Es war wirklich nicht Kabremms Schuld, doch Barlennan verzieh ihm erst viel später. Der Kommunikatorsatz hatte außerhalb der Lichtkegel gestanden, und als der Ankömmling sich zu Stakendees Gruppe gesellte, hatte er das Gerät nicht sehen können. Erst als er bis auf vierzig oder fünfzig Zentimeter herangekommen war, bemerkte er es. Selbst in diesem Augenblick war er nicht sonderlich beunruhigt; für ihn sahen alle Menschen gleich aus, und deshalb vermutete er, daß für Menschen auch alle Meskliniten gleich scheinen mochten. Zwar hätte er sich niemals absichtlich vor die Kamera begeben, aber nun, da es einmal geschehen war, würde jeder hastige Rückzug weitaus verdächtiger wirken als ein selbstverständliches Benehmen.
Als Easys Stimme, die seinen Namen ausrief, aus dem Lautsprecher drang, war es bereits vierundsechzig Sekunden zu spät, um noch etwas zu tun. Stake ndee wollte beim Klang der Stimme reflexartig nach dem Verschluß für das Objektiv der Kamera greifen, der auf dem Kommunikatorsatz lag, doch ihm wurde noch rechtzeitig klar, daß er die Sache höchstens verschlimmern würde. Die beiden besaßen nicht die geringste Vorstellung, was sie nun unternehmen sollten. Keinen der beiden konnte man einen Experten für Intrigen nennen, obwohl man auf Mesklin in politischen Fragen nicht minder entschlossen vorging als in kommerziellen. Auch schnelle Denker waren beide nicht, allerdings — im Gegensatz zu Dondragmer — begeisterte Befürworter von Barlennans Este-Manöver. Sie begriffen deshalb immerhin, daß ihr Mißgeschick, was immer sie nun tun oder unterlassen würden, wahrscheinlich mit den Maßnahmen, die Barlennan oder Dondragmer gegenwärtig trafen, in Konflikt geraten mußte. Eine Koordination war unmöglich.
Nach einigen Sekunden dachte Stakendee daran, Kabremm als einen der Vermißten — Reffel oder Kervenser — auszugeben, aber er bezweifelte, daß dem Erfolg beschieden sein würde. Mrs. Hoffman mußte völlig sicher gewesen sein, als sie den Namen so laut ausrief, und Kabremms Reaktion paßte nicht dazu.
Nach der Frage war kein Wort mehr vom Satelliten gekommen; offenbar erwartete man eine Antwort. Was konnte die Frau zwischen ihrem Ausruf und dem Ablauf der Übermittlungsverzögerung gesehen haben?
Auch Barlennan hatte Easy gehört und befand sich gleicherweise in peinlicher Lage. Warum Kabremm sich in der Nähe der Kwembly herumtrieb, ließ sich nur vermuten, obschon der Zwischenfall mit Reffels Kommunikator ihn ein wenig vorbereitet hatte; nur eines der drei Luftschiffe wurde für den Pendelverkehr zwischen der Esket und der Basis eingesetzt; die anderen unterstanden Destigmet und befanden sich meistens auf Forschungsflügen. Andererseits war Dhrawn so groß, daß es eines geradezu unwahrscheinlichen Zufalls bedurft hätte, wäre eines der Forschungsschiffe in der Nähe der Kwembly aufgetaucht.
Dennoch, dergleichen mußte geschehen sein. So etwas war einfach Pech, fand Barlennan, wozu sich die Tatsache gesellte, daß der einzige Mensch des Universums, der Kabremm mit ziemlicher Sicherheit zu identifizieren in der Lage war, ausgerechnet in dem Moment zur Stelle hatte sein müssen, als Kabremm sich blicken ließ.
Nun wußten die Menschen also, daß die Besatzung der Esket nicht ausgelöscht war. Für einen solchen Fall war nicht vorgesorgt worden; keine abgesprochene Ausrede existierte, deren Kabremm mit Barlennans Kenntnis sich hätte bedienen können. Vielleicht griff Dondragmer ein; er konnte sich in dieser Beziehung völlig auf ihn verlassen, gleichwohl wie der Captain über die ganze Angelegenheit dachte, aber was würde er tun? Die Schwierigkeit lag darin, daß Barlennan nicht zu erfahren imstande war, wie Dondragmer sich zu Kabremms Erscheinen äußerte, und deshalb nicht wußte, was er selber, wenn die zweifellos zu erwartenden Fragen der Menschen kamen, ihnen sagen sollte. Wahrscheinlich war es die sicherste Taktik, sich absolut unwissend zu stellen und freundlich einen detaillierten Bericht Dondragmers anfordern zu lassen. Jedenfalls würde der Captain Kabremm, den anscheinend die ganze Schuld an dieser Entwicklung traf, daran hindern, noch mehr verräterische Tollheiten zu begehen.
Für Barlennans Gemütszustand war es ein Glück, daß er nicht wußte, wo Kabremm aufgetaucht war.
Easy hatte ihm gegenüber einige Sekunden vor dem Zwischenfall erwähnt, daß Benj gerade eine Schilderung von Ereignissen gebe, die auf einem Bildschirm zu sehen seien, der zu einem Kommunikator der Kwembly gehöre; andernfalls hätte der Commander angenommen, Kabremm wäre vor die Linse eines Kommunikators der Esket gelaufen. So nahm er an, der Zwischenfall habe sich in oder bei der Kwembly zugetragen, nicht aber fünf Meilen von ihr entfernt. Die fünf Meilen waren so nachteilig, wie fünftausend es gewesen wären, da jede Verständigung zwischen den Fahrzeugen und der Basis ausschließlich über den Satelliten der Menschen erfolgte, und Dondragmer war wie Barlennan außerstande, böse Folgen abzuwenden.
Es gelang dem Captain dennoch, wenn auch ganz unbeabsichtigt. Er hatte Easys Ausruf ebenfalls vernommen, ihn aber als kaum mehr denn eine Ablenkung empfunden, da seine Überlegungen sich vollständig mit der Schilderung von Benj beschäftigten. In der Tat hatte ein gewisser Aspekt ihn in solchem Maße beunruhigt, daß er sich zu etwas verleiten ließ, das zu vermeiden ihn die bisherigen Erfahrungen mit der Kommunikation gelehrt hatten. Während Benj noch sprach, richtete er eine dringende Anfrage an den Satelliten.
„Bitte, bevor du etwas anderes unternimmst, berichte mir Näheres über diese Flüssigkeit, die durch das Flußbett rinnt! Sollte das als Ankündigung einer neuen Flut zu werten sein, gib Stak bitte folgendes durch: Er möge mit zweien seiner Matrosen und dem Kommunikator weiter stromaufwärts marschieren und ständig über die Natur des Rinnsals berichten, vor allem, ob es anschwillt. Die drei anderen sollen dem Rinnsal folgen und feststellen, wie nahe es bereits der Kivembly gekommen ist. Sobald sie sich dieser Dinge vergewissert haben, sollen sie die entsprechenden Informationen durchgehen, damit du sie an mich weiterleiten kannst. Wir müssen, falls wirklich eine zweite Flutwelle bevorsteht, unverzüglich das Fahrzeug und das Tal verlassen.
Bitte bestätige und übermittle Stakendee diese Befehle sofort!“
Die Durchsage erreichte den Satelliten, als Easy soeben der Ausruf entfahren war. Mersereau und Aucoin waren noch abwesend, und Benj zögerte nicht, Dondragmers Anweisungen umgehend weiterzugeben. Easy dachte eine oder zwei Sekunden lang nach, beschloß dann, das Problem Kabremm aufzuschieben, und informierte Barlennan von Dondragmers Befürchtungen. Wenn Don die Situation als Notfall betrachtete, konnte man schlecht etwas dagegen einwenden; er mußte es am besten beurteilen können. Dennoch wandte sie ihren Blick nicht von jenem Bildschirm, auf dem noch immer Kabremm zu sehen war; sein Auftauchen bedurfte immerhin einer Erklärung.
Nach der Wiederholung von Dondragmers Befehlen fügte sie einen eigenen Bericht hinzu, der dem Commander einige Sachverhalte verdeutlichte.
„Bari, ich weiß nicht, in welchem Umfang du über den Lauf der Ereignisse informiert bist. Don hat einen Suchtrupp ausgeschickt und ihm einen Kommunikator mitgegeben; er sollte nach Kervenser und Reffel Ausschau halten, aber bis jetzt hat er nur dieses Rinnsal entdeckt, das Don so große Sorgen bereitet, und ist bei dieser Gelegenheit Kabremm begegnet. Ich habe keine Ahnung, wie er an diesen mehrere tausend Meilen von der Esket entfernten Ort kommt, aber ich denke, er wird es berichten, und wir setzen dich sofort davon in Kenntnis. Die Neuigkeit wird ebenso erfreulich wie aufschlußreich sein; es muß für Meskliniten eine Mö glichkeit geben, zumindest in einigen Gebieten dieses Planeten ohne menschliche Hilfsmittel zu überleben.“
Barlennans Antwort umfaßte lediglich die übliche Bestätigung und einige knappe Dankesworte. Easys Schlußsatz hatte in seinem Hirn neue Spekulationen ausgelöst.
Benj hatte der Durchsage seiner Mutter kaum Beachtung geschenkt, da er selbst ein Gespräch führte. Er richtete Dondragmers Anweisungen dem Suchtrupp aus, der sich befehlsgemäß aufteilte; dann berichtete er dem Captain, daß die Aufträge erledigt würden, jedoch vermochte er sich wieder einmal eines Kommentars nicht zu enthalten.
„Captain, mir ist klar, daß die Auslagerung der Versorgungsanlagen mit einer Menge Arbeit verbunden sein wird, aber sicherlich kannst du genug Leute abkommandieren, um die Arbeiten am Erhitzer fortsetzen zu lassen. Du wirst das Fahrzeug doch nicht vorschnell aufgeben, oder?
Beetch und sein Freund stecken noch darunter; du kannst sie nicht einfach vergessen.“
Dondragmer besaß mittlerweile ein grundsätzliches Bild von Benjs Persönlichkeit, obschon manche Details sich seinem Begriffsvermögen schlichtweg entzogen. Er antwortete so taktvoll, wie er es vermochte.
„Selbstverständlich gebe ich die Kwembly nicht auf, solange eine angemessene Chance besteht, das Fahrzeug zu erhalten, aber das Vorhandensein von Flüssigkeit in nur wenigen Meilen Entfernung drängt mir den Schluß auf, daß die Gefahr einer neuen Flut nunmehr sehr groß ist. Die Metallstange, die wir von der Hülle getrennt haben, wird in wenigen Minuten abgesenkt. Sodann werden sich nur noch Borndender und ein Helfer mit diesem Erhitzer beschäftigen. Die gesamte andere Besatzung, außer Stakendees Gruppe, versteht sich, wird sofort mit der Auslagerung der Pflanzen, Tanks und Leuchtkörper beginnen und sie ans Ufer schaffen. Ich möchte meine Steuerleute nicht im Stich lassen, aber wenn ich die sichere Information erhalte, daß erneut Hochwasser auf uns zukommt, müssen wir schnellstens einen höher gelegenen Platz aufsuchen, ob noch jemand verschwunden ist oder nicht. Ich vermute, daß dir diese Vorstellung mißfällt, aber gewiß begreifst du, daß ich keine Wahl habe.“ Dabei beließ er es, ohne sich dafür zu interessieren, ob Benj darauf antworten wollte; es gab zu viel anderes zu berücksichtigen.
Er sah zu, als man das schwere Metallgestä nge, das als Erhitzer verwendet werden sollte, auf die Steuerbordseite der Kwembly schob. Man hatte Seile daran befestigt, die durch die Klammereisen der Hülle verliefen und von auf dem Eis befindlichen Matrosen gehalten wurden, die langsam, nach Praffens Befehlen, Seillänge um Seillänge nachgaben. Praffen lag auf der Plattform der Helikopterschleuse, beobachtete das Herablassen der Stange und gestikulierte Anweisungen. Das Steuerbordteil der Stange glitt abwärts, und das jenseitige Teil näherte sich dem Meskliniten; es schien, als werde es ihn vom Rumpf drängen, und der Anblick machte Dondragmer ein bißchen nervös, aber Praffen ließ die Stange unter seinem Körper hindurchgleiten, bemüht, genug Beine auf der Plastikhülle zu behalten, dabei stets wenigstens drei Zangenpaare um Klammereisen gelegt. Nach diesem persönlichen Wagnis wies er die Matrosen an, rascher Seil zu geben; es beanspruchte weniger als fünf Minuten, die ganze Stange hinab auf das Eis zu bekommen.
Während der Schlußphase dieser Operation hatte der Captain erneut seinen Schutzanzug angelegt und das Fahrzeug verlassen; draußen gab er mit lautstarken Pfeiftönen eine Reihe von Befehlen.
Gehorsam bewegten sich die Meskliniten zur Hauptluftschleuse, um sich an die Auslagerung der Versorgungsvorrichtungen zu machen; der Captain kehrte zurück auf die Brücke, um wieder mit Benj und über diesen mit Stakendee Kontakt aufzunehmen.
Der Junge hatte, während die Radiatorstange vom Rumpf entfernt worden war, nichts gesagt, obwohl er die Arbeit über den Brückenkommunikator hatte verfolgen können; Erläuterungen dazu waren überflüssig. Die Abkommandierung fast der gesamten Besatzung versetzte ihn ein wenig in Mißstimmung, denn Dondragmer hatte sich keineswegs getäuscht; der Gedanke, daß nahezu die ganze Besatzung mit der Räumung des Fahrzeugs beschäftigt sein würde, so daß keine unmittelbaren Maßnahmen zur Rettung der beiden Steuerleute getroffen werden konnten. Das Auftauchen zweier Meskliniten — Benj wußte nicht, welcher der beiden Borndender war — mit einer Energieeinheit lenkte ihn etwas von seinen unwilligen Gedankengängen ab. Die Stange lag nun in jener Form, in der sie ursprünglich auf dem Rumpf der Kwembly gesessen hatte, auf dem Eis. Sie glich einer überdimensionalen Haarnadel mit Querverstrebungen, die vormals, entsprechend der Rumpfform, gewölbt gewesen, doch nun unter der Schwerkraft plattgedrückt worden waren. Das Gerätteil besaß also in gesamter Länge guten Kontakt mit der Eisoberfläche.
Die Meskliniten vergeudeten ein paar Minuten mit dem Versuch, die Stange geradezubiegen; Benj gewann den Eindruck, daß sie sie so dicht neben dem Rumpf wie möglich zu deponieren beabsichtigten. Schließlich fiel ihnen jedoch auf, daß die beiden Enden der Stange sowieso ziemlich eng beieinander bleiben mußten, damit sie in die Konvertereinheit paßten; also ließen sie die Stange liegen und brachten die Einheit ans Heck. Der eine begutachtete die Öffnungen des Kastens und die Enden der Stange, wobei der andere ihm zuschaute.
Benj konnte die Krafteinheit nicht besonders gut erkennen, weil die Wiedergabe auf dem Bildschirm sehr klein war, aber er war mit derartigen Geräten vertraut. Die Konverter der Meskliniten entsprachen weitgehend dem Standard und hatten für den Gebrauch auf Dhrawn nur geringfügig modifiziert werden müssen. Die Elektrizität, die Borndender brauchte, war durch unterschiedliche Kontaktarten zugänglich; an zwei gegenüberliegenden Seiten des Kastens gab es energetisierbare Kontaktplättchen, und überdies wies der Kasten mehrere ein- und zweipolige Normalsteckdosen auf. Die Verwendung der Plättchen wäre am einfachsten gewesen, doch wie Benj nachträglich erfuhr, hatten die Meskliniten dies als zu riskant verworfen und es vorgezogen, es mit den Fassungen zu versuchen, deren Verwendung jedoch erforderte, daß sich die Enden der Stange hineinschieben ließen. Borndender wußte bereits, daß die Stange etwas zu dick war und an den Enden zurechtgefeilt werden mußte; er hatte die erforderlichen Werkzeuge mitgebracht und hatte hiermit keine Probleme. Die verschmälerten Enden einw ärts zu biegen, so daß sie gegeneinander deuteten, erwies sich schon als schwerer. Während die beiden sich noch damit abmühten, strömten die übrigen Besatzungsmitglieder, beladen mit den hydroponischen Tanks, ihren Pumpen, Lampen und Energiekonvertern, aus der Hauptschleuse; sie marschierten hinüber zur Nordseite des Tals.
Borndender widmete ihnen nur einen kurzen Blick, wobei er überlegte, ob er jemand um Unterstützung ansprechen könne.
Das Zurechtbiegen der Enden war nicht ein Problem bloßer Körperkräfte, denn die eines Meskliniten waren der Aufgabe sicherlich gewachsen. Nicht daran mangelte es den beiden Wissenschaftlern, sondern ausreichender Standfestigkeit. Das Eis bestand aus fast purem Wasser mit geringen Spuren von Ammoniak und besaß eine entspreche nd schlüpfrige Oberfläche; unter normalen Umständen behinderte die Glätte die Meskliniten aufgrund ihrer Vielbeinigkeit keineswegs in der Fortbewegung. Nun aber, als Borndender und sein Assistent einen Druck auf die Enden der Stange auszuüben versuchten, der sie zu verbiegen geeignet war, erwiesen ihre zwanzig Pfund Körpermasse sich als zu gering dazu. Das Metall wollte nicht nachgeben, und die langen Körper der beiden Meskliniten rutschten und glitten in grotesken Verrenkungen immer wieder ab.
Dieser Anblick genügte, um Benj trotz seiner Besorgnis zu einem Kichern zu veranlassen, und Seumas McDevitt, der soeben aus dem Meteorologischen Labor kam, erging es nicht anders.
Borndender löste das Problem schließlich; er holte das Bohrgerät aus der Kwembly und bohrte ein halbes Dutzend Löcher ins Eis, in die er Rahmenteile des Bohrturms versenkte. Den flachen mesklinitischen Hintern gegen das Gestänge gelehnt, erhielten die beiden nun genug Rückhalt für den Einsatz ihrer Muskeln. Auf diese Weise gelang es endlich, die Enden der Radiatorstange in die gewünschte Form zu bringen.
Nach Abschluß der Feilarbeiten war es einfach, die Enden in die vorgesehenen Kastenfassungen zu schieben. Es erforderte nicht mehr als das Anheben der beiden verbogenen Enden um etwa fünf Zentimeter bis in die Höhe der beiden Fassungen.
Recht zögernd — was auch den Menschen nicht entging — wandte sich Borndender dann den Kontrollen der Krafteinheit zu. Seine Zuschauer waren nicht minder gespannt; Dondragmer war, da er nur die Zusicherung der Me nschen besaß, nicht gänzlich davon überzeugt, daß die Operation dem Fahrzeug nicht schaden könne; und Benj und McDevitt hegten ebenfalls einige Zweifel an der Wirksamkeit des improvisierten Erhitzers.
Ihre Zweifel wurden rasch zerstreut. Die eingebauten Sicherheitsschaltungen funktionierten ausreichend, soweit es die Apparatur selbst betraf; sie konnten allerdings die Außenaufladung nicht exakt analysieren, kontrollierten aber den Energieausstoß und verhinderten den Aufbau allzu hoher Spannung. Natürlich hatte Borndender auf Minimalleistung geschaltet. Der Widerstand blieb mehrere Sekunden lang erhalten und wäre es wohl endgültig geblieben, hätten sich die Enden der Stange nicht über dem Eis befunden.
Über die größte Länge der Stange hinweg klappte alles. Im Augenblick der Energieabgabe erhob sich eine Wolke mikroskopisch kleiner Eiskristalle, als rings um die Stange Wasser verdunstete und in der Luft wieder gefror. Die Wolke verbarg zunächst den Anblick, aber die Stange begann sich in die Eisoberfläche zu schmelzen. Die letzten Zentimeter der beiden Stangenenden, die über dem Eis in der Krafteinheit steckten, zeigten für etwa drei Sekunden keine Spur von Aufladung, doch dann begannen sie zu glühen. Der Metallwiderstand wuchs naturgemäß mit dem Grad der Erhitzung, und die Einheit lieferte, um die Stromstärke konstant zu halten, plötzlich höhere Spannung. Die zusätzliche Hitze konzentrierte sich fast völlig in den bereits überhitzten Abschnitten. Einen Moment lang erhellte ein zuerst rotes, dann grellweißes Glühen die Eiswolke und veranlaßte Dondragmer, sich auf die andere Seite der Brücke zu flüchten, während Borndender und sein Kollege sich flach auf das Eis preßten.
Die menschlichen Zuschauer schrieen auf; McDevitt rief, die Einheit könne nicht explodieren, aber aufgrund der Übermittlungsverzögerung waren diese Reaktionen natürlich nutzlos. Das eine Ende der Stange schmolz, und die Energieeinheit schaltete sich automatisch ab; Borndender, einigermaßen überrascht, weil er noch lebte, deaktivierte nachträglich die manuelle Kontrolle und machte sich, ohne erst dem Captain zu berichten, an die Untersuchung der Komplikation.
Er brauchte nicht lange; er war ein gründlicher Denker und besaß sehr viel mehr menschliches Wissen als etwa die beiden Steuerleute, die einige Meter entfernt noch immer auf Rettung warteten.
Er verstand die Fusionskonverter sowohl theoretisch wie praktisch; einen konstruieren können hätte er natürlich nicht, aber er vermochte die Ursachen von Fehlfunktionen zu ergründen, obwohl er seiner schwerpunktmäßigen Spezialausbildung nach mehr Chemiker war als Physiker.
Mit einiger Überraschung verfolgten die beiden Menschen, und Dondragmer mit gewissem Unbehagen, wie die beiden Wissenschaftler sich anschickten, den Erhitzer wieder einsatzfähig zu machen und die Operation zu wiederholen. Das abgeschmolzene Ende der Stange wurde erneut zurechtgefeilt, umgebogen, in die Fassung placiert; mit dem Bohrgerät schufen die beiden ein Loch, in das sie den Konverter stellten, so daß auch die Fassungen sich in Höhe der Eisoberfläche befanden und die Radiatorstange nunmehr vollständig auflag.
Dann bedeckten sie die ganze Vorrichtung mit beim Bohren gelösten Eisbrocken und ließen nur die Kontrollen frei. Nach diesen Vorbereitungen schaltete Borndender den Konverter wieder ein und entfernte sich diesmal hastiger.
Die weiße Eiswolke schoß erneut empor, schwoll an und breitete sich aus. Sie hüllte die ganze Seite der Kwembly ein und nahm Dondragmer — und den Menschen — die Sicht. Von den Außenscheinwerfern erhellt, erregte sie die Aufmerksamkeit der Mannschaften, die sich inzwischen dem Ufer näherten, und von Stakendees Gruppe, die sich einige Meilen weiter westlich aufhielt. Die ganze Stange versank in schmelzendem Eis, das als heißer Dampf himmelwärts schoß und sich dort wieder zu Eiskristallen verdichtete. Das kochende Wasserloch grub sich tiefer in die Eisschicht; sanfter Wind trieb den Eisnebel davon. Schließlich erreichte die Heißwasserentwicklung den Rumpf der Kwembly, und Dondragmer, der den kochenden Pfuhl für einen Mo ment durch den wirbelnden Eisnebel erkennen konnte, kam plötzlich ein fürchterlicher Gedanke. Eilig hüllte er sich in seinen Schutzanzug und stürzte hinunter zur Hauptschleuse. Dann zögerte er; in dem Anzug vermochte er nicht zu spüren, ob das Fahrzeug sich bedrohlich erwärmte, und Thermometer gab es nur im Laboratorium. Er dachte kurz daran, eines zu holen, aber der Zeitverlust schien ihm zu riskant; entschlossen öffnete er die Sicherheitsventile der Schleuse. Er hatte keine Ahnung, ob die Hitze lange genug anhalten würde, um die Ammoniakfüllung der Schleuse zum Sieden zu bringen — die Hülle der Kwembly war hervorragend isoliert, doch an nichts war dem Captain weniger gelegen als an kochendem Ammoniak an Bord seines Fahrzeugs.
Auf jeden Fall war ihm nach seiner Maßnahme erheblich wohler zumute; hastig begab er sich zurück auf die Brücke, um die weiteren Vorgänge zu beobachten.
Eine sanfte Westbrise gestattete ihm gelegentlichen Ausblick auf die Oberfläche, da sie den Eisnebel fortwehte; inzwischen hatte das Heißwasserloch sich bedeutend ausgedehnt, aber nach einigen Minuten gewann er den Eindruck, daß nun eine Grenze erreicht war. Manchmal sah er die beiden Wissenschaftler, die umhereilten, um sich einen Überblick zu verschaffen. Zuletzt verharrten sie ungefä hr unterhalb der Brücke.
Eine Zeitlang schien der Flüssigkeitsspiegel unverändert zu bleiben, doch keiner der Beobachter wußte eine Erklärung dafür. Später einigten sie sich, daß das Heißwasser noch flüssige Wasserreservoirs unter der Kwembly erreicht haben mußte, die zum Verdampfen volle fünfzehn Minuten benötigten. Nach deren Ablauf ragten die ersten Steine des Flußbetts aus dem Heißwasserpfuhl. Plötzlich fiel Dondragmer ein, daß es womöglich erforderlich war, die Energieeinheit zu deaktivieren, bevor ein weiteres Stück der Stange abschmolz; die bereits fehlende Länge würde es schwierig genug machen, die Radiatorstange wieder mit dem Kühlsystem zu verbinden. Nun, da die Stange immer tiefer auf den Grund sank, fragte er sich, wie sie an die Kontrollen des Konverters gelangen sollten. Er vergeudete keine Zeit damit, sich über die Wissenschaftler zu ärgern, weil sie kein Zugseil an der Schaltung befestigt hatten; schließlich hatte er selbst nicht rechtzeitig daran gedacht. Er legte nochmals den Schutzanzug an und verließ das Fahrzeug durch die kleine Brückenschleuse. Die Rumpfwölbung entzog ihm den Ausblick nach unten, und so rasch die schlechte Sicht es erlaubte, begann er über die Klammereisen der Hülle abwärts zu klettern. Unterwegs rief er bereits zu den beiden Wissenschaftlern hinab. „Laßt die Stange nicht noch einmal schmelzen! Schaltet ab!“
Einem bestätigenden Pfeifton entnahm er, daß man ihn gehört hatte, aber andere Auskünfte erteilte man ihm nicht. Er setzte den Abstieg fort, bis er die Plattform des Rumpfaufbaus betrat, wo ihn lediglich noch die Pneumatik von der dampfenden Wasserfläche trennte. Unter den herrschenden Druckverhältnissen blubberte das kochende Wasser nicht, aber natürlich war es heiß, und der Captain gab sich nicht der Täuschung hin, der Anzug biete ihm genügenden Schutz. In diesem Moment kam ihm — mit reichlicher Verspätung — zu Bewußtsein, daß er möglicherweise soeben seine beiden vermißten Steuerleute zu Tode verbrüht hatte.
Die Konvertereinheit befand sich weiter heckwärts, aber das nächste begehbare Eis lag am Bug. Es würde ohnehin ein Problem sein, die Einheit zu erreichen, da sie zweifellos mittlerweile unter dem Heißwasserspiegel saß. Dondragmer begab sich zum Bug; von dort aus war die Sicht klar, aber die beiden Wissenschaftler waren nirgends zu erblicken. Vermutlich versuchten sie bereits am Heck vergeblich, seinem Befehl nachzukommen. Der Captain betrat solides Eis und geriet, als er den Pfuhl zu umrunden begann, wiederum in den sichtbehindernden Eisnebel. Er stieß, während er den Weg fortsetzte, eine Reihe fragender Pfiffe aus, die zu seiner Beruhigung ausnahmslos beantwortet wurden. Jedenfalls waren die beiden noch nicht ins Wasser gefallen.
Als er sich zu ihnen gesellte, hatten sie noch keinen Erfolg zu verzeichnen. Der Konverter befand sich nicht bloß außer Reichweite, sondern war auch nicht mehr zu sehen. In den Pfuhl zu tauchen, wäre reiner Wahnsinn gewesen, bevor nicht das gesamte Heißwasser verdampft war. Das allerdings konnte nicht allzu lange dauern; die Menge der Steine, die man schon zwischen der Dampfsäule erkennen konnte, zeugte davon, daß die Stange bald auf ihnen trockenliegen mußte.
Mehrere Minuten lang erwog der Captain das Risiko, und binnen dieser Zeitspanne sank der Wasserspiegel tatsächlich bis dicht über den Grund ab, so daß er es schließlich wagte, sich über die Kante rutschen und auf einen der rundlichen Felsen fallen zu lassen.
Die Aufschlagswucht entsprach der bei einem Sturz aus acht Stockwerken Höhe auf der Erde, und diesen Aufprall empfand sogar der Mesklinit als heftig. Dennoch blieb er unverletzt und beherrscht.
Mit einem kurzen Pfiff verständigte er die beiden Wissenschaftler von seinem Überleben und verbot ihnen, ihm zu folgen. Der nächste Felsen, der ihm genug Platz bot, lag um über eine Körperlänge entfernt, war aber gut zu erkennen, und dazwischen ragten ein paar Quadratzentimeter eines anderen Steins aus dem restlichen Heißwasser. Dondragmer streckte seinen Raupenkörper, krümmte sich, stützte etwa ein Dutzend Beine auf die wenigen Quadratzentimeter des flacheren Felsens, wölbte seinen Vorderkörper zu dem dritten Stein hinüber und zog den übrigen Körper hinterdrein. Diese raupentypische Bewegung beanspruchte nur zwei Sekunden. Von seiner neuen Position aus erwies sich der nächste Schritt als schwieriger. Der Fahrzeugrumpf, an dem er sich orientiert hatte, war kaum noch sichtbar; außerdem umgaben den Captain an dieser Stelle größere Wasserrestflächen.
Er zögerte, überlegte, kalkulierte; aber die Entscheidung wurde ihm schließlich abgenommen.
Das Zischen und Röhren der Dampfsäule verstummte, und unter dem Druck von Dhrawns Atmosphäre brach sie augenblicklich zusammen.
Dondragmer fand sich damit ab, daß ein weiteres Stück der Radiatorstange verloren war, entspannte sich und wartete, während die Wasserreste abkühlten, der Dunst sich verflüchtigte und der Nebel aus Eiskristallen sich verzog. Unterdessen wurde es ihm reichlich warm, aber solange sich unter ihm noch heißes Wasser befand, vermochte er der Versuchung, zurück auf die Eisoberfläche zu klimmen, leicht zu widerstehen. Er wartete.
Jedenfalls lebte er noch, als die Sicht sich klärte, und war ungefähr einen Meter von der Konvertereinheit entfernt; nun, da er sich ungehindert umschauen konnte, erreichte er sie auf dem Umweg über einige unregelmäßig verteilte Steine. Er schaltete die Einheit ab. Die beiden Wissenschaftler hatten sich inzwischen an der Kante über ihm an einer Stelle eingefunden, von der aus sie vermutlich den neuen Schaden am besten begutachten konnten. Direkt gegenüber, unter dem Rumpf der Kwembly, klaffte ein finsterer Hohlraum, in den das Licht der Außenscheinwerfer nicht eindrang. Der Captain verspürte wenig Lust, die Höhle zu betreten; sehr wahrscheinlich würde er darin die beiden toten Steuerleute entdecken. Im Satelliten bemerkte man sein Zögern.
„Warum steht er da untätig neben dem Konverter?“ murmelte McDevitt. „Ach, ich schätze, auf dem verbliebenen Wasser ist noch keine ausreichend dicke Eisschicht.“
„Nicht nur deshalb, wette ich.“ Benjs Tonfall ließ den Meteorologen den Blick vom Schirm wenden.
„Was ist los?“ fragte er.
„In diesem Loch steckten Beetch und sein Freund, dessen bin ich sicher. Wie sollten sie sich vor dem kochenden Wasser gerettet haben? Ich wette, daran hat der Captain überhaupt erst jetzt gedacht. Hätte er es geahnt, er würde nicht zugelassen haben, daß die beiden Wissenschaftler so rücksichtslos vorgingen. Man kann sich leicht vorstellen, was nun aus Beetch geworden ist!“
McDevitt überlegte hastig; ein vernünftiger Kommentar würde den Jungen weder überzeugen noch beruhigen, zumal McDevitts vernünftigster Schluß die Annahme nahe legte, daß Benj wahrscheinlich recht hatte. Aber er bemühte sich.
„Es sieht übel aus, aber ich würde nicht so schnell aufgeben. Ich zweifle daran, daß der Erhitzer das gesamte Eis unter dem Rumpf aufgelöst hat, und das heiße Wasser muß sie nicht unbedingt erreicht haben; andernfalls besteht die Möglichkeit, daß sie sich auf der anderen Seite, die wir nicht sehen können, an die Oberfläche retten konnten.
Vielleicht war dieses Loch auch gar nicht ihr Aufenthaltsort.“
„Auch wenn sie nicht unmittelbar ins Heißwasser gerieten, so muß das Wassereis, in dem sie steckten, doch den Schmelzpunkt erreicht haben, und diese Temperatur genügt bei einem Meskliniten für einen Hitzschlag. Ich dachte, das Zeug sei gefroren, weil es Ammoniak verlor und nicht wegen des Temperaturabfalls.“
„Das war meine Vermutung“, gestand der Meteorologe, „aber selbstverständlich besitze ich noch keinerlei Gewißheit. Mir liegen nicht genug Meßergebnisse vor. Ich räume ein, daß deine beiden kleinen Freunde unter Umständen tot sind; aber wir wissen so wenig über die Vorgänge dort unten, daß es verfrüht wäre, jede Hoffnung aufzugeben. Warten wir es ab, sonst können wir sowieso nichts tun. Dondragmer wird sich darum kümmern, sobald er es kann.“
Benj faßte sich einigermaßen und begann sich einzureden, daß tatsächlich noch alles unentschieden sei; sein Blick, der eigentlich der Tätigkeit von Stakendees Gruppe gewidmet sein sollte, wich jedoch nicht mehr von dem Bildschirm, auf dem der Captain zu sehen war.
Mehrere Male streckte Dondragmer seinen Vorderkörper aus, doch jedes Mal zog er ihn wieder zurück. Endlich hatte er sich anscheinend zu der Auffassung durchgerungen, daß die zwischen dem Gestein entstandene Eisschicht sein Gewicht tragen würde, und schob seinen langen Raupenkörper Zentimeter für Zentimeter auf die Oberfläche hinaus. Dann verharrte er für einen Moment, als erwarte er, daß etwas geschehe; das Eis hielt, und er setzte seinen Weg fort, auf den Rumpf der Kwembly zu. Die Menschen beobachteten ihn; Benjs Hände waren zu Fäusten geballt, und auch der Meteorologe war gespannter als gewöhnlich.
Hören konnten sie nichts, und so vernahmen sie den Pfiff, der plötzlich über das Eis hallte, ebenfalls nicht; er drang nicht durch den Brücke naufbau bis an das Mikrofon des anderen Kommunikators, der auf dem Brückendeck stand. Sie vermochten nicht einmal zu erraten, warum Dondragmer, als er gerade unter dem Rumpf in dem Hohlraum verschwinden wollte, auf einmal herumfuhr. Sie sahen ihn nur zurück über das Eis eilen und ihn, als er unterhalb des Standorts der beiden Wissenschaftler ankam, heftig nach oben gestikulieren, offenbar gleichgültig gegenüber dem, was den beiden Steuerleuten widerfahren sein mochte.