommen in den zwölf Jahren, seit sie von der Filmhochschule abgegangen war, ausrechnete, war sie zu dem Ergebnis gekommen, daß ihr Jahresein -kommen bei etwa einundzwanzigtausend Dollar lag, aber diese Zahl würde drastisch sinken, wenn sie nicht bald wieder ein erfolgreiches Jahr hätte.
Obwohl sie nicht reich war, und obwohl das freiberufliche Drehen von Dokumentarfilmen keine nennenswerte Sicherheit bot, fühlte sie sich erfolgreich, und das nicht nur, weil ihre Arbeiten von der Kritik im allgemeinen positiv aufgenommen worden waren und weil sie mit der Locklandschen Neigung zum Optimismus gesegnet war. Sie fühlte sich erfolgreich, weil sie sich stets der Autorität widersetzt und in ihrer Arbeit einen Weg gefunden hatte, ihr Schicksal selbst zu meistern.
Am Ende des Flurs stieß sie eine schwere Feuertür auf und trat auf einen Absatz, wo Eis- und Getränkeautomat links von der Treppe standen. Der große Getränkeautomat, der reichlich mit Cola, Wurzelbier, Orange Crush und 7-Up bestückt war, summte leise, aber die Eismaschine war kaputt und leer. Sie würde den Kübel an der Maschine im Erdgeschoß füllen müssen. Sie ging die Treppe hinunter, und ihre Schritte hallten von den Betonwänden wieder. Das Ge -räusch war so hohl und kalt, daß sie in einer riesigen Pyramide oder einem alten Bauwerk hätte sein können - allein, abgesehen vielleicht von der Gesells chaft von unsichtbaren Geistern.
Am unteren Ende der Treppe fand sie weder Eismaschine noch Getränkeautomat, dafür aber ein Schild an der Wand, auf dem stand, daß sich das Erfrischungszentrum im Erdgeschoß am nördlichen Ende des Motels befand. Bis sie endlich Eis und Cola hätte, würde sie soviel Kalorien verbraucht haben, daß sie sich ein normales, zuckersüßes Cola statt eines Diet Coke verdient haben würde.
Als sie nach der Klinke der Feuertür griff, die zum Erdgeschoß führte, glaubte sie zu hören, wie die zweite Tür oben an der Treppe geöffnet wurde. Das war das erste Zeichen, seit sie angekommen war, daß sie nicht der einzige Gast in dem Motel war. Das Gebäude hatte trotzdem etwas Verlas -senes an sich.
Sie trat durch die Feuertür ein und stellte fest, daß der untere Flur mit demselben gräßlich grellorangefarbenen Nylonteppichboden ausgelegt war wie der obere Flur. Der Innenarchitekt hatte eine clownhafte Vorliebe für schreiende Farben gehabt. Sie blinzelte.
Sie wäre gerne eine erfolgreiche Filmemacherin gewesen, und sei es nur, damit sie sich Unterkünfte leisten könnte, die keine Beleidigung für die Sinne waren. Aber dies war natürlich das einzige Motel in Moonlight Cove, daher hätte nicht einmal Reichtum sie vor diesem augenbeleidigenden orangefarbenen Flimmern bewahren können. Als sie das Ende des Flurs erreicht und eine weitere Feuertür hinter sich gelassen hatte und zum Absatz der Nordtreppe gelangt war, fand sie den Anblick der grauen Betonwände und Betonstufen eindeutig beruhigend und ansprechend.
Hier funktionierte die Eismaschine. Sie klappte den Dek-kel auf und zog den Plastikkübel einmal tief durch, bis er mit halbmondförmigen Eisstückchen gefüllt war. Sie stellte den vollen Eimer auf die Maschine. Als sie die Klappe zumachte, hörte sie die Tür oben mit einem leisen Quietschen der Angeln aufgehen.
Sie ging zum Getränkeautomaten, um die Cola herauszulassen und erwartete, daß jemand vom zweiten Stock herunterkommen würde. Erst als sie die dritte Münze in den Schlitz geworfen hatte, wurde ihr klar, daß die Art, wie die Tür oben aufgemacht worden war, etwas Verstohlenes gehabt hatte; das gedehnte, leise Quietschen... als wüßte jemand, daß die Angeln nicht geölt waren, und versuchte, so leise wie möglich zu sein.
Tessa verharrte mit dem Finger über der Taste für Diet Coke und lauschte.
Nichts.
Kühle Betonstille.
Sie fühlte sich genauso wie vorher am Strand, als sie diesen seltsamen, fernen Ruf vernommen hatte. Sie hatte jetzt -wie dort - eine Gänsehaut.
Sie hatte den verrückten Eindruck, als wäre jemand oben auf dem Treppenabsatz und würde die Feuertür aufhalten, nachdem er hindurchgegangen war. Er wartete darauf, daß sie auf den Knopf drückte, damit das Poltern der Dose in der Maschine das erneute Quietschen der Scharniere übertönen würde.
Viele moderne Frauen, die sich bewußt waren, daß man in einer rauhen Welt rauh sein mußte, wären von solchen Vorahnungen peinlich berührt gewesen und hätten das intuitive Frösteln achselzuckend abgetan. Aber Tessa kannte sich selbst gut. Sie neigte nicht zu Hysterie oder Paranoia, daher fragte sie sich auch nicht, ob Janices Tod sie überempfindlich gemacht hatte, und zweifelte nicht an ihrer Vorstellung von einem feindseligen Eindringling, der unsichtbar hinter der Biegung auf dem oberen Treppenabsatz lauerte.
Hier unten befanden sich drei Türen in der Betonkammer. Die erste war in der Südwand; durch sie war sie gekommen, und durch sie konnte sie in den Erdgeschoßflur zurückkehren. Die zweite war in der Westwand und öffnete sich zur rückwärtigen Fassade des Motels, wo offenbar ein kleiner Zufahrtsweg zwischen dem Gelände und der Klippe über dem Meer war, und die dritte war in der Ostwand, dort konnte sie wahrscheinlich zum Parkplatz vor dem Motel gelangen. Sie drückte nicht auf die Taste, um das Coke zu bekommen, ließ auch den Eiskübel stehen und trat rasch und leise zur Südtür und riß sie auf.
Sie sah eine Bewegung am gegenüberliegenden Ende des Erdgeschoßflurs. Jemand duckte sich zur anderen Feuertür hinaus ins südliche Treppenhaus. Sie konnte ihn kaum erkennen, nur einen schemenhaften Umriß, denn er hatte nicht auf dem orangefarbenen Teppich selbst gestanden, sondern auf der Schwelle gegenüber, daher hatte er sich auch binnen Sekundenbruchteilen verstecken können. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.
Mindestens zwei Männer - sie vermutete, daß es Männer waren, keine Frauen - waren hinter ihr her.
Hier im Treppenhaus erzeugten die Türangeln oben ein kaum wahrnehmbares Quietschen von Metall. Der andere Mann hatte es offenbar satt, darauf zu warten, daß sie ein übertönendes Geräusch machte.
Sie konnte nicht in den Flur gehen. Sie hatten sie zwischen sich gefangen.
Sie könnte zwar schreien, um andere Gäste auf sich aufmerksam zu machen und den Männern einen Schrecken einzujagen, aber sie zögerte, weil sie befürchtete, das Motel könnte so verlassen sein, wie es schien. Ihr Schrei brachte vielleicht keine Hilfe herbei, machte aber die Verfolger darauf aufmerksam, daß sie von ihnen wußte und sie nicht mehr vorsichtig sein mußten.
Jemand kam die Treppe über ihr heruntergeschlichen.
Tessa wandte sich vom Flur ab, trat zur Osttür und lief in die neblige Nacht hinaus, an der Seitenwand des Gebäudes entlang und zum Parkplatz, hinter dem die Cypress Lane lag. Dann lief sie keuchend an der Vo rderfront des Cove Lodge entlang zur Rezeption, die sich gegenüber der jetzt geschlossenen Cafeteria befand.
Die Rezeption war geöffnet, die Schwelle war in das vom Nebel weichgemachte, diffuse Leuchten des rosa und gelben Neonschilds getaucht, und der Mann hinter der Theke war derselbe, bei dem sie sich vor ein paar Stunden angemeldet hatte. Er war groß und leicht untersetzt, etwa Mitte fünfzig, rasiert und mit ordentlich geschnittenen Haaren, aber dafür in einer etwas zerknittert wirkenden, braunen Cordhose und einem roten Flanellhemd. Er legte eine Zeitschrift weg, stellte die Countrymusik im Radio leiser, stand von seinem gepolsterten Bürostuhl auf und hörte ihr, stirnrunzelnd an die Theke gelehnt zu, wie sie, etwas zu atemlos, schilderte, was vorgefallen war.
»Nun, dies ist keine große Stadt, Ma'am«, sagte er, als sie fertig war. »Moonlight Cove ist ein friedlicher Ort. Hier müssen Sie sich wegen so etwas keine Gedanken machen.« »Aber es war so«, beharrte sie und sah nervös in den neonbemalten Nebel, der in der Dunkelheit zwischen Rezeptionstür und Fenster trieb.
»Oh, ich bin sicher, daß Sie jemand gehört oder gesehen haben, aber Sie haben die Situation sicher falsch interpretiert. Wir haben ein paar Gäste. Die haben Sie gehört, und sie haben sich möglicherweise, genau wie Sie, nur etwas Eis und was zu trinken holen wollen.« Er hatte ein gütiges, großväterliches Aussehen, wenn er lächelte. »Es kann hier etwas unheimlich wirken, wenn nicht viele Gäste da sind.« »Hören Sie, Mister...«
»Quinn. Gordon Quinn.«
»Hören Sie, Mr. Quinn, es war ganz und gar nicht so.« Sie kam sich wie eine schrille, alberne Ziege vor, obwohl sie wußte, daß sie das nicht wahr. »Ich habe unschuldige Gäste nicht für Räuber und Vergewaltiger gehalten. Ich bin keine hysterische Frau. Diese Burschen hatten nichts Gutes im Sinn.«
»Nun... also gut. Ich denke, daß Sie sich irren, aber wir wollen trotzdem einmal nachsehen.« Quinn kam durch eine Klappe in der Theke auf ihre Seite des Büros.
»Wollen Sie einfach so gehen?« fragte sie.
»Wie?«
»Unbewaffnet?«
Er lächelte wieder. Sie kam sich, wie schon zuvor, wieder albern vor.
»Ma'am«, sagte er, »ich bin seit fünfundzwanzig Jahren Motelmanager und hatte noch nie einen Gast, mit dem ich nicht fertig geworden bin.«
Quinns herablassender, väterlicher Tonfall erboste Tessa zwar, aber sie stritt nicht mit ihm, sondern folgte ihm aus dem Büro hinaus und durch den wallenden Nebel zum anderen Ende des Gebäudes. Er war groß, sie klein, daher fühlte sie sich ein wenig wie ein kleines Kind, das von einem Vater, der ihr zeigen wird, daß kein Monster im Schrank oder unter dem Bett versteckt, in ihr Zimmer zurückbegleitet wird.
Er machte die Metalltür auf, durch die sie aus dem nördlichen Treppenhaus geflohen war, und trat ein. Dort lauerte niemand.
Der Getränkeautomat summte, von der Eismaschine ging ein leises Klappern aus. Ihr mit Halbmonden gefüllter Kübel stand immer noch obenauf.
Quinn schritt durch den winzigen Raum zur Tür, die zum Erdgeschoßflur führte und zog sie auf. »Niemand da«, sagte er und nickte in den stillen Flur. Er machte auch die Tür in der Westwand auf und sah nach rechts und links. Er winkte sie auf die Schwelle und bestand darauf, daß sie sich ebenfalls vergewisserte.
Sie sah einen schmalen, von einem Geländer begrenzten Weg, der an der rückwärtigen Fassade des Hauses zwischen dem Gebäude und dem Rand der Klippe entlang verlief und an jedem Ende von einer gelblichen Laterne erhellt wurde. Verlassen.
»Sie haben gesagt, Sie hätten bereits Geld in den Automaten gesteckt, aber kein Getränk bekommen?« fragte Quinn, während er die Tür zufallen ließ.
»Ganz recht.«
»Was wollten Sie?«
»Nun... Diet Coke.«
Er drückte den entsprechenden Knopf am Automaten, und eine Dose klapperte in die Ausgabe. Er gab sie ihr, deutete auf den Kübel, den sie von ihrem Zimmer mitgebracht hatte, und sagte: »Vergessen Sie Ihr Eis nicht.«
Tessa trug den Eiskübel und die Dose und folgte ihm mit heißer Röte auf den Wangen und kalter Wut im Herzen die Nordtreppe hinauf. Niemand lauerte dort. Die ungeölten Scharniere der Feuertür quietschten, als sie in den Flur im ersten Stock traten, der ebenfalls verlassen war.
Die Tür ihres Zimmers war angelehnt, wie sie sie hinterlassen hatte. Sie zögerte einzutreten.
»Sehen wir nach«, sagte Quinn.
Das kleine Zimmer, der Schrank und das angrenzende Badezimmer waren leer.
»Fühlen Sie sich jetzt besser?« fragte er.
»Ich habe mir nichts eingebildet.«
»Das habe ich auch nicht gesagt«, sagte er, immer noch väterlich.
Als Quinn auf den Hur hinausging, sagte Tessa: »Sie waren da, und sie waren echt, aber ich schätze, jetzt sind sie verschwunden. Sie sind wahrscheinlich weggelaufen, als ihnen klar wurde, daß ich sie entdeckt hatte und Hilfe holen ging.«
»Nun, dann ist jetzt ja alles gut«, sagte er. »Sie sind in Sicherheit. Wenn sie weg sind, dann ist das fast so gut, als wären sie überhaupt nicht dagewesen.«
Es kostete Tessa alle Anstrengung, nicht mehr zu sagen als »vielen Dank«, und dann die Tür zuzumachen. In dem Knauf befand sich ein Druckschloß, das sie hineindrückte. Über dem Knauf befand sich ein Riegel, den sie vorschob. Auch eine Sicherungskette war vorhanden; sie hängte sie ein.
Sie ging ans Fenster und vergewisserte sich, daß es von einem potentiellen Eindringling nicht so leicht geöffnet werden könnte. Als sie auf einen Hebel drückte und zog, glitt die Hälfte des Fensters nach links, aber es konnte nicht von außen geöffnet werden, es sei denn, jemand schlüge die Scheibe ein und streckte die Hand herein, um das Schloß aufzudrehen. Zudem war sie im ersten Stock; ein Eindringling hätte eine Leiter gebraucht.
Sie saß eine Weile im Bett und lauschte den fernen Geräuschen im Motel. Jetzt hörte sich jeder Laut seltsam und bedrohlich an. Sie fragte sich, welchen Zusammenhang, wenn überhaupt, ihr beunruhigendes Erlebnis mit Janices Tod vor drei Wochen haben könnte.
20
Nachdem sie mehrere Stunden in dem Abflußrohr unter der Hangwiese verbracht hatte, wurde Chrissie Foster von Klaustrophobie geplagt. Sie war viel länger in der Vorratskammer neben der Küche eingesperrt gewesen, und die war kleiner, aber das pechschwarze Betonrohr war ungleich schlimmer. Vielleicht fühlte sie sich deshalb beengt und eingesperrt, weil die Tatsache, daß sie den ganzen Tag und den größten Teil in engen Plätzen verbracht hatten, einen kumulativen Effekt hatte.
Vom Superhighway weit oben, wo das Abflußsystem seinen Anfang hatte, drang das laute Dröhnen von Trucks durch die Rohre, was Bilder von fauchenden Drachen in ihrem Verstand weckte. Sie preßte die Hände auf die Ohren, um das Geräusch zu verdrängen. Manchmal lagen die Ge -räusche der Trucks weit auseinander, aber gelegentlich kamen auch sechs, acht oder ein Dutzend hintereinander, dann wurde das anhaltende Dröhnen bedrückend und nervtötend.
Vielleicht hatte ihr Wunsch, aus dem Rohr herauszukommen, auch etwas mit der Tatsache zu tun, daß es unterir-disch lag. Chrissie, die im Dunkeln kauerte, den Trucks und in der zwischen ihnen liegenden Stille nach Anzeichen der Rückkehr ihrer Eltern oder Tucker lauschte, kam sich wie in einem Betonsarg vor - wie lebendig begraben.
Sie las laut aus-dem imaginären Buch über ihre eigenen Abenteuer vor und sagte: »Die junge Chrissie konnte nicht wissen, daß die Leitung bald einstürzen und sich mit Erde füllen, sie zerquetschen und für immer gefangenhalten würde wie einen Käfer.«
Sie wußte, sie sollte bleiben, wo sie war. Vielleicht suchten sie immer noch auf der Wiese oder im Wald nach ihr. Im Rohr war sie sicherer als draußen.
Aber sie war mit einer blühenden Fantasie gestraft. Sie war zwar zweifellos die einzige in diesem licntlosen Ge -bäude, in dem sie kauerte, aber sie stellte sich dennoch unerwünschte Gesellschaft in zahllosen Formen vor: sich windende Schlangen, ganze Hundertschaften Spinnen, Küchenschaben, Ratten, Schwärme bluttrinkender Fledermäuse. Schließlich fragte sie sich, ob im Lauf der Jahre nicht einmal ein Kind in diesen Tunnel gekrochen sein mochte, um zu spielen; es hätte sich im Netz der Rohre verirren und un-entdeckt hier sterben können. Seine Seele wäre selbstverständlich hier zurückgeblieben, weil sein Tod so unangemessen früh erfolgt war, und die Seele nicht durch ein ordentliches Begräbnis befreit worden war. Vielleicht belebte sein Geist gerade die toten Gebeine und schleifte den verwesten, von der Zeit ausgetrockneten Leichnam in ihre Richtung, wobei Stückchen ledrigen, halb versteinerten Fleisches abbröckelten. Chrissie war elf Jahre alt und für ihr Alter sehr reif, daher sagte sie sich immer wieder, daß es keine Gespenster gab, aber dann mußte sie an ihre Eltern und Tucker denken, die zu einer Art von Werwölfen geworden zu sein schienen, um Gottes willen, und wenn große Trucks auf der Autobahn vorüberfuhren, wagte sie kaum noch, sich die Ohren zuzuhalten, weil sie fürchtete, das tote Kind könnte im Schutz des Lärms näher und näher herankriechen.
Sie mußte hinaus.
21
Als er die finstere Garage verließ, in der er vor der Bande jugendlicher Krimineller im Drogenrausch - denn als solche betrachtete er sie mittlerweile; (er wußte keine andere Erklärung) Zuflucht gesucht hatte, lief Sam Booker direkt zur Ocean Avenue und ging unterwegs noch ganz kurz in die Knight's Bridge Tavern, wo er einen Sechserpack Guinness Stout zum Mitnehmen kaufte.
Später saß er in einem Zimmer im Cove Lodge an dem kleinen Tisch und trank Bier, während er über die Fakten des Falles nachdachte. Am 5. September waren drei Organisatoren der Nationalen Farmerarbeitergewerkschaft - Julio Bustamente, seine Schwester Maria Bustamente und Roman Sanchez, Marias Verlobter - von den Weinanbaugebieten, wo sie mit den Winzern Gespräche über die bevorstehende Ernte geführt hatten, nach Süden gefahren. Sie fuhren einen vier Jahre alten braunen Chevy-Lieferwagen. Sie gingen in Moonlight Cove essen. Sie hatten im Perez Family-Restau-rant gegessen und zu viele Margaritas getrunken (wie Kellner und Gäste des Perez an jenem Abend aussagten), und sie hatten auf dem Rückweg zur Autobahn eine gefährliche Kurve zu schnell genommen; der Lieferwagen hatte sich überschlagen und Feuer gefangen. Keiner der drei hatte überlebt.
Die Geschichte hätte vielleicht standgehalten, und das FBI wäre vielleicht nie in die Ermittlungen eingeschaltet worden, wären da nicht ein paar Unstimmigkeiten gewesen. Zunächst einmal war laut Polizeibericht von Moonlight Cove Julio Bustamente gefahren. Aber Julio hatte in seinem ganzen Leben noch kein Auto gefahren; außerdem war es unwahrscheinlich, daß er das nach Einbruch der Dunkelheit getan haben würde, denn er litt an einer Form von Nachtblindheit. Darüber hinaus waren laut der in dem Bericht angeführten Zeugenaussagen alle - Julio und Maria und Ra-mon - betrunken gewesen, aber niemand, der Julia oder Ramon kannte, hatte sie je vorher betrunken gesehen, und Maria war Zeit ihres Lebens Antialkoholikerin gewesen.
Das Verhalten der Behörden von Moonlight Cove machte die Familien Sanchez und Bustamente stutzig. Sie wurden erst am 10. September, fünf Tage nach dem Unglück, von den drei Todesfällen in Kenntnis gesetzt. Polizeichef Loman Watkins hatte erklärt, daß die Ausweise von Julio, Maria und Ramon bei dem Feuer vernichtet worden und die Leichen zu verkohlt waren, um eine schnelle Identifizierung anhand von Fingerabdrücken zu ermöglichen. Was war mit dem Nummernschild des Lieferwagens? Seltsamerweise hatte Loman weder am Fahrzeug noch in der Umgebung der Unfallstelle eines gefunden. Da er es mit drei böse verstümmelten und verbrannten Leichen zu tun hatte und die Verwandten nicht rechtzeitig in Kenntnis setzen konnte, hatte er den Gerichtsmediziner Dr. lan Fitzgerald ermächtigt, die Totenscheine auszufüllen und die Leichen anschließend durch Einäschern zu beseitigen. »Sie müssen verstehen, daß wir nicht über die Einrichtung einer großstädtischen Leichenhalle verfügen«, hatte Watkins erklärt. »Wir können Leichen nicht über längere Zeit hinweg aufbewahren, und wir konnten unmöglich wissen, wieviel Zeit wir brauchen würden, diese Leute zu identifizieren. Wir dachten, es könnte sich um Obdachlose oder gar illegale Einwanderer handeln, und in diesem Fall hätten wir sie nie identifizieren können.«
Hübsch, dachte Sam grimmig, während er sich in dem Sessel zurücklehnte und einen großen Schluck Guinness trank.
Drei Menschen waren eines gewaltsamen Todes gestorben, waren als Opfer eines Unfalls eingestuft und eingeäschert worden, bevor ihre Verwandten informiert wurden, bevor andere Behörden eingeschaltet worden waren, um anhand modernster gerichtsmedizinischer Verfahren herauszufinden, ob die Totenscheine und Polizeiberichte tatsächlich die ganze Wahrheit enthielten.
Die Familien Sanchez und Bustamente vermuteten eine Vertuschungsaktion, die Nationale Farmarbeitergewerkschaft war dessen ganz sicher. Am 12. September beantragte der Präsident der Gewerkschaft die Unterstützung des Fede-ral Bureau of Investigation mit der Begründung, daß antigewerkschaftliche Kräfte für den Tod von Bustamente, Busta-mente und Sanchez verantwortlich wären. Mord fiel im allgemeinen nur dann in die Zuständigkeit des FBI, wenn der mutmaßliche Mörder eine Staatsgrenze überschritten hatte, um die Tat zu begehen, oder während einer Untersuchung oder um nach der Tat einer Bestrafung zu entgehen; oder wenn die Bundesbehörden, wie in diesem Fall, Anlaß zu der Vermutung hatten, daß der Mord als Folge der absichtlichen Verletzung der Bürgerrechte des Opfers begangen worden war.
Am 26. September, nach absurden, aber durchaus üblichen Verzögerungen in der Regierungsbürokratie und der Bundesbehörde, kam ein Team von sechs FBI-Agenten -darunter drei Männer von der wissenschaftlichen Ermitt-lungskomission - zehn Tage lang ins malerische Moonlight Cove. Sie verhörten Polizeibeamte, untersuchten die Unterlagen von Polizei und vom Gerichtsmediziner, nahmen Zeugenaussagen von Leuten auf, die in der Nacht des 5. September im Perez Family-Restaurant gewesen waren, stöberten im Wrack des Chevy auf dem Schrottplatz herum und suchten nach den spärlichen verbliebenen Spuren an der Unfallstelle selbst. Da Moonlight Cove nicht über Landwirtschaft verfügte, konnten sie niemanden finden, den die Belange der Farmarbeitergewerkschaft interessiert oder gar erbost haben könnten, wodurch niemand mehr übrigblieb, der ein Motiv gehabt haben konnte, Organisatoren der Ge -werkschaften zu ermorden.
Sie hatten während der gesamten Ermittlungen die volle und herzliche Unterstützung der hiesigen Polizei und des Gerichtsmediziners. Loman Watkins und seine Leute gingen sogar so weit, sich freiwillig Lügendetektortests zu unterziehen, und alle kamen ohne einen Verdacht auf Täuschungsmanöver durch. Auch der Gerichtsmediziner unterzog sich dem Test und erwies sich als Mann unerschütterlicher Ehrlichkeit.
Trotzdem stank etwas an der Sache zum Himmel.
Die hiesigen Behörden waren beinahe zu eifrig darauf bedacht zu helfen. Und alle sechs FBI-Agenten hatten den Eindruck, als wären sie Gegenstand von Hohn und Spott, wenn sie den Leuten den Rücken zukehrten - obwohl sie keinen der Polizisten je auch nur eine Braue hochziehen, grinsen oder mit einem Kollegen einen vielsagenden Blick wechseln sahen. Man konnte es Bureau-Instinkt nennen, und der war, wie Sam wußte, so verläßlich wie der eines Tieres in der Wildnis.
Und dann mußten auch die anderen Todesfälle in die Überlegungen mit einbezogen werden.
Als sie den Fall Sanchez-Bustamente untersuchten, hatten die Agenten die Unterlagen von Polizei und Gerichtsmedizin der vergangenen Jahre durchgesehen, um festzustellen, mit welchen Routineprozeduren plötzliche Todesfälle - infolge von Unfällen oder sonstwie - in Moonlight Cove behandelt wurden, um herauszufinden, ob die hiesigen Behörden diesen jüngsten Fall anders als die vorherigen behandelt hatten, was auf Komplizenschaft der Polizei bei einer möglichen Vertuschung hätte schließen lassen. Was sie herausfanden, war verwirrend und beunruhigend - aber nicht das, was sie zu finden erwartet hatten. Abgesehen von einem einzigen spektakulären Autounfall, in den ein Teenager mit einem tüchtig aufgemotzten Dodge verwickelt war, war Moonlight Cove ein einzigartig sicherer Wohnort. Die Bewohner waren nie von gewaltsamen Todesfällen heimgesucht worden - bis zum 28. August, acht Tage vor dem Tod von Sanchez und Bustamente, als in den öffentlichen Unterlagen eine ungewöhnliche Serie von Todesfällen auftauchte.
Die vier Angehörigen der Familie Mayser waren in den frühen Morgenstunden des 28. August die ersten Opfer: Me-linda, John und deren Kinder Carrie und Billy. Sie starben bei einem Hausbrand, den die Behörden später Billy zuschoben, der angeblich mit Streichhölzern gespielt hatte. Die vier Leichen wiren so sehr verbrannt, daß man sie lediglich anhand zahnärztlicher Unterlagen identifizieren konnte.
Sam hatte die erste Flasche Guinness leergetrunken und griff nach der zweiten, zögerte aber. Er mußte heute abend noch Arbeit erledigen. Wenn er besonders düsterer Stirn-mung war und anfing, Bier zu trinken, konnte er manchmal nicht mehr aufhören, bis er sich fast bewußtlos betrunken hatte.
Sam hielt sich zum Trost an der leeren Flasche fest und überlegte sich, warum ein Junge, der ein Feuer gelegt hatte, nicht um Hilfe rief und seine Eltern weckte, wenn er sah, daß das Feuer außer Kontrolle geriet. Warum lief der Junge nicht weg, bevor der Rauch ihn betäubt hatte? Und was für eine Art Feuer, wenn nicht eines, das mit Benzin oder einer anderen brennbaren Flüssigkeit unterstützt wurde (und davon stand nichts in den offiziellen Unterlagen), griff so schnell um sich, daß niemand von der Familie entkommen konnte, und verwandelte das Haus - und die Leute darin - zu Asche, bevor die Feuerwehr kommen und löschen konnte.
Wieder sehr hübsch. Die Leichen waren so sehr verbrannt, daß keine Autopsie hätte feststellen können, ob das Feuer nicht von Billy, sondern von jemandem, der die wahre Todesursache verheimlichen wollte, gelegt worden war. Auf Anraten des Bestattungsunternehmers - dem Callans Bestattungsinstitut gehörte und der ebenfalls gerichtsmedizinischer Assistent und daher Verdächtiger bei allen offiziellen Vertuschungsmanövern war - hatte die nächste Anverwandte der Mayers, Melinda Mayers Mutter, die Einäscherung der sterblichen Überreste genehmigt. Damit wurden alle möglichen Beweise vernichtet, die das ursprüngliche Feuer nicht vernichtet hatte.
»Wie geschickt«, sagte Sam laut und legte die Füße auf den anderen Stuhl. »Wie ungemein geschickt und sauber.« Opfer: vier.
Dann am 5. September die Bustamentes und Sanchez. Wieder ein Feuer. Gefolgt von einer überschnellen Einäscherung.
Opfer: sieben.
Am 7. September, als verdampfte Überreste der Busta-mentes und von Sanchez noch in der Luft über Moonlight Cove hätten sein können, ließ ein zwanzigjähriger Bewohner der Stadt, Jim Armes, die Man/Leandra, sein sechs Meter langes Boot, zu Wasser, um früh am Morgen zu segeln - und er wurde nie wieder gesehen. Obwohl er ein erfahrener Seemann war, obwohl der Tag klar und das Meer ruhig war, war er offenbar von einer Strömung aufs offene Meer gezogen worden, denn es wurden keine identifizierbaren Wrackteile ans Ufer gespült.
Opfer: acht.
Sechs Tage, nachdem man im Fall Bustamente-Sanchez aktiv geworden war, hatte das FBI Paula Parkins' Leichnam aus einem Grab in Denver exhumieren lassen. Eine Autopsie ergab, daß die Frau tatsächlich von zahlreichen Tieren zu Tode gebissen und zerfetzt worden war.
Sam erinnerte sich Wort für Wort an die interessantesten Stellen das Autopsieberichts:.. .aber Bißspuren, Schürfwunden, Risse in der Haut und spezielle Verletzungen an Brüsten und Geschlechtsorganen lassen sich nicht völlig mit einem Angriff von Hunden vereinbaren. Zahnmuster und Größe der Bisse passen nicht zum Zahnprofil eines durchschnittlichen Dobermanns oder eines anderen Tieres, das als aggressiv bekannt ist und einen Erwachsenen erfolgreich angreifen könnte. Später, im selben Bericht, hieß es hinsichtlich der wahren Natur von Parkins‘ Angreifern: Rasse unbekannt.
Wie war Paula Parkins wirklich gestorben?
Welches Grauen und Leid hatte sie erlebt?
Wer versuchte, Dobermänner die Schuld unterzuschieben?
Und welchen Beweis hätten die Kadaver der Dobermänner hinsichtlich der Art ihres eigenen Todes und daher der Wahrheit des Polizeiberichts bieten können?
Sam dachte an den seltsamen fernen Schrei, den er heute abend gehört hatte - wie der eines Koyoten, aber nicht von einem Koyoten; wie der einer Katze, aber nicht von einer Katze. Und er dachte auch an die unheimlichen, gepreßten Stimmen der Bande, die ihn verfolgt hatte. Irgendwie paßte das alles Zusammen. Bureau-Instinkt.
Rasse unbekannt.
Der beunruhigte Sam versuchte, seine Nerven mit Guinness zu beschwichtigen. Die Flasche war immer noch leer. Er klickte nachdenklich damit gegen die Zähne.
Sechs Tage nach Parkins‘ Tod und lange vor der Exhumie-rang in Denver fanden zwei weitere Menschen in Moonlight Cove ein unzeitiges Ende. Steve Heinz und Laure Dalcoe, die nicht verheiratet waren, aber zusammen lebten, wurden tot in ihrem Haus am Iceberry Way aufgefunden. Heinz schrieb mit der Maschine einen unverständlichen, nicht unterschriebenen Abschiedsbrief, dann erschoß er Laura im Schlaf mit einer Schrotflinte, bevor er sich selbst das Leben nahm. Dr. lan Fitzgeralds Befund lautete auf Mord-Selbstmord, Fall abgeschlossen. Auf Anraten des Gerichtsmediziners genehmigten die Familien Dalcoe und Heinz die Einäscherung der grausigen Überreste.
Opfer: elf.
»In dieser Stadt findet eine unchristliche Zahl von Einäscherungen statt«, sagte Sam laut und drehte die leere Bierflasche in der Hand.
Die meisten Menschen legten immer noch Wert darauf, daß ihre Liebsten oder sie selbst im Sarg bestattet wurden, wie auch immer der Leichnam aussehen mochte. In den meisten Städten machten Verbrennungen wahrscheinlich ein Viertel oder ein Fünftel der Bestattungen aus.
Als das FBI schließlich im Fall Bustamente-Sanchez ermittelte, fanden die Männer aus San Francisco heraus, daß Jani-ce Capshaw als Valium-Selbstmörderin aufgeführt war. Ihr vom Meer gezeichneter Leichnam war zwei Tage nach ich-rem Verschwinden ans Ufer gespült worden, drei Tage, bevor die Agenten eintrafen, um den Tod der drei Organisatoren zu überprüfen.
Julio Bustamente, Maria Bustamente, Ramon Sanchez, die vier Maysers, Jim Armes, Paula Parkins, Steve Heinz, Laura Dalcoe, Janice Capshaw: zwölf Opfer in weniger als einem Monat - genau zwölfmal soviel gewaltsame Tode, wie in Moonlight Cove in den vorangegangenen dreiundzwanzig Monaten geschehen waren. Bei einer Bevölkerung von gerade dreitausend waren zwölf gewaltsame Todesfälle in nur drei Wochen eine verdammt hohe Sterblichkeitsrate.
Als man ihn nach seiner Reaktion auf diese erstaunliche Kette tödlicher Ereignisse gefragt hatte, hatte Polizeichef Loman Watkins gesagt: »Ja, das ist schrecklich. Und es ist ir-gendwie beängstigend. Aber hier war alles so lange ruhig und friedlich, daß wir wohl statistisch einfach überfällig sind.«
Aber selbst über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg schössen zwölf so gewaltsame Todesfälle in einer Stadt dieser Größe statistisch vollkommen über die Norm hinaus.
Das sechsköpfige Team des Bureau fand nicht den Hauch eines Beweises, daß die hiesigen Behörden etwas mit diesen Fällen zu tun hätten. Der Lügendetektor war zwar kein vollkommen zuverlässiger Wahrheitsfinder, aber die Technologie war hinreichend fortgeschritten, so daß Loman Watkins, seine Beamten, der Gerichtsmediziner und sein Assistent ihn unmöglich alle ohne eine einzige Anzeige von Täuschung hätten passieren können, wenn sie tatsächlich schuldig wären.
Trotzdem...
Zwölf Tote. Vier bei einem Hausbrand verbrannt. Drei in einem schrottreifen Chevy-Lieferwagen verbrannt. Drei Selbstmorde, zwei mit Schrotflinte, einer mit Valium, alle danach in Callans Bestattungsinstitut eingeäschert. Und das einzige Opfer, das für eine Untersuchung zur Verfügung stand, schien nicht von Hunden getötet worden zu sein, wie der Gerichtsmediziner behauptete, obwohl es von etwas gebissen und zerfetzt worden war, verdammt .
Das alles reichte aus, daß das Bureau die Akte offen ließ. Am neunten Oktober, vier Tage, nachdem das Team aus San Francisco Moonlight Cove verlassen hatte, wurde die Entscheidung gefällt, einen Spitzel in die Stadt zu schicken, der sich bestimmte Aspekte der Fälle ansehen sollte, die von einem Mann, der beobachtet wurde, nicht so gut untersucht werden konnten.
Einen Tag nach der Entscheidung, am 10. Oktober, wurde dem Büro in San Francisco ein Brief zugestellt, der die Entschlossenheit des Bureau, an dem Fall dranzubleiben, noch steigerte. Sam hatte sich auch diesen Brief eingeprägt:
Sehr geehrte Herren,
Ich verfüge über Informationen bezüglich einiger jüngster Todesfälle in der Stadt Moonlight Cove. Ich habe Grund zu der Vermutung, daß die hiesigen Behörden an einer Verschwörung mit dem Ziel, Morde zu vertuschen, beteiligt sind.
Ich würde es vorziehen, wenn Sie sich mit mir persönlich in Verbindung setzen würden, da ich nicht sicher bin, ob unser Telefon hier nicht abgehört wird. Ich muß Sie um völlige Diskretion bitten, da ich ein behinderter VietnamVertreter mit gravierenden körperlichen Schäden bin und naturgemäß um die Fähigkeit besorgt bin, mich ggf. selbst zu schützen.
Er war mit Harry G. Talbot unterschrieben.
Aus den Unterlagen der Armee der Vereinigten Staaten ging hervor, daß Talbot tatsächlich ein behinderter VietnamVeteran war. Er war mehrfach für Tapferkeit im Gefecht ausgezeichnet worden. Morgen wollte Sam ihn unauffällig besuchen.
Momentan dachte er noch darüber nach, was er heute nacht noch alles zu tun hätte, und fragte sich, ob er es riskieren könnte, zu dem, was er im Restaurant getrunken hatte, noch eine Flasche Guinness zu trinken. Der Sechserpack stand vor ihm auf dem Tisch. Er sah ihn lange an. Guinness, gutes mexikanisches Essen, Goldie Hawn und Angst vor dem Sterben. Das mexikanische Essen hatte er im Bauch, aber der Geschmack war vergessen. Goldie Hawn wohnte irgendwo mit Kurt Russell, den sie als Zeichen schlechten Geschmacks einem durchschnittlich aussehenden, vernarbten, von jeglicher Hoffnung verlassenen FBI-Agenten vorgezogen hatte, auf einer Ranch. Er dachte an die zwölf toten Männer und Frauen, an Leichen, die in einem Krematorium brannten, bis sie zu Knochensplittern und Asche geworden waren, und er dachte an Mord und Selbstmord mit einer Schrotflinte, an von Fischen angenagte Leichen und an eine bös zerfleischte Frau, und diese Gedanken führten ihn allesamt zu einem morbiden Philosophieren über den Weg allen Fleisches. Er dachte an seine Frau, die an Krebs gestorben war, und er dachte an Scott und an seine Unterhaltung mit ihm per Ferngespräch, und da machte er schließlich die zweite Flasche Bier auf.
22
Verfolgt von imaginären Spinnen, Schlangen, Käfern, Ratten, Fledermäusen und dem möglicherweise imaginären wiederbelebten Leichnam eines toten Kindes, sowie vom echten, aber drachenähnlichen Brüllen ferner Trucks, kroch Chrissie aus dem Nebenrohr, in dem sie Zuflucht gesucht hatte, ging trollgleich das Hauptrohr entlang, trat wieder in die glitschigen Überreste des toten Waschbären und sprang schließlich in den Abflußkanal mit seinen schrägen Betonwänden hinaus. Die Luft war rein und angenehm. Chrissies Klaustrophobie ließ trotz der zweieinhalb Meter hohen Mauern des Grabens, des vom Nebel gefilterten Mondlichts und der verborgenen Sterne nach. Sie sog die kalte, feuchte Luft tief ein, versuchte aber, so leise wie möglich zu atmen. Sie lauschte in die Nacht und wurde nicht lange danach mit diesen seltsamen Rufen belohnt, die von Süden leise aus dem Wald über die Wiese hallten. Sie war, wie schon zuvor, sicher, daß sie drei veschiedene Stimmen unterscheiden konnte. Wenn ihr Vater, ihre Mutter und Tucker im Süden waren und in dem Wald, der bis zum Rand des Geländes von New Wave Mikrotechnologie verlief, nach ihr suchten, konnte sie vielleicht in die Richtung zurückkehren, aus der sie gekommen war, durch den nördlichen Wald zu der Wiese, wo Godiva sie abgeworfen hatte, dann nach Osten zur Country Road und von da nach Moonlight Cove hinein; die anderen würden vergeblich am falschen Ort suchen.
Sie konnte ganz sicher nicht dort bleiben, wo sie war.
Und sie konnte nicht nach Süden laufen, ihnen direkt in die Arme treiben.
Sie kletterte aus dem Graben und lief nach Norden über die Wiese, wobei sie den gleichen Weg wie vorhin einschlug, und während sie lief, summierte sie ihr Elend. Sie hatte Hunger, nichts zu essen und war müde. Die Muskeln in ihren Schultern und dem Rücken waren verkrampft, weil sie so lange in dem engen, kalten Nebenrohr gelegen hatte. Ihre Beine schmerzten.
Und wo liegt das Problem? fragte sie sich, als sie die Baume am Rand der Wiese erreichte. Wärst du lieber von Tuk-ker erwischt und in einen von ihnen >verwandelt< worden?
23
Loman Watkins verließ das Haus der Valdoskis, wo Dr. Worthy sich um die Verwandlung von Nella und George kümmerte. Weiter unten an der Straße luden seine Leute und der Gerichtsmediziner den toten Jungen auf den Leichenwagen. Die Menge der Schaulustigen verfolgte die Szene gebannt.
Loman stieg in den Streifenwagen ein und ließ den Motor an. Der kompakte Monitor leuchtete auf der Stelle sanft grün auf. Die Computerverbindung war an der Konsole zwischen den Vordersitzen montiert. Sie fing an zu blinken, was bedeutete, daß das HQ eine Nachricht für ihn hatte -die sie nicht über den Polizeifunk durchgeben wollten, den jeder leicht abhören konnte.
Obwohl er schon seit ein paar Jahren mit durch Mikrowellen verbundenen mobilen Computern arbeitete, war er manchmal immer noch überrascht, wenn er in den Streifenwagen einstieg und das VDT aufleuchten sah. In Großstädten wie Los Angeles waren die meisten Streifenwagen schon seit fast einem Jahrzehnt mit Computerverbindungen zur zentralen Polizeidatenbank ausgerüstet, aber in kleineren Städten waren diese elektronischen Wunder noch selten, und in Orten wir Moonlight Cove waren sie gar verschwindend gering. Seine Einheit verfügte, nicht nur weil die Ge -meindekassen überquollen, über Technologie auf dem neuesten Stand der Technik, sondern weil New Wave - unter anderem einer der Marktführer, was mikrowellenverbundene Datensysteme anbetraf - die Polizei mit selbstentwickelter Hard- und Software ausgerüstet hatte und das System ständig erneuerte, da sie die Polizei von Moonlight Cove gewissermaßen als Testversuch für jede Verbesserung ansahen, die sie einmal in ihre Produkte einbauen wollten.
Das war eine der Methoden, durch die sich Thomas Shad-dack in die Machtstruktur der Gemeinde infiltriert hatte, noch bevor er durch das Projekt Moonhawk nach totaler Macht griff. Damals war Loman naiv genug gewesen zu glauben, daß New Waves Großzügigkeit ein Segen wäre. Heute wußte er es besser.
Mit dem mobilen VDT konnte Loman sich in den Zentralcomputer im Hauptquartier in der Jacobi Street, einen Block südlich von der Ocean Avenue, einschalten und jede Information in der Datenbank erhalten oder mit dem diensthabenden Funker >sprechen<, der mit dem Computer fast ebenso mühelos mit ihm in Verbindung treten konnte wie über Polizeifunk. Zudem konnte er gemütlich im Streifenwagen sitzen und den Computer der Kraftfahrzeugbehörde in Sac-ramento anfunken, um Auskunft über ein Nummernschild zu erhalten, oder die Datenbank der Gefängnisaufsichtsbehörde in derselben Stadt, um Informationen über einen bestimmten Häftling abzurufen, oder jeden anderen Computer, der ans nationale elektronische Netz der Verbrechensbekämpfung angeschlossen war.
Er rückte den Gurt zurecht, weil er auf dem Revolver saß.
Er gab mit der Tastatur unter dem Displayterminal seine Kennziffer ein und bekam so Zugang zum System.
Die Zeiten, als alle Ermittlungen Beinarbeit der Polizei erfordert hatten, waren schon Mitte der achtziger Jahre zu Ende gegangen. Heute waren nur noch Fernsehpolizisten wie Hunter gezwungen, für die kleinsten Einzelheiten hin und her zu fahren, weil das dramatischer war als eine Beschreibung der High-Tech-Wirklichkeit. Mit der Zeit, dachte Wat-kins, lief der Plattfuß Gefahr, zum Plattarsch zu werden, weil Polizisten stundenlang vor den mobilen VDTs oder am Schreibtisch im Hauptquartier sitzen würden.
Der Computer akzeptierte seine Ziffer.
Das VDT hörte auf zu blinken.
Wenn alle Menschen Neue Menschen geworden und die Probleme mit den Regressiven gelöst worden waren, würde es natürlich keine Verbrechen mehr geben, und die Polizei würde überflüssig werden. Viele Verbrechen entstanden durch soziale Ungerechtigkeit, aber in der bevorstehenden neuen Welt würden alle Menschen gleich sein, so gleich wie eine Maschine der anderen, sie würden alle dieselben Ziele und Begierden und keine widerstreitenden oder konkurrierenden Bedürfnisse haben. Viele Kriminelle waren genetisch belastet, ihr soziopathisches Verhalten buchstäblich in den Chromosomen kodiert; aber die Neuen Menschen würden, abgesehen von regressiven Elementen unter ihnen, in perfektem genetischem Zustand sein. Das jedenfalls war Shad-dacks Vision.
Manchmal fragte sich Loman Watkins, wo in diesem Plan der freie Wille blieb. Vielleicht nirgends. Manchmal schien es ihm einerlei zu sein, ob es ihn gab oder nicht. Dann wieder machte ihm seine Unfähigkeit zu empfinden... nun, sie machte ihm eine Heidenangst.
Wortreihen tauchten von links nach rechts auf dem Bildschirm auf, eine Zeile nach der anderen, hellgrüne Buchstaben auf schwarzem Grund:
FÜR: LOMAN WATKINS SENDER: SHADDACK
JACK TURNER HAT SICH NICHT VON DEN FOSTERS ZURÜCKGEMELDET. NIEMAND GEHT DORT ANS TELEFON. DRINGENDE KLÄRUNG DER SITUATION ERFORDERLICH. ERWARTE IHREN BERICHT.
Shaddack hatte von seinem eigenen Computer in seinem Haus an der nördlichen Spitze der Bucht direkten Zugang zum Computer der Polizei. Er konnte Botschaften für Wat-kins oder jeden anderen Mann durchgeben, die außer dem Empfänger niemand abrufen konnte.
Der Bildschirm wurde leer.
Loman Watkins löste die Handbremse, legte den Gang ein und fuhr in Richtung der Foster-Stallungen, obwohl die außerhalb der Gemarkung und damit nicht mehr in seinem Zuständigkeitsbereich lagen. Er kümmerte sich nicht mehr um Hoheitsgebiete und gesetzliche Vorgehensweisen. Er war nur noch Polizist, weil das eine Rolle war, die er spielen mußte, bevor die ganze Stadt die Verwandlung hinter sich hatte. Die alten Regeln galten nicht mehr für ihn, weil er ein Neuer Mensch war. Noch vor ein paar Monaten hätte ihn eine solche Mißachtung des Gesetzes abgestoßen, aber inzwischen rührten ihn seine Arroganz und die Verachtung für die Gesellschaft der Alten Menschen überhaupt nicht mehr.
Meistens rührte ihn überhaupt nichts mehr. Tag für Tag, Stunde für Stunde wurde er weniger emotional.
Abgesehen von der Angst, die sein neues angehobenes Bewußtseinsstadium immer noch zuließ: Angst, weil sie ein Überlebensmechanismus und damit auf eine Weise nützlich war, wie es Liebe und Freude und Hoffnung und Hingabe nicht waren. Er hatte Angst davor, das Projekt Moonhawk könnte irgendwie der Öffentlichkeit enthüllt und zunichte gemacht werden - und er mit ihm. Er hatte Angst vor Shad-dack, seinem neuen Herrn und Meister. Manchmal, in flüchtigen, düsteren Augenblicken, hatte er sogar Angst vor sich selbst und vor der bevorstehenden neuen Welt.
24
Moose döste in einer Ecke des dunklen Schlafzimmers. Er schnaufte im Schlaf, weil er möglicherweise in einen Traum Kaninchen mit buschigen Schwänzen jagte - obwohl er als guter Behindertenhund wahrscheinlich sogar in seinen Träumen Botengänge für seinen Herrn erledigte. Harry, der am Fenster in seinem Stuhl festgeschnallt war, beugte sich über das Teleskop und studierte den Hinterhof von Callans Bestattungsinstitut an der Juniper Lane, wo der Leichenwagen gerade vorgefahren war. Er beobachtete Victor Callan und Ned Ryedock, den Assistenten des Unternehmers, wie sie mit der Rollbahre einen Leichnam aus dem schwarzen Cadillac in den Einbalsamierungs- und Krematoriumsflügel beförderten. Die Leiche, die sich in einem nur halb geschlossenen schwarzen Plastiksack befand, war so klein, daß es sich um ein Kind handeln mußte. Sie machten die Tür hinter sich zu, und Harry konnte nichts mehr sehen.
Manchmal ließen sie die Rolläden an den beiden hohen, schmalen Fenstern oben, dann konnte Harry aus seiner hohen Position in das Zimmer sehen, bis zu dem geneigten und mit Abflußrinnen versehenen Tisch, auf dem die Toten einbalsamiert und für die Aufbahrung vorbereitet wurden. Dann konnte er viel mehr sehen als er sehen wollte. Aber heute waren die Rolläden bis zu den Fenstersimsen heruntergelassen.
Er verlagerte seinen Sehbereich ganz langsam südwärts den schmalen nebelverhangenen Zufahrtsweg zum Institut entlang, der zwischen Conquistador und Jumper verlief. Er suchte nicht nach etwas Bestimmten, sondern sondierte nur langsam, als er ein paar grokeske Gestalten sah. Sie waren schnell und dunkel und liefen den Weg entlang zu dem unbebauten Grundstück neben dem Bestattungsinstitut; sie rannten weder auf allen vieren noch aufrecht, obwohl doch mehr ersteres als letzteres.
Schreckgespenster. Harry s Herz schlug schneller.
Er hatte ihresgleichen in den vergangenen vier Wochen dreimal gesehen, aber beim ersten Mal hatte er nicht geglaubt, was er gesehen hatte. Sie waren so schattenhaft und seltsam gewesen, und er hatte sie nur so kurz gesehen, daß sie wie Phantome der Einbildung wirkten; daher nannte er sie Schreckgespenster.
Sie waren schneller als Katzen. Sie hasteten durch seinen Sehbereich und verschwanden im dunklen, freien Platz, bevor er seine Überraschung überwinden und ihnen folgen konnte.
Danach suchte er das Grundstück von einem Ende zum anderen und von vorne nach hinten ab, um sie in dem fast einen Meter hohen Gras zu entdecken. Auch Büsche boten ihnen Verstecke. Wilder Holunder und ein paar vereinzelte Chaparralbüsche ragten auf und hielten den Nebel fest, als wäre er Baumwolle.
Aber er fand sie. Zwei gebückte Gestalten. Mannsgroß. Nur etwas weniger schwarz als die Nacht. Konturlos. Sie kauerten im trockenen Gras in der Mitte des Grundstücks, nördlich einer gewaltigen Fichte, die ihre Zweige (allesamt hoch oben) wie einen Baldachin über das halbe Gelände breitete.
Harry stellte die Vergrößerung zitternd auf diesen speziellen Ausschnitt und justierte den Brennpunkt. Die Umrisse der Schreckgespenster wurden scharf. Ihre Körper wurden blasser im Kontrast zur Nacht um sie herum. Aber wegen der Dunkelheit und dem Nebel konnte er immer noch keine Einzelheiten erkennen.
Es war ziemlich teuer und schwer zu bekommen, trotzdem wünschte er sich jetzt, er hätte durch seine Beziehungen zum Militär ein Tele-Tron erstanden, eine neue Version des Star-Tron-Nachtsichtgeräts, das jahrelang von den meisten Streitkräften benutzt worden war. Ein Star-Tron nahm vorhandenes Licht - Mondlicht, Sternenlicht, schwaches elektrisches Licht, sofern vorhanden, die vage natürliche Strahlung bestimmter Mineralien in Krume und Felsen -und verstärkte es fünfundachtzigtausendfach. Mit diesem Gerät ließ sich eine undurchdringliche Nachtschwärze in zwielichtige Dämmerung oder gar spätnachmittägliches Grau aufhellen. Das Tele-Tron verwendete dieselbe Technologie wie das Star-Tron, aber es war entwickelt worden, damit es zu Teleskopen paßte. Das gewöhnlich vorhandene Licht reichte für Harrys Zwecke aus, und er sah meistens durchs Fenster in hell erleuchtete Zimmer; aber um die verstohlenen und schnellen Schreckgespenster zu studieren, hätte er High-Tech-Hilfe gebraucht.
Die schemenhaften Gestalten sahen nach Westen zur Juniper Lane, dann nach Norden zu Callans Institut, dann nach Süden zu dem Haus, das, neben dem Bestattungsinstitut, das unbebaute Grundstück flankierte. Sie drehten die Köpfe mit raschen, geschmeidigen Bewegungen, die Harry an Katzen denken ließen, obwohl sie eindeutig nicht katzenhaft waren. Einer sah nach Osten zurück. Weil Harry mit dem Teleskop praktisch mit den Schreckgespenstern auf der Wiese stand, sah er deren Augen - blaßgolden, schwach leuchtend. Er hatte vorher noch nie ihre Augen gesehen. Er erschauerte, aber nicht nur, weil sie so ungewöhnlich waren. Diese Augen hatten etwas Vertrautes, etwas, das tiefer als Harrys bewußter oder-unbewußter Verstand reichte und vages Erkennen und primitive, in seinen Genen gespeicherte Rassenerinnerung auslöste.
Plötzlich war ihm kalt bis auf die Knochen, und er verspürte eine Angst, die schlimmer war als alles, was er seit Vietnam erlebt hatte.
Moose war, obwohl er döste, empfänglich für die Stimmungen seines Herrn. Der Labrador stand auf, schüttelte sich, wie um den Schlaf abzuschütteln, und kam zum Stuhl. Er gab einen leisen, winselnden, fragenden Laut von sich.
Hany sah das Alptraumgesicht eines Schreckgespenstes durch das Teleskop. Er erblickte es nur einen Augenblick lang, bestenfalls zwei Sekunden, und das mißgestaltete Gesicht wurde kaum von ätherischem Mondschein erhellt, daher sah er nur wenig; tatsächlich offenbarte das unzureichende Mondlicht das Ding nicht, sondern trug nur dazu bei, es noch geheimnisvoller zu machen.
Aber er war fasziniert davon, gebannt, erstarrt.
Moose fragte ein fragendes: »Wuff?«
Einen Augenblick lang hätte Harry das Teleskop nicht loslassen können, auch wenn sein Leben davon abhängig gewesen wäre, und er studierte das affenähnliche Antlitz, obwohl es häßlicher und teuflischer und unendlich viel seltsamer als das Gesicht eines Affen war. Er fühlte sich an Wölfe erinnert, und in der Dunkelheit schien das Ding auch einen reptilienhaften Aspekt zu haben. Er glaubte, den emaillenen Schimmer spitzer Zähne und klaffender Kiefer zu sehen. Aber das Licht war schlecht, und er war nicht si cher, wieviel von dem, was er sah, Täuschung von Schatten oder Verzerrungen des Nebels waren. Ein Teil dieser diabolischen Vision mußte sicher seiner überhitzten Fantasie zugeschrieben werden. Ein Mann mit einem Paar nutzloser Beine und einem toten Arm mußte eine lebhafte Fantasie haben, wenn er durchs Leben kommen wollte.
So plötzlich das Schreckgespenst in seine Richtung gesehen hatte, sah es auch wieder weg. Gleichzeitig bewegten sich die beiden Geschöpft mit einer animalischen Gewandtheit und Schnelligkeit, die Harry verblüffte. Sie waren fast so groß wie Raubkatzen, und ebenso schnell. Er drehte das Teleskop, um ihnen zu folgen, und sie flogen buchstäblich durch die Dunkelheit über das unbebaute Grundstück nach Süden, wo sie über den Lattenzaun in den Garten des Clay-more-Hauses kletterten und mit solcher Schnelligkeit verschwanden, daß er sie nicht im Teleskop behalten konnte.
Er suchte weiter nach ihnen, bis zur High School in der Roshmore Street, aber er sah nur Nacht und Nebel und die vertrauten Gebäude der Nachbarschaft. Die Schreckgespenster waren so schnell verschwunden, wie sie immer aus den Zimmern kleiner Jungs verschwanden, wenn das Licht eingeschaltet wurde.
Schließlich nahm er das Gesicht vom Teleskop und sank auf den Stuhl zurück.
Moose stieg sofort mit den Vorderpfoten auf die Armlehne und bettelte darum, gestreichelt zu werden, als hätte er gesehen, was sein Herrchen gesehen hatte, und brauchte die Bestätigung, daß böse Geister nicht in Wirklichkeit durch die Welt streiften.
Harry streichelte den Kopf des Labradors mit der guten rechten Hand, die anfangs stark zitterte. Nach einer Weile beruhigte ihn das Streicheln fast ebensosehr wie den Hund. Wenn das FBI auf den Brief reagierte, den er vor über einer Woche geschrieben hatte, wußte er nicht, ob er die Schreckgespenster erwähnen würde. Er würde ihnen alles erzählen, was er gesehen hatte, und vieles konnte nützlich für sie sein. Aber das... Einerseits war er sicher, daß die Bestien, die er mittlerweile viermal so flüchtig zu Gesicht bekommen hatte, irgendwie mit den seltsamen Ereignissen der vergangenen Wochen zusammenhingen. Aber sie lagen in einer anderen Größenordnung des Seltsamen, und wenn er von ihnen sprach, würde er vielleicht wunderlich, wenn nicht gar verrückt wirken, so daß die Agenten der Bureaus alles andere anzweifeln könnten, was er zu sagen hatte.
Bin ich wunderlich? fragte er sich, während er Moose tätschelte. Bin ich verrückt?
Nachdem er zwanzig Jahre an den Rollstuhl und ans Haus gefesselt war und praktisch nur durch das Teleskop und das Fernglas lebte, war er vielleicht so verzweifelt darauf aus, zur Welt zu gehören und so gierig nach Aufregung, daß er sich eine gigantische Verschwörungsfantasie am Rande des Unheimlichen zusammengereimt hatte, sich selbst als >Mann der Bescheid weiß< ins Zentrum rückte und davon überzeugt war, seine Trugbilder wären real. Aber das war höchst unwahrscheinlich. Der Krieg hatte seinen Körper verkrüppelt und schwach gemacht, aber sein Verstand war so scharf und klar wie immer, vielleicht durch das Unglück noch ausgeprägter und schneller. Das war sein Fluch, nicht der Wahnsinn.
»Schreckgespenster«, sagte er zu Moose.
Der Hund hechelte.
»Was kommt als nächstes? Werde ich eines Tages zum Mond aufsehen und eine Hexe auf dem Besenstiel erblik-ken?«
25
Chrissie kam am Pyramid Rock, der einst ihre Fantasie beflügelt hatte, sich zentimetergroße Ägypter vorzustellen, aus dem Wald heraus. Sie sah nach Westen, zum Haus und den Foster-Stallungen, wo die Lichter jetzt im Nebel regenbogenfarbene Auren hatten. Einen Augenblick später spielte sie mit dem Gedanken, dorthin zurückzukehren und Godiva oder ein anderes Pferd zu holen. Vielleicht konnte sie sich sogar ins Haus schleichen und eine Jacke holen. Aber sie entschied, daß sie zu Fuß sicherer und nicht so auffällig sein würde. Außerdem war sie nicht so dumm wie die Filmheldinnen, die immer wieder zum Bösen Haus zurückkehrten, obwohl sie wußten, daß das Böse Ding sie dort wahrscheinlich finden würde. Sie wandte sich nach Ost-Nordost und lief über die Wiese zur Landstraße.
Dank ihrer üblichen Klugheit - dachte sie, als würde sie eine Zeile aus einem Abenteuerroman lesen - wandte sich Chrissie schlau von dem verfluchten Haus ab und floh in die Nacht, und sie fragte sich, ob sie diesen Ort ihrer Jugend jemals wiedersehen oder Trost in den Armen ihrer jetzt entfremdeten Familie finden würde.
Hohes, herbstlich trockenes Gras schlug gegen ihre Beine, als sie zur Mitte des Feldes lief. Sie hielt sich nicht an der Baumgrenze, sondern wollte im offenen Gelände sein, damit sie nicht von etwas von den Bäumen herab angesprungen würde. Sie glaubte nicht, daß sie ihnen entkommen könnte, wenn sie sie erst einmal entdeckt hätten, nicht einmal, wenn sie Minuten Vorsprung hätte, aber sie wollte sich wenigstens die Chance lassen, es zu versuchen.
Während sie in dem Rohr Zuflucht gesucht hatte, war die Nacht noch kälter gewesen. Ihr Flanellhemd schien nicht mehr zu wärmen als eine kurzärmelige Sommerbluse. Wäre sie eine Heldin der Art, wie sie Ms. Andre Norton schuf, dann wüßte sie, wie sie sich aus Gras und anderen Pflanzen einen Mantel mit hohem Isolierfaktor weben könnte. Oder sie wüßte, wie man Pelztiere fing und schmerzlos tötete, wie man ihre Felle gerbte und zusammennähte, um sich in Gewänder zu hüllen, die ebenso erstaunlich modisch wie praktisch waren.
Sie mußte einfach aufhören, an die Heldinnen dieser Bücher zu denken. Ihre vergleichsweise Unfähigkeit deprimierte sie.
Und sie hatte schon genügend Gründe, deprimiert zu sein. Sie war aus ihrem Haus vertrieben worden. Sie war allein, hungrig, fror, war verwirrt und hatte Angst - und sie wurde von unheimlichen und gefährlichen Kreaturen verfolgt. Und das Wesentliche... ihre Mutter und ihr Vater waren stets ein wenig distanziert gewesen, sie hatten ihre Zuneigung nie sehr deutlich zur Schau gestellt, dennoch hatte Chrissie sie geliebt, und jetzt waren sie dahin, vielleicht für immer, auf eine Weise verwandelt, die sie nicht verstand, lebend, aber ohne Seele, und damit so gut wie tot.
Als sie noch schätzungsweise dreißig Meter von der zweispurigen Landstraße entfernt war, die hier parallel zur Einfahrt verlief, hörte sie einen Automotor. Sie sah Scheinwerfer auf der Straße, die von Süden kamen. Dann sah sie das Auto selbst, denn in dieser Richtung war der Nebel dünner als in Richtung Meer, daher war die Sicht einigermaßen gut. Sie konnte selbst auf diese Entfernung erkennen, daß es sich um einen Streifenwagen handelte; die Sirene war zwar nicht eingeschaltet, aber blau und rote Lichter blinkten auf dem Dach. Der Streifenwagen bremste und bog in den Zufahrtsweg zu den Foster-Stallungen ein.
Chrissie hätte beinahe gerufen, wäre beinahe zu dem Auto gelaufen, weil man ihr stets beigebracht hatte, daß Polizisten Freunde waren. Sie hob sogar schon eine Hand und winkte, aber dann überlegte sie sich, daß sie in einer Welt, in der sie nicht einmal ihren eigenen Eltern trauen konnte, schon gar nicht davon ausgehen durfte, daß Polizisten nur ihr Bestes wollten.
Beunruhigt von dem Gedanken, daß die Polizisten >ver-wandelt< worden sein konnten, so wie Tucker sie verwandeln wollte und wie ihre Eltern verwandelt worden waren, ließ sie sich fallen und kauerte sich im hohen Gras nieder. Als das Auto in die Einfahrt ein gebogen war, hatten die Scheinwerfer sie nicht einmal gestreift. Dunkelheit und Nebel machten sie zweifellos unsichtbar für die Insassen des Streifenwagens, und sie war nicht gerade so ungeheuer groß, daß man sie auf ebenem Land deutlich hätte sehen können. Aber sie wollte kein Risiko eingehen.
Sie sah dem Auto nach, das den langen Zufahrtsweg entlangfuhr. Neben Tuckers Auto, das auf halbem Weg abgestellt war, hielt es kurz an und fuhr dann weiter. Der dichtere Nebel im Westen verschluckte es.
Sie erhob sich aus dem Gras und eilte weiter nach Osten, zur Landstraße. Sie wollte der Straße nach Süden folgen, bis nach Moonlight Cove. Wenn sie wachsam und aufmerksam bliebe, könnte sie von der Straße herunter in den Graben oder hinter ein Gebüsch kriechen, wenn sie näherkommenden Verkehr hörte.
Sie wollte sich niemandem zeigen, den sie nicht kannte. Wenn sie in der Stadt wäre, könnte sie zur Our Lady of Mer-cy Kirche gehen und Hilfe bei Pater Castelli suchen. (Er sagte, er wäre ein moderner Priester und wollte lieber Pater Jim genannt werden, aber Chrissie hatte ihn nie so formlos anreden können.) Chrissie war beim Sommerfest der Kirche eine unermüdliche Arbeiterin gewesen, und sie hatte sehr zu Pater Castellis Entzücken den Wunsch geäußert, daß sie nächstes Jahr Altarmädchen sein wollte. Sie war sicher, er mochte sie und würde ihre Geschichte glauben, wie unglaublich sie sich auch anhören würde. Wenn er ihr nicht glaubte... nun, dann würde sie es bei Mrs. Tokawa versuchen, ihrer Lehre -rin der sechsten Klasse.
Sie kam zur Landstraße, verharrte und sah zu dem fernen Haus zurück, das nur noch eine Ansammlung leuchtender Pünktchen im Nebel war. Sie wandte sich erschauernd nach Süden, Richtung Moonlight Cove.
26
Die Eingangstür des Foster-Hauses war der Nacht geöffnet. Loman Watkins durchsuchte es von unten nach oben und wieder zurück. Die einzigen merkwürdigen Dinge, die er fand, waren ein umgekippter Stuhl in der Küche und Jack Turners schwarze Tasche voll Spritzen und Phiolen der Droge, mit der die Verwandlung bewerkstelligt wurde - eine Sprühdose WD-40 auf dem Boden des Erdgeschoßflurs.
Er machte die Eingangstür hinter sich zu, trat auf die Veranda, blieb auf den Stufen zum Vorgarten stehen und lauschte in die ätherisch stille Nacht. Ein träger Wind war während der gesamten Nacht in Böen gekommen und gegangen, aber jetzt hatte er völlig nachgelassen. Die Luft war unheimlich still. Der Nebel schien alle Laute zu dämpfen und machte die Welt so still, als wäre sie ein einziger unermeßlicher Friedhof.
Loman sah zu den Ställen und rief: »Tucker! Foster! Ist jemand da?«
Das Echo seiner Stimme hallte zu ihm zurück. Es war ein kalter, einsamer Laut.
Niemand antwortete ihm.
»Tucker? Fester?«
In einem der Ställe brannte Licht, am näher gelegeneren Ende stand die Tür offen. Er dachte, daß er hingehen und sich das ansehen sollte.
Loman hatte den halben Weg zurückgelegt, als ein hallender Schrei, dem zitternden Ton eines fernen Horns nicht unähnlich, vom Süden ertönte, leise aber unmißverständlich. Er war schrill und dennoch kehlig, und voll Zorn, Sehnsucht, Erregung und Begierde. Der Schrei von Regressiven bei der Jagd.
Ihre Schreie machten ihn frösteln.
Und erfüllten ihn mit einer seltsamen Sehnsucht.
Nein.
Er ballte die Hände so fest zu Fäusten, daß sich die Fingernägel in die Handflächen gruben, und drängte die Dunkelheit zurück, die in ihm emporwallen wollte. Er versuchte, sich auf Polizeiarbeit und die naheliegenden Probleme zu konzentrieren.
Wenn die Schreie von Alex Fester, Sharon Foster und Jack Tucker kamen - was höchstwahrscheinlich der Fall war -, wo war dann Christine, das Mädchen?
Vielleicht war sie entkommen, als sie ihre Verwandlung vorbereitet hatten. Der umgekippte Küchenstuhl, Tuckers einsame schwarze Tasche und die offene Eingangstür schienen diese beunruhigende Erklärung zu unterstützen. Bei der Verfolgung des Mädchens und in der Aufregung der Jagd hatten die Fosters und Tucker vielleicht dem latenten Drang zur Regression nachgegeben. Dem möglicherweise gar nicht so latenten Drang. Sie hatten vielleicht schon früher Regressionen durchgemacht und sich diesmal rasch und willig dem veränderten Stadium ergeben. Und jetzt jagten sie Christine in der Wildnis im Süden - oder hatten sie schon längst erwischt und in Stücke gerissen und waren immer noch regressiv, weil sie dunkle Erregung an dieses niedere Stadium empfanden.
Die Nacht war kühl, aber Loman schwitzte plötzlich.
Er wollte... brauchte...
Nein!
Erst heute hatte Shaddack Loman gesagt, daß die Tochter der Fosters den Schulbus verpaßt hätte und von der Bushaltestelle an der Landstraße nach Hause zurückgekehrt wäre, wo sie ihre Eltern dabei überraschte, wie sie mit ihren neuen Fähigkeiten experimentierten. Daher mußte das Kind früher als geplant der Verwandlung unterzogen werden; das erste Kind, das verwandelt werden sollte. Aber >experimentiert< war vielleicht eine Lüge, die sich die Fosters ausgedacht hatten, um ihre Haut zu retten. Vielleicht waren sie in tiefer Regression gewesen, als das Mädchen hereingekommen war, was sie Shaddack nicht mitteilen konnten, ohne sich zu Degenerierten unter den Neuen Menschen zu machen.
Die Verwandlung sollte die Menschheit vorwärtsbringen; sie war eine erzwungene Evolution.
Willige Regression war dagegen eine kranke Perversion der Macht, die die Veränderung verlieh. Die Regressiven waren Ausgestoßene. Und die Regressiven, die nur wegen des Kitzels der Jagd töteten, waren die Schlimmsten von allen: Psychopathen, die sich für Devolution statt Evolution entschieden hatten.
Die fernen Schreie ertönten erneut.
Ein Zittern lief an Lomans Wirbelsäule entlang. Es war ein angenehmes Zittern. Er wurde von dem starken Verlangen erfüllt, die Kleider auszuziehen, auf den Boden zu sinken und nackt und ungehindert mit langen, anmutigen Schritten durch die Nacht zu streifen, über die Wiesen und in den Wald, wo alles wild und wunderschön war, wo Beute nur darauf wartete, gefunden und gestellt und niedergeworfen und zerrissen...
Nein.
Kontrolle.
Selbstbeherrschung.
Die fernen Schreie durchbohrten ihn.
Er mußte Selbstbeherrschung aufbieten.
Sein Herz schlug heftig.
Die Schreie. Die süßen, gierigen, wilden Schreie...
Loman fing an zu zittern, dann schüttelte er sich heftig, als er sich im Geiste vorstellte, wie er von der starren Haltung des Homo erectus befreit wurde, und ebenso von den Behinderungen zivilisierter Umgangsformen und kultivierten Benehmens. Wenn der urtümliche Mensch in ihm endlich freigesetzt werden und in seinem natürlichen Zustand leben könnte...
Nein. Undenkbar.
Seine Beine wurden schwach, er fiel zu Boden, aber nicht auf alle viere, nein, denn diese Haltung würde ihn ermutigen, sich diesen unaussprechlichen Begierden zu ergeben; statt dessen rollte er sich auf der Seite in eine embryonale Haltung zusammen, zog die Knie bis zur Brust und kämpfte gegen den immer stärker werdenden Drang der Regression. Seine Haut wurde so heiß, als hätte er stundenlang in der Sommersonne gelegen, aber ihm wurde klar, daß die Hitze nicht von einer äußerlichen Quelle stammte, sondern tief aus seinem Innersten kam; das Feuer stammte nicht nur aus den lebenswichtigen Organen oder dem Knochenmark, sondern aus dem Material in seinen Zellwänden, aus Milliarden Zellkernen, in denen sich das genetische Material befand, das ihn zu dem machte, was er war. Allein in Dunkelheit und Nebel vor dem Haus der Fosters, von den hallenden Schreien der Regressiven verführt, sehnte er sich danach, die Kontrolle über seinen Körper auszunützen, die ihm die Verlockung gegeben hatte. Aber er wußte, wenn er dieser Verlockung einmal nachgäbe, würde er nie wieder Loman Wat-kins sein; er wäre ein Degenerierter, der sich als Loman Watkins verkleidete, Mr. Hyde in einem Körper, aus dem er Dr. Jekyll für immer vertrieben hätte.
Er sah mit gesenktem Kopf auf seine Hände, die er an die Brust gepreßt hatte, und er glaubte im spärlichen Licht aus den Fenstern des Poster-Hauses zu sehen, wie sich einige seiner Finger zu verändern anfingen. Schmerz pochte durch seine rechte Hand. Er spürte, wie sich die Knochen auflösten und neu bildeten, wie die Knöchel anschwollen und die Glieder sich neu dehnten, wie die Fingerkuppen breiter und dicker wurden, die Sehnen und Muskeln kräftiger, die Nägel härter und schärfer, mit krallenähnlichen Spitzen.
Er schrie voller Entsetzen, leugnete die Tatsachen und zwang sich mit aller Kraft, an seiner angeborenen Identität, an dem, was ihm von seiner Menschlichkeit noch blieb, festzuhalten. Er widerstand der lavagleichen Bewegung seines lebenden Zellgewebes. Er wiederholte seinen Namen durch zusammengebissene Zähne - »Loman Watkins, Loman Wat-kins, Loman Watkins« -, als wäre er ein Zauberspruch, der seine böse Verwandlung verhindern konnte.
Die Zeit verging. Vielleicht eine Minute. Vielleicht zehn. Eine Stunde. Er wußte es nicht. Sein Bemühen, die eigene Identität zu bewahren, hatte ihn in ein zeitloses Stadium der Bewußtlosigkeit versetzt.
Er kam allmählich wieder zur Besinnung. Und stellte erleichtert fest, daß er immer noch unverändert auf dem Boden vor dem Haus lag. Er war schweißgebadet. Aber das weißglühende Feuer in seinem Körper war erloschen. Seine Hände waren so, wie sie immer gewesen waren, die Finger nicht mißgestaltet in die Länge gezogen.
Er lauschte eine Weile in die Nacht. Er hörte die fernen Schreie nicht mehr, und er war dankbar für die Stille.
Die Angst, die einzige Empfindung, die nicht täglich schwächer und kraftloser geworden war, seit er zu einem Neuen Menschen geworden war, tobte jetzt scharf wie Messer in ihm und veranlaßte ihn zu schreien. Er hatte schon lange vermutet, daß er einer derjenigen war, die das Potential der Regression in sich hatten, und jetzt hatte sich diese dunkle Vermutung als Wahrheit erwiesen. Hätte er sich seinem Sehnen ergeben, hätte er sowohl die alte Welt verloren, die er vor seiner Verwandlung gekannt hatte, und die schöne neue Welt, die Shaddack erschuf; er würde zu keiner gehören.
Schlimmer: Er fing an zu argwöhnen, daß er nicht der einzige war, daß alle Neuen Menschen den Keim der Devolution in sich trügen. Die Zahl der Regressiven schien Nacht für Nacht größer zu werden.
Er erhob sich zitternd.
Jetzt, wo das innere Feuer erloschen war, war der Schweißfilm auf seiner Haut wie eine Eiskruste.
Als er benommen zum Streifenwagen taumelte, fragte sich Loman Watkins, ob Shaddacks Forschungen - und die technologischen Früchte, die sie trugen - so grundlegend falsch wären, daß die Verwandlung überhaupt keinerlei Verbesserungen brächte. Vielleicht war sie ein unumkehrbarer Fluch. Wenn die Regressiven keinen statistisch vernachlässigbaren Teil der Neuen Menschen bildeten, wenn sie statt dessen alle früher oder später zur Regression verdammt waren...
Er dachte an Thomas Shaddack in seinem großen Haus an der Nordspitze der Bucht, wo es die Stadt überblickte, in der die von ihm erschaffenen Bestien durch die Schatten streiften, und eine schreckliche Leere überkam ihn. Lesen war, seit er ein Junge gewesen war, seine liebste Freizeitbeschäftigung gewesen, daher dachte er jetzt an H. G. Wells' Dr. Moreau und fragte sich, ob Shaddack dazu geworden war. Zu einer Reinkarnation Moreaus. Shaddack konnte ein Moreau des Zeitalters der Mikrotechnologie sein, der von einer wahnsinnigen Vision der Transzendenz durch erzwungene Verschmelzung von Mensch und Maschine besessen war. Er litt eindeutig an Größenwahn und war überzeugt, daß er die Menschheit auf eine neue Stufe der Evolution heben konnte, so wie der ursprüngliche Moreau überzeugt gewesen war, er könnte Menschen aus wilden Tieren erschaffen und Gott bei seinem ureigenen Spiel besiegen. Wenn Shaddack nicht das Genie seines Jahrhunderts war, wenn er wie Moreau, zu hoch griff, dann waren sie allesamt zum Untergang verurteilt.
Loman stieg ins Auto ein und schlug die Tür zu. Er ließ den Motor an und machte die Heizung an, um seinen schweißgekühlten Körper zu wärmen.
Der Computerschirm leuchtete auf und wartete auf Benutzung.
Um das Projekt Moonhawk zu schützen - das, mit Makeln behaftet oder nicht, die einzige Hoffnung auf eine Zukunft für ihn bot -, mußte er davon ausgehen, daß das Mädchen, Christine, entkommen war und die Fosters und Tucker sie nicht erwischt hatten. Er mußte dafür sorgen, daß Männer unauffällig an der Landstraße und auf den Straßen, die von Norden nach Moonlight Cove hineinführten, Wache standen. Wenn das Mädchen in die Stadt kam und Hilfe suchte, konnten sie sie festnehmen. Sie würde mit ihrer Geschichte von den besessenen Eltern höchstwahrscheinlich sowieso unwissend zu einem der Neuen Menschen gehen, und das wäre ihr Ende. Und selbst wenn sie zu Leuten kam, die noch nicht verwandelt waren, würde ihr wahrscheinlich niemand ihre wilde Geschichte glauben. Aber er konnte es sich nicht leisten, ein Risiko einzugehen.
Er mußte mit Shaddack über Verschiedenes reden und sich um mehrere Polizeiaufgaben kümmern.
Und er brauchte etwas zu essen.
Er war unmenschlich hungrig.
27
Etwas stimmte nicht, etwas stimmte nicht, etwas, etwas.
Mike Peyser war durch den dunklen Wald zu seinem Haus am südöstlichen Stadtrand geschlichen, durch die wilden Hügel und Bäume herab, verstohlen und wachsam, listig und schnell, nackt und behende, er kehrte von der Jagd zurück, Blut im Mund, immer noch erregt, aber müde, nachdem er zwei Stunden lang mit seiner Beute gespielt hatte, und jetzt stahl er sich vorsichtig an den Häusern der Nachbarn vorbei, von denen manche zu seiner Art gehörten und manche nicht. Die Häuser in dieser Gegend standen weit auseinander, daher fiel es ihm ziemlich leicht, von Schatten zu Schatten, von Baum zu Baum zu schleichen, durch das hohe Gras, dicht am Boden, im Schütze der Nacht, geschwind und behende, still und behende, nackt und still, kräftig und geschwind, direkt zur Veranda seines einstöckigen Hauses, wo er alleine lebte, durch die unverschlossene Tür, in die Küche, immer noch den Geschmack von Blut im Mund, Blut, herrliches Blut, im Hochgefühl der Jagd, aber auch froh, wieder daheim zu sein, aber...
Etwas war falsch.
Falsch, falsch, Gott, er verbrannte, war voller Feuer, heiß, verbrannte, brauchte Essen, Nahrung, Treibstoff, Treibstoff, und das war normal, damit hatte man rechnen können - die Bedürfnisse seines Körpers waren immens, wenn er in diesem veränderten Stadium war -, aber das Feuer war nicht falsch, nicht das innere Feuer, nicht das hektische und allumfassende Verlangen nach Nahrung. Falsch war, er konnte nicht, konnte nicht, konnte nicht...
Er konnte sich nicht zurückverwandeln.
Erregt von den außerordentlichen geschmeidigen Bewegungen seines Körpers, von der Art und Weise, wie sich seine Muskeln streckten und spannten, streckten und spannten, so betrat er das dunkle Haus, wo er auch ohne Licht genügend sah, vielleicht nicht so gut wie eine Katze, aber besser als ein Mensch, denn er war jetzt mehr als ein Mensch, und er streifte ein paar Minuten durch die Zimmer, lautlos und geschwind, hoffte fast, er würde einen Eindringling finden, jemanden zum Zerfetzen, jemanden zum Zerfetzen, zerfetzen, jemanden zum Zerfetzen, zu beißen und zu reißen, aber das Haus war verlassen. Im Schlafzimmer ließ er sich auf den Boden nieder, rollte sich auf die Seite und rief seinen Körper in die Gestalt zurück, die sein Geburtsrecht war, in die vertraute Gestalt von Mike Peyser, in die Form eines Mannes, der aufrecht ging und wie ein Mensch aussah, und er spürte in sich den Sog in Richtung des Normalen, eine Verlagerung im Zellgewebe, aber keine ausreichende Verlagerung, dann ein Zurückgleiten, zurück, wie eine zurückweichende Flut, die sich vom Ufer entfernt, fort, fort vom Normalen, daher versuchte er es erneut, aber diesesmal fand überhaupt keine Verlagerung statt, nicht einmal eine ansatzweise Rückkehr zu dem, was er gewesen war. Er saß fest, war gefangen, eingesperrt, eingesperrt, in eine Gestalt eingesperrt, die zuvor die Essenz der Freiheit und somit unendlich erstrebenswert gewesen war, aber jetzt war es überhaupt keine erstrebenswerte Gestalt mehr, weil er sie nicht mehr abstreifen konnte, weil er darin gefangen war, gefangen, und er geriet in Panik.
Er sprang auf und eilte aus dem Zimmer. Obwohl er im Dunkeln ziemlich gut sehen konnte, streifte er eine Stehlampe, die polternd und mit dem Geräusch berstenden Glases umstürzte, aber er lief weiter in den kurzen Flur, ins Wohnzimmer. Ein Flickenteppich rutschte unter ihm weg. Er fühlte sich wie im Gefängnis; sein Körper, sein eigener, verwandelter Körper, war zu seinem Gefängnis geworden, seinem Gefängnis; verwandelte Knochen dienten als Gitterstäbe, Gitter, die ihn drinnen gefangenhielten; sein eigenes umgestaltetes Fleisch hielt ihn fest. Er durchstreifte das Zimmer, hierhin, dorthin, streifte verzweifelt, panisch. Die Vorhänge wehten im Wind seines Laufens. Er wand sich zwischen den Möbelstücken. Ein Tischchen fiel in seinem Kielwasser um. Er konnte laufen, aber nicht entkommen. Er trug sein Gefängnis bei sich. Kein Entkommen. Kein Entkommen. Niemals. Nach dieser Erkenntnis schlug sein Herz noch schneller. Er stieß entsetzt und frustriert den Zeitungsständer um, schüttete den Inhalt aus, fegte einen schweren Aschenbecher aus Glas und zwei dekorative Töpferarbeiten vom Cocktailtisch, riß an den Sofakissen bis er den Stoff und die Schaumstoffüllung darin zerfetzt hatte, woraufhin ein schrecklicher Druck seinen Kopf erfüllte; Schmerzen, solche Schmerzen, und er wollte schreien, aber er hatte Angst davor, zu schreien, weil er fürchtete, er würde nicht mehr aufhören können. Nahrung.
Treibstoff.
Das Feuer löschen, das Feuer löschen.
Plötzlich wurde ihm klar, daß das Unvermögen, in seine natürliche Gestalt zurückzukehren, mit einer ernsten Verknappung der Energiereserven zusammenhängen könnte, die erforderlich waren, die gewaltigen Umschichtungen seines mit der Umwandlung einhergehenden Stoffwechsels herbeizuführen. Um das zu tun, was er verlangte, mußte sein Körper enorme Mengen Enzyme, Hormone und komplexe, biologisch aktive Chemikalien erzeugen; der Körper mußte sich innerhalb von Minuten einer erzwungenen Degeneration und einem Wiederaufbau von Gewebe unterziehen, dessen Energieverbrauch dem von jahrelangem Wachstum entsprach, und dafür brauchte er Treibstoff, Material, das er umwandeln konnte, Proteine und Mineralstoffe, Kohlenhydrate in großer Menge.
Hungrig, ausgehungert, ausgehungert, eilte Peyser in die unbeleuchtete Küche, umklammerte den Griff der Kühlschranktür, zog sich in die Höhe, riß die Kühlschranktür auf, zischte, als ihm das Licht in die Augen stach, sah zwei Drittel einer Drei-Pfund-Dose Schweineschinken, solider Schinken, guter Schinken, auf einem blauen Teller in Frischhaltefolie eingewickelt, und er ergriff ihn, riß das Zellophan weg, warf den Teller fort, der an einer Schranktür zerschellte, ließ sich auf den Boden fallen, biß in das Schinkenstück, biß hinein, biß, tief, zog, kaute fieberhaft, biß tief hinein.
Es gefiel ihm, nach Einbruch der Dunkelheit so schnell wie möglich die Kleidung abzustreifen, in den Wald hinter dem Haus zu laufen, in die Berge hinauf, wo er Kaninchen und Waschbären, Füchse und Erdhörnchen jagte, sie mit den Händen zerriß, mit den Zähnen, das Feuer löschte, das tiefe innere Brennen, und es gefiel ihm, gefiel ihm, nicht nur, weil er in dieser Inkarnation eine solche Freiheit empfand, sondern auch, weil sie ihm ein überwältigendes Gefühl der Macht gab, gottgleicher Macht, intensiver und erotischer als Sex, befriedigender als alles, was er jemals vorher erlebt hatte, Macht, wilde Macht, unbändige Macht, die Macht eines Mannes, der die Natur gezähmt, seine genetischen Grenzen überwunden und die Macht von Wind und Sturm erlangt hatte, der frei von allen menschlichen Unzulänglichkeiten war, losgelassen, befreit. Er hatte heute nacht gegessen, war mit der Zuversicht eines unentrinnbaren Raubtiers durch die Wälder gestreift, das so unwiderstehlich wie die Dunkelheit selbst war, aber was immer er verzehrt hatte, schien nicht auszureichen, seine Rückkehr in die Gestalt von Michael Peyser, Softwaredesigner, Junggeselle, Porschefahrer, fanatischer Sammler von Filmen auf Laserdisk, Marathonläufer, Perriertrinker, zu bewerkstelligen.
Daher aß er jetzt den Schinken, zwei Pfund Schinken, und er riß andere Sachen aus dem Kühlschrank und aß sie auch, stopfte sie sich mit beiden Händen in den Mund: eine Schüssel kalte, übriggebliebene Rigatoni und einen Fleisch-klops; einen halben Apfelkuchen, den er gestern in der Bäckerei in der Stadt gekauft hatte; einen Riegel Butter, das ganze Viertelpfund, fettig und widerlich, aber gute Nahrung, guter Treibstoff, genau das Richtige, das Feuer zu löschen; vier rohe Eier; und noch mehr, mehr. Dies war ein Feuer, das, wenn man es mit Nahrung versorgte, nicht heller brannte, sondern abkühlte, erlosch, denn es war kein richtiges Feuer, sondern ein körperliches Symbol des verzweifelten Nahrungsbedarfs, um die Stoffwechselvorgänge am Laufen zu halten. Jetzt verlor das Feuer etwas von seiner Hitze, es schrumpfte von sengender Glut zu tanzenden Flämmchen, zu wenig mehr als bernsteinfarbener Glut von Kohlen.
Mike Peyser brach gestättigt inmitten von zerbrochenen Tellern und Nahrungsresten und Zellophan und Eierschalen und Tupperschüsseln auf dem Boden zusammen. Er rollte sich zusammen und versuchte wieder, sich vermittels Willenskraft in die Gestalt zurückzuverwandeln, in der die Welt ihn erkennen würde. Und er spürte wieder, wie eine Veränderung in seinen Knochen und dem Mark anfing, in seinem Blut und den Organen, in Sehnen und Blutgefäßen und Muskeln und der Haut, als die Flut von Hormonen und Enzymen und anderen biologischen Chemikalien von seinem Körper produziert und ausgeschüttet wurde, aber die Veränderung wurde wieder aufgehalten, als die Verwandlung noch schmerzlich unvollständig war, und sein Körper verfiel wieder in das wildere Dasein und durchlief unweigerlich die Regression, obwohl er alle Willenskraft aufbot, alle Willenskraft, alle Willenskraft und sich bemühte, in die höhere Gestalt zu gelangen.
Die Kühlschranktür war zugefallen. Die Küche war wieder in Dunkelheit versunken, und Mike Peyser war zumute, als wäre die Dunkelheit nicht nur überall rings um ihn herum, sondern auch in ihm selbst.
Schließlich schrie er. Und es kam, wie er befürchtet hatte; als er erst einmal angefangen hatte zu schreien, konnte er nicht mehr damit aufhören.
28
Sam Booker verließ das Cove Lodge kurz vor Mitternacht. Er trug eine brauen Lederjacke, einen blauen Pullover, Jeans und blaue Turnschuhe - Kleidung, die es ihm ermöglichte, gut in der Nacht unterzutauchen, die aber nicht verdächtig aussah, bestenfalls ein wenig zu jugendlich für einen Mann mit seinem melancholischen Gebaren. So gewöhnlich sie aussah, die Jacke hatte eine Reihe Tiefer und geräumiger Innentaschen, in die er ein paar Einbruch- und Autodiebstahlswerkzeuge einpackte. Er ging die Südtreppe hinunter, zur rückwärtigen Erdgeschoßtür hinaus und blieb einen Augenblick auf dem Fußweg hinter der Lodge stehen.
Dichter Nebel quoll über den Klippenrand herauf und durch das offene Gelände, er wurde von einer plötzlichen Brise getrieben, die schließlich doch noch die Ruhe der Nacht gestört hatte. In ein paar Stunden würde der Wind den Nebel landeinwärts geweht haben und der Küstenstreifen vergleichsweise klar sein. Bis dahin würde Sam die vor ihm liegende Aufgabe erledigt haben und den Schutz, den der Nebel bot, nicht mehr benötigen; er würde im Bett seines Motelzimmers schlafen - oder, wahrscheinlicher, gegen Schlaflosigkeit kämpfen.
Er war unruhig. Er hatte die Jugendbande nicht vergessen, vor der er vor ein paar Stunden auf dem Iceberry Way geflohen war. Da ihre wahre Natur ein Geheimnis blieb, betrachtete er sie weiterhin als Punks, aber er wußte, daß es sich nicht nur um Jugendkriminelle gehandelt haben konnte. Seltsamerweise hatte er den Eindruck, als wüßte er, was sie waren, aber dieses Wissen regte sich sogar noch tief unter der Ebene des Unterbewußtseins, im Reich eines primitiven Bewußtseins.
Er ging um die Südecke des Gebäudes herum, an der Rückseite der Cafeteria vorbei, die jetzt geschlossen hatte, und erreichte zehn Minuten später auf einem Rundweg das Rathaus von Moonlight Cove in der Jacobi Street. Es war genau, wie die San Franciscoer Agenten des Bureau es beschrieben hatten: ein zweistöckiges Bauwerk - am unteren Stockwerk verwitterte Backsteine, am oberen weißer Verputz - mit Ziegeldach, waldgrünen Fensterläden neben den Fenstern und großen schmiedeeisernen Kutschenlaternen neben der Eingangstür. Das Rathaus und das Grundstück, auf dem es erbaut worden war, beanspruchten einen halben Block an der Nordseite der Straße, aber die anti-behördliche Bauweise harmonierte mit dem Rest der Wohngegend. Selbst um diese Zeit waren im Erdgeschoß und außerhalb die Lichter eingeschaltet, denn das Rathaus beherbergte zusätzlich zur Stadtverwaltung und der Wasserbehörde auch noch das Polizeirevier, und das hatte natürlich nie geschlossen.
Sam, der so tat, als würde er einen nächtlichen Spaziergang machen, studierte das Gebäude, als er auf der anderen Straßenseite daran vorbeiging. Er sah keinerlei außergewöhnliche Aktivität. Der Gehweg vor dem Haupteingang war verlassen. Er sah das hell erleuchtete Foyer durch die Eingangstür.
An der nächsten Ecke bog er nach Norden ab und in eine Gasse in der Mitte des Blocks. Dieser unbeleuchtete Weg wurde von Bäumen und Sträuchern und Zäunen begrenzt, welche zu den Gärten von Häusern an der Jacobi Street und dem Pacific Drive gehörten, dazu einige Garagen und Schuppen, Gruppen von Mülleimern und einem großen, nicht eingezäunten Parkplatz hinter dem Rathaus.
Sam trat in eine Nische in einer zweieinhalb Meter hohen immergrünen Hecke an der Ecke des Hofs, der an das öffentliche Grundstück angrenzte. Der Weg selbst war sehr dunkel, aber zwei Natriumdampflampen warfen einen düsteren Schein über den städtischen Parkplatz und offenbarten zwölf Fahrzeuge: vier neue Fords in der nüchternen, kotzgrünen Variante, die für Bundes-, Landes- und Kreis -verwaltungen hergestellt wurden; ein Lieferwagen, der das Wappen der Stadt und die Aufschrift WASSERBEHÖRDE trug; ein massiger Straßenreinigungswagen; ein großer Lastwagen mit Holzseiten und Heckklappe; und vier Polizeiautos, allesamt Chevy-Limousinen.
Dieses Quartett schwarzweißer Fahrzeuge interessierte Sam ganz besonders, weil sie mit VDT-Verbindungen zum Zentralcomputer der Polizei ausgerüstet waren. Moonlight Cove besaß acht Streifenwagen, ziemlich viel für eine verschlafene Küstenstadt, fünf mehr als sich Städte vergleichbarer Größe leisten konnten und sicherlich größtenteils überflüssig.
Aber in diesem Polizeirevier war alles besser und größer als notwendig, was mit dazu beigetragen hatte, in den Köpfen der FBI-Agenten, die den Tod von Sanchez und den Bus-tamentes untersucht hatten, lautlose Alarmsirenen losgehen zu lassen. Moonlight Cove verfügte über zwölf Vollzeit- und drei Teilzeitpolizisten, dazu vier Verwaltungsbeamte. Eine Menge Personal. Darüber hinaus erhielten alle Gehälter, die mit denen von Polizisten in Großstädten der Westküste vergleichbar waren, und damit ruinös für eine Kleinstadt wie diese. Sie hatten die besten Uniformen, die besten Büromö -bel, eine kleine Waffenkammer voll Faustfeuerwaffen und Gewehren und Tränengas, und - am erstaunlichsten - sie waren in einem Maße computerisiert, um das die Jungs in den Ende-der-Welt-Bunkern des Strategischen Luftkommandos in Colorado sie beneidet hätten.
Sam studierte in der raschelnden Nische des duftenden Immergrüns den Parkplatz mehrere Minuten lang, um sich zu vergewissern, daß niemand in einem der Fahrzeuge saß oder im dunklen Schatten am hinteren Teil des Gebäudes stand. Vor den erleuchteten Fenstern im Erdgeschoß waren Vorhänge zugezogen, daher konnte niemand von drinnen auf den Parkplatz sehen.
Er nahm ein Paar weiche, geschmeidige Ziegenlederhandschuhe aus einer Jackentasche und zog sie an.
Er wollte sich gerade in Bewegung setzen, als er etwas auf dem Weg hinter sich hörte. Ein schabendes Geräusch. Aus der Richtung, aus der er gekommen war.
Er drückte sich tiefer in die Hecke und drehte sich um, damit er die Ursache des Gbräuschs erkennen könnte. Ein blasser, zerknüllter Pappkarton, etwa doppelt so groß wie eine Schuhschachtel, wurde vom Wind fortgeweht, der immer mehr in den Blättern von Bäumen und Büschen raschelte.
Der Karton prallte gegen die Mülleimer, verfing sich darin und verstummte.
Der Nebel, der vom Wind nach Osten geweht wurde und über den Weg strömte, sah aus wie Rauch, als stünde die ganze Stadt in Flammen. Er blinzelte in den wabernden Dampf und vergewisserte sich zu seiner Zufriedenheit, daß er allein war, dann drehte er sich um und sprintete zum ersten der vier Streifenwagen auf dem offenen Parkplatz.
Er war verschlossen.
Er holte einen Automobilschloßöffner der Polizei aus einer Innentasche, mit dem man ohne weiteres jedes Schloß lösen konnte, ohne den Mechanismus zu beschädigen. Er knackte das Auto, schlüpfte hinter das Lenkrad und machte die Tür so rasch und leise wie möglich zu.
Die Natriumdampflampen warfen genügend Licht ins Wageninnere, daß er sehen konnte, was er tat, obwohl er über genügend Erfahrung verfügte, daß er auch im Dunkeln hätte arbeiten können. Er steckte den Schloßknacker weg und holte aus einer anderen Innentasche einen Zündschloßschraubenzieher heraus. Er schraubte den Zylinder des Zündschlosses innerhalb von Sekunden heraus, so daß die Drähte freilagen.
Dieser Teil gefiel ihm nicht. Um den Videodisplay einzuschalten, der am Armaturenbrett des Autos montiert war, mußte er den Motor anlassen; der Computer war leistungsstärker als ein kleineres Modell und kommunizierte mittels energieintensiver Mikrowellenübertragungen mit der zentralen Datenbank, was soviel Energie erforderte, daß die Batterie dafür nicht in Frage kam. Der Nebel würde die Abgase verbergen, aber nicht den Motorenlärm. Der schwarzweiße Wagen war zwanzig Meter von dem Gebäude entfernt geparkt, daher würde es wahrscheinlich keiner hören. Aber wenn jemand zur Hintertür herauskam, um frische Luft zu schnappen oder mit einem der freien Fahrzeuge wegzufahren, würde der laufende Motor nicht unbemerkt bleiben. Dann würde Sam in eine Klemme geraten, die er - wenn man die ungewöhnliche Zahl gewaltsamer Todesfälle in dieser Stadt bedachte - wahrscheinlich nicht überleben würde.
Er seufzte leise, trat mit dem rechten Fuß das Gaspedal etwas durch, bog die Drähte auseinander und brachte die Kontakte zusammen. Der Motor sprang auf der Stelle und ohne zu keuchen an.
Der Computerschirm leuchtete auf.
Die komplexen Computeranlagen der Polizei wurden kostenlos von New Wave-Mikrotechnologie gestellt, weil diese Moonlight Cove angeblich als Testgebiet für ihre eigenen Systeme und die Software benützten. Die Quelle der Finanzierungen aller anderen Anlagen der Polizei, die nicht so offensichtlich war, ließ sich nicht so einfach feststellen, aber man vermutete, daß sie ebenfalls bei New Wave lag, oder gar bei dem Hauptaktionär und Geschäftsführer, Thomas Shaddack, selbst. Selbstverständlich stand es jedem Bürger frei, seine lokale Polizei oder andere Zweige der Regierung mit erheblichen Steuervorteilen zu unterstützen, aber wenn Shaddack das tat, weshalb stand es dann nicht in den öffentlichen Unterlagen? Kein unschuldiger Mensch gibt mit völliger Selbstaufopferung große Geldsummen an die öffentliche Kasse ab. Wenn Shaddack ein Geheimnis daraus machte, daß er die lokalen Behörden mit Geldern unterstützte, dann konnte man die Möglichkeit gekaufter Polizisten und bestochener Beamter nicht von der Hand weisen. Und wenn die Polizisten von Moonlight Cove im Grunde genommen Soldaten in Thomas Shaddacks Privatarmee waren, folgte daraus, daß die verdächtige Zahl gewaltsamer Todesfälle in letzter Zeit auf diese unheimliche Allianz zurückzuführen sein könnte.
Das VDT im Auto zeigte nun das New Wave-Abzeichen in der unteren rechten Ecke, so wie das IBM-Abzeichen zu sehen gewesen wäre, hätte es sich um eine ihrer Maschinen gehandelt.
Als das San Franciscoer Bureau den Fall Sanchez-Busta-mente untersucht hatte, war einer der besseren Agenten des Bureau, Morris Stein, einmal mit einem Watkins' Beamten, nämlich Reese Dorn, im Streifenwagen gewesen, als Dorn den Zentralcomputer wegen Informationen in den Speichern angegangen war. Da hatte Morris bereits vermutet, daß der Computer komplexer war, als Watkins oder seine Männer preisgaben, und ihnen in einer Weise dienlich war, die die legalen Grenzen der Polizei überschritt und über die sie nicht sprechen wollten. Daher hatte er sich die Codezahl eingeprägt, mit der sich Reese ins System eingeschaltet hatte. Als er nach Los Angeles geflogen war, um Sam vorzubereiten, hatte Moris gesagt: »Ich glaube, in dieser verdrehten kleinen Stadt hat jeder Polizist seine eigene Computerkennziffer, aber die von Dorn dürfte so gut wie jede andere sein. Sam, du mußt dich in ihren Computer einschalten und dir ein paar Menüs geben lassen, herausfinden, was er dir zu bieten hat und etwas damit herumspielen, wenn Watkins und seine Männer dir nicht dabei über die Schulter sehen. Ja, ich höre mich paranoid an, aber sie haben für ihre Größe und Bedürfnisse zuviel High Tech, es sei denn, sie führen etwas Schmutziges im Schilde. Anfangs wirkt die Stadt wie jede andere, vielleicht sogar noch freundlicher und angenehmer, und ziemlich hübsch... aber, verdammt, nach einer Weile hat man das Gefühl, als wäre der gesamte Ort verkabelt, als wäre man überall unter Beobachtung, als würde einem der Große Bruder in jedem verfluchten Augenblick über die Schulter sehen. Bei Gott, nach ein paar Tagen hat man den Eindruck, daß man sich in einem Polizeistaat im Miniaturformat befindet, wo die Kontrolle so subtil ist, daß man sie kaum sieht, aber dennoch umfassend und eisern. Diese Polizisten sind nicht koscher, Sam; sie stecken bis zum Hals in etwas drin - vielleicht Drogenschmuggel, wer weiß -, und der Computer gehört auch dazu.«
Reese Dorns Nummer war 262699, und die tippte Sam jetzt in die Tastatur des VDT ein. Das New Wave-Abzeichen verschwand. Der Bildschirm wurde ein paar Sekunden leer. Dann kam ein Menü.
BITTE WÄHLEN.
A. FUNKER
B. ZENTRALE DATENBANK
C. ANZEIGENTAFEL
D. AUSSENSYSTEM-MODEM
Die erste Möglichkeit verriet Sam, daß ein Polizist auf Streife mit dem Funker im Hauptquartier nicht nur über Polizeifunk Kontakt aufnehmen konnte, mit dem das Auto ausgerüstet war, sondern auch durch die Computerverbindung. Aber warum sollte er sich die Mühe machen und dem Funker Fragen eintippen und die übermittelten Antworten vom VDT ablesen, wenn er die Informationen viel schneller und einfacher über Funk bekommen konnte? Es sei denn... es gab etwas, das die Polizisten nicht auf Funkfrequenz besprechen wollten, die jeder mit einem Funkgerät abhören konnte.
Er stellte die Verbindung zum Funker nicht her, denn dann hätte er eine Unterhaltung anfangen und sich als Reese Dorn ausgeben müssen, und das wäre gewesen, als hätte er gebrüllt: He, ich sitze hier draußen in einem eurer Streifenwagen und stecke meine Nase in Angelegenheiten, die euch nicht gefallen werden, also warum kommt ihr nicht heraus und macht mich fertig?
Statt dessen tippte er B und wurde hineingelassen. Ein weiteres Menü erschien.
BITTE WÄHLEN
A. STATUS - MOMENTAN VERHAFTETE
B. STATUS - MOMENTANE GERICHTSVERHANDLUNGEN
C. STATUS - BEVORSTEHENDE GERICHTSVERHANDLUNGEN
D. FRÜHERE HATFUNTERLAGEN - COUNTY
E. FRÜHERE HATFUNTERLAGEN - STADT
F...ÜBERFÜHRTE KRIMINELLE, DIE IM COUNTY LEBEN
G. ÜBERFÜHRTE KRIMINELLE, DIE IN DER STADT LEBEN
Um sich zu vergewissern, daß die Angebote des Menüs das waren, was sie zu sein schienen, und nicht Kodes für andere Informationen, drückte er den Buchstaben F, um Daten über verurteilte Kriminelle zu erhalten, die im County lebten. Es folgte ein weiteres Menü, das ihm zehn Möglichkeiten bot: MORD, TOTSCHLAG, VERGEWALTIGUNG,
SEXUALDELIKTE, ÜBERFALL UND GEWALTANWENDUNG, BEWAFFNETER RAUBÜBERFALL, EINBRUCH, EINBRUCH UND HAUSFRIEDENSBRUCH, ANDERE DIEBSTÄHLE, VERSCHIEDENE KAVALIERSDELIKTE.
Er rief die Datei über Mörder ab und erfuhr, daß drei verurteilte Mörder - die alle das Mordes ersten oder zweiten Grades für schuldig befunden worden waren - heute als freie Männer im County lebten, nachdem sie alle zwischen zwölf und vierzig Jahre ihrer Strafe abgesessen hatten und wegen guter Führung entlassen worden waren. Ihre Namen, Adressen und Telefonnummern erschienen auf dem Bildschirm zusammen mit den Namen ihrer Opfer, kurzen Zusammenfassungen der Verbrechen und den Daten ihrer Inhaftierung; keiner wohnte auf der Gemarkung von Moonlight Cove.
Sam sah von dem Bildschirm auf und über den Parkplatz. Er war immer noch verlassen. Der allgegenwärtige Nebel war jetzt mit dichteren Schwaden durchsetzt, die wie Flaggen wehten, als sie am Auto vorübertrieben, und ihm war fast, als säße er in einem Unterseeboot im Meer und würde lange Tangfäden betrachten, die in unterirdischen Strömungen schwebten.
Er kehrte zum Hauptmenü zurück und verlangte die Rubrik C. ANZEIGENTAFEL. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um eine Sammlung von Nachrichten, die Watkins und seine Männer füreinander hinterlassen hatten, in denen es sich manchmal um dienstliche und manchmal um private Dinge handelte. Die meisten waren in so geheimnisvollen Abkürzungen geschrieben, daß Sam sie nicht entziffern konnte oder sie nicht der Mühe für wert erachtete.
Er versuchte Rubrik D auf dem Hauptmenü, AUSSENSY-STEM-MODEM, und bekam eine Liste von nationalen Computern, in die er sich mit dem Telefonmodem im Rathaus einschalten konnte. Die möglichen Verbindungen des Reviers waren erstaunlich: Los ANGELES PR (für Polizeirevier), SAN FRANCISCO PR, SAN DIEGO PR, DENVER PR, HOUSTON PR, DALLAS PR, PHOENIX PR, CHICAGO PR, MIAMI PR, NEW YORK CITY PR und eine ganze Reihe anderer Großstädte; KRAFTFAHRZEUGBEHÖRDE VON KALIFORNIEN,
GEFÄNGNISHAUPTVERWALTUNG, AUTOBAHNPOLIZEI und zahlreiche andere staatliche Behörden
mit nicht so offensichtlichen Beziehungen zur Polizeiarbeit; PERSONALAKTEN U.S. ARMY, PERSONALAKTEN MARINE, LUFTWAFFE, FBI VERBRECHERKARTEI, FBI LVUS (Lokales Verbrechensbekämpfungs-Unterstützungssystem, ein ziemlich neues Programm des Bureau); sogar das New Yorker Büro von INTERPOL, durch das die internationale Organisation Zugang zum zentralen Datenspeicher in Europa hatte.
Was, zum Teufel, wollte eine kleine Polizeitruppe im ländlichen Kalifornien mit diesen vielen Informationsquellen anfangen?
Und es waren noch mehr: Daten, zu denen nicht einmal voll computerisierte Polizeireviere in Städten wie Los Angeles leicht Zugang hatten. Manches war Material, zu dem die Polizei von Gesetzes wegen nur mit richterlicher Anordnung Zugang hatte, etwa die Datenspeicher von TRW, der Kreditüberwachungsagentur des Landes. Daß die Polizei von Moonlight Cove Zugang zur Datenbank von TRW hatte, mußte selbst vor TRW geheimgehalten worden sein, denn die Agentur hätte einem Zugriff in ihre Dateien ohne gerichtliche Verfügung niemals zugestimmt. Das System bot auch Zugang zu den Datenbänken des CIA in Virginia, die angeblich vor jedem Computerzugriff geschützt waren
- abgesehen von den internen Computern - und zu bestimmten FBI-Dateien, die man ebenfalls für unzugänglich hielt.
Sam zog sich erschüttert aus dem AUSSENSYSTEM-MODEM ins Hauptmenü zurück.
Er sah über den Parkplatz und dachte nach.
Als Morris Stein ihn vor ein paar Tagen unterwiesen hatte, hatte er angedeutet, die Polizei von Moonlight Cove könnte in Drogenschiebereien verwickelt sein, und daß die Großzügigkeit von New Wave, was Computersysteme anbelangte, auf eine Mitwisserschaft bestimmter Angestellter der Firma hinzudeuten schien. Aber das Bureau interessierte sich auch für die Möglichkeit, daß New Wave illegal High-Tech-Syste-me an die Sowjets verkaufte und die Polizei von Moonlight Cove gekauft hatte, weil die Firma durch diese Kontakte zur Polizei zum frühestmöglichen Zeitpunkt von möglichen bevorstehenden Untersuchungen des FBI erfahren könnte. Das erklärte natürlich nicht die jüngsten Todesfälle, aber mit irgendeiner Theorie mußten sie ja anfangen.
Jetzt war Sam bereit, beide Vorstellungen, daß New Wave Geschäfte mit den Sowjets machte und daß einige Angestellte im Drogenhandel tätig waren, über Bord zu werfen. Das umfangreiche Netz von Datenbänken, das sich die Polizei durch das Modem zugänglich gemacht hatte - einhundert-undzwölf standen auf der Liste! - überstieg alles, was sie entweder für Drogenschmuggel oder das Aufspüren möglicher FBI-Ermittlungen wegen Kontakten zu den Sowjets bei New Wave gebrauchen könnten.
Sie hatten sich ein Informationsnetz aufgebaut, das den Erfordernissen einer ganzen Staatsregierung genügt hätte -noch genauer, denen einer kleinen Nation. Einer kleinen, feindlichen Nation. Dieses Datennetz war dazu entworfen, seinen Besitzer mit großer Macht auszustatten. Es schien, als wäre diese malerische kleine Küstenstadt in den Händen eines größenwahnsinnigen Irren, dessen Wahn es war, sich ein kleines Königreich erschaffen zu können, von dem aus er dereinst weite Gebiete erobern würde.
Heute Moonlight Cove, morgen die Welt.
»Was, zum Teufel, treiben die hier?« überlegte Sam laut.
29
Tessa hatte sich sicher in ihr Zimmer im Cove Lodge eingeschlossen - und trug fürs Bett ein hellgelbes Höschen und ein T-Shirt, auf dem das grinsende Gesicht von Kermit dem Frosch zu sehen war -, trank Diet Coke und versuchte, eine Wiederholung der Tonight-Show anzusehen, konnte sich aber nicht für die Gespräche erwärmen, die Johnny Carson mit einer geistlosen Schauspielerin, einem geistlosen Sänger einem geistlosen Komiker führte. Diätunterhaltungen zum Diät-Coke.
Je mehr Zeit nach ihrem beunruhigenden Erlebnis in den Fluren und Treppenhäusern des Hotels verstrich, desto mehr fragte sie sich, ob sie sich tatsächlich nur eingebildet hatte, daß sie verfolgt worden sei. Immerhin wurde sie von Janices Tod abgelenkt, weil sie der Meinung war, es wäre Mord und nicht Selbstmord. Und sie hatte immer noch Magenbeschwerden von dem Chesseburger, den sie zum Abendessen gehabt hatte und der so fettig gewesen war, daß er, samt Brötchen und allem, in ranzigem Yakfett hätte gebraten worden sein können. Tessa sah die Phantome, die ihr Angst gemacht hatten, mittlerweile so, wie Scrooge Marleys Geist zuerst gesehen hatte: Vielleicht waren sie nichts anderes als ein unverdautes Stück Fleisch, ein Klecks Senf, ein Krümel Käse oder eine nicht richtig gar gekochte Kartoffel gewesen. Während Carsons derzeitiger Gast von einem Wochenende erzählte, das er anläßlich eines Kunstfestivals in Havanna mit Fidel Castro - »ein toller Bursche, ein komischer Bursche, ein leidenschaftlicher Bursche« - verbracht hatte, stand Tessa vom Bett auf und ging ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen. Als sie die Zahnpasta auf die Bürste drückte, hörte sie, wie jemand am Griff der Tür drehte.
Das kleine Bad grenzte an das ebenso kleine Foyer an. Als sie zur Schwelle trat, war sie nur wenige Schritte von der Tür zum Flur entfernt, nahe genug, um zu sehen, wie der Knauf hin und her gedreht wurde. Jemand versuchte, das Schloß zu öffnen, und das nicht einmal besonders vorsichtig. Der Knauf klickte und rasselte, die Tür pochte gegen den Rahmen.
Sie ließ die Zahnbürste fallen und lief zum Telefon auf dem Nachttisch.
Kein Freizeichen.
Sie drückte die Gabel nieder und dann den Knopf O für die Zentrale - Operator -, aber nichts geschah. Die Telefonzentrale des Motels war abgeschaltet. Die Leitung war tot.
30
Chrissie mußte mehrmals von der Straße herunter und im Gebüsch am Straßenrand Schutz suchen, bis ein Auto oder Lastwagen vorbeigefahren war. Eines der Autos war ein Streifenwagen von Moonlight Cove, der in die Stadt fuhr, und sie war ziemlich sicher, daß das genau der war, der zum Haus gefahren war. Sie duckte sich ins hohe Gras und die Löwenzahnblumen, und dort blieb sie, bis die Heckscheinwerfer des schwarzweißen Autos zu winzigen roten Pünktchen geworden waren, die schließlich um eine Kurve herum verschwanden.
Entlang der ersten eineinhalb Meilen dieser asphaltierten Straße standen nur wenige Häuser. Chrissie kannte ein paar Leute, die darin wohnten: die Thomases, die Stones, die Els-wicks. Sie war versucht, zu einem dieser Häuser zu gehen, an die Tür zu klopfen und um Hilfe zu bitten. Aber sie konnte nicht sicher sein, ob die Bewohner noch die netten Leute waren, die sie einmal gewesen waren. Auch sie könnten sich verändert haben, so wie ihre Eltern. Entweder etwas Übernatürliches oder etwas aus dem Weltraum hatte sich der Menschen in und um Moonlight Cove bemächtigt, und sie hatte genügend unheimliche Filme gesehen und unheimliche Bücher gelesen, daß sie wußte, wenn solche Mächte am Werk waren, konnte man gar niemanden mehr trauen.
Sie setzte fast alles auf Pater Castelli von Our Lady of Mer-cy, weil er ein heiliger Mann war und keine Dämonen aus der Hölle ihm etwas anhaben konnten. Falls es sich natürlich um Außerirdische aus einer anderen Welt handelte, würde Pater Castelli nicht dadurch geschützt sein, daß er ein Mann Gottes war.
Wenn Chrissie herausfände, daß der Priester auch übernommen wäre, und es Chrissie gelänge, ihm zu entkommen, dann würde sie direkt zu hrer Lehrerin, Mrs. Irene Tokawa gehen. Mrs. Tokawa war die klügste Person, die Chrissie kannte. Wenn Außerirdische Moonlight Cove übernommen hätten, dann würde Mrs. Tokawa gemerkt haben, daß etwas nicht stimmte, bevor es zu spät wäre. Sie würde Schritte unternommen haben, um sich selbst zu schützen, und sie würde eine der letzten sein, die die Ungeheuer in die Finger bekämen. Finger oder Tentakel oder Klauen oder Scheren, oder was auch immer.
Daher versteckte sich Chrissie vor dem vorüberfahrenden Verkehr, schlich an den vereinzelten Häusern an der Landstraße vorbei und näherte sich so langsam aber beständig der Stadt. Der Mond mit den beiden Spitzen, der manchmal über dem Nebel zu sehen war, hatte den größten Teil seiner Reise über das Himmelszelt hinter sich gebracht; bald würde er untergehen. Eine steife Brise wehte von Westen herein, manchmal fegten Böen heran, die so stark waren, daß sie ihr blondes Haar hochwirbelten wie blonde Flammen, die von ihrem Kopf loderten. Die Temperatur war auf etwa zehn Grad gesunken, aber wenn der Wind zu heftigen Böen aufflackerte, schien die Nacht viel kälter zu sein. Das Gute war, je größer ihr Elend durch Wind und Kälte wurde, desto mehr vergaß sie ihr anderes Leid - den Hunger. »VERWAHRLOSTES KIND WANDERTE NACH BEGEGNUNG MIT AUSSERIRDISCHEN TAGELANG HUNGRIG UND BENOMMEN UMHER«, sagte sie, wobei sie eine Schlagzeile aus einer Ausgabe des National Enquirer las, die nur in ihrer Fantasie existierte.
Sie kam zur Kreuzung der Landstraße mit der Holliwell Road, und freute sich, wie gut sie vorankam, als sie denen beinahe in die Arme lief, denen sie aus dem Weg gehen wollte.
Östlich der Landstraße war die Holliwell nur ein festgetretener Feldweg, der in die Berge hinaufführte, unter der Autobahn hindurch bis direkt zur alten und verlassenen Ikarus-Kolonie - einem baufälligen Haus mit zwölf Zimmern, Scheune und verfallenen Ställen -, wo eine Gruppe Künstler in den fünfziger Jahren versucht hatte, eine ideale gemeinschaftliche Gesellschaftsform zu etablieren. Seither war es eine Pferdezuchtfarm gewesen (gescheitert), ein Naturkostrestaurant (pleite), Ort für einen wöchentlichen Flohmarkt und eine Auktion (gescheitert); inzwischen war es schon lange dem Verfall anheim gegeben worden. Kinder wußten im allgemeinen alles darüber, da es ein unheimliches Haus und daher Ort zahlreicher Mutproben war. Westlich war die Holliwell Road asphaltiert und führte am Stadtrand entlang und an einigen neueren Häusern der Gegend und dem Ge -lände von New Wave Mikrotech vorbei, und schließlich zur Nordspitze der Bucht, wo Thomas Shaddack, das Computergenie, in einem großen, unheimlich aussehenden Haus wohnte. Chrissie hatte nicht vor, auf der Holliwell nach Osten oder Westen zu gehen; sie war lediglich ein Meilenstein auf ihrem Weg; wenn sie sie hinter sich gelassen haben würde, würde sie sich am nordwestlichen Ende der Gemarkung von Moonlight Cove befinden.
Sie war kaum dreißig Meter von der Holliwell Road entfernt, als sie das rasch anschwellende Dröhnen eines rasenden Motors hörte. Sie wich von der Straße zurück, über einen schmalen Graben am Straßenrand, durch Gras und suchte schließlich hinter dem dicken Stamm einer uralten Pinie Schutz. Noch während sie sich hinter dem Stamm niederkauerte, konnte sie die Richtung erkennen, aus der das Fahrzeug kam - Westen -, und dann sah sie die Scheinwerfer südlich von ihr auf die Kreuzung zufahren. Ein Lastwagen war auf der Holliwell zu sehen, der das Stoppschild mißachtete und mitten auf der Kreuzung bremste. Nebel waberte und wirbelte um ihn herum Chrissie konnte den schweren, schwarzen Lastwagen mit der verlängerten Pritsche ziemlich deutlich sehen, weil die Ecke Holliwell und Landstraße ein Ort häufiger Unfälle war, und daher hatte man an der nordöstlichen Ecke eine Laterne angebracht, die bessere Sicht schaffen und Autofahrer warnen sollte. Der Lastwagen hatte das Abzeichen von New Wave auf der Tür, das sie selbst auf diese Entfernung erkennen konnte, weil sie es schon tausendmal gesehen hatte: ein weißblauer Kreis, etwa so groß wie ein Eßteller, dessen untere Hälfte eine blaue Woge bildete. Der Lieferwagen hatte eine große Pritsche, seine momentane Fracht waren Männer: Sechs oder acht saßen hinten.
In dem Augenblick, als der Lieferwagen auf der Kreuzung hielt, sprangen zwei Männer über die Heckklappe. Einer ging zur bewaldeten Spitze an der nordwestlichen Ecke der Kreuzung und verbarg sich unter den Bäumen - nicht mehr als dreißig Meter südlich der Pinie, unter der Chrissie ihn beobachtete. Der andere ging zur südöstlichen Ecke der Kreuzung und bezog zwischen Unkraut und Chaparral Stellung.
Der Lastwagen bog nach Süden auf die Landstraße ein und fuhr davon.
Chrissie vermutete, daß die anderen Männer auf dem Lastwagen an anderen Stellen entlang der Ostgrenze von Moonlight Cove postiert werden würden, um Wache zu stehen. Zudem war der Lastwagen so groß gewesen, daß er mindestens zwanzig Männer befördern könnte, daher waren zweifellos unterwegs noch andere abgesetzt worden, während er vom New Wave Gebäude im Westen auf der Holli-well in östlicher Richtung gefahren war. Sie umgaben Moonlight Cove mit Wachen. Sie war ziemlich sicher, daß sie nach ihr suchten. Sie hatte etwas gesehen, das sie nicht hätte sehen sollen - ihre Eltern während einer teuflischen Verwandlung -, und jetzt mußte sie gefunden und >verwandelt< werden - wie Tucker es genannte hatte -, bevor sie eine Möglichkeit hatte, die Welt zu warnen.
Das Geräusch des schwarzen Lieferwagens wurde leiser. Schweigen senkte sich wie eine klamme Decke herab.
Nebel wirbelte und waberte und wogte in zahllosen Strömungen, aber die übermächtigen Gezeiten des Windes trieben ihn unbarmherzig zu den dunklen, geschlossenen Hügeln.
Dann schwoll die Brise unvermittelt an, bis sie wieder zu einem echten Wind wurde, der durch das hohe Gras flüsterte und im Immergrün rauschte. Er erzeugte ein leises und seltsam verlorenes Brummen an einem nahegelegenen Straßenschild.
Chrissie wußte zwar, wo sich die beiden Männer niedergelassen hatten, aber sie konnte sie nicht mehr sehen. Sie hatten sich gut versteckt.
31
Nebel trieb am Auto vorbei und nach Osten in die Nacht. Eine Brise, die zunehmend zum richtigen Wind wurde, wehte ihn davon, und in Sams Verstand wirbelten die Gedanken ebenso unablässig dahin. Diese Gedanken waren so beunruhigend, daß er es vorgezogen hätte, in gedankenloser Fassungslosigkeit dazusitzen.
Aufgrund erheblicher früherer Erfahrungen mit Computern wußte er, daß ein Teil der Fähigkeiten eines Systems verborgen werden konnte, indem der Programmentwickler einfach verschiedene Möglichkeiten auf den Menüs wegließ, die am Bildschirm erschienen. Er betrachtete das erste Menü auf dem Display das Autors - A. FUNKER; B. ZENTRALE DATENBANK; C. ANZEIGENTAFEL; D. AUSSENSYSTEMMODEM -und drückte E, obwohl keine Funktion E genannt war.
Worte leuchteten auf dem Bildschirm auf: HALLO, OFFICER DORN.
Es gab also doch ein E. Er war entweder in eine geheime Datenbank gekommen, die ein Paßwort erforderte, um Zugang zu bekommen, oder in ein interaktives Informationssystem, das auf Fragen reagieren würde, die er über die Tastatur eingab. Wenn ersteres zutraf, wenn Paßworte oder Phrasen erforderlich wären und er eine falsche Antwort eingäbe, bekäme er Ärger; der Computer würde ihn hinauswerfen und dem Polizeirevier einen Alarm übermitteln, daß ein Eindringling Dorns Nummer verwendete.
Er tippte vorsichtig: HALLO.
KANN ICH IHNEN HELFEN?
Sam beschloß, so vorzugehen, als wäre es genau das, was es zu sein schien - ein normales Frage- und Antwort-Programm. Er tippte in die Tastatur: MENÜ.
Der Bildschirm wurde einen Augenblick leer, dann tauchten dieselben Worte auf: KANN ICH IHNEN HELFEN?
Er versuchte es noch einmal: PRIMÄRMENÜ.
KANN ICH IHNEN HELFEN?
HAUPTMENÜ.
KANN ICH IHNEN HELFEN?
Wenn man ein System erprobte, das auf Frage und Antwort beruhte und einem unbekannt war, mußte man die richtigen Antworten mehr oder weniger durch immer neue Versuche finden. Sam versuchte es erneut: ERSTES MENÜ. Endlich wurde er belohnt.
BITTE WÄHLEN
A. NEW WAVE -PERSONAL
B. PROJEKT MOONHAWK
C. SHADDACK
Er hatte eine geheime Verbindung zwischen New Wave, seinem Begründer Thomas Shaddack und der Polizei von Mo-onlight Cove gefunden. Aber er wußte noch nicht, was es für eine Verbindung war und was sie bedeutete.
Er vermutete, daß die Möglichkeit C ihn mit Shaddacks persönlichem Computerterminal verbinden und es ihm ermöglichen würde, eine Unterhaltung mit Shaddack zu führen, die privater als ein Gespräch über Polizeifunk sein würde. Wenn das der Fall war, dann waren Shaddack und die hiesigen Behörden tatsächlich in eine Verschwörung verwickelt, die so verbrecherisch war, daß sie ein Höchstmaß an Sicherheit erforderte. Er drückte C nicht, denn wenn er Shaddack anwählte und Mr. Big persönlich am anderen Ende bekäme, könnte er unmöglich glaubwürdig so tun, als wäre er Reese Dorn.
Möglichkeit A würde ihm wahrscheinlich eine Aufstellung der Angestellten und Abteilungsleiter von New Wave liefern, vielleicht mit Codes, die ihn auch mit deren persönlichen Terminals verbinden würde. Er wollte auch mit keinem von ihnen reden.
Außerdem hatte er das Gefühl, daß er von gestohlener Zeit lebte. Er sah noch einmal über den Parkplatz und beobachtete besonders eindringlich die dunklen Schatten jenseits des Scheins der Natriumdampflampen. Er war jetzt fünfzehn Minuten in dem Streifenwagen, und niemand war in dieser Zeit auf dem Parkplatz des Rasthauses erschienen. Er bezweifelte, daß ihm das Glück noch viel länger treu bleiben würde, und er wollte in der Zeit, die ihm noch blieb, so viel als möglich herausfinden.
PROJEKT MOONHAWK war die interessanteste und geheimnisvollste der drei Möglichkeiten, daher drückte er B, worauf ein anderes Menü auftauchte.
bitte wählen
A. VERWANDELTE
B. BEVORSTEHENDE VERWANDLUNGEN
C. PLAN FÜR VERWANDLUNGEN - ÖRTLICH
D. PLAN FÜR VERWANDLUNGEN - ZWEITES STADIUM
Er drückte Möglichkeit A, und eine Liste von Namen und Adressen erschien auf dem Bildschirm. Es waren Bewohner von Moonlight Cove, am Anfang der Liste stand die Anmerkung: 1967 DERZEIT VERWANDELT.
Verwandelt? Von was? In was? Hatte diese Verschwörung einen religiösen Hintergrund? Handelte es sich um einen seltsamen Kult? Vielleicht wurde >verwandelt< auch im übertragenen Sinn als eine Art Code gebraucht.
Das Wort ließ ihn erschauern.
Sam fand heraus, daß er die Liste entweder so durchgehen oder in alphabetische Abschnitte unterteilen konnte. Er schlug die Namen von Bewohnern nach, von denen er gehört oder die er kennengelernt hatte. Loman Watkins stand auf der Liste der Verwandelten. Reese. Dorn ebenfalls. Burt Peckham, der Inhaber der Knight's Bridge Tavern, war nicht unter den Verwandelten, aber die gesamte Familie Pe-rez, sicherlich die, der das Restaurant gehörte, stand auf der Liste.
Er überprüfte Harold Talbot, den behinderten VietnamVeteranen, mit dem er morgen Kontakt aufnehmen wollte. Talbot stand nicht auf der Liste der Verwandelten.
Verwirrt, was das alles bedeuten mochte, schloß Sam die Liste und kehrte ins Hauptmenü zurück. Er drückte B. bevorstehende verwandlungen. Das zauberte eine weitere Liste von Namen und Adressen auf den Bildschirm. Über der Liste stand 1104 bevorstehende verwandlungen. Auf dieser Liste fand er Burt Peckham und Harold Talbot.
Er versuchte es mit C PLAN FÜR VERWANDLUNGEN - ÖRTLICH, worauf ein Submenü mit drei Überschriften erschien:
A. MONTAG, 13. OKTOBER 18.00 UHR BIS
DIENSTAG, 14. OKTOBER 6.00 UHR
B. DIENSTAG, 14. OKTOBER, 6.00 UHR BIS
DIENSTAG, 14. OKTOBER, 18.00 UHR
C. DIENSTAG, 14. OKTOBER, 18 UHR BIS
MITTERNACHT
Es war jetzt Dienstag, 03.39 Uhr, die Hälfte der unter A genannten Zeit war verstrichen, daher drückte er diese Möglichkeit zuerst. Wieder eine Namensliste, über der stand: 380 VERWANDLUNGEN GEPLANT.
Die winzigen Härchen an Sams Nacken richteten sich auf, aber er wußte nicht, warum ihn das Wort >Verwandlung< so beunruhigte. Er mußte an diesen alten Film mit Kevin McCarthy, Die Dämonischen, denken.
Und er dachte an die Bande, die ihn an diesem Abend verfolgt hatte. Waren sie... >verwandelt< gewesen?
Als er Burt Peckham nachschlug, stellte er fest, daß der Kneipenbesitzer auf der Liste geplanter Verwandlungen vor 6.00 Uhr stand. Harry Talbot stand jedoch nicht auf der Liste.
Das Auto erbebte.
Sam fuhr in die Höhe und griff nach dem Revolver im Schulterhalfter.
Wind. Es war nur Wind. Eine Reihe heftiger Böen riß Löcher in den Nebel und brachte das Auto leicht zum Schwanken. Nach einem Augenblick wurde der böige Wind wieder zu einer starken Brise, und die zerrissenen Nebelschwaden vereinten sich wieder, aber Sams Herz schlug heftig.
32
Als Tessa den nutzlosen Telefonhörer weglegte, hörte der Türknauf auf zu klappern. Sie blieb eine Weile neben dem Bett stehen und lauschte, dann schlich sie leise ins Foyer, um an der Tür zu horchen.
Sie hörte Stimmen, aber nicht unmittelbar hinter der Tür. Sie waren weiter unten im Flur, eigentümliche Stimmen, die ein hektisches, krächzendes Flüstern sprachen. Sie konnte nicht verstehen, was sie sagten.
Sie war sicher, daß es dieselben waren, die sie unsichtbar verfolgt hatten, als sie Coke und Eis holen ging. Jetzt waren sie wieder da. Und sie hatten irgendwie das Telefon ausgeschaltet, so daß sie keine Hilfe holen konnte. Es war verrückt, aber so war es.
Diese Beharrlichkeit ihrerseits deutete für Tessa darauf hin, daß sie keine gewöhnlichen Diebe oder Vergewaltiger waren, daß sie sich auf sie konzentrierten, weil sie hergekommen war, um Janices Tod zu untersuchen. Aber sie fragte sich, wie sie auf ihre Ankunft in der Stadt aufmerksam geworden waren, und warum sie sich entschieden hatten, so überhastet gegen sie vorzugehen, ohne abzuwarten, ob sie einfach Janices Belange in der Stadt in Ordnung bringen und wieder weggehen würde. Nur sie und ihre Mutter wußten, daß sie auf eigene Faust eine Morduntersuchung durchführen wollte.
Gänsehaut überzog ihre nackten Beine, sie kam sich nur mit Höschen und T-Shirt bekleidet plötzlich verwundbar vor. Sie ging rasch zum Schrank und zog Jeans und einen Pullover an.
Sie war nicht allein in dem Motel. Es gab noch andere Gä -ste. Mr. Quinn hatte das gesagt. Vielleicht nicht viele, vielleicht nur noch zwei oder drei. Aber wenn es zum Schlimmsten käme, könnte sie schreien, die anderen Gäste würden es hören, und ihre Angreifer müßten sich aus dem Staube machen.
Sie nahm ihre Rockports, in die sie die weißen Tennissok-ken gestopft hatte, und ging wieder zur Tür.
Leise, heisere Stimmen zischten am anderen Ende des Flurs - dann dröhnte ein ohrenbetäubender Lärm durch das ganze Motel, und sie schrie auf und zuckte überrascht zusammen. Sofort folgte ein weiterer Knall. Sie hörte, wie in einem anderen Zimmer die Tür nachgab.
Eine Frau schrie, ein Mann brüllte etwas, aber die anderen Stimmen erfüllten Tessa mit einem Schauer des Entsetzens. Es waren mehrere, drei, vielleicht vier, und sie waren unheimlich und auf schockierende Weise wild. Schrilles, wolfsähnliches Knurren drang aus dem angrenzenden Flur, gefolgt von mörderischem Fauchen, schrillem und erregtem Quietschen, einem eisigen Winseln, das die Verkörperung von Blutgier war, und anderen Lauten, die man kaum beschreiben konnte, aber am schlimmsten war, daß diese anderen unmenschlichen Stimmen, die eindeutig zu Bestien gehörten, und nicht zu Menschen, auch ein paar verständliche Worte hervorstießen: »...brauchen, brauchen...holt sie,
holt...holt, holt... Blut, Flittchen, Blut...«
Tessa lehnte sich an die Tür, an der sie sich stützend festhielt, und versuchte sich einzureden, daß die Worte, die sie hörte, von dem Mann und der Frau gesprochen wurden, in deren Zimmer eingebrochen worden war, aber sie wußte, daß das nicht stimmte, denn sie hörte den Mann und die Frau schreien. Die Schreie waren schrecklich, fast unerträglich, voller Entsetzen und Qual, als würden sie zu Tode geprügelt werden, oder schlimmer, viel schlimmer, als würden sie zerrissen werden, zerfetzt, in Stücke gerissen und ausgeweidet.
Vor ein paar Jahren war Tessa in Nordirland gewesen und hatte einen Dokumentarfilm über die Sinnlosigkeit der unnötigen Gewalt dort gedreht, und sie hatte unglücklicherweise einen Friedhof besucht, wo gerade die Bestattung eines Mannes aus der endlosen Reihe der >Märtyrer< -katholisch oder protestantisch spielte keine Rolle mehr, beide Fraktionen hatten mehr als genügend - stattfand, und die Menge der Trauernden hatte sich plötzlich in eine Meute Wilder verwandelt. Sie waren vom Friedhof in die umliegenden Straßen gezogen und hatten nach Angehörigen des anderen Glaubens gesucht, bis sie wenig später zwei britische Armeeoffiziere in Zivil in einem nicht gekennzeichneten Fahrzeug entdeckt hatten. Der Mob hatte allein durch seine Größe das Auto eingekesselt, die Fenster eingeschlagen und die Friedenshüter auf den Gehweg herausgezerrt. Tessas beide technische Assistenten hatten das Weite gesucht, aber sie hatte sich mit der Videokamera auf der Schulter in des Tohuwabohu gestürzt, und ihr war zumute gewesen, als hätte sie durch das Objektiv aus dieser Welt hinaus in die Hölle selbst gesehen. Wilde Augen, von Wut und Haß verzerrte Gesichter, die Trauer vergessen, der Blutgier ergeben, so hatten die Trauernden unablässig auf die gestürzten Briten eingetreten, dann hatten sie sie auf die Füße gezogen und auf sie eingeschlagen und sie immer wieder gegen das Auto gestoßen, bis ihre Wirbelsäulen brachen und ihre Schädel barsten, dann hatten sie sie fallengelassen und wieder getreten und geprügelt und mißhandelt, obwohl sie da schon längst tot gewesen waren. Sie hackten heulend und kreischend, fluchend und Parolen singend, die zu unverständlichen Silbenketten gerieten, auf die zerschmetterten Leiber ein, aber sie waren keine irdischen Vögel, weder Bussarde noch Geier, sondern wie Dämonen, die aus der Hölle emporgeschwebt waren und die toten Männer nicht nur in der Absicht zerfetzten, ihr Fleisch zu verzehren, sondern auch vom heißen Verlangen erfüllt, ihre Seelen herauszureißen und zu stehlen. Zwei der rasenden Männer hatten Tessa bemerkt, ihr die Videokamera weggerissen und am Boden zertrümmert und sie selbst umgeworfen. Einen schrecklichen Augenblick war sie überzeugt gewesen, sie würden sie in ihrer Wut ebenfalls in Stücke reißen. Zwei bückten sich und zerrten an ihrer Kleidung. Ihre Gesichter waren so haßverzerrt, daß sie nicht mehr menschlich wirkten, sondern wie Steinfiguren, die von Kirchendächern herabgestiegen waren. Sie hatten alles Menschliche in sich aufgegeben und die in den Genen codierten Geister der Primitiven, von denen sie abstammten, freigelassen. »Um Gottes willen!« hatte sie geschrien. »Um Gottes Willen, bitte!« Vielleicht war es die Erwähnung Gottes, vielleicht auch der Klang einer menschlichen Stimme, die nicht zum heiseren Knurren eines Tieres geworden war, die sie irgendwie veranlaßte, von ihr abzulassen und innezuhalten. Diese Gelegenheit hatte sie genützt, um sich aufzurappeln und vor ihnen zu fliehen, sie hatte sich durch den wogenden, blutgierigen Mob in Sicherheit gebracht.
Was sie jetzt am anderen Ende des Motelflurs hörte, war genauso. Oder noch schlimmer.
33
Sam fing an zu schwitzen, obwohl die Heizung des Streifenwagens nicht eingeschaltet war, und jeder neuerliche Windhauch versetzte ihn in Angst und Schrecken, während er das Submenü B abrief, das die geplanten Verwandlungen von sechs Uhr des kommenden Morgens bis achtzehn Uhr des Abends zeigte. Über diesen Namen stand: 450 VERWANDLUNGEN GEPLANT. Harry Talbots Name stand auch nicht auf dieser Liste.
Möglichkeit C, achtzehn Uhr Dienstagabend bis Mitternacht desselben Tages, informierte ihn darüber, daß 274 Verwandlungen geplant waren. Auf dieser dritten und letzten Liste stand Harry Talbots Name.
Sam zählte im Geiste die Zahlen der in den drei Verwandlungszeiträumen genannten Personen zusammen - 380, 450 und 274 - und stellte fest, daß das 1104 ergab, die Zahl auf der Liste bevorstehender Verwandlungen. Zählte man dazu nun 1967, die Zhl der bereits als verwandelt Gelisteten, ergab das zusammen die Summe 3071, was wahrscheinlich der Gesamtbevölkerung von Moonlight Cove entsprach. Wenn die Uhr das nächste Mal Mitternacht schlüge, weniger als dreiundzwanzig Stunden von jetzt an, würde die gesamte Stadt verwandelt sein - was, zum Teufel, das auch immer heißen mochte.
Er schaltete sich aus dem Submenü aus und wollte gerade den Automotor abschalten, als das Wort ALARM auf dem VDT erschien und zu blinken anfing. Er bekam Angst, weil er sicher war, daß sie ihn als Eindringling entlarvt hatten, der in ihrem System herumspionierte; er mußte einen versteckten Alarm im System ausgelöst haben.
Aber anstatt die Tür aufzureißen und die Flucht zu ergreifen, betrachtete er den Bildschirm weiter, weil die Neugier ihn festhielt.
TELEFONÜBERWACHUNG DEUTET AUF ANWESENHEIT
EINES FBI-AGENTEN IN MOONLIGHT COVE HIN.
ORT DES ANRUFES:
ÖFFENTLICHER FERNSPRECHER, SHELL-TANKSTELLE,
OCEAN AVENUE.
Der Alarm hatte etwas mit ihm zu tun, aber nicht, weil er momentan in einem ihrer Streifenwagen saß und der New Wave/Moonhawk-Verschwörung auf die Schliche kam. Offenbar waren die Dreckskerle auch in die Datenbänke der Telefongesellschaft eingeklinkt und durchsuchten diese Aufzeichnungen in regelmäßigen Abständen, um herauszufinden, wer von welchem Apparat welche Nummer angerufen hatte - sogar von sämtlichen öffentlichen Telefonzellen der Stadt, die unter normalen Umständen sicheres Kommunikationsmittel für einen Agenten gewesen wären. Sie waren paranoid, auf ihre Sicherheit bedacht, und sie verfügten über ein elektronisches Netz, dessen Umfang und Ausmaß mit jeder neuerlichen Enthüllung erstaunlicher würde.
ZEIT DES ANRUFS:
19.31 UHR, MONTAG,
13. OKTOBER.
Wenigstens hatten sie keine minütliche oder auch nur stündliche Überwachung bei der Telefongesellschaft. Ihr Computer durchsuchte deren Aufzeichnungen offenbar nach einem programmierten Plan, vielleicht alle sechs oder acht Stunden. Sonst hätten sie schon kurz nach seinem Anruf bei Scott an diesem Abend nach ihm zu suchen angefangen.
Nach der Legende ANRUF AN folgte seine Telefonnummer, dann sein Name und die Adresse in Sherman Oaks. Gefolgt von:
ANRUF GETÄTIGT VON:
SAMUEL H. BOOKER.
ZAHLUNGSMITTEL:
TELEFONKREDITKARTE
ART DER KARTE:
AUF FIRMENKONTO.
ANSCHRIFT DER FIRMA:
FEDERAL BUREAU OF INVESTIGATION,
WASHINGTON, D. C.
Sie würden die Motels des gesamten County durchsuchen, aber da er im einzigen Motel in Moonlight Cove selbst abgestiegen war, würde es eine kurze Suche werden. Er fragte sich, ob er noch Zeit hätte, ins Cove Lodge zurückzukehren, sein Auto zu holen, nach Aberdeen Wells, die nächste Stadt, zu fahren und dort das Büro des FBI in San Francisco von einer nicht überwachten Telefonzelle aus anzurufen. Er hatte genügend herausgefunden, um zu wissen, daß hier etwas verdammt Seltsames vor sich ging, das ausreichte, ein Eingreifen des FBI und eine ausführliche Ermittlung einzuleiten.
Aber die nächsten Worte, die auf dem Bildschirm aufleuchteten, überzeugten ihn davon, daß er geschnappt werden würde, ehe er die Stadt verlassen könnte, wenn er ins Cove Lodge zurückkehrte und sein Auto holte. Und wenn sie ihn in die Finger bekämen, würde er vielleicht zu einer weiteren Zahl in ihrer häßlichen Unfalltodstatistik.
Sie kannten seine Adresse, daher war Scott möglicherweise auch in Gefahr - nicht gleich, nicht in Los Angeles, aber vielleicht morgen.
DIALOGWIEDERGABE
WATKINS: SHOLNICK, SIND SIE EINGESCHALTET?
SHOLNICK: HIER.
WATKINS: VERSUCHEN SIE ES IM COVE LODGE.
SHOLNICK: SCHON UNTERWEGS.
Ein Beamter namens Sholnick war schon unterwegs, um herauszufinden, ob Sam sich als Gast im Cove Lodge eingetragen hatte. Seine Tarnung, die Sam dem Portier erzählt hatte -daß er ein erfolgreicher Börsenmakler war, der sich überlegte, ob er in dieser oder einer anderen Küstenstadt seinen vorzeitigen Ruhestand verbringen wollte - war aufgeflogen.
WATKINS: PETERSON?
PETERSON: HIER.
Sie mußten ihre Namen wahrscheinlich nicht eintippen. Die Konsole jedes Mannes würde ihn beim Hauptcomputer ausweisen, der dann den Namen automatisch vor den getippten Input stellte. Sauber, schnell, leicht zu handhaben.
WATKINS: UNTERSTÜTZEN SIE SHOLNICK.
PETERSON: GUT.
WATKINS: NICHT TÖTEN, BEVOR WIR IHN VERHÖRT HABEN.
In ganz Moonligt Cove unterhielten sich Polizisten über Computer miteinander, und nicht per Funk, wo man sie leicht hätte abhören können. Obwohl Sam sie ohne ihr Wis -sen belauschen konnte, hatte er den Eindruck, als wäre er gegen einen tüchtigen Gegner angetreten, der fast so allmächtig wie Gott war.
WATKINS: DANBERRY?
DANBERRY: HIER. HQ.
WATKINS: OCEAN AVENUE-ZUBRINGER ZUR AUTOBAHN SPERREN.
DANBERRY: ALLES KLAR.
WATKINS: WAS IST MIT DEM MÄDCHEN DER FOSTERS?
Sam war verblüffte, Shaddacks Namen auf dem Bildschirm zu sehen. Das Alarm hatte offenbar seinen Computer zu Hause aktiviert und möglicherweise auch einen akustischen Alarm ausgelöst und ihn geweckt.
WATKINS: NOCH AUF FREIEM FUSS.
SHADDACK: DÜRFEN NICHT RISKIEREN, DASS BOOKER SIE FINDET.
WATKINS: HABE WACHEN UM DIE GANZE STADT AUFGESTELLT. DIE WERDEN SIE ERWISCHEN, WENN SIE KOMMT.
SHADDACK: SIE HAT ZUVIEL GESEHEN.
Sam hatte in Zeitschriften und Zeitungen über Thomas Shaddack gelesen. Der Mann war eine Berühmtheit, das Computergenie des Jahrhunderts, und außerdem sah er irgendwie zwielichtig aus.
Da ihn dieser enthüllende Dialog so sehr fasziniert hatte, weil er den berühmten Mann und seine gekaufte Polizeitruppe belastete, war Sam die wahre Bedeutung des Gesprächs zwischen Chief Watkins und Danberry nicht sofort aufgegangen: Danberry... Hier. HQ... Ocean-Zubringer zur Autobahn sperren... Alles klar. Jetzt wurde ihm klar, daß Officer Danberry im Hauptquartier war, HQ, und das war das Rathaus, was bedeutete, er würde jeden Augenblick zur Hintertür herauskommen und zu einem der Streifenwagen laufen.
»Oh, Scheiße.« Sam ergriff die Zünddrähte und zog sie auseinander.
Der Motor hustete und ging aus, der Bildschirm wurde dunkel.
Einen Sekundenbruchteil später riß Danberry die Hintertür des Rathauses auf und stürmte auf den Parkplatz.
34
Als die Schreie aufhörten, erwachte Tessa aus ihrer Trance des Entsetzens und lief schnurstracks zum Telefon. Die Leitung war immer noch tot.
Wo war Quinn? Das Büro des Motels war um diese Zeit geschlossen, aber hatte der Manager nicht ein angrenzendes Apartment? Er würde auf den Lärm reagieren. Oder gehörte er zu der wilden Meute im Flur?
Sie hatten eine Tür aufgebrochen. Sie konnten auch ihre aufbrechen.
Sie nahm einen der Lehnstühle vom Tisch am Fenster, eilte damit zur Tür, kippte ihn und klemmte ihn unter den Türknauf.
Sie glaubte nicht mehr, daß sie deshalb hinter ihr her waren, weil sie Janices Schwester war und die Wahrheit aufdecken wollte. Diese Erklärung paßte nicht zum Angriff auf die anderen Gäste, die nichts mit Janice zu tun hatten. Es war verrückt. Sie begriff nicht, was vor sich ging, aber sie verstand die Bedeutung dessen, was sie gehört hatte, nur zu genau: Ein psychopathischer Killer - nein, mehrere, wie man dem Lärm entnehmen konnte, den sie gemacht hatten, ein bizarrer Kult wie die Manson-Family oder noch schlimmer -streifte durch das Motel. Sie hatten bereits zwei Menschen getötet, und sie konnten sie auch töten, und zwar offenbar ausschließlich aus Spaß an der Freude. Sie kam sich vor wie in einem Alptraum.
Sie rechnete damit, daß die Wände sich durchbiegen und auf die amorphe Weise von Orten in Alpträumen zerfließen würden, aber sie blieben fest, starr und die Farben der Gegenstände waren so leuchtend und klar, daß dies unmöglich ein Alptraum sein konnte.
Sie zog sich hektisch Socken und Schuhe an, weil es sie nervös machte, barfuß zu sein, wie sie sich zuvor in ihrer Nackheit verwundbar gefühlt hatte - als könnte der Tod durch korrekte Kleidung ferngehalten werden.
Sie hörte die Stimmen wieder. Aber nicht mehr am Ende des Flurs. Näher bei ihrer eigenen Zimmertür. Sie kamen näher. Sie wünschte sich, die Tür hätte einen Spion gehabt, durch den sie nach draußen sehen konnte, aber es gab keinen.
Zwischen Tür und Schwelle klaffte jedoch ein zwei Zentimeter breiter Schlitz, daher ließ sich Tessa zu Boden sinken, drückte das Gesicht gegen den Teppich und blinzelte auf den Flur hinaus. Aus dieser Perspektive sah sie etwas so schnell an ihrem Zimmer vorbeihuschen, daß sie es nicht deutlich erkennen konnte, aber sie sah seine Füße, und das veränderte ihre Perspektive der Geschehnisse nachdrücklich. Dies war kein Beispiel menschlicher Mordlust, wie sie schon einmal eines in Nordirland erlebt hatte - und dem sie beinahe zum Opfer gefallen wäre. Dies war statt dessen eine Begegnung mit dem Unbekannten, ein Riß in der Wirklichkeit, ein plötzliches Überwechseln aus der normalen Welt ins Unglaubliche. Es waren ledrige, dunkelhäutige, haarige Füße, breit und flach und verblüffend lang, mit Zehen, die so vorspringend und gelenkig waren, daß sie beinahe die Funkhon von Fingern zu haben schienen.
Etwas stieß gegen ihre Tür. Fest.
Tessa sprang auf und aus dem Foyer hinaus.
Irre Stimmen ertönten auf dem Flur: dieselbe unheimliche Mischung von schrillen Tierlauten, dazwischen atemlos hervorgestoßene gesprochene, jedoch weitgehend zusammenhanglose Worte.
Sie ging ums Bett herum zum Fenster, löste den Riegel und schob den beweglichen Flügel zur Seite.
Die Tür erbebte wieder. Das Poltern war so laut, daß sich Tessa wie in einer Trommel fühlte. Dank des Stuhls würde sie nicht so leicht nachgeben wie die Tür des anderen Zimmers, aber sie würde auch nur noch ein paar Stöße aushalten.
Sie setzte sich auf den Sims, schwang die Beine hinaus und sah nach unten. Der nebelfeuchte Fußweg glänzte im gelblichen Schein der Laternen etwa dreieinhalb Meter unter dem Fenster. Ein leichter Sprung.
Sie schlugen wieder gegen die Tür. Holz splitterte.
Tessa stieß sich vom Fenstersims ab. Sie landete auf dem nassen Weg und rutschte zwar, fiel aber aufgrund der gerillten Gummisohlen nicht hin.
Oben, im Zimmer, aus dem sie geflohen war, splitterte Holz lauter als vorher, belastetes Metall kreischte, als das Schloß nachzugeben begann.
Sie war nahe beim nördlichen Ende des Gebäudes. Sie glaubte zu sehen, wie sich in dieser Richtung etwas in der Dunkelheit bewegte. Es konnte nichts weiter als ein Nebelschwaden gewesen sein, der vom Wind ostwärts geweht worden war, aber sie wollte kein Risiko eingehen, daher lief sie nach Süden, und das endlos schwarze Meer jenseits des Geländes war rechts von ihr. Als sie das Ende des Gebäudes erreicht hatte, hallte ein Bersten durch die Nacht - die Tür zu ihrem Zimmer brach -, und es folgte das Heulen der Meute, als sie auf der Suche nach ihr eindrang.
35
Sam hätte nicht aus dem Auto herausgekonnt, ohne Danber-rys Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Vier Streifenwagen standen dem Polizisten zur Verfügung, daher hatte Sam eine Chance von fünfundsiebzig Prozent, daß er unentdeckt bleiben würde, wenn er im Auto bliebe. Er glitt, so weit er konnte, auf dem Fahrersitz hinab und lehnte sich nach rechts, über die Computertastatur am Armaturenbrett.
Danberry ging zum nächsten Auto in der Reihe.
Sam preßte den Kopf auf die Konsole und verdrehte den Hals, so daß er zum Beifahrerfenster hinaussehen konnte; er beobachtete, wie Danberry die Tür des anderen Streifenwagens auf schloß. Er betete, daß ihm der Polizist auch weiterhin den Rücken zukehren würde, denn das Innere des Autos, in dem Sam lag, wurde vom schwefligen Schein der Parkplatzleuchten erhellt. Wenn Danberry in seine Richtung sähe, würde er Sam entdecken.
Der Polizist stieg in den Streifenwagen ein und schlug die Tür zu, und Sam seufzte erleichtert. Der Motor sprang an. Danberry fuhr vom Parkplatz. Als er auf der Straße war, jagte er den Motor hoch, die Reifen drehten einen Augenblick durch und quietschten, bevor sie faßten, und dann war er verschwunden.
Sam wollte das Auto noch einmal kurzschließen und her-ausfinden, ob Watkins und Shaddack immer noch miteinander in Verbindung waren, aber er wußte, er durfte es nicht wagen, noch länger zu bleiben. Wenn die Menschenjagd weiterginge, würden sicher noch mehr Polizisten zum Einsatz kommen.
Weil er sie nicht wissen lassen wollte, daß er in ihrem Computer spioniert oder ihre Unterhaltung belauscht hatte
- je ahnungsloser er ihrer Meinung nach war, desto erfolgloser würde ihre Suche sein -, schraubte Sam das Zündschloß wieder mit seinen Werkzeugen in die Lenksäule. Er stieg aus, drückte den Türknopf hinunter und machte die Tür zu.
Er wollte die Gegend nicht über die Straße verlassen, weil es möglich war, daß ein Streifenwagen von dem einen oder anderen Ende einbiegen und ihn mit den Scheinwerfern anstrahlen würde. Statt dessen lief er schnell über den schmalen Weg am Parkplatz und öffnete eine Tür in einem schmiedeeisernen Zaun. Er kam in den Garten eines etwas heruntergekommenen viktorianischen Hauses, dessen Besitzer das Gestrüpp so hatten verwildern lassen, daß es aussah, als würde eine makaber gezeichnete Familie aus der Feder von Gahan Wilson hier hausen. Er ging leise an der Seite des Hauses vorbei, über den Vorgarten und zum Pacific Drive, einen Block südlich der Ocean Avenue.
Die Stille der Nacht wurde nicht von Sirenen gestört. Er hörte keine Rufe, keine hastigen Schritte, keine alarmierenden Schreie. Aber er wußte, er hatte eine Bestie mit vielen Köpfen geweckt, und diese unvergleichlich gefährliche Hydra würde nun in der Stadt nach ihm suchen.
36
Mike Peyser wußte nicht, was er tun sollte, wußte es nicht, er hatte Angst, war verwirrt und hatte Angst, daher konnte er nicht klar denken, aber er mußte schnell und klar denken, wie ein Mensch, aber der wilde Teil in ihm drängte sich im-mer wieder vor; sein Verstand arbeitete rasch, und er war messerscharf, aber er konnte nicht länger als ein paar Minuten einem zusammenhängenden Gedankengang folgen. Schnelles Denken, blitzschnelles Denken, reicht nicht aus, ein Problem wie dieses zu lösen; er mußte schnell und tiefschürfend denken. Aber seine Konzentration war nicht mehr, was sie einmal gewesen war.
Als es ihm endlich gelang, mit Schreien aufzuhören und vom Küchenboden aufzustehen, eilte er ins dunkle Eßzimmer, durchs unbeleuchtete Wohnzimmer, durch den kurzen Flur ins Schlafzimmer, dann weiter ins Bad, teilweise auf allen Vieren, erhob sich aber auf die Hinterfüße, als er die Schlafzimmerschwelle überschritten hatte, konnte sich jedoch nicht ganz aufrichten, war aber immerhin flexibel genug, halb aufrecht zu stehen. Im Bad, das nur schwach und leicht flackernd vom Mondlicht erhellt wurde, das durch das kleine Fenster auf den Spiegel des Medizinschränkchens fiel, packte er den Waschbeckenrand und sah in den Spiegel vor dem Medizinschränkchen, wo er nur ein schattenhaftes Spiegelbild von sich erkennen konnte, ohne Einzelheiten.
Er wollte glauben, daß er tatsächlich wieder in seine natürliche Gestalt zurückgekehrt war, daß das Gefühl, im verwandelten Stadium gefangen zu sein, nur eine Halluzination war, ja, ja, das wollte er glauben, mußte es unbedingt glauben, glauben, obwohl er nicht völlig aufrecht stehen konnte, obwohl er die Unterschiede in seinen unglaublich langfingrigen Händen und der seltsamen Haltung des Kopfes auf den Schultern bemerkte, und nicht zuletzt daran, wie der Rücken sich mit den Hüften vereinte. Er mußte es glauben.
Mach das Licht an, sagte er sich.
Er konnte es nicht.
Mach das Licht an.
Er hatte Angst.
Aber er mußte das Licht einschalten und sich ansehen.
Er umklammerte das Waschbecken und konnte sich nicht bewegen.
Mach das Licht an.
Statt dessen beugte er sich zu dem dunklen Spiegel und betrachtete die undeutliche Spiegelung, sah wenig mehr als den bersteinfarbenen Glanz seltsamer Augen.
Mach das Licht an.
Er stieß ein dünnes Wimmern von Zorn und Entsetzen aus.
Shaddack, dachte er plötzlich, Shaddack, er mußte es Shaddack erzählen, vielleicht würde Tom Shaddack wissen, was zu tun war, Shaddack war seine beste Hoffnung, möglicherweise seine einzige Hoffnung, Shaddack.
Er ließ das Waschbecken los, sank zu Boden, eilte aus dem Bad ins Schlafzimmer, zum Telefon auf dem Nachttisch. Beim Laufen wiederholte er den Namen immer wieder mit einer abwechselnd schrillen und kehligen, schrillen und flüsternden Stimme, als wäre er ein Zauberwort: »Shaddack, Shaddack, Shaddack, Shaddack...«
37
Tessa Lockland suchte in einer rund um die Uhr geöffneten Münzwäscherei vier Blocks östlich des Cove Lodge und einen halben Block von der Ocean Avenue entfernt Schutz. Sie wollte an einem hellen Ort sein, und die Reihen der Neonlichter an der Decke ließen keinen Schatten entstehen. Sie war allein in der Wäscherei, saß auf einem zerschrammten gelben Plastikstuhl und starrte die Reihen von Wäschetrockneröffnungen an, als würde das Verstehen durch eine kosmische Quelle zu ihnen kommen, die durch diese gläsernen Kreis e kommunizieren würde.
Als Dokumentarfilmemacherin mußte sie ein Auge für die Muster des Lebens haben, die einem Film den erzählerischen und visuellen Zusammenhang geben konnten, daher bereitete es ihr keine Mühe, die Muster von Dunkelheit, Tod und unbekannten Kräften in dieser heimgesuchten kleinen Stadt zu erkennen. Die fanatischen Geschöpfe im Hotel wa-ren sicherlich die Ursache der Schreie gewesen, die sie zuvor am Strand gehört hatte, und ihre Schwester war zweifellos von eben diesen Wesen getötet worden, was immer sie, zum Teufel, auch sein mochten. Was in gewisser Weise erklärte, weshalb die Behörden so versessen darauf gewesen waren, daß Marion der Verbrennung von Janices Leichnam zustimmte - nicht weil die sterblichen Überreste vom Meerwasser zerfressen und halb von Fischen verzehrt worden waren, sondern weil die Verbrennung Verletzungen vertuschen half, die bei der unvoreingenommenen Autopsie unbeantwortete Fragen aufgeworfen hätten. Darüber hinaus sah sie Spiegelungen der Korruption der hiesigen Behörden in der äußeren Erscheinung der Ocean Avenue, wo zu viele Schaufenster leer waren und es zu vielen Geschäften schlecht ging, was in einer Stadt, in der Arbeitslosigkeit praktisch nicht existierte, unerklärlich war. Ihr war eine Aura des Ernstes an den Leuten aufgefallen, die sie auf der Straße getroffen hatte, und ebenso eine Hektik und Zielstrebigkeit, die in einer ruhigen nördlichen Küstenstadt, wohin sich das Tohuwabohu des modernen Lebens kaum je verirrte, befremdlich wirkte.
Aber daß ihr dieses Muster aufgefallen war, bot noch keine Erklärung dafür, warum die Polizei Janices wahre Todesursache verheimlichen wollte. Oder warum die Stadt trotz ihres offensichtlichen Wohlstands in einer wirtschaftlichen Depression zu sein schien. Oder was, in Gottes Namen, diese Alptraumgeschöpfe im Motel gewesen waren. Muster waren Hinweise auf zugrundeliegende Wahrheiten, aber ihre Fähigkeit, sie zu erkennen, bedeutete nicht, daß sie die Antworten finden und die Wahrheit enthüllen könnte, auf die die Muster hindeuteten.
Sie saß zitternd unter dem Neonlicht und atmete die schwachen Spuren von Waschmitteln, Bleichmitteln, Weichspülern und den abgestandenen Geruch der Kippen in zwei freistehenden, mit Sand gefüllten Aschenbechern ein, während sie zu überlegen versuchte, was sie als nächstes tun sollte. Sie hatte ihre Entschlossenheit, Janices Tod aufzuklären, nicht verloren. Aber sie war nicht mehr so vermessen zu denken, daß sie ganz alleine Detektiv spielen könnte. Sie brauchte Hilfe, und die würde sie wahrscheinlich bei County- oder Staatsbehörden holen müssen.
Aber zunächst mußte sie einmal mit heiler Haut aus Moonlight Cove hinauskommen.
Das Auto stand beim Cove Lodge, aber sie wollte nicht dorthin zurückkehren, um es zu holen. Diese... Geschöpfe mochten immer noch dort sein oder es aus den dichten Büschen und Bäumen oder den in der Stadt allgegenwärtigen dunklen Schatten heraus beobachten. Wie Carmel, Kalifornien, das auch an der Küste lag, war Moonlight Cove eine Stadt, die buchstäblich in den Wald am Meer gebaut war. Tessa bewunderte Carmel, weil die Werke von Menschenhand und der Natur so gefällig miteinander verschmolzen waren, wo Geographie und Architektur häufig das Werk ein und desselben Bildhauers zu sein schienen1. Momentan jedoch machten die Üppigkeit und die kunstvollen nächtlichen Schatten Moonlight Cove nicht anmutig und schön; vielmehr schien sich diese Stadt in den dünnsten Mantel der Zivilisation zu hüllen, unter dem etwas Wildes - sogar Urzeitliches - wartete und lauerte. Die Baumhaine und dunklen Straßen waren nicht die Heimat der Schönheit, sondern des Unheimlichen und des Todes. Sie hätte Moon-light Cove wesentlich anziehender gefunden, wenn jede Straße, jede Gasse, jeder Rasen und jeder Park mit demselben Übermaß an Neonlicht erhellt gewesen wäre wie die Wäscherei, in der sie Zuflucht gesucht hatte.
Vielleicht war die Polizei mittlerweile als Reaktion auf die Schreie und den Aufruhr im Cove Lodge eingetroffen. Aber sie würde sich nicht sicherer fühlen, wenn sie dorthin zurückkehrte, nur weil die Bullen da waren. Die Polizei war Teil des Problems. Sie würden ihr Fragen nach der Ermordung der beiden anderen Gäste stellen. Sie würden herausfinden, daß Janice ihre Schwester gewesen war, und sie brauchte ihnen nicht zu erzählen, daß sie in die Stadt gekommen war, um die Umstände von Janices Tod aufzudek-ken, denn das würden sie auch von selbst vermuten. Wenn sie an einer Verschwörung beteiligt waren, die wahre Natur von Janices Tod zu vertuschen, würden sie wahrscheinlich nicht zögern, sich Tessas auf eine nachdrückliche und endgültige Art und Weise anzunehmen.
Sie mußte auf das Auto verzichten.
Aber der Teufel sollte sie holen, wenn sie sich bei Nacht und Nebel aus der Stadt schliche. Sie würde auf der Autobahn vielleicht mitgenommen werden - vielleicht sogar von einem ehrlichen Trucker und nicht von einem mobilen Psychopathen -, aber sie würde zwischen Moonlight Cove und der Straße durch eine dunkle, ländliche Gegend laufen müssen, wo das Risiko, auf weitere dieser mordlüsternen Bestien zu treffen, die die Moteltür eingeschlagen hatten, sicher noch größer war.
Selbstverständlich hatten sie sie an einem öffentlichen und hell erleuchteten Ort verfolgt. Sie konnte nicht davon ausgehen, daß sie in dieser Wäscherei sicherer war als im dunklen Wald. Wenn die dünne Haut der Zivilisation aufplatzte und das urzeitliche Entsetzen hervorbrach, dann war man nirgendwo sicher, nicht einmal auf den Stufen einer Kirche, wie sie es in Nordirland und anderswo gelernt hatte.
Dennoch würde sie sich ans Licht halten und die Dunkelheit meiden. Sie war durch eine unsichtbare Wand zwischen der Wirklichkeit, wie sie sie immer gekannte hatte, und einer anderen, feindlicheren Welt getreten. Solange sie in dieser Zwielichtzone blieb, schien es klug, davon auszugehen, daß Schatten noch weniger Sicherheit und Schutz boten als hell erleuchtete Orte.
Aber damit hatte sie keinen Plan, wie sie vorgehen sollte. Sie konnte nur in der Wäscherei sitzenbleiben und auf den Morgen warten. Bei Tageslicht riskierte sie vielleicht den langen Fußmarsch zur Autobahn.
Das blanke Glas der Wäschereifenster erwiderte ihren starrenden Blick.
Ein Herbstfalter stieß leise gegen die Plastikverkleidung der Neonlichter.
38
Da sie nicht kühn nach Moonlight Cove hineingehen konnte, wie sie es vorgehabt hatte, verließ Chrissie die Holliwell Road und ging in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Sie blieb im Wald und schlich vorsichtig von Baum zu Baum, wobei sie sich bemühte, jedes Geräusch zu vermeiden, das die Wachtposten unter den Bäumen möglicherweise hätten hören können.
Nach ein paar Metern, als die Männer sie bestimmt nicht mehr sehen oder hören konnten, schritt sie wackerer aus. Schließlich kam sie zu einem der Häuser an der Landstraße. Das einstöckige Ranchhaus lag hinter einem großen Vorgarten; es wurde von mehreren Pinien und Fichten abgeschirmt und war im schwachen Mondschein kaum auszumachen. Weder drinnen noch draußen brannten Lichter, und alles war still.
Sie brauchte Zeit zum Nachdenken und mußte aus der kalten, klammen Nacht fortkommen. Sie hoffte, daß keine Hunde auf dem Grundstück waren, und eilte zur Garage, wobei sie sich vom Kiesweg fernhielt, um keinen unnötigen Lärm zu machen. Es gab, wie sie vermutet hatte, neben dem großen Tor, durch das das Auto hinein- und hinausfuhr, noch eine kleine Seitentür. Sie war unverschlossen. Sie trat in die Garage und machte die Tür hinter sich zu.
»Chrissie Foster, Geheimagentin, drang tapfer und kühn durch eine Seitentür ins Lager des Feindes ein«, sagte sie leise.
Das Leuchten des untergehenden Mondes drang durch die Scheiben der Tür und durch zwei hohe, schmale Fenster an der Westseite herein, aber es reichte nicht aus, etwas zu erhellen. Sie konnte nur dunkel ein paar Krümmungen von Chrom und Glas sehen, die eben ausreichten, die Anwesenheit von zwei Autos anzudeuten.
Sie tastete sich mit der Vorsicht einer Blinden zum ersten Fahrzeug, streckte beide Hände vor sich aus und hatte ständig Angst, sie könnte etwas umstoßen. Das Auto war nicht verschlossen. Sie schlüpfte hinter das Lenkrad und ließ die Tür offenstehen, damit das tröstliche Innenlicht anblieb. Sie vermutete, daß, wenn jemand im Haus aufwachte und nach draußen sah, er dieses Licht durchs Garagenfenster sehen konnte, aber dieses Risiko mußte sie eingehen.
Sie suchte im Handschuhfach, in den Ablagen an den Türen und unter den Sitzen, weil sie hoffte, etwas zu essen zu finden, da viele Leute Schokoriegel oder Erdnüsse oder Kekse im Auto aufbewahrten, damit sie während der Fahrt etA was zu knabbern hatten. Sie hatte zwar am Nachmittag gegessen, als sie in der Vorratskammer eingesperrt gewesen war, aber das war jetzt zehn Stunden her. Ihr Magen knurrte. Sie ging nicht davon aus, daß sie einen Eisbecher mit heißen Früchten oder ein Aspiksandwich finden würde, aber sie hatte sich doch mehr erhofft als einen einzigen Kaugummistreifen und einen grünen Verbandskasten, den sie staubig und schmutzig und voller Teppichfusseln unter dem Sitz hervorgeholt hatte.
Sie sagte, als würde sie Zeitungsschlagzeilen lesen: HUNGERTOD IM LAND DES ÜBERFLUSSES. EINE MODERNE TRAGÖDIE.
JUNGES MÄDCHEN TOT IN GARAGE AUFGEFUNDEN. >!CH WOLLTE NUR EIN PAAR ERDNÜSSE<, MIT IHREM EIGENEN BLUT GESCHRIEBEN.
Im anderen Auto fand sie zwei Schokoriegel mit Mandeln.
Danke, Gott. Deine Freundin Chrissie.
Sie schlang den ersten Riegel hinunter, aber den zweiten nahm sie in kleinen Bissen zu sich und ließ ihn auf der Zunge zergehen.
Beim Essen dachte sie über verschiedene Möglichkeiten nach, wie sie nach Moonlight Cove gelangen könnte. Als sie mit der Schokolade fertig war...
SCHOKOLADENSÜCHTIGES KLEINES MÄDCHEN STRIBT IN VERLASSENER GARAGE DEN KARIESTOD
.. .hatte sie sich einen Plan ausgedacht.
Ihre gewöhnliche Schlafenszeit lag schon Stunden zurück, und sie war erschöpft von den anstrengenden körperlichen Aktivitäten der Nacht, daher wollte sie nur hier im Auto bleiben, den Bauch voll Milchschokolade und Mandeln, und ein paar Stunden schlafen, bevor sie den Plan in die Tat umsetzte. Sie gähnte und glitt den Sitz hinunter. Ihr ganzer Körper schmerzte, ihre Augen waren so schwer, als hätte ein übereifriger Bestattungsunternehmer sie mit Münzen beschwert.
Die Vorstellung, sie wäre ein Leichnam, war so beunruhigend, daß sie auf der Stelle aus dem Auto ausstieg und die Tür schloß. Wenn sie im Auto einschliefe, würde sie wahrscheinlich erst am anderen Morgen aufwachen, wenn sie jemand fand. Vielleicht waren die Leute, denen die Autos hier in der Garage gehörten, auch verwandelt, wie ihre Eltern, in diesem Fall wäre ihr Untergang besiegelt.
Draußen zitterte sie im kalten Wind, als sie wieder zur Landstraße ging und sich nach Norden wandte. Sie kam an zwei weiteren stillen und dunklen Häusern vorbei, einem weiteren Waldstück, schließlich kam sie zu einem vierten Haus, ebenfalls ein einstöckiges Gebäude im Rancherstil mit Holzschindeln als Dach und Rotholz-Fachwerk.
Sie kannte die Leute, die hier wohnten, Mr. und Mrs. Eu-lane. Mrs. Eulane betrieb die Cafeteria in der Schule, Mr. Eu-lane war Gärtner mit vielen Kunden in Moonlight Cove. Mr. Eulane fuhr jeden Morgen sehr früh mit seinem weißen Lieferwagen, auf dessen Ladefläche er Rasenmäher und Hek-kenscheren und Rechen und Schaufeln und Säcke voll Torf und Dünger und alles andere hatte, was ein Gärtner brauchen konnte, in die Stadt; wenn er Mrs. Eulane in der Schule absetzte, waren noch nicht viele Schüler da, danach ging er zu seiner eigenen Arbeit. Chrissie dachte sich, daß sie ein Versteck hinten auf dem Wagen finden könnte, wenn sie sich zwischen Mr. Eulanes Gartengeräten und Vorräten verkroch..
Der Lieferwagen stand in der Garage der Eulanes, die unverschlossen war, wie die andere auch. Aber dies war schließlich das Land, in dem die Menschen einander noch vertrauten - das war gut, obwohl es außerirdischen Invasoren einen zusätzlichen Vorteil verschaffte.
Das einzige Fenster war klein und lag an der dem Haus gegenüberliegenden Wand, daher wagte Chrissie es, das Licht einzuschalten, als sie eintrat. Sie kletterte leise an der Seitenklappe des Lastwagens hinauf und kroch zwischen die Gartengeräte, die in den beiden hinteren Dritteln der Ladefläche, bei der Heckklappe, verstaut waren. Weiter vorne, an der Rückwand des Führerhauses, befand sich zwischen Fünfzig-Pfund-Säcken Kunstdünger, Schneckenkorn und Blumenerde ein fast einen Meter hoher Stapel zusammengelegter Jutesäcke, in denen Mr. Eulane gemähtes Gras verpackte, das zur Müllkippe mußte. Sie konnte ein paar Säcke als Matratzen und andere als Zudecke benützen und sich bis zum Morgen hinlegen, und sie konnte bis Moonlight Cove zwischen den Säcken und dem Kunstdünger versteckt bleiben.
Sie kletterte von dem Lieferwagen herunter, schaltete das Garagenlicht aus, dann tastete sie sich durch die Dunkelheit und kletterte vorsichtig wieder hinauf. Sie machte sich ein Nest in den Säcken. Die Jute kratzte etwas. Nachdem jahrelang frisch gemähtes Gras darin transportiert worden war, hatten sie den Geruch angenommen, was anfangs schön war, aber rasch stören würde. Aber wenigstens bewahrten die Sackschichten ihre Körperwärme, so daß es ihr nach wenigen Minuten zum ersten Mal in dieser Nacht richtig warm war.
Im Schutze der Dunkelheit, (dachte sie), verbarg sich die junge Chrissie, die ihren verräterischen Menschengeruch mit dem Geruch von Gras verdeckte, der in den Jutesäcken hing, auf schlaue Weise vor den Außerirdischen - oder gar Werwölfen -, deren Geruchssinn fast so gut wie der von Bluthunden war.
39
Sam suchte vorübergehend Schutz auf dem unbeleuchteten Spielplatz der Thomas Jefferson Grundschule in der Palomi-ne Street im südlichen Teil der Stadt. Er saß auf einer Schaukel, hielt sich mit beiden Händen an den Ketten fest und schaukelte sogar tatsächlich ein wenig, während er über seine Möglichkeiten nachdachte.
Er konnte Moonlight Cove nicht mit dem Auto verlassen. Sein Mietwagen stand beim Motel, wo er festgenommen werden würde, wenn er sich zeigte. Er hätte ein Auto stehlen können, aber er erinnerte sich an die Unterhaltung per Computer, als Loman Watkins Danberry befohlen hatte, die Ocean Avenue zwischen der Stadt und dem Autobahnzubringer abzusperren. Sie würden jede Fluchtmöglichkeit abgeriegelt haben.
Er konnte über Nebenstraßen fahren, sich Schritt für Schritt zur Stadtgrenze und dann durch Wald und Feld zur Autobahn vorarbeiten. Aber Watkins hatte auch gesagt, daß er Wachen um die ganze Stadt herum auf gestellt hatte, um die >Tochter der Fosters< zu erwischen. Sam vertraute zwar auf seine Instinkte und die Fähigkeit zu überleben, aber er hatte seit dem Krieg vor zwanzig Jahren keinerlei Erfahrung mehr mit Fluchtmaßnahmen in offenem Gelände gehabt. Wenn Wachen um die Stadt herum standen, um das Mädchen abzufangen, würde Sam wahrscheinlich einer direkt in die Arme laufen.
Er war zwar bereit, sich erwischen zu lassen, aber er durfte ihnen erst in die Hände fallen, wenn er einen Anruf zum Bureau durchbekommen hatte, um zu berichten und um Verstärkung zu bitten. Wenn er zu einer weiteren Zahl in der Statistik dieser Unfalltod-Hauptstadt der Welt würde, würde das FBI an seiner Stelle neue Männer schicken, und schlußendlich würde die Wahrheit ans Licht kommen, aber möglicherweise zu spät.
Während er im rasch dünner werdenden Nebel und weitgehend vom Wind angestoßen sanft hin und her schwang, dachte er über diese Pläne nach, die er auf dem Bildschirm gesehen hatte. Innerhalb der nächsten dreiundzwanzig Stunden sollte jeder in der Stadt >verwandelt< werden. Obwohl er keine Ahnung hatte, in was die Menschen verwandelt werden sollten, gefiel ihm das Wort nicht. Und er hatte das Gsfühl, wenn die Pläne erfüllt wären und jeder in Moonlight Cove verwandelt worden wäre, würde es nicht leichter sein, das Rätsel zu lösen, als eine unendliche Zahl laserverschweißter, nach Art eines chinesischen Puzzles zusammengesetzter Titankisten aufzubrechen.
Okay, als erstes müßte er also ein Telefon finden und das FBI anrufen. Die Telefone in Moonlight Cove wurden überwacht, aber es war ihm einerlei, ob der Anruf bei der Computerroutineuntersuchung entdeckt oder sogar Wort für Wort aufgezeichnet werden würde. Er brauchte nur dreißig Sekunden oder eine Minute Zeit, um mit dem Bureau zu sprechen, dann würde zahlenmäßig starke Hilfe geschickt werden. Dann mußte er nur noch in Bewegung bleiben und die Polizei ein paar Stunden abhängen, bis die Agenten einträfen.
Er konnte nicht einfach zu einem Haus gehen und jemanden fragen, ob er einmal telefonieren könnte, weil er nicht wußte, wem er trauen könnte. Morris Stein hatte gesagt, wenn man einen oder zwei Tage in der Stadt wäre, bekäme man das paranoide Gefühl, daß einen überall Augen ansähen und der große Bruder nur eine Armeslänge entfernt wäre. Sam hatte dieses Stadium der Paranoia in nur wenigen Stunden erreicht und bewegte sich rasch darüber hinaus in einen Zustand ständiger nervlicher Anspannung und unablässigen Argwohns, wie er ihn seit den Tagen des Dschungelkriegs vor zwanzig Jahren nicht mehr erlebt hatte.
Eine öffentliche Telefonzelle. Aber nicht die bei der ShellTankstelle, wo er schon einmal telefoniert hatte. Ein Mann, der gesucht wurde, wäre närrisch, noch einmal einen Ort aufzusuchen, an dem er bekanntermaßen schon einmal gewesen war.
Er erinnerte sich nach seinem Rundgang durch die Stadt an eine oder zwei weitere Telefonzellen. Er stand von der Schaukel auf, steckte die Hände in die Jackentaschen, beugte die Schultern gegen den kalten Wind und ging über den Schulhof zur angrenzenden Straße.
Er dachte an die Foster-Tochter, von der Shaddack und Watkins per Computer gesprochen hatten. Wer war sie? Was hatte sie gesehen? Er vermutete, daß sie ein Schlüssel war, diese Verschwörung zu verstehen. Was sie gesehen hatte, konnte möglicherweise erklären, was mit >verwan-deln< gemeint war.
40
Die Wände schienen zu bluten. Rote Flüssigkeit floß in zahlreichen Strömen, als würde sie aus dem Verputz quellen, über die gelbe Farbe.
Loman Watkins, der in dem im zweiten Stock gelegenen Zimmer des Cove Lodge stand, war entsetzt... aber gleichzeitig seltsam erregt.
Der gräßlich zerbissene und zerfetzte Leichnam des Mannes lag in der Nähe des zerwühlten Bettes. Die tote Frau, die in einem noch schlimmeren Zustand war, lag außerhalb des Zimmers im Flur, eine scharlachrote Masse auf dem orangefarbenen Teppich.
Die Luft stank nach Blut, Erbrochenem, Fäkalien, Urin -eine Mischung von Gerüchen, die Loman immer besser kannte, da die Opfer der Regressiven Woche für Woche, Tag für Tag immer häufiger auftauchten. Aber diesesmal spürte er, wie noch nie vorher, etwas ungemein Anziehendes unter der beißenden Oberfläche des Gestanks. Er atmete tief ein, war aber nicht sicher, warum ihn dieses furchtbare Gemetzel so faszinierte. Aber er konnte die Faszination nicht leugnen - und ihr auch nicht widerstehen, ebensowenig wie ein Hund dem Geruch des Fuchses widerstehen kann. Obwohl er sich dem verlockenden Geruch nicht widersetzen konnte, machte ihm seine Reaktion darauf Angst, und das Blut in seinen Adern schien immer kälter zu werden, je mehr Lust er an dem biologischen Ge -stank empfand.
Barry Sholnick, der Beamte, den Loman via Computer ins Cove Lodge geschickt hatte, damit er Samuel Booker festnähme, und der anstelle des FBI-Agenten dieses Gemetzel vorgefunden hatte, stand jetzt am Fenster in der Ecke und betrachtete den Toten eingehend. Er war schon lange im Motel, länger als alle anderen, und betrachtete das Opfer inzwischen mit der Gleichgültigkeit, die Polizisten kultivieren mußten, als wären zerfetzte und verstümmelte Leichen am Schauplatz nicht bedeutender als die Möbelstücke. Und doch konnte Sholnick den Blick nicht von dem zerstückelten Leichnam, dem blutverschmierten Wrack und den blutbespritzten Wänden abwenden.
Wir verabscheuen, was aus den Regressiven geworden ist und was sie tun, dachte Loman, aber auf eine kranke Weise beneiden wir sie auch um ihre unvergleichliche Freiheit.
Etwas in ihm - und er vermutete, in allen Neuen Menschen - schrie danach, sich zu den Regressiven zu gesellen. Loman verspürte, wie schon vor dem Haus der Fosters, den Wunsch, die neue Kontrolle über seinen Körper nicht dazu zu benützen, sich höher zu entwickeln, wie Shaddack das beabsichtigt hatte, sondern um in ein wildes Stadium zurückzusinken. Er sehnte sich danach, auf eine Bewußtseinsebene hinabzusinken, auf der ihn keine Gedanken über Sinn und Zweck des Lebens quälen würden, auf der intellektuelle Herausforderungen nicht existierten, auf der er ein Geschöpf sein würde, dessen Existenz fast ausschließlich vom Empfinden geprägt sein würde, auf der jede Entscheidung einzig und allein auf der Basis getroffen werden würde, ob sie ihm Vergnügen bereitete, eine von komplizierten Gedankengängen freie Ebene. O Gott, von der Last der Zivilisation und Intelligenz befreit zu sein!
Sholnick gab tief in der Kehle ein Knurren von sich.
Loman sah von dem Toten auf.
Ein wildes Licht brannte in Sholnicks Augen.
Bin ich so blaß wie er? fragte sich Loman. Ebenso hohläugig und seltsam?
Sholnick hielt dem Blick seines Chefs einen Moment stand, dann wandte er sich ab, als wäre er bei einer beschämenden Tat ertappt worden.
Lomans Herz schlug heftig.
Der dunkle, anziehende Geruch. Der Geruch der Jagd, des Tötens.
Er wandte sich von der Leiche ab und ging auf den Flur hinaus, aber dort lag der Leichnam der Frau - zerfetzt, verstümmelt, nackt -, und auch da fand er keine Erleichterung. Bob Trott, der erst vor kurzem zur Truppe gestoßen war, als das Personal vor einer Woche auf zwölf erhöht worden war, stand über dem verwüsteten Leichnam. Er war ein großer Mann, acht Zentimeter größer und dreißig Pfund schwerer als Loman, mit einem Gesicht voll schroffer Flächen und scharfer Kanten. Er sah mit einem schwachen, unheiligen Lächeln auf den Kadaver hinab.
Erhitzt, mit verschwimmender Sicht und Augen, die im grellen Neonlicht schmerzten, sagte Loman schrill: »Trott, kommen Sie mit mir.« Er ging den Flur entlang zum anderen Zimmer, in das eingebrochen worden war. Trott folgte ihm mit offensichtlichem Widerwillen.
Als Loman die eingeschlagene Tür dieses Zimmers erreichte, tauchte Paul Amberlay, ein weiterer seiner Beamten, an der Nordtreppe auf. Er kam vom Büro der Motels zurück, wohin Loman ihn geschickt hatte, damit er das Gästebuch studierte. »Das Paar in Zimmer vierundzwanzig hieß Jenks, Sarah und Charles«, berichtete Amberlay. Er war fünfundzwanzig, hager und sehnig und intelligent. Da das Gesicht des jungen Beamten spitz zulief und die Augen tief in den Höhlen lagen, hatte er Loman immer an einen Fuchs erinnert. »Sie sind aus Portland.«
»Und hier in sechsunddreißig?«
»Tessa Lockland aus San Diego.«
Loman blinzelte. »Lockland?«
Amberlay buchstabierte.
»Wann hat sie sich eingetragen?«
»Erst heute abend.«
»Janice Capshaw, die Frau des Priesters«, sagte Loman. »Ihr Mädchenname war Lockland. Ich mußte mich am Telefon mit ihrer Mutter herumärgern, und die war in San Diego. Lästige alte Schlampe. Eine Million Fragen. Ich hatte Mühe, sie zu einer Einäscherung zu überreden. Sie sagte, ihre andere Tochter wäre außer Landes, irgendwo total weit weg, könnte nicht erreicht werden, würde aber innerhalb eines Monats herkommen, um das Haus zu räumen und Mrs. Capshaws Angelegenheiten zu regeln. Ich schätze, das ist sie.«
Loman führte sie in Tessa Locklands Zimmer, zwei Türen von Zimmer vierzig entfernt, in dem Booker wohnte. Wind heulte durch das offene Fenster. Zertrümmerte Möbel, zer-rissene Bettwäsche und Glas von einem zerschmetterten Fernseher lagen überall verstreut; aber kein Blut. Sie hatten das Zimmer schon nach einer Leiche durchsucht, aber keine gefunden; das offene Fenster deutete darauf hin, daß die Bewohnerin geflohen war, bevor die Regressiven die Tür eingeschlagen hatten.
»Booker ist also da draußen«, sagte Loman. »Und wir müssen davon ausgehen, daß er die Regressiven gesehen oder beim Töten gehört hat. Er weiß, daß hier etwas nicht stimmt. Er versteht es nicht, aber er weiß genug... zuviel.«
»Wir müssen davon ausgehen, daß er sich den Arsch aufreißt, um das verdammte FBI anzurufen«, sagte Trott.
Loman stimmte zu. »Und jetzt haben wir auch noch diese Schlampe Lockland, die wahrscheinlich denken wird, daß ihre Schwester gar keinen Selbstmord begangen hat, daß sie von denselben Wesen getötet wurde, die das Paar aus Portland umgebracht haben... «
»Dann wäre es logisch«, sagte Amberlay, »daß sie direkt zu uns kommt, zur Polizei. Sie wird uns einfach in die Arme laufen.«
»Vielleicht«, sagte Loman ohne Überzeugung. Er fing an, die Trümmer zu durchsuchen. »Helft mir, ihre Handtasche zu finden. Da sie ihre Tür einschlagen wollten, wird sie aus dem Zimmer geflohen sein, ohne ihre Handtasche mitzunehmen.«
Sie fanden sie eingeklemmt zwischen dem Bett und einem Nachttisch.
Loman kippte den Inhalt auf die Matratze. Er ergriff die Brieftasche, blätterte die Plastikhüllen mit den Kreditkarten und Fotos durch, bis er ihren Führerschein gefunden hatte. Laut Daten des Führerscheins war sie dreiunddreißig, wog zweiundfünfzig Kilo, blond und blauäugig. Loman hielt den Ausweis hoch, damit Trott und Amberlay das Foto sehen konnten.
»Sieht gut aus«, sagte Amberlay.
»Davon hätte ich gerne einen Bissen«, sagte Trott.
Die Wortwahl seines Beamten verschaffte Loman eine Gänsehaut. Er fragte sich, ob Trott den >Bissen< als anderes Wort für Sex gebraucht hatte, oder ob er ein sehr reales unterbewußtes Verlangen ausdrückte, die Frau zu zerfetzen, wie die Regressiven das Paar aus Schottland zerfetzt hatten.
»Wir wissen, wie sie aussieht«, sagte Loman. »Das hilft uns weiter.«
Trotts schroffe, scharfgeschnittene Gesichtszüge waren nicht geschaffen, zärtliche Gefühle wie Liebe oder Hingabe auszudrücken, aber sie waren vollkommen angemessen für die animalische Gier und den Drang zur Gewalt, der tief in ihm brodelte. »Möchten Sie, daß wir sie festnehmen?«
»Ja. Sie weiß im Grunde genommen nichts, aber andererseits weiß sie zuviel. Sie weiß, daß das Paar hier im Flur getötet wurde, und sie hat möglicherweise einen Regressiven gesehen.«
»Vielleicht haben die Regressiven sie durch das Fenster verfolgt und erwischt«, sagte Amberlay. »Vielleicht finden wir ihre Leiche irgendwo draußen auf dem Motelgelände.«
»Könnte sein«, sagte Loman. »Aber wenn nicht, müssen wir sie finden und festnehmen. Haben Sie Callan verständigt?«
»Ja«, sagte Amberlay.
»Wir müssen hier saubermachen«, sagte Loman. »Wir müssen bis Mittwoch alles geheimhalten. Wenn alle die Verwandlung hinter sich haben, wenn Moonlight Cove sicher ist, können wir uns darauf konzentrieren, die Regressiven aufzuspüren und zu eleminieren.«
Trott und Amberlay sahen Loman in die Augen, dann einander an. In den Blicken, die sie miteinander wechselten, sah Loman die dunkle Erkenntnis, daß sie alle potentielle Regressive waren, daß auch sie den Ruf nach dem unbelasteten primitiven Stadium verspürten. Das war ein Wissen, das keiner auszusprechen wagte, denn das hätte das Eingeständnis bedeutet, daß Moonhawk ein Projekt voller Fehler war, das sie alle zum Untergang verurteilte.
41
Mike Peyser hörte das Freizeichen und mühte sich mit den Knöpfen ab, die für seine langen, zinkenähnlichen Finger zu klein und zu dicht nebeneinander lagen. Plötzlich wurde ihm klar, daß er Shaddack nicht anrufen konnte, daß er nicht wagen würde, Shaddack anzurufen, obwohl sie einander schon seit über zwanzig Jahren kannten, seit sie an der Stanfort Universität studiert hatten, er konnte Shaddack nicht anrufen, obwohl Shaddack ihn zu dem gemacht hatte, was er war, weil Shaddack ihn jetzt als Außenseiter betrachten würde, als Regressiven und Shaddack würde ihn in einem Labor einsperren und ihn mit der Zärtlichkeit behandeln, die der Vivisektionist einer weißen Ratte vorbehielt, oder aber er würde ihn vernichten, weil er eine Gefahr für die stattfindende Verwandlung von Moonlight Cove war. Peyser kreischte vor Frustration. Er riß das Telefon aus der Wand und warf es durchs Zimmer, wo es den Ankleidespie -gel traf und zerschmetterte.
Seine plötzliche Erkenntnis, daß Shaddack mehr ein mächtiger Gegner als ein Freund und Mentor war, war der letzte völlig klare und rationelle Gedanke, den Peyser eine ganze Weile hatte. Seine Angst war eine Falltür, die sich unter ihm auftat und ins Dunkel des vorzeitlichen Verstandes fallenließ, den er des Vergnügens einer nächtlichen Jagd wegen freigesetzt hatte. Er ging hin und her durchs Haus, manchmal hektisch, manchmal verstohlen schleichend, aber ohne zu wissen, warum er abwechselnd aufgeregt, deprimiert oder von verzehrenden Bedürfnissen erfüllt war und mehr von seinen Gefühlen als von seinem Verstand geleitet war.
Er erleichterte sich in einer Ecke das Wohnzimmers, schnupperte an seinem eigenen Urin und ging dann in die Küche, um noch mehr Eßbares zu suchen. Hin und wieder klärte sich sein Denken, und er versuchte, seinen Körper in seine zivilisiertere Gestalt zurückzurufen, aber wenn seine Zellen dem Willen nicht gehorchten, versank er wieder im Dunkel tierischer Gedanken. Er war einige Male klar genug, die Ironie zu erkennen, daß er von einem Prozeß, der ihn zum Übermenschen hätte machen sollen, zum Wilden gemacht worden war; aber diese Richtung seiner Gedanken war so finster, daß er sie nicht ertragen konnte, wodurch das neuerliche Absinken in den wilden Bewußtseinszustand fast willkommen war.
Sowohl im Griff des primitiven Bewußtseins, wie auch dann, wenn sich die Wolken von seinem Verstand zurückzogen, dachte er wiederholt an den Jungen, Eddie Valdoski, den Jungen, den zarten Jungen, und er erregte sich an der Erinnerung an Blut, süßes Blut, frisches Blut, das in der kalten Nachtluft dampfte.
42
Obwohl sie körperlich und geistig erschöpft war, konnte Chrissie nicht schlafen. Sie hing zwischen den Jutesäcken auf Mr. Eulanes Lieferwagen am dünnen Seil des Wachseins und wollte nichts mehr, als loslassen und in Bewußtlosigkeit fallen.
Sie fühlte sich unvollständig, als wäre etwas unterlassen worden - und plötzlich weinte sie. Vergrub das Gesicht in der wohlriechenden und leicht kratzenden Jute und weinte, wie sie es seit Jahren nicht mehr getan hatte, so herzzerreißend wie ein Baby. Sie weinte um ihre Mutter und ihren Vater, die sie vielleicht für immer verloren hatte, und die nicht sauber vom Tod geholt worden waren, sondern von etwas Verderbtem, Schmutzigem, Unmenschlichem, Satanischem. Sie weinte um die Jugend, die sie hätte haben können - Pferde und Wiesen am Meer und Bücher, die sie am Strand lesen konnte - und die wahrscheinlich für immer dahin war. Sie weinte auch über einen Verlust, den sie verspürte, aber nicht bezeichnen konnte, doch sie vermutete, es wäre Unschuld oder vielleicht der Glaube, daß das Gute über das Böse triumphierte.
Keine der Heldinnen aus Büchern, die sie kannte, hätte so unbeherrscht geschluchzt, und Chrissie schämte sich ihrer Tränenflut. Aber weinen war ebenso menschlich wie irren, und vielleicht mußte sie sich zum Teil wenigstens beweisen, daß sie in keine Saat des Bösen gepflanzt worden war, wie sie in ihren Eltern gekeimt und Wurzeln entwickelt hatte. Wenn sie weinte, war sie noch Chrissie. Daß sie weinen konnte, war der Beweis - niemand hatte ihre Seele gestohlen. Sie schlief.
43
Sam hatte an einer Union 76-Tankstelle einen Block nördlich der Ocean noch eine Telefonzelle gesehen. Die Tankstelle war aufgegeben worden. Die Fenster waren staubig, in einem hing ein hastig gemaltes Schild ZU VERKAUFEN, als wäre es dem Besitzer im Grunde genommen einerlei, ob die Anlage verkauft würde oder nicht, als hätte er das Schild nur geschrieben, weil es von ihm erwartet wurde. Trockene, abgefallene Blätter und verdorrte Piniennadeln von den umstehenden Bäumen waren an die Zapfsäulen geweht worden und lagen dort wie Schneeverwehungen.
Die Telefonzelle stand an der Südwand des Gebäudes und war von der Straße her einsichtig. Sam trat ein, zog aber die Tür nicht zu, weil er fürchtete, einen Stromkreis zu schließen, der das Licht einschalten und ihn damit für vorbeikommende Polizisten sichtbar machen würde.
Die Leitung war tot. Er warf einen Münze ein und hoffte, das würde das Freizeichen aktivieren. Die Leitung blieb tot.
Er spielte an der Gabel, in der der Hörer hing. Seine Münze kam wieder heraus.
Er versuchte es noch einmal, vergeblich.
Er glaubte, daß Telefonzellen auf dem Gelände von Tankstellen oder privaten Geschäften manchmal gemeinschaftlich geführt wurden, wobei sich die Telefongesellschaft und der Unternehmer, der die Zelle auf seinem Grundstück zuließ, den Gewinn teilten. Vielleicht hatten sie das Telefon abgestellt, als die Union 76 zugemacht hatte.
Aber er vermutete, daß die Polizei ihren Computerkontakt zur Telefongesellschaft dazu benützt hatte, alle Münzfernsprecher in Moolight Cove lahmzulegen. In dem Augenblick, als sie erfahren hatten, daß ein Agent des FBI unerkannt in der Stadt weilte, hatten sie extreme Maßnahmen ergreifen müssen, um zu verhindern, daß er mit der Außenwelt Verbindung aufnähme.
Vielleicht überschätzte er ihre Fähigkeiten aber auch. Er mußte noch ein Telefon ausprobieren, ehe er die Hoffnung aufgab, Kontakt mit dem Bureau zu bekommen. Beim Spazierengehen nach dem Essen war er an einer Münzwäscherei vorbeigekommen, die einen halben Block nördlich der Ocean Avenue und zwei Blocks westlich der Union 76 lag. Er war ziemlich sicher, daß er ein Telefon darin gesehen hatte, als er durch die Scheibe gespäht hatte - an der rückwärtigen Wand, im Anschluß an eine Reihe von Edelstahltrocknern im Industrieformat.
Er verließ die Union 76. Er hielt sich, soweit es ging, fern von den Straßenlaternen - die die Seitenstraßen nur am ersten Block nördlich und südlich der Ocean Avenue erhellten
- und ging durch dunkle Gassen, wenn er konnte. Er schlich durch die dunkle Stadt zu der Stelle, wo sich die Wäscherei seiner Erinnerung zufolge befand. Er wünschte sich, der Wind würde aufhören und einen Rest des zunehmend dünner werdenden Nebels zurücklassen.
An einer Kreuzung einen Block nördlich der Ocean und einen halben Block von der Wäscherei entfernt, lief er beinahe direkte vor einen Polizisten, der nach Süden Richtung Stadtmitte fuhr. Der Streifenwagen war einen halben Block von der Kreuzung entfernt, fuhr langsam und beobachtete beide Straßenseiten. Zum Glück sah er gerade in die andere Richtung, als Sam in den unvermeidbaren Lichtschein der Lampe an der Straßenecke trat.
Sam hastete rückwärts und drückte sich in den dunklen Schatten im tiefen Eingang eines dreigeschossigen Hauses, in dem einige der Selbständigen der Stadt untergebracht waren: Ein Schild links von der Tür listete einen Zahnarzt, zwei Anwälte, einen praktischen Arzt und einen Chiropraktiker auf. Wenn der Streifenwagen an der Kreuzung links einböge und an ihm vorbeiführe, würde er wahrscheinlich entdeckt werden. Aber wenn er geradeaus weiter zur Ocean führe oder rechts abböge und sich nach Westen wandte, würde er unbemerkt bleiben.
Er drückte sich gegen die verschlossene Tür, so weit er konnte, in den Schatten, und wartete, bis das nervtötend langsame Auto die Kreuzung erreichte; und das hatte Sam einen Moment Zeit zum Nachdenken und stellte fest, daß Moonlight Cove selbst für halb zwei Uhr morgens ungewöhnlich still und die Straßen seltsam verlassen waren. In Kleinstädten gab es sicher ebenso wie in Großstädten Nachtschwärmer, es hätten ein oder zwei Fußgänger unterwegs sein sollen, hin und wieder ein Auto, irgendein Anzeichen von Leben, abgesehen von einem Streifenwagen.
An der Kreuzung bog der schwarzweiße Wagen rechts ab und fuhr nach Westen, weg von ihm.
Obwohl die Gefahr vorbei war, blieb Sam in dem dunklen Eingang stehen und verfolgte im Geiste seinen Weg vom Cove Lodge zum Rathaus, von dort zur Union 76 und schließlich bis zu seiner mo mentanen Position. Er konnte sich nicht erinnern, daß er an einem Haus vorbeigekommen wäre, in dem Musik spielte, ein Fernseher lief oder Gelächter von Menschen auf eine Party hindeutete. Er hatte keine jungen Leute gesehen, die sich in parkenden Autos einen letzten Kuß gaben. Die wenigen Restaurants und Gasthäuser waren offenbar geschlossen, das Kino hatte dichtgemacht, und, abgesehen von ihm und der Polizei, hätte Moonlight Cove eine Geisterstadt sein können. Die Wohnzimmer, Schlafzimmer oder Küchen hätten nur von verwesenden Leichen bevölkert sein können - oder von Robotern, die tagsüber für Menschen galten und nachts aus Gründen der Energieersparnis abgeschaltet wurden, wenn es nicht notwendig war, die Illusion von Leben aufrechtzuerhalten.
Das Wort >Verwandlung< beunruhigte ihn zunehmend mehr, ebenso wie seine geheimnisvolle Bedeutung im Zusammenhang mit dem Projekt Moonhawk, als er aus dem Eingang trat, um die Ecke bog und die hell erleuchtete Straße entlang zur Wäscherei lief. Er sah das Telefon, als er die Glastür aufstieß.
Er eilte halb durch den langen Raum - rechts Trockner, eine Doppelreihe Waschmaschinen Rücken an Rücken in der Mitte, ein paar Stühle am Ende der Reihe, weitere Stühle an der linken Wand, zusammen mit Süßigkeitenautomaten und Waschmittelspendern und einem Tisch, um Wäsche zusammenzulegen -, bis er bemerkte, daß die Wäscherei gar nicht verlassen war. Eine kleine Blondine in verblichenen Jeans und einem blauen Pullover saß auf einem der gelben Plastikstühle. Keine Waschmaschine und kein Trockner lief, und die Frau schien keinen Wäschekorb bei sich zu haben.
Sie verblüffte ihn so sehr - eine lebende Person, ein lebender Mensch in dieser grabesstillen Nacht -, daß er stehenblieb und blinzelte.
Sie kauerte auf dem Rand des Stuhls und war augenscheinlich nervös. Ihre Augen waren aufgerissen. Sie hatte die Hände im Schoß verkrampft. Sie schien den Atem anzuhalten.
Als ihm klar wurde, daß er ihr Angst machte, sagte Sam: »Tut mir leid.«
Sie sah ihn an, als wäre sie ein Kaninchen, das sich dem Fuchs gegenübersieht.
Als ihm bewußt wurde, daß er wild dreinblicken mußte, vielleicht sogar panisch wirkte, fügte er hinzu: »Ich bin nicht gefährlich.«
»Das sagen sie alle.«
»Tatsächlich?«
»Aber ich bin es.«
Er sagte verwirrt: »Was sind Sie?«
»Gefährlich.«
»Wirklich?«
Sie stand auf. »Ich habe den schwarzen Gürtel.«
Zum ersten Mal seit Tagen huschte ein aufrichtiges Lächeln über Sams Gesicht. »Können Sie mit bloßen Händen töten?«
Sie sah ihn einen Augenblick blaß und zitternd an. Als sie schließlich sprach, war ihr gekränkter Zorn exzessiv. »He, machen Sie sich nicht über mich lustig, Arschloch, sonst schlage ich Sie zusammen, daß Sie sich beim Laufen wie ein Sack Bruchglas anhören.«
Von ihrer Heftigkeit überrascht, nahm Sam allmählich die Einzelheiten in sich auf, die ihm beim Eintreten aufgefallen waren. Keine Waschmaschinen oder Trockner in Betrieb. Kein Waschkorb. Kein Waschmittelkarton und keine Weichspülerflasche.
»Was stimmt nicht?« fragte er plötzlich argwöhnisch.
»Nichts, wenn Sie mir vom Leibe bleiben.«
Er fragte sich, ob sie wußte, daß die hiesige Polizei scharf darauf war, ihn zu erwischen. Aber das schien verrückt. Woher sollte sie es wissen? »Was haben Sie hier zu suchen, wenn Sie nichts zu waschen haben?«
»Was geht Sie das an? Gehörte Ihnen diese Klitsche?« wollte sie wissen.
»Nein. Und erzählen Sie mir nicht, daß sie Ihnen gehört.«
Sie sah ihn böse an.
Er betrachtete sie und merkte erst allmählich, wie attraktiv sie war. Ihre Augen waren so leuchtend blau wie ein Junihimmel, ihre Haut so rein wie Frühlingsluft, und sie schien an dieser dunklen Oktoberküste völlig fehl am Platze zu sein, geschweige denn in einer schäbigen Wäscherei um ein Uhr dreißig am Morgen. Als ihm ihre Schönheit endlich völlig zu Bewußtsein gekommen war, fielen ihm auch andere Dinge auf, auch das Ausmaß ihrer Angst, das sich in ihren Augen, den Linien um sie herum und an ihrem Mund zeigte. Es war eine Angst, die größer war als jede mögliche Bedrohung, die von ihm ausgehen konnte. Wäre er ein zwei Meter großer, hundertfünfzig Kilo schwerer, tätowierter Rocker mit einem Revolver in einer und einem zehn Zoll langen Dolch in der anderen Hand und wäre er Psalmen an Satan singend in die Wäscherei gestürzt, dann wären ihr blutleeres Gesicht und das Entsetzen in ihren Augen verständlich gewesen. Aber er war nur Sam Booker, dessen größter Vorteil als Agent sein durch und durch normales Äußeres war, sowie seine Aura der Harmlosigkeit.
Da ihn ihre Angst nervös machte, sagte er: »Das Telefon.«
»Was?«
Er deutete auf den Münzfernsprecher.
»Ja«, sagte sie, als wollte sie bestätigen, daß es sich tatsächlich um ein Telefon handelte.
»Ich wollte nur telefonieren.«
»Oh.«
Er behielt sie im Auge, während er zum Telefon ging, seine Münze einwarf, aber kein Freizeichen bekam. Er holte die Münze wieder heraus und versuchte es noch einmal. Nichts.
»Verdammt!« sagte er.
Die Blondine war zur Tür geschlichen. Sie blieb stehen, als erwartete sie, daß er sich auf sie stürzen und sie niederzerren würde, wenn sie versuchte, die Wäscherei zu verlas -sen.
Moonlight Cove erzeugte in Sam eine übermächtige Paranoia. Er betrachtete seit ein paar Stunden jeden Menschen in der Stadt als potentiellen Gegner. Und plötzlich wurde ihm klar, daß das seltsame Verhalten dieser Frau auf dieselbe Geisteshaltung wie seine zurückzuführen war. »Ja, natürlich, Sie sind nicht von hier, nicht aus Moonlight Cove?«
»Und?«
»Ich auch nicht.«
»Und?«
»Und Sie haben etwas gesehen.«
Sie starrte ihn an.
Er sagte: »Etwas ist geschehen, Sie haben etwas gesehen, und Sie haben Angst, und ich wette, dazu haben Sie verdammt guten Grund.«
Sie sah aus, als wollte sie zur Tür stürzen.
»Warten Sie«, sagte er hastig. »Ich bin vom FBI.« Seine Stimme krächzte ein wenig. »Wirklich.«
44
Weil er ein Nachtmensch war und es immer vorgezogen hatte, tagsüber zu schlafen, befand sich Thomas Shaddack in seinem teakholzgetäfelten Arbeitszimmer, trug einen grauen Jogginganzug und arbeitete am Computer an einem Aspekt des Projekts Moonhawk, als Evan, sein Nachtdiener, durchläutete und ihm sagte, daß Loman Watkins vor der Tür stünde.
»Bringen Sie ihn zum Turm«, sagte Shaddack. »Ich werde gleich zu ihm kommen.«
Heutzutage trug er selten etwas anderes als Jogginganzüge. Er hatte mehr als zwanzig im Schrank - zehn schwarze, zehn graue und ein paar marineblaue. Sie waren angenehmer als andere Kleidung, und indem er seine Wahlmöglichkeiten beschränkte, sparte er Zeit, die er ansonsten damit vergeudet hätte, die Garderobe des Tages zusammenzustellen, eine Aufgabe, für die er kein Geschick hatte. Mode interessierte ihn nicht. Außerdem war er schlaksig - große Füße, dünne Beine, knotige Knie, lange Arme, knochige Schultern
- und so dünn, daß er nicht einmal in maßgeschneiderten Anzügen gut aussah. Kleidungsstücke hingen entweder seltsam an ihm herunter oder betonten seine Magerkeit in einem solchen Ausmaß, daß er wie der personifizierte Tod aussah, ein unglücklicher Vergleich, der sich zusätzlich durch seine weiße Haut, das fast schwarze Haar, scharfgeschnittene Züge und gelbliche Augen aufdrängte.
Er trug die Jogginganzüge sogar zu den Aufsichtsratssitzungen von New Wave. Wenn man auf seinem Gebiet ein Genie war, dann erwarteten die Leute, daß man exzentrisch war. Und wenn man über ein Privatvermögen verfügte, das in die hunderte Millionen ging, dann akzeptierten sie das Exzentrische kommentarlos.
Sein ultramodernes Betonhaus am Rand der Klippe an der Nordspitze der Bucht war ebenfalls Ausdruck seiner kalkulierten Nonkonformität. Die drei Stockwerke waren wie die Schichten einer Torte, aber jede Schicht hatte eine andere Größe als die anderen - die größte oben, die kleinste in der Mitte -, und sie waren nicht konzentrisch, sondern versetzt, und verliehen dem Haus bei Tage das Aussehen einer gigantischen, avantgardistischen Skulptur. Wenn nachts die Myriaden Fenster erleuchtet waren, sah es nicht mehr wie eine Skulptur, sondern wie das raumfahrende Mutterschiff einer erobernden außerirdischen Streitmacht aus.
Der Turm war etwas Exzentrisches auf dem Exzentrischen, er erhob sich abseits der Mitte vom dritten Stock weitere zwölf Meter in die Höhe. Er war nicht rund, sondern oval, nicht wie ein Turm, in dem eine Prinzessin auf ihren umherziehenden Prinzen harrte oder in dem ein Ritter seine Feinde gefangenhielt und folterte, er erinnerte vielmehr an den Turm eines U-Boots. Man konnte den großen, verglasten Raum ganz oben entweder mit dem Fahrstuhl erreichen, oder mittels einer Treppe, die spiralförmig an der Innenseite der Turmwand verlief und den Metallkern umkreiste, in dem sich der Fahrstuhlschacht befand.
Shaddack ließ Watkins aus schierem Vergnügen zehn Minuten warten und beschloß dann, mit dem Fahrstuhl hinaufzufahren. Das Innere des Lifts war mit poliertem Messing verkleidet, daher schien es, obwohl die Geschwindigkeit langsam war, als würde er im Inneren einer Gewehrkugel fahren.
Er hatte den Turm fast als Nachgedanken zum Entwurf des Architekten angefügt, aber er war sein Lieblingsort in dem riesigen Haus geworden. Diese hohe Stätte bot ungehinderten Ausblick auf das stille (oder sturmgepeitschte), sonnenglitzernde (oder nachtumhüllte) Meer im Westen. Nach Osten und Süden hin sah er hinaus und hinab auf die ganze Stadt Moonlight Cove; sein Gefühl der Überlegenheit wurde durch diesen erhöhten Ausblick auf die einzigen anderen sichtbaren Menschenwerke deutlich gesteigert. Aus diesem Zimmer hatte er erst vor vier Monaten den Mondfalken zum dritten Mal in seinem Leben gesehen, ein Anblick, der den wenigsten Menschen auch nur ein einziges Mal zuteil wurde - was er als Zeichen dafür wertete, daß er der einflußreichste Mensch werden sollte, der jemals auf Erden gewandelt war.
Der Fahrstuhl blieb stehen. Die Türen gingen auf.
Als Shaddack den spärlich erleuchteten Raum betrat, der den Fahrstuhlschacht umgab, erhob sich Loman Watkins rasch aus seinem Sessel und sagte respektvoll: »Guten Abend, Sir.«
»Bitte setzen Sie sich, Chief«, sagte er gnädig, sogar herablassend, aber mit einem subtilen Unterton in der Stimme, der ihr gegenseitiges Verständnis bekräftigte, daß es Shad-dack war, und nicht Watkins, der entschied, wie formell oder entspannt die Zusammenkunft sein würde.
Shaddack war der einzige Sohn von James Randolph Shad-dack, einem inzwischen verstorbenen Richter aus Phoenix. Die Familie war nicht wohlhabend gewesen, aber solide, gehobene Mittelschicht, und diese Position auf der wirtschaftlichen Leiter, verbunden mit dem Prestige des Richteramtes, verlieh James beträchtliches Gewicht in seiner Gemeinde. Und Macht. Während seiner ganzen Kindheit und Jugend war Tom fasziniert gewesen, wie sein Vater, der neben seinem Richteramt auch politisch aktiv gewesen war, diese Macht nicht nur dazu benutzt hatte, materielle Vorzüge zu erhalten, sondern auch, andere zu kontrollieren. Diese Kontrolle - die Ausübung von Macht ausschließlich um der Macht willen -hatte James am meisten angesprochen, und das hatte auch seinen Sohn von frühester Jugend an fasziniert.
Heute hatte Thomas Shaddack Macht über Loman Wat-kins und Moonlight Cove, weil er reich war, weil er der größte Arbeitgeber in der Stadt war, weil er die Räder des politischen Systems in Händen hatte, und wegen des Projekts Moonhawk, das er nach der ihm dreimal zuteil gewordenen Vision genannt hatte. Aber seine Fähigkeit, sie zu manipulieren, überstieg alles, was dem alten James als Richter und Freizeitpolitiker vergönnt gewesen war. Er besaß Macht über Leben und Tod - buchstäblich. Wenn er in einer Stunde entschied, daß sie alle sterben mußten, dann würden sie alle zusammen noch vor Mitternacht tot sein. Darüber hinaus konnte er sie zum Tode verurteilen und mußte ebensowenig damit rechnen, dafür bestraft zu werden, wie ein Gott, wenn er Feuer auf seine Untertanen herabregnen ließ.
Die einzigen Lichtquellen in dem Raum waren hinter einer Verkleidung über den breiten Fenstern verborgen, die von der Decke bis zehn Zentimeter über den Boden reichten. Die indirekte Beleuchtung verlief um den ganzen Raum herum und erhellte den Plüschteppich auf sanfte Weise, warf aber keinen Schein auf die gewaltigen Scheiben. Wäre die Nacht klar gewesen, hätte Shaddack dennoch den Schalter neben dem Fahrstuhl gedrückt und das Zimmer in fast völlige Dunkelheit gehüllt, damit seine geisterhafte Spiegelung, und die der modernen Möbel, nicht störend auf das Glas zwischen ihm und der Welt fielen, über der er residierte. Aber er ließ die Lichter an, weil immer noch ein Rest milchiger Nebel an den Glasscheiben vorbeiwirbelte und man wenig sehen konnte, da die Mondsichel schon den Horizont erreicht hatte.
Shaddack schritt barfuß über den anthrazitfarbenen Teppichboden. Er ließ sich in einen zweiten Sessel nieder und sah Loman Watkins über einen kleinen Cocktailtisch aus weißem Marmor hinweg an.
Der Polizist war vierundvierzig, weniger als drei Jahre älter als Shaddack, aber er war Shaddacks genaues Gegenteil: einsfünfundsiebzig, neunzig Kilo, kräftige Knochen, breite Schultern und Brust, stiernackiger Hals. Auch sein Gesicht war breit und so offen und arglos wie das von Shaddack verschlossen und verschlagen war. Seine blauen Augen sahen in die gelblich-braunen von Shaddack, aber nur einen Moment, dann sah er seine kräftigen Hände an, die er im Schoß so fest gefaltet hatte, daß die spitzen Knöchel drohten, die straffe Haut aufzureißen. Die dunkelbraune Kopfhaut war unter dem Bürstenschnitt des braunen Haares zu sehen.
Watkins' offensichtliche Unterwürfigkeit gefiel Shaddack, aber die sichtliche Angst des Polizeichefs machte ihn noch mehr an; man konnte sie deutlich am Zittern erkennen, das der Mann - mit geringem Erfolg - zu unterdrücken versuchte, und an dem gequälten Gesichtsausdruck, der die Farben seiner Augen dunkler machte. Aufgrund des Projekts Moonhawk, aufgrund dessen, was mit ihm geschehen war, war Loman Watkins den meisten anderen Menschen überlegen, aber er war gleichzeitig jetzt und für alle Zeiten so sicher wie eine Laborratte, die festgeschnallt und an Elektroden angeschlossen war, in Shaddacks Gewalt, war der Gnade des Wissenschaftlers ausgeliefert, der Experimente mit ihm durchführte. Shaddack war in gewisser Weise Watkins' Schöpfer, und er besaß in Watkins' Augen die Position und Macht eines Gottes.
Als er sich im Sessel zurücklehnte und die blassen Hände mit den langen Fingern über der Brust faltete, spürte Shaddack, wie seine Männlichkeit anschwoll und steif wurde. Aber nicht Loman Watkins erregte ihn, denn er verspürte überhaupt keinerlei homosexuelle Neigungen; nicht Wat-kins' Äußeres erregte ihn, sonder das Wissen um die grenzenlose Autorität, die er über den Mann hatte. Macht erregte Shaddack leichter und vollkommener als sexuelle Stimuli. Schon wenn er als Heranwachsender Bilder von nackten Frauen in erotischen Magazinen betrachtet hatte, hatten ihn nicht bloße Brüste, Hintern oder lange Beine angemacht, sondern die Vorstellung, diese Frauen zu beherrschen, sie völlig zu kontrollieren, ihr Leben in seinen Händen zu halten. Wenn eine Frau ihm mit unverhohlener Angst ansah, fand er sie unendlich anziehender, als hätte sie ihn voll Verlangen angesehen. Und da er auf Schrecken mehr ansprach als auf Lust, hing seine Erregung nicht von Geschlecht oder Alter oder körperlicher Attraktivität der Person ab, die vor ihm zitterte.
Shaddack, der die Unterwürfigkeit des Polizisten genoß, fragte: »Haben Sie Booker?«
»Nein, Sir.«
»Warum nicht?«
»Er war nicht im Cove Lodge, als Sholnick dorthin kam.«
»Er muß gefunden werden.«
»Wir werden ihn finden.«
»Und verwandeln. Wir werden nicht nur verhindern, daß er jemandem erzählt, was er gesehen hat... sondern wir werden ihn zu einem von uns in den Reihen des FBI machen. Das wäre ein Ding. Seine Anwesenheit hier könnte sich zu einem unglaublichen Plus für das Projekt entwickeln.«
»Nun, ob Booker ein Plus ist oder nicht, es gibt schlimmeres als ihn. Regressive haben Gäste der Motels angegriffen. Quinn wurde entweder verschleppt und getötet und an einer Stelle liegengelassen, wo wir ihn nicht gefunden haben... oder er war selbst einer der Regressiven und ist jetzt flüchtig... und macht das, was sie auch immer nach dem Töten machen, vielleicht den gottverdammten Mond anheulen.«
Shaddack hörte sich den Bericht mit zunehmendem Mißfallen und Aufregung an.
Watkins, der auf der Stuhlkante kauerte, beendete den Bericht, blinzelte und sagte: »Diese Regressiven machen mir verdammte Angst.«
»Sie sind beunruhigend«, stimmte Shaddack zu.
In der Nacht des vierten September hatten sie einen Regressiven, Jordan Coombs, im Kino an der Hauptstraße in die Enge getrieben. Coombs war Hausmeister bei New Wave gewesen. Aber in jener Nacht war er mehr Affe als Mensch, obwohl eigentlich keins von beidem, sondern etwas so Seltsames und Wildes, daß man es nicht mit einem einzigen Wort beschreiben konnte. Der Ausdruck >Regressive< war nur dann zutreffend, hatte Shaddack herausgefunden, wenn man nie einer dieser Bestien von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Denn wenn man einmal eine aus der Nähe gesehen hatte, vermittelte >regressiv< nur unzulänglich das Grauen des Dings, tatsächlich waren alle Worte /um Scheitern verurteilt. Auch ihr Versuch, Coombs lebend zu erwischen, war zum Scheitern verurteilt gewesen, denn er war zu aggressiv und kräftig gewesen, sich fangen zu lassen; um sich selbst zu retten, hatten sie ihm den Kopf wegpusten müssen.
Jetzt sagte Watkins: »Sie sind mehr als beunruhigend. Viel mehr als nur das. Sie sind- psychopathisch.«
»Ich weiß, daß sie psychopathisch sind«, sagte Shaddack ungeduldig. »Ich selbst habe ihrem Zustand einen Namen gegeben: metamorphosebedingte Psychose.«
»Sie haben Spaß am Töten.«
Thomas Shaddack runzelte die Stirn. Er hatte das Problem der Regressiven nicht vorhergesehen, aber er weigerte sich zu glauben, daß sie mehr als eine unbedeutende Anomalität in der ansonsten vorbildlichen Verwandlung der Bewohner von Moonlight Cove waren. »Ja, richtig, sie haben Spaß am Töten, und sie sind in ihrem regressiven Stadium buchstäblich zum Töten geschaffen, aber wir müssen nur ein paar identifizieren und eliminieren. Statistisch gesehen machen sie einen vernachlässigbaren Prozentsatz der Verwandelten aus.«
»So vernachlässigbar vielleicht auch nicht«, sagte Watkins zögernd; er konnte Shaddack nicht in die Augen sehen und war nur äußerst widerwillig der Überbringer schlechter Neuigkeiten. »Aufgrund der grausamen Verbrechen der letzten Zeit würde ich schätzen, daß wir unter den neunzehnhundert Verwandelten bislang fünfzig oder sechzig dieser Regressiven haben.«
»Lächerlich!«
Hätte er zugegeben, daß eine größere Zahl Regressive existieren könnte, hätte sich Shaddack auch eingestehen müssen, daß seine Forschungen mit Makeln behaftet waren, daß er mit zu wenig Rücksicht auf mögliche Katastrophen aus dem Labor gehastet und ins Versuchsstadium übergegangen war, und daß seine enthusiastische Anwendung der revolutionären Entdeckung des Projekts Moonhawk an den Menschen von Moonlight Cove ein tragischer Fehler gewesen war. So etwas konnte er niemals zugeben.
Er hatte sich sein ganzes Leben lang nach der n-ten Potenz von Macht gesehnt, die jetzt fast in seiner Reichweite war, und er war psychologisch außerstande, von dem von ihm vorherbestimmten Kurs abzuweichen. Er hatte sich seit der Pubertät gewisse Freuden versagt, denn hätte er seinen Bedürfnissen entsprechend gehandelt, wäre er vom Gesetz verfolgt und gezwungen worden, einen hohen Preis zu zahlen. Diese Jahre des Verweigerns hatten einen ungeheuren inneren Druck erzeugt, den er mit aller Verzweiflung erleichtern mußte. Er hatte seine antisozialen Begierden in seiner Arbeit sublimiert, seine Energien in gesellschaftlich akzeptable Unternehmungen gebündelt - was ironischerweise zu Entdeckungen geführt hatte, die ihn immun gegenüber den Behörden machten und es ihm damit freistellen würden, seinen lange unterdrückten Neigungen ohne Angst vor Zensur oder Strafe nachzugehen.
Zudem war er nicht nur psychologisch, sondern auch in praktischer Hinsicht zu weit gegangen, um jetzt noch umzukehren. Er hatte etwas Revolutionäres in die Welt gebracht. Aufgrund seiner Macht lebten neunzehnhundert Neue Menschen auf der Welt, die sich von den anderen Menschen ebenso unterschieden, wie sich die Cro-Magnons von ihren primitiven Vorfahren, den Neandertalern, unterschieden hatten. Er besaß ebensowenig die Fähigkeit, was er getan hatte, ungeschehen zu machen, wie andere Wissenschaftler und Techniker das Rad oder die Atombombe ««erfunden machen konnten.
Watkins schüttelte den Kopf. »Tut mir leid... aber ich halte das überhaupt nicht für lächerlich. Fünfzig bis sechzig Regressive. Oder mehr. Möglicherweise viel mehr.«
»Sie brauchen Beweise, um mich davon zu überzeugen. Sie müssen mir die Namen nennen. Sind Sie in der Lage, einen zu identifizieren - abgesehen von Quinn?«
»Alex und Sharon Foster, glaube ich. Und vielleicht sogar Ihr eigener Mann, Tucker.«
»Unmöglich.«
Watkins beschrieb, was er beim Haus der Fosters gefunden hatte - und die Schreie, die er im fernen Wald gehört hatte.
Shaddack dachte widerstrebend über die Möglichkeit nach, daß Tucker einer dieser Degenerierten sein könnte. Die Wahrscheinlichkeit, daß seine Kontrolle über den innersten Kreis der Vertrauten nicht so absolut war, wie er dachte, beunruhigte ihn zutiefst. Wenn er der Männer, die ihm an nähesten standen, nicht sicher sein konnte, wie konnte er dann seiner Fähigkeit sicher sein, die Massen zu beherrschen? »Vielleicht sind die Fosters Regressive, aber ich bezweifle, daß Tucker einer ist. Doch selbst wenn er einer wäre, hieße das, daß Sie vier gefunden haben. Nicht fünfzig oder sechzig. Nur vier. Was glauben Sie, wer sind all die anderen, die Ihrer Meinung nach da draußen sind?«
Loman Watkins betrachtete den Nebel, der sich in ständig wechselnden Mustern gegen die Scheiben des Turms preßte. »Sir, ich fürchte, es ist nicht leicht. Ich meine... denken Sie darüber nach. Wenn der Staat oder die Bundesbehörden herausfinden, was Sie getan haben, wenn sie begreifen könnten, was Sie getan haben, und es wirklich glauben, und wenn sie uns dann daran hindern wollten, die anderen außerhalb von Moonlight Cove zu verwandeln, dann würde es ihnen verflucht schwerfallen, uns aufzuhalten, oder nicht? Schließlich können wir Verwandelten... wir halten uns unerkannt unter normalen Menschen auf. Wir scheinen wie sie zu sein, unverwandelt, kein Unterschied.«
»Und?«
»Nun... das ist genau das Problem, das wir mit den Regressiven haben. Sie sind Neue Menschen wie wir, aber das, was sie von uns unterscheidet, die Verderbtheit im Inneren, ist unmöglich zu sehen; sie sind ebenso ununterscheidbar von uns wie wir von den unverwandelten Alten Menschen.«
Shaddacks eisenharte Erektion war erschlafft. Watkins' Negativismus erfüllte ihn mit Ungeduld, er stand vom Sessel auf und ging zum nächsten der großen Fenster. Er steckte die Hände in die Taschen seines Sweatshirts und betrachtete die vage Spiegelung seines langen, wölfischen Gesichts, das in seiner Durchsichtigkeit geisterhaft wirkte, im Fenster. Er sah sich selbst in die Augen, dann hastig an dem Spiegelbild vorbei in die Dunkelheit hinaus, wo duftender Wind vom Meer den Webstuhl der Nacht bediente, um ein zerbrechliches Tuch aus Nebel zu wirken. Er kehrte Watkins den Rücken zu, weil er nicht wollte, daß der Mann sah, wie besorgt er war, und er mied den gläsernen Blick seiner eigenen Augen, weil er sich selbst nicht eingestehen wollte, daß seine Besorgtheit von Adern der Angst marmoriert war.
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Er bestand darauf, die Stühle umzustellen, damit man sie von der Straße aus nicht so leicht sehen konnte. Tessa war argwöhnisch und wollte nicht neben ihm sitzen. Er sagte, daß er geheim arbeitete und daher keinen FBI-Ausweis bei sich hatte, aber er zeigte ihr alles andere in der Brieftasche: Führerschein, Kreditkarten, Bibliotheksausweis, Videoleih-karte, Fotos seines Sohnes und seiner verstorbenen Frau, einen Gutschein für ein kostenloses Schokoladenplätzchen in jedem Mrs. Fields-Geschäft, ein Bild von Goldie Hawn, das er aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte. Würde ein mörderischer Wahnsinniger einen Keksgutschein mit sich herumschleppen? Nach einer Weile, nachdem er sie ihre Geschichte vom Massaker im Cove Lodge wiederholt hatte erzählen lassen und dabei unablässig nach Einzelheiten gefragt hatte, nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie ihm alles erzählt hatte und er alles begriff, fing sie an, ihm zu vertrauen. Wenn er nur so getan hätte, als wäre er ein Agent, wäre seine Schauspielerei nicht so weit gegangen oder ausführlich gewesen.
»Sie haben aber nicht gesehen, wie jemand ermordet wurde?«
»Sie wurden ermordet«, beharrte sie. »Wenn Sie ihre Schreie gehört hätten, würden Sie daran keinen Zweifel haben. Ich stand schon in einem Mob in Nordirland und habe mit angesehen, wie sie Menschen zu Tode geprügelt haben. Ich habe einmal in einem Stahlwerk gedreht, als geschmolzenes Metall davonspritzte und auf Gesichter und Körper der Arbeiter geriet. Ich war bei den Meskitoindianern im Dschungel von Zentralamerika, als sie mit Bomben angegriffen wurden - Millionen winzige Stahltrümmer, die Körper von Tausenden winziger Nadeln durchbohrt -, und ich habe ihre Schreie gehört. Ich weiß, wie sich ein Todesschrei anhört. Und das waren die schlimmsten, die ich jemals gehört habe.«
Er sah sie lange an, dann sagte er: »Sie sehen... aus...«
»Niedlich?«
»Ja.«
»Und deshalb unschuldig? Deshalb naiv?«
»Ja.«
»Mein Fluch.«
»Nicht manchmal auch ein Vorteil?«
»Manchmal«, gab sie zu. »Hören Sie, Sie wissen etwas, also verraten Sie mir eines: Was geht in dieser Stadt vor sich?«
»Etwas geschieht mit den Menschen hier.«
»Was?«
»Das weiß ich nicht. Zunächst einmal interessieren sie sich nicht mehr für Filme. Das Kino mußte schließen und sie interessieren sich nicht mehr für Luxusgüter, Geschenkartikel, solche Sachen, denn auch diese Geschäfte mußten alle schließen. Sie finden nichts mehr an Champagner...« Er lächelte dünn. »Sämtliche Kneipen müssen dichtmachen. Sie scheinen sich nur noch für das Essen zu interessieren. Und das Töten.«
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Tom Shaddack, der immer noch am Turmfenster stand, sagte: »Also gut, Loman, wir werden Folgendes tun. Alle Mitarbeiter von New Wave sind verwandelt worden, daher werde ich Ihnen hundert davon zuteilen, damit sie die Polizei verstärken. Sie können Sie als Hilfe bei Ihren Ermittlungen einsetzen, wie Sie es für richtig halten - ab sofort. Wenn Ihnen so viele zur Verfügung stehen, werden Sie sicherlich einen der Regressiven auf frischer Tat ertappen können... und die Wahrscheinlichkeit, daß Sie diesen Booker finden, nimmt auch zu.«
Die Neuen Menschen brauchten keinen Schlaf. Die zusätzlichen Deputies konnten auf der Stelle zum Einsatz kommen.
Shaddack sagte: »Sie können zu Fuß und mit Autos durch die Straßen ziehen - leise, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Mit dieser Unterstützung, werden Sie mindestens einen Regressiven erwischen, vielleicht alle. Wenn wir einen im zu-rückgebildeten Stadium erwischen können, wenn wir eine Möglichkeit haben, einen zu untersuchen, könnte ich vielleicht einen Test entwickeln - physisch oder psychologisch -, mit dem wir die Degenerierten unter den Neuen Menschen aufspüren können.«
»Ich fühle mich nicht geeignet, damit fertigzuwerden.«
»Es ist eine Sache der Polizei.«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Es ist nichts anderes, als würden Sie einen gewöhnlichen Killer jagen«, sagte Shaddack gereizt. »Sie wenden dieselben Vorgehensweisen an.«
»Aber... «
»Was denn?«
»Regressive könnten sich unter den Männern befinden, die Sie mir zuteilen.«
»Das ist nicht möglich.«
»Aber... wie können Sie so sicher sein?«
»Ich sagte Ihnen, das ist nicht möglich«, antwortete Shad-dack schneidend und betrachtete weiterhin das Fenster, Nacht, Nebel.
Sie schwiegen beide einen Augenblick.
Dann sagte Shaddack: »Sie müssen alles daransetzen, diese verdammten Abweichler zu finden. Alles, haben Sie mich verstanden? Wenn wir ganz Moonlight Cove der Verwandlung unterzogen haben, möchte ich mindestens einen haben, den ich studieren kann.«
»Ich dachte... «
»Ja?«
»Nun, ich dachte...«
»Los doch, los doch. Was dachten Sie?«
»Nun... daß Sie vielleicht die Verwandlungen verschieben würden, bis wir herausgefunden haben, was hier vorgeht.«
»Verflucht, nein!« Shaddack wandte sich vom Fenster ab und sah den Polzeichef böse an, der zufriedenstellend zusammenzuckte. »Diese Regressiven sind ein unbedeutendes Problem, sehr unbedeutend. Was, zum Teufel, wissen Sie schon davon? Sie sind nicht derjenige, der eine neue Rasse, eine neue Welt, entwickelt hat. Ich bin es. Es war mein Traum, meine Vision. Ich hatte Intelligenz und Mut genug, den Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Und ich weiß, daß es sich um eine Anomalie handelt, die keinerlei Bedeutung hat. Deshalb wird die Verwandlung nach Plan weitergehen.«
Watkins sah auf seine Hände, deren Knöchel weiß hervorstanden.
Shaddack schritt beim Sprechen barfuß an der gekrümmten Glaswand entlang und wieder zurück. »Wir haben inzwischen genügend Dosen für die verbleibende Bevölkerung der Stadt. Wir haben tatsächlich heute abend eine neue Staffel Verwandlungen eingeleitet. Bis zur Dämmerung werden Hunderte zur Herde gestoßen sein, der Rest bis Mitternacht. Bevor nicht jeder in der Stadt zu uns gehört, besteht die Möglichkeit, daß wir entdeckt werden, das Risiko, daß jemand eine Warnung nach draußen gibt. Nachdem wir jetzt die Probleme mit der Herstellung der Biochips überwunden haben, müssen wir Moonlight Cove rasch übernehmen, damit wir mit der Sicherheit weitermachen können, die ein wohlbehaltener Heimatstützpunkt bietet. Verstanden?«
Watkins nickte.
»Verstanden?« wiederholte Shaddack.
»Ja. Ja, Sir.«
Shaddack kam wieder zu seinem Sessel und setzte sich. »Und was ist jetzt mit dieser anderen Sache, wegen der Sie mich angerufen haben, diese Valdoski-Angelegenheit?«
»Eddie Valdoski, acht Jahre als«, sagte Watkins und sah seine Hände an, die er jetzt buchstäblich wand, als wollte er etwas auspressen, so wie man Wasser aus einem Lappen auswringt. »Er wurde ein paar Minuten vor acht tot aufgefunden. Im Graben an der Landstraße. Er war... gefoltert... gebissen und zerfetzt worden.«
»Glauben Sie, daß es einer der Regressiven war?«
»Ganz sicher.«
»Wer fand die Leiche?«
»Eddies Eltern. Sein Vater. Der Junge hatte im Garten gespielt, und dann... verschwand er bei Sonnenuntergang. Sie fingen an zu suchen, fanden ihn nicht, bekamen Angst, rie-fen uns an, suchten weiter, während wir unterwegs waren... und fanden den Jungen, kurz bevor meine Leute eintrafen.«
»Die Valdoskis sind demnach nicht verwandelt?«
»Sie waren es nicht. Aber jetzt sind sie es.«
Shaddack seufzte. »Wenn sie zur Herde gehören, wird es wegen dem Jungen keine Schwierigkeiten geben.«
Der Polizeichef hob den Kopf und fand den Mut, Shad-dack wieder direkt anzusehen. »Das macht den Jungen nicht wieder lebendig.« Seine Stimme war rauh.
Shaddack sagte: »Das ist natürlich eine Tragödie. Dieses regressive Element unter den Neuen Menschen war nicht vorherzusehen. Aber keine große Errungenschaft in der Ge -schichte der Menschheit war ohne Opfer.«
»Er war ein guter Junge«, sagte der Polizist.
»Haben Sie ihn gekannt?«
Watkins blinzelte. »Ich war mit George Valdoski, seinem Vater, an der High School. Ich war Eddies Taufpate.«
Shaddack wählte seine Worte sorgfältig, als er sagte: »Eine schreckliche Sache. Und wir werden den Regressiven finden, der es getan hat. Wir werden sie alle finden und eliminieren. Vorläufig müssen wir uns mit dem Wissen trösten, daß Eddie für eine große Sache gestorben ist.«
Watkins sah Shaddack mit unverhohlenem Staunen an. »Große Sache? Was wußte Eddie von einer großen Sache? Er war acht Jahre alt.«
»Dennoch«, sagte Shaddack mit härterer Stimme. »Eddie fiel einer unerwarteten Nebenwirkung der Verwandlung von Moonlight Cove zum Opfer, was ihn zu einem Teil dieses wunderbaren historischen Ereignisses macht.« Er wußte, Watkins war ein Patriot gewesen, der auf absurde Weise stolz auf die Flagge und sein Vaterland war, und er ging davon aus, daß der Mann immer noch einen Teil dieser Sentimentalität empfand, auch nach der Verwandlung, daher sagte er: »Hören Sie mir zu, Loman. Während des Unabhängigkeitskrieges, als die Kolonisten für ihre Freiheit kämpften, starben auch unschuldige Zuschauer, Frauen und Kinder, nicht nur die Kämpfer, und auch diese Menschen sind nicht vergeblich gestorben. Sie waren ebenso Märtyrer wie die Soldaten, die auf dem Schlachtfeld gefallen sind. Das ist bei jeder Revolution so. Wichtig ist, daß die Gerechtigkeit siegt und man sagen kann, daß die Opfer für eine edle Sache gefallen sind.«
Watkins wandte den Blick von ihm ab.
Shaddack erhob sich wieder aus dem Sessel und ging um den niedrigen Cocktailtisch herum zu dem Polizisten. Er sah auf Watkins' gesenkten Kopf hinab und legte eine Hand auf die Schulter des Mannes.
Watkins zuckte vor der Berührung zurück.
Shaddack bewegte die Hand nicht, und er sprach mit dem Nachdruck eines Predigers. Aber er war ein kalter Prediger, dessen Botschaft nicht die heiße Leidenschaft religiöser Überzeugung hatte, sondern die eiskalte Kraft der Logik, der Vernunft. »Sie sind jetzt einer der Neuen Menschen, und das bedeutet nicht nur, daß Sie kräftiger und schneller sind als gewöhnliche Menschen, und es bedeutet nicht nur, daß Sie praktisch immun gegen Krankheiten sind und Ihre Verletzungen besser heilen, als es sich jeder Mediziner je hätte träumen lassen. Es bedeutet auch, daß Sie scharfsinniger und vernünftiger sind als die Alten Menschen. Wenn Sie also sorgfältig und im Zusammenhang mit dem Wunder, das wir hier vollbringen, über Eddies Tod nachdenken, werden Sie einsehen, daß der Preis, den er bezahlte, nicht zu hoch war. Gehen Sie diese Situation nicht gefühlsmäßig an, Loman; das entspricht eindeutig nicht der Art der Neuen Menschen. Wir schaffen eine Welt, die leistungsfähiger sein wird, geordneter und wesentlich stabiler, weil Männer und Frauen die Fähigkeit besitzen werden, ihre Gefühle zu beherrschen, jedes Problem mit der analytischen Kälte eines Computers anzugehen. Betrachten Sie Eddie Valdoskis Tod als weiteres Datum im großen Datenstrom der Geburt der Neuen Menschen. Sie haben jetzt die Macht in sich, über menschliche Emotionen hinauszuwachsen, und wenn Sie die überwunden haben, werden Sie zum ersten Mal in ihrem Leben wahres Glück und wahren Frieden finden.«
Nach einer Weile hob Loman Watkins den Kopf. Er drehte sich um und sah zu Shaddack auf. »Wird das wirklich zu Frieden führen?«
»Ja.«
»Wenn alle verwandelt sind, wird endlich eine Brüderschaft existieren?«
»Ja.«
»Frieden?«
»Ewig.«
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Talbots Haus in der Conquistador war ein dreistöckiges Rotholzwerk mit jeder Menge Fenstern. Das Grundstück lag am Hang, steile Steinstufen führten vom Gehweg zu einer schmalen Veranda. Keine Straßenlaternen erhellten diesen Block, und auch auf Talbots Grundstück befanden sich keine Wegleuchten oder Gartenlampen, wofür Sam dankbar war.
Tessa Lockland stand dicht hinter ihm auf der Veranda, als er klingelte, wie sie den ganzen Weg von der Wäscherei dicht bei ihm geblieben war.
Er konnte die Klingel drinnen über das lärmende Rascheln des Windes in den Bäumen hören.
Tessa, die zur Conquistador zurücksah, sagte: »Manchmal wirkt es wie eine Leichenhalle, nicht wie eine Stadt, von Toten bewohnt, aber dann... «
»Dann?«
»...kann man trotz der Stille und des Schweigens die Energie des Ortes spüren, gewaltige gespeicherte Energie, als wäre eine riesige, verborgene Maschine direkt unter den Straßen, direkt unter dem Boden... und als wären auch die Häuser voller Maschinen, alle eingeschaltet und aktiv, mit Kolben und Zahnrädern, die nur darauf warteten, daß jemand die Kupplung losläßt und sie alle in Bewegung setzt.«
Das war ganz genau Moonlight Cove, aber Sam war nicht imstande gewesen, die Stimmung des Ortes in Worte zu kleiden.
Er läutete noch einmal und sagte:
»Ich dachte, um Filme zu machen, müsse man so gut wie analphabetisch sein.«
»Das sind die meisten Regisseure in Hollywood auch, aber ich bin eine ausgestoßene Dokumentarfilmerin, daher darf ich noch denken - solange es nicht zuviel wird.«
»Wer ist da?« sagte eine blecherne Stimme, die Sam erschreckte. Sie kam aus einem Lautsprecher, den er nicht gesehen hatte. »Wer ist da, bitte?«
Sam beugte sich dicht an die Sprechanlage. »Mr. Talbot? Harold Talbot?«
»Ja. Wer sind Sie?«
»Sam Booker«, sagte er leise, so daß man seine Stimme außerhalb von Talbots Veranda nicht hören konnte. »Tut mir leid, daß ich Sie wecke, aber ich komme als Antwort auf Ihren Brief vom achten Oktober.«
Talbot schwieg. Dann klickte die Sprechanlage, und er sagte: »Ich bin im dritten Stock. Ich brauche Zeit, um nach unten zu kommen. In der Zwischenzeit schicke ich Moose. Bitte geben Sie ihm Ihren Ausweis, damit er ihn mir bringen kann.«
»Ich habe keinen FBI-Ausweis«, sagte Sam. »Ich bin inkognito hier.«
»Führerschein?« fragte Talbot.
»Ja.«
»Das genügt.« Er schaltete ab.
»Moose?« sagte Tessa.
»Keine Ahnung«, sagte Sam.
Sie warteten beinahe eine Minute und fühlten sich auf der einsichtigen Veranda verwundbar, und sie erschraken beide, als ein Hund durch eine Klappe herauskam, die sie vorher nicht bemerkt hatten, und zwischen ihren Beinen dahinlief. Sam erkannte einen Augenblick nicht, was es war, und taumelte überrascht rückwärts und verlor beinahe das Gleichgewicht.
Tessa bückte sich, um den Hund zu streicheln, und flüsterte: »Moose?«
Mit dem Hund war ein wenig Licht auf die Veranda herausgekommen, aber jetzt, wo die Klappe wieder geschlossen war, war es fort. Der Hund war schwarz und in der Nacht kaum zu sehen.
Sam kauerte neben ihm, ließ sich die Hand von ihm lecken und sagte: »Und dir soll ich meinen Ausweis geben?«
Der Hund wuffte leise, als wollte er zustimmen.
»Du wirst ihn fressen«, sagte Sam.
Tessa sagte: »Das wird er nicht.«
»Woher wissen Sie das?«
»Er ist ein guter Hund.«
»Ich traue ihm nicht.«
»Schätze, das ist Ihr Job.«
»Hm?«
»Niemandem zu trauen.«
»Und meine Natur.«
»Vertrauen Sie ihm«, beharrte sie.
Er gab ihm seine Brieftasche. Der Hund nahm sie Sam aus der Hand, hielt sie zwischen den Zähnen und ging durch die Klappe wieder ins Haus.
Sie standen noch ein paar Minuten auf der dunklen Veranda, während Sam versuchte, sein Gähnen zu unterdrücken. Es war zwei Uhr morgens, und er überlegte, ob er zu seiner Liste der vier Gründe weiterzuleben noch einen fünften zufügen sollte: Gutes mexikanisches Essen, Guinness Stout, Goldie Hawn, Angst vor dem Sterben und der Wunsch zu schlafen. Seliges Schlafen. Dann hörte er das Poltern und Klirren von Schlössern und Riegeln, die mühsam entfernt wurden, schließlich ging die Tür auf und offenbarte eine spärlich erleuchtete Diele.
Harry Talbot, der einen blauen Pyjama und einen grünen Morgenmantel anhatte, saß in seinem motorisierten Rollstuhl. Er hatte den Kopf immerfort schief gelegt, eine fragende Haltung, die ebenfalls Teil seines Vietnam-Erbes war. Er war ein hübscher Mann, wenn auch sein Gesicht vorzeitig gealtert war und zu tiefe Falten für einen Vierzigjährigen aufwies. Sein dichtes Haar war halb weiß, die Augen uralt. Sam konnte sehen, daß Talbot einst ein durchtrainierter junger Mann war, aber die Jahre der Lähmung hatten ihn weich gemacht. Eine Hand lag mit nach oben gekehrter Handfläche und nach innen gekrümmten Fingern nutzlos im Schoß. Er war ein lebendes Mahnmal dafür, was hätte sein können, für zerstörte Hoffnungen, vernichtete Träume - eine grimmige Erinnerung an einen zwischen die Seiten der Zeit gedrückten Krieg.
Als Tessa und Sam eintraten und die Tür hinter sich zuzogen, streckt Harry Talbot die rechte Hand aus und sagte:
»Mein Gott, bin ich froh, Sie zu sehen!« Sein Lächeln verwandelte ihn erstaunlich. Es war das strahlende, breite, gütige und aufrichtige Lächeln eines Mannes, der glaubte, daß er im Schoß der Götter saß und so viele Segnungen erfahren hatte, daß er sie gar nicht mehr zählen konnte.
Moose gab Sam seine Brieftasche unverspeist zurück.
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Als er Shaddacks Haus an der Nordspitze verlassen hatte, und bevor er ins Hauptquartier zurückkehrte, um die Aufgaben an die ihm von New Wave zugeteilten hundert Männer zu verteilen, fuhr Loman Watkins zu seinem Haus im Iceberry Way im nördlichen Teil der Stadt. Es war ein bescheidenes zweistöckiges Haus im Monterey-Stil, mit drei Schlafzimmern, weiß gestrichen, mit blauen Verzierungen, das zwischen Nadelbäumen stand.
Er stand einen Augenblick neben dem Streifenwagen in der Einfahrt und betrachtete es. Er hatte es einmal geliebt, als wäre es ein Schloß, aber er konnte diese Liebe nicht mehr in sich finden. Er erinnerte sich an viel Glück im Zusammenhang mit diesem Haus und mit seiner Familie, aber er konnte die Erinnerung an dieses Glück nicht fühlen. Das Leben in diesem Haus war von viel Lachen gesegnet gewesen, aber dieses Lachen war jetzt verstummt, die Erinnerung daran so sehr verblaßt, daß sie nicht einmal ein Lächeln des Gedenkens hervorbringen konnte. Davon abgesehen, daß sein Lächeln heutzutage ohnehin nur vorgeblich war, ohne eine Spur Humor.
Seltsam war, Lachen und Glück hatten bis letzten August zu seinem Leben gehört. Erst innerhalb der vergangenen Monate, seit der Verwandlung, war alles anders geworden. Und doch schienen es uralte Erinnerungen zu sein.
Komisch.
Eigentlich überhaupt nicht komisch.
Als er hineinging, stellte er fest, daß das Erdgeschoß dunkel und still war. Ein vager, schaler Geruch hing in den verlassenen Zimmern.
Er ging die Treppe hinauf. Im unbeleuchteten Flur im ersten Stock sah er ein schwaches Leuchten unter der Tür von Dennys Zimmer hervorkommen. Er trat ein und fand den Jungen am Schreibtisch, vor dem Computer. Der PC hatte einen übergroßen Monitor, der derzeit die einzige Lichtquelle im Zimmer war.
Denny sah nicht vom Terminal auf.
Der Junge war achtzehn Jahre alt, kein Kind mehr; daher war er zusammen mit seiner Mutter verwandelt worden, kurz nach Loman selbst. Er war fmf Zentimeter größer als sein Vater und sah besser aus. Er war in der Schule immer gut gewesen, und bei Intelligenztests hatte er so gut abgeschnitten, manchmal stimmte es Loman fast unheimlich, daß sein Kind so intelligent war. Er war immer stolz auf Drnny gewesen.
Als er jetzt neben seinem Sohn stand und auf ihn hinuntersah, versuchte Loman, diesen Stolz wiederauferstehen zu lassen, konnte ihn aber nicht empfinden. Denny hatte sich seine Gunst nicht verscherzt; er hatte nichts getan, das Miß -fallen seines Vaters zu erregen. Aber Stolz schien, wie andere Emotionen, eine Last für das höhere Denken der Neuen Menschen zu sein und behinderte wirksamere Denkmuster.
Denny war schon vor der Veränderung ein Computerfanatiker gewesen, einer der Jungs, die sich selbst Hacker nannten, für die Computer nicht nur Hilfsmittel waren, nicht nur Spiel und Spaß, sondern eine Lebensweise. Nach der Verwandlung hatte man sich seine Erfahrung und Intelligenz bei New Wave zunutze gemacht. Er bekam ein leistungsfähigeres Heimterminal und eine moderne Verbin-düng mit dem Supercomputer im Hauptsitz von New Wave - ein Moloch, in dem sich, so Denny, viertausend Meilen Kabel und dreiunddreißigtausend superschnelle Datenverarbeitungseinheiten befanden -, den sie aus Gründen, die Loman nicht verstand, Sonne nannten, doch vielleicht lag es daran, daß die Forschungen bei New Wave so sehr von der großen Maschine abhängig waren, daß sich alles um sie drehte.
Während Loman neben seinem Sohn stand, flackerten umfangreiche Daten über den Bildschirm. Worte, Zahlen, Kurven und Diagramme kamen und gingen mit einer solchen Geschwindigkeit, daß nur jemand von New Wave mit irgendwie geschärften Sinnen und einer gesteigerten Konzentrationsfähigkeit eine Bedeutung darin erkennen konnte.
Loman konnte sie nicht lesen, weil er nicht die Ausbildung hatte, die Denny von New Wave bekommen hatte. Außerdem hatte er weder die Zeit gehabt noch die Notwendigkeit verspürt zu lernen, wie er seine neuerlangte Konzentrationsfähigkeit voll einsetzen könnte.
Aber Denny absorbierte den fließenden Datenstrom, er sah den Bildschirm ausdruckslos ab, runzelte nicht die Stirn, sein Gesicht war vollkommen entspannt. Seit seiner Verwandlung war der Junge ebenso eine solide elektronische Wesenheit, wie er Fleisch und Blut war, und dieser neue Teil von ihm sprach mit einer Vertrautheit auf den Computer an, die weit über die Mensch-Maschine-Beziehung hinausging, wie die alten Menschen sie gekannt hatten.
Loman wußte, daß sein Sohn sich über das Projekt Moon-hawk informierte. Er würde schließlich einmal zu der Arbeitsgruppe bei New Wave gehören, die die Software und Hardware des Projekts ständig verbesserte und weiterentwickelte und so daran arbeitete, daß jede Generation Neuer Menschen überlegener - und damit effizienter - als die vorangegangene sein würde.
Ein endloser Datenstrom floß über den Bildschirm.
Denny sah den Bildschirm so lange ohne zu blinzeln an, daß seine Augen getränt hätten, wäre er einer der Alten Menschen gewesen.
Das Licht der ständig wechselnden Daten tanzte an den Wänden und jagte unablässig Schatten durch das Zimmer.
Loman legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter.
Denny sah nicht auf und reagierte auch sonst nicht. Er bewegte die Lippen, als würde er sprechen, gab aber keinen Laut von sich. Er redete mit sich selbst und schien seinen Vater gar nicht zu bemerken.
In einem geschwätzigen, evangelistischen Augenblick hatte Thomas Shaddack davon gesprochen, daß er eines Tages ein Interface erfinden würde, mit dem man einen Computer direkt mit einer chirurgisch eingepflanzten Buchse am Ansatz der menschlichen Wirbelsäule verbinden könnte, um so künstliche und natürliche Intelligenz zu verschmelzen. Loman hatte nicht begriffen, warum so etwas klug oder erstrebenswert war, und Shaddack hatte gesagt: »Die Neuen Menschen sind eine Brücke zwischen Mensch und Maschine, Loman. Aber eines Tages wird unsere Rasse diese Brücke völlig überquert haben und eins mit den Maschinen werden, denn erst dann wird die Menschheit vollkommen effizient sein und totale Kontrolle haben.«
»Denny«, sagte Loman leise.
Der Junge antwortete nicht.
Schließlich ging Loman aus dem Zimmer.
Am Ende des Flurs, auf der anderen Seite, befand sich das Elternschlafzimmer. Grace lag im Dunkeln auf dem Bett.
Seit der Verwandlung konnte natürlich bloßer Mangel an Licht nicht verhindern, daß sie etwas sah, denn ihre Sehkraft war drastisch verbessert. Sie konnte selbst in diesem Zimmer - ebenso wie Loman - die Umrisse der Möbel und ihre Beschaffenheit sehen, wenn auch wenige Einzelheiten. Für sie war die Nachtwelt nicht mehr schwarz, sondern dunkelgrau.
Er setzte sich auf den Bettrand. »Hallo.«
Sie sagte nichts.
Er legte ihr eine Hand auf den Kopf und strich über das lange, kastanienfarbene Haar. Er berührte ihr Gesicht und stellte fest, daß das Gesicht tränenfeucht war, eine Einzel-heit, die er nicht einmal mit seinen verbesserten Augen wahrnehmen konnte.
Weinte. Sie weinte, und das packte ihn, denn er hatte noch nie einen der Neuen Menschen weinen gesehen.
Sein Herz schlug schneller, ein kurzes aber herrliches Pulsieren der Hoffnung lief durch ihn hindurch. Vielleicht war das Absterben von Emotionen nur ein vorübergehendes Stadium.
»Was ist?« fragte er. »Warum weinst du?«
»Ich habe Angst.«
Der Puls der Hoffnung ließ rasch nach. Angst hatte sie zum Weinen gebracht, Angst und die damit verbundene Einsamkeit, und er wußte bereits, daß diese beiden Empfindungen Teil der schönen neuen Welt waren, diese und keine anderen.
»Angst wovor?«
»Ich kann nicht schlafen«, sagte Grace.
»Aber du mußt nicht schlafen.«
»Nicht?«
»Keiner von uns muß mehr schlafen.«
Vor der Verwandlung mußten Männer und Frauen schlafen, weil der menschliche Körper als rein biologischer Mechanismus schrecklich uneffizient war. Ruhezeit war erforderlich, um zu entspannen und die Schäden des Tages zu reparieren, um mit den Toxischen Substanzen fertig zu werden, die tagsüber von der externen Welt aufgenommen worden waren, und mit denjenigen, die intern erzeugt wurden. In den Neuen Menschen war jede Körperfunktion hervorragend reguliert worden. Die Arbeit der Natur war stark verbessert. Jedes Organ, jedes System, jede Zelle funktionierte mit größerer Effizienz, schaffte Abfallstoffe schneller als vorher weg und reinigte und regenerierte sich zu jeder Tages -zeit. Das wußte Grace ebensogut wie er.
»Ich sehne mich nach Schlaf«, sagte sie.
»Du spürst nur die Macht der Gewohnheit.«
»Der Tag hat jetzt zu viele Stunden.«
»Wir werden die Zeit totschlagen. Die neue Welt wird eine regsame sein.« »Was werden wir in dieser neuen Welt machen, wenn sie kommt?«
»Das wird uns Shaddack sagen.«
»Derweil... «
»Geduld«, sagte er.
»Ich habe Angst.«
»Geduld.«
»Ich sehne mich nach Schlaf, dürste danach.«
»Wir müssen nicht schlafen«, sagte er und demonstrierte die Geduld, die er von ihr verlangt hatte.
»Wir brauchen keinen Schlaf«, sagte sie geheimnisvoll, »aber wir müssen schlafen.«
Sie schwiegen eine Weile.
Dann nahm sie sein Hand in ihre und führte sie zu ihrer Brust. Sie war nackt.
Er versuchte, sich von ihr wegzuziehen, weil er Angst vor dem hatte, was passieren könnte, was früher schon passiert war, seit der Veränderung, wenn sie sich geliebt hatten. Nein. Nicht geliebt. Sie liebten einander nicht mehr. Sie machten Sex. Kein Gefühl, abgesehen vom körperlichen Empfinden, keine Zärtlichkeit oder Leidenschaft. Sie stießen heftig und schnell aneinander, schoben und zogen, spannten und rieben sich aneinander und bemühten sich, die Reizung der Nervenenden zu maximieren. Keiner kümmerte sich um den anderen, nur um sich selbst, um die eigene Befriedigung. Da ihr Gefühlsleben nicht mehr sehr reichhaltig war, versuchten sie, diesen Verlust durch Sinnesfreuden wieder wettzumachen, vornehmlich Essen und Sex. Aber ohne den emotionalen Faktor war jedes Erlebnis... hohl, und sie versuchten, diese Leere durch Übertreibung auszugleichen; eine schlichte Mahlzeit wurde zum Festschmaus; ein Festschmaus wurde zu einer rückhaltslosen Lektion in Gier. Und Sex verkam zu einem wilden, animalischen Kopulieren.
Grace zog ihn ins Bett.
Er wollte nicht. Er konnte sich nicht weigern. Konnte sich buchstäblich nicht weigern.
Sie zog schwer atmend und vor Erregung zitternd an seiner Kleidung und stieg auf ihn. Sie gab seltsame, unartikulierte Laute von sich.
Lomans Erregung kam ihrer gleich und stieg weiter, und er stieß gegen sie, in sie, verlor jegliches Gefühl für Zeit und Ort, existierte nur noch, um das Feuer in seinen Lenden zu schüren, unbarmherzig zu schüren, bis es zu unerträglicher Hitze wurde, Hitze, Reibung und Hitze, feucht und heiß, Hitze, er schürte die Hitze bis zum Brennpunkt, an dem sein ganzer Körper zu lodern anfangen würde. Er veränderte die Stellung, nagelte sie fest, hämmerte sich in sie, in sie, in, in, zog sie so heftig an sich, daß er ihr weh tun mußte, aber das war ihm einerlei. Sie ergriff ihn und krallte sich an ihn, ihre Fingernägel gruben sich in seine Arme, ließen Blut fließen, und er riß an ihr, riß ebenfalls, weil ihn das Blut erregte, der Geruch des Blutes, des süßen Blutes, so erregend, Blut, und es machte nichts, daß sie einander verletzten, denn es waren oberflächliche Wunden, die innerhalb von Sekunden heilen würden, da sie Neue Menschen waren; ihre Körper waren effizient; Blut floß kurz, dann schlössen sich die Wunden, und sie krallten erneut, erneut. Was er wirklich wollte - was sie beide wollten -, war: sich gehen lassen, sich dem wilden Geist im Inneren ergeben, sämtliche Hemmungen der Zivilisation abstreifen, einschließlich des Hindernisses der höheren menschlichen Gestalt, wild werden, Amok laufen, sich ergeben, regressiv werden, denn dann würde Sex noch mehr Kitzel bieten, noch reineren Kitzel; sich gehenlassen, dann würde die Leere gefüllt werden; sie würden Erfüllung finden, und wenn der Sex vorbei wäre, könnten sie zusammen jagen, jagen und töten, still und geschwind, anmutig und geschwind, beißen reißen, tief und fest zubeißen, jagen und töten, Sperma und dann Blut, süßes, wohlriechendes Blut...
Loman war eine Zeitlang desorientiert.
Als er wieder ein Gefühl für Zeit und Ort hatte, sah er zuerst zur Tür und stellte fest, daß sie offen war; Denny hätte sie sehen können, wenn er den Flur entlang gekommen wäre - hatte sie wahrscheinlich gesehen -, aber Loman war es einerlei, ob sie gesehen oder gehört worden waren. Scham und Sittsamkeit waren zwei Opfer der Verwandlung.
Als er sich der Welt um ihn herum wieder voll bewußt wurde, stahl sich Angst in sein Herz, und er berührte sich rasch selbst - Gesicht, Arme, Brust, Beine -, um sich zu ver-gewissem, daß er in keiner Weise anders war, als er sein sollte. Beim Sex wuchs das Wilde in ihm, und manchmal glaubte er, daß er sich wirklich verwandelte, regressiv wurde, wenn der Orgasmus näherrückte, und sei es auch nur ein wenig regressiv. Aber wenn er wieder zu sich kam, hatte er bisher noch keinen Beweis dafür gefunden.
Aber diesmal war er blutverschmiert.
Er schaltete die Nachttischlampe ein.
»Mach das Licht aus«, sagte Grace sofort.
Aber nicht einmal seine gesteigerte Nachsicht genügte ihm. Er wollte sie genau ansehen, um festzustellen, ob sie irgendwie... anders war.
Sie war nicht regressiv geworden. Und wenn doch, war sie bereits wieder in die höhere Gestalt zurückgekehrt. Ihr Körper war blutverschmiert, ein paar Schwellungen waren zu sehen, wo er sie verletzt hatte und noch nicht wieder alles verheilt war.
Er schaltete das Licht aus und setzte sich auf die Bettkante.
Da die regenerierende Kraft ihrer Körper durch die Verwandlung enorm verbessert worden war, heilten oberflächliche Schnitte und Kratzer innerhalb von Minuten; man konnte richtiggehend zusehen, wie das Fleisch seine Wunden ausmerzte. Sie waren jetzt nicht mehr anfällig für Krankheiten, das Immunsystem war so aggressiv geworden, daß den meisten Viren oder Bakterien gar nicht genügend Zeit blieb, sich zu vermehren. Siaddack glaubte, daß sich auch ihre Lebenserwartung gesteigert hätte, vielleicht könnten sie Jahrhunderte alt werden.
Sie konnten selbstverständlich getötet werden, aber nur von Verletzungen, die das Herz zerrissen, das Gehirn zerschmetterten oder die Lunge vernichteten und so den Zustrom von Sauerstoff zum Gehirn unterbanden. Würde eine Vene oder Arterie aufgerissen, würde die Blutzufuhr dahin in den paar Minuten, die zum Verheilen erforderlich waren, drastisch gesenkt. Würde ein lebenswichtiges Organ verletzt, abgesehen von Herz, Gehirn oder Lunge, könnte der Körper stundenlang weiter funktionieren, während hastige Regenerierungsmaßnahmen stattfänden. Sie waren noch nicht so zuverlässig wie Maschinen, denn Maschinen konnten nicht sterben; mit den richtigen Ersatzteilen konnte eine Maschine sogar wieder aus Trümmern aufgebaut und zum Funktionieren gebracht werden; aber sie waren diesem Maß körperlicher Beständigkeit näher, als jemand außerhalb von Moonlight Cove es für möglich gehalten haben würde.
Jahrhunderte leben...
Manchmal dachte Loman darüber nach.
Jahrhunderte leben, und nur Angst und körperliche Emp -findungen zu kennen...
Er stand vom Bett auf, ging nach nebenan ins Bad und duschte rasch, um das Blut zu entfernen.
Er konnte sich im Spiegel nicht in die Augen sehen.
Als er wieder im Schlafzimmer war, zog er, ohne das Licht anzumachen, eine frische Uniform an, die er aus dem Schrank holte.
Grace lag immer noch auf dem Bett.
Sie sagte: »Wenn ich nur schlafen könnte.«
Er spürte, daß sie immer noch still weinte.
Als er aus dem Zimmer ging, machte er die Tür hinter sich zu.
49
Sie versammelten sich in der Küche, was Tessa gefiel, weil zu ihren glücklichsten Kindheitserinnerungen Familienkonferenzen und Schwätzchen in der Küche ihres Hauses in San Diego gehörten. Die Küche war das Herz des Hauses und in gewisser Weise das Herz der Familie. Irgendwie wurden die größten Probleme bedeutungslos, wenn man sich in einer Küche darüber unterhielt, die nach Kaffee und heißer Scho-kolade roch, und an einem Stück selbstgebackenen Kuchen knabberte. In einer Küche fühlte man sich sicher.
Harry Talbots Küche war groß, denn sie war umgebaut worden, damit sie den Erfordernissen eines Mannes im Rollstuhl genügte; daher bot sie jede Menge Platz zwischen der Kochinsel in der Mitte, die nieder gebaut war - wie die Theken entlang der Wände -, damit man sie aus der sitzenden Haltung erreichen konnte. Ansonsten war es eine Küche wie viele andere: Schränke, die in einem angenehmen cremefarbenen Ton gestrichen waren; hellgelbe Keramikfliesen; ein leise summender Kühlschrank. Die Jalousien der Fenster ließen sich mit einem Knopf an einer der Arbeitsplatten elektrisch bedienen, und Harry ließ sie herunter.
Nachdem sie versucht hatten zu telefonieren und feststellen mußten, daß die Leitung tot war, daß nicht nur die Münzfernsprecher, sondern das gesamte Telefonnetz der Stadt lahmgelegt worden war, setzten sich Sam und Tessa gemäß Harrys Wunsch an einen runden Tisch in der Ecke, während Harry mit einer Mr.-Coffee-Maschine einen guten kolumbianischen Kaffee machte. »Sie sehen aus, als würden Sie frieren«, sagte er. »Das wird Ihnen gut tun.«
Tessa, die fror und müde war und das Koffein brauchte, lehnte das Angebot nicht ab. Tatsächlich faszinierte es sie, wir Harry sich trotz seiner schweren Behinderung so gut zu helfen wußte, daß er für unerwartete Besucher den großzügigen Gastgeber spielen konnte.
Er holte mit seiner gesunden Hand und ein paar raffinierten Bewegungen eine Packung Apfel-Zimt-Brötchen aus dem Brotkasten, einen halben Schokoladenkuchen aus dem Kühlschrank, Teller und Gabeln und Papierservietten. Als Sam und Tessa ihre Hilfe anboten, lehnte er das Angebot mit einem Lächeln ab.
Sie spürte, daß er nicht versuchte, ihnen oder sich selbst etwas zu beweisen. Es machte ihm einfach Spaß, Gesellschaft zu haben, selbst zu dieser Stunde und unter diesen bizarren Umständen. Vielleicht war es ein seltenes Ereignis.
»Keine Sahne«, sagte er. »Nur Beutelmilch.«
»Das reicht«, sagte Sam.
»Und ich fürchte, auch kein elegantes Milchkännchen aus Porzellan«, sagte Harry und stellte den Milchbeutel auf den Tisch.
Tessa fing an zu überlegen, ob sie einen Dokumentarfilm über Harry drehen sollte, über den Mut, den es erforderte, unter diesen Umständen unabhängig zu bleiben: Sie wurde trotz der Geschehnisse der vergangenen Stunden vom Sirenengesang ihres Berufes angezogen. Aber sie hatte schon vor langer Zeit herausgefunden, daß man die Kreativität eines Künstlers nicht abschalten konnte; das Auge einer Filmemacherin konnte man nicht so leicht abdecken wie die Linse einer Kamera. Sogar während sie über den Tod ihrer Schwester trauerte, waren ihr Hinfalle für Projekte gekommen, erzählerische Konzepte, interessante Einstellungen und Winkel. Sogar im Schrecken des Krieges, als sie mit afghanischen Rebellen geflohen war, während sowjetische Flugzeuge den Boden hinter ihnen bombardierten, freute sie sich darüber, was sie auf Film bekam und was sie zu Hause im Schneidraum damit machen könnte - und ihr dreiköpfiges Team hatte genauso reagiert. Daher fühlte sie sich nicht mehr verlegen oder schuldig, weil sie rund um die Uhr Künstlerin war, selbst in tragischen Zeiten; für sie war das natürlich und Teil davon, kreativ und am Leben zu sein.
Der Harrys Bedürfnissen angepaßte Rollstuhl verfügte über eine Hydraulik, mit der man den Sitz ein paar Zentime -ter heben konnte. Er setzte sich neben Tessa und gegenüber von Sam hin.
Moose lag in der Ecke, sah zu und hob ab und zu den Kopf, als würde er sich für ihre Unterhaltung interessieren -obwohl ihn wahrscheinlich eher der Geruch des Schokoladenkuchens anregte. Aber der Labrador kam nicht herüber und schnupperte herum und winselte nach Leckerbissen, und Tessa war von seiner Disziplin beeindruckt.
Während sie die Kaffeekanne herumreichten und Kuchen und Brötchen aßen, sagte Harry: »Sie haben mir gesagt, was Sie hierher geführt hat, Sam - nicht nur mein Brief, sondern auch diese sogenannten Unfälle.« Er sah Tessa an; und weil sie an seiner rechten Seite saß, erweckte sein ständig geneig-ter Kopf den Eindruck, als würde er sich von ihr weglehnen und sie voll Argwohn oder zumindest Skepsis ansehen, obwohl sein herzliches Lächeln dieses Verhalten Lügen strafte. »Und was ist mit Ihnen, Miß Lockland?«
»Bitte nennen Sie mich Tessa. Nun... meine Schwester war Janice Capshaw...«
»Richard Capshaws Frau, die Frau des lutheranischen Priesters?« sagte er überrascht.
»Ganz recht.«
»Die kamen mich häufig besuchen. Ich war kein Mitglied ihrer Gemeinde, aber so waren sie eben. Wir wurden Freunde. Sie kam auch nach seinem Tod noch ab und zu vorbei. Ihre Schwester war eine gütige und wunderbare Frau, Tes-sa.« Er stellte die Tasse weg und streckte ihr seine gute Hand entgegen. »Sie war mein Freund.«
Tessa nahm die Hand. Sie war ledrig und schwielig von der Arbeit und sehr kräftig, als würde sich die ganze Kraft seines gelähmten Körpers durch dieses gesunde Glied ausdrücken.
»Ich habe zugesehen, wie sie sie in Callans Bestattungsinstitut ins Krematorium gebracht haben«, sagte Harry. »Durch mein Teleskop. Ich beobachte. Das ist die hauptsächliche Beschäftigung in meinem Leben. Beobachten.« Er errötete leicht. Er hielt Tessas Hand fester. »Nicht nur schnüffeln. Eigentlich überhaupt nicht schnüffeln. Ich... nehme Anteil. Oh, ich lese auch gerne, und ich habe eine Menge Bücher, und ich denke auch bestimmt jede Menge nach, aber in erster Linie bringt mich das Beobachten durch. Wir gehen später nach oben. Ich zeige Ihnen das Teleskop, die ganze Anlage. Ich denke, Sie werden verstehen. Ich hoffe es jedenfalls. Wie dem auch sei, ich habe gesehen, wie sie Janice in jener Nacht zu Callan gebracht haben... aber ich erfuhr erst zwei Tage später, wer es gewesen war, als die Geschichte ihres Todes in der Lokalzeitung stand. Ich konnte nicht glauben, daß sie so gestorben ist, wie es dort stand. Ich glaube es immer noch nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte Tessa. »Darum bin ich hier...«
Harry ließ Tessas Hand mit einem letzten Drücken widerwillig los. »In letzter Zeit sieht man viele Leichen, die meisten werden bei Nacht zu Callan geschafft, und die Polizei ist auch häufig dabei und überwacht alles - verdammt seltsam für eine kleine Stadt wie diese.«
Sam sagte von der anderen Seite des Tisches: »Zwölf Unfälle oder Selbstmorde in weniger als zwei Monaten.«
»Zwölf?« sagte Harry.
»Wußten Sie nicht, daß es so viele sind?«
»Oh, es sind wesentlich mehr.«
Sam blinzelte.
Harry sagte: »Ich habe zwanzig gezählt.«
50
Nachdem Watkins gegangen war, begab sich Shaddack wieder zum Computerterminal in seinem Arbeitszimmer, stellte die Verbindung zu Sonne her, dem Supercomputer von New Wave, und machte sich wieder an die Arbeit an einem problematischen Aspekt des derzeitigen Projekts. Es war zwar halb drei Uhr morgens, aber er würde noch ein paar Stunden tätig sein, denn er ging immer frühestens bei Dämmerung ins Bett.
Er war erst ein paar Minuten am Terminal, als sein Privattelefon läutete.
Bis Booker gefaßt war, ließ der Computer der Telefongesellschaft ausschließlich Gespräche zwischen Verwandelten zu, von einem Verwandelten zu einem Verwandelten. Andere Leitungen waren unterbrochen, Telefonate zur Außenwelt wurden unterbrochen, bevor sie überhaupt zustande kommen konnten. Telefonanrufe nach Moonlight Cove wurden von einem Tonband beantwortet, das einen Fehler im Netz vorschützte, binnen vierundzwanzig Stunden wieder volle Einsatzbereitschaft versprach und Bedauern über die Unannehmlichkeit ausdrückte.
Daher wußte Shaddack, der Anrufer mußte einer der Verwandelten sein, und auch einer seiner engsten Mitarbeiter bei New Wave, da der Anruf über seine Privatleitung kam.
Eine Digitalanzeige unter dem Telefon zeigte die Nummer, von der der Anruf getätigt wurde, und er erkannte sie als Nummer von Mike Peyser. Er nahm den Hörer ab und sagte: »Shaddack.«
Der Anrufer atmete abgehackt und keuchend ins Telefon, sagte aber nichts.
Shaddack sagte stirnrunzelnd: »Hallo?«
Nur Atmen.
Shaddack sagte: »Mike, sind Sie das?«
Die Stimme, die ihm schließlich antwortete, war kehlig und heiser, aber mit einem schrillen Unterton, flüsternd und dennoch laut, Peysers Stimme und doch auch wieder nicht, seltsam:»...etwas stimmt nicht, etwas stimmt nicht, kann mich nicht verändern, kann nicht... stimmt nicht... stimmt nicht...«
Shaddack wollte nur widerstrebend eingestehen, daß er Mike Peysers Stimme in diesen seltsamen Betonungen und unheimlichen Kadenzen erkannte. Er sagte: »Wer ist da?«
»...brauche, brauche... brauche, will, ich brauche...«
»Wer ist da?« verlangte Shaddack wütend zu wissen, aber in Gedanken stellte er eine andere Frage: Was ist da?
Der Anrufer gab einen Laut von sich, der ein Stöhnen des Schmerzes, ein Wimmern heftigsten Zorns, ein dünner Schrei der Frustration und ein Fauchen war, das alles zu einem einzigen Plärren verschmolz. Der Hörer fiel ihm mit einem heftigen Poltern aus der Hand.
Shaddack legte seinen eigenen Hörer weg, wandte sich wieder seinen VDT zu, schaltete sich ins Datennetz der Polizei ein und gab eine dringende Nachricht an Loman Wat-kins durch.
51
Sam Booker saß im Schlafzimmer im dritten Stock auf dem Stuhl, bückte sich über das Okular und beobachtete den Hinterhof von Callans Bestattungsinstitut. Der Wind, der immer noch gegen die Fenster stürmte und die Bäume auf der Hü-gelflanke schüttelte, auf der fast ganz Moonlight Cove erbaut war, hatte den Nebel bis auf wenige Schwaden verweht. Die Lichter des Zufahrtsweges waren gelöscht worden, die Rückseite von Callans Institut lag in Dunkelheit, abgesehen vom schwachen Licht, das von den zugezogenen Fenstern des Krematoriumflügels ausging. Sie waren zweifellos emsig damit beschäftigt, die Leichen des Ehepaars einzuäschern, das im Cove Lodge ermordet worden war.
Tessa saß hinter Sam auf dem Bettrand und tätschelte Moose, der den Kopf in ihrem Schoß liegen hatte.
Harry saß daneben im Rollstuhl. Er aß beim Licht einer Taschenlampe in einem spiralgebundenen Notizbuch, in dem er sich Aufzeichnungen über die außergewöhnlichen Vorgänge im Krematorium gemacht hatte.
»Das erste - jedenfalls das erste ungewöhnliche Ereignis, das mir auffiel -, war in der Nacht des achtundzwanzigsten August«, sagte Harry. »Zwanzig Minuten vor Mitternacht. Sie brachten vier Leichen auf einmal mit dem Leichenwagen des städtischen Krankenhauses. Mit Polizeibegleitung. Die Leichen waren in Plastiksäcken, daher konnte ich sie nicht sehen, aber die Polizisten und Arzthelfer und die Leute von Callan waren deutlich zu sehen... und... nun, aufgeregt. Das habe ich in ihren Gesichtern gesehen. Und Angst. Sie sahen sich immer zu den benachbarten Häusern und dem Weg hin um, als fürchteten sie, jemand könnte sie dabei beobachten, was sie taten - was seltsam war, weil sie doch nur ihre Pflicht taten, oder nicht? Wie dem auch sei, später las ich in der. Lokalzeitung, daß die Familie Mayser bei einem Brand ums Leben gekommen war, und da wußte ich, daß sie in jener Nacht zu Callan gebracht worden waren. Ich nehme an, sie sind ebensowenig bei einem Brand gestorben, wir Ihre Schwester Selbstmord begangen hat.«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Tessa.
Sam, der immer noch den Hinterhof des Bestattungsinstituts beobachtete, sagte: »Die Maysers habe ich auf meiner Liste. Sie kamen bei den Ermittlungen im Fall Bustamente-Sanchez ans Licht.«
Harry räusperte sich und sagte: »Sechs Tage später, am dritten September, wurden kurz nach Mitternacht zwei Leichen zu Callan gebracht. Das war noch seltsamer, denn sie kamen nicht mit dem Leichen- oder Krankenwagen. Zwei Polizeiautos fuhren hinter dem Institut auf, und sie luden vom Rücksitz eines jeden einen Leichnam aus; beide waren in blutige Laken gewickelt.«
»Am dritten September?« sagte Sam. »An diesem Datum habe ich niemanden auf meiner Liste. Sanchez und die Bus-tamentes waren am fünften. Am dritten wurden keine Totenscheine ausgestellt. Diesen beiden tauchten nie in den offiziellen Unterlagen auf.«
»Auch in der Lokalzeitung stand nichts darüber, daß jemand gestorben wäre«, sagte Harry.
Tessa sagte: »Also wer waren diese beiden Menschen?«
»Vielleicht waren sie von außerhalb und hatten das Pech, daß sie in etwas Gefährliches hineingestolpert sind«, sagte Sam. »Menschen, deren Tod vollkommen vertuscht werden konnte, damit niemand erfährt, wo sie gestorben sind. Sie verschwanden einfach irgendwo unterwegs.«
»Sanchez und die Bustamentes starben in der Nacht des fünften«, sagte Harry, »und dann Jim Armes in der Nacht des siebten.«
»Armes verschwand auf dem Meer«, sagte Sam, sah vom Teleskop auf und betrachtete den Mann im Rollstuhl stirnrunzelnd.
Sie haben den Leichnam nachts um elf zu Callan gebracht«, sagte Harry und sah wegen Einzelheiten in sein Notizbuch. »Die Jalousien der Krematoriumsfenster waren nicht heruntergelassen, daher konnte ich alles sehen, fast so gut, als wäre ich selbst in dem Raum gewesen. Ich habe den Leichnam gesehen... den schrecklichen Zustand, in dem er sich befand. Und das Gesicht. Ein paar Tage später, als die Zeitung einen Artikel über Armes' Verschwinden brachte, erkannte ich ihn als den Jungen, den sie verbrannt hatten.«
Das große Schlafzimmer lag in völliger Dunkelheit, abgesehen vom Licht der Taschenlampe, das Harry mit der Hand abschirmte und auf das offene Notizbuch beschränkte. Die weißen Seiten schienen in einem eigenen Licht zu glühen, als wären sie die Seiten eines magischen oder heiligen - oder unheüigen - Buches.
Harry Talbots mitgenommenes Äußeres wurde vom Widerschein dieser Seiten spärlich beleuchtet, und das eigentümliche Licht betone die Linien seines Gesichts und ließ ihn älter aussehen, als er war. Sam wußte, jede Linie stand für ein tragisches Ereignis und für Leid. Sympathie regte sich in ihm. Kein Mitleid. Er konnte niemanden bemitleiden, der so entschlossen war wie Talbot. Aber Sam war sich über Kummer und Einsamkeit von Harrys abgeschiedenem Leben im klaren. Während er den an den Rollstuhl gefesselten Mann betrachtete, wuchs Sams Zorn auf die Nachbarn. Warum hatten sie ihn nicht öfter zum Essen eingeladen oder an ihren Feiertagspartys teilnehmen lassen? Warum hatten sie ihn so sehr sich selbst überlassen, daß er nur mittels Fernglas und Teleskop am gesellschaftlichen Leben dieser Stadt teilnehmen konnte? Sam empfand stechende Verzweiflung über die Unwilligkeit der Menschen, sich zu öffnen, über die Art, wie sie sich selbst und andere isolierten. Dann mußte er bestürzt an sein eigenes Unvermögen denken, mit seinem Sohn zu kommunizieren, was seine Stimmung weiter verschlechterte.
Zu Harry sagte er: » Was meinen Sie damit, der Zustand, in dem sich Armes' Leichnam befand?«
»Zerfetzt. Zerstückelt.«
»Er ist nicht ertrunken?«
»Sah nicht so aus.«
»Zerfetzt... Was genau meinen Sie damit?« fragte Tessa.
Sam wußte, sie dachte an die Leute, deren Schreie sie im Motel gehört hatte - und an ihre Schwester.
Harry zögerte, dann sagte er: »Nun, ich sah ihn auf dem Tisch im Krematorium, bevor sie ihn in den Ofen schoben. Er war... ausgeweidet worden. Beinahe geköpft. Schrecklich. .. zerrissen. Er sah so schlimm aus, als wäre er auf eine Tellermine getreten und von den Splittern zerfetzt worden.«
Sie saßen schweigen da und dachten über diese Beschreibung nach.
Nur Moose schien unberührt. Er gab einen leisen Laut der Zufriedenheit von sich, als Tessa ihn hinter den Ohren kraulte.
Sam dachte, daß es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, ein niederes Tier zu sein, ein Wesen der Gefühle, ohne die Last des Intellekts. Oder, das andere Extrem, ein wirklich intelligenter Computer, nur Intellekt und überhaupt keine Gefühle. Die große Doppelbelastung von Gefühlen und hoher Intelligenz lag nur auf den Menschen und sie machte das Leben so schwer; man dachte immer darüber nach, was man empfand, anstatt einfach dem Augenblick zu folgen, oder man versuchte immer, in einer gegebenen Situation das zu empfinden, was man empfinden zu müssen glaubte. Gedanken und Urteilsvermögen wurden unweigerlich von Gefühlen beeinflußt - manchmal auf unterbewußter Ebene, so daß man nicht einmal völlig begriff, warum man bestimmte Entscheidungen traf, sich auf bestimmte Weise verhielt. Emotionen umwölkten das Denken; aber wenn man zu eingehend über seine Gefühle nachdachte, nahm man ihnen die Schärfe. Der Versuch, inbrünstig zu empfinden und gleichzeitig völlig klar zu denken, war, als würde man versuchen, mit sechs Keulen gleichzeitig zu jonglieren, während man mit einem Einrad auf dem Hochseil rückwärts fuhr.
»Nach dem Artikel über Armes' Verschwinden in der Zeitung«, fuhr Harry fort, »wartete ich auf eine Korrektur, aber es wurde keine abgedruckt, und da wurde mir allmählich klar, daß die seltsamen Vorkommnisse bei Callan nicht nur seltsam waren, sondern möglicherweise kriminell - und daß die Polizei darin verwickelt war.«
»Paula Parkins wurde auch zerrissen«, sagte Sam.
Harry nickte. »Angeblich von ihren Dobermännern.«
»Dobermänner?« fragte Tessa.
Sam hatte ihr in der Wäscherei erzählt, daß ihre Schwester nur einer von vielen seltsamen Todesfällen und Selbstmorden war, aber er hatte ihr keine Einzelheiten der anderen erzählt. Jetzt erzählte er ihr rasch von Parkins.
»Nicht von ihren eigenen Hunden«, stimmte Tessa zu. »Sie wurde von dem zerrissen, was auch Armes tötete. Und die Leute heute im Cove Lodge.«
Harry hörte zum erstenmal von den Morden im Cove Lodge. Sam mußte ihm alles erklären, auch, wie er und Tes-sa einander in der Wäscherei begegnet waren.
Harrys vorzeitig gealtertes Gesicht nahm einen seltsamen Ausdruck an. Zu Tessa sagte er: »Äh... Sie haben diese Täter im Cove Lodge nicht gesehen? Keinen einzigen Blick?«
»Nur einen Fuß durch einen Spalt unter der Tür.«
Harry wollte etwas sagen, tat es aber nicht, sondern saß nachdenklich schweigend da.
Er weiß etwas, dachte Sam. Mehr als wir.
Aus irgendwelchen Gründen wollte Harry ihnen nicht mitteilen, was er wußte, denn er wandte sich wieder dem Notizbuch auf seinem Schoß zu und sagte: »Zwei Tage nach Paula Parkins' Tod wurde gegen halb zehn Uhr abends eine Leiche zu Callan gebracht.«
»Das wäre der elfte September?« fragte Sam.
»Ja.«
»Keine Aufzeichnungen, daß an diesem Tag ein Totenschein ausgestellt worden ist.«
»Auch nichts in der Zeitung.«
»Fahren Sie fort.«
Harry sagte: »Am fünfzehnten September...«
»Steve Heinz, Laura Dalcoe. Angeblich hat er sie getötet und sich dann selbst das Leben genommen«, sagte Sam. »Streit unter Liebenden, wollte man uns glauben machen.«
»Auch eine schnelle Einäscherung«, bemerkte Harry. »Und drei Nächte später, am achtzehnten, wurden kurz nach eins, kurz bevor ich zu Bett gehen wollte, noch zwei Leichen zu Callan gebracht.«
»Auch darüber existieren keine offiziellen Aufzeichnungen«, sagte Sam.
»Noch zwei von außerhalb, die auf einen Besuch oder nur zum Essen von der Autobahn abfuhren?« fragte Tessa. »Oder vielleicht jemand aus einem anderen Teil des County, der auf der Landstraße an der Stadt vorbeifuhr?«
»Könnten auch Leute von hier gewesen sein«, sagte Harry. »Ich meine, es gibt immer ein paar Leute, die nicht lange hier leben, Neuankömmlinge, die ihre Häuser mieten statt kaufen und keine nennenswerten Verbindungen zur Ge -meinde haben. Wenn man die Morde an ihnen vertuschen wollte, könnte man sich immer eine akzeptable Geschichte ausdenken, daß sie wegen eines neuen Jobs weggezogen seien, oder so, und die Nachbarn würden es glauben.«
Wenn die Nachbarn nicht schon >verwandelt< waren und sich an der Vertuschungsaktion beteiligten, dachte Sam.
»Dann am dreiundzwanzigsten September«, sagte Harry, »das muß der Leichnam Ihrer Schwester gewesen sein, Tes-sa.«
»Ja.«
»Da wußte ich schon, daß ich jemandem sagen müßte, was ich gesehen hatte. Jemand mit Befugnis. Aber wem? Ich traute keinem Einheimischen, weil ich gesehen hatte, wie die Polizei ein paar Leichen gebracht hatte, die nie in offiziellen Berichten auftauchten. Den County-Sheriff? Der hätte eher Watkins als mir geglaubt, oder nicht? Verflucht, es denken sowieso alle, daß Krüppel ein wenig verschroben sind - ich meine, nicht richtig im Kopf -, sie setzen körperliche Behinderung wenigstens ein wenig mit geistiger Behinderung gleich, wenigstens unterbewußt. Daher nahm ich an, daß sie Vorurteile haben und mir nicht glauben würden, und es ist, zugegeben, ja auch eine wilde Geschichte, die Leichen, geheime Einäscherungen...« Er machte eine Pause. Sein Gesicht wurde düster. »Die Tatsache, daß ich ein Kriegsveteran mit Auszeichnungen bin, hätte mich nicht glaubwürdiger gemacht. Das ist schon lange her, für manche Vorgeschichte. Tatsächlich... hätten sie mir den Krieg zweifellos ein wenig zum Vorwurf gemacht. Post-Vietnam-Stress-Syndrom, so nennt man das. Der arme Harry ist schließlich übergeschnappt - verstehen Sie denn nicht - wegen des Krieges.«
Bisher hatte Harry nüchtern gesprochen, ohne Gefühlsregung. Aber seine letzten Worte waren wie ein Stück Glas, das gegen die Oberfläche eines wogenden Sees gehalten wurde und Gefilde darunter sichtbar machte - in diesem Fall Gefilde von Leid, Einsamkeit und Entfremdung.
Jetzt drangen nicht nur Gefühle in seine Stimme ein, sie brachten sie sogar ein paarmal dazu, überzuschlagen. »Und ich muß gestehen, ein Grund, warum ich nicht versucht habe, es jemandem zu sagen, war der, daß ich... Angst hatte. Ich hatte keine Ahnung, was los war. Ich konnte nicht wissen, wieviel auf dem Spiel stand. Ich wußte nicht, ob sie mich zum Schweigen bringen, mich eines nachts in den Ofen von Cal-lans schieben würden. Man sollte meinen, daß ich tollkühn wäre, nachdem ich schon soviel verloren habe, und mir keine Gedanken mehr zu machen brauche, noch mehr zu verlieren, vielleicht zu sterben; aber so ist es nicht, ganz und gar nicht. Für mich ist das Leben wahrscheinlich kostbarer als für Menschen, die heil und gesund sind. Dieser behinderte Körper hat mich so sehr gebremst, daß ich die letzten zwanzig Jahre außerhalb des Wirbels von Aktivitäten verbracht habe, in dem die meisten von Ihnen existieren, und dadurch hatte ich Zeit, die Welt wirklich zu sehen, ihre Schönheit und Vielfalt. Letztendlich hat meine Behinderung mich dazu gebracht, das Leben noch mehr zu bewundern und zu lieben. Deshalb hatte ich Angst, sie könnten zu mir kommen und mich umbringen, und deshalb habe ich niemandem erzählt, was ich gesehen habe. Gott stehe mir bei, denn wenn ich früher ausgesagt hätte, wenn ich das FBI früher angerufen hätte, wären vielleicht ein paar Menschen gerettet worden. Vielleicht... wäre Ihre Schwester gerettet worden.«
»Das sollten Sie nicht einmal denken«, sagte Tessa sofort. »Hätten Sie anders gehandelt, wären Sie jetzt zweifellos Asche, die man aus dem Ofen von Callan gekratzt und ins Meer geworfen hätte. Das Schicksal meiner Schwester war besiegelt. Und Sie hätten es nicht verhindern können.«
Harry nickte, dann schaltete er die Taschenlampe aus und machte das Zimmer noch dunkler, obwohl er noch nicht mit den Informationen in seinem Notizbuch durch war. Sam vermutete, Tessas spontane Großzügigkeit hatte Harry Tränen in die Augen getrieben, und er wollte nicht, daß es jemand sähe.
»Am fünfundzwanzigsten«, fuhr er fort, da er nicht unbedingt im Notizbuch lesen mußte, »wurde um Viertel nach zehn eine Leiche zu Callan gebracht. Auch das war unheimlich, denn sie wurde weder vom Kranken- noch vom Lei-chenwagen oder dem Polizeiauto gebracht. Sie wurde von Loman Watkins gebracht...«
»Dem Polizeichef«, sagte Sam für Tessa.
»...aber er war mit seinem Privatwagen da, und ohne Uniform«, sagte Harry. »Sie holten die Leiche aus dem Kofferraum. Sie war in eine Decke gewickelt. Auch in dieser Nacht waren die Jalousien nicht heruntergelassen, und ich konnte mit dem Tele nahe rankommen. Ich kannte die Leiche nicht, aber wohl den Zustand, in dem sie sich befand - derselbe wie Armes.«
»Zerrissen?« fragte Sam.
»Ja. Dann kam das FBI in die Stadt, um den Fall Busta-mente-Sanchez zu untersuchen, und als ich das in der Zeitung las, war ich sehr erleichtert, denn ich dachte mir, es würde endlich alles ans Licht kommen, es würde Enthüllungen und Erklärungen geben. Aber in der Nacht des vierten Oktober wurden zwei weitere Leichen bei Callan weggeschafft... «
»Da war unser Team in der Stadt«, sagte Sam. »Mitten in den Ermittlungen. Sie wußten nicht, daß während dieser Zeit irgendwelche Totenscheine ausgestellt wurden. Sie sagen, das passierte direkt unter ihren Nasen?«
»Klar. Ich muß nicht ins Notizbuch sehen; ich erinnere mich ganz deutlich daran. Die Leichen wurden im Campingfahrzeug von Reese Dorn gebracht. Er gehört zur hiesigen Polizei, aber in jener Nacht hatte er keine Uniform an. Sie brachten die Toten ins Institut, und die Jalousien waren offen, daher konnte ich sehen, wie sie beide Leichen gleichzeitig in den Ofen schoben, als hätten sie es echt eilig, sie loszuwerden. Und spät in der Nacht des siebenten fanden auch Aktivitäten bei Callan statt, aber der Nebel war so dicht, daß ich nicht beschwören kann, ob weitere Leichen weggeschafft wurden. Und zuletzt... heute nacht. Der Leichnam eines Kindes. Eines kleinen Kindes.«
»Plus die beiden, die im Cove Lodge getötet wurden«, sagte Tessa. »Das macht über zwanzig Opfer, nicht die zwölf, wegen derer Sam hierher geschickt wurde. Diese Stadt ist zum Schlachthaus geworden.«
»Es könnten noch mehr sein, als wir denken«, sagte Harry.
»Wie das?«
»Nun, ich beobachte das Institut schließlich nicht jeden Abend die ganze Zeit über. Und ich gehe meist gegen halb zwei, aber nie später als zwei ins Bett. Wer sagt, daß ich nicht Besuche übersehen habe, daß nicht weitere Leichen in den frühen Morgenstunden gebracht wurden?«
Sam dachte darüber nach, während er wieder durch das Okular sah. Die Rückfront von Callans Institut blieb dunkel und still. Er drehte das Teleskop langsam nach rechts und suchte die Nachbarschaft in nördlicher Richtung ab.
Tessa sagte: »Aber warum wurden sie getötet?«
Niemand wußte eine Antwort.
»Und von was?« fragte sie.
Sam studierte einen Friedhof weiter nördlich an der Conquistador, dann seufzte er, sah auf und erzählte ihnen von seinem Erlebnis an diesem Abend am Iceberry Way. »Ich dachte, es waren Halbstarke, Jugendkriminelle, aber jetzt glaube ich, es waren dieselben Wesen, die das Paar im Cove Lodge getötet haben, dieselben, deren Fuß Sie unter der Tür gesehen haben.«
Er konnte förmlich sehen, wie Tessa in der Dunkelheit frustriert die Stirn runzelte, als sie sagte: »Aber was sind sie?«
Harry Talbot zögerte. Dann: »Schreckgespenster.«
52
Er wagte nicht, die Sirene einzuschalten, und auf der letzten Viertelmeile machte er sogar die Scheinwerfer aus, so näherte sich Loman um zehn nach drei Uhr morgens mit zwei Autos, fünf Männern und Schrotflinten dem Haus von Mike Peyser. Loman hoffte, sie würden die Gewehre nur zur Einschüchterung einsetzen müssen. Bei ihrer einzigen B;geg-nung mit einem Regressiven - Jordan Coombs am vierten September -, waren sie nicht auf dessen Wut vorbereitet gewesen und hatten ihm den Kopf wegpusten müssen, um die eigene Haut zu retten. Shaddack hatte nur einen Leichnam untersuchen können. Er war wütend über die vertane Chance gewesen, die Psychologie - und die funktionierende Physiologie - eines dieser metamorphosebedingten Psychopathen zu untersuchen. Unglücklicherweise war ein Betäubungsgewehr nicht von Nutzen, da die Regressiven Neue Menschen waren, die schlecht geworden waren, und alle Neuen Menschen, regressiv oder nicht, hatten einen radikal veränderten Metabolismus, der nicht nur wundersam schnelle Heilung ermöglichte, sondern auch die schnelle Absorption, Verdauung und Unschädlichmachung toxischer Substanzen wie Gifte und Betäubungsmittel. Man hätte einen Regressiven nur dann ruhigstellen können, wenn er einer dauernden Infusion zugestimmt hätte, was verdammt unwahrscheinlich war.
Mike Peysers Haus war ein einstöckiger Bungalow mit Vorder- und Hinterveranda an West- und Ostseite, gut erhalten und auf einem Grundstück von sechs Ar; von einigen großen Gummibäumen abgeschirmt, die ihre Blätter noch nicht verloren hatten. In keinem Fenster brannte Licht.
Loman schickte einen Mann zur Nord- und einen zur Südseite, damit Peyser nicht durch ein Fenster entkommen konnte. Einen dritten Mann postierte er vor der Vorderveranda, damit er den Eingang im Auge behielte. Mit den beiden anderen Männern - Sholnick und Pennyworth - ging er ums Haus herum und leise die Stufen zur hinteren Veranda hinauf.
Jetzt, wo der Nebel fortgeweht worden war, war die Sicht gut. Aber der heulende, pfeifende Wind war ein Hintergrundlärm, der andere Geräusche übertönte, die sie vielleicht hören mußten, während sie Peyser verfolgten.
Pennyworth stellte sich links von der Tür an die Hauswand, Sholnick rechts. Beide hatten halbautomatische Schrotflinten.
Loman drückte die Klinke. Die Tür war nicht verschlossen. Er stieß sie auf und trat zurück.
Seine beiden Männer betraten einer nach dem anderen die Küche und senkten die Schrotflinten, um zu feuern, obwohl sie wußten, der Befehl lautete, Peyser lebend zu fangen, wenn es möglich war. Aber sie hatten nicht vor, sich selbst zu opfern, nur um Shaddack die Bestie lebend zu bringen. Einen Augenblick später fand einer den Lichtschalter.
Loman, der selbst eine Schrotflinte Kaliber 20 hatte, betrat das Haus nach ihnen. Leere Schüsseln, zerbrochene Teller und schmutzige Tupperbehälter lagen auf dem Boden verstreut, dazu ein paar Rigatoni mit roter Tomatensauce, ein halber Fleischklops, Eierschalen, ein Stück Kuchenkruste und andere Essensreste. Einer von vier Stühlen am Frühstückstisch lag auf der Seite; ein weiterer war an einer Schrankreihe in Stücke gehauen worden und hatte ein paar Keramikfliesen zersplittert.
Direkt geradeaus führte ein Türbogen ins Eßzimmer. Restlicht aus der Küche erhellte vage Tisch und Stühle dort.
Links, neben dem Kühlschrank, befand sich eine Tür. Barry Sholnick machte sie vorsichtig auf. Ein Regal mit Konservendosen auf dem Treppenabsatz. Stufen führten in den Keller hinunter.
»Dort sehen wir später nach«, sagte Loman leise. »Wenn wir mit dem Haus fertig sind.«
Sholnick nahm lautlos einen Stuhl vom Frühstückstisch und klemmte ihn schräg unter die Türklinke, damit nichts aus dem Keller kommen und ihnen nachschleichen konnte, wenn sie in die anderen Zimmer gingen.
Sie standen einen Augenblick da und lauschten.
Windböen hämmerten gegen das Haus. Ein Fenster klapperte. Vom Dachboden oben konnte man das Ächzen von Dachbalken hören, und von noch weiter oben das Klirren loser Dachziegeln.
Seine Männer fragten Loman stumm, was sie tun sollten. Pennyworth war erst fünfundzwanzig, hätte für achtzehn gelten können und hatte ein so frisches und argloses Gesicht, daß man ihn eher für einen Vertreter religiöser Flugschriften als für einen Polizisten hätte halten können. Shol-nick war zehn Jahre älter und hatte ein härteres Aussehen.
Loman winkte sie zum Eßzimmer.
Sie traten ein und schalteten dabei die Lichter ein. Das Eß-zimmer war leer, daher gingen sie vorsichtig ins Wohnzimmer.
Pennyworth drückte auf einen Schalter an der Wand und schaltete damit eine Chrom- und Messing-Lampe an, eines der wenigen nicht zertrümmerten Möbelstücke. Die Kissen von Sofa und Sesseln waren zerfetzt; überall lagen Klumpen der Schaumgummifüllung, die wie giftige Pilze aussahen. Bücher waren aus den Regalen gezogen und in Fetzen gerissen worden. Eine Keramiklampe, ein paar Vasen und die Glasplatte eines Kaffeetischchens waren zerschmettert worden. Die Türen des Fernsehschränkchens waren abgerissen, der Bildschirm eingeschlagen. Hier waren blinde Wut und wilde Kraft am Werk gewesen.
Das Zimmer roch stark nach Urin... und nach etwas weniger Stehendem und nicht so Bekanntem. Möglicherweise der Geruch des Wesens, das für die Zerstörung verantwortlich war. Zu diesem schwächeren Geruch gehörte die saure Ausdünstung von Schweiß, aber es war auch etwas Seltsameres dabei, etwas, das Loman gleichzeitig den Magen umdrehte und vor Angst verkrampfte.
Links führte ein Hur zu den Schlafzimmern und Bädern. Loman deckte ihn mit der Schrotflinte ab.
Die beiden Deputies gingen in die Diele, die durch einen seitlichen Türbogen mit dem Wohnzimmer verbunden war. Rechts befand sich ein Schrank, direkt neben der Eingangstür. Sholnick stellte sich mit gesenkter Schrotflinte davor. Penny worth riß die Tür von der Seite auf. In dem Schrank befanden sich nur Mäntel.
Der einfache Teil der Suche lag hinter ihnen. Vor ihnen lag der schmale Flur mit drei Türen, eine halb offen, die beiden anderen angelehnt, dunkle Zimmer dahinter. Dort gab es weniger Bewegungsfreiheit und mehr dunkle Stellen, von denen ein Angreifer zuschlagen konnte. Der Wind heulte in den Erkern. Er strich über eine Regenrinne und erzeugte einen leisen, klagenden Ton.
Loman hatte nie zu den Vorgesetzten gehört, die ihre Leute in die Gefahr schickten und selbst in Sicherheit zurückblieben. Er hatte zwar Stolz und Selbstachtung und Pflichtgefühl zusammen mit anderen Eigenschaften und Empfindungen der Alten Menschen abgestreift, aber seine Pflicht war immer noch eine Gewohnheit in ihm - tatsächlich weniger bewußt, als vielmehr ein Reflex -, und er handelte so, wie er es vor der Verwandlung getan haben würde. Er trat als erster in den Flur, wo rechts und links je eine Tür warteten. Er ging rasch ans Ende, zur zweiten Tür links, die halb offen war; er kickte sie nach innen und sah im Licht vom Flur ein kleines, leeres Badezimmer, bevor die Tür von der Wand abprallte und wieder zufiel.
Pennyworth nahm das erste Zimmer links. Er trat ein und hatte den Lichtschalter gefunden, bis Loman dorthin kam. Es war ein Arbeitszimmer mit Schreibtisch, Arbeitstisch, zwei Stühlen, Schränken, hohen Bücherregalen voll von Büchern mit grellbunten Rücken und zwei Computern. Loman trat ein und zielte auf den Schrank, wo Pennyworth vorsichtig erst die eine und dann die andere Spiegeltür beiseite rollte.
Nichts.
Barry Sholnick blieb auf dem Flur, er richtete die Schrotflinte auf das Zimmer, in dem sie noch nicht nachgesehen hatten. Als Loman und Pennyworth wieder zu ihm kamen, schoß Sholnick diese Tür mit dem Lauf der Schrotflinte ganz auf. Während sie aufschwang, schnellte er zurück, weil er sicher war, daß ihn etwas aus der Dunkelheit heraus anspringen würde, aber nichts geschah. Er zögerte, dann trat er unter die Tür, tastete mit einer Hand nach dem Lichtschalter, fand ihn, sagte: »Oh, mein Gott«, und trat hastig wieder auf den Flur heraus.
Loman sah an seinem Deputy vorbei in das Zimmer und erblickte eine Höllengestalt, die auf dem Boden kauerte und sich an die gegenüberliegende Wand drückte. Es war ein Regressiver, zweifellos Peyser, aber er sah dem regressiven Jordan Coombs nicht so ähnlich, wie Loman erwartet hatte. Es gab Gemeinsamkeiten, ja, aber nicht viele.
Loman drängte sich an Sholnick vorbei und ging über die Schwelle. »Peyser?«
Das Ding am anderen Ende des Zimmers blinzelte ihn an und bewegte den verzerrten Mund. Mit einer Stimme, die flüsternd und doch kehlig, wild und doch gequält war, wie es nur die Stimme eines halbwegs intelligenten Wesens sein konnte, sagte es: »...Peyser, Peyser, Peyser, ich, Peyser, ich, ich... «
Auch hier war der Geruch von Urin, aber jetzt war dieser andere Geruch vorherrschend - beißend, moschusartig.
Loman ging weiter in das Zimmer. Pennyworth folgte ihm. Sholnick blieb an der Tür stehen. Loman blieb zwölf Schritte von Peyser entfernt stehen, und Pennyworth ging zur Seite und hielt die Flinte bereit.
Als sie Jordan Coombs am vierten September in dem vernagelten Kino in die Ecke gedrängt hatten, hatte dieser sich in einem Zustand befunden, der irgendwie an einen Gorilla mit gedrungenem, kräftigem Körper erinnert hatte. Mike Peyser dagegen hatte ein weitaus hagereres Äußeres, sein Körper, der an die Schlafzimmerwand gedrückt war, sah mehr wölfisch als affenähnlich aus. Die Hüften befanden sich in einem Winkel zur Wirbelsäule und verhinderten so, daß er vollkommen aufrecht stehen oder sitzen konnte, und seine Beine wirkten an den Schenkeln zu kurz und an den Schienbeinen zu lang. Er war von dichtem Haarwuchs bedeckt, aber nicht so dicht, daß man ihn als Pelz hätte bezeichnen können.
»Peyser, ich, ich, ich...«
Coombs' Gesicht war teilweise menschenähnlich gewesen, aber größtenteils das eines höheren Primaten, mit knochiger Stirn, flacher Nase und einem vorstehenden Kiefer mit großen, häßlichen, scharfen Zähnen, gleich denen eines Pavians. Mike Peysers gräßlich entstelltes Äußeres enthielt dagegen eine Spur Wolf, oder Hund; Mund und Nase waren zu einer deformierten Schnauze vorgezogen. Die breite Stirn erinnerte an die eines Affen, wirkte aber übertrieben, und in den blutunterlaufenen Augen, die in schattigen Höhlen tief unter dem knochigen Riff der Stirn lagen, war ein Ausdruck der Wut und des Entsetzens, der durch und durch menschlich war.
Peyser hob eine Hand, deutete auf Loman und sagte: »...hilf mir, mir, hilf, etwas stimmt nicht, stimmt nicht, stimmt nicht, hilf...«
Loman betrachtete die mutierte Hand voll Angst und Staunen zugleich, er erinnerte sich daran, wie seine eigene Hand angefangen hatte, sich zu verändern, als er an diesem Abend beim Haus der Fosters den Ruf der Regressiven vernommen hatte. Verlängerte Finger. Große, grobe Knöchel. Scharfe Krallen anstelle von Fingernägeln. Menschliche Hände, was Form und Anzahl der Finger anbetraf, aber ansonsten vollkommen fremd.
Scheiße, dachte Loman, diese Hände, diese Hände. Ich habe sie im Kino gesehen, oder im Fernsehen, als wir die Kassette Howling ausgeliehen hatten. Rob Bottin. Das war der Name des Spezialeffektemachers, der den Werwolf geschaffen hatte. Er erinnerte sich daran, weil Danny vor der Verwandlung völlig vernarrt in Spezialeffekte gewesen war. Diese Hände sahen fast genauso wie die gottverdammten Hände des Werwolfs in Howling aus!
Das war so verrückt, daß man kaum darüber nachdenken konnte. Das Leben ahmte die Fantasie nach. Fleisch gewordene Fantasie. Während sich das zwanzigste Jahrhundert zunehmend seinem letzten Jahrzehnt näherte, war der wissenschaftliche und technologische Fortschritt an einem Scheidepunkt angekommen, wo der Traum der Menschheit von einem besseren Leben häufig erfüllt, wo aber auch Alpträume zu Wirklichkeit gemacht werden konnten. Peyser war ein böser, böser Traum, der aus dem Unterbewußtsein gekrochen und Fleisch geworden war; man konnte ihm nicht entkommen, indem man aufwachte; er würde nicht verschwinden, so wie die Ungeheuer, die den Schlaf heimsuchten.
»Wie kann ich dir helfen?« fragte Loman argwöhnisch.
»Erschießen Sie ihn«, sagte Pennyworth.
Loman antwortete heftig: »Nein!«
Peyser hob die beiden Hände mit den verzerrten Fingern und sah sie einen Moment an, als sähe er sie zum erstenmal. Er gab ein Stöhnen von sich, dann ein dünnes und klägliches Wimmern, »...verändern, kann mich nicht mehr verändern, kann nicht, habe es versucht, will es, brauche es, will es, will es, kann nicht, habe es versucht, kann nicht...«
Sholnick sagte von der Tür: »Großer Gott, er steckt fest -er ist gefangen. Ich dachte, die Regressiven könnten sich durch Willenskraft zurückverwandeln.«
»Können sie«, sagte Loman.
»Er nicht«, sagte Sholnick.
»Das behauptet er«, stimmte Penny worth mit schneller, nervöser Stimme zu. »Er sagte, er kann sich nicht verändern.«
Loman sagte: »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber die anderen Regressiven können sich verändern, denn wenn sie es nicht könnten, hätten wir sie mittlerweile alle gefunden. Sie streifen ihr verändertes Stadium ab und wandeln wieder unter uns.«
Peyser schien sie gar nicht zu bemerken. Er starrte seine Hände an und wimmerte kehlig, als würde ihn entsetzen, was er sah.
Dann fingen seine Hände an, sich zu verändern.
»Sehen Sie«, sagte Loman.
Loman hatte noch nie so eine Verwandlung gesehen; er war von Neugier, Staunen und Entsetzen gepackt. Die Krallen gingen zurück. Das Fleisch war plötzlich so formbar wie weiches Wachs; es quoll auf, schlug Blasen, pulsierte nicht im rhythmischen Fluß von Blut in den Adern, sondern seltsam, obszön; es nahm neue Formen an, als würde ein unsichtbarer Bildhauer daran arbeiten. Loman hörte Knochen krachen, bersten, wenn sie aufgebrochen und neu gebildet wurden; das Fleisch schmolz und verfestigte sich mit ekelerregenden feuchten Lauten wieder. Die Hände wurden beinahe menschlich. Dann verloren Gelenke und Unterarme etwas von ihrem grobschlächtigen, wölfischen Äußeren. Man sah in Peysers Gesicht, daß sich die menschliche Seele bemühte, den Wilden zu vertreiben, der momentan die Kontrolle hatte; die Züge des Raubtiers wichen einem sanfteren, zivilisierten Gesicht. Es war, als wäre der monströse Peyser nur die Spiegelung einer Bestie im Wasser, eines Sees, aus dem jetzt der wahre, menschliche Peyser emporstieg.
Er war zwar kein Wissenschaftler, kein Genie der Mikro -technologie, nur ein Polizist mit High-School-Abschluß; dennoch wußte Loman, daß diese grundlegende und rasche Verwandlung nicht nur den drastisch verbesserten Stoffwechselvorgängen und der Fähigkeit der Neuen Menschen, sich selbst zu heilen, zugeschrieben werden konnte. Einerlei, welche gewaltigen Fluten von Hormo nen, Enzymen und anderen biologischen Chemikalien Peysers Körper jetzt erzeugen konnte, es war unmöglich, daß Knochen und Fleisch in einer so kurzen Zeitspanne so nachdrücklich verändert werden konnten. Im Verlauf von Tagen oder Wochen ja, aber nicht innerhalb von Sekunden. Es war sicherlich physisch unmöglich. Und doch geschah es. Was bedeutete, daß in Mike Peyser eine andere Kraft am Werk war, mehr als nur biologische Vorgänge, etwas Geheimnisvolles und Furchteinflößendes.
Plötzlich hörte die Verwandlung auf. Loman konnte sehen, daß Peyser sich bemühte, wieder völlig menschlich zu werden; er biß die halb menschlichen, aber immer noch wolfsähnlichen Kiefer zusammen und knirschte mit den Zähnen, in seinen seltsamen Augen war ein Ausdruck von Verzweiflung und eiserner Entschlossenheit, aber es nützte nichts. Einen Augenblick zitterte er am Rand der menschlichen Gestalt. Man hatte den Eindruck, wenn er die Verwandlung nur noch einen Schritt weiterbringen würde, nur noch einen winzigen Schritt, dann würde er eine Schwelle überschreiten, nach der die restliche Verwandlung beinahe automatisch stattfinden würde, ohne äußerste Willensanstrengung, so mühelos wie ein abwärts fließender Bach. Aber er konnte nicht über diese Schwelle springen.
Pennyworth gab einen leisen, erstickten Laut von sich, als würde er Peysers Verzweiflung teilen.
Loman sah seinen Deputy an. Auf Pennyworths Gesicht glitzerte ein dünner Schweißfilm.
Loman stellte fest, daß er ebenfalls schwitzte; er spürte, wie eine Schweißperle an seiner linken Schläfe hinabrann. Es war warm in dem Bungalow - ein Ölofen klickte an und aus -, aber nicht so warm, daß man hätte schwitzen sollen.
Es war ein kalter Angstschweiß, aber auch mehr als das. Er spürte auch eine Beklemmung in der Brust, einen Kloß in der Kehle, der das Schlucken erschwerte, und er atmete schnell, als wäre er hundert Treppenstufen emporgelaufen...
Peyser stieß einen dünnen Schmerzensschrei aus und wurde wieder regressiv. Mit dem spröden, berstenden Ge -räusch von Knochen und dem ölig-feuchten Laut von aufgeweichtem und wieder erstarrtem Fleisch kam die wilde Bestie wieder zum Vorschein, nach einem Augenblick war Peyser wieder so, wie sie ihn zuerst gesehen hatten: eine Kreatur der Hölle.
Ja, eine Kreatur der Hölle, aber beneidenswert kräftig und von einer seltsamen, schrecklichen Schönheit erfüllt. Verglichen mit dem Menschenkopf, war die vorwärtsgestreckte Haltung des großen Schädels linkisch, und dem Ding fehlte die anmutige Einwärtskrümmung der menschlichen Wirbelsäule, dennoch besaß es eine ganz ureigene, dunkle Anmut.
Sie standen einen Augenblick schweigend da.
Peyser kauerte mit gesenktem Kopf auf dem Boden.
Schließlich sagte Sholnick von der Tür: »Mein Gott, er ist gefangen.«
Mike Peysers Problem ließ sich möglicherweise auf einen Fehler in der Technologie zurückführen, mittels derer die Verwandlung von einem Alten in einen Neuen Menschen bewerkstelligt wurde, aber Loman vermutete, daß Peyser immer noch über die Fähigkeit verfügte, sich neu zu formen, daß er wieder zu dem Menschen werden konnte, zu dem er so verzweifelt werden wollte, daß ihm aber der Wunsch fehlte, wieder wirklich menschlich zu werden. Er war zum Regressiven geworden, weil er diesen veränderten Zustand erstrebenswert fand; vielleicht hielt er ihn auch für so ungleich erstrebenswerter und befriedigender, daß er gar nicht mehr richtig ins höhere Dasein zurückkehren wollte.
Peyser hob den Kopf und sah Loman und dann Pennyworth an, schließlich Sholnick und zuletzt wieder Loman. Das Entsetzen über seinen Zustand war nicht mehr zu sehen. Zorn und Entsetzen waren aus seinen Augen verschwunden. Er schien sie mit seiner verzerrten Schnauze anzulächeln, und eine neue Wildheit - beunruhigend und faszinierend zugleich - erschien in seinen Augen. Er hob die Hände wieder vors Gesicht und spannte die langen Finger, klickte mit den Krallen aneinander und betrachtete sich selbst mit einer Art Verwunderung.
»...jagen, jagen, verfolgen, jagen, töten, Blut, Blut, brauche, brauche es...«
»Wie zum Teufel sollen wir ihn lebend mitnehmen, wenn er nicht mitkommen will?« Pennyworths Stimme war seltsam belegt und etwas nuschelnd.
Peyser griff sich mit einer Hand an die Genitalien und kratzte sich abwesend. Er sah wieder Loman an, dann in die Nacht hinaus, die ans Fenster drängte.
»Ich fühle...« Sholnick ließ den Satz unvollendet.
Pennyworth fehlten ebenfalls die Worte: »Wenn wir... nun, wir könnten... «
Der Druck in Lomans Brust war größer geworden. Sein Hals war noch mehr zugeschnürt, er schwitzte immer noch.
Peyser stieß einen sanften, wabernden Schrei aus, wie ihn Loman unheimlicher noch nie gehört hatte, ein Ausdruck der Sehnsucht, aber auch eine animalische Herausforderung an die Nacht, eine Verkündigung seiner Kraft und der Zuversicht in seine eigene Stärke und Verschlagenheit. In dem engen Schlafzimmer hätte der Schrei schrill und unangenehm sein sollen, aber statt dessen entfachte er in Loman dasselbe unaussprechliche Sehnen, das er schon beim Haus der Fosters empfunden hatte, als er die drei Regressiven einander in der Ferne und der Nacht etwas zurufen gehört hatte.
Loman biß die Zähne so fest zusammen, daß seine Kiefer schmerzten, und versuchte, dem unheiligen Drang zu widerstehen.
Peyser ließ noch einen Schrei los, dann sagte er: »Laufen, jagen, frei, frei, brauche es, frei, brauche es, kommt mit mir, kommt, kommt, brauche es, brauche...«
Loman spürte, wie er die Schrotflinte losließ. Der Lauf senkte sich. Die Mündung war auf den Boden gerichtet, nicht mehr auf Peyser.
»...laufen, frei, frei, müssen...«
Hinter Loman erklang ein nervenzerfetzender Schrei der Befreiung.
Er sah zur Schlafzimmertür und bekam gerade noch mit, wie Sholnick die Schrotflinte fallen ließ. Gesicht und Hände des Deputy wiesen sachte Veränderungen auf. Er zog die schwarze Uniformjacke aus, warf sie beiseite, riß das Hemd auf. Seine Wangen- und Kieferknochen zerflossen und strömten nach vorne, die Stirn wurde fliehend, während er in den verwandelten Zustand überwechselte.
53
Als Harry Talbot ihnen alles über die Schreckgespenster gesagt hatte, beugte sich Sam auf dem hohen Stuhl zum Okular des Teleskops. Er schwang das Instrument nach links, bis er das unbebaute Grundstück neben dem Bestattungsinstitut im Visier hatte, wo die Geschöpfe zuletzt in Erscheinung getreten waren.
Er war nicht sicher, wonach er suchte. Er glaubte nicht, daß die Schreckgespenster um genau die gleiche Zeit exakt zum selben Ort zurückkehren würden, damit er sie sich in aller Bequemlichkeit betrachten könnte. Und das niedergetrampelte Gras und Buschwerk, wo sie erst vor ein paar Stunden gewesen waren, enthielt keinerlei Hinweise, die ihm verraten hätten, was sie waren oder in welchem Auftrag sie unterwegs waren. Vielleicht versuchte er nur, die fantastische Vorstellung von affen-hunde-reptilienähnlichen Schreckgespenstern in der Wirklichkeit zu verwurzeln, sie im Geiste mit diesem unbebauten Grundstück in Verbin -dung zu bringen, um sie dadurch konkreter zu machen, damit er mit ihnen fertigwerden konnte.
Wie auch immer, Harry hatte außer dieser noch eine andere Geschichte zu berichten. Während sie in dem verdunkelten Zimmer saßen, als würden sie sich um ein ausgebranntes Lagerfeuer herum Gespenstergeschichten erzählen, sagte er ihnen, wie ei mitarigeserien hatte, wie Denver Simpson, Doc Fitz, Reese Dorn und Paul Hawthorne damals Ella Simpson überwältigt, sie nach oben ins Schlafzimmer gebracht und ihr dann eine gewaltige Injektion mit einer goldfarbenen Flüssigkeit gegeben hatten.
Sam bediente das Teleskop nach Harrys Anweisungen, und so gelang es ihm, das Haus der Simpsons zu finden und anzuvisieren, das auf der anderen Seite der Conquistador und gleich nördlich des katholischen Friedhofs lag. Alles war dunkel und reglos.
Tessa, die noch auf dem Bett saß und den Hund streichelte, sagte: »Das muß alles irgendwie zusammenhängen: diese >Unglücksfälle<, was diese Männer mit Ella Simpson gemacht haben, und diese... Schreckgespenster.«
»Ja, das hängt alles miteinander zusammen«, stimmte Sam zu. »Und New Wave Mikrotechnologie ist der Knoten, der es zusammenhält.«
Er erzählte ihnen, was er herausgefunden hatte, als er hinter dem Rathaus in dem Streifenwagen spioniert hatte.
»Moonhawk?« fragte sich Tessa. »Verwandlungen? In was, um Himmels willen, verwandeln sie die Menschen?«
»Ich weiß nicht.«
»Doch sicher nicht in diese... Schreckgespenster.«
»Nein, den Sinn dessen würde ich nicht sehen, und soviel ich mitbekommen habe, wurden bereits zweitausend Menschen in der Stadt... dieser Behandlung unterzogen, verwandelt, was auch immer, zum Teufel, es ist. Wenn so viele von Harrys Schreckgespenstern unterwegs wären, wären sie überall; in der Stadt würde es von ihnen wimmeln, wie in einem Zoo in der Twilight-Zone.«
»Zweitausend«, sagte Harry. »Das sind zwei Drittel der ganzen Stadt.«
»Und der Rest bis Mitternacht«, sagte Sam. »Nicht mehr ganz einundzwanzig Stunden von jetzt an.«
»Ich auch, schätze ich?« fragte Harry.
»Ja. Ich habe in ihrer Liste nach Ihnen gesucht. Ihre Verwandlung ist im letzten Stadium geplant, zwischen sechs Uhr kommenden Abends und Mitternacht. Sie haben also noch etwa vierzehneinhalb Stunden, bis sie zu Ihnen kommen werden.«
»Das ist verrückt«, sagte Tessa.
»Ja«, stimmte Sam zu. »Vollkommen verrückt.« »Das kann alles nicht wahr sein«, sagte Harry. »Aber wenn es nicht wahr ist, warum stehen mir dann die Haare zu Berge?«
54
»Sholnick!«
Barry Sholnick warf das Uniformhemd weg, kickte die Schuhe fort und war so begierig, sämtliche Kleidungsstücke abzustreifen und seine Regression vollkommen zu machen, daß er nicht auf Loman achtete.
»Barry, hören Sie um Gottes willen auf, lassen Sie das nicht geschehen«, sagte Pennyworth flehentlich. Er war blaß und zitterte. Er sah von Sholnick zu Peyser und wieder zurück, und Loman vermutete, daß Pennyworth denselben degenerierten Trieb verspürte, dem sich Sholnick ergeben hatte.
»...frei laufen, jagen, Blut, Blut, müssen...«
Peysers verlockender Gesang bohrte sich wie ein Stachel durch Lomans Gehirn, und er wollte, daß er damit aufhörte. Nein, in Wahrheit war es kein Stachel, der seinen Schädel spaltete, denn es war überhaupt nicht schmerzhaft, tatsächlich war es erregend und seltsam melodisch, drang ihm bis ins Innerste und durchbohrte ihn nicht wie ein Schaft aus Metall, sondern wie Musik. Darum wollte er, daß es aufhörte; weil es ihn ansprach, ihn in seinen Bann zog; er wollte seine Verantwortung und seine Sorgen abstreifen, wollte sich vor dem zu komplizierten Leben des Intellekts zurückziehen in eine Existenz, die nur auf Gefühlen basierte, auf körperlichem Verlangen, in eine Welt, deren Grenzen von Sex und Nahrung und dem Nervenkitzel der Jagd bestimmt waren, eine Welt, wo Zwistigkeiten und Bedürfnisse einzig und allein durch Muskelkraft ausgetragen und erfüllt wurden, wo er nie wieder denken, sich Sorgen machen oder sich um etwas kümmern müßte.
»...Erfüllung, Erfüllung, Erfüllung, Erfüllung, töten...«
Sholnicks Körper beugte sich nach vorne, als sich die Wirbelsäule neu bildete. Sein Rücken verlor die konkave Krümmung, die der menschlichen Gestalt eigen ist. Seine Haut schien Schuppen zu weichen...
»...Kommt, schnell, schnell, die Jagd, Blut, Blut...«
...und als Sholnicks Gesicht neu geformt wurde, klaffte sein Mund unmöglich weit auf und öffnete sich fast von einem Ohr bis zum anderen, wie das Maul eines ewig grinsenden Reptils.
Der Druck in Lomans Brust wurde mit jeder Sekunde größer. Ihm war heiß, er schwitzte, aber die Hitze kam aus seinem Inneren, als würde sein Stoffwechsel mit einer Ge -schwindigkeit rasen, die das Tausendfache der Normalen betrug, um ihn für die Verwandlung bereit zu machen. »Nein.« Schweiß strömte an ihm herab. »Nein!« Ihm war, als wäre das Zimmer ein Kessel, in dem er auf seine Essenz ausgekocht werden würde; er konnte fast spüren, wie sein Fleisch zu schmelzen anfing.
Pennyworth sagte: »Ich will, ich will, ich will«, aber er schüttelte heftig den Kopf und versuchte zu leugnen, was er wollte. Er weinte und zitterte und war weiß wie ein Laken.
Peyser erhob sich aus seiner kauernden Haltung und trat von der Wand weg. Er bewegte sich geschmeidig, rasch, und obwohl er sich in seinem veränderten Zustand nicht vollkommen aufrecht halten konnte, war er größer als Lo-man, eine furchteinflößende und zugleich verführerische Gestalt.
Sholnick kreischte.
Peyser entblößte die scharfen Zähne und zischte Loman etwas zu, als wollte er sagen: Entweder kommst du zu uns, oderdu stirbst.
Mit einem Schrei, der sich aus Verzweiflung und Freude zusammensetzte, warf Neu Pennyworth die Schrotflinte weg und legte die Hände vor das Gesicht. Als hätte diese Berüh-rung eine chemische Reaktion ausgelöst, fingen sowohl seine Hände wie auch das Gesicht an, sich zu verformen.
Hitze explodierte in Loman und er brülle wortlos, aber ohne die Freude, die Pennyworth ausgedrückt hatte, und ohne Sholnicks orgiatischen Schrei. Er riß die Schrotflinte hoch, solange er sich noch in der Gewalt hatte, und feuerte eine Ladung auf Peyser ab.
Der Schuß erwischte den Regressiven in der Brust und warf ihn in einem gewaltigen Blutschwall gegen die Wand. Peyser sackte winselnd, nach Luft ringend zusammen und wand sich auf dem Boden wie ein nicht ganz totgetretener Käfer, und er war nicht tot. Vielleicht hatten Herz und Lunge keine ausreichenden Verletzungen abbekommen. Wenn sein Blut, noch mit Sauerstoff versorgt, durch seinen Körper gepumpt würde, dann würde der Schaden bereits behoben; seine Unverwundbarkeit war in gewisser Weise noch größer als die übernatürlichen Kräfte eines Werwolfs, denn ihn konnte man nicht einfach mit einer Silberkugel töten; er würde einen Augenblick später so kräftig wie eh und je wieder aufstehen.
Eine Hitzewelle nach der anderen jagte durch Loman, und jede war heißer als die vorhergehende. Er verspürte Druck von innen, jetzt nicht mehr nur in der Brust, sondern in jedem Körperteil. Ihm blieben nur noch Sekunden, in denen sein Verstand klar genug sein würde zu handeln, und sein Wille stark genug, Widerstand zu leisten. Er lief zu Peyser, hielt ihm die Schrotflinte gegen die wogende Regressiven-brust und feuerte noch eine Ladung in ihn.
Diese Ladung mußte das Herz zerschmettert haben. Der Körper zuckte vom Boden empor, als der Schuß in ihn eindrang. Peysers Monstergesicht verzerrte sich, dann erstarrte es mit offenen, blicklosen Augen und Lippen, die unmenschlich große, scharf aussehende Zähne entblößten.
Hinter Loman schrie jemand.
Er wirbelte herum und sah das Sholnick-Ding auf sich zukommen. Er feuerte eine dritte und vierte Ladung, die Shol-nick in der Brust und im Magen traf.
Der Deputy stürzte heftig zu Boden und kroch in Richtung Flur, weg von Loman.
Neil Pennyworth hatte sich vor dem Bett auf dem Boden in eine embryonale Haltung zusammengerollt. Er sang, aber nicht von Blut und Bedürfnissen und der Freiheit; er schrie den Namen seiner Mutter, immer wieder, als wäre er ein verbaler Talisman, der ihn vor dem Bösen beschützen konnte, das ihn holen wollte.
Lomans Herz schlug so heftig, daß das Pochen von außen zu kommen schien, als würde jemand in einem anderen Zimmer des Hauses eine Trommel schlagen. Er war halb davon überzeugt, daß er seinen gesamten Körper in diesem Pulsschlag erbeben spüren konnte, und daß er sich mit jedem Schlag auf eine unmerkliche und dennoch teuflische Weise veränderte.
Er trat hinter Sholnick, stand über ihm, dann stieß Loman dem Regressiven die Mündung in den Rücken, etwa an der Stelle, wo er das Herz vermutete, und drückte ab. Sholnick stieß einen schrillen Schrei aus, als er spürte, wie ihn die Mündung berührte, aber er war zu schwach, sich herumzudrehen und Loman das Gewehr zu entreißen. Der Schuß machte dem Schrei für immer ein Ende.
Das Blut dampfte in dem Zimmer. Der komplexe Geruch war so süß und anziehend, daß er an die Stelle von Peysers verführerischem Gesang trat und Loman zur Regression treiben wollte.
Er lehnte sich an den Schrank, machte die Augen zu und versuchte, sich zusammenzunehmen. Er klammerte sich mit beiden Händen an der Schrotflinte fest, und zwar nicht wegen ihres Wertes für die Verteidigung - sie enthielt keine Munition mehr -, sondern weil es eine kunstvoll gefertigte Waffe war, was bedeutete, sie war ein Gegenstand der Zivilisation, eine Erinnerung daran, daß er ein Mensch war, der Gipfel der Evolution, und daß er der Versuchung nicht erliegen durfte, seine Werkzeuge und sein Wissen wegzuwerfen und gegen die niederen Vergnügungen und Befriedigungen eines Tieres einzutauschen.
Aber der Blutgeruch war so stark und verlockend...
Er versuchte verzweifelt, sich mit allem zu beeindrucken, was er verlieren würde, wenn er sich ergab, und er dachte an Grace, seine Frau, und erinnerte sich, wie sehr er sie einst geliebt hatte. Aber jetzt konnte er nicht mehr lieben, wie alle Neuen Menschen. Gedanken an Grace konnten ihn nicht retten. Tatsächlich sah er Bilder ihrer letzten animalischen Paarung vor sich, und sie war nicht mehr Grace für ihn; sie war einfach weiblich, und die Erinnerung an ihr wildes Kopulieren erregte ihn und zog ihn noch näher an den Strudel der Regression.
Der übermächtige Wunsch zu degenerieren weckte das Gefühl in ihm, als wäre er in einem Wirbel und würde nach unten gesogen werden, nach unten gesogen, nach unten, und er vermutete, daß sich so der Werwolf fühlen mußte, wenn er zum Nachthimmel aufsah und am Horizont den Vollmond aufgehen sah. Der Konflikt tobte in ihm:
...Blut...
...Freiheit...
- nein. Verstand, Wissen -
...Jagen...
...Töten...
- nein. Forschen, Lernen -
...Essen...
...Laufen...
...Jagen...
...Ficken...
...Töten...
- nein, nein! Musik, Kunst, Sprache -
Das Chaos in ihm wuchs.
Er versuchte, dem Sirenengesang der Wildheit mit Vernunft entgegenzutreten, aber das schien nicht zu funktionieren, daher dachte er an Denny, seinen Sohn. Er mußte an seiner Menschlichkeit festhalten, und sei es nur Dennys wegen. Er versuchte, die Liebe zu beschwören, die er einst für seinen Sohn empfunden hatte, versuchte diese Liebe neu in sich erstehen zu lassen, bis er sie hinausschreien könnte, aber er vernahm nur ein Flüstern vergangener Gefühle tief in der Dunkelheit seines Verstandes. Seine Fähigkeit zu lieben war auf dieselbe Weise von ihm gewichen, wie Materie nach dem Urknall, der das Universum erschaffen hatte, vom Zentrum der Existenz fortgestrebt war; die Liebe zu Denny war jetzt so fern und vergangen, daß sie wie ein Stern am anderen Ende des Universums war, dessen Licht man nur schwach sehen konnte und das wenig Energie zu leuchten und gar keine Energie, Wärme zu spenden, mehr hatte. Doch selbst der Hauch eines Gefühls war etwas, um das er das Bild von sich selbst als menschlich aufbauen konnte, menschlich, in erster Linie Mensch, kein Ding, das auf allen Vieren lief, oder mit am Boden schleifenden Knöcheln, sondern ein Mensch, ein Mensch.
Sein fliegender Atem wurde etwas langsamer. Sein Herzschlag verlangsamte sich von einem unmöglich schnellen dubdubdubdubdubdubdubdubdub zu schätzungsweise hundert oder hundertzwanzig Schlägen pro Minute, immer noch schnell, als liefe er, aber besser. Auch sein Kopf wurde klarer, aber nicht völlig klar, weil der Geruch des Blutes ein unausweichliches Parfüm war.
Er stieß sich vom Schrank ab und stolperte zu Pennyworth.
Der Deputy hatte sich immer noch in der engsten Embryo-nalhalrung zusammengerollt, die ein erwachsener Mann einnehmen konnte. Spuren der Bestie waren an seinen Händen und im Gesicht zu erkennen, aber er war deutlich menschlicher geworden. Daß er den Namen seiner Mutter sang, schien ebensogut zu wirken, wie die dünne Lebenslinie der Liebe für Loman gewirkt hatte.
Loman nahm seine verkrampfte Hand von der Schrotflinte, streckte sie Pennyworth entgegen und nahm ihn am Arm. »Kommen Sie, verschwinden wir von hier, Junge, weg von dem Geruch.«
Pennyworth begriff und erhob sich umständlich. Er beugte sich zu Loman und ließ sich aus dem Zimmer führen, weg von den beiden toten Regressiven, den Flur entlang ins Wohnzimmer.
Hier erstickte der Uringestank sämtliche Spuren des Blutgeruchs, die aus dem Schlafzimmer hierher gezogen sein konnten. Das war besser. Es war kein übler Geruch mehr, wie vorhin, sondern ätzend und säubernd.
Loman ließ Pennyworth in einen Sessel sinken, das einzi-ge gepolsterte Möbelstück im Zimmer, das nicht in Fetzen gerissen worden war.
»Alles in Ordnung?«
Pennyworth sah zu ihm auf, zögerte, dann nickte er. Sämtliche Spuren der Bestie waren von Gesicht und Händen verschwunden, aber sein Fleisch war seltsam schwammig und immer noch im Stadium der Veränderung begriffen. Sein Gesicht schien von einem heftigen Anfall von Nesselausschlag geschwollen zu sein, große Beulen zogen sich von der Stirn zum Kinn und von einem Ohr zum anderen, und er hatte auch lange diagonale Wülste, die auf der Haut wütend rot leuchteten. Doch diese Phänomene verschwanden, noch während Loman hinsah, und Neil Pennyworth hatte seine Menschlichkeit wieder vollkommen zurückgewonnen. Jedenfalls seine leibliche Menschlichkeit.
»Sicher?« fragte Loman.
»Ja.«
»Bleiben Sie hier.«
»Ja.«
Loman ging in die Diele und machte die Eingangstür auf. Der Deputy, der draußen stand, war aufgrund der Schüsse und Schreie im Haus so nervös, daß er beinahe auf seinen Vorgesetzten geschossen hätte, bis ihm klar wurde, wen er vor sich hatte.
»Was, zum Teufel, geht da vor?« sagte der Deputy.
»Nehmen Sie per Computer Verbindung zu Shaddack auf«, sagte Loman. »Er muß sofort hierher kommen. Auf der Stelle. Ich muß ihn sofort sprechen.«
55
Sam zog die schweren blauen Vorhänge zu, und Harry schaltete das Nachttischlämpchen an. So schwach es war, zu düster, um mehr als die Hälfte der Schatten zu verscheuchen, es tat Tessa dennoch in den Augen weh, die bereits müde und blutunterlaufen waren.
Sie sah das Zimmer zum erstenmal richtig. Es war spartanisch möbliert: der Stuhl; der hohe Tisch neben dem Stuhl; das Teleskop; eine lange, schwarze Kommode im modernen orientalischen Stil; zwei passende Nachttischchen; in einer Ecke ein kleiner Kühlschrank; ein verstellbares Krankenhausbett, übergroß, ohne Decke, aber mit vielen Kissen und bunten Laken mit einem Muster roter, orangefarbener, purpurner, grüner, gelber, blauer und schwarzer Kleckse und Linien, wie eine gigantische Leinwand, die von einem wahnsinnigen und farbenblinden abstrakten Künstler bemalt worden war.
Harry sah ihre und Sams Reaktion auf die Laken, und sagte: »Das ist eine Geschichte für sich, aber Sie müssen zuerst die Vorgeschichte erfahren. Meine Haushälterin, Mrs. Huns-bok, kommt einmal die Woche vorbei, sie erledigt den größten Teil meiner Einkäufe für mich. Aber ich schicke auch Moose jeden Tag auf einen Botengang, und wenn es nur ist, um die Zeitung zu holen. Er hat diese... nun, eine Art Satteltaschen umgeschnallt, auf jeder Seite eine, ich lege einen Zettel und etwas Geld in eine Tasche, und er geht zum hiesigen Kaufhaus - wenn er die Taschen umgeschnallt hat und ich nicht bei ihm bin, geht er nur dorthin. Der Junge dort in der Lebensmittelabteilung, Jimmy Ramis, kennt mich ziemlich gut. Jimmy liest den Zettel, legt einen Beutel Milch oder ein paar Schokoriegel oder was ich auch immer haben möchte, in die Satteltasche, legt auch das Wechselgeld hinein, und Moose bringt mir alles. Er ist ein guter, zuverlässiger Hund, der beste. Sie bilden sie bei Canine Companions for Independence wirklich sehr gut aus. Wenn Moose meine Zeitung oder einen Beutel Milch in der Tasche hat, verfolgt er nie eine Katze.«
Der Hund hob den Kopf von Tessas Schoß und hechelte und grinste, als würde ihm das Lob gefallen.
»Eines Tages kam er mit den paar Dingern heim, wegen derer ich ihn fortgeschickt hatte, und außerdem hatte er einen Satz Laken und Kissenbezüge. Ich rief Jimmy Ramis an und fragte ihn, was das sollte, und Jimmy sagte, er wüßte nicht, wovon ich spräche, er hätte diese Laken nie gesehen.
Jimmys Vater gehört das Kaufhaus, und ihm gehört auch der Restpostenladen an der Landstraße. Er bekommt jede Menge Restposten und Sachen, die sich nicht so gut verkauft haben, wie die Hersteller erwarteten. Er kauft sie manchmal zu zehn Prozent des ursprünglichen Preises ein, und ich könnte mir denken, daß es ihm selbst in seinem Restpostengeschäft schwerfiel, diese Laken zu verkaufen. Jimmy hat sie zweifellos gesehen, fand sie reichlich albern und beschloß, einen Spaß mit mir zu machen. Aber am Telefon sagte Jimmy: >Harry, wenn ich etwas von diesen Laken wüßte, würde ich es Ihnen sagen, aber ich weiß nichts davon. < Und ich sagte: >Willst du mir einreden, daß Moose sie aus freien Stücken gekauft hat, mit seinem eigenen Geld?< Und Jimmy sagte: >Nein, ich schätze, er ist irgendwo zum Ladendieb geworden worauf ich sagte: >Und wie konnte er sie so ordentlich in seine Satteltaschen packen?< Sagt Jimmy: >Ich weiß nicht, Harry, aber er ist ein verdammt kluger Hund - auch wenn es so aussieht, als hätte er nicht den besten Geschmacks«
Tessa sah, wie Harry die Geschichte genoß und sie begriff auch, warum sie ihm solche Freude bereitete. Zunächst einmal war der Hund Kind, Bruder und Freund, alles in einem vereint, und Harry war stolz, daß die Leute Moose für klug hielten. Wichtiger war aber, Jimmys kleiner Scherz machte Harry zu einem Teil seiner Gemeinde, nicht nur zu einem ans Haus gefesselten Invaliden, sondern zu einem aktiv am Leben der Stadt Beteiligten. In seinem einsamen Leben gab es zu wenige solcher Vorfälle.
»Und du bist ein kluger Hund«, sagte Tessa zu Moose.
Harry sagte: »Wie dem auch sei, als Mrs. Hunsbok das nächste Mal kam, habe ich sie gebeten, das Bett damit zu beziehen, als Witz, aber dann gefielen sie mir irgendwie.«
Nachdem er die Vorhänge am zweiten Fenster zugezogen hatte, ging Sam wieder zum Stuhl, setzte sich, drehte sich zu Harry herum und sagte: »Das sind die grellsten Laken, die ich je gesehen habe. Halten Sie sie nachts nicht wach?«
Harry lächelte. »Mich kann nichts wachhalten. Ich schlafe wie ein Baby. Die Leute werden von Sorgen wegen der Zu-kunft, darüber, was ihnen zustoßen könnte, wachgehalten. Aber mir ist das Schlimmste schon zugestoßen. Oder sie liegen wach und denken über die Vergangenheit nach, über das, was gewesen ist; und auch das tue ich nicht, weil ich es einfach nicht wage.« Während er sprach, verblaßte sein Lächeln. »Und was jetzt? Was machen wir als nächstes?«
Tessa hob den Kopf des Hundes behutsam vom Schoß, stand auf, strich sich ein paar Hundehaare von den Jeans und sagte: »Nun, die Telefone funktionieren nicht, daher kann Sam das FBI nicht anrufen, und wenn wir die Stadt zu Fuß verlassen, riskieren wir eine Begegnung mit Wat-kins' Wachen oder diesen Schreckgespenstern. Wenn Sie keinen Heimfunker kennen, der uns sein Gerät benützen lassen würde, sehe ich nur eine Möglichkeit, nämlich zu fahren.«
»Vergessen Sie die Straßensperren nicht«, sagte Harry.
»Dann werden wir wohl mit einem Lastwagen fahren müssen, mit etwas Großem und Bösem, überfahren die verdammte Straßensperre einfach, fahren zur Autobahn und dann aus ihrem Bezirk hinaus. Und selbst wenn wir von der Countypolizei angehalten würden, machte das nichts, denn Sam könnte sie dazu bringen, das FBI anzurufen, die Wahrheit seiner Aussage festzustellen, und dann würden sie auf unserer Seite sein.«
»Wer ist hier eigentlich der Bundesagent?« fragte Sam.
Tessa merkte, wie sie errötete. »Tut mir leid. Sehen Sie, eine Dokumentarfilmerin ist fast immer auch ihre eigene Produzentin, manchmal Produzentin, Autorin und Regis -seurin in einem. Das heißt, wenn der künstlerische Teil hinhauen soll, muß zuerst der finanzielle Teil klappen, daher bin ich daran gewöhnt, jede Menge Planungen und Logistik zu machen. Ich wollte Ihnen nicht auf die Zehen treten.«
»Da dürfen Sie jederzeit drauf treten.«
Sam lächelte, und er gefiel ihr, wenn er lächelte. Sie merkte, daß sie sich sogar ein wenig zu ihm hingezogen fühlte. Er war weder hübsch noch häßlich, und auch nicht, was die meisten Menschen mit >unscheinbar< bezeichneten. Er war mehr... schwer zu beschreiben, aber mit angenehmem Äußeren. Sie spürte eine Dunkelheit in ihm, die tiefer reichte als seine momentanen Sorgen über die Ereignisse in Moonlight Cove - vielleicht Trauer über einen Verlust, vielleicht lange unterdrückter Zorn über ein Unrecht, das ihm widerfahren war, vielleicht ein allgemeiner Pessimismus, der damit zusammenhing, daß er bei seiner Arbeit mit den schlimmsten Elementen der Gesellschaft zu tun hatte. Aber wenn er lächelte, war er wie verwandelt.
»Wollen Sie wirklich mit einem Lastwagen durchbrechen?« fragte Harry.
»Vielleicht als allerletztes Mittel«, sagte Sam. »Aber dazu müßten wir einen finden, der groß genug ist, und stehlen, und das ist an sich schon problematisch genug. Außerdem haben sie vielleicht Gewehre an den Straßensperren, oder automatische Waffen. Gegen so etwas wollte ich nicht einmal mit einem Mack-Lastwagen anfahren. Man kann mit einem Panzer in die Hölle fahren, aber der Teufel wird einen trotzdem bekommen, daher ist es das Beste, gar nicht erst dorthin zu gehen.«
»Aber wohin gehen wir dann?« fragte Tessa.
»Schlafen«, sagte Sam. »Es gibt einen Ausweg, eine Methode, das Bureau zu benachrichtigen. Ich sehe ihn aus den Augenwinkeln, aber wenn ich ihn direkt ansehen will, verschwindet er. Das liegt daran, daß ich müde bin. Ich brauche ein paar Stunden in der Falle, damit ich wieder frisch werde und klar denken kann.«
Nach allem, was sich im Cove Lodge zugetragen hatte, war auch Tessa erschöpft, aber sie war irgendwie überrascht, daß sie nicht nur schlafen konnte, sondern es auch wollte. Als sie in ihrem Motelzimmer stand und die Schreie der Sterbenden und das wilde Kreischen der Killer gehört hatte, hätte sie nicht gedacht, daß sie jemals wieder schlafen könnte.
56
Shaddack kam um fünf Minuten vor vier Uhr morgens bei Peysers Haus an. Er fuhr seinen anthrazitfarbenen Lieferwagen mit den dunkel getönten Scheiben und nicht den Mercedes, weil im Lieferwagen ein Computerterminal an der Konsole zwischen den Sitzen montiert war, dort, wo der Hersteller eigentlich eine Klimaanlage vorgesehen hatte. Da die bisherige Nacht so ereignisreich gewesen war, hielt es Shaddack für eine gute Idee, in Reichweite der Verbindung zu bleiben, die wie ein silbernes Spinnennetz durch ganz Moonlight Cove gesponnen war.
Als Shaddack durch den Vorgarten zur Veranda ging, rollte ferner Donner über den Horizont des Pazifik. Der heftige Wind, der den Nebel nach Osten geweht hatte, hatte auch einen Sturm vom Westen gebracht. Im Verlauf der vergangenen Stunden hatten brodelnde Wolken den Himmel überzogen und die funkelnden Sterne zugedeckt, die kurz zwischen dem Abziehen des Nebels und dem Aufkommen der Sturmwolken zu sehen gewesen waren. Jetzt war die Nacht sehr dunkel und still. Er zitterte in seinem Kaschmirmantel, unter dem er immer noch den Jogginganzug trug.
Ein paar Polizisten saßen in Streifenwagen am Gehweg. Sie beobachteten ihn, blasse Gesichter hinter staubigen Scheiben, und der Gedanke gefiel ihm, daß sie ihn voll Unterwürfigkeit und Angst ansahen, denn er war in gewissem Sinne ihr Schöpfer.
Loman Watkins wartete im vorderen Zimmer auf ihn. Das Haus war verwüstet. Neil Pennyworth saß auf dem einzigen unbeschädigten Möbelstück; er sah ziemlich erschüttert aus und konnte Shaddack nicht in die Augen sehen. Watkins ging auf und ab. Ein paar Blutspritzer besudelten seine Uniform, aber er schien unverletzt; wenn er Verletzungen abbekommen hatte, mußten sie unbedeutend gewesen und bereits verheilt sein. Es war wahrscheinlich das Blut von jemand anderen.
»Was ist passiert?« fragte Shaddack.
Watkins achtete nicht auf die Frage, sondern sagte zu seinem Beamten: »Gehen Sie raus zu den Wagen, Neu. Bleiben Sie dicht bei den anderen Männern.«
»Ja, Sir«, sagte Pennyworth. Er war auf dem Sessel zusammengesunken, hatte den Kopf gesenkt und betrachtete seine Schuhspitzen.
»Es wird alles gut, Neu.«
»Das glaube ich auch.«
»Das war keine Frage, es war eine Feststellung. Es wird alles gut. Sie haben genügend Kraft, Widerstand zu leisten. Das haben Sie schon bewiesen.«
Pennyworth nickte, stand auf und ging zur Tür.
Shaddack sagte: »Was soll das alles?«
Watkins wandte sich zum Flur am anderen Ende des Zimmers und sagte: »Kommen Sie mit.« Seine Stimme war kalt und hart wie Eis, von' Wut und Angst gezeichnet, aber eindeutig ohne den widerwilligen Respekt, mit dem er seit seiner Verwandlung im August zu Shaddack gesprochen hatte.
Shaddack mißfiel diese Wandlung in Watkins, und sie erfüllte ihn mit Unbehagen, daher folgte er ihm wieder in den Flur.
Der Polizist blieb vor einer geschlossenen Tür stehen und drehte sich zu Shaddack um. »Sie haben gesagt, Sie hätten unsere biologische Effizienz gesteigert, indem Sie uns diese. .. Biochips injiziert haben.«
»Eigentlich eine unrichtige Bezeichnung. Es sind keine Chips, sondern unglaublich winzige Mikrokugeln.«
Trotz der Regressiven und einiger anderer Probleme, die im Zusammenhang mit dem Projekt Moonhawk aufgetaucht waren, war Shaddacks Stolz angesichts seiner Errungenschaft ungetrübt. Fehler konnte man ausmerzen. Man konnte Schnitzer aus dem System eliminieren. Er war immer noch das Genie seiner Zeit; er spürte nicht nur, daß das stimmte, sondern wußte es ebenso, wie er genau wußte, in welcher Richtung er jeden Morgen nach der auf gehenden Sonne schauen mußte.
Genie...
Der gewöhnliche Silikonmikrochip, der die Computerrevolution ermöglicht hatte, war so groß wie ein Fingernagel gewesen und hatte eine Million Schaltkreise enthalten, die durch Fotolithografie eingeätzt wurden. Der kleinste Schaltkreis auf diesem Chip war ein Hundertstel so breit wie ein menschliches Haar gewesen. Durchbrüche in der Röntgenlithografie, die Verwendung gigantischer, Synchrotron genannter Teilchenbeschleuniger, machte es schließlich möglich, eine Milliarde Schaltkreise auf einen Chip zu prägen, mit Leitungen, die nur noch ein Tausendstel eines menschlichen Haars maßen. Die Dimensionen zu verkleinern war der wichtigste Weg, Computergeschwindigkeit zu erzielen und Funktion und Möglichkeiten zu erweitern.
Die von New Wave entwickelten Mikrokugeln maßen nur ein Viertausendstel soviel wie ein Mikrochip. Auf jeder befanden sich eine Viertelmillion Schaltkreise. Dies war durch eine radikal neue Form der Röntgenlithografie bewerkstelligt worden, die es ermöglichte, Schaltkreise auf erstaunlich winzige Oberflächen zu ätzen, wobei man diese Oberflächen nicht vollkommen stillhalten mußte.
Die Verwandlung von Alten Menschen in Neue Menschen begann mit der Injektion Hunderttausender dieser Mikrokugeln in Lösung in den Blutkreislauf Sie waren von biologisch interaktiver Funktion, aber das Material selbst war biologisch inert, daher wurde das Immunsystem nicht ausgelöst. Es gab verschiedene Arten von Mikrokugeln. Manche waren herztropisch, was bedeutete, sie bewegten sich durch die Adern zum Herzen und nisteten sich dort ein, indem sie sich an die Wände der Blutgefäße klammerten, die den Herzmuskel versorgten. Manche Mikrokugeln waren lungentropisch, lebertropisch, nierentropisch, darmtropisch, und so weiter. Sie lagerten sich in Gruppen an diesen Stellen ab und waren so entworfen, daß sich ihre Schaltkreise verbanden, wenn sie Kontakt hatten.
Diese im ganzen Körper verteilten Gruppen bildeten schließlich fünfzig Milliarden verwendbare Schaltkreise, die das Potential für Datenverarbeitung in einem deutlich größeren Umfang als die größten Supercomputer der achtziger Jahre hatten. In gewisser Weise war ein Super-Supercompu-ter durch Injektion in den menschlichen Körper gebracht worden.
Moonlight Cove und die umliegende Gegend lagen ständig im Einfluß von Mikrowellenstrahlungen durch Parabolantennen auf dem Dach des Hauptgebäudes von New Wave. Ein Bruchteil dieser Übertragungen deckte den Polizeicomputer ab, einen weiteren Bruchteil konnte man dazu verwenden, die Mikrokugeln in den Neuen Menschen aufzuladen.
Eine kleine Anzahl Kugeln waren aus einem anderen Material und dienten als Energieumwandler und Energieverteiler. Wenn einer der Alten Menschen seine dritte Injektion von Mikrokugeln erhalten hatte, reagierten diese Energiekugeln sofort auf die Mikrowellenausstrahlungen und wandelten diese in elektrische Ströme um, die sie im gesamten Netz verteilten. Die erforderliche Menge Strom, um das System zu bedienen, war außerordentlich gering.
Andere spezielle Kugeln in jeder Gruppe waren Erinnerungsspeicher. Einige davon enthielten das Programm, das das System steuerte; dieses Programm wurde in dem Augenblick aktiviert, wenn Strom durch das Netz floß.
Shaddack sagte zu Watkins: »Ich kam schon vor langer Zeit zu der Überzeugung, daß das grundlegende Problem mit dem menschlichen Tier seine äußerst emotionale Natur ist. Ich habe es von dieser Last befreit. Damit habe ich es nicht nur geistig, sondern auch körperlich gesünder gemacht.«
»Wie? Ich weiß so wenig, wie die Ve rwandlung vonstatten geht.«
»Sie sind jetzt ein kybernetischer Organismus - das bedeutet, teils Mensch, teils Maschine -, aber Sie müssen das nicht verstehen, Loman. Sie benutzen auch ein Telefon und haben keine Ahnung, wie man ein Telefonsystem baut. Sie wissen nicht, wie ein Computer funktioniert, aber Sie können einen benutzen. Und Sie müssen auch nicht wissen, wie der Computer in Ihnen funktioniert, um ihn benutzen zu können.«
Watkins' Augen waren von Angst umwölkt. »Benutze ich ihn... oder er mich?«
»Selbstverständlich benutzt er Sie nicht.«
»Selbstverständlich...«
Shaddack fragte sich, was sich heute nacht hier abgespielt hatte, daß sich Watkins in einem solchen Angstzustand befand. Er war neugieriger denn je zu sehen, was sich in dem Schlafzimmer befand, vor dessen Schwelle sie standen. Aber er war sich auch darüber im klaren, daß Watkins in einem gefährlich erregten Zustand war, der es erforderlich machte, sich die Zeit zu nehmen, um diese Angst zu vertreiben, auch wenn es frustrierend war.
»Loman, die Ballungen der Mikrokugeln in Ihnen bilden keinen Verstand. Das System ist nicht wirklich intelligent. Es ist ein Diener, Ihr Diener. Es befreit Sie von toxischen Emotionen.«
Starke Emotionen - Haß, Liebe, Neid, Eifersucht, die ganze lange Liste menschlicher Empfindungen - destabilisierten regelmäßig die biologischen Funktionen des Körpers. Medizinische Forscher hatten herausgefunden, daß verschiedene Emotionen die Produktion verschiedener Gehirnchemikalien anregten, und daß diese Chemikalien ihrerseits wieder verschiedene Organe und Gewebe im Körper anregten, ihre Funktion auf eine weniger produktive Weise entweder zu steigern oder zu verringern oder sonstwie zu verändern. Shaddack war davon überzeugt, daß ein Mensch, dessen Körper von Emo tionen und Gefühlen beherrscht wurde, kein vollkommen gesunder Mensch sein und niemals völlig klar denken konnte.
Der Mikrokugelcomputer in jedem Neuen Menschen überwachte jedes Organ im Körper. Wenn er die Produktion verschiedener Aminosäurebausteine und anderer Chemikalien, die als Reaktion auf starke Emotionen gebildet wurden, wahrnahm, setzte er elektrische Stimuli ein, um das Gehirn und andere Organe zu überwinden und den Zustrom abzuschalten, womit die körperlichen Konsequenzen der Emo -tion, wenn nicht die Emotion selbst, beseitigt wurden. Gleichzeitig stimulierte der Mikrokugelcomputer die Produktion anderer Substanzen, die bekanntermaßen die Emo -tionen unterdrückten, und behandelte so nicht nur die Ursache, sondern auch die Wirkung.
»Ich habe Sie von allen Emotionen befreit, außer der Angst«, sagte Shaddack, »die zum Selbstschutz erforderlich ist. Da Ihre Körperchemie jetzt keinen großen Schwankungen mehr unterworfen ist, können Sie klarer denken.«
»Soweit ich bisher mitbekommen habe, bin ich nicht mit einem Mal zum Genie geworden.«
»Nun, Sie bemerken jetzt vielleicht noch keine größere geistige Beweglichkeit, aber das werden Sie noch.«
»Wann?«
»Wenn Ihr Körper restlos von den Überresten einer lebenslangen emotionalen Pollution befreit ist. Derweil ist Ihr innerer Computer« - er tippte Watkins sachte gegen die Schulter - »auch darauf programmiert, komplexe elektrische Stimuli zu verwenden, um den Körper dazu zu bringen, völlig neue Aminosäurebausteine zu erzeugen, die Ihre Blutgefäße reinigen und von Krankheitserregern freihalten, Krebszellen in dem Augenblick vernichten, wenn sie entstehen, und die eine Vielzahl anderer Funktionen ausüben, Sie weitaus gesünder als normale Menschen machen und Ihre Lebenserwartung zweifellos drastisch verlängern.«
Shaddack hatte erwartet, daß der Heilungsprozeß bei den Neuen Menschen beschleunigt sein würde, aber er wäre überrascht gewesen von der fast wunderbaren Schnelligkeit, mit der sich ihre Verletzungen schlössen. Er konnte immer noch nicht begreifen, wie neues Gewebe so schnell gebildet werden konnte; seine momentane Arbeit am Projekt Moonhawk konzentrierte sich darauf, eine Erklärung für diesen Effekt zu finden. Die Heilung wurde nicht ohne ihren Preis bewerkstelligt, denn der Stoffwechsel war auf fantastische Weise beschleunigt; gespeichertes Körperfett wurde in großem Maße verbrannt, um eine Wunde innerhalb von Sekunden oder Minuten zu schließen, der Geheilte war Pfunde leichter, schweißgebadet und hungrig wie ein Wolf.
Watkins runzelte die Stirn und strich sich mit einer zitternden Hand über das schwitzende Gesicht. »Ich kann vielleicht einsehen, daß der Heilungsprozeß beschleunigt ist, aber was gibt die Möglichkeit, uns so vollkommen neu zu gestalten, in eine andere Gestalt zu degenerieren? Sicher können doch nicht einmal Eimer voll von diesen biologischen Chemikalien unseren gesamten Körper auflösen und binnen einer Minute neu aufbauen. Wie kann das sein?«
Shaddack sah dem anderen Mann einen Moment in die Augen, dann wandte er sich ab, hüstelte und sagte: »Hören Sie, ich kann Ihnen das alles später erklären. Jetzt möchte ich Peyser sehen. Ich hoffe, es ist Ihnen gelungen, ihn ohne größere Schäden ruhigzustellen.«
Als Shaddack nach der Tür griff, um sie aufzustoßen, packte ihn Watkins am Handgelenk und hielt ihn zurück. Shaddack war schockiert. Er ließ es nicht zu, daß er berührt wurde.
»Nehmen Sie die Hand von mir.«
»Wie kann der Körper so schnell völlig neu geformt werden?«
»Ich sagte Ihnen, wir unterhalten uns später darüber.«
»Jetzt.« Watkins' Entschlossenheit war so stark, daß sie tiefe Linien in sein Gesicht zeichnete. »Also gut. Ich habe solche Angst, daß ich nicht mehr klar denken kann. Ich kann mit diesem Ausmaß an Angst nicht leben, Shaddack. Sehen Sie mich an. Ich schlottere. Mir ist, als würde ich in Stücke gerissen werden. In eine Million Stücke. Sie wissen nicht, was heute nacht hier vorgefallen ist, sonst würden Sie ebenso empfinden. Ich muß es wissen: Wie können sich unsere Körper so schnell umwandeln?«
Shaddack zögerte. »Ich arbeite daran.«
Watkins ließ überrascht sein Handgelenk los und sagte: »Sie... Sie meinen, Sie wissen es nicht?«
»Es ist eine unerwartete Nebenwirkung. Ich fange an, Sie zu verstehen« ... das war gelogen ... »aber ich muß noch eine Menge arbeiten.« Zuerst mußte er die phänomenalen Heilkräfte der Neuen Menschen verstehen, die zweifellos ein Aspekt desselben Prozesses waren, der es ihnen ermöglichte, sich vollkommen in submenschliche Gestalten zu verwandeln.
»Sie setzen uns dem allen aas und wissen nicht, was es uns antun kann?«
»Ich wußte, daß es ein Vorzug sein würde, eine große Ga -be«, sagte Shaddack ungeduldig. »Kein Wissenschaftler kann jemals alle Nebenwirkungen vorhersagen. Er muß mit dem Wissen handeln, daß mögliche Nebenwirkungen nicht schwerer wiegen als die Vorteile.«
»Aber sie wiegen schwerer als die Vorteile«, sagte Watkins, der dem Zorn so nahe kam wie es einem Neuen Menschen nur möglich war. »Mein Gott, wie haben Sie uns das nur antun können?«
»Ich habe es für Sie getan.«
Watkins sah ihn an, dann stieß er die Schlafzimmertür auf und sagte: »Sehen Sie sich das an.«
Shaddack betrat das Zimmer, wo der Teppich feucht von Blut war - und die Wände waren damit bespritzt. Er verzog das Gesicht angesichts des Gestanks. Er fand alle biologischen Gerüche überaus abstoßend, möglicherweise deshalb, weil sie eine Erinnerung daran waren, daß menschliche Wesen weitaus weniger effizient und sauber waren als Maschinen. Nachdem er beim ersten Leichnam stehengeblieben war - der mit dem Gesicht nach unten nahe der Tür lag -und ihn betrachtet hatte, sah er durch das Zimmer zum zweiten Leichnam. »Zwei? Zwei Regressive, und Sie haben beide umgebracht? Zwei Möglichkeiten, die Psychologie dieser Degenerierten zu studieren, und Sie haben beide Möglichkeiten vernichtet?«
Waikins ließ sich von dieser Kritik nicht beeindrucken. »Es handelte sich hier um eine Situation, bei der es um Tod oder Leben ging. Ich konnte nicht anders handeln.«
Er schien in einem Maße wütend zu sein, das sich mit der Persönlichkeit eines Neuen Menschen nicht vereinbaren ließ. Aber wahrscheinlich war das Gefühl, das seine eisige Gleichgültigkeit zunichte machte, weniger Wut als vielmehr Angst. Angst war akzeptabel.
»Peyser war regressiv, als wir hierher kamen«, fuhr Watkins fort. »Wir haben das ganze Haus durchsucht und ihn in diesem Zimmer gestellt.«
Während Watkins diese Konfrontation in allen Einzelheiten beschrieb, überkam Shaddack eine Angst, die er sich nicht anmerken ließ und sich nicht einmal eingestehen woll-te. Als er sprach, ließ er in seiner Stimme nur Zorn mitschwingen, keine Furcht: »Sie wollen mir sagen, daß Ihre Männer, Sholnick und Pennyworth, daß sogar Sie selbst regressiv sind?«
» Sholnick war regressiv, ja. In meinen Augen ist Pennyworth es nicht - jedenfalls noch nicht -, weil er dem Drang erfolgreich Widerstand leistete. Wie ich ihm widerstanden habe.« Watkins wahrte kühn Augenkontakt und sah nicht einmal weg, was Shaddack weiter beunruhigte. »Was ich Ihnen hier sage, ist das, was ich Ihnen vorhin mit so vielen Worten bei Ihnen zu Hause zu erklären versucht habe. Jeder von uns, jeder verdammte von uns, ist ein potentieller Regressiver. Es ist keine seltene Krankheit unter den Neuen Menschen. Es ist in uns allen. Sie haben ebensowenig eine neue und bessere Menschheit geschaffen, wie Hitlers Politik genetischer Zuchtwahl eine Herrenrasse hervorgebracht hätte. Sie sind nicht Gott; Sie sind Dr. Moreau.«
»Sie werden nicht so mit mir sprechen«, sagte Shaddack und fragte sich, wer dieser Moreau war. Der Name war ihm vage vertraut, aber er kam nicht darauf. »Ich würde vorschlagen, Sie vergessen nicht, wer ich bin, wenn Sie mit mir reden.«
Watkins senkte die Stimme, weil er sich möglicherweise daran erinnerte, daß Shaddack die Neuen Menschen so mühelos auslöschen konnte, wie er eine Kerze ausblasen würde. Aber er sprach dennoch nachdrücklich und mit zu wenig Respekt weiter. »Sie haben immer noch nicht auf die schlechteste Nachricht reagiert.«
»Und das wäre?«
»Haben Sie mir nicht zugehört? Ich sagte, Peyser saß fest. Er konnte sich nicht zurückverwandeln.«
»Ich bezweifle sehr stark, daß er in seinem veränderten Zustand gefangen war. Neue Menschen haben völlige Kontrolle über ihre Körper, mehr Kontrolle als ich je erwartet hätte. Wenn er nicht in seine menschliche Gestalt zurückkehren konnte, so war das ein streng psychologisches Problem. Er wollte gar nicht mehr zurückkehren.«
Watkins sah ihn einen Moment an, dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Sie sind doch nicht wirklich so vernagelt, oder? DÖS ist dasselbe. Verdammt, es ist völlig einerlei, ob etwas mit dem Mikrokugelnetz in seinem Inneren schiefging, ober ob es rein psychologisch war. Wie auch immer, die Wirkung war dieselbe: Er saß fest, war gefangen, in diese degenerierte Form eingesperrt.«
»Sie werden nicht so mit mir sprechen«, wiederholte Shaddack heftig, als würde die Wiederholung des Befehls dieselbe Wirkung haben wie beim Abrichten eines Hundes.
Trotz ihrer physiologischen Überlegenheit und ihrem Potential für geistige Überlegenheit, waren die Neuen Menschen immer noch auf enttäuschende Weise Menschen, und in dem Ausmaß, wie sie Menschen waren, waren sie weitaus weniger effektiv als Maschinen. Bei einem Computer mußte man einen Befehl nur einmal eingeben. Der Computer nahm ihn immer zur Kenntnis und handelte entsprechend. Shad-dack fragte sich, ob es ihm je gelingen würde, die Neuen Menschen in dem Maße vollkommen zu machen, daß künftige Generationen so reibungslos und zuverlässig funktionieren würden wie der durchschnittliche IBM-PC.
Schweißnaß, blaß, mit seltsamen und gequälten Augen, so war Watkins eine einschüchternde Gestalt. Als der Polizist zwei Schritte machte, um die Entfernung zwischen ihnen zu überwinden, hatte Shaddack Angst und wollte zurückweichen, aber er behielt seine Position bei und sah Watkins so trotzig in die Augen, wie er einen gefährlichen deutschen Schäferhund angesehen haben würde, wäre er von einem gestellt worden.
»Sehen Sie sich Sholnick an«, sagte Watkins und deutete auf den Leichnam za ihren Füßen. Er drehte den toten Mann mit der Schuhspitze um.
Obwohl er von Schrotschüssen zerfetzt und blutüberströmt war, war Sholnicks bizarre Mutation unübersehbar. Seine blicklos starrenden Augen waren möglicherweise das furchteinflößendste an ihm gelb, die Iris schwarz, aber nicht rund, wie beim Menschen, sondern längliche Ovale, wie die Augen einer Schlange.
Draußen rollte Donner durch die Nacht, lauter als Shad-dack ihn gehört hatte, als er durch Peysers Vorgarten gegangen war.
Watkins sagte: »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann unterziehen sich diese Degenerierten einer freiwilligen Devolution.«
»Ganz recht.«
»Sie sagten, die gesamte Geschichte der menschlichen Evolution sei in unseren Genen gespeichert, daß wir immer noch Spuren dessen in uns haben, was die Rasse einmal gewesen ist, und daß die Regressiven dieses genetische Material irgendwie anzapfen und sich zu Geschöpfen entwickeln, die weiter unten auf der Leiter der Evolution stehen.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Diese Erklärung ergab einen verrückten Sinn, als wir Coombs im September im Kino erwischt haben und ihn uns genau ansehen konnten. Er war mehr Affe als Mensch, irgend etwas dazwischen.«
»Das ergab keinen verrückten Sinn; es ergab völlig klaren Sinn.«
»Aber, mein Gbtt, sehen Sie sich doch einmal Sholnick an. Sehen Sie ihn an! Als ich ihn erschossen habe, hatte er sich in ein Geschöpf verwandelt, das teils Mensch und teils... verdammt, ich weiß nicht, teils Echse oder Schlange war. Wollen Sie mir erzählen, daß wir uns aus Reptilien entwickelt haben, daß wir noch Echsengene von vor zehn Millionen Jahren in uns haben?«
Shaddack steckte beide Hände in die Manteltaschen, damit sie seine Angst nicht durch ein Zittern oder eine nervöse Geste verrieten. »Das erste Leben auf der Erde war im Meer, dann kroch etwas an Land - ein Fisch mit rudimentären Beinen -, und aus diesem Fische entwickelten sich die früheren Reptilien, irgendwann spalteten sich die Säugetiere ab. Wenn wir nicht tatsächlich Bruchstücke dieses genetis chen Materials frühester Reptilien in uns haben - was meine feste Überzeugung ist -, so verfügen wir zumindest über Rassenerinnerungen an jenes Stadium der Evolution, die auf eine andere Weise, die wir nicht verstehen, in uns kodiert sind.«
»Sie halten mich hin, Shaddack.«
»Und Sie gehen mir auf die Nerven.«
»Das ist mir scheißegal. Kommen Sie her, kommen Sie, sehen Sie sich Peyser genauer an. Er war einer Ihrer alten Freunde, nicht? Sehen Sie sich gut und genau an, was er war, als er gestorben ist.«
Peyser lag flach auf dem Rücken, nackt, das rechte Bein ausgestreckt, das linke angewinkelt unter sich, ein Arm seitlich weggestreckt, der andere über der Brust, die von einigen Schrotsalven zerfetzt worden war. Körper und Gesicht -mit seiner unmenschlichen Schnauze und den Zähnen, aber dennoch vage als das von Mike Peyser erkennbar - gehörten einer schrecklichen Mißgeburt, einem Hundemann oder Werwolf, etwas, das entweder in eine alte Jahrmarktsausstellung oder einen alten Horror-Film gehörte. Die Haut war rauh. Der fleckige Pelz war drahtig. Die Hände sahen kräftig aus, die Krallen spitz.
Weil seine Faszination seine Angst und seinen Ekel überwand, zog Shaddack den Mantel hoch, damit der Saum nicht über den blutigen Leichnam strich, und beugte sich über Peysers Leichnam, um ihn sich genauer anzusehen.
Watkins kauerte sich auf der anderen Seite der Kadavers nieder.
Während ein weiterer Donner-Erdrutsch am Nachthimmel herabrollte, starrte der Tote mit Augen zur Schlafzimmerdecke, die zu menschlich für sein sonstiges verzerrtes Äußeres waren.
»Wollen Sie mir sagen, daß wir uns irgendwann einmal aus Hunden oder Wölfen entwickelt haben?« fragte Wat-kins.
Shaddack antwortete nicht.
Watkins beharrte auf dem Thema. »Wollen Sie mir einreden, daß wir Hundegene in uns haben, die wir anzapfen können, wenn wir uns verwandeln wollen? Soll ich etwa annehmen, daß Gott eine Rippe aus einem prähistorischen Las-sie genommen und daraus den Mann gemacht hat, bevor er eine Rippe des Mannes nahm, um die Frau zu schaffen?«
Shaddack berührte neugierig eine von Mike Peysers Händen, die so sicher zum Töten geschaffen war wie das Bajo-nett eines Soldaten. Sie fühlte sich wie Fleisch an, nur kälter als die eines lebenden Menschen.
»Das kann man nicht biologisch erklären«, sagte Watkins und sah Shaddack über den Leichnam hinweg an. »Diese Wolfsgestalt konnte Peyser nicht aus einer in seinen Genen gespeicherten Rassenerinnerung herausziehen. Also, wie konnte er sich so verwandeln? Hier sind nicht nur Biochips am Werk, sondern noch etwas anderes... etwas Seltsame -res.«
Shaddack nickte. »Ja.« Eine Erklärung war ihm eingefallen, die ihn erregte. »Etwas ungleich Seltsameres... aber vielleicht verstehe ich es.«
»Dann sagen Sie es mir. Ich würde es gerne verstehen. Verdammt, wenn es nicht so ist. Ich würde es wirklich gerne genau verstehen. Bevor es mir zustößt.«
»Es gibt eine Theorie, daß die Gestalt eine Funktion des Bewußtseins ist.«
»Hm?«
»Sie behauptet, wir sind das, was wir denken, was wir sind. Ich spreche hier nicht von Pop-Psychologie, daß man sein kann, was man will, wenn man sich nur selbst gut leiden kann, nichts dergleichen. Ich meine, wir könnten physisch das Potential in uns haben, das zu sein, was wir denken, die von unserem genetischen Erbe diktierte Sasis der Gestalt zu überwinden.«
»Papperlapapp«, sagte Watkins ungeduldig.
Shaddack stand auf. Er streckte die Hände wieder in die Manteltaschen. »Ich will es einmal so ausdrücken: Die Theorie besagt, daß das Bewußtsein die größte Macht des Universums ist, daß es die stoffliche Welt nach ihrem Willen formen kann.«
»Bewußtsein über Materie.«
»Richtig.«
»Wie ein Talk-Show-Zauberer, der einen Löffel verbiegen oder eine Uhr zum Stillstehen bringen kann.«
»Ich vermute, diese Leute sind meistens Scharlatane. Aber, ja, vielleicht ist diese Macht wirklich in uns. Wir wissen nur nicht, wie wir sie anzapfen sollen, weil wir uns Jahrmillio-nen lang von der stofflichen Welt haben beherrschen lassen. Wir sind durch Gewohnheit, Stasis und dadurch, daß wir der Ordnung den Vorzug über das Chaos geben, der Gnade der materiellen Welt ausgeliefert. Aber worüber wir uns hier unterhalten«, sagte er und deutete auf Sholnick und Peyser, »das ist komplexer und aufregender, als einen Löffel mit dem Verstand zu verbiegen. Peyser verspürte aus Gründen, die ich nicht verstehe, den Drang, regressiv zu werden, möglicherweise einzig wegen des Nervenkitzels... «
»Wegen des Nervenkitzels.« Watkins' Stimme wurde leiser, beinahe gedämpt, und sie war von solcher Wut und Angst erfüllt, diß Shaddack noch mulmiger zumute wurde. »Animalische Macht ist aufregend. Animalische Bedürfnisse. Man verspürt animalischen Hunger, animalische Lust, Blutdurst - und man fühlt sich dazu hingezogen, weil es so... einfach und übermächtig scheint, so natürlich. Es ist die Freiheit.«
»Freiheit?«
»Freiheit von der Verantwortung, von Sorgen, vom Druck der zivilisierten Welt, vom allzu häufigen Denken. Der Wunsch, regressiv zu werden, ist außerordentlich stark, weil man spürt, daß das Leben danach viel einfacher und aufregender sein wird«, sagte Watkins und sprach damit offensichtlich das aus, was er selbst empfunden hatte, als er sich zu jenem veränderten Zustand hingezogen fühlte. »Wenn man zum Tier wird, besteht das Leben nur noch aus Empfindungen, nur Schmerz und Lust, ohne etwas intellektualisie-ren zu müssen. Das ist jedenfalls ein Teil davon.«
Shaddack war stumm; ihn beunruhigte die Leidenschaft, mit der Watkins - normalerweise kein allzu offener Mensch
- vom Drang, regressiv zu werden, gesprochen hatte.
Ein weiteres Dröhnen ließ den Himmel erbeben, noch heftiger als die vorhergehende. Der erste Donnerschlag brachte die Schlafzimmerfenster zum Klirren.
Shaddack sagte mit wirbelnden Gedanken: »Wie auch immer, das Entscheidende ist, als Peyser diesen Drang verspürte, zur Bestie zu werden, zum Jäger, entwickelte er sich nicht entlang des menschlichen genetischen Stammbaums zurück. Seiner Meinung nach ist der Wolf offenbar der größte aller Jäger, die erstrebenswerteste Form für ein Raubtier, daher wollte er wolfsähnlich werden.«
»Einfach so«, sagte Watkins skeptisch.
»Ja, einfach so. Verstand über Materie. Die Metamorphose ist weitgehend ein geistiger Vorgang. Oh, selbstverständlich kommt es zu körperlichen Veränderungen. Aber wir sprechen hier möglicherweise nicht von einer völligen Verwandlung der Materie... nur von biologischen Strukturen. Die grundlegenden Nukleotiden bleiben dieselben, aber ihre Abfolge verändert sich drastisch. Strukturelle Gene werden durch Willenskraft in Operatorgene verwandelt...«
Shaddacks Stimme überschlug sich, als seine Erregung zunahm, die Angst überflügelte und ihn atemlos machte. Er hatte mit dem Projekt Moonhawk viel mehr erreicht als er ursprünglich beabsichtigt hatte. Die erstaunliche Errungenschaft war Ursache seiner plötzlichen Freude und eskalierenden Furcht: Freude, weil er den Menschen die Fähigkeit gegeben hatte, ihre körperliche Erscheinung zu bestimmen, und irgendwann einmal vielleicht alle Materie durch reine Willenskraft zu formen; und Angst, weil er nicht sicher war, ob die Neuen Menschen lernen konnten, ihre Fähigkeiten richtig zu kontrollieren und anzuwenden... oder ob er sie auch weiterhin würde beherrschen können.
»Die Gabe, die ich Ihnen gegeben habe - computerunterstütze Physiologie und Befreiung von Emotionen - entfesselt die Macht des Verstandes über die Materie. Sie ermöglicht dem Bewußtsein, die Gestalt zu bestimmen.«
Watkins schüttelte den Kopf; es stieß ihn eindeutig ab, was Shaddack sagte. »Peyser wurde vielleicht freiwillig, was er war. Vielleicht wollte es Sholnick auch. Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich es wollte. Als mich der Drang überkam, mich zu verändern, habe ich dagegen angekämpft wie ein ehemaliger Süchtiger, der den Wunsch nach Heroin ausschwitzt. Ich wollte es nicht. Es kam über mich... so wie die Macht des Vollmonds über einen Werwolf kommt.«
»Nein«, sagte Shaddack. »Unbewußt wollten Sie die Veränderung, Loman, und Sie wollten sie zweifellos teilweise auch auf einer bewußten Ebene. Sie müssen sie bis zu einem gewissen Grad gewollt haben, denn Sie haben so nachdrücklich davon gesprochen, wie anziehend die Regression war. Sie haben der Macht von Verstand über den Körper nur des -halb widerstanden, weiß Sie die Verwandlung eine Kleinigkeit beunruhigender als faszinierend fanden. Wenn Sie etwas von Ihrer Angst davor verlieren... oder wenn der veränderte Daseinszustand nur eine Kleinigkeit anziehender wird... nun, dann wird sich Ihr psychologisches Gleichgewicht verlagern, und Sie werden sich neu gestalten. Aber es wird keine externe Kraft am Wirken sein. Ihr eigener Verstand wird es tun.«
»Warum konnte Peyser dann nicht zurückkehren?«
»Wie ich sagte, und wie Sie angedeutet haben, weil er es nicht wollte.«
»Er war gefangen.«
»Nur von seinem eigenen Verlangen.«
Watkins sah auf den grotesken Leichnam des Regressiven hinunter. »Was haben Sie uns angetan, Shaddack?«
»Haben Sie nicht verstanden, was ich gesagt habe?«
»Was haben Sie uns angetan?«
»Dies ist ein großes Geschenk!«
»Keine Gefühle zu haben, abgesehen von Angst?«
»Das befreit Ihren Verstand, und gibt Ihnen die Kraft, Ihre ureigene Gestalt zu kontrollieren«, sagte Shaddack aufgeregt. »Ich kann nur nicht verstehen, warum die Regressiven sich allesamt für einen submenschlichen Zustand entschieden haben. Sie haben doch sicher die Kraft in sich, eine Evolution durchzumachen, keine Devolution, sich über das menschliche Dasein hinaus zu etwas Höherem, Saubererem, Reinerem zu erheben. Vielleicht haben sie sogar die Macht, zu einem Wesen reinsten Bewußtseins zu werden, Intellekt ohne irgend eine stoffliche Gestalt. Warum haben sich diese Neuen Menschen statt dessen alle entschieden, regressiv zu werden?«
Watkins hob den Kopf, und seine Augen hatten einen halb toten Ausdruck, als hätten sie den Tod vom Anblick des Leichnams absorbiert. »Was nützt es, die Macht eines Gottes zu haben, wenn man nicht gleichzeitig die schlichten Freuden eines Menschen erleben kann?«
»Aber Sie können alles erleben und tun, was Sie wollen«, sagte Shaddack verzweifelt.
»Liebe nicht.«
»Was?«
»Keine Liebe oder Haß oder Freude oder ein anderes Gefühl, außer Angst.«
»Aber die brauchen Sie nicht. Daß Sie sie nicht haben, hat Sie frei gemacht.«
»Sie sind kein Dummkopf«, sagte Watkins, »daher nehme ich an, Sie verstehen nicht, weil Sie'psychologisch... verdreht, verdorben sind.«
»Sie dürfen nicht so zu mir sprechen...«
»Ich versuche, Ihnen klarzumachen, warum alle die submenschliche Gestalt der übermenschlichen vorgezogen haben. Der Grund dafür ist, daß es für ein denkendes Wesen von hoher Intelligenz keine Freude geben kann, die frei von Emotionen ist. Wenn man den Menschen ihre Emotionen nimmt, dann nimmt man ihnen ihre Freude, daher suchen sie ein verändertes Dasein, in dem komplexe Emotionen und Freude nicht zusammenhängen - das Leben eines Tieres, das nicht denkt.«
»Unsinn. Sie sind...«
Watkins unterbrach ihn wieder schneidend. »Hören Sie mir zu, um Gottes willen! Soweit ich mich erinnere, hat sogar Moreau seine Geschöpfe angehört.«
Sein Gesicht war jetzt gerötet, nicht mehr blaß. Seine Augen sahen nicht mehr tot aus; sie hatten wieder einen gewissen wilden Ausdruck. Er war nur einen oder zwei Schritte von Shaddack entfernt und schien über ihm aufzuragen, obwohl er der kleinere der beiden war. Er sah ängstlich aus, sehr ängstlich und - und gefährlich.
Er sagte: »Nehmen Sie Sex - ein ganz grundsätzliches menschliches Vergnügen. Damit Sex vollkommen befriedigend wird, muß er von Liebe oder zumindest Zuneigung begleitet sein. Für einen psychologisch gestörten Menschen kann Sex auch gut sein, wenn er mit Haß oder Stolz der Be-herrschung verbunden ist; für einen perversen Menschen können selbst negative Gefühle den Akt angenehm machen. Aber wenn es ohne Gefühle gemacht wird, ist es sinnlos, dumm, nur der Paarungsimpuls eines Tieres, nur die rhythmische Funktion einer Maschine.«
Ein Blitz versengte die Nacht und erleuchtete kurz das Schlafzimmerfenster, gefolgt von einem Donnerschlag, der das ganze Haus zu erschüttern schien. Dieses Himmelslicht war einen Sekundenbruchteil heller als der schwache Schein der Nachttischlampe.
In dem unheimlichen Licht glaubte Shaddack zu sehen, wie etwas mit Loman" Watkins' Gesicht vor sich ging... eine Verlagerung in der Zusammensetzung der Gesichtszüge. Aber als der Blitz vorbei war, sah Watkins wieder ganz wie er selbst aus, daher mußte Shaddack es sich eingebildet haben.
Watkins sprach mit großer Nachdrücklichkeit, mit der Leidenschaft nackter Angst, weiter und sagte: »Aber es ist nicht nur Sex. Dasselbe gilt für andere körperliche Freuden. Zum Beispiel essen. Ja, ich schmecke immer noch ein Stück Schokolade, wenn ich eines esse, aber der Geschmack gibt mir nur einen Bruchteil der Befriedigung, die ich vor der Verwandlung empfand. Ist Ihnen das nicht aufgefallen?«
Shaddack antwortete nicht, und er hoffte, nichts an seinem Verhalten verriete, daß er sich der Verwandlung nicht unterzogen hatte. Er wartete selbstverständlich darauf, bis der Vorgang durch weitere Generationen Neuer Menschen weiter verfeinert worden wäre. Aber er vermutete, daß Watkins nicht gut auf die Offenbarung reagieren würde, daß ihr Schöpfer sich selbst nicht der Segnung unterzogen hatte, die er über sie brachte.
Watkins sagte: »Und wissen Sie, warum die Befriedigung geringer ist? Wenn wir vor der Verwandlung Schokolade aßen, hatte der Geschmack Tausende Assoziationen für uns. Wenn wir Schokolade aßen, erinnerten wir uns unbewußt daran, wie wir zum ersten Mal welche gegessen haben, und wir erinnerten uns im Unterbewußtsein daran, wie der Ge -schmack mit Ferien und allen möglichen Feiern zusammen-hing, und wegen alledem verschaffte uns der Geschmack ein gutes Gefühl. Wenn ich jetzt Schokolade esse, ist es nur ein Geschmack, ein guter Geschmack, aber er verschafft mir kein gutes Gefühl mehr. Er sollte es tun, ich kann mich erinnern, daß dieses >gute Gefühl< einmal dazugehört hat, aber jetzt nicht mehr. Der Geschmack von Schokolade erzeugt keine gefühlsmäßigen Echos mehr. Es ist ein leeres Gefühl, dessen Wirkung mir genommen wurde. Mir wurde alles genommen, außer ckr Angst, und alles ist jetzt grau - seltsam, grau, öd -, als wäre ich halb tot.«
Die linke Seite von Watkins' Kopf blähte sich auf. Der Wangenknochen wurde größer. Das Ohr veränderte seine Form und wurde spitz.
Shaddack wich fassungslos vor ihm zurück.
Watkins folgte ihm, sprach mit erhobener Stimme und etwas nuschelnd, aber deshalb nicht weniger nachdrücklich, nicht mit echtem Zorn, aber mit Angst und einer beängstigenden Spur Wildheit: »Warum, zum Teufel, sollte sich einer von uns zu einer höheren Stufe mit noch weniger Freuden des Körpers und des Herzens verändern wollen? Intellektuelle Freuden reichen nicht aus, Shaddack. Das Leben besteht aus mehr. Ein Leben, das nur intellektuell ist, ist unerträglich.«
Während sich Watkins' Stirn langsam nach hinten krümmte und wegschmolz wie eine Schneemauer in der Sonne, bildeten sich dicke Knochenwülste um die Augen herum.
Shaddack wich in den Kleiderschrank zurück.
Watkins, der immer noch näherkam, sagte: »Herrgott! Begreifen Sie es immer noch nicht? Selbst ein Mann, der ans Krankenbett gefesselt und vom hals abwärts gelähmt ist, hat mehr in seinem Leben als nur intellektuelle Interessen; niemand hat ihm seine Gefühle und Emotionen geraubt; niemand hat ihn zu Angst und reinem Intellekt reduziert. Wir brauchen Freuden, Shaddack, Freuden, Freuden. Ohne sie ist das Leben gräßlich. Freuden machen das Leben lebenswert.«
»Aufhören.«
»Sie haben es uns unmöglich gemacht, eine freudige Freisetzung von Emotionen zu erleben, daher können wir auch die Freuden des Fleisches nicht mehr erleben. Weil wir Lebewesen einer höheren Ordnung sind und den emotionalen Aspekt brauchen, um wahrhafte Freude an körperlicher Lust zu empfinden. Bei Menschen heißt es diesbezüglich alles oder nichts.«
Watkins' Hände, die er an den Seiten zu Fäusten geballt hatte, wurden länger, mit geschwollenen Knöcheln und tabaksbraunen, spitzen Nägeln.
»Sie verändern sich«, sagte Shaddack.
Watkins achtete nicht auf ihn; er begann, undeutlicher zu sprechen, als seine Mundform sich langsam zu verändern anfing: »Daher fallen wir in den wilden veränderten Zustand zurück. Wir flüchten vor unserem Intellekt. Im Mantel der Bestie sind die Freuden des Fleisches unsere einzigen Freuden, die des Fleisches, des Fleisches... aber wenigstens kümmert uns nicht mehr, was wir verloren haben, daher bleibt das Vergnügen intensiv, so intensiv, tief und süß, süß, so süß. Sie haben... haben unser Leben unerträglich gemacht, grau und tot, tot, alles tot, tot... daher müssen wir Verstand und Körper zurückentwickeln... um eine lohnende Existenz zu finden. Wir... wir müssen fliehen... vor den schrecklichen Grenzen dieses eingeengten Lebens... dieses sehr eingeengten Lebens, das Sie uns gegeben haben. Menschen sind keine Maschinen. Menschen... Menschen... Menschen sind keine Maschinen*.«
»Sie werden regressiv. Um Gottes willen, Loman!«
Watkins blieb stehen schien desorientiert. Dann schüttelte er den Kopf, wie um die Verwirrung gleich einem Schleier abzuschütteln. Er hob die Hände, sah sie an und schrie entsetzt auf. Er sah an Shaddack vorbei zum Spiegel über der Kommode, und sein Schrei wurde lauter, schriller.
Plötzlich nahm Shaddack überdeutlich den Gestank von Blut wahr, an den er sich gewöhnt hatte. Watkins mußte ihn noch deutlicher gespürt haben, ja, aber nicht voll Ekel, nein, überhaupt nicht voll Ekel, sondern voll Erregung.
Wieder leuchtete ein Blitz und erschütterte Donner die Nacht, und plötzlich regnete es wahre Sturzbäche, die an die Fenster schlugen und auf das Dach trommelten.
Watkins sah vom Spiegel zu Shaddack und hob eine Hand, als wollte er ihn schlagen, dann drehte er sich herum und stolperte aus dem Zimmer hinaus auf den Flur, weg vom durchdringenden Gestank des Blutes.
Draußen sank er auf die Knie, dann auf die Seite. Er rollte sich zu einer Kugel zusammen, schlotterte heftig, stammelte, wimmerte, fauchte und sagte dazwischen immer wieder: »Nein, nein, nein, nein.«
57
Als er nicht mehr dicht am Abgrund taumelte und sich wieder unter Kontrolle hatte, setzte Loman sich auf und lehnte sich an die Wand. Er war wieder schweißnaß und wurde von Hunger geschüttelt. Die teilweise Verwandlung und die Energie, die aufgeweckt worden war, ihren weiteren Verlauf zu verhindern, hatten ihn erschöpft. Er war erleichtert, fühlte sich aber auch unerfüllt, als wäre ein großer Preis in seiner Reichweite gewesen und gerade weggezogen worden, als er ihn berührt hatte.
Ein hohles, irgendwie pochendes Geräusch umgab ihn. Zuerst dachte er, es wäre ein inneres Geräusch, nur in seinem Kopf, möglicherweise das leise Rauschen von Gehirnzellen, die aufloderten und an der Anstrengung abstarben, den regressiven Drang zu unterdrücken. Dann wurde ihm klar, daß es der Regen war, der auf dem Dach des Bungalows dröhnte.
Als er die Augen wieder aufmachte, war sein Sehvermögen beeinträchtigt. Er klärte sich, und er sah Shaddack an, der auf der anderen Seite des Flurs stand, direkt hinter der offenen Schlafzimmertür. Hager, mit langem Gesicht und so blaß, daß man ihn für einen Albino halten konnte, mit diesen gelblichen Augen und in dem dunklen Übermantel - so sah der Mann wie eine Erscheinung aus, möglicherweise wie der Tod selbst.
Wäre dies der Tod gewesen, wäre Loman möglicherweise einfach aufgestanden und hätte ihn umarmt. Statt dessen sagte er, während er genügend Kraft zum Aufstehen sammelte: »Keine Verwandlungen mehr. Sie müssen die Verwandlungen stoppen.«
Shaddack sagte nichts.
»Sie werden nicht aufhören, nicht?«
Shaddack sah ihn nur an.
»Sie sind verrückt«, sagte Loman. »Sie sind vollkommen verrückt, und doch habe ich keine andere Wahl, als zu tun, was Sie verlangen... oder mich selbst umzubringen.«
»Sprechen Sie nie wieder so mit mir. Niemals. Vergessen Sie nicht, wer ich bin.«
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Loman. Er richtete sich mühsam auf, war aber benommen und schwach. »Sie haben das ohne meine Zustimmung mit mir gemacht. Und wenn die Zeit kommt, da ich dem Wunsch, regressiv zu werden, nicht mehr widerstehen kann, wenn ich in die Wildheit versinke, wenn ich keine Scheißangst mehr vor Ihnen habe, werde ich irgendwie genügend Verstand behalten, mich auch daran zu erinnern, wo Sie sind, und dann werde ich zu Ihnen kommen.«
»Sie drohen mir?« sagte Shaddack, offensichtlich maßlos verblüfft.
»Nein«, sagte Loman. »Drohen ist nicht das richtige Wort.«
»Sollte es auch besser nicht sein. Denn wenn mir etwas zustößt, ist Sonne programmiert, einen Befehl auszusenden, der von den Mikrokugelballungen in Ihnen empfangen wird und... «
»...uns alle auf der Stelle tötet«, sagte Loman für ihn. »Ja, ich weiß. Sie haben es mir gesagt. Wenn Sie gehen, gehen wir alle mit Ihnen, genau wie vor Jahren die Leute in Jones -town, die zusammen mit ihrem Reverend Jim ihren vergifteten Saft getrunken und ins Gras gebissen haben. Sie sind unser Reverend Jim Jones, ein Jim Jones des High-Tech-Zeitalters, Jim Jones mit einem Silikonherzen und dichtgepackten Halbleitern zwischen den Ohren. Nein, ich drohe Ihnen nicht, Reverend Jim, denn >drohen< ist ein zu dramatisches Wort dafür. Ein Mann, der eine Drohung ausstößt, muß starke Emp findungen haben, muß vor Wut glühen. Ich bin ein Neuer Mensch. Ich habe nur Angst. Mehr kann ich nicht haben. Angst. Daher ist es keine Drohung. Nichts dergleichen. Es ist ein Versprechen.«
Shaddack trat durch die Schlafzimmertür in den schmalen Flur. Ein kalter Luftzug schien ihn zu begleiten. Vielleicht bildete es sich Loman nur ein, aber der Flur schien kälter zu sein, nachdem Shaddack ihn betreten hatte.
Sie sahen einander lange an.
Schließlich sagte Shaddack: »Sie werden auch weiterhin tun, was ich sage.«
»Ich habe keine andere Wahl«, stellte Loman fest. »So haben Sie mich gemacht - ohne eine andere Wahl. Ich bin völlig in Ihrer Hand, o Herr, aber nicht Liebe hält mich dort -sondern Angst.«
»Das ist besser«, sagte Shaddack.
Er kehrte Loman den Rücken zu und ging den Flur entlang, ins Wohnzimmer, aus dem Haus und hinaus in die Nacht und den Regen.