7. Kapitel

Weder in all den Jahren als Student auf Tarla noch während der gesamten Ausbildung für Fortgeschrittene am Orbit Hospital hatte Lioren derart verworrene und ungenaue Anweisungen erhalten.

Eigentlich hätte Major O'Mara, der als einer der scharfsinnigsten und analytischsten Köpfe im Hospital galt, keinesfalls imstande sein dürfen, solche Anweisungen zu erteilen. Nicht zum erstenmal fragte sich Lioren, ob der Chefpsychologe, so sehr dieser auch unter der großen Verantwortung leiden mochte, die geistige Gesundheit von nahezu zehntausend Mitgliedern des medizinischen und des Wartungspersonals aus über sechzig verschiedenen Spezies aufrechtzuerhalten, allmählich nicht selbst von einer der schleichenden nichtkörperlichen Krankheiten befallen worden sein könnte, die er eigentlich behandeln sollte. Oder lag es einfach daran, daß Lioren als neuestes und somit als das am wenigsten informierte Mitglied der Abteilung die Anweisungen des Chefpsychologen mißverstanden hatte?

„Darf ich die Anweisungen noch einmal laut wiederholen, um sie mir besser klarzumachen und die Möglichkeit von Mißverständnissen zu verringern?“ erkundigte sich Lioren vorsichtig.

„Wenn Sie das für notwendig halten, ja“, antwortete der Chefpsychologe. Aus seiner zunehmenden Erfahrung, den Klang der Stimme und den Ausdruck auf den schlaffen gelbrosa Gesichtern der Terrestrier zu deuten, wußte Lioren, daß O'Mara allmählich die Geduld verlor.

Ohne den in der Antwort mitschwingenden Unterton zu beachten, fuhr Lioren fort: „Ich soll also Chefarzt Seldal so lange und so oft beobachten, wie es dessen Dienstplan und meine anderweitigen Arbeiten zulassen, und zwar ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Dabei habe ich auf Anzeichen für unnormales oder atypisches Verhalten zu achten, obwohl Sie genau wissen, daß einem tarlanischen DRLH wie mir das normale und typische Verhalten eines Nallajimer der physiologischen Klassifikation MSVK genauso seltsam vorkommen würde. Das alles soll ich tun, ohne vorher einen Hinweis zu erhalten, worauf ich zu achten habe oder ob es zunächst einmal überhaupt etwas gibt, auf das ich achten müßte. Falls ich ein solches Verhalten feststellen kann, muß ich versuchen, heimlich den Grund dafür herauszufinden, und mein anschließender Bericht sollte Vorschläge für eine Heilbehandlung enthalten, nicht wahr?“

O'Mara sah ihn schweigend an.

„Aber was ist, wenn ich nichts Unnormales entdecken kann?“ fragte er noch, als feststand, daß der Major nicht sprechen würde.

„Auch negative Hinweise können wertvoll sein“, antwortete O'Mara geheimnisvoll.

„Ist es Ihre Absicht, daß ich mich an die Arbeit mache, ohne auch nur das Geringste von Seldal zu wissen, oder darf ich mir vorher seine psychologische Akte ansehen?“ hakte Lioren nach, wobei er in seiner Wut einen Moment lang die Achtung vergaß, die jemandem gebührte, der dem Namen nach ein Vorgesetzter war.

„Sie können die Akte nach Herzenslust durchsehen“, antwortete O'Mara. „Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, Oberschwester Kursenneth wartet draußen bereits.“

„Ich habe noch eine Bemerkung und eine Frage“, sagte Lioren schnell. „Das Ganze scheint mir eine besonders ungenaue Methode zu sein, einen Auszubildenden über seinen ersten Fall zu informieren. Ich müßte doch zumindest einen Hinweis bekommen, was mit Seldal nicht stimmt. Ich meine, wodurch hat der Chefarzt zuerst Ihr Mißtrauen erregt?“

O'Mara atmete geräuschvoll aus. „Ich habe Ihnen den Fall Seldal übertragen und Ihnen nicht gesagt, was zu tun ist, weil ich ganz einfach selbst nicht weiß, was ich damit anfangen soll.“

Lioren stieß einen überraschten Laut aus, der nicht übersetzt wurde. „Ist es möglich, daß sich der erfahrenste Psychologe für fremde Spezies im Hospital einem Problem gegenüber sieht, das er nicht lösen kann?“

„Eine andere Möglichkeit, die Sie vielleicht in Betracht ziehen sollten, ist die, daß dieses Problem gar nicht existiert“, antwortete O'Mara, wobei er sich im Schreibtischsessel zurücklehnte. „Oder daß es sich um einen so unbedeutenden und unwichtigen Fall handelt, daß kein ernsthafter Schaden entstehen kann, wenn er von einem Auszubildenden verpatzt werden sollte. Möglich ist auch, daß mich dringendere Probleme in Anspruch nehmen und dies der Grund ist, weshalb Sie diesen unbedeutenden und gar nicht dringlichen Fall bekommen haben.

Zum erstenmal dürfen Sie Einsicht in die psychologische Akte eines Chefarztes nehmen“, fuhr er fort, bevor Lioren etwas sagen konnte. „Es könnte auch sein, daß Sie als Auszubildender selbst herausfinden sollen, was mein Mißtrauen erregt hat, und Sie aufgrund der Erkenntnisse aus Ihrer anschließenden Untersuchung zu entscheiden haben, ob es berechtigt war oder nicht.“

Peinlich berührt ließ Lioren die vier mittleren Gliedmaßen kraftlos herabhängen, so daß die Fingerspitzen den Boden berührten, und signalisierte damit, daß er der gerechten Kritik seines Vorgesetzten nichts entgegenzusetzen hatte. O'Mara mußte die Bedeutung dieser Geste verstehen, zog es jedoch vor, sie nicht zu beachten, und fuhr fort: „Der wichtigste Teil der Arbeit in dieser Abteilung besteht darin, ständig nach unnormalem und atypischem Verhalten bei jedem einzelnen Personalmitglied — unabhängig von der Spezies oder den Umständen — Ausschau zu halten und zu guter Letzt ein Gespür dafür zu entwickeln, den Grund dieser Probleme herauszufinden, bevor sie dem Betreffenden selbst, anderen Mitarbeitern oder den Patienten ernsthaft schaden können. Beruhen Ihre Einwände darauf, daß Sie eine Abneigung gegen lange, ausführliche Gespräche haben und lieber den notgedrungen kurzen Small talk wie in der Kantine führen, weil sonst Ihre früheren Vergehen zur Sprache kommen könnten und Ihnen das emotional schwer zu schaffen machen würde?“

„Nein“, antwortete Lioren mit Entschiedenheit. „Jedes derartige Unbehagen wäre nichts im Vergleich zu der Strafe, die ich verdiene.“

O'Mara schüttelte den Kopf. „Das ist keine befriedigende Antwort,

Lioren, aber vorläufig werde ich sie erst einmal akzeptieren. Schicken Sie Kursenneth herein, wenn Sie rausgehen.“

In wellenförmigen Bewegungen begab sich die kelgianische Oberschwester rasch in O'Maras Büro, wobei sich ihr Fell ungeduldig kräuselte, während Lioren die Tür hinter sich schloß und sich mit solcher Wucht auf den Platz fallen ließ, an dem er arbeitete, daß das Sitzgestell vernehmlich protestierte. Der einzige weitere Anwesende im Vorzimmer war Braithwaite, der sich voll und ganz auf den vor ihm stehenden Monitor konzentrierte. Wütend murmelnd beugte sich Lioren über die Tastatur, um sein persönliches Paßwort und den Bevollmächtigungscode der Abteilung einzugeben, und bat den Computer um das vorhandene Material über Seldal, wobei er sich nicht für die akustische Übersetzung, sondern lieber für die in tarlanischer Schrift dargestellte Form entschied.

„Sprechen Sie mit mir oder mit sich selbst?“ fragte Braithwaite, der plötzlich von seiner Arbeit aufblickte und seine Zähne entblößte. „Entweder sprechen Sie ein bißchen lauter, so daß ich Sie verstehen kann, oder leiser, damit ich Sie nicht mehr höre.“

„Ich habe mit niemandem gesprochen“, antwortete Lioren. „Ich denke nur laut über O'Mara und die übertriebenen Erwartungen nach, die er in mich setzt. Irrtümlicherweise hatte ich angenommen, mit gedämpfter Stimme zu sprechen. Entschuldigen Sie, daß ich Sie von der Arbeit abgelenkt habe.“

Braithwaite lehnte sich im Stuhl zurück, blickte auf die engbedruckten Blätter, die sich auf Liorens Schreibtisch häuften, und sagte: „Aha, also hat er Ihnen den Fall Seldal übertragen. Aber dann gibt es doch gar keinen Grund, sich aufzuregen, denn niemand erwartet von Ihnen, daß Sie über Nacht zu einem Ergebnis gelangen, falls Sie in diesem Fall überhaupt weiterkommen können. Und sollten Sie das Herumstöbern in den nicht besonders dunklen Tiefen der Seele eines nallajimischen Chefarztes irgendwann satt haben, dann liegt der neueste Stapel Berichte über die Fortschritte der Auszubildenden von Cresk-Sar bereits auf Ihrem Tisch. Mir wäre es lieb, wenn Sie die entsprechenden Personalakten noch vor Ende der nächsten Schicht auf den neuesten Stand bringen könnten.“

„Selbstverständlich“, willigte Lioren ein. Daraufhin entblößte Braithwaite erneut die Zähne und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

In Liorens erstem Jahr am Orbit Hospital war Cresk-Sar sein Ausbilder gewesen, und der Nidianer war noch immer jemand, den man unmöglich zufriedenstellen konnte. Als Lioren den für Cresk-Sar typisch pessimistischen Bericht über die offensichtlich mangelnden Fortschritte der gerade neu aufgenommenen Lernschwestern und Krankenpflegeschüler las, fragte sich Lioren kurz, ob er die todlangweiligen, aber wichtigen Unterlagen des Chefausbilders oder die interessantere, aber wahrscheinlich weniger ergiebige psychologische Akte Seldals vorrangig behandeln sollte. Pflichtbewußt, wie es sich für die meisten untergeordneten Mitarbeiter der Abteilung gehörte, entschied er sich für Cresk-Sars Bericht.

Wenige Augenblicke später, als er die Beurteilung der medizinischen Fähigkeiten und die Beförderungsmöglichkeiten einer kelgianischen Lernschwester las, deren Name ihm vertraut war, änderte er plötzlich seine Meinung und ließ sich die Seldal-Akte ausdrucken. Er fing an, sie so genau zu lesen, daß er kaum bemerkte, wie Kursenneth O'Maras Büro verließ und ein tralthanischer Assistenzarzt eintraf, der auf seinen sechs massiven Beinen schwerfällig ins Vorzimmer stampfte. Doch der Lärm hatte Braithwaite veranlaßt aufzusehen, und Lioren gab einen höflichen, nicht übersetzbaren Laut von sich, um die Aufmerksamkeit des Lieutenants auf sich zu lenken.

„Diese Akte ist zwar recht interessant, aber das einzige, was ich davon wirklich verstehe, sind die Daten über die Physiologie und die Umweltbedingungen der MSVKs“, sagte er zu Braithwaite. „Über das Verhalten der Nallajimer untereinander im allgemeinen und von Seldal im besonderen weiß ich nicht genug, um irgend etwas Unnormales zu entdecken. Es wäre besser, wenn ich Seldal eine Zeitlang direkt beobachten und mit ihm sprechen könnte, falls dies möglich ist, ohne seinen Verdacht zu erregen, damit ich ein klareres Bild von dem Wesen bekomme, das ich überprüfe.“

„Es ist Ihr Fall“, meinte Braithwaite.

„Gut, dann werde ich genau das tun“, sagte Lioren, indem er Cresk-Sars Unterlagen und die über Seldal vor dem Zugriff Unbefugter sicherte und sich anschickte, das Vorzimmer zu verlassen.

„Und ich bin übrigens auch der Meinung, daß jede Tätigkeit angenehmer ist, als sich mühsam durch Cresk-Sars scheußliche und langweilige Zwischenberichte kämpfen zu müssen…“, stellte der Lieutenant fest und kehrte an seine Arbeit zurück.

Ein kurzer Blick in den Dienstplan des höheren Personals verriet Lioren, daß Seldal im melfanischen OP auf der achtundsiebzigsten Ebene zu finden sein würde. Wenn er die Verkehrsdichte auf den Korridoren, die er zu durchqueren hatte, und eine weitere Verzögerung für das Anlegen eines Schutzanzugs einkalkulierte, bevor er die Abkürzung durch die Ebene der chloratmenden PVSJs von Illensa nahm, müßte er es schaffen, den Chefarzt anzutreffen, bevor dieser zum Mittagessen ging.

Bis jetzt hatte Lioren noch keine klare Vorstellung, was er sagen oder tun sollte, wenn er schließlich seinem ersten nichtchirurgischen Fall gegenüberstehen würde, und auf dem Weg zum melfanischen OP bot sich keine Gelegenheit, an etwas anderes zu denken, als peinliche Situationen oder Verletzungen zu vermeiden, die sich ergeben hätten, wenn er über andere Personalmitglieder gestolpert oder heftig mit ihnen zusammengestoßen wäre.

Theoretisch hatten diejenigen Vorrang, die den höheren medizinischen Dienstgrad besaßen, doch nicht zum erstenmal sah Lioren, wie ein Chefarzt, der zu einer der kleineren Lebensformen gehörte, ein hastiges Ausweichmanöver durchführte, als eine sechsbeinige Oberschwester der physiologischen Klassifikation FROB von Hudlar auf ihn zustürmte, die über sein achtfaches Körpergewicht verfügte und offenbar eine dringende Arbeit zu erledigen hatte. Auch wenn es in solchen Fällen nicht zu einem heftigen körperlichen Zusammenstoß, sondern nur zu einer kurzen verbalen Attacke kam, war es doch beruhigend zu sehen, daß der Überlebenstrieb dem Dienstgrad vorgezogen wurde.

Für Lioren gab es jedoch kein Problem. Seine Armbinde des Auszubildenden zeigte an, daß er überhaupt keinen Dienstgrad innehatte und jedem aus dem Weg gehen mußte.

Als er sich an der Kreuzung zweier Korridore blitzschnell zwischen zwei krabbenähnlichen ELNTs von Melf IV und einem chloratmenden PVSJ von Illensa hindurchzwängte, gaben ihm die drei zwitschernd und zischend ihr Mißfallen zu verstehen; dann sprang er beiseite, als ein tralthanischer Diagnostiker auf ihn zugestampft kam, der nicht nur in die eigenen Gedanken versunken war, sondern auch in diejenigen, die ihm von den Schulungsbändern in den Kopf übertragen worden waren, und rempelte dabei aus Versehen einen kleinen nidianischen Assistenzarzt mit rotem Fell an, der ihn daraufhin mißbilligend anbellte.

Obwohl die physiologischen Klassifikationen sehr unterschiedlich waren, gehörten die meisten Mitarbeiter des Hospitals wie Lioren selbst zu den warmblütigen Sauerstoffatmern. Ein weit größeres Risiko beim Gehen durch die Korridore stellten die Lebensformen dar, die in einem Schutzanzug eine für sie fremde Ebene durchquerten. Der Schutzpanzer, den in dieser Umgebung ein TLTU-Arzt brauchte, der überhitzten Dampf atmete und einen viel größeren Druck und eine beträchtlich höhere Schwerkraft als auf den Ebenen der Sauerstoffatmer benötigte, wirkte wie ein großer, scheppernder Lastwagen, dem man um jeden Preis aus dem Weg gehen mußte.

In der Zwischenschleuse zur PVSJ-Ebene legte Lioren einen leichten Schutzanzug an, bevor er sich in die neblige, gelbe Welt der Chloratmer begab. Hier waren die Korridore weniger überfüllt, und diesmal waren die stacheligen, membranartigen und ungeschützten Bewohner von Illensa in der Mehrheit, während die Tralthaner, Kelgianer und ein einzelner Tarlaner, nämlich er selbst, in Schutzkleidung steckten oder sich sogar in Spezialfahrzeugen fortbewegen mußten.

Durch den stark verminderten Fußgängerverkehr hatte Lioren die Möglichkeit, noch einmal über seine merkwürdig verschwommene Aufgabe sowie über die psychologische Abteilung und die Arbeit nachzudenken, zu der er verurteilt worden war.

Selbst wenn er beweisen könnte, daß O'Maras Verdacht unbegründet war, wäre es für ihn eine einzigartige Erfahrung, Seldal zu überprüfen. Unabhängig von der untergeordneten Rolle, die dem Fall wahrscheinlich zukam, wollte er ihn wirklich sehr ernst nehmen, und wenn seine Beobachtungen ergeben sollten, daß Seldal tatsächlich ein Problem hatte.

Kurz richtete Lioren die Augen nach oben, um seinem lichtjahreweit entfernten Gott von Tarla, an dessen Existenz er eigentlich längst nicht mehr glaubte, ein Gebet darzubringen, in dem er um Belehrung bat, welches Verhalten bei einem hochintelligenten, dreibeinigen, zwar vogelähnlichen, aber flugunfähigen Bewohner von Nallajim als unnormal angesehen werden mußte und welches nicht. Gerade noch rechtzeitig senkte er wieder den Blick, um sich gegen die Wand zu drücken, als aus einem Seitengang ein fahrbarer, tiefgekühlter Druckbehälter lautlos auf ihn zugerollt kam, in dem ein unter extremer Kälte lebender SNLU steckte. Verärgert über dieses vorübergehende Nachlassen der Aufmerksamkeit, setzte Lioren seinen Weg fort.

Bis jetzt bestand das einzige unnormale und gefährliche Verhalten, das er festgestellt hatte, in unvorsichtiger Fahrweise — und dieses rücksichtslose Benehmen schien im Hospital weit verbreitet zu sein.

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