5. Kapitel

Als Lioren seinen Bericht beendet hatte, herrschte vollkommene Stille im Saal. Auch wenn allen Anwesenden bereits jede schreckliche Einzelheit der Vorgänge auf Cromsag und Liorens Verantwortlichkeit für diese Katastrophe bekannt war, reichte die bloße Wiederholung aus, um jedes zivilisierte Lebewesen vor Schreck verstummen zu lassen.

„Die Schuld für diesen Vorfall liegt voll und ganz bei mir“, führ Lioren fort. „Falls jemand irgendeinen Zweifel daran hat, bitte ich Thornnastor, den leitenden Diagnostiker der Pathologie, seine Aussage zu machen.“

Gleich darauf stampfte der Tralthaner auf seinen sechs elefantenartigen Beinen schwerfällig nach vorn, um in den Zeugenstand zu treten. Indem er je ein Auge auf den Gerichtspräsidenten sowie auf Lioren, O'Mara und seine schriftlichen Aufzeichnungen richtete, begann er zu sprechen. Nur wenige Minuten später bat Flottenkommandant Dermod mit erhobener Hand um Ruhe.

„Der Zeuge ist nicht dazu verpflichtet, sich mit seiner Aussage derart in medizinische Einzelheiten zu verlieren“, sagte er. „Zweifellos werden das seine Arztkollegen interessant finden, aber für das Gericht ist das nicht mehr verständlich. Bitte drücken Sie sich einfacher aus, Diagnostiker Thornnastor, und erklären Sie, weshalb sich die Cromsaggi so verhalten haben, wie es der Fall gewesen ist.“

Mit den beiden mittleren Füßen stampfte Thornnastor auf — eine Geste, die Ungeduld verriet, deren genaue Bedeutung aber nur einem zweiten Tralthaner klar gewesen wäre — und willigte schließlich mit einem „Also gut, Sir“ ein.

Laut seiner Aussage war aufgrund der vorsichtigeren Methode des Versuchsprogramms am Orbit Hospital und den sich daraus ergebenden langsameren Fortschritten bis zu einer vollständigen Heilung der Hyperraumfünksprüch von der Vespasian noch rechtzeitig empfangen worden, um eine Wiederholung der Katastrophe, die sich auf Cromsag ereignet hatte, zu verhindern. Sämtliche Cromsaggi waren im Hospital verteilt und in Einzelunterkünfte gesperrt worden, und die Abteilung für ET-Psychologie hatte ihre Bemühungen verstärkt, die geradezu fanatische Weigerung der Patienten zu jedweder Form von Zusammenarbeit zu überwinden, weil man sie dazu bringen wollte, endlich Fragen über sich selbst zu beantworten.

Doch erst als man — höchst widerwillig und nicht ohne lange über mögliche psychologische Schäden nachzudenken — den Entschluß faßte, den Patienten die ganze Wahrheit darüber zu sagen, was auf ihrem Heimatplaneten geschehen war, wozu auch der Umstand gehörte, daß es sich bei ihnen um die einzigen erwachsenen Mitglieder ihrer Spezies handelte, die überlebt hatten, begannen sie über sich selbst zu sprechen. Die DCSLs reagierten verständlicherweise sehr zornig, und es gab gegenseitige Schuldzuweisungen, dennoch lieferten die Cromsaggi genügend Informationen, um es zu ermöglichen, eine Theorie aufzustellen, die durch archäologische Beweise gestützt wurde.

Nach der genauesten Schätzung war die Seuche vor knapp tausend Jahren zum erstenmal aufgetreten, als der technologische Stand auf Cromsag bis zum Flug durch die Atmosphäre gediehen war und der philosophische Fortschritt eine Zivilisation hervorgebracht hatte, die keine Kriege mehr führte. Über den Ursprung und die Entwicklung der Seuche war keine andere Auskunft zu erhalten, als daß sie beim Geschlechtsakt durch einen Elternteil übertragen wurde und ihre Auswirkungen anfänglich eher schwach als lebensbedrohlich und lediglich unangenehm waren. Die Mehrheit der Cromsaggi unternahm keine weiten Reisen, und wenn sie erst einmal eine Bindung zum anderen Geschlecht eingegangen waren, nahmen die DCSLs diese sehr ernst und gingen auch nicht fremd. Eine Anzahl der umsichtigeren Cromsaggi schloß sich zwar zu Gemeinschaften zusammen, die seuchenfrei waren, aber der Paarungsvorgang hing eher von emotionalen als von medizinischen Faktoren ab, und so machte die Krankheit schließlich auch diesen von vornherein unverläßlichen Schutz zunichte. Weitere drei Jahrhunderte sollten vergehen, bevor sich die Seuche unkontrolliert über ganz Cromsag ausbreitete und jeder einzelne Angehörige der Bevölkerung, Erwachsene wie Kinder, sich infizierte. Zu dieser Zeit hatte sie an Bösartigkeit zugenommen, und Todesfälle im mittleren Alter waren alltäglich geworden.

Die gemeinsamen Anstrengungen der medizinischen Wissenschaftler waren erfolglos, und am Ende des darauffolgenden Jahrhunderts war die Zivilisation der DCSLs auf einen vortechnologischen Stand zurückgesunken. Nur selten lebte ein Cromsaggi nach der Geschlechtsreife noch länger als zehn Jahre. Als Spezies sahen die Cromsaggi dem Aussterben entgegen, und zwar einem sehr raschen Aussterben, da sich die Seuche negativ auf die Geburtenziffer auswirkte.

„Die vollständige Symptomatologie der Krankheit ist einschließlich der Beeinträchtigung des inneren Sekretionssystems und den daraus resultierenden Auswirkungen auf die Geschwindigkeit des Wachstums und die Entwicklung des Kranken bereits untersucht worden und kann in aller Ausführlichkeit erörtert werden“, erklärte Thornnastor, „doch werde ich sie im Interesse des Gerichts kurz zusammengefaßt und vereinfacht darstellen.

Bei den erwachsenen DCSLs beider Geschlechter hat der für Gesichtsund Tastsinn unangenehme Zustand der Haut zwar einen negativen Einfluß auf den Geschlechtstrieb und somit auf die sinkende Geburtenrate gehabt, aber nur einen geringen“, fuhr er fort. „Denn selbst wenn die Haut beider Partner makellos und ästhetisch ansprechend wäre, ist die Leistung des inneren Sekretionssystems so sehr eingeschränkt, daß der Geschlechtsakt und die Empfängnis ohne eine vorherige, abnorm starke emotionale Stimulation unmöglich ist.“

Thornnastor machte eine Pause. Zwar verfügte er nicht über Gesichtszüge, die seine Mimik zu ändern vermochten, aber es war, als könne er wegen der Bilder, die ihm in seiner gewaltigen, unbeweglichen Kuppel von einem Kopf vor dem geistigen Auge schwebten, einen Moment lang nicht weitersprechen. Dann fuhr er fort: „Im Bemühen, diese Schwierigkeit mit medizinischen Mitteln zu umgehen, haben sich die DCSLs Substanzen verabreicht, die aus natürlich vorkommenden Pflanzen gewonnen wurden und zur Sinnessteigerung oder zu Halluzinationen geführt haben. Doch dieses Verfahren erwies sich als unwirksam und wurde wegen der Probleme aufgegeben, die mit einer unheilbaren Sucht, mit Todesfällen wegen Überdosen und mit stark mißgebildeten und nicht lebensfähigen Kindern entstanden. Die Lösung, die die Cromsaggi schließlich gefunden haben, liegt im außermedizinischen Bereich und hat für sie bedeutet, im Sozialverhalten in die finstersten Zeiten der cromsaggischen Geschichte zurückzukehren. Die Cromsaggi sind in den Krieg gezogen.“ Die Gründe für den Krieg bestanden nicht darin, Territorien auszudehnen oder Vorteile für den Handel zu erzielen. Der Krieg wurde auch nicht von weitem aus befestigten Stellungen heraus oder von Soldaten geführt, die gemeinsam vorgingen oder durch gepanzerte Maschinen oder Kriegsgeräte geschützt waren. Bei diesem Krieg ging es nicht um Leben und Tod, denn beide Seiten hatten keineswegs die Absicht, einen Gegner zu töten, der sehr gut ein Familienangehöriger oder ein Freund sein konnte. Genaugenommen gab es gar keine Seiten, da nur Zweikämpfe zwischen Paaren von unbewaffneten Cromsaggi ausgetragen wurden. Es handelte sich um einen Krieg, dessen einziger Zweck es war, ein Höchstmaß an Angst, an Schmerzen und Gefahr herbeizuführen, aber — wenn möglich — nicht den Tod der Kämpfer. Von einem besiegten oder schwerverwundeten Gegner ging keine Bedrohung oder Gefahr aus, und die Besiegten wurden, obwohl die Opponenten noch Augenblicke zuvor verzweifelt versucht hatten, sich gegenseitig umzubringen, dort zurückgelassen, wo sie lagen und hofften, sich von den Wunden zu erholen, um wieder kämpfen zu können und ein anderes Mal einem Gegner Angst einzujagen.

Für die Cromsaggi war das Leben etwas Großartiges und Kostbares, und diese Wertschätzung stieg noch mit jeder zusammengeschrumpften Generation, die verging; ansonsten hätten sich die DCSLs nicht so angestrengt darum bemüht, ihre Spezies am Leben zu erhalten.

Denn nur dadurch, daß die Cromsaggi ihren Sinnesapparat mit Schmerzen übermäßig belasteten, die Muskulatur stark beanspruchten und sich dem größtmöglichen Maß an emotionaler Anspannung aussetzten,

konnte das innere Sekretionssystem, das durch die Seuche fast gänzlich lahmgelegt worden war, wieder zu einer annähernd normalen Tätigkeit angeregt werden. Unabhängig von den Verletzungen, die der betreffende DCSL im Kampf davongetragen hatte, konnte dieser Zustand so lange beibehalten werden, wie es für eine erfolgreiche Paarung und Zeugung nötig war.

Doch trotz dieser furchtbaren Lösung, die die DCSLs gefunden hatten, nahm die Zahl der an der Seuche gestorbenen Erwachsenen weiterhin zu und die Geburtenrate stetig ab. Die Bevölkerungszahl wurde genauso wie das bewohnte Gebiet immer kleiner, da sämtliche Cromsaggi auf einen Kontinent zogen, um das wenige zu erhalten, das von ihrer Zivilisation und ihren Errungenschaften übriggeblieben war, und um in bequemer Entfernung zum Kämpfen zueinander zu sein. Archäologische Spuren deuten darauf hin, daß die Cromsaggi anfangs nicht kriegerisch gewesen waren, doch die Notwendigkeit, zu kämpfen und sich oftmals auch gegenseitig umzubringen, damit die Spezies insgesamt überleben konnte, hatte sie dazu gemacht; und zu dem Zeitpunkt, als die Tenelphi sie entdeckt hatte, war der Brauch des Zweikampfs zwischen allen erwachsenen DCSLs der Spezies schon seit vielen Jahrhunderten in Fleisch und Blut übergegangen.

„Obwohl die Entscheidung aus dem verständlichsten aller medizinischen Gründe heraus, nämlich viele Leben zu retten, getroffen worden ist, waren die Folgen der Einleitung einer vollständigen und kurzzeitigen Heilbehandlung gegen die Seuche ohne vorherige Kenntnis dieser geistig-seelischen Ausrichtung nicht vorauszusehen“, fuhr Thornnastor fort. „Möglicherweise — und darin stimmt Chefpsychologe O'Mara mit mir überein — haben die Cromsaggi, die behandelt worden sind, gemerkt, daß sie sich besser und kräftiger gefühlt haben als je zuvor, und unterbewußt muß ihnen klar geworden sein, daß für sie keine Notwendigkeit mehr bestand, zu kämpfen und sich gegenseitig in größtmögliche Gefahr zu bringen, um zu sexueller Erregung zu kommen. Aber seit vielen Jahrhunderten war ihnen von Kindesbeinen an beigebracht worden, der Paarung mit einem Angehörigen des anderen Geschlechts gehe ein Zweikampf mit einem gleichgeschlechtlichen Cromsaggi voraus, und das stellt einen Grad der geistig-seelischen Ausrichtung dar, der der Macht eines evolutionären Gebots unterliegt. Je mehr sich daher ihr Gesundheitszustand verbesserte, desto stärker wurde der Drang, zu kämpfen und sich fortzupflanzen. Die vielen jungen DCSLs, bei denen die Auswirkungen der Seuche die körperliche Entwicklung gehemmt hatten und die plötzlich geschlechtsreif geworden waren, haben denselben Zwang zu kämpfen verspürt.

Doch die eigentliche Tragödie hat darin bestanden, daß die DCSLs einzeln wie auch als Gruppe vollständig geheilt waren und über mehr Kraft verfügten, als ein Cromsaggi seit dem Ausbruch der Seuche je zuvor besessen hatte“, setzte der Tralthaner seine Ausführungen fort. „Vorher waren sie schwach und krank gewesen und hatten nur einen Bruchteil der körperlichen Leistung vollbringen können, zu der sie jetzt in der Lage waren. Ihre neugewonnene Kraft hat die Angst vor Schmerzen und vor dem Tod verringert und es ihnen zugleich erschwert, das Ausmaß der dem Gegner zugefügten oder der von ihm erhaltenen Verletzungen im voraus abzuschätzen. Da der Kontrahent auf einmal genauso stark und somit ebenbürtig war, haben sich als Folge davon sämtliche Erwachsenen auf Cromsag gegenseitig umgebracht, und nur die Säuglinge und Kinder sind am Leben geblieben.

Das sind in aller Kürze und Einfachheit die Hintergründe des Vorfalls auf Cromsag“, schloß Thornnastor.

Das Schweigen, das auf Thornnastors Bericht folgte, wurde immer länger und tiefer, bis das schwache Blubbern, das das tiefkühlende Lebenserhaltungssystem eines SNLU unter den Zuhörern von sich gab, in der Stille laut erschien. Es war wie das auf Tarla übliche Schweigen zum Gedenken an einen verstorbenen Freund, nur daß es sich hier um die gesamte Bevölkerung eines Planeten handelte, die umgekommen war, und es hatte den Anschein, als ob keiner der Anwesenden diesen feierlichen Moment stören wollte.

„Bei allem Respekt gegenüber dem Gericht bitte ich, das Verfahren ohne weitere Diskussion und Zeitvergeudung hier und jetzt einzustellen“, ergriff Lioren plötzlich das Wort. „Ich bin des fahrlässigen Völkermords angeklagt. Es steht außer Frage und gibt keinen Zweifel, daß ich schuldig bin und die Schuld voll und ganz bei mir liegt. Deshalb fordere ich für mich die Todesstrafe.“

Bevor Lioren zu Ende gesprochen hatte, war O'Mara aufgesprungen. „Die Verteidigung möchte den Angeklagten gern in einem sehr wichtigen Punkt korrigieren“, sagte der Chefpsychologe. „Oberstabsarzt Lioren hat keinen Völkermord begangen. Als sich der Vorfall ereignete, hat er unter den gegebenen Umständen schnell und richtig reagiert, indem er das Hospital gewarnt und die Rettung und Betreuung der gerade zu Waisen gewordenen cromsaggischen Kinder organisiert hat, und das, obwohl viele seiner eigenen Leute von den kriegerischen Auseinandersetzungen dermaßen überrascht worden waren, daß sie nicht rechtzeitig das Betäubungsgas einsetzen konnten und bei ihren Versuchen, die Kämpfe zu beenden, schwer verwundet worden sind. In dieser Zeit hat sich der Oberstabsarzt beispielhaft verhalten, und auch wenn die Zeugen hier nicht zugegen sind, ihre Aussagen sind dem Zivilgericht auf Tarla vorgelegt und von ihm zugelassen worden und sind in den Akten.“

„Diese Aussagen werden ja gar nicht bestritten“, fiel ihm Lioren ungeduldig ins Wort. „Sie sind für diesen Prozeß aber nicht von Belang.“

„Aufgrund dieser rechtzeitigen Warnung und der sich daran anschließenden Maßnahmen sind die im Hospital behandelten Cromsaggi voneinander getrennt worden, bevor sie sich gegenseitig angreifen konnten“, fuhr O'Mara fort, ohne auf Liorens Einwand einzugehen, „und die jungen DCSLs wurden sowohl hier als auch auf Cromsag gerettet. Insgesamt siebenunddreißig Erwachsene und zweihundertdreiundachtzig Kinder sind gesund und munter, wobei der Anteil der beiden Geschlechter in etwa ausgeglichen ist. Ich habe keinen Zweifel, daß die Cromsaggi nach einer langen Zeit der Umerziehung, Wiederansiedlung und fachlichen Hilfe bei der Überwindung der geistig-seelischen Ausrichtung wieder ganz Cromsag bevölkern können und zu einem friedlichen Zusammenleben zurückkehren werden.

Daß der Angeklagte in dieser Angelegenheit eine geradezu erdrückende Schuld empfindet, ist verständlich“, fuhr der Psychologe mit leiserer Stimme fort. „Wäre das anders, hätte er nicht dieses Militärgericht zusammentreten lassen. Aber möglicherweise hat ihn die schwere Schuld, die er an dem Vorfall auf Cromsag zu haben glaubt, zusammen mit seinem dringenden Bedürfnis, sich von dieser Schuld zu befreien, sowie dem ungeduldigen Verlangen, für das angebliche Verbrechen bestraft zu werden, dazu veranlaßt, seinen Fall derart übertrieben darzustellen. Als Psychologe kann ich seine Gefühle und die Bemühungen, der Belastung durch die Schuld zu entkommen, verstehen und nachempfinden. Und ich bin mir sicher, ich brauche das Gericht nicht daran zu erinnern, daß von den fünfundsechzig intelligenten Spezies, aus denen die Föderation besteht, keine einzige an einem Gefangenen eine gerichtlich angeordnete Exekution oder körperliche Bestrafung vornimmt.“

„Selbstverständlich haben Sie diesbezüglich recht, Major O'Mara“, stellte der Flottenkommandant fest. „Dieser Hinweis ist allerdings überflüssig und reine Zeitverschwendung. Fassen Sie sich also kurz.“

O'Maras Gesichtsfarbe wurde etwas dunkler, und er sagte: „Die Cromsaggi sind nicht ausgestorben und werden auch weiterhin als Spezies überleben. Oberstabsarzt Lioren ist also allenfalls der Übertreibung schuldig, aber nicht des Völkermords.“

Ganz plötzlich wurde Lioren von Wut, Verzweiflung und einer furchtbaren Angst gepackt. Er heftete ein Auge auf O'Mara, richtete die anderen drei jeweils auf einen Offizier des Gerichts und zwang sich innerlich zur Ruhe und Klarheit, als er sagte: „Die Übertreibung — diese kleine Ungenauigkeit, die nur eine furchtbare Wahrheit vereinfachen sollte — spielt keine Rolle, weil die Ungeheuerlichkeit meiner Schuld gar nicht mehr zu ermessen ist. Und ich brauche Major O'Mara wohl nicht an die Strafe zu erinnern, die jedes Mitglied des Ärztestabs erhält, dessen Unachtsamkeit oder mangelnde Beobachtung zur Verschlechterung des Gesundheitszustands oder gar zum Tod eines Patienten führt, und die zwar nicht darin besteht, den Betreffenden zu exekutieren, aber immerhin darin, seine berufliche Zukunft zu zerstören.

Ich bin der Fahrlässigkeit schuldig“, fuhr Lioren fort, wobei er sich wünschte, der Translator könnte die Verzweiflung in seiner Stimme wiedergeben, „und der Versuch des Verteidigers, das, was ich getan habe, herunterzuspielen und zu entschuldigen, ist geradezu lächerlich. Daß andere ebenfalls von dem Verhalten der Cromsaggi überrascht worden sind, einschließlich des Hospitalpersonals, das sich mit den Versuchen mit dem Medikament beschäftigt hat, ist keine Entschuldigung. Ich hätte mich nicht überraschen lassen dürfen, denn mir haben sämtliche Informationen zur Verfügung gestanden, und ich wäre im Besitz aller Teile des Puzzles gewesen, wenn ich die Zeichen richtig gedeutet hätte. Ich habe sie jedoch nicht einmal wahrgenommen, weil ich vor Stolz und Ehrgeiz blind gewesen bin; ein Teil von mir hat nämlich geglaubt, durch eine schnelle und vollständige Heilung würde sich mein Ruf als Arzt verbessern. Ich habe die Zeichen nicht wahrgenommen, weil ich mich fahrlässig und unachtsam verhalten habe und in geistiger Beziehung so verwöhnt war, daß ich die Gespräche der Patienten über die sexuellen Praktiken der Cromsaggi nicht hören wollte, die eine deutliche Vorwarnung vor dem gewesen wären, was schließlich passiert ist, und weil ich mich über Vorgesetzte hinweggesetzt habe, die zur Vorsicht geraten haben.“

„Ehrgeiz, Stolz und Ungehaltenheit sind keine Verbrechen“, warf O'Mara ein, wobei er rasch aufstand. „Und zweifellos ist es der Grad an beruflicher Fahrlässigkeit, den, falls man von einem solchen Delikt überhaupt sprechen kann, das Gericht bestrafen muß, und nicht die zugegebenermaßen schrecklichen und weitreichenden Folgen dessen, was bestenfalls eine geringfügige Übertretung ist.“

„Das Gericht läßt sich vom Verteidiger weder Vorschriften machen, noch wird es eine weitere derartige Unterbrechung des Schlußplädoyers der Anklage dulden“, sagte Flottenkommandant Dermod. „Setzen Sie sich, Major. Oberstabsarzt Lioren, Sie können fortfahren.“

Innerlich war Lioren derart von Schuldgefühlen, Angst und Verzweiflung erfüllt, daß ihm die wohldurchdachten Beweisgründe, die er sich zurechtgelegt hatte, vollkommen entfallen waren. Deshalb konnte er einfach nur darüber sprechen, wie er sich fühlte, und hoffen, daß das ausreichte.

„Ich habe nur noch wenig hinzuzufügen“, sagte er. „Ich bin eines furchtbaren Unrechts schuldig. Ich habe den Tod vieler tausend Lebewesen verursacht und verdiene es nicht zu leben. Ich bitte das Gericht um Gnade und um das Todesurteil.“

Abermals sprang O'Mara auf „Mir ist klar, daß die Anklage das letzte Wort hat. Aber bei allem Respekt, Sir, ich habe dem Gericht zu diesem Fall eine ausführliche Eingabe gemacht und bisher noch keine Gelegenheit gehabt, diese zur Diskussion zu stellen.“

„Ihre Eingabe ist entgegengenommen und angemessen berücksichtigt worden“, entgegnete der Flottenkommandant. „Eine Kopie wurde dem Angeklagten zur Verfügung gestellt, der es aber aus naheliegenden Gründen vorgezogen hat, sie nicht einzubringen. Darf ich den Verteidiger außerdem daran erinnern, daß noch immer ich es bin, der das letzte Wort haben wird? Setzen Sie sich bitte, Major O'Mara. Das Gericht wird sich jetzt beraten, bevor es zur Urteilsverkündung schreitet.“

Die drei Offiziere des Gerichts wurden von der neblig grauen Halbkugel eines schalldichten Felds eingehüllt, und es schien, als seien auch alle anderen Anwesenden in dieselbe Schweigezone eingeschlossen worden, als sie ihre Augen auf Lioren richteten. Obwohl sich Prilicla unter den ganz hinten sitzenden Zuhörern für seine empathischen Fähigkeiten in äußerster Entfernung befand, konnte Lioren den Cinrussker zittern sehen. Doch dies war bestimmt kein geeigneter Augenblick, in dem der Oberstabsarzt seine emotionale Ausstrahlung kontrollieren konnte. Als er sich an den Inhalt von O'Maras Eingabe erinnerte, spürte er, wie er innerlich von den furchtbarsten Extremen von Angst und Verzweiflung überwältigt wurde, und zum erstenmal in seinem Leben packte ihn eine solch gewaltige Wut, daß er am liebsten ein anderes intelligentes Lebewesen umgebracht hätte.

O'Mara erkannte, daß der Oberstabsarzt mit einem der Augen in seine Richtung blickte, und bewegte leicht den Kopf zur Seite. Wie Lioren wußte, war O'Mara kein Empath, aber als hochqualifizierter Psychologe mußte er auch so wissen, was in Lioren vorging.

Plötzlich löste sich das schalldichte Feld von oben nach unten auf, und der Gerichtspräsident beugte sich in seinem Stuhl vor.

„Vor der Urteilsverkündung wünscht das Gericht von dem Verteidiger Aufklärung und Bestätigung darüber, wie sich der Angeklagte aller Voraussicht nach verhalten wird, wenn er nicht mit dem Tode, sondern mit Freiheitsentzug bestraft werden würde“, sagte der Flottenkommandant und blickte O'Mara dabei fragend an. „Ist es angesichts des momentanen Geisteszustands von Oberstabsarzt Lioren nicht wahrscheinlich, daß beide Urteile rasch zum Tod des Angeklagten führen könnten?“

Erneut erhob sich O'Mara. „Da ich den Angeklagten während seiner Ausbildung am Orbit Hospital beobachtet und auch sein Verhalten nach dem Vorfall auf Cromsag untersucht habe, würde das nach meiner Ansicht als Fachmann nicht der Fall sein“, antwortete er, wobei er weniger den Flottenkommandanten, sondern vielmehr Lioren ansah. „Der Oberstabsarzt ist ein von ethischen und moralisch einwandfreien Grundsätzen geleitetes Wesen und empfände es als unehrenhaft, sich durch Selbstmord einer Strafe zu entziehen, die er für sein Verbrechen als gerecht ansehen würde, auch wenn Freiheitsentzug hinsichtlich der anhaltenden psychischen Anspannung des Angeklagten die härteste Strafe wäre, die verhängt werden könnte. Allerdings ziehe ich, wie sich das Gericht aus meiner Eingabe erinnern wird, der Bezeichnung ̃̄„Freiheitsentzug“ den Begriff ̃̄„psychische Heilbehandlung“ vor. Ich wiederhole nochmals, der Angeklagte würde sich nicht das Leben nehmen, wäre jedoch, wie Sie sich bestimmt schon gedacht haben werden, äußerst dankbar, wenn ihm das Gericht diese Arbeit abnähme.“

„Danke, Major“, sagte der Flottenkommandant. Dann wandte er sich Lioren zu und fuhr fort: „Oberstabsarzt Lioren, dieses Militärgericht bestätigt die früheren Urteilssprüche der medizinischen und der Zivilgerichte auf Tarla, Ihrem Heimatplaneten, und erklärt Sie eines verzeihlichen Irrtums bei der Beobachtung und Einschätzung der Lage für schuldig, der bedauerlicherweise zu einer schweren Katastrophe geführt hat. Obwohl es unter diesen Umständen gnädiger wäre, werden wir nicht von der seit dreißig Jahren bestehenden gerichtlichen Praxis in der Föderation abweichen oder, wenn sich die Therapie als erfolgreich erweisen sollte, ein möglicherweise nützliches Leben vergeuden, indem wir über Sie die Todesstrafe verhängen, die Sie sich so offenkundig wünschen. Statt dessen sprechen wir über Sie ein heilungsförderndes Urteil, nach dem Ihnen für zwei Jahre Ihr Rang im Monitorkorps und Ihr medizinischer Dienstgrad aberkannt werden und Sie dieses Hospital nicht verlassen dürfen, das aber als Gebäude so groß ist, daß Ihnen dieser Freiheitsentzug nicht lästig werden wird. Aus naheliegenden Gründen wird Ihnen zudem verboten, die Station zu betreten, auf der die Cromsaggi liegen. Sie werden unter Aufsicht und Befehl des Chefpsychologen O'Mara gestellt. Der Major rechnet damit, Sie in dieser Zeit psychologisch und emotional wieder ins Gleichgewicht zu bringen, was Sie dann in den Stand setzen wird, eine neue Laufbahn zu beginnen.

Das Gericht spricht Ihnen als ehemaligem Oberstabsarzt sein tiefstes Mitgefühl aus und wünscht Ihnen für die Zukunft alles Gute.“

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