KAPITEL VIER ALLE WEGE FÜHREN NACH GOLGATHA

Und so begann schließlich der große Krieg. Beinahe wie ein Zufall.

Die Liveübertragung von der Zerstörung Virimondes und dem Gemetzel, das die Imperialen Truppen unter der Bevölkerung angerichtet hatten, ging nach hinten los. Ein Aufschrei der Entrüstung und Wut ging durch das gesamte Imperium, als ein Planet nach dem anderen seine eigene mögliche Zukunft in den entsetzlichen Szenen sah, die sich auf den Holoschirmen ab-spielten. Welt um Welt versank in spontanen Aufständen, und aus Funken wurden Flammen, als die hereinkommenden Bilder an Schrecken immer mehr zunahmen. Die unteren Klassen gingen auf die Straßen; aus Protestkundgebungen wurden Unruhen, aus Unruhen Straßenschlachten, die sich gegen alles wandten, was auch nur annähernd danach aussah, als vertrete es Imperiale Autorität. Die begüterten Klassen fanden sich ebenso häufig mit auf der Straße, aufgerüttelt aus ihrer satten Selbstzufriedenheit durch Schock und Wut und Entsetzen, und sie alle waren bereit, lieber zu kämpfen und zu sterben, als geduldig dabei zuzusehen, wie ihre Welt das gleiche Schicksal der Mechanisierung ereilte wie Virimonde.

Die Untergrundbewegung ergriff die Gelegenheit beim Schöpf. Man entsandte Repräsentanten zu jeder Welt, zu der die Bewegung Zugang hatte, und beriet und führte die Aufständischen. Man lieferte Waffen, lenkte die Massen in die richtige Richtung und setzte lange geschmiedete Pläne in die Tat um. Schlafende Agenten tief in den Reihen der Imperialen erwachten zum Leben, begingen Sabotage, unterbrachen Kommunikationsverbindungen und verursachten ganz allgemein den größtmöglichen Schaden, den sie dem Imperium mit ihren Mitteln zufügen konnten. Die Streitkräfte reagierten damit, ihre Kasernen zu leeren und Truppen auf die Straßen zu entsenden mit dem Befehl, auf alles zu schießen, was sich bewegte. Vielleicht hätte es funktioniert, wenn nicht so viele Menschen wegen der Geschehnisse auf Virimonde außer sich vor Ekel und Wut gewesen wären. Sie waren weit über das Stadium hinaus, wo die Imperialen Truppen sie noch einschüchtern konnten. Männer und Frauen strömten auf die Straßen und bewaffneten sich mit allem, was sich nur irgendwie als Waffe verwenden ließ, und sie fielen in derartigen Zahlen über die Imperialen Truppen her, daß nicht einmal der massive Einsatz von Disruptoren sie aufhalten konnte. Überall im Imperium, auf jeder einzelnen Welt, tobten blutige Schlachten und Kämpfe in den Dörfern und Städten, und die Gebäude der Verwaltung brannten wie helle Warnfeuer und verkündeten noch Schlimmeres für die Zukunft.

In den Straßen verfluchten sie den Namen des Witwenmachers, rissen die Standbilder und Porträts der Eisernen Hexe von ihren Sockeln und heulten nach Rache für die Millionen Toten von Virimonde.

Die Lords, in zunehmendem Maße aufgebracht und isoliert, schlugen sich schließlich mitsamt ihren eigenen Truppen auf die Seite der Rebellen und kämpften mit ihnen gegen die Imperialen. Die Familien waren in allererster Linie an ihrem eigenen Überleben interessiert, und die Löwenstein war zu einer größeren Bedrohung für den gesamten Adel geworden, als es irgendein spontaner Aufstand je sein konnte. Sie hatten schon immer gewußt, daß die Eiserne Hexe wahnsinnig war, aber jetzt war sie auch noch gemeingefährlich geworden. Hätte sie wegen David Todtsteltzer oder der Invasion Virimondes oder auch nur wegen ihren Plänen zur Automatisierung des Planeten zuerst die Versammlung der Lords konsultiert, hätte die Sache vielleicht anders ausgesehen. Die Familien hätten sicher eine Möglichkeit gefunden, einen Vorteil daraus zu ziehen. Doch das erste, was die meisten Lords über all die Geschehnisse erfuhren, war die Liveberichterstattung auf den Holoschirmen über die rücksichtslose Eroberung eines Planeten, der einem der ihren gehörte. Keiner von ihnen mußte seine Phantasie besonders anstrengen, um sich als das nächste Opfer von Löwensteins Willkür zu sehen, für vogelfrei erklärt, damit sein Planet die nächste vollautomatische Produktionsstätte unter dem direkten Befehl der Löwenstein werden konnte. Und angesichts einer so eindeutigen Bedrohung für ihr Leben, ihre Stellung und ihren Reichtum blieb es unausweichlich, daß die Lords schließlich stillschweigend die Rebellion unterstützten. Und wenn einige der Lords in dem ganzen Chaos eine Gelegenheit erblickten, sich selbst auf den Eisernen Thron zu schwingen, dann behielten sie das – zumindest für den Augenblick – für sich.

Mit einemmal schien es, als sei alles möglich. Jede Gruppierung , jede Lobby und jede kleine Fraktion sah eine Chance , die geltende Ordnung umzustürzen, und alle gingen sie auf die Straße, um für ihre Ziele zu kämpfen. Leute, die normalerweise nicht miteinander geredet hätten, ohne sich gegenseitig anzu-spucken, waren mit einemmal Verbündete, wenn auch nur vo-rübergehend, und sie kämpften Seite an Seite. Ihr gemeinsames Ziel, die Löwenstein von ihrem Thron zu stoßen, bevor sie in ihrem Wahnsinn jeden umbringen würde, schweißte sie zusammen. Eine Stadt nach der anderen und eine Welt nach der anderen forderte die Imperialen Truppen heraus, und der Ruf der Rebellion war auf jedermanns Lippen.

Die Armee und die Sternenflotte wäre leicht mit ein paar Rebellionen auf ein paar Welten fertig geworden, aber nicht mit allen zur gleichen Zeit. Die Streitkräfte waren weit über das Imperium verteilt. Sie wurden von allen Seiten zugleich und sogar von innen heraus angegriffen, von denjenigen, die zu den Rebellen und ihrer Sache hielten. Konfusion breitete sich aus und verkrüppelte die Schlagkraft der Streitkräfte.

Über den größten Unruheherden tauchten Sternenkreuzer auf; aber waren nicht dafür gebaut worden , Rebellionen auf der Oberfläche niederzuschlagen. Sie konnten nur damit drohen, den gesamten Planeten zu sengen, und wenigstens für den Augenblick waren die Schiffe dazu zu weit verteilt. Rebellen in den eigenen Reihen sabotierten die Kommunikationseinrichtungen und isolierten die Schiffe noch weiter. Der Untergrund hatte lange auf diesen Tag gewartet und war bestens vorbereitet, und das Imperium in seiner Arroganz hatte die Gelegenheit versäumt.

Auf dem Planeten Golgatha, der Heimatwelt des Imperiums und dem Zentrum aller Macht, strömten Menschen außer sich vor Wut auf die Straßen. Sie stürmten und plünderten und brandschatzten die Verwaltungszentren. Anfänglich hatten sie gezögert, die Rebellion zu unterstützen, hauptsächlich, weil die meisten so viel zu verlieren hatten; doch der Untergrund hatte das Gerücht verbreitet, daß die Löwenstein neue, noch höhere Steuern plante, noch repressivere Gesetze und sogar die über alles geliebte Arena schließen lassen wollte. Nach dem, was sie auf den Holoschirmen über die Ereignisse auf Virimonde gesehen hatten, waren selbst die Einwohner Golgathas bereit, alles über ihre Herrscherin zu glauben, und die neuen Drohungen trafen sie hart in ihren gemachten Nestern. Vereinzelte Proteste wurden mit derartiger Brutalität und Wildheit niedergeschlagen, daß selbst die einiges gewohnte Bevölkerung Golgathas schockiert war und sich überall wie ein Mann gegen die Löwenstein erhob. Der Untergrund gab sich die größte Mühe, alle in die richtige Richtung zu lenken, während die Führer ihr Grinsen kaum unterdrücken konnten. Sie hatten schon immer gewußt, daß die Leute nur die richtige Motivation brauchten, und was sie nicht aus dem richtigen Grund heraus zu tun bereit waren, taten sie manchmal aus dem falschen heraus freiwillig.

Die Behörden schickten jeden bewaffneten Soldaten auf die Straßen, den sie zur Verfügung hatten, mit dem Befehl, den Aufstand unter allen Umständen niederzuwerfen, gleichgültig, was es kostete, und keine Gefangenen zu machen. Das ver-schlimmerte die Situation nur noch und versetzte eine bereits wütende Bevölkerung in hellste Raserei. So schnell die Truppen auch die Rebellion an einem Ort erstickten, so schnell erhob sich die Bevölkerung woanders wieder neu. Sie gruppier-ten und reformierten sich schneller, als das Militär reagieren konnte. Der Untergrund unterbrach jede Form von Kommunikation und setzte Esper ein, um die eigenen Kräfte zu organisieren. Die Clans warfen einen Blick auf das wachsende Chaos, riefen ihre eigenen Truppen zurück und verschanzten sich hinter den dicken Mauern ihrer pastellfarbenen Türme, wo sie sich in die Sicherheit ihrer tief gestaffelten Abwehreinrich-tungen verkrochen. Die Kämpfe auf anderen Welten anzusta-cheln war eine Sache, doch das hier war entschieden zu nah.

Also zogen sie die Köpfe ein, vermieden es, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und ließen es geschehen, daß die Rebellen ihren ganzen Haß an der Verwaltung Löwensteins aus-tobten. Wenn das Blutbad erst vorüber war und die Rebellen müde und wieder ohne Ziel vor Augen waren, dann würden die Familien hervorkommen und von neuem die Kontrolle übernehmen, genau so, wie sie es schon immer getan hatten. Jedenfalls glaubten sie das. Sie wußten nichts von der Untergrundbewegung. Sie wußten nichts von den Plänen der Rebellen und ihrer Macht. Sie wußten nichts von den Menschen, die das Labyrinth des Wahnsinns überlebt hatten. Und ganz sicher begriffen sie nicht, daß die lange überfällige Große Rebellion endlich begonnen hatte.

Das Parlament berief eine Sitzung ein und kam zu dem Schluß, daß man sich aus allem heraushalten und unterstützen würde, wer auch immer am Ende oben stand – was niemanden weiter überraschte .

Hoch über den Welten des Imperiums stießen Raumschiffe in der Nacht zusammen. Der Untergrund hatte einen Ruf an die Hadenmänner ergehen lassen, und ihre gewaltigen goldenen Schiffe durchstreiften wieder einmal den Weltraum. Groß und mächtig und furchterregend waren sie den zerstreuten Imperialen Sternenkreuzern mehr als ebenbürtig. Soweit es die Stati-stik betraf, waren die Schiffe der Hadenmänner in der Unterzahl, und das nicht wenig; doch sie liefen die schwerfälligen Sternenkreuzer schwindlig und waren jedem einzelnen menschlichen Schiff sowohl in der Bewaffnung, als auch in Wendigkeit und Beschleunigung haushoch überlegen. Die Imperialen Besatzungen gerieten in Panik, als sie den legendären alten Feinden der Menschheit gegenüberstanden, und sandten allgemeine Hilferufe aus, daß alle Imperialen Schiffe die Rebellion vergessen und sich der größeren Bedrohung durch die Hadenmänner entgegenwerfen sollten. Überall im Imperium ignorierten die Sternenkreuzer die zunehmend panischen Befehle der Löwenstein und brachen auf, um den goldenen Schiffe entgegenzutreten – nur, um eines nach dem anderen zu fallen. Glühende Wracks trieben langsam durch die Atmosphäre ahnungsloser Planeten, und die Hadenmänner flogen weiter durch die ewige Nacht.

Die Kirche von Christus dem Krieger sah das erneute Auftauchen der aufgerüsteten Männer von Haden sowohl als spiri-tuelle, als auch als kriegerische Bedrohung, und sie warf alles gegen die goldenen Schiffe, was sie hatte, und ignorierte im übrigen die Rebellion. Es erging ihr nicht anders als der Imperialen Flotte, und wieder einmal wurden wertvolle Ressourcen von den Brennpunkten der Rebellion abgezogen. Der Untergrund sorgte für weitere Verwirrung, indem er sorgfältig geplant Gerüchte ausstreute, daß die Löwenstein plante, die Ländereien der Kirche zu beschlagnahmen, um ihre Steuerausfälle auszugleichen, was die Kirche noch weiter verärgerte. Und jedes noch so kleine Stück half der Rebellion .

Hätte die Löwenstein mehr als nur eine Handvoll ihrer neuen E-Klasse-Sternenkreuzer mit ihren neuen Antrieben und ihrer überlegenen Bewaffnung zur Verfügung gehabt, wären die Dinge vielleicht anders ausgegangen. Doch nachdem die Rebellen die Fabrikationsanlage der Wolfs für den neuen Hyperraumantrieb auf Technos III zerstört hatten, befanden sich lediglich fünf der neuen Schiffe in Dienst, und sie konnten un-möglich überall zugleich sein.

Auf einigen Schiffen der Flotte kam es sogar zu offener Meuterei. Untergeordnete Offiziere mit Sympathien für den Untergrund und Verbindungen zu den Rebellen starteten Übernah-meversuche auf den Brücken der Schiffe. Sie erhielten Rük-kendeckung von verstimmten Mannschaftsdienstgraden, deren Sold schon seit Monaten nicht mehr gezahlt worden war, weil die Schatzmeister nach dem Zusammenbruch der Steuerbehör-de knapp bei Kasse waren. Nicht wenige der Meutereien führten zum Erfolg, und die neuen Rebellenschiffe zogen sich augenblicklich aus den Kampfhandlungen zurück. Sie kämpften nicht gegen ihre eigenen Kameraden, aber sie unternahmen auch nichts gegen die Rebellion.

In der Zwischenzeit befanden sich Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn im dichtesten Getümmel. Sie filmten alles und übertrugen live zu den Welten des Imperiums, wann immer sich eine Möglichkeit dazu bot. Sie wurden von ihren Imperialen Gorillas von einem blutigen Feuergefecht zum nächsten gezerrt und gaben ihr Bestes, so objektiv wie nur irgend möglich zu berichten. Die Sicherheitsoffiziere, die für die Zensur ihrer Beiträge verantwortlich waren, hatten meist viel zu sehr mit anderen Problemen zu kämpfen, als daß sie sich Tobias und Flynn widmen konnten .

Auf einem kraterübersäten Schlachtfeld auf dem Planeten Loki wurden die Imperialen Armeen von wildäugigen Rebellenstreitkräften überrannt, und Tobias und Flynn ergriffen die Gelegenheit zur Flucht. Sie kamen nicht weit zwischen den leichengefüllten Kratern, bevor sie von den vorrückenden Rebellen geschnappt wurden, die Tobias Shreck glücklicherweise wiedererkannten. Ein paar von ihnen baten die beiden Nachrichtenleute sogar um Autogramme. Tobias suchte wortreich um eine Passage nach Golgatha nach, wo der Hauptschauplatz der Rebellion war, und nach einer langwierigen Diskussion brachten die Rebellen die beiden auf den Weg. Sie wußten nur zu gut, wie wichtig positive Propaganda war, und es schien allen Beteiligten nur gerecht, daß die beiden Männer, die bereits so viel von der Geschichte gebracht hatten, auch vom letzten Akt berichten sollten, wenn es denn soweit sein würde.

Tobias lächelte und nickte und erklärte an den richtigen Stellen sein Einverständnis und betete insgeheim, daß niemand auf den Gedanken kam zu fragen, wer denn am Ende alle Rechnungen bezahlen würde. Sein Gebet wurde erhört, und so be-gaben sich Tobias und Flynn auf den ersten Abschnitt von einem halben Dutzend ungemütlicher Passagen, die beide schließlich nach Golgatha und zum Hof der Löwenstein und zu der Hölle führen würden, welche die Eiserne Hexe daraus gemacht hatte.

Denn es würde Golgatha sein, wo die wirklichen Auseinandersetzungen und die entscheidenden Schlachten stattfinden würden. Wer die Heimatwelt beherrschte, der herrschte über das Imperium. Jeder wußte das. Und so zog sich die Löwenstein in ihren Palast aus glänzendem Stahl zurück, der sich inmitten eines massiven Stahlbunkers von eineinhalb Meilen Durchmesser tief unter der Oberfläche des Planeten befand, und wartete darauf, daß ihre Feinde kommen würden, um sie zu holen.

Sie verbrannten die Poeten, hängten die Troubadoure und spießten die Satiriker auf. Überall herrschten Blut, Tränen und Entsetzen. Ein ganz normaler Tag in der Hölle.

Der Hof war zu einem dunklen, gefährlichen Ort geworden, der den Charakter der Herrscherin widerspiegelte. Die Imperatorin Löwenstein XIV, die angebetete und bewunderte, saß auf ihrem Eisernen Thron, als wolle sie sich jeden Augenblick auf einen unglückseligen Feind stürzen, um ihn zu zerreißen und zu zerfetzen. Sie trug eine glänzend weiße Kampfrüstung, und zusammen mit ihrem bleichen Gesicht und dem langen blonden Haar sah sie aus wie ein rachedurstiger Familiengeist. Normalerweise trug sie das lange Haar zu Gelegenheiten, wo sie bei Hofe erschien, kunstvoll auf dem Kopf aufgetürmt; doch jetzt hing es schlaff in ungepflegten Strähnen herab, durch die ihre eisig blauen Augen unverwandt auf ihre Untertanen starrten.

Auf dem Kopf trug sie die große Dornenkrone, die aus einem einzigen riesigen Diamanten geschliffen worden war – das Symbol der Macht und Herrschaft über das Imperium.

An der Basis ihres Throns kauerten ihre Jungfrauen wachsam wie Hunde, und nichts anderes waren sie auch. Nackt und ohne Schamgefühl wie Tiere, mit ausgelöschtem Bewußtsein nach einem chirurgischen Eingriff, der sie zu loyalen Kreaturen bis hin zum Tod gemacht hatte, kauerten sie vor dem Thron und beobachteten die Anwesenden mit ihren kybernetischen Sin-nen, allzeit bereit, jeden Angriff gegen ihre geliebte Herrscherin zu vereiteln. Sie würden töten oder sterben bei dem Versuch, ihre Herrin zu schützen, und ihre Wildheit war Legende.

Ihre Zähne waren spitz, und ihre Finger endeten in implantier-ten stählernen Klauen. In ihre nackten Körper waren weitere, häßlichere Überraschungen eingebaut – die besten, die für Geld käuflich waren. Einst waren sie Menschen gewesen wie jeder andere auch; doch das war, bevor die Löwenstein sie auserwählt und aus ihrem alten Leben gerissen hatte, um ein Teil des ihren zu werden. Sie mochten Gewöhnliche oder Aristokratin-nen gewesen sein; unter Löwensteins Willen wurden sie alle gleichgemacht. Niemand widersprach. Niemand wagte zu widersprechen. Außerdem galt es als hohe Ehre, der Eisernen Hexe als eine ihrer Jungfrauen zu dienen.

In der Luft vor dem Thron schwebten Dutzende von Schirmen, die ununterbrochen Bilder aus dem gesamten Imperium zeigten. Die Szenen wechselten häufig. Ständig kamen neue Meldungen über den wachsenden Erfolg der Rebellen herein.

Moderatoren mit schwitzenden Gesichtern lasen beinahe ver-zeihungheischend die Neuigkeiten vor. Karten zeigten den Vormarsch der Rebellen und die Verluste der Imperialen. Zitternde Kameras zeigten Bilder von Blut und Gewalt und vom Toben der Schlacht. Sie sahen alle gleich aus. Zunehmend verwirrte Kommentatoren redeten endlos über die Bedeutung der Ereignisse . Auf einigen Welten hatten die Rebellen die Kommunikationseinrichtungen unter ihre Kontrolle gebracht, und triumphierende rauchgeschwärzte Gesichter riefen die Geknechteten dazu auf, sich zu erheben und die Eiserne Hexe von ihrem Thron zu stoßen. Neue Schirme erwachten zum Leben und andere wurden dunkel, weil der Untergrund und die mit ihm verbündeten Kyberratten sich an den Kommunikationskanälen zu schaffen machten. Das gesamte Imperium schrie mit sich überschlagender Stimme, und jeder wollte sich verzweifelt Gehör verschaffen. Die Imperatorin beobachtete all das reglos, und ihr starrer Blick war so kalt wie der Tod persönlich. Für diejenigen, die glaubten, sie zu kennen, war dieser Blick und ihre gelassene Ruhe besorgniserregender als die ge-brüllten Befehle und Temperamentsausbrüche kurze Zeit zuvor. Es bedeutete, daß die Eiserne Hexe nachdachte. Daß sie Pläne schmiedete. Daß sie sich schon jetzt an ihrer Rache und den schrecklichen Formen ergötzte, die sie zweifellos annehmen würde.

Vor dem Eisernen Thron standen schweigend und in hoffentlich ausreichend sicherer Entfernung zwei der wenigen Menschen, die mit Ausnahme der Imperialen Wachen und Löwensteins Opfern noch Zutritt zum Imperialen Hof hatten: General Shaw Beckett und der Oberste Krieger des Imperiums, der Ho-he Lord Dram. Höflinge waren nicht anwesend. Keine Lords und Ladys, keine Vertreter der Großen Familien, keine Abge-ordneten des Parlaments, niemand von der Einen Wahren Kirche von Christus dem Krieger, keine der üblichen Berühmthei-ten und Gestalten und Vorteilssuchenden. Löwenstein vertraute ihnen nicht mehr. Keinem von ihnen. Und so standen Beckett und Dram nebeneinander und ignorierten sich gegenseitig, so gut es ging. Sie waren beide Männer des Krieges und Kämpfer; doch außer ihrer Loyalität gegenüber der Löwenstein hatten sie nichts gemeinsam.

Die große, imposante Erscheinung Drams sah in ihrer ge-wohnten schwarzen Robe über der schwarzen Kampfrüstung aus wie eine Aaskrähe, die gerade vom Schlachtfeld zurückgekehrt war . Dram trug sowohl Disruptor als auch Schwert, und das in der Gegenwart der Imperatorin. Er war einer der ganz wenigen, denen das gestattet war. Beckett bildete einen krassen Gegensatz dazu. Er trug einen zerknitterten Umhang, und seine taillierte Kampfrüstung konnte die Tatsache nicht verbergen, daß er an gewaltigem Übergewicht litt. Beckett hielt sich mit bemerkenswerter Gelassenheit und geringer Autorität. Er rauchte eine stinkende Zigarre, und es war ihm egal, in welche Richtung der Rauch zog.

Rings um die beiden erstreckte sich die Hölle, die Löwenstein diesmal aus ihrem Hof gemacht hatte. Das Licht schimmerte blutrot, und in der Luft hing der Gestank von Schwefel.

Große Klappen im Boden des Raums standen weit offen, und aus ihnen eruptierten unregelmäßig plötzliche Flammenstöße und machten die Hitze noch unerträglicher. Und von ganz weit unten erklangen die Schreie der Verdammten und Gequälten.

Große steinerne Säulen erhoben sich so hoch hinauf, daß man das obere Ende nicht mehr sehen konnte. Sie waren mit einge-meißelten Gesichtern der Qual bedeckt, die von unvorstellba-rem Schmerz verzerrt in schweigender Agonie schrien.

Überall ringsum lagen Tote und Sterbende. Unglückselige, die der Löwenstein im falschen Augenblick unter die Augen gekommen waren. Gehenkte hingen schlaff an Seilen oder Ketten; Gepfählte zuckten nicht mehr länger auf ihren blutigen Pfählen, und schwarze, verbrannte Gestalten in eisernen Käfigen schwelten nur noch leise vor sich hin. Anderen war ein leichter Tod verwehrt worden. Eine Ballerina mit gebrochenen Beinen, ein Poet mit ausgestochenen Augen, ein gefangener Anführer der Rebellen, dem lange purpurne Schlingen der eigenen Eingeweide aus dem offenen Bauch hingen , und noch viele , viele andere. Sie krochen auf Händen und Knien umher und bissen sich auf die Zungen , um nicht zu schreien , weil das weitere Bestrafungen nach sich gezogen hätte. Manche bettelten leise um einen Schluck Wasser. Beckett hoffte, daß die meisten von ihnen nur Hologramme waren, lektronengenerierte Bilder, die Löwenstein ins Leben gerufen hatte, um die Atmosphäre zu vervollständigen, aber irgendwie glaubte er nicht so recht daran – besonders nicht, nachdem einige von ihnen mit gebrochenen Händen an seinen Hosenbeinen zupften und leise um ein gutes Wort flehten. Er sah nicht nach unten. Er konnte ihnen nicht helfen. Beckett wußte nicht einmal, ob er sich selbst noch retten konnte. Um sich abzulenken, musterte er die schweigenden Reihen bewaffneter Leibwächter hinter dem Thron. Die Löwenstein hatte sie wie Teufel angezogen: Auf ihren Helmen saßen geschwungene Hörner, und aus den Rük-kenteilen ihrer Kampfrüstungen ragten feurige Schwingen.

Löwenstein liebte es, wenn eine Illusion bis ins Detail vollkommen war.

Schließlich wandte sich die Eiserne Hexe von den Holoschirmen ab und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Beckett und Dram. Beide bemühten sich, noch aufrechter zu stehen. Als sie schließlich sprach, war ihre Stimme genauso eisig kalt wie ihr Blick.

»General Beckett, Wir haben Euch herzitiert, um die Verteidigung dieses Planeten in Eure alleinige Verantwortung zu legen. Wir legen Euch Golgatha in die Hände. Bewacht es wohl und achtet darauf, daß Uns kein Leid geschieht.«

Beckett starrte sie fassungslos an. »Aber ich… Euer Majestät, ich hatte angenommen, daß man mich hergeholt hat, um das Kommando über Eure Flotte zu übernehmen! Ich bin der einzige noch verbliebene Offizier mit der Erfahrung und dem Rang, um die Dinge wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie werden auf mich hören! Wer sonst wäre besser für diese Aufgabe qualifiziert als ich, Euer Majestät?«

»Glaubt nicht, daß Ihr mit Uns diskutieren könnt, General!« erwiderte die Löwenstein mit gefährlich leiser Stimme. »Ihr habt Eure Befehle, und ich erwarte, daß Ihr sie ausführt.«

Beckett schluckte seinen Ärger runter, um nichts sagen, was er später vielleicht bereuen würde. Er machte auf dem Absatz kehrt und stapfte aus dem Hof. Sein ganzes Leben lang war er dem Eisernen Thron gegenüber loyal gewesen, und das würde sich auch jetzt nicht ändern; ganz egal wie sehr er versucht war. Die Löwenstein blickte ihm hinterher, dann wandte sich an Dram.

»Ihr werdet meine Flotte kommandieren, lieber Dram. Beckett ist ein wenig zu weich, trotz seiner vielgepriesenen Loyalität. Er könnte zögern, Dinge zu tun, die getan werden müssen.

Ich habe Eure Entschlossenheit und Eure Sorgfältigkeit auf Virimonde bewundert, und ich brauche jemanden als Kommandanten der Flotte, dem ich blind vertrauen kann. Also werdet Ihr das Kommando übernehmen, Dram. Ihr seid mein Mann. Enttäuscht mich nicht. Wagt es nicht, mich zu enttäuschen. Ihr werdet Eure Befehle von hier aus erteilen. An meiner Seite werdet Ihr in Sicherheit sein, und ich werde imstande sein, Euch um Euren Rat zu fragen, falls es erforderlich sein sollte.«

»Jawohl, Löwenstein. Aber… werden die Kapitäne mich als ihren Kommandanten akzeptieren? Sie wissen, daß ich nicht Becketts Erfahrung besitze.«

»Sie dienen dem Obersten Krieger. Dem Mann, für den sie Euch halten . Das ist alles, was zählt. Nehmt meine Flotte und zerschmettert meine Feinde, Dram. Zerbrecht sie und zerstreut sie und zeigt keine Gnade. Genau, wie Ihr es auf Virimonde getan habt. Ich bin die Imperatorin , und mir wird man gehorchen. Und hinterher… Wir werden die Schwachen und un-loyalen Elemente in unserem Imperium ausmerzen, und zwar in einem Ausmaß, wie es noch nie dagewesen ist.«

Sie lächelte ein unangenehmes Lächeln, und Dram nickte zum Zeichen, daß er verstanden hatte. »Wie Ihr meint, Löwenstein. Verzeiht mir die Frage, aber… meint Ihr, es ist gut, wenn Ihr Euch noch weiter auf dieser Welt aufhaltet? Ich meine, seid Ihr in Sicherheit? Wer weiß, wozu die Elfen und Rebellen bereit sind, nur um einen direkten Schlag gegen Euch zu führen.«

»Macht Euch deswegen keine Gedanken«, antwortete Löwenstein leichthin. »Wir haben nach den Besten der Besten geschickt, um nach Golgatha zu kommen und Unsere persönliche Leibwache zu sein. Niemandem wird es gelingen, an Investigator Razor und Kid Death vorbeizukommen.«

Hoch oben auf der Oberfläche gingen die Kämpfe weiter. Die Verbitterung, mit der sie geführt wurden, nahm von Minute zu Minute zu, genau wie das Blutvergießen. Armeen strömten durch die Straßen und drängten sich auf den offenen Plätzen, und sie kämpften aus diesem oder jenem Grund gegen die Imperialen Truppen des Monsters Löwenstein, dieser Wahnsinnigen auf dem Eisernen Thron. Kein einziger Soldat war mehr in den Kasernen, und die beiden Lager prallten aufeinander, wo auch immer sie sich begegneten . Jede Partei war fest davon überzeugt, daß Recht und Schicksal auf ihrer Seite standen. Die einen kämpften für Ordnung, die anderen für Gerechtigkeit, und keine Seite verschwendete einen Gedanken an Kapitulation oder Erbarmen. Entweder war der Sieg überwältigend, oder die Niederlage vernichtend. Sie kämpften mit Schwertern und Äxten, mit Energieschilden und Disruptoren und mit den furchteinflößenden, unvertrauten Projektilwaffen, die der Untergrund zur Verfügung gestellt hatte. Blut spritzte durch die Gegend, und Männer und Frauen fielen und lagen schreiend auf dem mit Eingeweiden übersäten Boden, wo sie an ihren Wunden oder am Schock oder einfach nur vom endlosen Getrampel der dicht gedrängten Kämpfer starben. Niemand hatte Zeit, sich um die Verwundeten zu kümmern, und die Toten lagen überall . Sie wurden achtlos zur Seite getreten oder an Straßenecken aufgestapelt, vergessen von Freunden und Feinden gleichermaßen, während die Schlacht weiter tobte .

Einige von Löwensteins Truppen setzten die neuen Stasisprojektoren ein. Innerhalb des von diesen Apparaten erzeugten eng begrenzten Felds kam die Zeit zum Stillstand, und wer in das Feld geriet, war völlig hilflos, gefangen in einem Augenblick der Zeit wie ein Insekt in Bernstein.

Der Vormarsch der Rebellen kam unvermittelt zum Stillstand. Ganze Gegenden wurden unpassierbar. Doch es war eine neue Technologie , und die Anzahl der Projektoren war begrenzt. Außerdem waren sie unzuverlässig und instabil.

Manchmal reichte das einfache Einschalten des Apparats aus , um die Maschine explodieren zu lassen und jeden in einem Umkreis von dreißig Metern zu töten. Verständlich , daß die Truppen die Apparate nur zögernd einsetzten. Manchmal mußten die Offiziere neben ihnen stehen und ihnen Pistolen an die Köpfe setzen. Doch wo die Maschinen funktionierten, waren die Effekte dramatisch. Im Innern des projizierten Feldes konnte die Zeit zu einem Kriechen verlangsamt oder unendlich be-schleunigt werden. Wer in Stasis gefangen war, wurde entweder zu einer lebenden Statue, die nichts mehr zu den Kämpfen beitragen konnte, oder, häufiger, er alterte entsetzlich schnell.

Haut wurde faltig; Körper beugten sich vor Alter, Herzen versagten, und Gehirne verrotteten in aufbrechenden Schädeln.

Selbst mit geringer Energie erzeugten die Apparate Fessel-felder, die ganze Straßen ausfüllten, den Vormarsch der Rebellen verlangsamten und sie zu hilflosen Zielen für traditionellere Waffen machten.

Doch dieser Erfolg hielt nicht lange an. Sobald die Gefahr deutlich wurde, infiltrierten die Kyberratten die Zielsteuersy-steme der Apparate und schalteten sie ab. Kampfesper schalteten die Bedienmannschaften der Apparate aus sicherer Entfernung aus, indem sie entweder ihre Gehirne zerstörten oder sie in Brand setzten . Wo die Truppen durch ESP-Blocker geschützt waren, setzten die Esper Gedankenbomben ein: gemeine kleine Maschinen, die um das tote Hirngewebe von Espern herum aufgebaut waren. Bei der Detonation einer Gedankenbombe wurde jeder Nicht-Esper in ihrem Wirkungskreis zu einem rasenden Wahnsinnigen. Die Soldaten wandten sich gegeneinander und zerrissen sich mit bloßen Händen, und sie kreischten und schrien und heulten und besudelten sich mit dem Blut ihrer Kameraden. Die Streitkräfte der Rebellen drängten vor. Sie überrannten die Stasisprojektoren mitsamt ihren toten oder wahnsinnigen Bedienmannschaften und zogen weiter.

Später würde immer noch Zeit sein, um über die schrecklichen Dinge nachzudenken, die sie getan hatten.

Die Imperatorin gab Befehl, die Grendels loszulassen, die gnadenlosen Killermaschinen, die man in den Gewölben der Schläfer entdeckt hatte. Blutrünstige Monster aus Silizium mit spitzen Stacheln am gesamten Körper rannten durch die Straßen. Sie bewegten sich so schnell, daß das menschliche Auge ihnen nicht folgen konnte, und sie töteten alles, was sich bewegte. Waffen waren nutzlos gegen sie. Sie waren zu schnell und zu stark für ihre menschlichen Gegner, und sie eilten unaufhaltsam durch die überfüllten Straßen und hinterließen nichts als Blut und zerfetzte, ausgeweidete Leichen. Unglücklicherweise besaß die Imperatorin nur eine sehr eingeschränkte Kontrolle über diese Kreaturen. Sobald sie erst einmal aus der Gewalt ihrer kybernetischen Jochs entlassen waren, töteten sie jedes lebende Wesen, dem sie begegneten, ganz gleich, auf welcher Seite es stand. Ohne jegliche Kontrolle oder Führung wüteten die purpurnen, einer Hölle der Fremdwesen entsprun-genen Teufel in den Straßen Golgathas, und Berge von Leichen stapelten sich hinter ihnen. Hätte die Löwenstein mehr von ihnen gehabt, hätte sie das Blatt vielleicht wenden können.

Aber es gab nur wenige, und so blieb der Schaden relativ gering, den sie in einer Stadt voller Kämpfender verursachen konnten.

Der Untergrund entsandte Kampfesper gegen die Grendels; aber viele von ihnen starben beim bloßen Kontakt mit den Be-wußtseinen der Fremd wesen. Sie waren zu fremdartig, zu anders und zu schrecklich, als daß ihr Verstand erträglich war.

Und so rief der Untergrund die Elfen zu Hilfe, die Mitglieder der Esper-Liberations-Front. Die Elfen bildeten den militante-sten Flügel der Rebellen, und sie schickten Poltergeister und Zündler. Bald schon rasten glühende PSI-Stürme durch die Straßen, zerrissen die Grendels und setzten die blutigen Frag-mente in Brand. Eines nach dem anderen fielen die Grendels, während die wilden Kreaturen vergeblich nach einem Feind suchten, den sie weder sehen noch erreichen konnten. Und als ihre Leichname von lodernden Feuern verzehrt wurden, feierten beide kämpfenden Seiten die Elfen als Helden. Niemals zuvor war es Fremdwesen erlaubt worden, durch die Straßen der Heimatwelt zu ziehen und Menschen zu töten, und auf beiden Seiten sahen viele es als ein weiteres Zeichen von Löwensteins wachsendem Wahnsinn an. Soldaten und Zivilisten, die hilflos hatten mit ansehen müssen, wie die Grendels ihre Kameraden und Angehörigen schlachteten, verfluchten die Imperatorin und schlossen sich den Aufständischen an.

Doch es lief nicht alles so glatt für die Rebellen. Der legendäre Halbe Mann führte seine eigenen Truppen durch die Pracht-straße Golgathas. Er kämpfte an vorderster Front und schlug die Rebellion nieder, wo er sie fand, und er setzte alle Mittel ein, die dazu nötig waren. Seine Erfolge und seine kühle militärische Art beflügelten seine Soldaten, und fast reichte allein seine Persönlichkeit aus, um das Stadtzentrum zu halten und zu verteidigen, ganz gleich, wie groß die Übermacht auch sein mochte.

Für seine Truppen war er genausosehr Held wie Legende , Beschützer der Menschheit, und sie hielten ihre Stellung und kämpften lieber bis zum Tod, als ihn zu enttäuschen. Und so überließen ihm die Rebellen das Zentrum der Stadt und umgin-gen es. Denn schließlich war er nur ein einzelner Mann, und er konnte nicht überall zugleich sein.

Die Kyberratten drangen in Golgathas Hauptkommunikati-onssysteme ein und schalteten jeden militärischen Kommunikationskanal aus, den sie erreichen konnten. Die einzelnen Einheiten wurden voneinander isoliert und kämpften auf sich allein gestellt. Strategie wurde zu einer Unmöglichkeit, und Verstärkungen rannten hilflos im Kreis. Imperiale Esper waren keine Gegner für die organisierten Telepathen des Untergrunds, und schnell zerfielen die militärischen Organisationen und der Sicherheitsapparat. Befehle erreichten ihre Bestimmungsorte nicht mehr. Hilferufe blieben unbeantwortet. Das Chaos regierte. Doch die Aufständischen verschwendeten ihre Energien in Plünderungen und trivialer Rache, trotz aller Anstrengungen des Untergrunds, sie zu führen. Die Rebellen selbst blieben in der Unterzahl und waren in ihrer Bewaffnung dem Gegner weit unterlegen, und je länger die Kämpfe dauerten, desto schlechter standen die Chancen für sie. Sie mußten zuschlagen, solange sie noch den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite hatten, und die Kontrolle über Golgatha übernehmen . Die Rebellion konnte noch immer zerfallen und niedergeschlagen werden, trotz all ihrer bisherigen Erfolge. Das Militär wußte dies, und es wartete ab. Es hielt Schlüsselpositionen besetzt und verweigerte den Rebellen den Durchgang. Und so wurde unendlich viel Blut vergossen, und auf beiden Seiten starben Männer und Frauen. Das Schlachtenglück wandte sich in diese und in jene Richtung, und nach und nach wuchs bei den Führern des Untergrunds die Verzweiflung . Allmählich sah es ganz danach aus, als hingen ihre Hoffnungen von einer kleinen Gruppe von Helden und Legenden ab, die bisher noch nicht einmal in Erscheinung getreten waren, und als stünde oder fiele die ganze Rebellion mit Owen Todtsteltzer und seinen Freunden.

Die Festung Shandrakor von Giles Todtsteltzer, das ursprüngliche Zuhause und der Zufluchtsort des Todtsteltzer-Clans, fiel aus dem Hyperraum und ging in einen Orbit über dem Planeten Golgatha. Shandrakor war ein gewaltiges steinernes Schloß mit eigenem Hyperraumantrieb und eigenen Schilden und vielen anderen Überraschungen, und es hing lautlos über der Heimatwelt wie ein Gespenst aus der Vergangenheit, aus den besseren Tagen des Imperiums, bevor der Traum zu einem Alptraum geworden war und gute Männer sterben mußten, weil die bösen an die Macht gekommen waren. Das uralte Steingemäuer glänzte weiß in der Sonne Golgathas, bleich wie ein Geist: Das Faktotum war gekommen, um die Usurpatoren hinauszuwer-fen. Nach 943 Jahren war die Festung des Todtsteltzers endlich wieder nach Hause zurückgekehrt.

Giles Todtsteltzer stand gelassen in der Großen Halle seiner Festung. Er stand mit dem Rücken zu einem prasselnden Feuer und beobachtete den Planeten tief unter sich, der sich langsam auf dem gewaltigen Sichtschirm am Ende der Großen Halle drehte . Giles war in seinen üblichen abgetragenen Lederanzug und die schlampigen Felle gekleidet. An den Armen baumelte goldener Schmuck, und mit dem Zopf der Söldner sah er eher aus wie ein Barbarenkrieger aus der fernen Vergangenheit der Menschen, als wie der erste Oberste Krieger des Imperiums, der Held und die Legende, die er seit beinahe einem Jahrtausend im gesamten Imperium war. Das lange zweihändige Schwert hing in einer ledernen Scheide quer über seinem Rük-ken, und der lederumwickelte Griff ragte über die Schulter, als warte er nur darauf, endlich wieder gepackt zu werden. Der ursprüngliche Todtsteltzer, der Namensgeber und Gründer seines Clans, war aus dem Exil zu einer Heimatwelt zurückgekehrt, die ihn nicht mehr kannte.

Sein ferner Abkömmling, Owen Todtsteltzer, stand ein wenig abseits von ihm, zusammen mit seiner Waffengefährtin Hazel d’Ark. Zwischen den beiden hatte sich eine Nähe entwickelt, die zuvor noch nicht dagewesen war – als hätten sie während der Invasion der Nebelwelt etwas Wichtiges über sich selbst und den jeweils anderen erfahren. Sie standen hoch aufgerichtet und voller Selbstvertrauen da, und eine Aura von Stärke, Macht und Größe umgab die beiden. Sie trugen beide keine Rüstung; doch während Owen sich mit Schwert und Disruptor begnügte, hatte Hazel sich mit so vielen Waffen beladen, wie sie nur tragen konnte. Hazel war ein Waffennarr. Sie hatte einen weiten Weg hinter sich seit ihrer ersten Begegnung mit Owen auf Virimonde, auf einem Feld, das nicht mehr existierte, und es fiel Giles schwer, in Owen den zurückgezogenen Gelehrten und in Hazel die unfreiwillige Piratin von einst zu sehen. Sie hatten ihre Bestimmung gefunden, und das war nicht zu übersehen.

Auf der anderen Seite des gewaltigen Kaminfeuers stand Jakob Ohnesorg, der legendäre professionelle Rebell. Von dem gebrochenen alten Mann, den Owen erst vor so kurzer Zeit in seinem Versteck in Nebelhafen vorgefunden hatte, war nichts mehr zu sehen. Er war einer kraftvollen, muskulösen Gestalt in den besten Jahren gewichen. Jakob hatte sich selbst neu erschaffen, allein durch sein Selbstvertrauen, seine Kraft, seinen Mut und die mysteriösen Kräfte des Labyrinths des Wahnsinns, und er war wieder einmal der Held aus den Legenden geworden. Er stand einfach nur da, gelassen und entspannt, und doch sah er aus, als könne er es ganz alleine mit dem verdammten Imperium aufnehmen. Und wenn es auf dem Weg dahin zu Blut und Gewalt und dem Niedermetzeln von Feinden kommen sollte, dann war ihm das gar nicht mal unrecht.

Dicht an seiner Seite stand Ruby Reise, und sie sah aus, als gehöre sie dorthin und als wäre das schon immer dort gewesen.

Sie trug schwarze Lederkleider unter einem weißen Fellumhang, und sie war auf einschüchternde Weise attraktiv, genau wie jene Art von Blumen, deren Blütenpollen unruhige Träume bescheren. Sie stand einfach nur da, aber sie sah gefährlich aus wie die Hölle, und es schien ihr sogar zu gefallen. Im Gegensatz zu den anderen, die gemeinsamen mit ihr durch das Labyrinth des Wahnsinns gegangen waren, hatte sich Ruby Reise nicht sehr verändert. Sie war nur in allem… raffinierter geworden.

Als Kopfgeldjägerin hatte sie ihre Opfer meistens tot zurück-gebracht statt lebendig, weil das weniger Papierkram bedeutete . Sie suchte den Kampf und die Schlacht und die gefährlichsten Verbrecher und höchsten Kopfgelder, nur um zu beweisen, daß sie genauso gemein war, wie es jeder von ihr behauptete .

Und indem sie zu den Rebellen übergelaufen war, hatte sie sich nur einen noch größeren Feind gesucht. Ihr ging es immer noch um nichts anderes als um Beute und Chaos, und was die Rebellion betraf, so sah sie im Durcheinander Golgathas lediglich eine Gelegenheit, ihre finanzielle Situation ein wenig aufzubes-sern. Sie besaß in der Tat nicht die geringste Absicht, sich mit so unwichtigen Dingen wie Politik abzugeben. Mit diesen Dingen sollte Jakob Ohnesorg sich befassen. Im Gegensatz zu Ru-by verstand er wenigstens etwas davon.

Alexander Sturm, der müde, alte Mann, hatte die meiste Zeit seines Lebens für die Große Rebellion gekämpft. Als junger Mann hatte er in unzähligen Schlachten an der Seite Jakob Ohnesorgs gekämpft. Früher war er ein brillanter Schwertkämpfer und verwegener Abenteurer gewesen, ein Held, der beinahe so berühmt gewesen war wie Jakob Ohnesorg selbst, doch heute drückten Bitterkeit und das Gewicht des Alters auf seine Schultern. Er konzentrierte seine verbliebene Energie darauf, dem Untergrund bei der Entwicklung seiner politischen und strategischen Ziele zu helfen, und falls er Eifersucht auf seinen alten Freund Jakob Ohnesorg verspürte, der im Gegensatz zu ihm auf geheimnisvolle Weise wieder jung und vital geworden war, dann behielt er es zumindest für sich – die meiste Zeit über jedenfalls.

Und schließlich waren da noch Jung Jakob Ohnesorg und Johana Wahn. Sie standen abseits von den anderen beisammen, weil niemand unnötig viel mit ihnen zu tun haben wollte, und selbst jetzt noch gaben sie sich alle erdenkliche Mühe, sich gegenseitig zu ignorieren.

Jung Jakob Ohnesorg war wie aus dem Nichts auf der Bildfläche erschienen und hatte behauptet, der echte Jakob Ohnesorg zu sein. Zu seiner Entschuldigung mußte gesagt werden, daß er ganz genau wie ein Held aus dem Bilderbuch aussah. Er war groß und kraftvoll und in eine silberne Kampfrüstung mit goldenen Ziselierungen gehüllt, und er strahlte positive Kraft und Weisheit aus. Er war Zoll für Zoll ein Held, und die Menschen folgten ihm beinahe instinktiv , sogar in die aussichtslo-sesten Situationen. Er war unschlagbar mit dem Schwert und erstürmte Barrikaden und führte mutig tollkühne Rettungsak-tionen durch, ohne auch nur für eine Sekunde das strahlende Grinsen zu verlieren. Schon jetzt wurde er als Retter der Nebelwelt während der Invasion durch die Imperatorin Löwenstein gefeiert, als hätte er allein und eigenhändig die Imperialen Streitkräfte nach Hause geschickt . Owen und Hazel hätten eine andere Version der Geschichte erzählen können, doch sie zogen es vor zu schweigen. Die Rebellion brauchte ihre Helden, um die Massen aufzurühren.

Noch immer war nicht klar, welcher der beiden Ohnesorgs denn nun der echte war. Beide waren sie mächtige Kämpfer und kühne Strategen. Und so benutzte der Untergrund, weise wie immer, beide gleichermaßen.

Johana Wahn war ein anderer Fall. Das Imperium hatte irgendwo tief in ihr etwas zerbrochen, und es war nicht wieder richtig zusammengewachsen. Aber dann war Johana von dem rätselhaften Überesper berührt worden, der Mater Mundi, und seither besaß sie gewaltige Kräfte. Ihre Gegenwart brachte die Luft ringsum zum Knistern wie ein Gewitter, das jeden Augenblick loszubrechen drohte. Johana lebte nur für ihre Rache, und sie verließ sich darauf, daß die Rebellion ihrem Leben Sinn und Ziel gab. Einst hatte sie einen anderen Namen getragen; doch das war in einem anderen Leben gewesen, und es war schon sehr lange her. Die meiste Zeit über erinnerte sie sich kaum noch an den unbedeutenden Esper, der Diana Vertue geheißen hatte.

Owen Todtsteltzer blickte sich unauffällig um und musterte seine Begleiter nachdenklich. Wie es schien, hatten sie alle in der kurzen Zeit, die sie voneinander getrennt gewesen waren, dramatische Veränderungen durchgemacht. Jakob Ohnesorg sah dreißig Jahre jünger aus, und er wirkte hart genug, um Blechdosen zu kauen und Nägel zu spucken. Er sah dem jungen Jakob sehr viel ähnlicher als zuvor, doch es war noch immer ein deutlicher Unterschied zu erkennen. An Jung Jakobs unverzagtem Heldenmut war etwas beinahe unnatürliches, als wäre er kein wirklicher Mensch, sondern ein Charakter aus irgendeinem Holodrama, der ohne Verlust seines Charismas aus dem Bildschirm und in die Realität getreten war. Im Gegensatz zu seinem älteren Selbst kam Jung Jakob daher, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nie einen Zweifel gehabt oder einen Fehlschlag erlitten. Außerdem grinste er zuviel.

Owen vertraute niemandem, der so viel grinste. Es war einfach nicht natürlich, jedenfalls nicht in diesen Tagen und in dieser Epoche. Owen hatte noch immer nicht die leiseste Ahnung, wer Jung Jakob in Wirklichkeit war, höchstens einen Verdacht, und den behielt er für sich. Wenn der Mann ein Hochstapler war, dann ein verdammt überzeugender, und der Untergrund benötigte dringend Helden, um die Massen in die Schlacht zu führen.

Selbst dann, wenn sie halb wahnsinnig waren wie Johana Wahn. Owen machte sich Sorgen wegen ihr. Die Esper würden ihrem Kommando blind folgen, und das allein deswegen, weil sich einst die Mater Mundi, Unsere Mutter Aller Seelen, in ihr manifestiert hatte. Für die Esper war Johana Wahn eine Heilige – eine verrückte Heilige, aber nichtsdestotrotz eine Heilige – und es ließ sich nicht verleugnen, daß sie geradezu unglaublich machtvoll war. Wenn Johana richtig loslegte, erzitterte die Realität. Aber nach all den Foltern und Qualen, die sie durchgemacht und überstanden hatte, war ihr seelisches Gleichgewicht ein zerbrechliches, und es war nur eine Frage der Zeit, bevor sie unter dem Druck zerbrach. Owen hoffte nur, daß er weit weg und in Sicherheit war, wenn das geschehen würde.

Ruby Reise… ihr Anblick machte ihn so nervös wie immer.

Wäre sie nicht eine alte Freundin Hazels gewesen, hätte Owen sie wahrscheinlich längst erschossen, davon war er fest überzeugt, und wenn es nur aus Prinzip gewesen wäre. Ruby um sich zu haben war, als befände man sich mit einem paranoiden Kampfhund in einer engen Zelle, der sich von seiner Kette los-gerissen hatte. Am besten fuhr man noch mit Ruby, wenn es einem gelang, sie rechtzeitig in die richtige Richtung zu drehen und dann loszulassen. Man brauchte nur noch der Spur aus Leichen zu folgen .

Was Jakob Ohnesorg in ihr sah, blieb Owen ein Rätsel. Vielleicht lebte der Mann einfach nur gerne gefährlich. Man konnte nicht abstreiten, daß er einige ganz erstaunliche Veränderungen durchgemacht hatte. Es war, als hätte sein Körper die Zeit zu-rückgedreht und die vergangenen Jahren einfach ignoriert, so jung und vital schien er mit einemmal wieder geworden zu sein. Owen fragte sich, ob das für alle galt, die im Labyrinth gewesen und von ihm verändert worden waren. Und wenn es so war, wie lange sie alle leben würden… Owen versuchte sich ein zukünftiges Leben vorzustellen, das sich endlos vor ihm erstreckte. Ewige Jugend. Doch dann grinste er und schüttelte den Kopf. Viel wahrscheinlicher würden sie alle unten auf Golgatha sterben. Zuerst mußten sie das überstehen. Später konnte er sich immer noch Gedanken um die Ewigkeit machen.

Owen verdrängte die Vorstellung und konzentrierte sich statt dessen auf Ohnesorg. Der professionelle Rebell wirkte gerissen und tödlich, und er schien begierig zu sein, sich Hals über Kopf in die Schlacht zu stürzen, auf die er sein ganzes Leben lang gewartet hatte. Auch das machte Owen Sorgen. Eine derartige Entschlossenheit rührte in der Regel aus einer gefährlichen Sturheit. Manchmal dachte Owen, Jakob Ohnesorg würde über den Leichnam seines besten Freundes gehen, um den Sieg zu erreichen, den er so sehr herbeisehnte.

Owen verspürte Schuldgefühle, weil er solche Dinge über seine Freunde und Kameraden dachte. Er hatte damit begonnen, nachdem er auf der Nebelwelt entdeckt hatte, wie wenig er in Wirklichkeit über Hazel wußte, und jetzt schien er nicht mehr damit aufhören zu können. Es sah ganz danach aus, als hätten sie alle ihre geheimen Obsessionen und privaten Ziele, und das Gemeinschaftsgefühl, welches das Labyrinth ihnen geschenkt hatte, schien im Verlauf ihrer Trennung verschwunden zu sein. Owen konnte noch immer ihre Gegenwart ringsum spüren, doch er konnte nicht mehr länger fühlen, was sie gerade dachten oder empfanden. Sie waren nicht mehr länger untereinander verbunden, Bewußtsein mit Bewußtsein, als hätte das, was sie auf ihren verschiedenen Missionen erlebt hatten, sie so sehr verändert, daß sie nicht mehr die gleichen Menschen waren wie zuvor.

Owen spürte noch immer die Mächte des Labyrinths, die hell in ihnen allen brannten, am hellsten in seinem Vorfahren Giles.

Owen betrachtete den Mann nachdenklich, und seine Hand glitt unbewußt zum Griff des Schwertes an seiner Seite. Giles starrte noch immer mit mürrischem Gesicht auf den großen Holoschirm. Er war in seine eigenen Gedanken versunken und ignorierte die anderen völlig. Giles war derjenige von ihnen gewesen, der am meisten gezögert hatte, die Kräfte zu erforschen, die ihnen vom Labyrinth des Wahnsinns geschenkt worden waren. Es schien fast, als wären sie für ihn nur einnotwendiges Übel, das man nur dann benutzte, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab. Owen hatte bei einem Gespräch mit seinem Ahnen das Thema angerissen; doch Giles hatte nur wortkarg erwidert, daß es ja wohl reiche, ein Todtsteltzer zu sein, und das war das Ende der Konversation gewesen. Für Owen und Giles war es schon immer schwierig gewesen, miteinander zu reden. Sie stammten aus grundverschiedenen Epochen und hatten völlig verschiedene Erfahrungen gemacht, und das einzige, was sie – abgesehen vom Namen gemeinsam hatten, schien die Rebellion zu sein. Giles hatte kurze Zeit versucht, für Owen eine Art Vaterfigur zu spielen. Das war gewesen, nachdem er seinen eigenen mißratenen Sohn, den echten Hohen Lord Dram, getötet hatte, aber Owen hatte dem rasch Einhalt geboten . Ihm reichte es, daß sein leiblicher Vater einst versucht hatte, sein Leben zu manipulieren. Owen war sein eigener Herr, und wenn das Leben, das er nun führte, nicht ganz so war, wie er sich das vorgestellt hatte, so war es immer noch sein Leben, und er achtete eifersüchtig darauf, daß es auch so blieb.

Aber das war nicht alles. In Owens Hinterkopf regte sich noch immer ein leiser Verdacht gegen Giles, der einfach nicht verstummen wollte. Der ursprüngliche Todtsteltzer schien zu mehreren Gelegenheiten überraschend gut informiert über die gegenwärtige Lage, jedenfalls für einen Mann, der angeblich die letzten 943 Jahre in Stasis verbracht hatte… Owen verdrängte den Gedanken für den Augenblick, und schlenderte zu seinem Vorfahren am Holoschirm hinüber.

»Was ist das für ein Gefühl«, fragte er leise, »nach so langer Zeit wieder nach Hause zurückzukehren? Ist es so, wie du es erwartet hast?«

»Nein«, erwiderte Giles genauso leise, ohne den Blick vom Schirm abzuwenden. »Beinahe tausend Jahre ist es her, daß ich Golgatha zum letzten Mal gesehen habe, aber es kommt mir vor wie gestern. Jeder, den ich jemals kannte und mochte, ist längst tot und zu Staub zerfallen. Der ganze Planet ist überlaufen mit Klonen und Espern, und die Familien sind korrupt, verweichlicht oder geistig degeneriert, und das Imperium… das Imperium aus meiner Erinnerung existiert nicht mehr. Ich komme mir vor wie ein Geist, wie jemand, der längst geschlagene Schlachten kämpft und nicht wahr haben will, daß die Welt sich inzwischen weitergedreht hat. Das Imperium trug bereits in meiner Zeit die ersten Anzeichen des Verfalls, aber ich hätte mir niemals träumen lassen, daß es eines Tages so endet. Ich weiß nicht, ob ich helfen soll, sein Elend zu beenden, oder ob ich versuchen soll, es zu retten. Es ist eine perverse Verzerrung von allem, an das ich je geglaubt habe. Aber ich werde die Dinge wieder ins Lot bringen. Ich werde die Menschen aus diesem Alptraum von Geschichte wecken und das Imperium wieder zu dem machen, was es einmal war.«

»Mit der Hilfe deiner Freunde«, sagte Owen leichthin.

Zum ersten Mal sah Giles seinen fernen Nachfahren an. In seinem markanten, von tiefen Linien durchzogenen Gesicht regte sich kein Muskel. »Selbstverständlich, Verwandter. Alleine wäre ich niemals so weit gekommen. Erst du und deine Freunde haben all das möglich gemacht. Das werde ich euch niemals vergessen. Aber jetzt wird es Zeit für eine Konferenz, denke ich. Bevor die Schlacht beginnt und wir uns in alle Richtungen verstreuen. Vielleicht dauert es eine ganze Weile, bis wir uns wieder miteinander unterhalten können.«

»Worüber sollten wir uns denn unterhalten?« fragte Ruby.

Sie war damit beschäftigt, ihre Fingernägel mit einem gefährlich aussehenden Dolch zu maniküren. »Wir landen auf der Oberfläche, bringen alles um, was eine Uniform anhat, schnappen uns soviel Beute, wie wir tragen können, und dann veran-stalten wir ein Wettrennen, wer als erster die Löwenstein umbringt. Genau die Art von Party, die mir liegt.«

»Trotzdem gibt es ein paar Dinge, über die wir miteinander reden müssen«, beharrte Giles starrköpfig. »Das Labyrinth des Wahnsinns hat uns verändert, aber ganz offensichtlich auf verschiedene Art und Weise. Nach den Berichten zu urteilen, die ich seit Eurer Rückkehr gelesen habe – ich warte übrigens noch immer auf Euren, Ruby –, scheint es ganz so, als hätten sich unsere Fähigkeiten in… unterschiedliche Richtungen entwik-kelt. Ich habe gelernt zu teleportieren. Owen besitzt psychokinetische Fähigkeiten . Jakob und Ruby haben pyrokinetische Begabungen entwickelt , und Hazel kann alternative Versionen von sich selbst aus verschiedenen Zeitlinien heraufbeschwören.

Ich verstehe nicht einmal ansatzweise, wie das funktioniert.

Und nichts von alledem hätte ich erwartet.«

»Warum hätten wir uns denn nicht unterschiedlich entwik-keln sollen?« erkundigte sich Jakob Ohnesorg. »Wir sind doch schließlich verschiedene Persönlichkeiten. Und außerdem – was wissen wir schon über das Labyrinth? Daß es höchstwahrscheinlich ein Artefakt von einer fremden Rasse war, daß niemand sagen kann, wie alt es war oder welchen Zweck es ursprünglich hatte, und daß die letzten Menschen , die vor uns hindurchgegangen sind, die Hadenmänner erschufen. Das ist nicht gerade viel, oder?«

»Es sei denn, du weißt mehr über das Labyrinth des Wahnsinns, als du bisher zugegeben hast«, sagte Hazel. »Was ist damit, Giles? Was hast du uns die ganze Zeit über verschwiegen?«

»Selbstverständlich nichts«, antwortete Giles. »Ich habe es kurze Zeit studiert, bevor ich nach Shandrakor flüchten mußte, aber ich habe seinen Sinn nie verstanden. Ich bin nicht einmal sicher, ob der menschliche Verstand überhaupt dazu in der Lage ist. Ich glaube nicht, daß wir es jemals wissen werden. Was zählt ist einzig und allein, daß wir alle wunderbar reich be-schenkt worden sind. Jetzt liegt es an uns, diese Geschenke zu verstehen. Und im Gegensatz zu dem, was Ruby Reise zu glauben scheint, werden die Kämpfe unten auf der Oberfläche weder einfach, noch geradeheraus sein. Die Löwenstein hat eine ganze Armee von Leibwächtern und Sicherheitsleuten; sie hat das Militär, und sie wird sicherlich noch einige häßliche Überraschungen für uns bereithalten. Man sollte niemals die Paranoia der Herrschenden unterschätzen. Die Löwenstein wußte immer, daß ein Tag wie dieser hier kommen könnte, und sie hat sicher Pläne für diesen Fall geschmiedet, die uns ziemlich frustrieren werden.«

»Verdammt«, fluchte Hazel. »Dein Vorfahr hält noch längere Ansprachen als du, Owen! Muß wohl in der Familie liegen.«

»Wo liegt der Sinn dieser ganzen Unterhaltung?« fragte Ohnesorg. »Ich für meinen Teil würde lieber runtergehen und mitmischen, bevor alles vorbei ist.«

»Der Sinn ist der, daß wir uns aufteilen müssen«, erklärte Giles. »Wir müssen unsere Talente so weit zerstreuen wie möglich und die Löwenstein an allen Fronten gleichzeitig treffen

»Augenblick mal«, unterbrach Owen. »Wir waren immer dann am stärksten, wenn wir alle zusammen waren. Erinnert ihr euch noch an den Energieschirm, den wir auf der Wolflingswelt errichtet haben? Er war stark genug, um einer Disruptorkanone auf kürzeste Distanz zu widerstehen. Und auf der Nebelwelt haben Hazel und ich wahre Wunder vollbracht, weil wir zusammen waren. Wer weiß, wozu wir imstande sind, wenn wir alle zusammenbleiben?«

»Uns bleibt aber keine Zeit für Experimente«, entgegnete Giles tonlos. »Die Rebellion braucht uns, und sie braucht uns jet z t. Ich habe verdammt lange darüber nachgedacht.«

»Ohne mit uns zu reden«, sagte Ruby.

»Genau«, stimmte ihr Ohnesorg zu. »Wann habt Ihr all diese Pläne geschmiedet? Wir anderen hatten auf unseren verschiedenen Missionen bis zum Umfallen zu tun.«

»Ich brauche nicht viel Schlaf«, erwiderte Giles. »Und jetzt hört bitte alle her. Wir werden uns in die folgenden Gruppen aufteilen…«

»Das gefällt mir überhaupt nicht«, unterbrach ihn Hazel.

»Beim letzten Mal haben wir zugelassen, daß die Führer des Untergrunds uns aufteilten. David und der Sommer-Eiland sind auf eigenen Faust davongezogen. Und jetzt ist David tot, und der Sommer-Eiland hat sich dem Feind angeschlossen.«

»Ich vermisse David«, sagte Owen unvermittelt. »Ich habe ihn niemals richtig kennengelernt, und jetzt ist es zu spät dazu.

Aber ich vermisse ihn. Ich bin der letzte meines Geschlechts.

Der letzte der Todtsteltzer.«

»Das ist es nicht, was dich so wütend macht«, sagte Hazel.

»Du bist ärgerlich, weil du nicht mehr nach Hause zurückkehren kannst, seit Virimonde zerstört wurde. Du kannst niemals wieder in dein altes Leben zurück, und das ist alles, was du dir von dieser Rebellion je erhofft hast. Oder vielleicht nicht?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Owen. »Vielleicht. Ich wollte nie ein Krieger werden. Ich war glücklich als Gelehrter und Historiker, ohne Zwänge und ohne Verantwortung. Aber ich würde nicht mehr zurückkehren, auch dann nicht, wenn ich könnte. Ich habe zuviel gesehen. Und was David angeht… er war lästig wie ein Stein im Schuh, aber er hatte Talent. Ich hät-te ihn so viel lehren können… und jetzt ist er tot. Ermordet von Kit Sommer-Eiland. Vom gleichen grinsenden Bastard, der auch schon meinen Vater ermordet hat. Der Sommer Eiland gehört mir, ganz gleich, was dort unten geschieht.«

»Gut«, sagte Giles Todtsteltzer anerkennend. »Endlich fängst du an, wie ein echter Todtsteltzer zu reden. Du hast dich sehr verändert, Historiker.«

»Was kann ich schon dafür, daß mir nicht immer gefällt, was aus mir geworden ist?« sagte Owen. »Manchmal glaube ich, ich bin all das geworden, was ich immer verabscheut habe. Ein Mann der Gewalt, der von Rache getrieben wird. Nichts als ein weiterer Bauer in den Intrigen meines Vaters, mit dem Ziel, die Eiserne Hexe zu stürzen . Nichts als ein weiterer Barbar an den Toren des Imperiums.«

Peinliches Schweigen breitete sich aus, das erst durch ein dringliches Signal vom Holoschirm durchbrochen wurde. Giles schaltete auf Empfang, und der Anblick Golgathas verschwand und wich den Gesichtern Finlay Feldglöcks, Evangeline Shrecks und Julian Skyes. Die drei erweckten einen gehetzten Eindruck.

»Was hält Euch noch auf?« fragte Finlay , ohne sich mit Höf-lichkeitsfloskeln abzugeben. »Wir brauchen Euch hier unten , und zwar jetzt. Es steht gar nicht gut in der Hauptstadt, und das ist schließlich der Ort, auf die es im Grunde genommen an-kommt! Wir wissen nicht mehr, wer gewinnt und wer verliert, falls überhaupt jemand. Das reinste Chaos. Allein Eure Gegenwart wird unsere Kämpfer ermutigen. Ihr seid allesamt zu Helden geworden, zu lebenden Legenden, und das nicht zuletzt durch Tobias Shrecks Berichterstattung. Die Leute werden Euch folgen, wohin sie keinem von uns folgen würden.«

»Berichtet mehr über die Lage«, verlangte Giles. Er ließ sich nicht so leicht unter Druck setzen. »Wer hat im Augenblick die Oberhand?«

»Das hängt davon ab, mit wem Ihr redet«, antwortete Evangeline. »Der gesamte Regierungsapparat löst sich mit rasender Geschwindigkeit auf, und wir unternehmen alles in unserer Macht Stehende, um daraus einen Vorteil zu ziehen. Andererseits herrscht schon seit sehr langer Zeit ein sorgfältig ausba-lanciertes Gleichgewicht, und es hatte tatsächlich nur einen Funken gebraucht, um die Leute rebellieren zu lassen. Hätten wir früher gewußt, daß wir so kurz vor der offenen Rebellion gestanden haben, hätten wir selbst den Funken geliefert. Aber in den Straßen laufen immer noch verdammt viele Sicherheitsleute und Truppen herum, und sie sind ein gewaltiges Stück besser bewaffnet als unsere eigenen Leute. Deswegen brauchen wir Euch. Eure Fähigkeiten könnten die Wende einleiten. Gott allein weiß, daß wir eine brauchen. Wir kämpfen an so vielen Fronten, daß wir nicht imstande sind, einen echten Durchbruch zu erzielen.«

»Was ist mit den Hadenmännern?« mischte sich Owen in die Unterhaltung ein. »Ich mache mir ihretwegen Sorgen. Ich habe sie aus ihrem Schlaf geweckt, weil wir ihre Hilfe benötigten; aber sie waren immerhin die Offiziellen Feinde der Menschheit, bevor Shub den Titel errang. Benehmen sie sich denn?«

»Überraschenderweise ja«, sagte Julian Skye. »Ihre Schiffe greifen lediglich die Ziele an, die wir ihnen nennen, und ihre Bodentruppen sind ein wahrer Segen! Sie geben großartige Stoßtruppen ab. Die Hälfte der Zeit rennt die Armee lieber vor ihnen davon, anstatt sich zu stellen! Nicht, daß ich ihr daraus einen Vorwurf machen könnte. Aber alles in allem verhalten sich die aufgerüsteten Männer von Haden tadellos. Uns liegen sogar Berichte vor, daß sie Gefangene gemacht haben, anstatt alles zu töten, was sich bewegt. Das hat alle ziemlich überrascht. Am meisten natürlich die Gefangenen selbst. Vielleicht haben die Hadenmänner in ihrer Gruft ja endlich ihren Gott gefunden. Jedenfalls war das eine Eurer besseren Ideen, Owen Todtsteltzer.«

»Genau«, sagte Evangeline. »Und wenn Ihr jetzt zufrieden seid, können wir uns vielleicht wieder wichtigeren Dingen zuwenden? Womit ich das heillose Durcheinander in der Hauptstadt meine…«

»Schafft Eure kollektiven Hintern hier herunter«, sagte Finlay scharf. »Sofort. Wir dürfen die Stadt nicht verlieren!«

»Verstanden«, sagte Owen. »Wir sind gleich da. Schließlich sind wir nicht den ganzen weiten Weg gekommen, um das Fi-nale zu verpassen.«

Finlay nickte und schaltete ab. Das Bild ihrer besorgten Gesichter war kaum verblaßt, als ein anderes Signal hereinkam.

Alles in der Großen Halle richtete sich unwillkürlich auf, als ein neues Gesicht den Schirm ausfüllte. Zahlreiche Hände griffen instinktiv nach den Waffen. Der breite, zottelige Wolfs-kopf, der auf sie heruntersah, wurde von einer langen Schnauze voller messerscharfer Zähne und zwei dunklen, glänzenden Augen beherrscht, großen, intelligenten Augen von einer beinahe überwältigenden Wildheit. Es war der Wolfling, der letzte seiner Rasse und einziger Überlebender des ersten Experiments des Imperiums, eine überlegene Rasse von Kriegern zu erschaffen . Der letzte einer Rasse, die von einer ängstlichen Menschheit abgeschlachtet und ausgemerzt worden war . Einstiger Bewacher des Labyrinths des Wahnsinns, und jetzt Pro-tektor des schlafenden Dunkelzonen-Projektors. Giles grinste das vertraute Gesicht breit an.

»Wolf! Ich warte schon die ganze Zeit auf deinen Anruf!

Wann wirst du bei uns sein?«

»Ich werde nicht kommen«, erwiderte der Wolfling. Seine dunkle, tiefe Stimme klang wie ein Knurren; doch eine tiefe Traurigkeit und Erschöpfung darin nahm ihr viel von ihrem Schrecken. »Ich hab’s dir doch schon gesagt, Giles. Ich habe genug vom Kämpfen. Ich habe zuviel Tod und Zerstörung gesehen, um noch Freude daran zu empfinden. Die Löwenstein muß gestürzt werden, das weiß ich selbst. Aber sie wird fallen, ob ich nun dabei bin oder nicht. Du brauchst mich nicht mehr, Giles. Du bist inzwischen weit mächtiger als ich.«

»Aber… wir haben soviel Zeit mit Pläneschmieden und Diskussionen verbracht, wie wir die Eiserne Hexe stürzen können!

Tu mir das nicht an, Wolf! Laß mich nicht allein! Du bist mein ältester Freund und alles, was mir noch von den alten Tagen geblieben ist.«

»Darin haben wir uns schon immer unterschieden, Giles. Du willst dich an die Vergangenheit erinnern, und ich will sie vergessen. Laß ab von deinem Haß, Giles! Ich weiß alles über dieses Gefühl. Gib ihm zuviel Macht über dich, und es frißt dich auf, bis nichts mehr in dir ist außer Haß. Das ist keine Art zu leben. Tu, was du tun mußt, weil es das Richtige ist, und nicht, weil es dir Spaß macht. Ich bin müde, Giles . Ich lebe schon viel zu lange. Ich habe gesehen, wie sich das Imperium in etwas verwandelt hat, das ich nicht mehr wiedererkenne, und ich habe gesehen, wie meine Rasse ausgelöscht und zur Legende geworden ist. Ich glaube, es wird Zeit für mich, endlich loszulassen und ihr zu folgen.«

»Kann ich denn gar nichts für dich tun?« fragte Giles beinahe flehentlich.

»Doch«, erwiderte der Wolfling. »Du kannst die Löwenstein für mich töten. Was auch immer geschieht , ihr dürft sie auf gar keinen Fall entkommen lassen. Töte sie, Giles.«

»Ja«, sagte Giles. »Das kann ich für dich tun.«

Der Wolfling nickte mit seinem mächtigen zotteligen Kopf, und der Schirm wurde dunkel. Giles starrte sekundenlang auf die leere Fläche, und schließlich nickte er zögernd, als lausche er einer inneren Stimme, die nur er allein hören konnte. Er drehte sich zu den anderen um, und sein Gesicht war vollkommen gelassen und gefaßt, als erwartete er Kommentare der anderen wegen der Emotionen, die er gezeigt hatte. Als er dann redete, klang seine Stimme steif und formell.

»Die Fremdwesen«, sagte er. »Wir haben bisher noch kein Wort über die Fremdwesen verloren. Seit dem Angriff auf Golgatha wurde keines ihrer Schiffe mehr im Imperium gesich-tet; aber wir dürfen uns nicht erlauben , sie zu vergessen. Sie sind irgendwo dort draußen, und sie beobachten uns ohne Zweifel und schmieden ihre Pläne. Es ist lebenswichtig, daß wir die Rebellion so rasch wie möglich beenden, damit wieder Ordnung einkehrt. Wir dürfen uns nicht von einer angreifenden Streitmacht der Fremden überraschen lassen, während wir uneins und geschwächt sind.«

»Nicht zu vergessen Shub«, sagte Owen. »Vielleicht kommen die KIs auf die Idee, ihren Vorteil aus unserem Streit zu ziehen und starten einen eigenen Angriff, solange wir schwach sind.«

»Mein Gott, ihr seid vielleicht ein optimistischer Haufen!« sagte Ruby Reise. »Paßt auf, wir machen, daß wir nach unten kommen und die Schau über die Bühne bringen. Über Fremdwesen und KIs und Froschplagen können wir uns Gedanken machen, wenn sie auftauchen.«

»Genau«, stimmte Hazel ihrer Freundin zu. »Wir verschwenden hier nur unsere Zeit.«

»Eine gute Planung ist niemals Zeitverschwendung«, entgegnete Giles kalt. »Und jetzt paßt auf. Wir machen es folgender-maßen: Owen hat einige Nachforschungen angestellt und alte Aufzeichnungen des Imperialen Palasts studiert, aus der Zeit, als er gebaut wurde. Ich wußte immer, daß seine Erfahrungen als Historiker eines Tages gelegen kommen würden. Heutzutage gibt es nur noch einen Weg in den Palast, und das ist ein unterirdischer Zug, der von den Sicherheitssystemen des Palasts gesteuert und überwacht wird. Die Haltestellen sind streng bewacht, und die Waggons selbst sind mit tödlichen Gasdu-schen ausgerüstet – nur für den Fall. Allerdings hat Owen eine ganze Reihe alter Wartungstunnel entdeckt, die seit langem nicht mehr genutzt werden und die anscheinend in Vergessenheit geraten sind. Wir können die Tunnel benutzen und die Wachen umgehen. Auf diese Weise kommen wir unbemerkt in die Züge. Diese Aufgabe werden Owen, Hazel und ich übernehmen.«

»Halt, einen Augenblick!« meldete sich die KI Ozymandius in Owens Ohr. »Tut mir leid, wenn ich mich einmische, Boß, aber die Worte deines Vorfahren haben eine Datei in meinen Speichern zum Vorschein gebracht, die dein Vater dort abgelegt hat. Er wußte alles über die Züge und die Tunnel, und er hat mir sämtliche notwendigen Sicherheitskodes gegeben, mit denen du in den Zug und von dort aus in den Palast kommen kannst.«

»Bist du sicher?« fragte Owen unhörbar für die anderen.

»Wenn auch nur einer dieser Kodes falsch ist, sind wir alle tot.«

»Vertrau mir«, sagte die KI. »Es sind die richtigen Kodes.

Dein Vater hat weit vorausgeplant.«

Owen berichtete den anderen von seiner Unterhaltung mit Ozymandius, und eine unbehagliche Pause entstand. Owen hatte immer erklärt, daß er die verräterische KI Ozymandius mit Hilfe der Macht des Labyrinths völlig zerstört habe, als ihr Verrat offensichtlich geworden war. Ozymandius hatte versucht, Owen und Hazel mit Hilfe von eingepflanzten Kontrollworten dazu zu bringen, ihre Kameraden zu töten. Aber einige Zeit später war Ozymandius – oder irgend etwas, das behauptete, Ozymandius zu sein – wieder in Owens Kopf aufgetaucht.

Einzig und allein Owen konnte seine Stimme hören, doch die Informationen, die Ozymandius hin und wieder lieferte, hatten sich als absolut verläßlich herausgestellt. Und die restliche Zeit gab sich Owen alle erdenkliche Mühe, die KI zu ignorieren.

»Dein Vater hätte sicherlich versucht, Zugang zu diesen Kodes zu erhalten«, sagte Giles langsam. »Vermutlich könnte er sie tatsächlich in deiner KI versteckt haben, wo sie sicher waren. Wir haben keine Möglichkeit, das hier auszuprobieren. Ich schätze, wir werden die Wahrheit erfahren, wenn wir dort sind.

Ganz bestimmt würde es die Dinge ein gutes Stück einfacher machen. Selbst mit all unseren Fähigkeiten wird das Durchbrechen der Palaststation ein größeres Unternehmen. Wie es scheint, müssen wir Ozymandius vertrauen, ob wir nun wollen oder nicht, und egal wer oder was er auch immer in Wirklichkeit ist.«

»Na, dann danke ich auch schön«, murmelte Ozymandius in Owens Ohr. Owen verzichtete darauf, den Kommentar weiter-zugeben.

Hazel schüttelte den Kopf. »Großartig. Wir riskieren unser aller Leben auf eine Stimme in Owens Kopf hin, die nur er ganz allein hören kann! Was müssen wir für eine Zugabe tun?

Den Göttern ein Opfer bringen und unsere Zukunft aus den Eingeweiden lesen?«

»Bringt mich nicht in Versuchung«, sagte Giles. »Weiter im Text. Jakob Ohnesorg und Ruby Reise werden den Angriff gegen die Türme der Familien leiten. Wir benutzen Antigravschlitten und halten uns an den Plan, den der Untergrund ausgearbeitet hat. Für den Augenblick scheinen die Clans beschlossen zu haben, daß sie auf keiner der beiden Seiten stehen, aber das wird nicht mehr lange so bleiben. Die Ächtung von David und die drohende Mechanisierung ihrer Landwirt-schaftsplaneten hat sie mitten ins Herz getroffen; doch sie werden schon sehr bald begreifen, daß ihr finanzielles und gesellschaftliches Wohlergehen untrennbar mit dem Imperium und den augenblicklichen Strukturen verbunden ist. Eine erfolgreiche Rebellion durch die niederen Klassen würde für sie den größten denkbaren Alptraum bedeuten. Und angesichts der Gefahr, Reichtum und Einfluß zu verlieren, werden sie ihre Truppen schließlich zur Verteidigung der Imperatorin einsetzen, mit der Begründung, daß die verrückte Teufelin immer noch den Teufeln mit Blut in den Augen und Jahrhunderten des unterdrückten Grolls vorzuziehen ist. Im Augenblick reichen ihre Truppen vielleicht aus, um die Dinge zugunsten der Eisernen Hexe zu wenden. Und deshalb ist es lebenswichtig, daß wir sie in ihren Türmen festnageln, weitab vom Hauptschauplatz.

Sie müssen vollauf mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt sein, dann haben sie keine Zeit, sich um die Imperatorin zu kümmern . Ohnesorg, wir sind die logistischen Probleme mit dem Untergrund durchgegangen. Ihr wißt, was zu tun ist. Unmittelbar vor der Hauptstadt wartet eine ganze Flotte von Antigravschlitten darauf, daß Ihr sie anführt. Wie es scheint, haben sich die Rebellen tatsächlich darum gestritten, die Schlitten zu bemannen und Euch in ein Unternehmen zu folgen, das für die meisten den sicheren Tod bedeutet. Viele scheinen noch immer an den legendären professionellen Rebellen zu glauben. Ich bitte Euch nur um eins, Jakob: Während Ihr dort draußen seid und Euch damit vergnügt, Tod und Zerstörung auf die Köpfe der Lords herabregnen zu lassen, vergeßt bitte nicht, daß wir ein paar Überlebende brauchen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, sobald die Rebellion vorüber ist.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, erwiderte Ohnesorg gelassen. »Keine Versprechungen.«

Giles seufzte und schüttelte den Kopf. »Selbstverständlich wird Ruby Reise Euch begleiten – wenn auch nur aus dem einen Grund, daß sich außer Euch niemand in ihrer Umgebung sicher fühlt.«

»Du sagst immer so nette Sachen«, grinste Ruby.

»Ich gehe mit den beiden«, meldete sich Alexander Sturm entschlossen zu Wort. »Ich habe nicht die ganzen Jahre auf den Sturz der Familien gewartet, um jetzt nicht dabeizusein. Ich habe mein ganzes Leben lang hart gekämpft und gearbeitet, um ihren Untergang zu erleben, und ich will verdammt sein, wenn ich jetzt hierbleibe. Ich mag vielleicht nicht ganz so jung sein wie einige andere Leute hier; aber ich kann mein Päckchen immer noch ganz gut alleine tragen.«

»O ja«, sagte Ruby Reise. »Laß ihn mitkommen, sonst schmollt er noch die ganze Zeit.«

»Selbstverständlich kommst du mit uns, Alexander«, sagte Jakob Ohnesorg beruhigend. »Ich würde nicht einmal davon träumen, dieses Unternehmen ohne meinen alten Kameraden an meiner Seite zu beginnen.«

»Jetzt hast du schon wieder alt gesagt!« beschwerte sich Sturm.

»Schon gut. Was hältst du von antik?« erkundigte sich Ruby.

»Ruby…!« sagte Ohnesorg.

Sie rümpfte hörbar die Nase und wandte sich wieder ihrer Nagelpflege mit Hilfe des Dolches zu. Ruby hatte sich damit abgefunden, daß Jakob Ohnesorg eine Schwäche für seinen Freund Sturm besaß. In seinen Augen war Sturm noch immer der alte, jung und kühn und geistesgegenwärtig und ein höllischer Kämpfer mit dem Schwert in der Hand. Er konnte anscheinend nicht akzeptieren, daß Sturm nicht wieder jung und stark geworden war wie er selbst. Ruby beschloß, ein wachsames Auge auf Sturm zu haben. Es war ihr völlig egal, wenn er getötet werden sollte; aber sie wollte verdammt sein, wenn sie zuließ, daß er Jakob mit ins Verderben zog. Wahrscheinlich war es sogar das beste, wenn Sturm gleich zu Beginn der Kämpfe von einer verirrten Kugel erwischt werden würde…

Niemand würde wissen, woher die Kugel gekommen war, wenn die Kämpfe erst einmal losgegangen waren. Selbstverständlich würde sie vorsichtig zu Werke gehen müssen. Falls Jakob jemals dahinterkommen würde… Ruby Reise legte die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach.

»So, nachdem wir das jetzt erledigt haben«, fuhr Giles fort, und alle Augen richteten sich wieder auf ihn, »kommen wir zu dem jungen Jakob Ohnesorg. Ihr werdet auf dem freien Feld landen und Euch mit Finlay Feldglöck und Julian Skye zu-sammenschließen . Euer Ruf wird ihre Leute motivieren und den Verteidigern eine Heidenangst einjagen. Eure Aufgabe wird es sein, die Kommandozentrale der Sicherheitstruppen in der Hauptstadt einzunehmen und zu halten. Sie verfügen noch immer über ein paar offene Kommunikationskanäle, und das heißt, daß sie als einzige in der Lage sind, die Verteidigung der Stadt zu organisieren. Sobald sie aus dem Verkehr gezogen sind, werden die Sicherheitstruppen auseinanderfallen, und wir können die Hauptstadt im Sturm erobern. Nachdem wir sie eingenommen haben, steht nur noch die Imperatorin selbst zwischen uns und der Kontrolle Golgathas. Und von Golgatha aus werden wir das neue Imperium errichten. Wie einst Phönix aus der Asche.«

»Blablabla«, sagte Hazel. »Laßt uns endlich anfangen. Spar dir deine aufmunternden Worte, Giles. Wir alle wissen sehr gut, aus welchem Grund wir hier sind. Und wenn ich dich daran erinnern darf: Die Rebellion ist noch lange nicht vorbei. Im Augenblick sind wir nichts weiter als eine Handvoll Terrori-sten, auf deren Köpfe hohe Belohnungen ausgesetzt sind.«

»Worauf wollt Ihr hinaus?« fragte Giles eisig.

»Daß wir einen Schritt nach dem anderen machen sollten.

Wir können immer noch von der Zukunft träumen, wenn wir die Gegenwart unter Kontrolle gebracht haben. Ich will nicht, daß irgendeiner von uns in den Rücken geschossen wird, weil wir zu viel davon geträumt haben, das Imperium zu regieren, statt unserer Umgebung die erforderliche Aufmerksamkeit zu widmen.«

»Keine Sorge, Hazel«, sagte Jung Jakob Ohnesorg gelassen.

»Wir werden gewinnen. Wir sind Helden. Es ist unsere Bestimmung.«

»Irgend jemand soll ihm den Mund stopfen, bevor ich kotzen muß«, knurrte Hazel. »Ich bin keine Heldin, und ich war nie eine. Helden neigen zu einem ruhmreichen, schmerzhaften und ziemlich plötzlichen Tod, und dann errichten die Überlebenden Statuen zu ihren Ehren. Ich persönlich bin mehr am Überleben als an einer Statue interessiert.«

»Ganz genau«, sagte Ruby Reise. »Außerdem haben wir noch kein Wort über die Beute verloren. Können wir vielleicht jetzt darüber reden?«

»Irgend jemand soll ihr den Mund stopfen«, sagte Giles. »Ich bekomme Kopfschmerzen. Kommen wir abschließend zu…«

»Wurde ja auch allmählich Zeit, daß wir zu meiner Person kommen«, sagte Johana Wahn und schnitt eine wütende Grimasse. »Ich habe schon geglaubt, Ihr hättet mich ganz vergessen.«

»Das war leider nicht möglich«, erwiderte Giles. »Ihr werdet den Einsatz der Esper auf der gesamten Oberfläche des Planeten koordinieren und zwischen den verschiedenen Rebellengruppierungen vermitteln. Die Esper werden Euch ohne Zweifel überall hin folgen. Ihr seid für sie das gleiche wie die beiden Ohnesorgs für die normalen Rebellen. Also versucht bitte, Eure Leute unter Kontrolle zu halten. Esper können gewaltige Schäden anrichten, wenn sie alle das gleiche Ziel im Auge haben, und das letzte, was wir gebrauchen können, sind durch-drehende Esper überall auf dem Planeten.«

»Ihr seid anmaßend«, sagte Johana Wahn. »Ihr habt hier schließlich nicht das Kommando. Am Ende wird es der Untergrund sein, der diesen Krieg gewinnt, und der Untergrund wird entscheiden, was nach Löwensteins Imperium kommt. Wir haben uns seit Jahrhunderten auf diesen Tag vorbereitet. Esper, Klone, Anhänger und Freunde. Wir lassen uns nicht im Augenblick unseres Triumphs von einer Bande von Neuankömmlingen zur Seite wischen, auch nicht, wenn sie allesamt Helden und Legenden sind, und…«

»Wir können uns später streiten, wer die Verantwortung für den Sieg trägt«, unterbrach Jakob Ohnesorg entschlossen die Anfänge einer drohenden längeren Tirade. »Zuerst einmal müssen wir den Sieg erringen. Laßt uns anfangen, Leute. Es ist Zeit, daß wir an die Arbeit gehen.«

»Genau«, sagte Hazel.

Owen grinste die anderen der Reihe nach an. »Wir sehen uns in der Hölle wieder.«

Im riesigen Imperialen Palast unter der Oberfläche von Golgatha wurde die Hölle, in die Löwenstein ihren Hof verwandelt hatte, von Sekunde zu Sekunde schlimmer. Die Umgebung veränderte sich von einem Augenblick zum anderen. Sie re-flektierte die ständig schlechter werdende Stimmung der Eisernen Hexe. Die Unterwelt wurde immer furchteinflößender. Das Licht war jetzt mehr purpurn als rot, und es verdrängte alle anderen Farben. Der Gestank nach Schwefel war beinahe überwältigend. Es gab auch andere Gerüche: Urin, Kot und Blut, und der Duft von Angst. Fledermausflügelige Gestalten schwebten träge durch den Raum wie dunkle Schatten . Sie waren zu weit entfernt, um sie deutlich zu erkennen. Wie glühende Ascheflocken, die aus den Tiefen der Hölle ausgespuckt worden waren.

Die Jungfrauen drängten sich am Fuß des Eisernen Throns, und sie sahen dämonischer aus als je zuvor. Der offene Hof selbst war gesäumt von Reihen um Reihen gepfählter Männer und Frauen. Es waren so viele, daß Dram annahm, es handele sich um Hologramme, doch er fragte nicht nach. Er wollte es gar nicht wissen . Die Schreie jedenfalls klangen real Dram stand, wo man ihm zu stehen befohlen hatte: neben dem Eisernen Thron, und er tat sein Bestes, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Die Löwenstein war zu unruhig, um noch länger auf ihrem Thron zu sitzen. Ruhelos wanderte sie vor dem Thron auf und ab und brüllte Befehle zu den Leuten auf den schwebenden Holoschirmen. Noch hatte sie sich unter Kontrolle; doch ihre Wut stieg mit jedem Bericht über einen Sieg der Rebellen oder einen Rückschlag der Imperialen. Für die Löwenstein war die Auseinandersetzung längst kein politischer Kampf mehr, bei dem es um die Kontrolle über das Imperium ging. Sie fühlte sich persönlich angegriffen . Alle waren hinter ihr her . Sie konnte niemanden mehr vertrauen . Jedes Versagen ihrer Truppen war ein Betrug an ihr . Sie erteilte endlose Serien von Befehlen, und manchmal widersprach sie sich selbst. Dram sagte nichts zu alledem. Angesichts so vieler Angriffe von so vielen Seiten gleichzeitig drohte die sprichwörtliche Selbstbeherrschung der Löwenstein zum ersten Mal zu zersplittern.

Sie hatte Valentin Wolf zu sich zitiert, und er stand geduldig vor dem Thron und vergiftete die Atmosphäre allein durch seine Anwesenheit und dadurch, daß ihm dieses Gefühl auch noch Freude zu bereiten schien. Seine langen schwarzen Locken waren frisch geölt und fielen in kunstvoller Unordnung über die Schultern. Die maskarageschminkten Augen leuchteten fieberhell aus dem totenbleichen Gesicht. Das purpurne Grinsen wirkte breiter denn je zuvor. Fast beiläufig riß er irgendeinem kreischenden schwarzen Ding in der Hand die Beine aus.

Dram hoffte nur, daß es ein Insekt war. Valentin Wolf war in die Hölle gekommen, und er sah aus, als fühlte er sich hier wie zu Hause.

Dram stand ihm direkt gegenüber – nicht, weil er es sich ausgesucht hätte, sondern weil die Löwenstein ihm nicht die Erlaubnis gegeben hatte, sich zu bewegen . Offiziell war er noch immer Befehlshaber der Imperialen Sternenflotte – soweit die Löwenstein ihn ließ . Er hatte sein Bestes gegeben, doch Mangel an Erfahrung hatten sein Verständnis und seine Möglichkeiten stark eingeschränkt. Den größten Teil der Zeit ging alles viel zu schnell für ihn, um mit der Entwicklung Schritt zu halten. Die Flotte war über das gesamte Imperium zerstreut, und die zunehmend isolierten Schiffe waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich gegen die Hadenmänner und gegen die eigenen meuternden Besatzungen zur Wehr zu setzen, um ihm und seinen Befehlen großartige Aufmerksamkeit zu widmen – selbst dann, wenn der Hohe Lord Dram sinnvolle Befehle erteilt hät-te. Plötzlich blieb die Löwenstein stehen und wirbelte zu den beiden Männern herum.

»Ihr beide! Wir sollten Euch beide exekutieren lassen! Das ist alles Eure Schuld! Wir hatten alles unter Kontrolle, bis Ihr auf Virimonde durchgedreht seid! Ihr hattet lediglich Befehl, einen unbedeutenden Hinterweltplaneten zu befrieden, und was habt Ihr gemacht? Ihr seid wie besessen durch die Gegend gerannt und habt alles niedergemetzelt, was Euch vor die Waffen kam! Ihr verdammten Dummköpfe! Selbst ein vollautomatischer Planet braucht ein paar Leute zum Arbeiten! Welchen Sinn macht es Eurer Meinung nach, Imperatorin zu sein, wenn man keine Bauern mehr hat, über die man regieren kann?«

Sowohl Dram, als auch der Wolf hatten sich auf Virimonde genau an die Befehle der Löwenstein gehalten; aber keiner von beiden war so dumm, sie jetzt daran zu erinnern. Die Löwenstein funkelte sie an, und ihre Jungfrauen regten sich unruhig, als sie die Stimmung ihrer Herrin spürten. Dram fühlte, wie ihm der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre davongerannt. Aber die Jungfrauen hätten ihn sofort gepackt und niedergerissen, bevor er noch ein Dutzend Schritte weit gekommen wäre. Außerdem wußte er nicht, wohin er hätte rennen sollen. Seit Virimonde hatte er nirgendwo mehr Freunde. Nicht, daß er auch nur einen einzigen köstlichen Augenblick auf Virimonde bereute, nein. Er hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Nein, ob gut oder schlecht, sein Schicksal war untrennbar mit dem der Löwenstein verbunden, der Frau, die ihn aus den Zellen seines toten Originals geklont hatte.

»Wir müssen Euch nach draußen schicken, um Uns zu verteidigen«, sagte die Imperatorin schließlich, nachdem sie einen Teil ihrer Selbstbeherrschung wiedergewonnen hatte. »Ihr seid alles, was Uns noch geblieben ist. Valentin, Ihr übernehmt die Kontrolle über sämtliche Kriegsmaschinen, die gegenwärtig auf Golgatha stationiert sind. Es sind Gott weiß nicht viele, aber seht, was Ihr mit ihnen erreichen könnt. Die meisten Unserer wunderbaren Zerstörungswerkzeuge befinden sich noch immer auf Virimonde, und bis Wir sie hierher zurückbeordert haben, ist der Kampf längst entschieden, auf die eine oder andere Art und Weise. Also verschwendet sie nach Möglichkeit nicht.

Dram, Euch wünschen Wir oben auf der Oberfläche. Ihr werdet Unsere Truppen persönlich anführen. Sie werden dem Obersten Krieger folgen. Wir übergeben Beckett den Befehl über die Flotte. Er hat recht gehabt, der verdammte Kerl. Er besitzt als einziger die Erfahrung. Wir können nur hoffen, daß der Bastard loyal bleibt.«

»Ich habe mein Bestes getan«, sagte Dram vorsichtig , »und ich bin sicher . Euer Majestät können darauf vertrauen , daß auch General Beckett sein Bestes geben wird.«

»Hübsch gesagt« , spottete Valentin. »Höflich und aufmunternd , aber leider ohne jegliche Bedeutung. Falls wir diese Geschichte überleben , habt Ihr sicherlich eine strahlende Zukunft als Höfling vor Euch.«

»Mir gefällt der Gedanke nicht . Euer Majestät hier ohne Verteidigung zurückzulassen« , sagte der Hohe Lord Dram , wobei er die letzte Bemerkung des Wolfs geflissentlich ignorierte.

»Investigator Razor und Lord Sommer-Eiland warten bereits in Unserem Vorzimmer auf Uns« , sagte die Imperatorin. »Und außerdem sind… auch noch andere auf dem Weg. Und jetzt verschwindet aus Unseren Augen. Alle beide. Wagt nicht, Uns zu enttäuschen!«

»Das würde ich niemals wagen«, murmelte Dram. Gemeinsam mit Valentin verbeugte er sich tief vor dem Thron, und sie brachen auf. Beim Hinausgehen trafen sie auf Razor und Kid Death, doch sie hielten den Blick vorsichtig geradeaus gerichtet. In ihrem gegenwärtigen Zustand mochte die Löwenstein bereits einen unverfänglichen Seitenblick als ein Zeichen von Verrat interpretieren. Dram und der Wolf passierten die große Hügeltür des Hofs und ließen die Hölle hinter sich. Sie bewegten sich so schnell, wie sie es in Gegenwart der Löwenstein nur wagten.

Investigator Razor und Lord Kit Sommer-Eiland näherten sich dem Thron ein wenig langsamer. Sie blieben in sicherer Entfernung vor den Jungfrauen stehen und verbeugten sich respektvoll vor der Imperatorin. Als sie die Köpfe wieder hoben, stellten sie zu ihrer Bestürzung fest, daß die Löwenstein sie anlächelte . Man erzählte sich, daß die Imperatorin immer dann am gefährlichsten war, wenn sie lächelte. Ihr Sinn für Humor war… anders als der anderer Menschen. Razor und der Sommer-Eiland blieben unverwandt stehen und ließen sich nichts anmerken. Sie achteten darauf, die Hände weit weg von den Griffen ihrer Waffen zu halten, die zu tragen die Eiserne Hexe ihnen befohlen hatte.

»So so«, sagte die Löwenstein leichthin. »Unsere beiden Lieblingskiller. Wie schön. Razor, Wir sollten eigentlich böse mit Ihm sein. Wir haben Ihn ausgeschickt, um in Unserem Namen die Nebelwelt zu erobern, und Er hat versagt. Aber es war nicht wirklich Seine Schuld. Viele Unserer Leute versagten bei dieser Mission, doch Er blieb Uns treu. Und Kit Death, Unser lächelnder Assassine. Er brachte Uns den Kopf des jungen Todtsteltzers – die einzig gute Sache, die bei diesem Debakel herausgekommen ist. Er hat Uns schon immer die hübschesten Geschenke gebracht, Sommer-Eiland. Wir haben den Kopf hier auf einem Pfahl… irgendwo.

Es ist schön, daß Ihr beide wieder hier bei Uns seid. Es ist gut, Leute um sich zu haben, auf die man sich verlassen kann.

Eure Pflichten hier sind einfach. Ihr werdet Uns vor jeglicher Gefahr beschützen. Die Chancen, daß irgendeiner der Rebellen so weit vordringen kann, sind verschwindend gering, ganz besonders seit Wir die zusätzlichen ESP-Blocker installiert haben. Allerdings scheint es, als könnten Wir Uns nicht mehr länger darauf verlassen, daß alle Unsere Leute ihre Pflicht er-füllen. Zwischen der Oberfläche und Unserem Palast gibt es sehr viele Verteidigungsringe, nicht alle von ihnen menschlicher Natur, und Wir selbst sind ebenfalls nicht vollkommen hilflos… aber Wir werden Uns besser fühlen, wenn Ihr beide über Unsere Sicherheit wacht. Irgendwelche Kommentare?

Vergeßt nicht, daß sie besser äußerst konstruktiv sein sollten, wenn Ihr Eure Köpfe behalten wollt.«

»Es ist wie immer eine Ehre, Euer Majestät dienen zu dürfen«, sagte Razor glatt. »Ich bin sehr stolz auf das Vertrauen, das Euer Majestät mir geschenkt haben. Allerdings denke ich, ich sollte darauf hinweisen, daß mein Schwert völlig ausreichend ist zu Euer Majestät Schutz. Ich sehe wirklich keinen Anlaß, den Sommer-Eiland ebenfalls herzurufen. Ich bin seit vielen Jahren ein Mann des Kampfes. Der junge Lord ist bestenfalls ein begabter Amateur, weiter nichts.«

»Ein außergewöhnlicher Amateur mit einer beispiellosen Serie von Erfolgen ist wahrscheinlich besser als ein müder alter Mann, den man aus dem Ruhestand geholt hat«, entgegnete Kit gelassen. »Schickt diesen versteinerten Greis weg, Euer Majestät. Ihr braucht ihn nicht, solange ich da bin, und ich möchte nicht auf ihn aufpassen müssen, solange ich Euer Leben verteidige, Hoheit.«

»Ihr müßt Euch nicht mögen«, sagte die Löwenstein. »Erledigt Eure Arbeit, mehr nicht. Und kommt Unseren Jungfrauen nicht zu nah. Wir haben sie schon längere Zeit nicht mehr ge-füttert.« Sie strahlte ihre beiden Verteidiger liebevoll an. »Und macht Euch keine Gedanken, o Ihr loyalsten Unserer Untertanen. Sobald dieser Unsinn erst einmal vorüber und die Ordnung wiederhergestellt ist, was unzweifelhaft geschehen wird, versprechen Wir Euch, daß Ihr soviel zu töten bekommen werdet, wie Ihr nur wollt. Die Exekutionen werden Tag und Nacht weitergehen, und Blut wird in Strömen durch die Straßen fließen.«

Sie wandte sich von den beiden ab, ignorierte ihre tiefen Verbeugungen und schaltete die Holoschirme wieder ein. Die Nachrichtenkanäle brachten die neuesten Meldungen. Die Rebellen ließen die militärischen Frequenzen noch immer genauso schnell zusammenbrechen, wie neue errichtet werden konnten; doch die Nachrichtenkanäle ließen sie unangetastet. Sie wollten, daß die Menschen sahen, was geschah. Auf sämtlichen Schirmen waren jetzt verschiedene Nachrichten aus der ganzen Welt zu sehen; doch die meisten konzentrierten sich auf die Hauptstadt, wo die wirklich wichtigen Kämpfe tobten.

Gehetzte Stimmen sprudelten aus den Lautsprechern laut, schrill, beinahe hysterisch. Von Hunderten verschiedener Welten gleichzeitig trafen Nachrichten über die Rebellion ein, und die Nachrichtensender überschlugen sich fast, um am Ball zu bleiben. Die Löwenstein musterte einen Schirm nach dem anderen in dem Bemühen, einen Überblick über die Lage zu gewinnen. Sie vertraute nicht einmal mehr den Berichten ihrer eigenen Sicherheitsleute.

Die Bildschirme waren voll von Blutvergießen und von Ge-bäuden und ganzen Straßenzügen, die in Flammen aufgingen.

Die Bilder wurden nur hin und wieder von Reportern und gehetzten Kommentatoren unterbrochen. Ihre Gesichter waren hektisch, und sie redeten zu schnell. Keiner von ihnen hatte je eine Geschichte wie diese hier erlebt, und weil soviel zur gleichen Zeit geschah und das meiste davon auch noch live ausgestrahlt wurde, gab es nur noch wenig oder gar keine Zensur mehr. Berauscht von der erschreckenden Wahrheit schlugen die Nachrichtenredaktionen jegliche Vorsicht in den Wind und brachten alles, was an Meldungen einging, ganz gleich, was sie besagten oder aus welchen Quellen sie stammten . Kommentatoren sagten zum ersten Mal im Leben das, was sie wirklich dachten, und wie es schien, konnten sie gar nicht genug davon kriegen. Genausowenig wie die Zuschauer, wenn man den letzten Erhebungen glauben durfte.

Es sah aus, als würde jeder, der nicht draußen in den Straßen war und an den Kämpfen teilnahm, zu Hause am Bildschirm kleben und die Geschehnisse von dort aus verfolgen . Das hier sei erlebte Geschichte, sagten die Nachrichtensender, und zum ersten Mal übertrieben sie nicht damit . Löwenstein erblickte ein vertrautes Gesicht und stolzierte zu dem Schirm, auf dem es zu sehen war. Tobias Shrecks fettes, schwitzendes Gesicht starrte auf sie herab. Hinter ihm herrschte Chaos. Menschen mit Waffen in den Händen rannten hin und her. Dichter fetter Rauch hing in der Luft. Er stammte aus einem halbzerstörten, verrußten Gebäude im Hintergrund. Eine Gruppe von Soldaten in zerrissenen, blutigen Uniformen rannte in wilder Flucht vorüber und brachte die Kamera zum Schwanken. Das Gesicht des Shrecks war rußverschmiert, und seine Kleidung war ruiniert.

Er mußte schreien, um sich über all dem Lärm ringsum verständlich zu machen.

»Hier ist Tobias Shreck für die Imperialen Nachrichten. Ich berichte aus dem Zentrum von Parade der Endlosen, der Hauptstadt Golgathas. Rebellenstreitkräfte stehen im Begriff, die gesamte Stadt zu überrennen, und sie treiben dezimierte und demoralisierte Imperiale Truppen vor sich her. Das Gemetzel ist unbeschreiblich. Überall liegen Leichen. Die Verwundeten bleiben auf den Straßen liegen und sterben, weil in den Krankenhäusern kein Platz mehr ist. Zivilisten und Unbeteiligte rennen um ihr Leben. Es sieht so aus, als wäre es nirgendwo mehr sicher. Die Imperialen und die neu hinzuge-kommenen Kriegsmaschinen behandeln jeden als Feind, der nicht zu ihnen gehört. Sicherheitskräfte zerren Zivilisten auf die großen Plätze und exekutieren sie als Warnung für andere, die Rebellion nicht zu unterstützen, und wenn überhaupt, dann erreichen sie damit nur das Gegenteil. Die Rebellen werden überall als Befreier begrüßt. Die Imperatorin hat erst vor kurzem eine ganze Horde der schrecklichen Grendels auf die Straßen losgelassen. Niemand weiß, wie viele Zivilisten durch sie den Tod gefunden haben. Die Leichenteile sind zu beschädigt, um eine Zählung zu ermöglichen. Heldenhafte Esper der Untergrundbewegung haben die Fremdwesen schließlich gestellt und sie besiegt. Dieses wahnsinnige Blutvergießen auf Geheiß der Imperatorin scheint auf zunehmende Verzweiflung hinzu-deuten, aber was noch erschreckender ist: Die Sicherheit ihrer Untertanen bedeutet Löwenstein offensichtlich überhaupt nichts mehr.«

»Dieser fette Verräter!« keifte die Löwenstein und schaltete den Sender ab. Ihre Augen drohten vor Wut aus den Höhlen zu quellen. »Das kostet ihn den Kopf! Wie kann er es wagen?«

Sie rannte von Schirm zu Schirm und funkelte die Bilder an, als könnte sie sie auf diese Weise zwingen, gute Nachrichten zu verkünden . Doch es war überall das gleiche. Menschen kämpften in anonymen Straßen, und im Hintergrund immer nur Rauch und Feuer. Schreie und Flüche und sich widersprechen-de Befehle allerorten, blitzende Schwerter und Äxte, und überall spritzte Blut. Energieschirme summten, Disruptoren brüllten. Schnelle Schwenks auf Trümmerhaufen, die einmal Häuser gewesen waren, und auf wildäugige Kinder voller Entsetzen, die in ihrem eigenen Blut und in dem anderer lagen. Frauen, die über reglosen, zerfetzten Körpern weinten. Schlaffe Gestalten, die an Laternenmasten baumelten, einige davon in Uniformen, andere in Zivilkleidung.

Die Nachrichtensprecher wurden von den Geschehnissen mitgerissen, und sie hatten jeden Versuch aufgegeben, ruhig und gelassen zu klingen. Ihre Aufregung und Fassungslosigkeit nahm von Minute zu Minute zu, während sie an Wassergläsern nippten, um die heiseren, überanstrengten Stimmen zu schmieren. Die ersten Berichte von größeren Siegen der Rebellen kamen herein. Anfangs waren es nur Städte, dann Kolonien und schließlich ganze Welten, die sich vom Imperium lossagten oder ihm entrissen wurden. Es fing an den Rändern an und breitete sich von dort zum Zentrum hin aus. Einige noch immer regierungstreue Sender schalteten lieber ab, als derartige Nachrichten zu zeigen. Andere wurden von den siegreichen Rebellen übernommen. Die Löwenstein schaltete die von ihnen ge-sendeten Nachrichten aus; doch es wurde von Minute zu Minute schwieriger, Nachrichten zu finden, die das berichteten , was sie hören wollte. Schließlich schaltete sie sämtliche Bildschirme aus und kreischte in ihr Komm-Implantat nach General Beckett. Sein Bild erschien auf einem Schirm, der unmittelbar vor Löwensteins Gesicht schwebte. Er sah erschöpft aus. Die obersten Knöpfe seiner Uniform standen offen.

»Was wollt Ihr, Löwenstein? Ich bin beschäftigt

»Wage Er nicht, auf diese Weise mit Uns zu reden!« fauchte sie ihn an. »Er spricht mit seiner Imperatorin! Wir haben neue Befehle für Ihn, die augenblicklich in Kraft treten . Er hat alle Planeten zu finden, die von rebellischen Kräften kontrolliert werden, und sie zu sengen! Einen nach dem anderen. Er ist nicht autorisiert, Kapitulationen anzunehmen. Wir wollen diese Welten tot und ohne jegliches Leben.«

Beckett starrte sie reglos vom Schirm her an. »Und die Milliarden von Unschuldigen, die sterben würden?«

»Sie sind entbehrlich. Sie hätten härter gegen die Rebellen kämpfen sollen. Bestätige Er seine Befehle, General!«

»Ich bedaure, aber das kann ich nicht, Euer Hoheit. So leid es mir tut. Die Überreste der Flotte werden ununterbrochen von den Hadenmännern angegriffen. Viele meiner Schiffe wurden vernichtet oder geentert. Die wenigen Überlebenden sind viel zu weit verstreut, um sie zurückzurufen. Wir haben nirgendwo genügend Schiffe, um auch nur eine einzige Welt zu sengen.

Wir müssen mit allem kämpfen, was wir besitzen, um wenigstens zu überleben, Majestät. Ich schätze, daß mehr als vierzig Prozent Eurer Flotte entweder zerstört wurden oder in die Hän-de des Feindes gefallen sind.«

Die Löwenstein verlor die Fassung. Sie schrie und tobte und schleuderte Flüche in Becketts ungerührte Gesicht. Sie drohte ihm mit Degradierung und Arrest und standrechtlicher Erschießung, falls er sich weigerte, ihre Befehle auszuführen, und er schwieg einfach. Schließlich gewann sie ihre Selbstbeherrschung teilweise wieder und stand schwer atmend und mit ge-ballten Fäusten vor den Schirmen. Beckett wartete geduldig, bis sie wieder zu Atem gekommen war. Die Löwenstein fixier-te ihn mit einem eiskalten Blick.

»Also schön, General. Erneut werden Wir von denen enttäuscht, denen zu vertrauen Wir gezwungen sind. Neue Befehle, General. Sämtliche Sternenkreuzer haben augenblicklich zurückzukehren, um die Heimatwelt zu schützen. Keine Ausreden, keine Entschuldigungen. Wir verlangen einen Schild von Schiffen rings um Golgatha. Niemand darf passieren. Was auch immer geschieht, die Heimatwelt darf unter keinen Um-ständen fallen. Hat Er verstanden, General?«

Beckett seufzte schwer. »Löwenstein, es ist vorbei. Wir sind zu weit entfernt. Selbst wenn wir die Menschen, die wir vor den Hadenmännern schützen, im Stich lassen würden… Bis wir uns an ihren Schiffen vorbeigekämpft hätten, wäre auf Golgatha längst alles vorüber. Daran ändert auch Euer Geschrei nichts. Ich kann Euch nicht mehr helfen. Meine besten Wünsche für Euch und Eure persönliche Sicherheit. Ich kann nichts mehr für Euch hin, so leid es mir tut. Lebt wohl, Löwenstein.«

»Verräter!« keifte die Löwenstein, und dann war Becketts Bild vom Schirm verschwunden. Sie atmete schwer und mit weit aufgerissenen Augen, doch ihr Blick war in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Dann rannte sie hektisch zwischen den schwebenden Bildschirmen hin und her und rief die einzelnen Kapitäne ihrer Schiffe persönlich an. Viele antworteten nicht, aus dem einen oder anderen Grund, und wer auf ihren Ruf reagierte, konnte ihr nicht helfen. Alle hatten ihre eigenen Probleme. Löwenstein sparte sich die neuen E-Klasse-Schiffe bis zum Schluß auf. Sie waren ihr ganzer Stolz und ihre Freude. Und nur eines von ihnen antwortete. Die Ausdauer.

Die Brücke stand in Rammen. Alarmsirenen und Warnmel-dungen dröhnten durch das Schiff. Besatzungsmitglieder saßen zusammengesunken in ihren Sitzen und bedienten die noch intakten Kontrollen mit verzweifelter Konzentration. Zahlreiche gebrüllte Befehle und Antworten waren über den allgemeinen Lärm hinweg kaum zu verstehen, und nur die Schreie der Verletzten drangen durch. Überall auf der Brücke lagen Leichen. Einige verkohlte Gestalten saßen noch immer vor ihren explodierten Konsolen . Rauch stieg schneller auf, als die Ven-tilatoren ihn abtransportieren konnten. Verwundete schluchzten und stöhnten, und niemand fand die Zeit, sich um sie zu kümmern. Die Löwenstein schrie nach einem Offizier , der Bericht erstatten sollte, und nach einiger Zeit tauchte ein zerzauster Unteroffizier vor der Kamera auf. Einer seiner Uniformärmel war schwarz und verbrannt und qualmte noch, als hätte er das Feuer erst wenige Minuten zuvor erstickt, und das Haar auf einer Seite des Kopfs war weggebrannt. Sein halbes Gesicht bestand aus rohem, wütend leuchtendem Fleisch. Er riß sich zusammen und nahm eine Art Haltung an, bevor er salutierte .

Seine Augen blickten wild und panisch wie die einer Kreatur, die von einem Waldbrand überrascht worden ist . Die Löwenstein funkelte ihn an.

»Wer ist Er? Wo steckt der Kapitän? Was geht auf der Ausdauer vor?«

»Navigationsoffizier Robert Feldglöck, Euer Hoheit. Der Kapitän ist tot. Wir werden von drei Schiffen der Hadenmänner angegriffen. Wir sind schneller als sie, aber die Hadenmänner besitzen bessere Waffen und Schilde. Unsere eigenen Schilde brechen jeden Augenblick zusammen. Wir haben eins der Ha-denmannschiffe kampfunfähig geschossen; aber das hat unsere Energiereserven beinahe vollständig erschöpft. Überall an Bord bricht die Spannung zusammen. Aber wir geben nicht auf, Euer Majestät. Wir werden kämpfen, bis sie das Schiff in Fetzen geschossen haben. Wenn schon nichts anderes, so werden wir Euch Zeit verschaffen.«

Eine schwere Explosion ließ die gesamte Brücke erzittern .

Die Hülle war durchschlagen worden. Luft und Rauch Schossen kreischend aus dem rasch größer werdenden Loch.

Wer nicht an seinem Sitz festgeschnallt war, klammerte sich mit aller Kraft an Armlehnen, Streben und Kontrollpulte, um nicht weggerissen zu werden. Die Beleuchtung flackerte und erlosch und wich dem düsteren Rot der Notbeleuchtung. Jetzt schrillte nur noch eine Sirene, aber sie klang laut und durchdringend – fast wie eine Seele, die im Begriff stand, in die ewige Dunkelheit zu stürzen. Robert Feldglöck klammerte sich an den Bildschirm und schrie irgend etwas, aber er hatte nicht mehr genug Luft in den Lungen. Er stieß sich vom Schirm ab und zog sich quer über die verwüstete Brücke zum Notausgang. Rings um ihn herum explodierten die Konsolen eine nach der anderen und schleuderten ihre totes Bedienungspersonal durch die Luft oder zerrissen es an Ort und Stelle. Und dann erlosch der Schirm schlagartig, und Stille kehrte ein. Die Löwenstein starrte noch eine ganze Weile reglos auf den dunklen Schirm.

»Ein tapferer Bursche«, sagte sie schließlich. »Vielleicht hät-te ich ihm das Kommando übergeben sollen. Und meine schöne Ausdauer ist zerstört. Sie war das beste von allen E-Klasse-Schiffen. Sie sollte eigentlich unbesiegbar sein.«

»Ehrlich gesagt«, meldete sich Razor offensichtlich unbewegt zu Wort, »ehrlich gesagt glaube ich nicht, daß die Konstrukteure dabei an die Schiffe der Hadenmänner gedacht haben. Immerhin waren drei der legendären goldenen Schiffe von Haden erforderlich, um ein einziges E-Klasse-Schiff zu zerstören.«

»Es war auch nicht das Schiff, das Uns enttäuscht hat«, sagte die Löwenstein mit sichtlich besserer Stimmung als noch Augenblicke zuvor. »Es war die Besatzung! Feiglinge, Verräter und Inkompetente! Gibt es denn niemanden mehr, dem Wir vertrauen können?«

Kid Death und Razor wechselten einen Blick, doch keiner von beiden sagte etwas.

Hoch über dem Palast, auf der Oberfläche Golgathas, in den überfüllten Straßen der Hauptstadt, wurden die Kämpfe immer verbissener und blutiger. Die Imperialen Streitkräfte waren an allen Fronten auf dem Rückzug, und sie nahmen es nicht eben leicht. Sie schossen inzwischen auf alles, was keine Uniform trug, und sie brachten wahllos Häuser und Gebäude zum Einsturz, um ihre Flucht zu decken. Sie hatten sogar versucht, Frauen und Kinder als menschliche Schilde zu benutzen; aber sie neigten dazu, ihre Geiseln frühzeitig zu erschießen, wenn sie nicht mithalten konnten. Die meisten Zivilisten waren inzwischen aus der Stadt geflohen. Oben am Himmel hatte sich eine dichte Wolke aus dem Rauch zahlreicher Brände gebildet und tauchte die Stadt in ein frühes Dämmerlicht. Die meisten Straßenlaternen waren längst zerstört, und die flackernden Feuer aus Hunderten von Bränden waren die einzigen Lichtquel-len. Dunkle Gestalten huschten durch das purpurne Licht, und sie hatten nichts als Blut im Sinn.

Die Imperialen Streitkräfte hatten noch nicht aufgegeben. Die Grendels mochten vielleicht alle tot sein; aber es gab noch andere, geheime und mindestens ebenso unangenehme Überraschungen für die Rebellen, die bisher nicht zum Einsatz gekommen waren. Man hatte in aller Eile ESP-Blocker an die Fronten geschafft, um die Elfen zurückzuwerfen; doch die Esper-Gehirne in ihren Glasbehältern waren nicht in rauhen Massen verfügbar, und ihre Reichweite war ausgesprochen gering. Also wurden die experimentellen lebenden ESP-Blocker herbeigeschafft, gefangene Esper, deren Gehirne ausgebrannt und leergewaschen worden waren und die man zu gehorsamen lebenden Hüllen konditioniert hatte. Sie waren nicht sehr intelligent, und man mußte sie überall in Ketten hinführen, aber sie waren effektiv, und ihre Reichweite war viel größer als die der normalen Blocker. Die Esper der Rebellen hatten keine andere Wahl, als sich zurückfallen zu lassen und den normalen Kämpfern den Vortritt zu gewähren. Der Vormarsch der Rebellen kam in den entsprechenden Abschnitten fast zum Stillstand. Das verschaffte den Imperialen Truppen kostbare Zeit, um sich neu zu formieren.

Also brachten die Rebellen die Klone an die Front. Gruppen von Leuten mit identischen Gesichtern, bewaffnet bis an die Zähne und alle gekleidet wie die gefallenen Stevie Blues, zur Erinnerung und um sie zu ehren. Massiertes Disruptorfeuer empfing die vorrückenden Reihen und tötete Hunderte; doch sie waren zu Tausenden, und sie waren einfach nicht aufzuhalten. Sie stürmten immer weiter, mitten ins feindliche Feuer hinein, sprangen über die Gefallenen und Toten, bis sie die Barrikaden erreicht und gestürmt hatten und die Imperialen stellen konnten. Sie kümmerten sich stets zuerst um die ESP-Blocker und schenkten ihnen einen gnädigen Tod, so daß die Elfen hinter ihnen angreifen konnten. Ein paar Stunden, nachdem die Klone zum ersten Mal in die Kämpfe eingegriffen hatten, gab es in der gesamten Hauptstadt keinen einzigen ESP-Blocker mehr.

Und dann brachte der Untergrund massiv seine eigenen schweren Waffen zum Einsatz, die bisher nur vereinzelt in Aktion getreten waren. Poltergeister schickten rasiermesserscharfe PSI-Stürme durch die Straßen, die jeden zerrissen, der mit ihnen in Berührung kam. Pyros griffen in die Kämpfe ein, und überall gingen Soldaten ohne ersichtlichen Grund in Flammen auf und verbrannten in einem Feuer, das kein Wasser der Welt zu löschen vermochte. Und dann kam die Gedankenbomben.

Einfache Geräte, die man um das Gehirngewebe toter Esper herum konstruiert hatte. Sobald sie aktiviert wurden, verbreiteten sie Wahnsinn und Panik unter sämtlichen Nicht-Espern in der näheren Umgebung, Betroffene Truppen kratzten sich die eigenen Augen aus oder wandten sich gegen ihre Kameraden und zerrissen sich gegenseitig. Die Rebellen stürmten vor, überrannten immer und immer wieder Imperiale Auffangstel-lungen und sahen schon wie die sicheren Sieger aus – bis die Kriegsmaschinen Valentins auf der Bildfläche erschienen und sich mit einemmal alles änderte.

Gewaltige Metallkonstrukte stampften und polterten durch die breiteren Straßen, und ihre eingebauten Disruptorkanonen hielten blutige Ernte in den dicht gedrängten Reihen der Rebellen. In den ersten paar Minuten starben Hunderte von ihnen.

Menschen hetzten in Deckung, nur um herauszufinden, daß sie nirgendwo vor den Kriegsmaschinen sicher waren. Die Maschinen brachen krachend durch Mauern und ganze Häuserblocks, um ihre Beute zu erwischen, und Projektilwaffen waren völlig wirkungslos gegen die gepanzerten Kolosse. Handdis-ruptoren waren ebenfalls zu schwach, um genügend Schaden anzurichten. Aus allen Richtungen stürmten Esper herbei und lenkten ihre Kräfte auf die Maschinen. Poltergeister überschütteten sie mit den Trümmern eingestürzter Häuser und fügten den Metallungetümen kaum mehr als Kratzer zu. Pyros badeten die Maschinen in Feuer, und immer noch rückten die Maschinen weiter vor. Straße um Straße und Block um Block eroberten sie das Gelände zurück, das die Imperialen Streitkräfte zuvor aufgegeben hatten. Hinter ihnen rückten die regulären Truppen nach, vorsichtig darauf bedacht, nie vor die Maschinen zu geraten . Die Ungetüme schossen auf alles, was sich bewegte. Valentin hätte mit Leichtigkeit zwischen Freund und Feind unterscheiden können, aber es war ihm egal. Er amüsierte sich viel zu gut. Sein Verstand schwebte über der Stadt , da-vongetragen von den Maschinen, während sein Körper sicher im Turm des Wolf-Clans lag. Valentin blickte durch tausend Sensoren zugleich auf die Toten und die Zerstörung, die er verursachte, und es gefiel ihm über alle Maßen.

Die Esper zogen sich vor den anrückenden Maschinen zusammen und beteten um ein Wunder. Und sie bekamen eins.

Die Mater Mundi, Unsere Mutter Aller Seelen, manifestierte sich wieder einmal, und diesmal in der gesamten Esperstreit-macht. Sie brannte hell im Geist eines jeden Mannes und jeder Frau, und für einen Augenblick erstrahlten die Esper hell wie Götter. Sie erleuchteten die Straßen ringsum, und dann vereinigten ihre Bewußtseine in einem einzigen, unbeugsamen Willen. Ein unaufhaltsamer PSI-Sturm raste durch die Straßen und zerriß die Kriegsmaschinen und zerstreute ihre Überreste in alle Winde. Splitter regneten auf die Imperialen Truppen herab, die sich erneut zur Flucht wandten, bis auch sie von dem PSISturm erfaßt und getötet wurden. Jeder Esper der Hauptstadt heulte seinen Triumph laut heraus, und der Boden erzitterte unter dem Geräusch.

In seinem befestigten Zufluchtsort im Turm des Wolf-Clans richtete sich Valentin zitternd auf. Er war unsanft aus den Kriegsmaschinen herausgeschleudert worden. Eines nach dem anderen schalteten sich die System rings um den Wolf ab, als sie irreparable Schäden erlitten. Valentin selbst war betäubt und desorientiert; aber er hatte Glück, daß er überhaupt noch am Leben war, und er wußte das nur zu allzu gut.

Der Angriff der Esper hätte jedes geringere Bewußtsein zerstört, aber nicht Valentins chemisch erweiterten und verstärkten Verstand. Valentin spürte noch immer, wie die vereinigten Esper nach ihm tasteten, doch sie waren nicht imstande, sein schlüpfriges, bösartiges Wesen zu erfassen. Er würde den Turm der Wolfs verlassen und an einem anderen Ort Zuflucht suchen müssen. Aber so sehr er auch nachdachte, er hatte nicht die leiseste Idee, wo er jetzt noch willkommen gewesen wäre.

Nicht einmal die Löwenstein würde ihn jetzt noch aufnehmen, denn er hatte versagt. Valentin Wolf saß ganz allein im Herzen des Turms seiner Familie, und er fragte sich, was er als nächstes tun sollte.

Die Wartungstunnel des unterirdischen Eisenbahnsystems waren schon vor Jahrhunderten versiegelt und aufgegeben worden, und die Zeit hatte sie nicht besser werden lassen. In den Tunneln herrschte jene besondere Art von Dunkelheit, die es nur tief unter der Erde gibt, eine absolute Schwärze, die von keinem noch so schwachen Lichtstrahl durchdrungen wurde.

Es war eisig kalt, und die Luft roch abgestanden und muffig.

Selbst das kleinste Geräusch schien Ewigkeiten widerzuhallen, als wären die Tunnel nach so vielen Jahren der Stille dankbar für jeden Laut. Und durch die dunklen, klaustrophobischen Gänge kamen Owen, Hazel und Giles. Sie stolperten über den unebenen Boden und zogen die Köpfe ein, um sich nicht an der niedrigen Decke zu stoßen. Die Kälte machte ihnen kaum etwas aus, dank dem Labyrinth des Wahnsinns, doch selbst ihre unglaubliche Sehkraft war in einer derart vollkommenen Dunkelheit nutzlos. Owen und Giles trugen Lampen bei sich, und das bleiche weiße Licht warf unheimliche Schatten auf den gekrümmten Wänden und Decken der Gänge. Hazel hielt die Karte, die Owen nach den Informationen aus Lektronendateien gezeichnet hatte, die beinahe so alt waren wie die Tunnel selbst. Die Gänge bildeten ein endloses Labyrinth, und nur sorgfältige Orientierung würde die Rebellen zeitig genug zu ihrem Ziel führen.

Das blasse Licht auf den von Löchern übersäten, kabelbe-deckten Wänden wirkte zunehmend beunruhigend, beinahe lebendig. Hazel murmelte etwas von wegen den Eingeweiden der Erde, doch niemand lachte. Es war auch nicht als Scherz gedacht gewesen. Keinem war nach Reden zumute, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Nach all der Zeit und all den Kämpfen hatten sie endlich die letzte, entscheidende Auseinandersetzung vor Augen, die das Ende von Löwensteins Herrschaft und der herkömmlichen Ordnung der Dinge bedeuten würde. Owen versuchte sich vorzustellen, wie ein Imperium aussehen mochte, für dessen Schaffung er verantwortlich war, und es überraschte ihn nicht, daß ihm das nicht gelang. Er war Historiker, und er hatte eine beliebige Anzahl alter Kulturen studiert, einschließlich einiger, die heutzutage offiziell niemals existiert hatten. Er hatte sich mit allen möglichen Formen von Religionen und politischen Theorien beschäftigt, aber persönlich hatte er nie etwas anderes gekannt als das Imperium der Familien und den Eisernen Thron. Ohnesorg und Hazel hatten sich abwechselnd ihre voneinander abweichenden Vorstellungen eines auf Demokratie basierenden neuen Imperiums erklärt; aber sosehr Owen ihre Theorien auch mochte, sie klangen in seinen Ohren nach reinem Chaos. Außerdem wollte er verdammt sein, wenn er sehen konnte, wo in ihren zukünftigen Reichen für ihn und seinesgleichen Platz war. Andererseits hatte er auch niemals in Löwensteins Imperium gepaßt. Er grinste bei dem Gedanken, und ihm dämmerte, daß seine Chancen, überhaupt irgendeine Zukunft zu erleben, sowieso nur gering waren, und das ließ seine Sorgen unbedeutend erscheinen. Falls er diese Mission überlebte, konnte er sich immer noch Gedanken machen.

Er war noch immer nicht ganz sicher, was er unternehmen würde, wenn es ihnen schließlich gelungen war, einen Weg in den Imperialen Hof zu finden und sie vor ihrer Imperatorin auf dem Eisernen Thron standen. Sein ganzes Leben lang war er dazu erzogen worden, den Eisernen Thron zu achten und zu ehren, ganz gleich, wer darauf saß. Er hatte geschworen, dem Thron sein ganzes Leben lang zu dienen und ihn notfalls auch mit dem Leben zu verteidigen. Der Eiserne Thron war der Ur-sprung aller Pflicht und aller Ehre und noch vieler andere Dinge, die sich nicht so leicht in Worte fassen ließen. Den Thron zu stürzen war, als würde man Gott selbst stürzen. Owen Todtsteltzer war ein Aristokrat, und daran hatte auch seine Ächtung nichts geändert. Vermutlich würde er sein ganzes Leben Aristokrat bleiben, jedenfalls in vielerlei Hinsicht. Doch Owen hatte zuviel Dunkelheit gesehen. Er hatte die Schattenseiten des Imperiums kennengelernt. Er hatte gesehen, auf wieviel Leid und Elend die Gesellschaft der Reichen und Privilegierten basierte, und er konnte den Blick nicht einfach wieder abwenden und so tun, als wäre nichts geschehen. Pflichtgefühl und Ehre und reine Menschlichkeit verlangten von ihm, daß er dem Imperium Einhalt gebot.

Und so war er zu einem der Anführer der Rebellion geworden, ein Held und Vorbild für andere, und der Sinn seines Leben bestand nun darin, all jene zu rächen, die das Imperium aus Habsucht oder Willkür zerbrochen oder ausgestoßen hatte. Er kämpfte jetzt für die Armen und die Geknechteten, für die Esper und die Klone und andere Unpersonen, für jeden, dessen Leben durch eine Imperatorin zerstört worden war, deren Pflicht es eigentlich gewesen wäre, ihre Untertanen zu schützen. Und wenn er sich manchmal dabei wie ein Betrüger vor-kam oder wie jemand, der nicht würdig war, Teil des Kampfes zu sein, so tröstete er sich mit dem Gedanken, daß außer ihm niemand sonst vollbringen konnte, was er tat. Das Labyrinth des Wahnsinns hatte ihm Kräfte geschenkt, die weit über die eines gewöhnlichen Menschen hinausgingen, und so behielt er sein Menschsein nun dadurch, daß er diese Kräfte in den Dienst der gesamten Menschheit stellte.

Und all das nur, weil die Löwenstein ihn verstoßen und sein behagliches, komfortables Leben zerstört hatte, zusammen mit allem, was Owen je lieb und teuer gewesen war. Immer wieder versuchte er sich einzureden, daß nicht Rache ihn vorantrieb, und daß sein Schicksal ihm Einsicht in die Gefühle unzähliger Menschen vermittelt hatte, deren Leben von der Imperatorin und der herrschenden Klasse zerstört worden waren. Aber Owen war zu ehrlich zum Lügen, sogar gegen sich selbst. Er wollte, daß sie genauso litt, wie er gelitten hatte, indem er ihr das wegnahm, was sie am meisten schätzte.

Aber am Ende zählte nichts von alledem. Kein einziger dieser Gründe hatte ihn hierhergeführt, und keiner dieser Gründe war es, der ihn in der Dunkelheit durch unterirdische Gänge stolpern ließ, um ein Imperium zu stürzen. Owen kämpfte für ein Kind, das hilflos weinend im blutbesudelten Schnee einer dunklen Gasse von Nebelhafen lag, nachdem er es ohne nachzudenken niedergestochen hatte. Sie war eine Blutsüchtige gewesen und hatte zu einer Straßenbande gehört, und sie hatte versucht, ihn zu töten; aber auch das spielte keine Rolle. Was zählte war, daß kein Mensch im gesamten Imperium zu einem Leben wie dem ihren verdammt sein oder wie sie sterben sollte. Nur eine weitere verlorene Seele, für die Löwenstein die Verantwortung trug. Ihre Schreie verfolgten ihn, und ihr Blut würde bis ans Ende seiner Tage an seinen Händen kleben. Er würde ein Imperium für sie stürzen, würde eine ganze Zivilisation umkrempeln und alles vernichten, woran er jemals geglaubt hatte, und er wußte, daß selbst das nicht ausreichen würde, seine Schuldgefühle zu mindern.

Der Tunnel führte sie schließlich zu einer versiegelten Luke.

Owen und Giles stemmten sich mit den Schultern dagegen und nahmen alle Kräfte zusammen, die das Labyrinth des Wahnsinns ihnen verliehen hatte, und die massive Stahltür öffnete sich unter lautem Quietschen. Der Gang dahinter lag in strahlender Helligkeit, und sie mußten einen Augenblick lang die Augen schließen, bis sie sich an das Licht gewöhnt hatten.

Owen schaltete seine Lampe aus und schob den Kopf durch die Öffnung. Er spähte mißtrauisch in die Runde, dann gab er den anderen ein Zeichen, daß alles in Ordnung sei. Nacheinander sprangen sie durch die Luke auf den darunterliegenden Bahnsteig.

Der Bahnhof war eine relativ große, weitläufige, vollständig mit Kacheln ausgekleidete Höhle. An der Decke hingen starke Scheinwerfer und beleuchteten einen einzelnen Zug, der an der Bahnsteigkante wartete. Alles war makellos sauber. Der Zug war groß genug und bestand aus poliertem Stahl, ohne Fenster, aber mit einer einladend offenstehenden Schiebetür. Der Bahnsteig war vollkommen menschenleer. Nirgends waren Wachen zu sehen. Sicherheitskameras an der Decke waren alles. Hazel blickte zu der hohen Decke hinauf, dann auf die reich verzier-ten Wände und schließlich auf das luxuriöse Interieur des Zuges, und sie mußte sich anstrengen, um nicht zu zeigen, wie sehr sie beeindruckt war.

»Sehr hübsch«, sagte sie schließlich. »Allerdings auf eine etwas übertriebene Art und Weise.«

»So sind die Aristokraten nun einmal«, erwiderte Owen. »Sie geben sich nicht mit weniger als Perfektion zufrieden, selbst wenn man keine Augen für die Umgebung hat. Wer in diesem Zug sitzt, ist normalerweise mit seinen Gedanken ganz bei den häßlichen Überraschungen, mit welchen die Löwenstein bei Hof aufzuwarten pflegt. Manchmal ist der Hof noch gefährlicher als die Löwenstein selbst, und das will schon einiges heißen. Gott allein weiß, wie es inzwischen dort aussieht. Vor allem, wenn ich bedenke, in welcher Stimmung sie sich befinden muß. Doch es macht keinen Sinn, hier herumzuhängen.

Komm, Mylady Hazel, deine Kutsche wartet.«

»Ich bin nicht deine Lady, Todtsteltzer!« fauchte Hazel und trat mißtrauisch durch die offene Tür in den wartenden Waggon.

»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Owen galant.

Nachdem sie alle eingestiegen waren, setzte Giles sich auf den erstbesten Sitz und legte die Füße hoch. Hazel marschierte geradewegs auf die eingebaute Bar zu, und Owen untersuchte das Kodepaneel neben der Tür. Die Zahlen verrieten, wo genau man sich gerade befand, mit wie vielen anderen man unterwegs war und welchen gesellschaftlichen Status man innehatte. Ohne korrekte Kodes würde der Zug sich erst gar nicht in Bewegung setzen. Ein ganz falscher Kode würde die Sicherheitssysteme aktivieren, und Gas würde in die Waggons strömen, und danach würde man nirgends mehr hinfahren, außer zum Friedhof.

Ozymandius hatte behauptet, nicht nur Kodes zu besitzen, die sie sicher zur nächsten Station bringen würden, sondern die auch noch die Sicherheitssysteme abschalten konnten, so daß die Gasdüsen auch von außen nicht mehr aktiviert werden konnten. Owen war gar nicht mehr so überzeugt davon, wie er es noch kurze Zeit zuvor gewesen war.

»Vertrau mir«, flüsterte Ozymandius leise in Owens Ohr.

»Die Nachforschungen deines Vaters waren sehr gründlich.

Die Kodes sind korrekt. Tipp einfach die Nummern ein, so wie ich sie dir gebe.«

Owen knurrte etwas Unverständliches vor sich hin und tat, was Ozymandius von ihm verlangte. Er tippte die letzte Nummer ein und machte sich innerlich auf das Zischen der Gasdüsen gefaßt. Er war bereit, Hazel beim leisesten Geräusch zu packen und mit ihr den Waggon zu verlassen, und wenn er da-für ein Loch durch die solide Stahlwand hätte schlagen müssen.

Aber nichts geschah, oder wenigstens nichts Unangenehmes.

Die Tür glitt zu; die Motoren in ihren abgeschlossenen Gehäusen sprangen an, und der Zug setzte sich sanft in Bewegung.

Owen blickte sich um. Er hatte das Gefühl, daß er vielleicht sonst noch etwas hin sollte, doch dann zuckte er die Schultern und setzte sich neben Giles. Der ursprüngliche Todtsteltzer hatte sich in seinem luxuriös gepolsterten Sitz zurückgelehnt, die Augen geschlossen und die Beine vor sich gekreuzt: Der Inbegriff der Entspannung. Owen saß auf der Kante seines Sitzes und biß sich auf die Unterlippe hören. Zugreisen machte ihn krank.

Hazel hatte die Bar geöffnet und arbeitete sich durch die Ka-raffen. Sie nahm einen ordentlichen Schluck von allem, bis sie auf etwas stieß, das ihr wirklich schmeckte. Sie packte die Karaffe, kehrte zu Owen und Giles zurück und setzte sich den beiden gegenüber. Owen bedachte sie mit einem harten Blick.

Hazel gab vor, es nicht bemerkt zu haben, und bot ihm einen Schluck an. Owen lehnte höflich ab. Giles öffnete ein Auge, erblickte Hazel und die Karaffe, rümpfte die Nase und schloß das Auge wieder. Hazel bedachte ihn mit einer ordinären Geste, und Owen war froh, daß Giles es nicht sah. Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Giles hatte Owen bei mehr als einer Gelegenheit zu verstehen gegeben, daß er nichts von Hazel hielt. In seinen Augen war sie als Partnerin für den letzten aus der Linie der Todtsteltzer völlig ungeeignet. Einmal hatte er es sogar in Hazels Gegenwart gesagt, und Owen hatte sie festhalten müssen, um sie daran zu hindern, sich auf seinen Vorfahren zu stürzen. Giles hatte nur die Nase gerümpft und erklärt, daß ihre Redaktion nur ein weiterer Beweis für die Richtigkeit seiner Meinung wäre. Hazel hatte Owen abgeschüttelt, etwas sehr Unhöfliches über Inzucht innerhalb der Aristokratie gesagt und war davonstolziert. Owen war hin und her gerissen gewesen, ob er sich mit seinem Vorfahren streiten, oder ob er hinter Hazel her eilen sollte, um sie zu beruhigen; doch am Ende hatte er beschlossen, daß Diskretion der bessere Teil der Ehre war, und hatte beide sich selbst überlassen. Bei manchen Streitereien weiß man von Anfang an, daß man keine Aussichten hat, sie zu gewinnen.

»Weißt du, das Ganze war irgendwie viel zu leicht«, sagte Hazel, nachdem sie die Karaffe abgesetzt und sich den Mund mit dem Handrücken abgewischt hatte. »Ich meine, wenn man bedenkt, daß dies hier der einzige Zugang zum Hof der Löwenstein ist. Ich hätte erwartet, daß es in der Station nur so von Sicherheitsmaßnahmen wimmelt. Statt dessen keinerlei bewaffnete Wachen; du gibst ein paar Zahlen ein, und schon geht’s los. Das sieht mir gar nicht nach der paranoiden Eisernen Hexe aus, die wir alle kennen und verabscheuen.«

»Die Löwenstein hat schon immer die Meinung vertreten, daß Einfachheit das beste ist«, sagte Owen. »Man braucht nicht viel, um diese Züge sicher zu machen. Wenn sie erst einmal unterwegs sind, gibt es keinen Fluchtweg mehr. Die Waggons sind verschlossen , und die Gasdüsen können vom Palast aus beim ersten beunruhigenden Anzeichen aktiviert werden. Ich hoffe nur , daß die Kodes, die Ozymandius und mein Vater uns zur Verfügung gestellt haben, entweder die Sensoren der Waggons blockieren, oder verhindern, daß wir vom Palast aus mit Gas überschüttet werden können. Man hat mir erzählt, es wäre ein langsamer und ziemlich schrecklicher Tod.«

Hazel starrte auf die nächstgelegene Gasdüse. »Augenblick mal!« sagte sie. »Willst du mir vielleicht erzählen, daß du nicht genau weißt, ob diese Kodes funktionieren?«

»Ich fürchte ja. Ozymandius weiß keine Einzelheiten. Wie es scheint, hat mein Vater vor längerer Zeit die Kodes in die Speicher der KI geladen; aber er ist nie dazu gekommen, ihre Funktion zu erklären. Das ist typisch für meinen Vater. Er erklärte nie irgend etwas, außer, wenn es absolut notwendig war. Ich fürchte, uns bleibt nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen.«

»Du verlangst allen Ernstes von mir, daß ich einer KI vertraue, die eigentlich längst tot sein müßte und die nur du allein hören kannst? Und die noch dazu von einem Mann programmiert wurde, der sein Leben lang Intrigen geschmiedet und sich an Verrat ergötzt hat? Also schön. Haltet den Zug an. Ich will aussteigen. Ich werde den restlichen Weg zu Fuß gehen.«

»Die Züge sind so programmiert, daß sie nirgendwo anhalten, außer an ihrem Zielort«, erwiderte Owen gelassen. »Ich könnte natürlich die Tür aufbrechen und dich hinauswerfen; aber dann hättest du einen Marsch von wenigstens zehn Meilen vor dir. Allein. In der Dunkelheit. Außerdem müßtest du dich mit unbekannten Sicherheitseinrichtungen herumschlagen, die ganz definitiv nicht durch meine Kodes deaktiviert worden sind.«

Hazel blickte ihn mit gerunzelter Stirn an und suchte dann Trost in ihrer Karaffe. »Ich hasse es, daß du immer recht haben mußt. Du bist dann so selbstzufrieden und unausstehlich.«

Owen unterdrückte sein Grinsen und richtete den Blick auf Giles. Der erste Todtsteltzer hatte die Augen geschlossen. »Alles in Ordnung, Giles?«

Giles schlug die Augen auf und nickte Owen zu. Hazel ignorierte er. »Könnte nicht besser sein, mein Junge. Ich habe sehr lange auf diesen Augenblick gewartet. Ich habe Ewigkeiten davon geträumt, eines Tages nach Hause zurückzukehren und die alten Ungerechtigkeiten zu vergelten, die man mir angetan hat. Sie warfen mich hinaus, Owen. Sie erklärten mich zum Verbrecher, nach allem, was ich für sie getan hatte. Ich schenkte ihnen mein Leben und meine Ehre, kämpfte ihre Kriege und tötete ihre Feinde, und ich befleckte unseren Namen mit dem Dunkelzonen-Projektor, und nicht einmal das reichte ihnen.

Aber jetzt, 943 Jahre später, bin ich zurück, und ich präsentiere ihnen die Rechnung für alles, was sie mir angetan haben.«

Er unterbrach sich so abrupt, daß Owen und Hazel glaubten, er wolle nichts mehr zu diesem Thema sagen, und tatsächlich schweifte sein Blick in weite Fernen, in eine lange zurückliegende Zeit des Verrats und Betrugs. Owen rutschte unbehaglich in seinem Sitz hin und her. Der ursprüngliche Todtsteltzer war schon so lange ein Held und eine Legende, daß es Owen immer wieder schwerfiel, ihn sich als Menschen aus Heisch und Blut vorzustellen, der verletzlich war und einen alten Groll in sich trug. Owen konnte nicht anders; aber er war der Auffassung, daß ein Mann wie der große und berühmte Erste Todtsteltzer eigentlich über derartigen Dingen hätte stehen müssen.

Die vor ihnen liegenden Aufgaben ließen außerdem keinen Platz mehr für so einfache Dinge wie Rache, das wußte selbst Owen. Aber um fair zu bleiben: Giles hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß er sich aus ganz privaten Gründen der Rebellion angeschlossen hatte und nicht wegen der Untergrundbewegung oder irgendeinem ihrer hehren Ziele. Die Rebellion war für Giles von Anfang an nur Mittel zum Zweck gewesen . Diese Tatsache für sich allein genommen reichte bereits, damit Owen sich Gedanken machte, doch da war auch noch eine zweite merkwürdige Beobachtung: Für einen Mann, der den größten Teil des letzten Jahrtausends in Stasis verbracht hatte, war Giles häufig genug bemerkenswert gut informiert, was die heutige Zeit betraf. Owen seufzte innerlich. Wenn man schon Giles Todtsteltzer, dem legendären Helden und Krieger, nicht vertrauen konnte – wem konnte man denn überhaupt vertrauen?

Immer vorausgesetzt natürlich, der Mann vor ihm war wirklich Giles Todtsteltzer.

Die Fahrt verlief ohne besondere Ereignisse. Hazel warf immer wieder mißtrauische Blicke auf die Gasdüsen an der Decke und senkte den Brandypegel in ihrer Karaffe sichtbar. Schließlich wurde Owen deswegen so nervös, daß er ihr die Karaffe wegnahm und sie zurück in die Bar stellte. Es war ein Zeichen dafür, wie weit ihre Freundschaft inzwischen fortgeschritten war, daß sie sich ihm nicht widersetzte; trotzdem sprach sie die restliche Zeit über kein Wort mehr mit ihm.

Schließlich wurde der Zug immer langsamer hielt schließlich an. Die Tür glitt auf, und das Brummen der Motoren erstarb.

Mit einemmal herrschte völlige Stille. Owen erhob sich aus seinem Sitz. Er spürte, wie sein Herz heftig in der Brust klopfte. Sie waren am Hof angekommen. Keine weiteren Pläne, keine Streitereien mehr und keine leisen Panikanfälle in den frühen Morgenstunden, wenn alle anderen fest schliefen.

Und kein Weg zurück.

Hier am Hof würde sich innerhalb der nächsten Stunden sein Schicksal entscheiden und mit ihm das des gesamten Imperiums. Auf die eine oder andere Weise.

Er zog das Schwert und den Disruptor, atmete tief durch und trat auf den Bahnsteig hinaus. Er kam nur ein paar Schritte weit und blieb dann wie angewurzelt stehen. Er hörte, wie Giles und Hazel hinter ihm aus dem Zug ausstiegen; aber er hatte nur Augen für den einzelnen Mann, der die drei Rebellen am anderen Ende des Bahnsteigs erwartete. Und im gleichen Augenblick, in dem Owen ihn sah, wußte er, daß er eigentlich von Anfang damit hätte rechnen müssen, ihn hier zu treffen. Daß es nur recht und billig war, wenn dieser Mann vor allen anderen dort war und versuchen würde, sie aufzuhalten. Er stand in einiger Entfernung auf dem hell erleuchteten Bahnsteig, hielt das Schwert in der Hand und wartete geduldig darauf, daß die drei Rebellen zu ihm kamen. Die energetische Hälfte seines Körpers knisterte und knackte laut in der Stille.

Der Halbe Mann.

Hazel trat zu Owen und fluchte leise. »Ich wußte gleich, daß alles viel zu glatt gelaufen ist«, sagte sie. »Warum muß es ausgerechnet er sein? Der einzige Mensch im ganzen verdammten Imperium, den man nicht töten kann.«

»Weil meine Loyalität außer Frage steht«, antwortete der Halbe Mann. »Weil die Sensoren in den Waggons uns verraten haben, wer auf dem Weg hierher war, und weil die Löwenstein wußte, daß ein außergewöhnlich tapferer Mann nötig sein wür-de, um Euch aufzuhalten. Und weil ich hier sein wollte. Die Löwenstein war ziemlich wütend, als die Gasdüsen nicht funktionierten, aber ich nicht. Es wäre ein so… erbärmlicher Weg gewesen, Euch zu besiegen. So ist es viel besser. Findet Ihr es nicht passend, daß der treueste Untertan im gesamten Imperium den berüchtigtsten Hochverrätern gegenübertritt? Ich schät-ze, es ist zu spät, um Euch Eure Verrücktheit ausreden zu wollen?«

»Viel zu spät«, antwortete Giles.

»Und es ist auch nicht Verrücktheit«, sagte Owen, »sondern Notwendigkeit. Das Imperium ist krank, korrupt und böse geworden. Es muß niedergerissen werden, damit etwas Besseres seinen Platz einnehmen kann.«

»Das habe ich alles schon so oft gehört«, erwiderte der Halbe Mann. Sein halbes Gesicht blieb ausdruckslos; doch seine Stimme klang entschlossen. »Aber es bedeutet gar nichts im Vergleich mit dem Bösen, das draußen vor dem Imperium lauert. Die Fremdwesen, die mein Schiff zerstörten und meine Besatzung ermordet und mir das hier angetan haben, lauern noch immer dort draußen und warten darauf, daß wir schwach und uneins werden, damit sie kommen und uns vernichten können. Und die belanglosen Mißstände, über die Ihr Euch die Köpfe zerbrecht, sind nichts im Vergleich zu dem, was diese Fremdwesen der Menschheit antun werden. Ich habe an Bord ihres Schiffes Schrecken gesehen und erlebt, die weit über Eure schlimmsten Alpträume hinausgehen. Im Vergleich zu ihnen sind wir nichts. Allein der vereinten Kraft des Imperiums kann es gelingen, sie aufzuhalten. Und mit Eurer Rebellion setzt Ihr das Überleben unserer gesamten Spezies aufs Spiel.«

»Spar dir diesen Mist!« knurrte Hazel. »Das mußte ich mir mein ganzes Leben lang anhören. Wo stecken denn deine Fremdwesen? Keine Spur von ihnen zu sehen, all die Jahre nicht. Falls sie kommen wollten, hätten sie das schon vor langer Zeit getan. Heutzutage benutzen Typen wie ihr das doch nur noch als Ausrede, um an der Macht zu bleiben. Damit Leute wie ihr mit Leuten wie mir machen könnt, wozu ihr Lust habt. Laß die Fremdwesen nur kommen. Sie können nicht schlimmer sein als das Leben, zu dem Typen wie du mich und meinesgleichen verdammen wollen. Ihr seid die wirklichen Fremdwesen. Ihr habt nichts, aber auch gar nichts mit den Menschen gemeinsam, deren Leben ihr in den Händen haltet.«

»Hazel hat ganz recht«, bestätigte Owen. »Ihr schwafelt schon so lange von einer Bedrohung durch bösartige Fremdwesen, daß ihr damit inzwischen alles rechtfertigen könnt, was ihr wollt. Und wenn Ihr wirklich wollt, daß das Imperium überlebt, Halber Mann, dann tretet zur Seite. Laßt uns die Löwenstein stürzen und die Dinge wieder ins rechte Lot bringen.«

»Ihr wüßtet doch gar nicht, was Ihr mit einem Imperium anfangen solltet«, entgegnete der Halbe Mann. »Eure Leute würden plündern und rauben und in Jahrhunderten gewachsene Traditionen zerstören, nur um ihre eigenen primitiven Gelüste und Bedürfnisse zu befriedigen. Ich kann nachvollziehen, was eine Frau wie diese d’Ark hier antreibt, aber was zur Hölle machen zwei Todtsteltzer hier? Ihr habt einen Eid auf Euren Namen, auf Euer Blut und auf Eure Ehre geschworen, daß Ihr der Imperatorin treu ergeben seid und ihr dienen werdet, solange Ihr lebt.«

»Nein, haben wir nicht«, widersprach Giles. »Unser Eid galt dem Eisernen Thron und nicht der Wahnsinnigen, die jetzt darauf sitzt.«

»Die Unterscheidung ist ohne jede praktische Bedeutung«, sagte der Halbe Mann. Er trat ihnen ohne Eile entgegen, und das Geräusch seines einen menschlichen Fußes auf dem Bahnsteig klang seltsam laut in der unheimlichen Stille. Owen hatte das Gefühl, als lausche das gesamte Imperium mit angehalte-nem Atem und wartete auf das, was als nächstes geschehen mußte. »Es gibt nichts mehr, das wir miteinander zu besprechen hätten, Vogelfreie«, sagte der Halbe Mann. »Wir sprechen nicht einmal mehr die gleiche Sprache.«

»Ich glaube nicht, daß wir jemals die gleiche Sprache gesprochen haben«, erwiderte Owen ein wenig traurig. »Werft Euer Schwert weg. Ihr habt nicht die geringste Chance gegen uns drei.«

»Ihr könnt mich nicht töten«, erwiderte der Halbe Mann.

»Niemand kann das.«

»Ihr kennt uns nicht«, sagte Giles. »Wir sind nicht wie die anderen.«

»Das haben wir schon gehört«, entgegnete der Halbe Mann.

Er blieb ein paar Meter vor den Rebellen stehen, und sein halber Mund verzog sich zu etwas, das möglicherweise ein Grinsen darstellen sollte. »Wißt Ihr, was das hier ist?« fragte er.

In seiner menschlichen Hand hielt er ein kleines Metallkästchen mit einem einzelnen roten Knopf darauf. Owen, Hazel und Giles hatten kaum genug Zeit, den Apparat als Gedankenbombe zu identifizieren; dann drückte der Halbe Mann auch schon auf den Knopf.

Die Technik in der Schachtel stimulierte das tote Gehirngewebe eines Espers, und ein psionisches Signal entstand, das über die drei Rebellen kam und wie ein Wirbelsturm in ihre Köpfe eindrang. Owen, Hazel und Giles schwankten heftig. Sie rissen die Hände hoch, preßten sie an die Schläfen und kämpften gegen das entsetzliche Heulen an, das ihnen den Verstand zu rauben drohte. Owen taumelte einen Schritt zurück. Die Augen schienen ihm aus dem Kopf fallen zu wollen. Seine Gedanken bewegten sich langsam und ungeordnet und gehorchten ihm nicht mehr. Helle Lichter flackerten rings um ihn auf, und in seinen Ohren schrien die Stimmen von Wahnsinnigen. Irgend etwas marschierte in seinem Kopf auf und ab, und es war nicht er selbst. Schmerz und Schwäche nagten an seinem Körper, und obwohl all das mit ihm geschah, vernahm er noch immer die Stimme des Halben Mannes.

»Interessant«, sagte der Halbe Mann. »Wir waren nicht sicher, welche Auswirkungen die Gedankenbombe auf Euch haben würde. Wir wußten ziemlich genau, daß Ihr keine richtigen Esper seid, aber was auch immer Ihr seid, die Chancen standen nicht schlecht, daß die Bombe Euch ziemlich zu schaffen machen würde. Selbstverständlich bin ich immun dagegen.

Hört auf, Euch zu wehren, es ist sinnlos. Diese Bombe hier wurde speziell für Euch extrem in ihrer Wirkung und Reichweite verstärkt. Wärt Ihr normale Sterbliche, würden Eure Gehirne inzwischen aus den Ohren tropfen. Aber keine Angst.

Haltet einfach einen Augenblick lang still, und ich werde Euch von Euren Leiden erlösen

Owen hatte den Disruptor fallengelassen. Seine Hände fühlten sich an, als gehörten sie jemand anderem. Er wußte nur, daß er das Schwert noch hielt, weil er es in der Faust mit den weißen Knöcheln sehen konnte, als er an sich hinunter blickte.

Giles war neben ihm in die Knie gegangen. Er hatte die Augen weit aufgerissen und starrte ins Leere, und er zuckte und zitterte am ganzen Leib, während seine Nerven ein wahres Feuerwerk in seinem Körper abbrannten.

Hazel lag auf dem Rücken. Sie hatte den Mund in einer wilden Geste hilflosen Schmerzes und rasender Wut verzerrt, und ihre leeren Hände öffneten und schlossen sich krampfhaft. Alle drei kämpften sie gegen die Auswirkungen der Gedankenbombe und rannten damit ins Leere, und so beschloß Owen, den Kampf aufzugeben. Er zog sich tief in sein innerstes Selbst zurück und schaltete all seine vom Labyrinth des Wahnsinns erhaltenen Fähigkeiten ab. Sie konnten ihm in dieser Situation nicht helfen. Sie waren schließlich die Ursache dafür, daß die Gedankenbombe ihn überhaupt quälte.

Es war schwer, sich selbst bewußt zu blenden und die Ohren zu verschließen, während der Halbe Mann mit Mord im Sinn gegen ihn vorrückte; aber irgendwie wußte Owen, daß seine einzige Chance auf Rettung tief in ihm selbst lag und nicht außerhalb. Die Gedankenbombe war für den Einsatz gegen Menschen geschaffen, und obwohl Owen kein Esper war, war er auch kein Mensch im eigentlichen Sinne mehr. Und wenn seine Gedanken noch menschlich waren, dann nur, weil er es so wollte. Es gab auch andere Wege zu denken, und noch während ihm diese Idee kam, schlug sein Verstand bereits eine andere Richtung ein, und er dachte in neuen Dimensionen und Bahnen, weit außerhalb aller menschlichen Grenzen.

Und so verfolgte er diese neue Richtung, diesen Weg, der mehr war als nur ein Weg, und schlagartig waren seine Gedanken wieder klar . Er öffnete die Augen und erblickte den Halben Mann über sich . Er hatte das Schwert zum Schlag erhoben, und die Gedankenbombe baumelte an seinem Gürtel. Und plötzlich war es für Owen die leichteste Sache der Welt, mit dem Schwert auszuholen und die Schnur zu zerschneiden, die die Bombe am Gürtel seines Gegners hielt. Das kleine Metallkästchen polterte auf den Bahnsteig, und Owen zerschmetterte es mit einem einzigen Hieb seiner goldenen Hadenmannfaust.

Von einem Augenblick zum anderen erlosch das psionische Signal der Bombe, und Owen war wieder er selbst. Der Halbe Mann brachte sich mit einem raschen Sprung in Sicherheit, und in seinem halben Gesicht standen deutlich sichtbar Überraschung und Schock. Hazel und Giles kamen wieder zu sich und rappelten sich auf. Sie schüttelten benommen die Köpfe. Der Teil von Owens Verstand, der kurz zum Leben erwacht war, schaltete sich bereits wieder ab, nun, da er nicht länger gebraucht wurde. Auf einer sehr fundamentalen Ebene wußte Owen, daß er nicht mehr in diesen Bahnen weiterdenken durfte, wenn er Mensch bleiben wollte, und so wandte er sich be-wußt von dieser neuen Art zu denken ab, die bereits aus seiner Erinnerung verblaßte . Er war wieder Owen Todtsteltzer und nur Owen, und das war vollauf genug . Er grinste den mißtrauisch dastehenden Halben Mann an, und der Humor in diesem Grinsen war unendlich dunkel. Der Halbe Mann hob sein Schwert ein wenig.

»Ich bin wirklich beeindruckt, Todtsteltzer«, sagte er tonlos.

»Aber überrascht? Nein. Man hat mir zwar gesagt, daß diese neue und verbesserte Gedankenbombe Eure Gehirne rösten würde, aber ich habe nicht einen Augenblick daran geglaubt.

Nicht nach all den erstaunlichen Dingen, die Ihr vollbracht habt. Wißt Ihr, daß Ihr im Begriff sieht, zu einer Legende zu werden? Ganz genau wie ich. Es wird Euch nicht gefallen. Die Men sehen werden Euch Geschichten andichten und Lieder über Euch schreiben, und sie werden Euer Bild auf den Holoschirmen verehren; aber sie werden niemals erfahren , wie Ihr wirklich wart. Sie werden einen Riesen aus Euch machen, und sie werden außer sich geraten, wenn Ihr sie enttäuscht, weil Ihr nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Mensch seid. Trotzdem, macht Euch darüber keine Gedanken. Ich sorge dafür, daß Eure Geschichte hier endet, und Ihr müßt Euch niemals die Lügen anhören, die man sich über Euch erzählen wird.«

»Ihr seid schon vor langer Zeit gestorben«, sagte Owen und trat gelassen vor. »Der Augenblick ist gekommen, daß Ihr Euch endlich hinlegt und es eingesteht.«

»Ich kann nicht sterben«, erwiderte der Halbe Mann. »Meine Energiehälfte läßt es nicht zu. Kommt her, Todtsteltzer, und ich verspreche Euch, ich mache es schnell und sauber.«

»Haltet die Klappe und kämpft«, sagte Owen.

Sie prallten aufeinander. Der Halbe Mann bewegte sich mit der Erfahrung und Geschwindigkeit mehrerer Lebensspannen.

Er stand niemals still und umkreiste seinen Gegner endlos, während er Owens Talent aufs äußerste herausforderte. Owen bewegte sich mit ihm und beschränkte sich einzig und allein auf die Defensive. Er suchte die Schwachstellen und wunden Punkte des Halben Mannes; doch es dauerte nicht lange, bis Owen erkennen mußte, daß sein unheimlicher Gegner keine besaß. Die Energiehälfte versorgte ihn mit einem unendlichen Vorrat an Kraft und Ausdauer, so daß er niemals ermüdete, und er wußte mehr über die Kunst des Schwertkampfs, als Owen jemals lernen würde. Owen beschwor den Zorn herauf und wurde augenblicklich stärker und schneller, und dann startete er seinen eigenen Angriff. Der Halbe Mann hielt mit ihm mit und wehrte gelassen alles ab, was Owen gegen ihn schleudern konnte. Die Kraft brannte in Owens Armen, und er verschärfte das Tempo erneut, als er seinen Zorn bis zu den Grenzen beanspruchte. Sein Schwert bewegte sich jetzt so schnell, daß es nur noch als Flirren zu erkennen war, und zum ersten Mal wich der Halbe Mann einen Schritt zurück.

Owen bedrängte seinen Gegner und bearbeitete das Schwert des Halben Mannes wie ein wütender Holzfäller einen wider-spenstigen Baum. In jenen Augenblicken repräsentierte der Halbe Mann alles, was Owen am Imperium so haßte, und er lachte laut auf und stürzte sich auf seinen Feind. Der Halbe Mann hatte aufgehört zu grinsen; doch er hielt Owens Angriffen stand und wich nicht mehr weiter zurück. Und schließlich dämmerte Owen, daß sein Zorn nicht ewig anhalten würde, während der Halbe Mann auf einen unendlichen Vorrat an Energie zurückgreifen konnte. Was bedeutete, daß Owen einen Weg finden mußte, um den Kampf bald zu beenden, wollte er das Ende überhaupt erleben. Und so legte er seine gesamte Kraft und Schnelligkeit in einen einzigen Angriff hinein, einen hämmernden Schlag, der, von all seinen vom Labyrinth ge-schenkten Talenten unterstützt, die Verteidigung des Halben Mannes glatt durchbrach und auf seinen menschlichen Schädel herunterkrachte.

Für einen endlosen Augenblick schien Owens Schwert in der Luft zu verharren, als wäre es von einer unsichtbaren energeti-schen Barriere aufgehalten worden, und dann konzentrierten sich noch einmal alle Kräfte und Begabungen des Labyrinths in Owens Schlag, und mit einer übermenschlichen Wucht, die sich durch nichts und niemanden aufhalten ließ, fuhr die Klinge in den Schädel des Halben Mannes. Die schwere, breite Klinge sank tiefer und tiefer. Sie ging direkt neben der Energiehälfte des Halben Mannes durch sein Gesicht und tiefer, direkt an der Grenzlinie zur Energiehälfte entlang durch den gesamten Leib, bis sie purpurn und blutig in einem Schwall von Eingeweiden und Innereien unten am Rumpf wieder austrat.

Owen stolperte nach hinten, als sein Schwert wieder freikam.

Er beendete den Zorn, und alle Kraft schien ihn zu verlassen.

Hazel und Giles fingen ihn auf, sonst wäre er gestürzt. Zu dritt standen sie da und beobachteten, wie der Halbe Mann zuckend und um sich schlagend am Boden lag und verblutete. Die Energiehälfte stand wie angewachsen da und rührte sich nicht.

»Wie zur Hölle hast du das gemacht?« fragte Hazel.

»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte«, erwiderte Owen.

Sie traten vor und schlugen einen weiten Bogen um die Energiehälfte; dann standen sie über der zuckenden menschlichen Hälfte. Sie starb Stück für Stück, aber sie starb. Eingeweide und Organe waren aus der klaffenden Wunde an der Seite gefallen, und ein Blutschwall ergoß sich über den Bahnsteig, rann über die Kante und tropfte auf die darunter liegenden Schienen. Owen sah das Sterben des Halben Mannes mit gemischten Gefühlen. Er war sein Feind gewesen und das genaue Gegenteil von allem, an das Owen inzwischen glaubte, und es fiel Owen schwer, den Mann in ihm zu sehen, der von unaufhaltsamen äußeren Kräften in seine Rolle gedrängt und zu einer Legende gemacht worden war, die er niemals hatte sein wollen. Owen wußte genau, wie der Halbe Mann sich gefühlt haben mußte. Sein Leben war genauso verlaufen. Er kniete neben dem halben Körper nieder und nahm die zitternde Hand in die seine. Das Auge in dem halben Kopf war tief in die Höh-le eingesunken, doch jetzt öffnete es sich ein wenig und sah Owen an. Der Halbe Mann bemühte sich verzweifelt, etwas zu sagen, doch aus seinem halben Mund drang kein Ton. Owen beugte sich über das halbe Gesicht, aber da war der Halbe Mann bereits tot. Sanft löste er seine Hand aus dem Griff des Toten und stand wieder auf.

»Was glaubst du, was er dir noch sagen wollte?« murmelte Hazel.

» Geh zur Hölle oder etwas in der Art wahrscheinlich«, erwiderte Owen. »Er war schon immer ziemlich stur für einen Mann mit einem halben Gehirn

Giles schlug Owen auf die Schulter, daß der junge Todtsteltzer unwillkürlich zusammenzuckte. »Gut gemacht, Verwandter. Für einen Historiker hast du dich verdammt gut geschlagen.«

»Ein wenig Hilfe wäre nicht ungelegen gekommen«, entgegnete Owen vorwurfsvoll. »Warum habt ihr beiden nicht eingegriffen?«

»Oh, das wäre unsportlich gewesen«, sagte Giles. »Und das konnte ich nicht zulassen.«

»Vergiß den Sport«, brummte Owen. »Das hier ist Krieg.«

»Und Krieg ist der großartigste Sport von allen«, konterte Giles . »Du bist der Historiker in der Familie. Du müßtest es eigentlich wissen.«

»Sport ist es nur für die Sieger«, sagte Owen. »Nicht für die Verlierer, die Opfer, die Waisen und Witwen und die armen Bastarde, die gegen ihren Willen hineingezogen worden sind.«

»Äh, Leute«, mischte sich Hazel unvermittelt ein, »ich glaube, wir haben da ein kleines Problem…«

Sie drehten sich um und folgten ihrer ausgestreckten Hand.

Die abgetrennte Energiehälfte stand noch immer da, wo Owen den Halben Mann geteilt hatte, aber ihre Umrisse waren in Bewegung geraten. Die glänzende Energiegestalt pulsierte und verschwamm und stieß an die Grenzen ihrer Form. Sie wurde zu etwas anderem, Differenzierterem, nun, da sie nicht mehr länger an ihre menschliche Form gebunden war oder von ihr beherrscht wurde. Die sich langsam ändernde Gestalt wurde von Minute zu Minute beunruhigender und fremdartiger, bis Owen gegen den Drang ankämpfen mußte, den Blick abzuwenden. Die Gestalt wurde zu einem Fremdwesen und noch mehr. Sie besaß Breite und Höhe und Tiefe und andere Dimensionen, die Owen mehr spürte, als daß er sie gesehen hätte. Die Erfahrung bereitete ihm Kopfschmerzen.

Hazel feuerte mit ihrem Disruptor auf das Gebilde, und der Strahl prallte ab, ohne Schaden anzurichten. Das Energiewesen strahlte blendend hell, wie ein Loch in der Wirklichkeit, durch das irgendein unheilvoller Gott sein durchdringendes Licht sandte. Und dann war sie von einem Augenblick auf den anderen verschwunden, und die Erinnerung verblaßte auf Owens Netzhaut wie ein Alptraum, aus dem man endlich erwachte.

Owen stieß dankbar die Luft aus. Er bemerkte, daß Hazel seinen Arm so fest umklammerte, daß es schmerzte. Hastig ließ sie ihn wieder los, und Augenblicke später hatte sie wieder ihre unnahbare Haltung zurückgewonnen.

»Das war mal etwas anderes«, sagte sie ein wenig kurzatmig .

»Hat irgendeiner von euch eine Idee, was zur Hölle wir gerade gesehen haben?«

»Ein Problem aus der Zukunft«, sagte Owen. »Weil ich nämlich das dumpfe Gefühl habe, daß es eines Tages wiederkommen wird, zusammen mit den Fremdwesen, die es geschaffen haben. Möglicherweise haben wir nur eine Gefahr gegen eine andere ausgetauscht.«

»Sollen sie nur kommen«, knurrte Giles. »Sollen sie nur alle kommen. Sie werden kein Gegner sein für das Imperium, das wir bis dahin geschaffen haben. Und jetzt laßt uns gehen. Wir wollen die Imperatorin schließlich nicht warten lassen.«

Er stapfte los, und Owen und Hazel schlossen sich ihm an.

Hazel wechselte einen Blick mit Owen.

»Ich hasse es, wenn er nur so vor Selbstvertrauen zusprühen scheint«, sagte sie. »Er beschwört den Ärger geradezu herauf.«

»Ich könnte es nicht besser formulieren«, stimmte Owen zu.

»Aber wenigstens müssen wir uns nicht dauernd fragen, was er gerade macht, solange er vor uns geht.«

»Und wenn das Schießen erst anfängt, können wir hinter ihm in Deckung gehen«, meinte Hazel. »Breit genug ist er ja.«

»Ich kann jedes Wort hören«, sagte Giles vor ihnen. »Und bildet euch ja nicht ein, daß ich euch witzig finde.«

»Selbst schuld«, erwiderte Hazel. »Das hast du davon, wenn du lauschst. Geh ruhig ein wenig schneller, oder ich trete dir in die Hacken.«

»Ich frage mich, ob noch Zeit genug ist, um zurückzugehen und die Führer der Rebellion um andere Begleiter zu bitten«, sagte Owen mit Bedauern in der Stimme.

Sie stürzten aus der purpurnen Sonne eines frühen Morgenhimmels herab: eine ganze Armada von schnellfliegenden Antigravschlitten. Es waren Tausende, und sie verdunkelten den Himmel. Einmannflieger mit frisierten Motoren für mehr Geschwindigkeit, bis zu den Zähnen bewaffnet mit angeschweißten Disruptoren und schweren Projektilwaffen mit langen Pa-tronenketten. Sie kamen sehr tief herein, ein gutes Stück unterhalb der normalen Abtastgrenze der Sensoren. Sie flogen über die Hauptstadt und in Richtung der Familientürme, und die Clans ahnten nicht, was auf sie zukam. Sie peitschten zwischen den hohen Gebäuden der Hauptstadt hindurch, stiegen und fielen mit den Auf- oder Abwinden und waren so schnell vorbei, daß die automatischen Waffensysteme auch nicht den Hauch einer Chance hatten, ihr Ziel zu erfassen.

Tausende von Schlitten schossen über die Stadt hinweg, bemannt mit Espern und Klonen, mit Rebellen und allem und jedem, der Sehnsucht nach Gerechtigkeit im Herzen trug und den Willen, bis in die Hölle und zurück zu fliegen, um die Familien nach all der Zeit von ihren Sockeln zu stürzen.

Sie flogen über die kämpfenden Massen in den Straßen, ohne sich in die Gefechte einzumischen. Ihre Mission war eine andere. Hin und wieder wurde von unten eine Waffe auf den Schwarm abgefeuert, doch die Schlitten waren klein und schnell und schwer zu treffen.

Mächtige Imperiale Antigravbarken bemühten sich, den Angreifern den Weg abzuschneiden. Sie schwebten über dem Boden wie gewaltige Festungen; doch es gab nur wenige von ihnen, und die Schlitten rasten über und unter und rechts und links von ihnen vorbei und waren in Sekundenschnelle wieder verschwunden. Die lektronengesteuerten Feuerleitsysteme hatten kein einziges Ziel erfaßt. Zu unberechenbar war die Flugbahn der winzigen Schlitten. Niemand hatte je zuvor den Gedanken gehabt, Einmannschlitten auf diese Art einzusetzen – bis Jakob Ohnesorg gekommen war. Sie verdunkelten den Himmel und donnerten mit der Sonne im Rücken in Richtung der Türme: Eine Armee der Vergeltung auf Furienflügeln.

Jakob Ohnesorg, Ruby Reise und Alexander Sturm führten den Angriff. Sie flogen Seite an Seite und hatten die Energieschirme der Schlitten zugunsten höherer Geschwindigkeit abgeschaltet . Der Fahrtwind zerrte an ihren Gesichtern und trieb ihnen die Tränen in die Augen, und die Kühle des frühen Morgens ließ sie trotz der Heizelemente in ihren Anzügen frösteln.

Sie ignorierten die Kälte, so gut es ging, und konzentrierten sich ganz und gar auf das, was vor ihnen lag. Für Sturm und seine alten Knochen war es am schlimmsten. Er biß die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten, und hatte Mühe, nicht den Anschluß an Jakob und Ruby zu verlieren. Er wollte auf gar keinen Fall zurückbleiben.

Ohnesorg sah auf die Hauptstadt hinunter und fand es schwer zu glauben, daß sein Kreuzzug ihn nach all den Jahren und den unzähligen Schlachten doch noch heim nach Golgatha geführt hatte. Heim und zu den Familien, die im Namen ihrer Privilegien und des Profits alles und jeden verkauften und manipulierten. Sie hatten ihn für vogelfrei erklärt und verbannt, und sie hatten ihr Bestes getan, um Jakob zu brechen und zu töten.

Jetzt war er zurückgekehrt, um ihnen die Rechnung zu präsentieren. Und die Summe war in all den Jahren verdammt groß geworden.

Jakob lachte laut; doch der Wind riß das Geräusch so schnell mit sich fort, daß Jakob es selbst hören konnte. Heute war der Tag, an dem das Imperium fallen würde, und Jakob würde helfen, es zu stürzen. Und wenn er es endlich auf den Knien hatte, würde er ihm in die Augen spucken und in die Zähne treten .

Gnadenlos gab er Gas in dem Versuch, noch mehr Geschwindigkeit aus den Maschinen zu holen, doch der Schlitten hatte längst seine Sicherheitslimits überschritten . In der Ferne tauchten die ersten Türme auf. Jakob konnte es nicht erwarten, endlich dort zu sein. Inzwischen würden die Clans wissen, daß er auf dem Weg war. Sie würden ihre Verteidigungsanlagen aktiviert und die Zielsysteme justiert haben, um das Tempo und die Manövrierfähigkeit der Schlitten zu kompensieren. Sie würden ihn erwarten. Und Jakob gab einen verdammten Dreck darauf.

Es war der Tag der Abrechnung. Fast wäre er wieder religiös geworden. Er grinste rauh, und der Wind zog seine Lippen zu einem wölfischen Zähneblecken auseinander. Es war ein guter Tag zum Sterben, aber nicht für Jakob.

Er warf einen Seitenblick zu Ruby Reise. In ihrer schwarzen Lederkleidung mit dem weißen Fellumhang sah sie aus wie eine der Walküren aus der Legende. Ihr Gesicht blickte grimmig und entschlossen, und sie stand felsenfest auf ihrem bok-kenden Gefährt . Eine Walküre, die gekommen war, um die toten Helden nach Walhalla zu führen, ob sie das nun wollten oder nicht. Rubys Schlitten war bis zum letzten möglichen Gramm mit Waffen vollgeladen, von Wurfmessern über Granaten bis hin zu Disruptoren. Ruby gehörte zu der Sorte Mensch, die gerne gut vorbereitet war, wenn es zum Kampf kam. Sie sah sich um, bemerkte Jakobs Blick und grinste ihm zu. Sie war auf dem Weg zur größten Beute ihres Lebens oder in den Tod, was wahrscheinlicher war –, und doch hatte sie niemals glücklicher ausgesehen.

Jakob erwiderte ihr Grinsen und drehte sich anschließend nach Sturm um, der auf der anderen Seite neben ihm flog. Der umsichtige alte Recke hatte sich an seinem Schlitten festgeschnallt, aber selbst jetzt schien er noch bei jeder unerwarteten Bewegung seines Fliegers zu zittern und zu schwanken. Seine lange weiße Mähne flatterte hinter ihm im Wind, und sein Blick war starr geradeaus gerichtet. Alexander war zu alt für diese Art von Mission, und jeder wußte es, einschließlich ihm selbst. Trotzdem hatte er darauf bestanden, mitgenommen zu werden, und Ohnesorg hatte es nicht über sich gebracht, nein zu sagen. Er verstand Sturms Bedürfnis, beim letzten Akt dabei zu sein, nachdem er den größten Teil seines Lebens dem Kampf gegen das Imperium gewidmet hatte. Also hatte Jakob den alten Burschen direkt neben sich geholt, wo er ein Auge auf ihn haben konnte. Im übrigen konnte er nur hoffen, daß Sturm durchhielt, und daß die Reflexe des alten Kämpfers ihn lange genug am Leben hielten, bis sie die Türme erreicht hatten. Eine ganze Reihe von Rebellen würde es nicht schaffen.

Sie rechneten mit schweren Verlusten, wenn die Armada erst auf die Hauptverteidigung der Türme stoßen würde. Jeder wußte es, und trotzdem hatten sich alle freiwillig gemeldet. Sie wußten, daß nur die Einmannflieger schnell und wendig und klein genug waren, um an den Verteidigungsstellungen vorbei und in die Türme zu gelangen. Dorthin, wo die Familien sich so verdammt sicher fühlten .

Bodentruppen hätten wahrscheinlich tagelang gegen die schwer bewaffneten und gut ausgerüsteten Verteidiger der Türme anrennen müssen . Sie hätten sich Stockwerk um Stockwerk den Weg nach oben bahnen müssen, um schließlich die Familien zu erreichen, die sich in den obersten Etagen verbarrikadiert hatten. Auf beiden Seiten hatte es gewaltige Verluste gegeben, und das alles ohne jede Garantie, daß die Familien am Ende nicht einfach ihre Türme aufgegeben und an einen sicheren Ort geflohen wären, bevor die Rebellen sie hätten gefangennehmen können.

Antigravbarken auf der anderen Seite waren stark genug bewaffnet, um sich einen Weg freizuschießen; aber sie waren zu langsam und nicht wendig genug. Die Feuerkraft der Türme hätte ausgereicht, die Barken aus dem Himmel zu blasen, bevor sie auch nur nahe genug herangekommen wären, um wirklichen Schaden anzurichten.

Esper konnten ebenfalls nichts ausrichten. Die Familien be-saßen unzählige ESP-Blocker.

Und das waren auch die Gründe, warum sich die Familien beim ersten Anzeichen ernsthafter Auseinandersetzungen in ihre Türme geflüchtet hatten – die einzigen Orte, an denen sie sich relativ sicher fühlten.

Und jetzt war Jakob gekommen, um sie eines Besseren zu belehren. Viele Jahre hatte er in den Schützengräben und Fuchsbauten unzähliger Schlachten darüber nachgedacht, wie er die Türme angreifen würde, hatte davon geträumt, was er tun würde, wenn es ihm endlich gelungen war, die Rebellion auf die Heimatwelt zu tragen. Er hatte über jedes einzelne Problem nachgedacht und jedes Detail sorgfältig ausgearbeitet, und jetzt war er hier und konnte seinen Traum Wirklichkeit werden lassen . Oder sterben . Tod oder Sieg. Und auch Jakob hätte nicht glücklicher sein können.

Von den privaten Landefeldern der Türme starteten Antigravbarken und schwangen sich in den Himmel, um die Armada zu stellen . Die Barken waren mächtige, schwerfällige Schiffe mit massiver Panzerung und überlegener Feuerkraft; doch die Schlitten waren in Sekundenschnelle über ihnen und um-zingelten den Gegner. Sie schossen vor und zurück und kurvten um die langsamen Barken herum, und sie waren zu klein und viel zu schnell für die Zielrechner der großen Schiffe. Die Lektronen waren auf stationäre Ziele oder wenigstens Schiffe ihrer eigenen Größe programmiert. Von Sekunde zu Sekunde schossen mehr Schlitten an ihnen vorbei, und schließlich eröffneten die Barken das Feuer auch ohne Feuerleitlösung, und mächtige Disruptorkanonen feuerten Breitseiten in die dichtesten Ansammlungen von Schlitten.

Die Armada zog sich augenblicklich auseinander; aber es waren so viele Schlitten, daß die Barken nicht ununterbrochen vorbeischießen konnten, und ohne schützende Energieschirme fielen getroffene Flieger sofort wie brennende Blätter vom Himmel. Innerhalb weniger Sekunden explodierten Dutzende der kleinen Schlitten, und Todesschreie hallten durch den Wind. Dann stürzten sich die Überlebenden der ersten Welle zwischen die Barken, so daß diese nicht mehr feuern konnten, ohne sich gegenseitig zu treffen. Sie wichen den kleineren Waffen aus und eröffneten das Feuer aus den eigenen Disruptoren. Zuerst waren es nur wenige Schlitten, und sie reichten nicht aus, um die Schilde der Barken zu beschädigen, doch schon nach kurzer Zeit kamen Hunderte hinzu, und ständig wurden es mehr. Sie kreisten um die Barken wie wütende Hor-nissen um einen Bären, und sie feuerten unablässig, bis sich ein Schild nach dem anderen überlud und ausbrannte, weil er die zahlreichen Treffer an so vielen Stellen gleichzeitig nicht mehr kompensieren konnte. Und dann fielen die Schlitten über die Barken selbst her. Ihre Waffen rissen durch ihre schiere Anzahl gezackte Löcher in die schweren Panzerungen, und weil das Feuer nicht aufhörte, wurden die Barken schließlich von inneren Explosionen erschüttert. Rauch quoll fett und schwarz durch die Einschußlöcher, und Flammen gesellten sich hinzu.

Eins nach dem anderen kippten die Schiffe zur Seite und trieben hilflos im Wind davon, während sie langsam, aber unaufhaltsam Richtung Boden fielen. Die Armada aus Einmannschlitten hatte nur unbedeutende Verluste erlitten, als sie schließlich Barken hinter sich zurückließ und Kurs auf den ersten der pastellfarbenen Türme nahm, der groß und stolz in den frühen Morgenhimmel aufragte.

Tausende von Schlitten verdunkelten den Himmel. Unausweichlich näherten sie sich den letzten Zufluchtsorten der Clans. Die Besatzungen der Türme warteten ab, bis die Angreifer in sicherer Schußweite waren, dann eröffneten sie das Feuer aus ihren eigenen Disruptorkanonen. Sie rissen tiefe Lücken in die Reihen der Armada. Schlitten taumelten in die Tiefe, verdrehte, zerrissene Metallwracks, die lange Fahnen aus Feuer und Rauch hinter sich her zogen. Die Mehrzahl flog einfach weiter. Später würde noch genug Zeit sein zum Trauern. Das Sperrfeuer der Türme riß immer und immer wieder breite Lük-ken in die anbrandenden Massen, und der Himmel war voll mit Blut, Schreien, Explosionen und Splittern, und noch immer stürmte die Armada voran. Jetzt war es zu spät zur Umkehr.

Die Türme würden den Fliehenden in die Rücken schießen .

Und so nah am Ziel machten auch Ausweichtaktiken keinen Sinn mehr. Also gaben die Flieger Vollgas und schossen auf die Türme zu wie Lenkraketen, angetrieben von Wut und Entschlossenheit und lebenslangem Leid. Ohnesorg führte noch immer, und Ruby Reise und Alexander Sturm waren noch immer an seinen Flanken. Ohnesorg schrie und brüllte jetzt alte Kampfschreie, und Hunderte von Kehlen hinter ihm nahmen seine Rufe auf. Vielen der Rebellen war allein Jakobs Name Schlachtruf genug. Heulend fielen die Rebellen über die Türme her, und der Morgen war erfüllt von ihren Rufen nach Rache und Vergeltung.

Die Kanonen der Türme feuerten ununterbrochen. Sie schossen Schlitten um Schlitten ab, und auf allen Seiten stürzten schwarz verbrannte Trümmer in die Tiefe. Hunderte guter Männer und Frauen fanden den Tod, wurden zusammen mit ihren Fliegern zerfetzt und zerrissen, von Feuer verschlungen oder einfach von der Wucht naher Explosionen von ihren Schlitten geschleudert.

Jakob, Ruby und Alexander führten den Angriff noch immer.

Rings um die drei herum explodierten Schlitten und starben Rebellen. Die Thermik in der Nähe der Türme erfaßte die ersten Schlitten, und sie kurvten in wilden, gefährlichen Manövern herein. Hinter ihnen warfen Tausende weiterer Schlitten dunkle, unheilvolle Schatten auf die Türme. Hunderte Angreifer waren bereits gefallen, jeden Augenblick starben weitere; doch es waren noch immer viele Tausende, und sie ließen sich nicht abschrecken. Inzwischen waren die führenden Schlitten ganz nah. So nah, daß die Disruptorkanonen der Türme nicht mehr auf sie zielen konnten. Die Angreifer durchbrachen die Verteidigungsringe und nahmen Kurs auf die riesigen Stahlglasfenster der oberen Stockwerke. Ohnesorg glaubte, hinter den Scheiben erschrockene Gesichter mit vor Furcht weit aufgerissenen Augen zu sehen, und sein Herz wurde warm bei diesem Anblick. Er grinste noch immer, als ein Disruptorstrahl aus dem Turm der Chojiros seinen Schlitten traf. Jakob klammerte sich grimmig an den Konsolen fest, als der Schlitten unter ihm zu bocken begann. Dann explodierte das gesamte Armaturenbrett. Ohnesorg packte geblendet vom Blitz und den Flammen an den plötzlich toten Gashebel, und der Schlitten sackte unter ihm weg. Der Flieger stürzte wie ein Stein zu Boden und zog eine lange Rauchfahne hinter sich her. Ohnesorg sah, wie die Armada sich über ihm entfernte und ihn zurückließ. Er fluchte lästerlich und kämpfte mit den Überresten der Kontrollen. Jakob hatte keine Angst vorm Sterben. Er war viel zu wütend. Er war so weit gekommen und hatte soviel durchgemacht, und ausgerechnet jetzt sollte es zu Ende sein.

Die Maschine des Fliegers hustete, und der Schlitten machte einen Satz. Fast hätte Jakob den Halt verloren und wäre herun-tergefallen. Er fauchte etwas Unverständliches und konzentrierte sich weiter auf die Kontrollen in dem Bemühen, die brennenden Überreste des Schlittens zu einem Wunder zu überreden. Und tatsächlich schien einer der Götter, die er angerufen hatte, seine Gebete zu erhören. Die Maschine des Schlittens erwachte stotternd zu neuem Leben. Sie klang rauh und unruhig, und der Schlitten schwankte und taumelte wild mal in die eine, mal in die andere Richtung; doch langsam, ganz allmählich wurde der unkontrollierte Absturz gebremst und endete schließlich ganz. Jakob Ohnesorg heulte und schrie und schüttelte triumphierend die Faust, und der Schlitten gewann wieder an Höhe. Er stieg an der Seite des Turms Chojiro empor, hinauf zu der wartenden Familie im obersten Stockwerk.

Die Maschine drohte jeden Augenblick wieder zu versagen; doch Ohnesorg ließ es nicht so weit kommen. Er bediente die Kontrollen mit höchster Konzentration. Die Armada über ihm brandete noch immer wie unzählige dunkle, drohende und unaufhaltsame Schatten gegen die Türme an. Nach wie vor feuerten die Verteidiger, und in der Masse der Angreifer hatten sich große Lücken aufgetan, und trotzdem rückten die Schlitten weiter vor. Einige von ihnen hatten ihr Ziel schon erreicht. Sie schossen große Löcher in die Stahlglasfenster und krachten in die obersten Stockwerke der Türme. Truppen mit Schwertern und Disruptoren erwarteten sie dort; aber die erste Welle von Rebellen kämpfte tapfer und mit dem Mut wilder Verzweiflung. Sie wollten nicht sterben, bevor sie nicht für die Nachrückenden einen Brückenkopf gesichert hatten. Viele von ihnen starben trotzdem schon nach wenigen Augenblicken, überwäl-tigt von der schieren Übermacht der Verteidiger, doch ununterbrochen tauchten weitere Rebellen auf und erzwangen sich Meter für Meter ihren Weg in die Türme.

Es war ein Kampf, den die Familien so niemals zu führen erwartet hatten. Nach dem Schlittenangriff der Wolfs auf den Turm der Feldglöcks hatten die meisten Familien ein paar zu-sätzliche Disruptorkanonen auf den Dächern montiert und Geld in eine Flottille von Antigravbarken investiert; doch noch nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hatten sie sich vorgestellt, eines Tages derartige Massen von Angreifern abwehren zu müssen.

Mehr und mehr Schlitten durchbrachen die Verteidigungsringe der Türme und die Fenster der oberen Stockwerke. Ohnesorg fluchte wehmütig, während sein Schlitten langsam höher stieg. Er hatte als einer der ersten in den Turm Chojiro eindrin-gen und den nach ihm Kommenden Rückendeckung geben wollen. Jakob Ohnesorg war ein Mann, der gewohnt war, seinen Truppen voranzugehen. Er wußte nicht, was aus Alexander Sturm oder Ruby Reise geworden war; doch er hatte jetzt auch nicht die Zeit, um über das Schicksal der beiden nachzudenken.

Der Schlitten kroch die letzten paar Stockwerke empor und kam vor dem obersten Geschoß zum Stillstand. Ohnesorgs Magen krampfte sich zusammen, als er sich unvermittelt einem ganzen Dutzend auf ihn gerichteter Disruptoren gegenüber sah.

Irgend jemand war durch eines der Stahlglasfenster gebrochen, doch er hatte offensichtlich nicht überlebt. Adrenalin schoß durch Jakobs Adern, und mit einemmal schien sich alles in Zeitlupe zu bewegen. Er hatte plötzlich alle Zeit der Welt, um die Situation zu analysieren und über das nachzudenken, was als nächstes zu tun war. Er vertraute dem halb zerstörten Schlitten nicht genug, um sich unter das Schußfeld der Disruptoren fallen zu lassen, und der Flieger war auch nicht mehr schnell genug, um hochzusteigen. Und wenn er seine letzten Augenblicke mit dem Versuch zubrachte, die Schutzschirme des Schlittens hochzufahren, nur um herauszufinden, daß sie nicht funktionierten, dann würden die Disruptoren nicht genug von ihm für eine Beerdigung übriglassen. Und so tat Ohnesorg das einzige, was zu tun blieb, während die Zeit wieder schneller abzulaufen begann. Er riß den Gasgriff des Schlittens bis zum Anschlag auf und krachte mit seinem Gefährt mitten zwischen die wartenden Wachen.

Sie feuerten wild um sich, als er plötzlich zwischen ihnen war, und es war unausweichlich, daß einige Schüsse trafen. Der Schlitten explodierte, und Ohnesorg wurde in einer Flammen-wolke über das Armaturenbrett hinweg nach vorn geschleudert.

Er segelte geblendet und mit brennenden Kleidern durch die Luft und versuchte verzweifelt, die Beine unter den Leib zu ziehen. Die Überreste des Schlittens explodierten erneut, und die Wachen verteilten sich hastig. Ohnesorg prallte heftig auf den teppichbedeckten Boden auf. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen. Er rollte sich zu einer Kugel zusammen und hoffte, daß der Rauch der Explosion ihm Deckung gab.

Verzweifelt bemühte er sich, das Schwert und den Disruptor zu ziehen. Er hörte die Rufe der Wachen und das Knistern des Feuers über den Lärm des allgemeinen Durcheinanders hinweg, und dann krachten die Überreste des brennenden Antigravschlittens auf ihn herab und begruben ihn unter sich, und Jakob hörte nur noch das bösartige Brüllen der Flammen und spürte eine alles verzehrende Hitze.

Die überlebenden Wachen riefen nach Verstärkung und be-kämpften die überall im obersten Stockwerk ausbrechenden Feuer. Die Familienmitglieder der Chojiro hatten sich bereits vor einiger Zeit in das darunter liegende Stockwerk zurückgezogen. Weitere Wachen trafen ein. Ein Teil half beim Löschen der Feuer, während die restlichen Wachen an den zerbrochenen Fenstern in Stellung gingen und die anstürmenden Schlitten unter Dauerbeschuß nahmen. Der Turm Chojiro hatte mehr Disruptorkanonen auf dem Dach als die meisten anderen, und für den Augenblick konzentrierten sich die angreifenden Schlitten auf die weniger gut verteidigten Türme. Eine Handvoll Wachen näherte sich vorsichtig dem brennenden Wrack von Jakobs Schlitten. Niemand konnte einen solchen Sturz und das Feuer überleben; doch die Wachen gingen kein unnötiges Risiko ein. Man hatte ihnen erstaunliche Dinge über einige der Rebellen erzählt. Einer der mutigeren von ihnen beugte sich über den Schlitten und stieß ihn neugierig mit der Schwertspitze an. Die Hitze des Feuers hinderte ihn daran, noch näher heranzutreten; aber er glaubte, unter dem Wrack eine verkohltes Bein zu sehen. Er stieß auch das Bein mit dem Schwert an und machte einen erschrockenen Satz nach hinten, als das Bein zuckte. Der Söldner beeilte sich, in die Reihen seiner Kameraden zurückzukehren, und plötzlich geriet das Wrack in Bewegung und kippte zur Seite. Irgend etwas darunter stand wieder von den Toten auf und befreite sich entschlossen von den Trümmern. Der brennende Schlitten überschlug sich, und eine schwarz verkohlte menschliche Gestalt tauchte darunter auf.

Die Kleider waren versengt, und die ungeschützte Haut an den Händen und im Gesicht war rot und roh von den Verbrennungen. Doch die Gestalt stand hoch erhoben vor den Wachen, und die verbrannten Hände hielten Schwert und Disruptor sicher in ihrem Griff. Die Augen der Gestalt waren nur weiße Schlitze in einem schwarzen Gesicht. Plötzlich blitzten weiße Zähne in einem erschreckenden Grinsen.

»Keine Angst, so leicht sterbe ich nicht«, sagte Jakob Ohnesorg.

Die Wachen standen sekundenlang wie angewurzelt da, be-täubt vom Anblick eines Wesens, das längst hätte tot sein müssen und das sich statt dessen erhoben hatte und sie aufs neue herausforderte. Doch sie waren gut ausgebildete Turmwachen, und sie waren konditioniert, ihren Familien bis in den Tod zu dienen. Der Augenblick verging. Mit einem kalten Schulterzuk-ken schüttelten sie die Furcht ab und griffen mit erhobenen Schwertern an. Sie waren bereit, den verbrannten Geist in hundert Fetzen zu hauen. Davon würde er sich bestimmt nicht mehr erholen. Ohnesorg hob seinen Disruptor und zielte sorgfältig. Er schaltete drei Wachen mit einem einzigen Schuß aus. Sie starben schweigend; doch der Rest rückte unbeeindruckt vor. Ohnesorg schob seinen Disruptor zurück in den verkohlten Holster, packte das Schwert mit fester Hand und überlegte, wie viele der Angreifer er wohl mit in den Tod nehmen könnte, bevor sie ihn endgültig erwischten. Selbst Jakob Ohnesorg hatte seine Grenzen, und er spürte, daß er ihnen verdammt nah gekommen war.

Der Absturz und das Feuer hatten ihn viel gekostet, und ihm blieb nicht genug Zeit, um sich zu regenerieren. Er hätte mit den Schultern gezuckt, wenn es nicht so geschmerzt hätte. Jakob hatte immer gewußt, daß er eines Tages alleine sterben würde.

Überrannt von der letzten, endgültigen Übermacht seiner Feinde.

Und das war der Augenblick, in dem Ruby Reises Stimme plötzlich in seinen Ohren dröhnte.

»In Deckung, Jakob!«

Er warf sich zu Boden, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, und mit einemmal war der Raum mit dem donnernden Krachen von Maschinengewehrfeuer erfüllt . Ruby hatte das Feuer aus der schweren Projektilwaffe eröffnet, die auf ihrem Schlitten montiert war. Der Flieger schwebte draußen vor dem zerschmetterten Fenster. Die Wachen zuckten und brachen zusammen, während sie von Kugeln durchsiebt wurden. Sie starben hilflos angesichts einer Waffe, auf die sie niemals vorbereitet worden waren. Nur wenige fanden Zeit, das Feuer zu erwidern. Sie richteten keinerlei Schaden an, und schon bald waren alle tot und lagen seltsam verrenkt in großen Lachen ihres eigenen Blutes auf dem teuren Teppich. Die Waffe verstummte, und die plötzliche Stille im Raum ließ Jakobs Ohren klingeln. Dichte Rauchschwaden trieben träge durch die Luft.

Ruby riß die schwere Waffe aus ihrer Verankerung und sprang leichtfüßig durch das zerschmetterte Fenster . Sie eilte zu Jakob, der müde die Hand zum Gruß hob . Ruby starrte auf die verkohlte, halb rohe Hand und dann auf sein nicht minder entsetzlich zugerichtetes Gesicht.

»Jakob… du siehst schrecklich aus.«

»Danke für das Kompliment. Wahrscheinlich sieht es schlimmer aus, als es sich anfühlt – obwohl es sich wirklich verdammt schlimm anfühlt –; aber ich werde wieder gesund.

Ich spüre, wie es heilt. Ich bin noch immer mit im Spiel.« Er warf einen Blick auf die schwere Projektilwaffe, die Ruby in den Armen hielt wie ein Kind. »Ich schätze, es war genau richtig, dieses Ding mitzubringen. Sieht aus, als würde es eine Menge Spaß machen.«

Ruby kicherte. »Darauf kannst du deinen Hintern verwetten.

Hier, halt mal.« Sie warf ihm das Maschinengewehr in die Ar-me und ging zielstrebig auf die Toten zu. Neben den ersten kniete sie nieder und durchwühlte mit professionellem Geschick seine Taschen. Ohnesorg runzelte die Stirn.

»Ruby, was machst du da?«

»Ich suche nach Wertsachen, warum? Kredits, Edelsteine, was eben so anfällt.«

»Wir haben keine Zeit für so etwas!«

»Dazu ist immer Zeit. Als ich mich dieser Rebellion angeschlossen habe, wurde mir soviel Beute versprochen, wie ich tragen kann, und das hier ist die erste Anzahlung. Obwohl ich zugeben muß, daß die Ausbeute ziemlich mager ist. Eine billige Bande. Morgen um diese Zeit habe ich den gesamten Turm durchsucht. Wenn es klein und wertvoll ist und wenn ich es irgendwie bei mir tragen kann, dann werde ich es mir holen.«

Ohnesorg schüttelte traurig den Kopf und ging zur Treppe . Er dachte keine Sekunde daran, den Aufzug zu benutzen: sicher war er mit Fallen gespickt. Er hätte es genauso gemacht. Die Familie hatte sich wahrscheinlich ein Stockwerk tiefer verbarrikadiert. Zweifellos wurde sie von einer kleinen Armee von Beschützern verteidigt, Nicht, daß es irgend etwas genützt hät-te. Ohnesorg grinste wölfisch und spürte, wie die Haut auf seinem Gesicht riß. Er griff automatisch nach oben und betastete seinen Mund. Schwarze Stücke verbrannten Gewebes lösten sich ab. Jakob spähte in einen kleinen Spiegel an der Wand neben der Treppe. An den Stellen, wo sich die verbrannte Haut geschält hatte, wurde frisches neues Gewebe sichtbar. Er heilte.

Er fühlte sich noch immer schrecklich; aber jetzt war nicht die Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen. Er stieß die Tür zum Treppenhaus auf und spähte die hell erleuchtete Metalltreppe hinunter. Sie lag verlassen und still da. Nichts rührte sich.

Ohnesorg grinste erneut. Ganz ohne Zweifel hielt der Clan Chojiro alle möglichen unangenehmen Überraschungen für ihn bereit . Trotzdem, sie würden ihn nicht aufhalten. Nichts und niemand würde ihn jetzt noch aufhalten, nicht alle bewaffneten Streitkräfte von Golgatha zusammen und auch nicht alle Beute der Welt. Er hatte sich den Turm Chojiro mit voller Absicht als Ziel gesucht. Jakob hatte seine Erfahrungen mit den verräterischen Machenschaften der Chojiros, und nun, da er endlich hier war, würde er sie allesamt schreiend zur Hölle schicken, egal was es auch kosten würde. Er rief scharf nach Ruby. Die Kopfgeldjägerin zog noch rasch ein paar Ringe von ein paar toten Händen, dann eilte sie herbei. Ihre Taschen waren ausge-heult von allen möglichen Wertsachen. Sie nahm die Projektilwaffe wieder an sich und hielt sie zärtlich in den Armen.

Wenn das hier vorbei war, würde sie ein paar scharfe Worte mit Jakob wechseln . Erstens, weil er es gewagt hatte, in diesem Ton mit ihr zu reden, und zweitens, weil er sie beim Durchsuchen der Leichen unterbrochen hatte. Für den Augenblick gab sie sich allerdings damit zufrieden, ihm zu folgen, wohin auch immer. Sie übernahm auf Ohnesorgs Wink hin die Führung und setzte sich die Treppe hinunter in Bewegung . Ohnesorg folgte ihr dicht auf den Fersen.

Sie waren nicht weit gekommen, als ein entschlossener Trupp persönlicher Leibgarden die Treppe hinaufkam, um ihnen entgegenzutreten. Ruby brachte das Maschinengewehr in Anschlag und eröffnete augenblicklich das Feuer. Ohrenbetäubender Lärm erfüllte das enge Treppenhaus; doch die Wachen hatten längst ihre persönlichen Schutzschilde eingeschaltet. Die hinteren Reihen hielten die Schilde über ihre Köpfe. Kugeln prallten harmlos von den Energiefeldern ab und flogen als Querschläger durch die Gegend. Ruby mußte das Feuer einstellen, um nicht zu riskieren, selbst getroffen zu werden. Sie ließ das Maschinengewehr fallen und riß das Schwert heraus in der Erwartung, die Wachen würden jetzt die Schilde abschalten und mit gezückten Schwertern angreifen. Doch nichts derglei-chen geschah. Die Wachen rückten unvermindert langsam und mit eingeschalteten Schilden vor. Sie blockierten die Treppe in ihrer ganzen Breite, und weil es keinen anderen Weg gab, zwangen sie Ruby und Jakob auf diese Weise zum Rückzug.

Es war eine ebenso einfache wie wirkungsvolle Taktik. Ihr einziger Sinn bestand darin zu verhindern, daß die Rebellen zu der Familie vordrangen.

Bei jedem anderen hätte diese Taktik wahrscheinlich funktioniert; aber Ruby und Jakob waren durch das Labyrinth des Wahnsinns gegangen. Sie faßten sich mental bei den Händen, vereinigten ihre Bewußtseine und sandten eine pyrokinetische Feuerwand die Treppe hinab. Das gesamte Treppenhaus wurde von so extremer Hitze erfüllt, daß die Metallsrufen und die Wände Blasen warfen. Die blendend weißen Flammen leckten um die Schutzschilde der Wachen herum und wirbelten sie beiseite. Innerhalb von Sekundenbruchteilen brannten sämtliche Wachen. Nur wenige fanden Zeit zu schreien, und noch weniger wandten sich zur Flucht; doch das Feuer war überall, und als es schließlich wieder verschwand, waren alle tot. Die Treppe war überfüllt mit verkohlten Leichen und dem schweren, erstickenden Gestank von verbranntem Fleisch. Ruby und Jakob unterbrachen ihre mentale Verbindung und blickten leidenschaftslos auf ihr Werk. Sie verschwendeten keinen Gedanken mehr an Gnade oder Mitleid.

Ruby zuckte vor der Hitze zurück und starrte mißmutig auf die verbrannten Körper, die den Weg nach unten versperrten.

»Ich schätze, wie müssen sie beiseite schaffen, bevor wir weitergehen können«, brummte sie. »Vielleicht hätten wir lieber zulassen sollen, daß sie fliehen.«

»Auf keinen Fall«, widersprach Ohnesorg. »Ein Feind, den man fliehen läßt, ist ein Feind, der irgendwann zurückkehren wird. Laß uns anfangen. Diese vielen Hindernisse machen mich richtig ungeduldig.«

Ruby zog ein Paar Handschuhe über und machte sich daran, die verkohlten Leichen beiseite zu räumen. Sie rümpfte die Nase ob des Gestanks, doch Ohnesorg schien ihn nicht einmal zu bemerken. Er hatte schon Schlimmeres gerochen. Dicke schwarze Flecken lösten sich von seinem Gesicht und seinen Händen, während er arbeitete, und darunter kam junge, rosige Haut zum Vorschein. Als er angefangen hatte zu arbeiten, hatte er noch ausgesehen wie die Leichen, die sie beiseite räumten; aber als sie schließlich damit fertig waren, sah er schon fast wieder aus wie der alte. Seine Kleidung war natürlich immer noch ruiniert, aber das war eben nicht zu ändern. Sie schafften gerade den letzten Leichnam beiseite, als ein einzelnes Paar Schritte eilig von oben die Treppe herunter kam. Ruby brachte rasch ihr Maschinengewehr in Anschlag, und Ohnesorg zog seinen Disruptor. Sie postierten sich Rücken an Rücken und hielten beide Seiten der Treppe im Auge – nur für den Fall, daß die Schritte eine Finte waren, um ihre Aufmerksamkeit vom eigentlichen Angriff abzulenken. Die Schritte schienen Ewigkeiten zu benötigen, um näherzukommen, und dann bog Alexander Sturm um die Ecke des Treppenabsatzes. Er blieb überrascht stehen, blinzelte und grinste dann auf das Maschinengewehr, mit dem Ruby auf ihn zielte.

»Wärt Ihr ein Mann, Ruby Reise, könnte ich jetzt eine sehr verletzende Bemerkung über Euer Bedürfnis fallen lassen, eine so große Waffe zu tragen«, sagte er schließlich gelassen. »Aber da Ihr kein Mann seid, spare ich mir die Mühe.«

Ruby wechselte einen Blick mit Ohnesorg. »Hat er gesagt, was ich glaube, daß er gesagt hat?«

»Laß uns später darüber reden«, wich Ohnesorg diplomatisch aus. Er senkte seinen Disruptor und grinste Sturm an. »Wurde auch allmählich Zeit, daß du auftauchst. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was dich so lange aufhält.«

»Der Verkehr war mörderisch«, entgegnete Sturm. Er sog die Luft ein und verzog das Gesicht. »Wie ich sehe, habt ihr wieder einmal die Hölle heraufbeschworen.«

»Wir tun nur, was getan werden muß«, erwiderte Ohnesorg.

»Komm hinter uns her, Alexander. Wir sind den Chojiros dicht auf den Fersen. Ich kann es spüren.«

»Ja«, sagte Ruby. »Es ist soweit. Das Schicksal erwartet die Chojiros. Die Zeit der Rache ist gekommen«

»Du hast schon wieder Gruselromane gelesen«, sagte Ohnesorg und rümpfte die Nase.

Sturm grinste. »Ach, sie kann tatsächlich lesen? Das wußte ich noch gar nicht.«

»Rede nur weiter so, Sturm«, knurrte Ruby. »Auf dem Grill ist noch Platz.«

»Mein Gott, das ist ja wie im Kindergarten!« sagte Ohnesorg.

»Haltet endlich den Mund, alle beide, und folgt mir. Wir wollen die Chojiros nicht unnötig warten lassen.«

Er setzte sich in Bewegung. Ruby folgte dicht hinter ihm.

Sturm hüllte sich eng in seinen Umhang, um sich vor der Hitze zu schützen, die nur langsam abnahm; dann ging er den beiden hinterher .

Sie bewegten sich vorsichtig voran, doch sie trafen auf keinen weiteren Widerstand mehr. Keine Soldaten, keine Fallen.

Nichts als die Metalltreppe, die vor ihnen nach unten führte.

Ohnesorg wurde von Sekunde zu Sekunde mißtrauischer. Er umklammerte das Schwert und den Disruptor so heftig, daß seine Finger schmerzten. Das war nicht der Clan Chojiro, den er in Erinnerung hatte. Die Chojiros, die er kannte, hatten für jede mögliche Bewegung eine Falle, für jeden Schritt eine Fußangel und Schicht um Schicht aus Verrat und Betrug um sich herum errichtet. Und wenn alles so unerwartet leicht ging, konnte das eigentlich nur bedeuten, daß die Chojiros ihn bereits erwarteten. Daß sie wollten, daß er bis zu ihnen vordrang. Und das wiederum konnte nur bedeuten, daß ihn eine wirklich bösartige und vernichtende Überraschung erwartete. Ohnesorg grinste sein wölfisches Grinsen.

Es spielte keine Rolle, was sie für ihn bereithielten. Nichts würde ihn jetzt noch aufhalten .

Sie erreichten den Fuß der Treppe und näherten sich vorsichtig der nackten Metalltür, die zur nächsten Etage führte. Alles war still und leise. Ruby spähte über das Geländer in die Tiefe, für den Fall, daß dort Wachen auf der Lauer lagen, doch das Treppenhaus lag leer und verlassen, soweit das Auge reichte.

Ohnesorg untersuchte die Tür und die umliegende Wand sorgfältig, aber er konnte keine Falle entdecken. Er war ziemlich sicher, daß ihm alles Verdächtige aufgefallen wäre; trotzdem fühlte er sich erleichtert, als er schließlich den Türgriff langsam drehte und die Tür einen Spalt weit aufschob und nichts geschah. Er winkte Ruby zu sich, und sie glitt lautlos und mit schußbereitem Maschinengewehr neben ihn. Ohnesorg zählte in Gedanken bis drei, und beide warfen sich gemeinsam gegen die Tür und stürmten in die darunterliegende Etage. Sturm folgte ihnen auf dem Absatz. Ein rascher Blick in die Runde zeigte Ohnesorg, daß keine Wachen auf sie warteten. Nirgendwo waren Fallen zu erkennen. Nichts, außer einem Mann und einer Frau, die beieinander standen und mit demonstrativ leeren Händen darauf warteten, die drei Besucher zu begrüßen.

SB Chojiro und Gregor Shreck.

SB war eine kleine Puppe von einer Frau. Sie besaß langes schwarzes Haar und scharf geschnittene orientalische Gesichtszüge. Sie trug einen Kimono aus hellem Purpur, der an den richtigen Stellen eng gebunden war. Ohnesorg konnte sich oh-ne Schwierigkeiten vorstellen, warum Julian Skye sich einst in sie verliebt hatte. Der Shreck auf der anderen Seite war ein gedrungener Fettklops von Mann mit aufgedunsenem Gesicht und kleinen tückischen Augen. Ein gefährlicher, hinterhältiger, trickreicher und nachtragender Mann – jedenfalls nach allem zu urteilen, was Jakob so von ihm gehört hatte.

Ohnesorg trat langsam vor und blieb außer Reichweite der Chojiro oder des Shrecks stehen. Ruby und Sturm traten rechts neben ihn. Sie hatten die Waffen im Anschlag . SB Chojiro verneigte sich tief vor den drei Rebellen. Der Shreck zwang sich zu einem steifen Nicken.

»Wer zur Hölle sind diese Leute?« fragte Ruby, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Stimme zu dämpfen.

»Ich wünschte wirklich, du hättest regelmäßig an den Besprechungen teilgenommen«, sagte Ohnesorg, ohne die beiden vor sich aus den Augen zu lassen. »Die Frau ist die Sprecherin der Chojiros, wenn es um Verhandlungen und ähnliche Dinge geht. Außerdem gehört SB Chojiro zum Schwarzen Block, obwohl wir das eigentlich nicht wissen dürften.«

»Vielleicht will sie mit uns über die Kapitulation ihres Clans verhandeln«, sagte Sturm.

Ruby runzelte die Stirn. »Würdest du sie akzeptieren, Jakob?«

»Nicht in tausend Jahren«, erwiderte Ohnesorg mit einer Stimme, die so kalt und emotionslos war wie der Tod. »Die Chojiros haben nichts, das ich so dringend wünsche wie ihren Untergang . Aber den alten Shreck solltest du wirklich erkennen, Ruby Gregor Shreck, der oberste Schleimball eines völlig heruntergekommenen Clans . Wenn es ihm paßt, spielt er den Rebellen, aber er ist immer und in erster Linie eins der Familienoberhäupter

»Ist das der Onkel von Tobias?«

»Ganz genau der.«

»O ja. Dann habe ich allerdings schon von ihm gehört. Wir werfen Münzen, wer als erster auf ihn einhacken darf, ja?«

»Aber nicht mit deiner Münze«, widersprach Ohnesorg . »Ich weiß, daß es eine Spezialanfertigung ist.«

»Falls wir am Ende wirklich verhandeln sollten, dann überlaßt das Reden bitte mir«, sagte Alexander Sturm. »Ihr beide redet euch sogar noch aus einem Lotteriegewinn heraus. Ich habe Erfahrung in diesen Dingen.«

»Es wird keine Verhandlungen geben«, sagte Ohnesorg entschlossen. »Ich habe so lange gewartet, um den Clan Chojiro zu Fall zu bringen. Der Shreck ist nur ein zusätzlicher Bonus.«

»Laßt sie wenigstens reden«, sagte Sturm. »Was kann es schaden?«

»Vielleicht verraten sie uns ja, wo sich die restlichen Chojiros verstecken«, meinte Ruby. »Oder noch besser, wo sie ihre Wertsachen versteckt haben.«

Ohnesorg nickte knapp. SB Chojiro lächelte ihre drei Besucher charmant an. Sie beeindruckte keinen damit; doch sie hielt ihr Lächeln aufrecht.

»Willkommen, verehrte Gäste«, sagte sie. »Bitte entschuldigt unsere frühere bewaffnete Verteidigung. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Familien noch kein Einverständnis über die bestmögliche Vorgehensweise erzielt, und sie verspürten das Be-dürfnis, sich zu schützen, solange die Gespräche andauerten .

Ich bin glücklich, Euch darüber informieren zu können, daß die Gespräche zu einem Ende gekommen sind. Ich bin ermächtigt, im Namen aller Clans zu sprechen. Der Shreck befindet sich bei mir, um meine Worte zu bestätigen. Um es kurz zu machen: Wir wünschen uns zu ergeben.«

Ohnesorgs Unterkiefer fiel nur ein kleines Stück herunter.

Alles hatte er an diesem Tag erwartet, aber nicht das. »Was denn?« fragte er ungläubig. »Alle Familien wollen sich ergeben?«

»Ich spreche für jeden Clan im gesamten Imperium«, sagte SB Chojiro. »Wir vermögen keinen Sinn in einem fortgesetzten bewaffneten Konflikt zu erkennen.«

»Laß dich nicht von ihr einlullen«, warnte Ruby. »Vergiß nicht, aus welchem Grund wir hergekommen sind. Sie will dich nur ablenken.«

»Unsere Kapitulation ist selbstverständlich von einigen zu er-füllenden Bedingungen abhängig«, fuhr SB Chojiro ungerührt fort.

»Das klingt schon eher nach den Clans«, brummte Alexander Sturm.

»Die Familien sind damit einverstanden, ihre Titel und die damit verbundenen Privilegien aufzugeben«, sagte SB Chojiro gelassen. »Als Gegenleistung verlangen sie ihr Überleben. Im Grunde genommen läuft es darauf hinaus, daß die gesamte Aristokratie verschwinden wird. Die Konzerne verbleiben im Besitz der Familien. Die Clans werden weiterhin ihren Geschäften nachgehen, aber sie werden sich nicht mehr an der Regierung des Imperiums beteiligen. Eine wirklich ziemlich einfache Vereinbarung, nicht wahr? Ihr ruft Eure Kriegshunde zurück und garantiert unsere Sicherheit, und wir ziehen uns aus der Politik zurück. Wir sind nicht so blind, daß wir nicht erkennen, wann die alte Ordnung am Ende ist und eine neue beginnt. Ist es nicht genau das, was Ihr Euch immer gewünscht habt, Jakob? Das Ende der etablierten, vererbten Macht innerhalb des Imperiums?«

»Wie können wir wissen, daß Ihr für sämtliche Familien sprecht?« fragte Ohnesorg . »Ihr seid Euch doch noch nie über irgend etwas einig gewesen.«

»Ich gehöre zum Schwarzen Block«, erwiderte SB Chojiro.

Sie lächelte noch immer. »Keine der Familien ist mächtiger als der Schwarze Block.«

»Meine Güte«, sagte Ruby. »Ich dachte immer, der Schwarze Block sei nichts weiter als ein Mythos. Junge Mitglieder der Familien, die auf Loyalität bis in den Tod und darüber hinaus konditioniert werden, nicht wahr? Sie haben alles und jedes infiltriert und warten im Verborgenen . Die letzte Waffe der Familien gegen die Löwenstein. Und du gehörst zu diesem Schwarzen Block?«

»Ganz genau«, erwiderte die Chojiro. »Doch im Laufe der Jahre wurde der Schwarze Block zu mehr als dem, wozu er ursprünglich gedacht war. Unsere Loyalität gilt nun dem Schutz und dem Überleben aller Familien und nicht nur der Clans, die den Schwarzen Block ins Leben gerufen haben. Es kam für einige Oberhäupter der Clans ein wenig überraschend, zugegeben, aber sie begriffen rasch die neuen Möglichkeiten, die sich daraus ergaben. Ganz besonders, als wir diesen Plan vorschlugen, um das Überleben der Familien zu sichern. Allerdings mußten einige der Clanoberhäupter ein wenig intensiver überzeugt werden. Sie fühlten sich in ihren uralten Türmen unendlich sicher; aber Euer unerwarteter Angriff und Eure brillante Strategie änderten alles, Jakob. Als Eure Truppen unsere Verteidigungen durchbrachen und in die obersten Stockwerke der kostbaren Türme eindrangen, war es tatsächlich erstaunlich, wie rasch auch die letzten Zauderer ihre Meinung änderten und uns baten, mit Euch in Verhandlungen zu treten.

Stimmt es nicht, Gregor?«

»Fahrt fort«, grollte der Shreck . »Nur weil eine Sache notwendig ist, bedeutet das noch lange nicht, daß ich mich vor Rebellenabschaum beuge. Ihr habt nicht gewonnen, Ohnesorg, und wir haben nicht verloren. Eine Pattsituation. Ihr könntet zu Eurem ursprünglichen Plan zurückkehren und weiter versuchen, uns zu stürzen, aber ich schwöre Euch, wir kämpfen bis zum letzten Überlebenden in jedem einzeln Clan, und wir werden dafür Sorge tragen, daß die meisten Eurer Leute ebenfalls dabei draufgehen. Sicher, Ihr könnt gewinnen, aber es würde Tausenden Eurer Leute das Leben kosten. Was sagt Ihr jetzt, Ohnesorg? Ist Euer Bedürfnis nach Rache den Tod so vieler Eurer Anhänger wert? Vor allem dann, wenn Ihr sie und den Tag mit einem einzigen Wort retten könnt?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Ohnesorg. »Vielleicht . Solange Typen wie Ihr am Leben sind und ihrer gerechten Strafe entgehen, solange war die gesamte Rebellion umsonst. Und all die vielen, die auf dem Weg hierher gestorben sind, wären dann für nichts gestorben. Das System muß fallen, und Ihr seid ein Teil des Systems.«

»Falls wir untergehen, fällt nicht nur das System«, sagte Gregor. Um seine Lippen spielte ein böses Grinsen. »Bisher kennt Ihr nur die halbe Wahrheit. Jetzt kommt der Rest: Solltet Ihr das Angebot ablehnen, setzen wir unsere gesamte finanzielle Macht ein, um die wirtschaftliche Basis des Imperiums zu zerstören. Wir sind dazu in der Lage. Wir setzen unsere Lektronen ein, um das Bankensystem so gründlich zusammenbrechen zu lassen, daß es Jahrhunderte braucht, um sich wieder zu erholen. Und seit dem Angriff Eures Freundes Owen Todtsteltzer auf die Steuerbehörde sind die Geldmärkte bereits ange-schlagen. Es kostet nicht mehr viel, ihnen den Rest zu geben.

Alles Geld würde wertlos. Jeder Kredit würde sich in Luft auflösen. Handel wäre unmöglich. Die Planeten wären voneinander abgeschnitten. Millionen würden verhungern, und weitere Millionen würden wegen der verbliebenen Krümel gegeneinander kämpfen. Was wäre dann aus Eurer glorreichen Rebellion geworden, Ohnesorg? Zerstört uns, und wir zerstören die Menschen, für deren Rettung Ihr so lange gekämpft habt.«

»Könnten sie das wirklich?« wandte sich Ruby an Ohnesorg.

»Könnten die Familien wirklich so etwas zustande bringen?«

»O ja«, sagte Jakob. »Und es entspricht genau ihrer Art und Weise zu denken

»Die Ordnung der Dinge ändert sich«, sagte SB Chojiro, »aber wir bestehen fort. Und wir haben einer neuen Regierung sehr viel anzubieten.«

»Noch ist die Rebellion nicht vorbei«, erwiderte Sturm nachdenklich. »Die Imperatorin ist noch längst nicht geschlagen.«

»Die Imperatorin ist wahnsinnig«, sagte der Shreck. »Wir erkennen die Zeichen der Zeit, ganz besonders, wenn sie mit Blut geschrieben werden. Treffen wir nun ein Abkommen oder nicht? Solange wir hier stehen und reden, sterben auf beiden Seiten unnötig Menschen. Nicht, daß ich einen Dreck darauf geben würde, aber Euch ist das doch ganz bestimmt nicht egal.

Entscheidet Euch, Ohnesorg. Wir wissen, daß der Untergrund sich an Eure Entscheidung gebunden fühlen wird.«

»Hör nicht auf ihn, Jakob«, drängte Ruby Reise. »Wir sind nicht bis hierher gekommen, um so dicht vor dem Ziel aufzugeben. Wir können die Familien stürzen, genau wie du es immer gewollt hast.«

»Du hast selbst gehört, welchen Preis wir dafür zu zahlen hätten«, entgegnete Ohnesorg. »Ich habe immer für das Wohl der Menschen gekämpft, nie für meine eigenen Wünsche. Welchen Sinn hat es, ein Imperium zu stürzen, wenn wir nur noch Asche haben, um darin zu leben? Die Bedürfnisse der Menschen kommen an erster Stelle. Wenn ich ihre Zukunft um meiner eigenen Rache willen aufs Spiel setze, dann wird alles, wofür ich jemals gekämpft habe, zu einer Lüge. Wer weiß – wenn wir die Familien aus der Politik ausschließen, können wir sie vielleicht sogar… zivilisieren.«

»Und was ist mit den Chojiros?« begehrte Ruby erhitzt auf.

»All die Schwüre, die du abgelegt hast, sie zu töten und auf ihre Gräber zu pinkeln? Bedeuten sie denn gar nichts mehr?«

»Ich habe mehr Grund, die Chojiros zu hassen, als du dir jemals vorstellen kannst«, erwiderte Ohnesorg kalt. »Ich wünsche mir so sehnlich ihren Tod, daß ich mein Leben für eine Chance opfern würde, sie allesamt mit Stumpf und Stiel auszulöschen. Aber ich werde und kann keine unschuldigen Leben für meine alten Wunden opfern. Außerdem… vielleicht ergibt sich ja noch die Gelegenheit zu einer kleinen privaten Vendetta, sobald die Rebellion erst vorüber ist.«

»Sicher«, sagte SB Chojiro. Sie lächelte noch immer. »Der Clan Chojiro war immer ein Befürworter der ehrenvollen Tradition der Vendetta.«

»Also stimmt Ihr unserem Angebot zu?« erkundigte sich der Shreck.

»Ja, verdammter Kerl!« fauchte Ohnesorg . »Ja, wir stimmen zu. Ruft Eure Leute zurück, und ich lasse den Angriff abblasen.

Bleibt in den Türmen, bis die Rebellion vorbei ist, und wir verhandeln später über die Einzelheiten. Und bevor Ihr fragt: Nein, ich werde Euch nicht die Hand schütteln. Ich brauche meinen letzten Rest von Selbstachtung.«

»Ich glaube das einfach nicht!« fluchte Ruby und trat einen Schritt zurück, so daß sie alle mit ihrer Waffe in Schach halten konnte. »Ich habe gar nichts zugestimmt! Du verrätst die Rebellion, Jakob! Du verrätst jedes verdammte Versprechen, das du jemals abgegeben hast. All die Dinge, die du zu mir gesagt hast, all die Dinge, die ich dir glauben sollte, und jetzt, wo der Tag der Abrechnung endlich da ist, triffst du Abmachungen mit dem Feind!«

»Das nennt sich Politik, Liebling«, sagte Ohnesorg.

»Manchmal ist der Preis zu hoch, den man für seine Ideale zahlen muß . Und wenn ich mit dieser Abmachung leben kann, dann kannst du das auch

»Du bist als Aristo zur Welt gekommen!« schimpfte Ruby

»Und in deinem Herzen bist du immer noch ein verdammter Aristo, trotz allem! Von mir aus triff deine Vereinbarung mit den Familien, Jakob. Aber ich werde dir nie wieder auch nur ein einziges Wort glauben.«

Und am Ende war es genauso einfach, wie es sich angelassen hatte. Die Nachricht wurde verbreitet, die Armada der Schlitten brach den Angriff auf die Türme ab, und auf beiden Seiten schwiegen die Waffen. Viele Rebellen schrien noch immer laut nach Rache, sowohl für ihre gefallenen Kameraden, als auch für die Unzähligen, die im Laufe der Jahrhunderte unter den Füßen der Familien zertrampelt worden waren; doch am Ende ließen sie sich von Zuckerbrot und Peitsche überzeugen. Außerdem war es, wie Ohnesorg schon festgestellt hatte: Niemand hatte die spätere Möglichkeit einer privaten Vendetta ausge-schlossen…

Etwas Gutes hatte die getroffene Vereinbarung dann doch noch: Valentin Wolf vertraute nicht darauf, daß er in Sicherheit war, nach allem, was er getan hatte, und so floh er aus dem Turm Wolf und suchte am Hof der Löwenstein Zuflucht. Indem er den Turm verließ, brach er die Abmachungen und machte sich selbst zu einem legitimen Ziel für jeden, der Lust hatte, ihn zu jagen. Allmählich strömten auch die Zivilisten in ihre Stadt zurück. Sie spürten, daß das Schlimmste ausgestan-den war. Sie jubelten den Rebellen zu und forderten den Sturz der Eisernen Hexe. Sie rissen ihre Statuen um und spuckten darauf; sie steckten öffentliche Gebäude in Brand und stürmten durch die Straßen. Die Aussicht auf Freiheit machte sie trunken vor Freude. Der Untergrund mußte die Menschenmassen von den Kampfschauplätzen weg dirigieren, um die wachsende Begeisterung und die zunehmenden Plünderungen unter Kontrolle zu halten, und das tat seiner allgemeinen Popularität einen gewissen Abbruch. Aber damit konnte und mußte man leben. Jetzt gab es wichtigere Dinge, über die es nachzudenken galt. Die Führer der Bewegung wußten, daß der Krieg nicht vorüber war, solange die Löwenstein noch warm und sicher in ihrem Stahlbunker tief unter der Oberfläche saß, weit weg von den Kämpfen.

SB Chojiro und Gregor Shreck hatten den Turm Chojiro verlassen, um ihren Leuten die gute Nachricht zu verkünden. Ru-by Reise, Alexander Sturm und Jakob Ohnesorg waren allein zurückgeblieben. Jakob Ohnesorg hatte sich bereits mit dem Untergrund in Verbindung gesetzt und sie über seine Vereinbarung mit den Familien informiert, und jetzt dachte er angestrengt über all die möglichen Fußangeln nach, um sicherzugehen, daß er am Ende nicht doch noch einen schrecklichen Fehler begangen hatte.

Ruby stapfte voll stiller Wut auf und ab. Sie trat gegen das Mobiliar und stopfte sich alles Helle und Glitzernde in die Taschen, das einigermaßen wertvoll aussah. Sturm beobachtete die beiden eine Weile und schwieg. Schließlich drehte Jakob Ohnesorg sich zu ihm um und entdeckte einen merkwürdigen Ausdruck auf Alexanders Gesicht.

»Was ist los, alter Freund?« fragte er. »Die Rebellion ist vorbei, trotz aller Unkenrufe.«

»Nein«, widersprach Sturm. »Die Rebellion ist nicht vorbei, solange die Imperatorin noch auf dem Eisernen Thron sitzt. Sie hat jede nur erdenkliche Unterstützung. Waffen, Menschen, Geheimnisse, von denen der Untergrund noch nicht einmal etwas ahnt. Sie kann noch immer alles zu ihren Gunsten entscheiden, und die Menschen in den Straßen würden ihren Sieg genauso laut bejubeln, wie sie jetzt nach ihrem Kopf schreien.

Die Löwenstein wußte von Anfang an, daß ein Tag wie dieser irgendwann kommen konnte. Glaubst du allen Ernstes, die Familien wären die einzigen, die den vollständigen Untergang herbeiführen können?«

»Wenn die Eiserne Hexe noch irgendwelche letzten häßlichen Überraschungen für uns hätte, wären sie längst zum Einsatz gekommen«, sagte Ruby Reise.

»Ist es das, was dich so aus der Fassung bringt?« fragte Ohnesorg. »Vergiß es, Alexander. Ruby hat recht. Nun mach schon ein fröhlicheres Gesicht. Ich habe dich noch nicht ein einziges Mal lächeln sehen, seit wir hier sind.«

»Sie kamen zu dir, um den Waffenstillstand auszuhandeln«, sagte Sturm. »Nicht zu mir. Und das, obwohl ich offiziell den Untergrund vertrete. Sie vertrauten deinem Wort, nicht meinem. Mag sein, daß das nur eine Kleinigkeit ist, aber sie bringt das Faß endgültig zum Überlaufen.« Er bedachte Ohnesorg mit einem fast hilflosen Blick. »Und trotzdem wird es schwerer, als ich ursprünglich gedacht habe.«

»Wovon redest du?« fragte Ohnesorg. »Sieh mal, wenn du irgendwas zu sagen hast, dann spuck es aus! Ich habe keine Zeit, mir auch noch über deine verletzten Gefühle Gedanken zu machen!«

»Zeit«, sagte Sturm. »Das alles hat etwas mit Zeit zu tun. Die Zeit stiehlt uns unser Leben, Tag um Tag, und wir erkennen erst, wieviel wir verloren haben, wenn es zu spät ist. Wir beide, du und ich, wir kämpften viele Jahre lang Seite an Seite, und wofür? Für nichts. Wir gaben unsere Jugend auf, alle Chancen auf eine Frau und Kinder und ein Zuhause und ein ganz normales glückliches Leben, und alles für einen Traum, der niemals Wirklichkeit wurde. Als wir anfingen, da hast du mir Macht und Erfolg und den Sieg über unsere Feinde und Gerechtigkeit für alle versprochen, und ich habe niemals auch nur einen Teil von alledem gesehen. Nur harte Kämpfe und ein noch härteres Leben, kaltes Essen und schlechter Schnaps und eine verlorene Schlacht nach der anderen. Wir sind von Welt zu Welt geflohen, und wir hatten nichts vorzuweisen außer immer mehr toten Freunden und neuen Narben auf der Haut. Und das war mein ganzes Leben mit Jakob Ohnesorg.«

»Aber das ist jetzt vorbei!« sagte Jakob. »Wir sind weitergezogen. Die Dinge haben sich verändert. Wir haben uns verändert…«

»Genau«, sagte Sturm. »Wir sind alt geworden, und du bist wieder jung. Das hat mir den Rest gegeben, Jakob. Ich hätte es ertragen, wenn die Zeit uns beiden gleichermaßen mitgespielt hätte; aber du hast ein neues Leben geschenkt bekommen und ich nicht. Du hattest recht, Jakob. Es ist immer Zeit für eine kleine persönliche Vendetta. Ich danke dir, daß du mir geholfen hast, diese Sache zu durchdenken. Du hast es mir damit sehr viel leichter gemacht, Jakob. Und jetzt, Jakob: Kode Null Null Rot Zwo.«

Jakob Ohnesorg zuckte zusammen. Sein Rücken bog sich durch, als wäre er von hinten getroffen worden. Er sank in die Knie und versuchte, etwas zu sagen; doch sein Mund zuckte nur unkontrolliert. Ruby hastete zu ihm und kniete vor ihm nieder . Sie hielt seine zitternden Hände in den ihren. »Jakob, was ist los? Jakob!«

»Er kann dich nicht hören«, sagte Sturm mit leisem Bedauern in der Stimme. »Als die Hirntechs ihn in ihren widerlichen Fingern hatten, vor noch gar nicht allzu langer Zeit, da ergriffen sie die Vorsichtsmaßnahme, bestimmte Kontrollworte in sein Unterbewußtsein einzupflanzen. Nur für den Fall, verstehst du, daß ihm jemals die Flucht gelingen sollte. Und als ich mich damit einverstanden erklärte, als Spion für das Imperium zu arbeiten, mitten im Herzen der Untergrundbewegung, da gaben sie mir diese Kontrollworte. Sie waren überzeugt, daß Jakob und ich uns eines Tages wieder begegnen würden. Und wie sie recht behalten haben! Seit diesem Tag war es immer nur eine Frage des richtigen Zeitpunkts. Ich schob es immer und immer wieder hinaus, weil ich darauf hoffte, daß der alte Kameradschaftsgeist wieder zurückkehren würde, der uns früher einmal verbunden hat. Ich hoffte auf eine Gelegenheit, wieder ein Held zu sein. Aber Jakob hat mir nicht einmal die Chance dazu gegeben. Und so wurde ich zum Agenten der Imperatorin. Und jetzt bringe ich ihr den legendären Rebellen.«

»Aber du warst ein Held!« sagte Ruby. »Das hat jeder gesagt!«

»Und heute bin ich ein Verräter. Und wenn die Imperatorin gewinnt, werde ich wieder der Held sein und er der Verräter .

Alles nur eine Frage des Blickwinkels, Ruby Und wer bist du schon, um ein Urteil über mich zu fällen? Du hast selbst immer gesagt, daß du nur wegen der Beute dabei bist . Schön, ich auch

»Du verdammter Bastard!« kreischte Ruby. Sie ließ Ohnesorg los, rappelte sich auf und griff nach ihrem Schwert.

»Ich konnte dich noch nie ausstehen«, sagte Sturm. »Jakob, bring diese Hexe zum Schweigen.«

Ohnesorg sprang auf. Ruby drehte sich zu ihm um, das Schwert gezückt und Verzweiflung im Gesicht. Ohnesorg schlug ihr Schwert beiseite und versetzte ihr einen Kinnhaken, der ihren Kopf nach hinten warf. Sie knickte ein und sank zu Boden, wo sie reglos liegenblieb. Sturm ging zu ihr und trat ihr in die Rippen. Rubys Kopf rollte haltlos hin und her. Sturm nickte zufrieden. »Sehr schön, Jakob. Und jetzt nimm sie hoch und folge mir. Die Löwenstein wartet schon darauf, daß wir uns zu ihr gesellen.«

Und so verließen sie den Turm Chojiro und bahnten sich einen Weg durch die allgemeine Verwirrung in den Straßen, dann hinab unter die Oberfläche und durch geheime, verborgene Gänge zum Imperialen Palast. Sie näherten sich der Dunkelheit, hinter der die Hölle wartete.

An einer anderen Stelle in den chaotischen Straßen der Hauptstadt führte Jung Jakob Ohnesorg eine kleine Armee von Rebellen und Anhängern der Untergrundbewegung gegen das Kommandozentrum der Imperialen Bodentruppen. Finlay Feldglöck, Evangeline Shreck und Julian Skye folgten ihm. Im Kommandozentrum hatten sich die wichtigsten strategischen und taktischen Köpfe des Militärs auf Golgatha verschanzt, und trotz aller Bemühungen der Rebellen, sie von ihren Streitkräften abzuschneiden, hatten sie die Lage noch immer im Griff. Und so blieb den Rebellen nichts anderes übrig, als das Kommandozentrum auf die harte Tour auszuschalten: durch den Einsatz roher Gewalt. Unglücklicherweise war das eine unlösbare Aufgabe, denn das Kommandozentrum befand sich in einem massiven Stahlbetonbunker und war durch praktisch jedes der Menschheit bekannte Waffensystem geschützt – was auch der Grund dafür war, daß die Führer der Untergrundbewegung Jung Jakob Ohnesorg und die anderen für diesen Auftrag ausgesucht hatten. Das hatte man nun von seinem Ruf, Unmögliches möglich zu machen.

Und so schlurfte Finlay durch die Straßen der Hauptstadt, schoß auf alles, das eine Uniform trug und überlegte die ganze Zeit über angestrengt, was zur Hölle er unternehmen würde, wenn sie endlich beim Bunker angekommen waren. Zweifellos war ihm bis dahin eine Idee gekommen, wie man die Insassen richtig ärgern konnte. Wahrscheinlich durch den massiven Einsatz explosiver Substanzen. Schließlich hatte Finlay eine Mission zu erfüllen. Aber irgendwie beschlich ihn das ungute Ge-fühl, daß der Bunker nicht so einfach zu knacken sein würde.

Und diesmal hatte er keinen jener unglaublichen Kämpfer bei sich, die im Labyrinth des Wahnsinns gewesen waren, sondern nur einen möglicherweise wiedererstarkten Esper namens Julian Skye. Andererseits wurden sie von dem legendären Jung Jakob Ohnesorg angeführt, dem Helden und Erlöser der Menschheit, dem man nachsagte, daß er niemals einen Fehler machte. Nach den Berichten zu urteilen hatte er die Invasion der Nebelwelt praktisch ganz allein abgewehrt. Vielleicht wür-de ihm ja etwas einfallen.

Finlay wußte nicht so recht, was er von Jung Jakob Ohnesorg halten sollte. Der Mann war tapfer und mutig und ein großartiger Kämpfer, das stand fest. Er war heroisch bis zum Geht-nichtmehr, und er fand offensichtlich stets genau die richtigen Worte, um seine Anhänger zu motivieren, aber…

Aber. Vielleicht war der Mann einfach nur zu vollkommen.

Selbst die größten aller Helden hatten ihre Schwachpunkte.

Und Jung Jakob Ohnesorg rülpste nicht einmal nach einem guten Essen. Finlay grinste unwillkürlich. Er war noch nie auf einen anderen Menschen eifersüchtig gewesen. Als Maskierter Gladiator war er in der Arena unbesiegbar gewesen. Alle hatten ihn bewundert. Und jetzt stand er hier und folgte wie alle anderen auch dem jungen Jakob Ohnesorg, ein anonymer, vergessener Kämpfer unter vielen im Schatten des berühmten Rebellen. Finlay zuckte die Schultern. Er konnte damit leben. Für den Augenblick jedenfalls. Schließlich wartete Arbeit auf ihn.

Auch Evangeline war tief in Gedanken versunken. Sie war zurück auf Golgatha, zurück in der Hauptstadt und gar nicht weit entfernt von ihrem Vater – von ihrem verachteten, gehaßten Vater, der seine Tochter als Frau und nicht als Kind liebte.

Evangeline war zu Shannons Welt geflohen; doch jetzt war sie zurückgekehrt. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der Shreck Wind davon bekam, und dann würden die Drohungen wieder von vorn anfangen, daß er ihre Freundin Penny foltern oder töten würde. Evangeline verzog das Gesicht. Sie nahm die Menge ringsum kaum noch wahr. Vielleicht sollte sie die Führer des Untergrundes bitten, dem Shreck Sicherheit zu garantieren, wenn er als Gegenleistung Penny unverletzt freiließ. Die Führer schuldeten ihr einen Gefallen, nach allem, was Evangeline für sie getan hatte. Falls Penny noch am Leben war… sie schloß nicht aus, daß der jähzornige Shreck sie in ihrer Abwe-senheit umgebracht hatte. Zuzutrauen war es ihm. Doch dann… sie würde ihn finden und töten, und zur Hölle mit den Konsequenzen. Finlay würde sie verstehen. Er wußte alles über Rache.

Auch Julian Skyes Gedanken drehten sich um Rache. Rache gegen den Schwarzen Block im allgemeinen und SB Chojiro im besonderen. Er hatte sie von ganzem Herzen geliebt, und sie hatte ihn an die Folterknechte und Hirntechs verraten. Manchmal schien es Julian, als lebe er nur noch für seine Rache an SB Chojiro. Und nun endlich waren sie wieder in der gleichen Stadt. Sobald die Rebellion vorüber war, würde Julian sie suchen, ganz gleich, wo sie sich versteckte, und dann würde sie genauso leiden, wie er gelitten hatte. (Vielleicht würde er auch auf die Knie fallen und ihr das Blaue vom Himmel versprechen, wenn sie ihn nur wieder liebte. Manchmal träumte er noch immer davon. In seinen schlimmsten Alpträumen.) Julian verstärkte den Griff um sein Schwert, und das Grinsen, das seinen Mund umspielte, hatte nichts Freundliches an sich. An erster Stelle kam jedenfalls die Rebellion, die Sache, der er sein Leben geweiht hatte. Später war immer noch Zeit für seine ganz persönliche Rache.

Alle drei hatten sich freiwillig zu der Armada der Antigravschlitten gemeldet, aus den unterschiedlichsten Gründen, und die Führer der Untergrundbewegung hatten alle drei abgelehnt mit der Begründung, daß wichtigere Aufgaben auf sie warteten . Und so kam es, daß sie jetzt durch die überfüllten Straßen stapften und Jung Jakob Ohnesorg folgten – und sich im übrigen die größte Mühe gaben, ihren inneren Aufruhr auf Armeslänge von sich zu halten, bis sie wieder Zeit dafür hatten.

Sie kämpften sich durch das Chaos und nahmen es mit Sturmtruppen, Sicherheitsleuten und allem und jedem auf, was das Imperium ihnen entgegenschleuderte. An jeder Straßenbie-gung warteten neue Truppen. Mit zunehmender Verzweiflung bemühten sich die Imperialen, die auf das Kommandozentrum vorrückenden Rebellen aufzuhalten. Energiewaffen blitzten; Granaten rissen breite Löcher in die dicht gedrängten Reihen der Kämpfer auf beiden Seiten, und Schwerter und Äxte wurden in blutigen Bögen geschwungen. Tote und Verwundete fielen und wurden ohne Unterschied von den Überlebenden zertrampelt. Niemand hatte die Zeit, sich um Verletzte zu kümmern. Es gab nichts außer dem endlosen, beinahe hysterischen Vormarsch der Rebellen und dem langsamen, von Panik begleiteten Rückzug der Imperialen. Langsam, aber sicher rückte das Kommandozentrum immer näher.

Und an der Spitze seiner Leute stand stolz Jung Jakob Ohnesorg. Er schwang das breite Schwert mit beiden Händen, und niemand vermochte ihm zu widerstehen. Kein Schwert konnte ihn berühren; kein Schwert konnte die Imperialen vor seinem Zorn retten, und die Männer hinter ihm riefen seinen Namen als Schlachtruf.

Finlay und Evangeline hielten sich dicht hinter Ohnesorg, und sie waren zu sehr beschäftigt, um eifersüchtig zu sein. Finlay kämpfte mit all seinem Talent, ein verblüffendes Schauspiel der Schwertkunst, das bei seinen alten Anhängern in der Arena hellen Jubel ausgelöst hätte. Und seine Gegner wandten sich tatsächlich lieber zur Flucht, als sich zu stellen. Finlay grinste sein Wolfsgrinsen und tötete sie trotzdem. Er tat genau das, wozu er geboren war, und er genoß jede Minute davon.

Evangeline hielt ihm den Rücken frei. Sie kämpfte mit beharrlicher Ausdauer und Effizienz. Finlay hatte sie gelehrt, das Schwert zu führen; doch sie verspürte nicht seine dunkle Freude beim Töten. Sie kämpfte, um ein Ziel zu erreichen, weiter nichts. Und manchmal regte sich in ihr der Verdacht, daß Finlays Ziel sein Ende war.

Die Esperkräfte Julian Skyes knisterten in der Luft ringsum und schirmten die drei vor Disruptorschüssen und den hin und wieder geschleuderten Granaten ab. Bisweilen benutzte er seine Kräfte auch, um einen PSI-Sturm heraufzubeschwören, der die bewaffneten Gegner hilflos davonschleuderte; doch den größten Teil der Zeit standen die Truppen auf beiden Seiten zu dicht gedrängt, als daß Julian viel erreicht hätte. Er war mit Schwert und Disruptor bewaffnet und benutzte beide mit steifer Effizienz. Die Kämpfe dauerten an und erstreckten sich scheinbar endlos, bis beide Seiten vor Erschöpfung am liebsten auf der Stelle zu Boden gesunken wären. Und noch immer spornte der junge Jakob Ohnesorg seine Leute an, rief sie zu Sieg oder Tod auf und zur Zerstörung des Imperiums.

Die Rebellen drängten Zoll um Zoll vor und bezahlten jeden Bodengewinn mit Blut und Tod, bis endlich der Bunker des Kommandozentrums am Ende der Straße in Sicht kam. Der Anblick erfüllte die Rebellen mit neuer Kraft, und sie schrien ihren Triumph heraus, während sie, geführt von Jung Jakob Ohnesorg, voranstürmten und die demoralisierten Verteidiger immer weiter zurückdrängten. Allein die enge Straße und die Tatsache, daß die Imperialen Truppen nicht wußten, wohin sie sich wenden sollten, verhinderten eine heillose Flucht. Und so kämpften sie verbissen auf verlorenem Posten wie in die Enge getriebene Ratten, und die schiere Verzweiflung der Verteidiger brachte den Vormarsch der Rebellen wieder einmal fast zum Stillstand.

Der Kampf dauerte an und wogte hierhin und dorthin, und Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn waren dabei und filmten alles. Die Übertragung ging live ins gesamte Imperium hinaus. Sie schwebten gefährlich dicht über den kämpf enden Massen auf einem requirierten Antigravschlitten, eben hoch genug, um außer Reichweite der Schwerter zu bleiben, aber so nah, daß sie sämtliche blutigen Details einfangen konnten. Flynn schickte seine Kamera über die Köpfe der drängenden Menge und suchte unentwegt nach den besten Bildern, während Tobias über dem Rand des Schlittens hing und einen atemlosen Kommentar von sich gab. Seine Stimme war heiser vom vielen Rauch und schierer Überanstrengung. Die beiden Nachrichtenleute hatten inzwischen jedes Aufputschmittel aus Tobias’ um-fangreicher Sammlung geschluckt, um nach so langer ununterbrochener Berichterstattung noch konzentriert genug zu sein, und sie hatten schon vor langer Zeit jegliche Distanz und Unpar-teilichkeit aufgegeben in ihrem fast hysterischen Streben nach den besten Bildern dieses wahrhaft historischen Ereignisses.

Beide wußten, daß sie in ihrem ganzen Leben nie wieder von derart bedeutsamen Ereignissen berichten würden. Sie erspähten die vertrauten Gesichter von Finlay, Evangeline und Julian, riefen den drei Rebellen fröhlich zu und winkten ihnen, in die Kamera zu lächeln. Finlay antwortete mit einem kurzen, aber sehr bildhaften Fluch, der anzeigte, daß sie im Augenblick sehr beschäftigt seien, und Tobias nahm sich im Geiste vor, diese Szene aus zukünftigen Sendungen herauszuschneiden. Flynns Kamera jagte unermüdlich hin und her und fing soviel vom Aderlaß der Kämpfer auf, wie nur irgend möglich. Er wußte, was die Zuschauer mochten, und er mußte sich schon etwas einfallen lassen, um sie bei der Stange zu halten, selbst wenn es hier um historische Ereignisse von allergrößter Bedeutung ging.

Jung Jakob Ohnesorg hackte und stach sich seinen Weg durch eine Armee von Verteidigern. Er stand knöcheltief in Blut. Sein muskulöser Arm hob und senkte sich unermüdlich wie eine Maschine, und kein einziger Feind kam auch nur in seine Nähe. Das breite Grinsen auf seinem Gesicht verschwand nicht einen Augenblick, und er zuckte noch nicht einmal mit den Wimpern, ganz gleich, was auch in seiner Umgebung geschah. Die meiste Zeit über zielte er auf die Körper der Feinde.

Kurze, brutale Streiche, die seine Klinge über Rippen und in Bäuche führten und in einem Schwall von Eingeweiden und Blut wieder hervortreten ließen. Es waren traumatische Wunden, die den Angriff der Feinde auf der Stelle beendeten, ohne sie jedoch sofort zu töten. Sie schwankten und stolperten und kamen ihren Kameraden in die Quere, und ihre Schmerzens-schreie und ihr Entsetzen hatte großartige psychologische Auswirkungen auf die feindlichen Truppen, während die Seite der Rebellen zu immer neuen Leistungen angespornt wurde.

Wahrscheinlich fand niemand außer Finlay, Evangeline und Julian die Zeit, darüber nachzudenken, daß derart gemeine Methoden wirklich nicht das waren, was man von einem berühmten, geachteten Helden wie Jakob Ohnesorg erwartete. Jung Jakob Ohnesorg kämpfte und kämpfte und brüllte seine An-hänger zum Sieg. Seine Feinde fielen reihenweise, und wer ihm nicht rechtzeitig aus dem Weg ging, den zertrampelte er unter den Füßen. Und die ganze Zeit über lächelte er.

Seine Kleider waren mit Blut vollgesogen, doch nichts davon gehörte ihm. Nahe dem Ende der Straße, als das Kommandozentrum nur noch wenige Meter vor ihnen lag, hielt er für einen kurzen Augenblick inne, um Flynns schwebender Kamera zuzulächeln und zu winken.

»Wißt Ihr, eigentlich müßte es doch einen einfacheren Weg geben, um ein Imperium zu stürzen…«

Und dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu, und das Töten ging weiter. Oben auf dem Schlitten schlugen sich Tobias und Flynn auf die Schultern. Ein Held und Schwertkünstler, und noch dazu charmant. Jung Jakob Ohnesorg war ein Geschenk Gottes. Die Zuschauer daheim würden sich an ihm nicht satt genug sehen können. Die Sender würden diese eine Szene in ihren Nachrichtenüberblicken noch jahrelang aus-strahlen, ganz gleich, wer die Rebellion am Ende gewann. Tobias gestand sich ein, daß er den jungen Jakob Ohnesorg dem alten bei weitem vorzog, den er auf Technos III kennengelernt hatte. Der junge Jakob Ohnesorg verstand die Notwendigkeit von guter Publicity. Tobias war froh, daß überhaupt jemand hier Verständnis für seine und Flynns Arbeit aufbrachte. Die meisten Rebellen waren viel zu beschäftigt, um mit Tobias zu reden, und die wenigen, die ihm ein Interview gewährten, waren in der Regel zu derb in ihren Antworten. Und man durfte schließlich nicht allzusehr übertreiben.

Tobias steuerte den Schlitten so nah an Jung Jakob Ohnesorg heran, wie er nur konnte. Falls im Zweifel, folge einfach dem Geschehen. Und so kam es, daß Tobias und Flynn in der idea-len Position waren, um die Granate zu sehen, die aus den Reihen der Verteidiger geschleudert wurde, und die fast in Zeitlupe auf den jungen Jakob Ohnesorg zusegelte. Die Granate flog genau vor der Linse der Kamera vorbei, hing auf dem höchsten Punkt ihrer Flugbahn Sekundenbruchteile reglos in der Luft und fiel dann Jakob Ohnesorg direkt vor die Füße. Viele Rebellen hatten sie kommen gesehen und schrien laute Warnungen; doch in der dicht gedrängten Menge von Kämpfern hatte Jakob keine Möglichkeit auszuweichen. Die Granate ging direkt vor ihm hoch, und er wurde von der vollen Wucht der Explosion getroffen . Die Druckwelle schleuderte ihn zur Seite und durch Freund und Feind gleichermaßen hindurch, und er krachte in die hohe Steinmauer, die diesen Teil der Straße begrenzte. Die Mauer schwankte und kippte nach vorn, und ihre Trümmer begruben alles unter sich, was ihrem Fall im Weg stand. Dutzende anderer Kämpfer, Rebellen und Imperiale ohne Ausnahme , waren von den Splittern der Granate getroffen worden und lagen schreiend am Boden.

Evangeline, Finlay und Julian hatten hinter dem hastig errichteten psionischen Schild des Espers Deckung gefunden. Als er jetzt wieder verschwand, rief Finlay den Rebellen zu, die Lücke zu stopfen und die Imperialen abzuwehren, damit er die Trümmer der umgestürzten Mauer wegräumen konnte . Männer und Frauen stürzten sich nach vorn, und alles rief Finlay zu, um Gottes willen den jungen Jakob Ohnesorg zu retten. Finlay war ziemlich sicher, daß Ohnesorg tot sein mußte. Aber vielleicht gab es ja doch noch den Hauch einer Chance…

Er beugte sich über die Trümmer und begann, Ziegelsteine wegzuräumen. Bald waren Evangeline und Julian an seiner Seite und halfen ihm. Weitere Rebellen drängten heran und wollten ebenfalls helfen, aber sie standen nur im Weg. Julian errichtete einen psionischen Schirm, um die überzähligen Helfer abzuhalten, bis sie verstanden hatten, worum es ging. Finlay und Evangeline gruben weiter. Es dauerte nicht lange, bis sie die ersten Gliedmaßen fanden. Die Wucht der Explosion hatte ihre Opfer buchstäblich zerrissen. Finlay und Evangeline gruben weiter und durch die blutigen Überreste hindurch. Flynns Kamera schwebte über ihren Köpfen und filmte alles. Einige der abgerissenen Gliedmaßen zuckten noch. Finlay und Evangeline gruben sich durch die sterblichen Überreste ihrer Kameraden, und ihre Arme waren bis zu den Ellbogen voller Blut.

Schließlich kamen sie zu dem, was von Jung Jakob Ohnesorg übriggeblieben war. Sekundenlang standen sie da wie erstarrt, betäubt von dem sich bietenden Anblick, der sich ihnen bot.

Dann drehte Finlay sich um und starrte Tobias und Flynn an.

»Schaltet die Liveübertragung ab! Auf der Stelle abschalten, sage ich!«

Tobias lehnte sich über den Rand des Schlittens und wollte mit Finlay diskutieren. Er blickte an Finlay vorbei und sah, was Finlay gesehen hatte – und er zuckte zusammen und gab Flynn einen scharfen Wink, der keinen Widerspruch duldete. Der Kameramann nickte und beendete die Liveübertragung; doch er hielt die Kamera weiter auf die Szene gerichtet und filmte.

Finlay und Evangeline beugten sich über das Loch, und Tobias lenkte den Antigravschlitten über die beiden und den freigeleg-ten Körper von Jung Jakob Ohnesorg.

Die Wucht der Explosion hatte einen großen Teil der Haut des legendären Rebellen weggerissen, und darunter war blau glänzender Stahl zum Vorschein gekommen. Jung Jakobs Gesicht war verschwunden, bis auf den metallenen Schädel darunter. Die Augenhöhlen waren leer, doch die weißen Zähne waren unversehrt und verliehen dem Metallschädel ein beunruhigend menschliches Lächeln. Jung Jakob Ohnesorg war eine Furie. Ein Spion von Shub, eine Maschine in Menschengestalt, die sich unter einer menschlichen Haut versteckt hatte. Und die Furie lebte noch. Die unteren Extremitäten waren von der umgestürzten Mauer zerquetscht worden, und ein Arm fehlte; doch Torso und Kopf waren größtenteils noch intakt. Die Furie hob den Metallschädel ein wenig und nickte Finlay und Evangeline zu. Als sie schließlich sprach, klang ihre leicht hallende Stimme gelassen und beinahe freundlich.

»Schön, ich bin eine Maschine. Aber das heißt noch lange nicht, daß wir deswegen keine Freunde mehr sein könnten . Ihr braucht mich . Oder wenigstens das, was ich zu sein vorgebe.

Ich bin reparabel. Bedeckt mein Gesicht, und niemand wird den Unterschied bemerken. Sicher, ein Teil der Wahrheit sik-kert bestimmt heraus; aber wir werden allen erzählen, daß ich ein Kyborg bin. Ein aufgerüsteter Mensch. Sie werden es glauben, nach allem, was Jakob Ohnesorg durchgemacht hat. Ihr braucht mich, Feldglöck. Die Rebellen werden einem Helden wie mir folgen, wohin sie niemand anderem folgen würden.

Also besorgt rasch einen Umhang, in den Ihr mich wickeln könnt, dann schafft mich auf den Antigravschlitten des Shreck, und ich führe Eure Leute von dort oben aus direkt in den Bunker.«

»Glaubst du allen Ernstes, daß auch nur ein einziger Mensch einer Kreatur von Shub folgen würde?« fragte Finlay mit kalter, beherrschter Stimme. »Meinst du wirklich, das würden wir tun? Du bist ein Vertreter der Feinde der Menschheit. Ihr habt geschworen, uns bis hin zum letzten Mann, zur letzten Frau und zum letzten Kind auszulöschen. Kein Wunder, daß dir das Gemetzel hier soviel Freude bereitet hat. Und was würdest du tun, wenn die Rebellion erst vorbei ist? Teilhaben an unseren Plänen und Hoffnungen und mitten drin sein, wenn wir am verwundbarsten sind? Glaubst du allen Ernstes, wir würden einen Wolf aus Stahl wie dich unter uns aufnehmen und schweigen?«

»Ihr habt keine große Wahl in dieser Sache«, erwiderte die Maschine gelassen. »Meine Systeme sind bereits dabei, sich selbsttätig zu reparieren, und Ihr habt keine Waffen bei Euch, die stark genug wären, um mich zu zerstören. Die Granate hat mich überrascht. Für ihre Größe war sie unerwartet stark. Aber schon bald werde ich wieder mit akzeptabler Effizienz funktionieren, und wenn Ihr mir nicht helft, mich weiterhin als Jakob Ohnesorg auszugeben, werde ich zu meiner zweiten Programmierung überwechseln und jeden Menschen töten, der mir in die Hände fällt. Außerdem, was wollt Ihr unternehmen, um das Kommandozentrum einzunehmen? Ob es Euch gefällt oder nicht, wir sitzen in einem Boot, Finlay.«

»Ganz bestimmt nicht«, knurrte der Feldglöck. »Julian, macht diesen Zinnsoldaten platt!«

»Mit dem größten Vergnügen«, sagte Julian Skye. Er beschwor seinen PSI-Sturm herauf, komprimierte und fokussierte sämtliche Energie in einen Hammer aus roher Gewalt und ließ ihn auf die verkrüppelte Furie herniedersausen. Die Maschine in Menschengestalt wurde so flach, als hätte eine Dampfwalze sie überrollt, und das Metall riß und zersplitterte an Dutzenden von Stellen zugleich. Julian grinste kalt, als die Metallgestalt unter dem Druck seines Willens zerbröckelte . Der Esper konzentrierte sich erneut, und das flachgedrückte Metall der Furie rollte sich zu einer Kugel auf, die unablässig weiter zusammen-schrumpfte und kompakter wurde, bis nur noch eine massiven Metallkugel übriggeblieben war, in der nicht mehr die kleinste Spur von Leben steckte. Julian grinste erneut.

»Reparier das, du Bastard.«

Finlay und Evangeline vergruben die Metallkugel unter einem Stapel von Leichenteilen. Julian sah zu Flynns Kamera empor, die noch immer über der Szene schwebte und filmte, und er legte die Stirn in nachdenkliche Falten.

»O nein! Bitte nicht die Kamera!« kreischte Tobias auf. »Wir haben nur diese eine!«

»Wir dürfen diese Bilder unter keinen Umständen nach draußen lassen«, sagte Julian. »Niemand darf jemals etwas davon erfahren!«

»Wir wissen, wie man den Mund hält«, erwiderte Tobias.

»Außerdem wäre es nicht das erste Stück Film, das ich wieder vergraben hätte. Fragt den Feldglöck. Er wird für mich bürgen.«

»Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde«, sagte Finlay.

»Aber ich glaube, er ist nicht dumm. Er weiß ganz genau, daß eine endlose Schlange von Leuten darauf warten wird, ihn auf alle möglichen interessanten und langsamen Arten zu töten, wenn auch nur ein Bild dieser Szene irgendwo auftaucht. Oder nicht, Shreck?«

»Ich hätte es selbst nicht besser formulieren können«, antwortete Tobias. »Schließlich weiß ich, wozu Ihr fähig seid.

Und ich will Euch ganz bestimmt nicht auf meinen Fersen haben. Aber es ist nicht weiter tragisch. Ich habe bereits genügend großartige Aufnahmen im Kasten, um unsterblich zu werden.«

»Und was ist mit mir?« maulte Flynn. »Werde ich nicht auch unsterblich?«

»Ich sagte unsterblich, nicht verwerflich. Du richtest die Kamera auf das, was ich dir zeige, und überläßt mir das Denken.«

Flynn funkelte Tobias wütend an. »Ich bin ein Künstler. Das steht in meinem Vertrag.«

»Ich weiß ganz genau, was du bist«, entgegnete Tobias.

»Und jetzt halt die Klappe und film weiter.«

»Tyrann!« schimpfte Flynn. »Warte nur, bis du wieder mal im Bild bist. Ich werde dafür sorgen, daß du aussiehst wie eine Wurst.«

»Wenn man die beiden so hört, könnte man schwören, sie wären miteinander verheiratet«, bemerkte Julian. »Finlay, wir müssen dafür sorgen, daß unsere Leute sich wieder in Bewegung setzen, bevor sie Zeit finden, über das nachzudenken, was hier geschehen ist. Wenn sie in Panik geraten, fällt unser Angriff in sich zusammen.«

»Verstanden«, sagte Finlay. Er kletterte auf die Trümmer, damit alle Rebellen ihn sehen konnten. »Jakob Ohnesorg ist tot! Das Imperium hat ihn getötet! Soll sein Tod umsonst gewesen sein? Oder werdet Ihr weiterkämpfen, wie Jakob es gewollt hätte? Dann folgt mir. Nieder mit dem Imperium!«

Es war wirklich nicht viel, aber es funktionierte. Die Rebellen brüllten den Imperialen ihre Herausforderung entgegen und drängten wieder vor. Sie schrien nach Rache. Finlay führte sie an, und Julian und Evangeline kämpften an seiner Seite. Er hatte nie daran gezweifelt, daß die Rebellen ihm folgen würden, auch wenn es im Namen Ohnesorgs war. Manchmal war ein toter Anführer eine größere Inspiration als ein lebender. Die Verteidiger hielten ihre Stellungen, solange sie glaubten, Ohnesorgs Tod würde die Angreifer demoralisieren; doch die neuerlichen, noch entschlosseneren Angriffe belehrten sie eines Besseren. Irgendwann wurde es auch den Tapfersten zuviel.

Unterlegen und besiegt, bröckelte ihre Front, und sie wandten sich ab und rannten davon. Einige warfen sogar ihre Waffen weg, um zu zeigen, daß sie nicht länger Krieg führten, und genauso schnell war die ganze Schlacht vorbei. Die Imperialen flohen in alle Richtungen. Sie bemühten sich verzweifelt, das Schlachtfeld hinter sich zu lassen, und die Rebellen töteten alle, die nicht schnell genug liefen.

Finlay stürmte vorwärts. Er hielt auf die massiven Stahltüren zu, die den einzigen Eingang in das Kommandozentrum bildeten. Die in die Wände des Bunkers eingebauten Disruptorkanonen eröffneten das Feuer, doch Julian lenkte die Strahlen mit seinem ESP ab, bis Scharfschützen der Rebellen die Waffen aus ihren Kasematten geschossen hatten. Und dann waren sie vor der Tür, und Evangeline gab die Kodes ein, die sie von den Führern der Untergrundbewegung erhalten hatte. Nichts geschah. Evangeline tippte die Zahlen erneut und mit größter Sorgfalt ein, doch die Türen blieben beharrlich geschlossen.

Finlay hörte, wie die Rebellen hinter ihm allmählich unruhig wurden.

»Typisch«, sagte er verstimmt. »Alles muß man selbst machen. Julian, öffnet diese Tür.«

»Schon dabei«, sagte der Esper. Er konzentrierte sich und ignorierte den vertrauten Kopfschmerz, der hinter seiner Stirn aufwallte, und dann traf ein psychokinetischer Hammerschlag die Türen, der so stark war, daß sie aus den Angeln gerissen wurden und ins Innere des Bunkers flogen. Die Rebellen jubelten, und Finlay führte sie durch die Öffnung in die Kommandozentrale des Feindes. Er war noch nicht weit gekommen, als er wie angewurzelt stehenblieb. Evangeline und Julian, die ihm dicht auf den Fersen waren, hätten ihn fast umgerannt. Vor ihnen stand eine einzelne Gestalt in einem anonymen Umhang und bewachte den Durchgang zur Zentrale mit gezücktem Schwert. Ein glatter Helm aus schwarzem Stahl verhüllte das gesamte Gesicht. Es war ein vertrauter Anblick für jeden, der jemals die Kämpfe in der Arena beobachtet hatte. Es war der unbesiegte Champion der Arena persönlich. Der Maskierte Gladiator.

»Nein…«, stammelte Finlay. »Nicht du. Nicht… du.«

»Selbstverständlich ich«, sagte eine gelassene Stimme unter dem Helm. »Ich war dem Eisernen Thron stets treu ergeben, komme, was wolle. Was bedeutet, daß Ihr an mir vorbei müßt, wenn Ihr weiter wollt. Ein Mann an der richtigen Stelle kann eine ganze Armee aufhalten. Und der Maskierte Gladiator wurde noch nie besiegt.«

»Tu das nicht«, sagte Finlay. »Ich will nicht gegen dich kämpfen müssen.«

»Niemand kommt an mir vorbei«, sagte der Maskierte Gladiator ungerührt. »Ohne Ausnahme. Nicht einmal du, Finlay.«

»Ist mir scheißegal, was du da erzählst«, sagte Julian plötzlich. Er trat vor, und sein Gesicht war von einer derart überwältigenden Wut verzerrt, daß Finlay es kaum wiedererkannte.

»Ich habe lange auf diese Chance gewartet, du verdammter Bastard! Du hast meinen Bruder getötet , Auric Skye!«

»Ich habe eine Menge Leute getötet«, sagte die Stimme hinter dem glatten Helm. »Ich erinnere mich nicht mehr an alle Namen.«

»Ich erinnere mich dafür um so besser«, erwiderte Julian, und sein ESP schlug zu. Eine unwiderstehliche Macht packte den Maskierten Gladiator und riß ihn von den Beinen. Er hing in der Luft und zappelte hilflos, während Blut aus jedem Loch in seinem Panzer sprudelte und der Körper im Innern der Rüstung von einer eiskalten, rachsüchtigen Macht zerschmettert wurde. Der Maskierte Gladiator gab keinen Laut von sich, doch irgendwann hörte er auf zu zappeln, und Julian ließ ihn achtlos fallen. Er stürzte zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Julian beugte sich schwer atmend über ihn. Zwei dünne Blutfäden rannen aus seinen Nasenlöchern. Er spuckte auf den glatten Helm des Maskierten.

»Das war für dich, Auric.«

Und dann setzte er sich in Bewegung, und die Rebellen strömten hinter ihm her und jubelten dem Mann zu, der den unbesiegten Maskierten Gladiator geschlagen hatte. Tobias und Flynn folgten ihnen. Keiner von ihnen bemerkte, daß Finlay und Evangeline noch immer neben dem gefallenen Mann knieten. Finlay wartete, bis die letzten Rebellen vorbei waren; dann entfernte er behutsam den Helm des Sterbenden und starrte in das blutverschmierte Gesicht von Georg McCrackin, dem ursprünglichen Maskierten Gladiator – in das Gesicht jenes Mannes, der Finlay alles gelehrt hatte, was der Feldglöck über den Kampf wußte, und der ihm dann sogar gestattet hatte, in der Arena seinen Platz einzunehmen. Georg bemühte sich, Finlay und Evangeline anzulächeln, doch seine Zähne waren rot vom eigenen Blut.

»Jetzt werden wir niemals… herausfinden, ob du mich… geschlagen hättest, Finlay. Ich hätte wissen müssen, daß ein Esper mir keine faire Chance gibt.«

»Ich habe seinen Bruder getötet«, flüsterte Finlay. »Es tut mir so leid, Georg. Ich wollte niemals… Warum bist du in die Arena zurückgegangen? Ich dachte, du hättest dich zur Ruhe gesetzt?«

»Irgend jemand mußte den Maskierten Gladiator spielen, nachdem du aufgehört hattest, und niemand war soweit, daß er deinen Platz hätte einnehmen können.« Georg schluckte mühsam, und seine Stimme wurde ein wenig deutlicher. »Außerdem wollte ich herausfinden, ob ich noch immer gut genug war. Ob ich wieder der Beste sein konnte. Ich schlug mich gut, bis dieser verdammte Unsinn anfing und die Imperatorin mich zu sich rief, um das Kommandozentrum zu verteidigen.« Er hustete rauh, und Blut ergoß sich aus seinem Mund und ström-te ihm übers Kinn. »Verdammt. Ich bin schwer verwundet, Finlay. Dieser Esperbastard hat mich richtig fertiggemacht.« Er versuchte erneut zu lächeln, und Blut leckte aus seinen Mund-winkeln. »Also du gehörst jetzt zu den Rebellen, Finlay. Ich war überrascht, als ich davon hörte. Ich habe mich nie für Politik interessiert. Das Imperium war immer gut zu mir. Ich kann nicht sagen, daß es mir leid tut, wenn jetzt alles vorbei ist. Ich glaube nicht, daß es für meinesgleichen einen Platz gibt in dem, was nach dem Imperium kommt. Da ist es schon besser, mit einem Rest von Würde abzutreten.«

Er hielt inne, als überlege er, was er noch sagen sollte. Finlay wartete und erkannte erst einige Augenblicke später , daß Georg McCrackin gestorben war. Er schloß seinem Mentor und Freund die Augen und erhob sich. Evangeline stand mit ihm auf und legte ihm tröstend den Arm um die Schultern. Finlay bemerkte es nicht einmal. Sein Blick war noch immer auf den Toten gerichtet.

»Julian darf es niemals erfahren«, sagte er schließlich. »Er soll in dem Glauben bleiben, daß er den Mörder seines Bruders bestraft hat. Es ist einfacher so.«

»Für jetzt vielleicht«, sagte Evangeline. »Aber was geschieht, wenn er je die Wahrheit herausfindet? Wenn er erfährt, daß du Auric getötet hast, und daß er einen unschuldigen Mann umgebracht hat?«

»Niemand ist mehr unschuldig«, erwiderte Finlay. »Und was ist schon ein Geheimnis mehr oder weniger für Leute wie uns?«

Finlay stapfte in die Tiefen des Kommandobunkers davon und eilte den entfernten Geräuschen von Kämpfen und dem Schreien der Sterbenden hinterher, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen und sich zu vergewissern, daß Evangeline ihm folgte.

Überall auf dem Planeten Golgatha, in den Städten, den Metro-polen und auf den Raumhäfen, rückten die Rebellen unaufhaltsam vor. Sie trieben die Imperialen Streitkräfte auf allen Fronten zurück. Ihre einzige Trumpfkarte, die riesigen Kriegsmaschinen, standen tot und leblos herum, leere Metallhülsen mit nichts darin, um sie zu führen. Die Imperialen Truppen blickten der Niederlage ins Gesicht, und sie reagierten auf die einzige Art und Weise, die sie kannten: Sie schafften die größten Waffen heran, die sie besaßen, und feuerten auf alles, was nicht zu ihnen gehörte. Sie schossen Rebellen und Zivilisten gleichermaßen ab und richteten ein Blutbad ohnegleichen an. Sie nahmen ganze Gruppen von Frauen und Kindern als Geiseln und benutzten sie als menschliche Schutzschilde, und sie drohten, ihre Geiseln im Dutzend umzubringen, sollten die Rebellen nicht zurückweichen. Sie sprengten wichtige Einrichtungen wie Kraftwerke oder Krankenhäuser lieber in die Luft, als sie den Rebellen zu überlassen. Sie zerstörten ganze Städte und brachten sämtliche Einwohner um, um ihr eigenes Leben zu retten. Die Rebellen hatten mit dieser Art von Barbarei und Gemetzel gerechnet und hatten das bei ihren Planungen stillschweigend in Kauf genommen; doch in der Praxis waren sie bis in das Tiefste ihrer Seelen von der Kaltblütigkeit der Gegner schockiert, sogar jetzt noch, nach allem, was sie von Virimonde gesehen hatten. Überall auf der Welt kam der Vormarsch der Rebellen ins Stocken oder brach gänzlich zusammen, als sie sich einem Bösen gegenübersahen, das einfach zuviel war für ihre simple Taktik. Die Rebellen waren gewillt, das eigene Leben für den Sieg zu opfern, doch angesichts der Verantwortung für die Massenmorde an Zivilisten zögerten sie und verzagten. Die Rebellion drohte zusammenzubrechen, und plötzlich schien der Vorteil der Rebellen geschwunden.

Und das war der Zeitpunkt, an dem die Mater Mundi sich einmal mehr manifestierte, und diesmal auf dem gesamten Planeten gleichzeitig. Unsere Mutter Aller Seelen, der sagenum-woben Überesper, brach zur gleichen Zeit in die Bewußtseine sämtlicher Esper ein, und Hunderttausende von Espern wurden schlagartig auf eine höhere Existenzebene gehoben. Sie verbanden sich zu einem gewaltigen Kollektivbewußtsein und reagierten wie ein Mann. Überall auf Golgatha entflammten PSI-Stürme und rasten durch die Straßen der Städte und Dörfer. Sie wirbelten die Imperialen Truppen davon, ohne Rebellen oder Zivilisten auch nur anzurühren. Poltergeister und Pyros zerstörten Imperiale Gebäude und Zufluchtsorte, steckten Kasernen in Brand und rissen Barrikaden ein wie unaufhaltsame Avatare der Zerstörung. Telepathische Orkane erfaßten die Truppen, sprangen von Bewußtsein zu Bewußtsein und löschten Verstand und Erinnerungen gleichermaßen aus, und sie hinterließen nichts als grenzenlose Leere. An anderen Stellen liefen von Espern erzeugte Alpträume in wehrlosen Bewußtseinen Amok, und abgehärtete Soldaten rissen sich lieber die eigenen Augen heraus, als sich den schrecklichen Visionen zu stellen . Andere Soldaten wandten sich gegen ihre eigenen Kameraden und schossen sie nieder, bevor sie die Waffen gegen sich selbst richteten.

Und so neigte sich die Waagschale abermals zugunsten der Rebellen, und jeglicher Widerstand seitens der Imperialen wurde davongespült. Die Mater Mundi betrachtete ihr Werk und sah, daß es gut war, und sie zog sich wieder aus den Be-wußtseinen der Esper zurück.

Die Rebellenstreitkräfte erledigten, was die Mater Mundi übersehen hatte. Sie übernahmen die Kontrolle über Städte und Dörfer und wurden von der Bevölkerung als Erlöser gefeiert.

Der Krieg an der Oberfläche Golgathas war endlich vorüber.

Doch die Mater Mundi war noch nicht fertig mit ihrem Werk.

Sie manifestierte sich in ihrer alten Freundin Johana Wahn, und Johana Wahn griff hinaus und packte zwei weitere nützliche Seelen. Zu dritt teleportierten sie an einen Ort, wo sie am meisten ausrichten konnten . Sie verschwanden lautlos und unauffällig, und nur das Knallen der Luft, die in das plötzliche Vakuum strömte, verriet, daß sie überhaupt dagewesen waren.

Doch im allgemeinen Chaos bemerkte niemand ihr Verschwinden. Zufrieden, endlich alles Notwendige getan zu haben, zog sich die Mater Mundi wieder zurück und wartete darauf, daß sie erneut gebraucht wurde.

Am Hof der Löwenstein hatte die Hölle Fuß gefaßt und blühte und gedieh wie eine dunkle, giftige Blume. Überall waren Flammen, und ihr goldenes und purpurnes Licht war manchmal die einzige Lichtquelle in der bedrückenden Finsternis. Die Luft war schwer vom Gestank nach Schwefel, vergossenem Blut und verbranntem menschlichen Fleisch. Man hatte gefangene Rebellen auf rohen Holzstangen gepfählt oder sie auf die Metalldornen von Streckbänken gespießt, die sie langsam au-seinanderrissen. Die Leichen toter Berater hingen an Ketten herab. Raben fraßen an ihren Augen und rissen Stücke aus ihren Gesichtern, und sie sprachen mit schrillen menschlichen Stimmen. Es war gefährlich geworden, die Imperatorin jetzt noch zu enttäuschen. Blutrote Engel mit brennenden Schwingen standen in gestaffelten Reihen hinter dem Thron. Sie trugen Monofaserschwerter, unehrenhafte Waffen, doch die Löwenstein scherte sich längst nicht mehr um derartige Belanglo-sigkeiten.

Mißtrauisch durchschritten Kapitän Johan Schwejksam und Investigator Frost zusammen mit ihrem Sicherheitsoffizier K.

Stelmach die blutroten Nebel der Hölle und achteten vorsichtig darauf, den gelben Schwefeldämpfen auszuweichen, die in unregelmäßigen Abständen aus den glühenden Aschekratern ent-wichen. Sie blieben dicht beieinander und bemühten sich, nicht allzu neugierig in die Runde zu blicken, während sie sich auf dem direktesten Weg dem Thron näherten, der unter den gegebenen Umstanden möglich war. Von Zeit zu Zeit knirschten kleinere Knochen unter ihren Sohlen. Sie sahen aus, als stammten sie von Vögeln oder anderen kleinen Tieren. Oder von Kindern. An einigen befanden sich noch Reste von Fleisch und Haut. Hin und wieder schrien Menschen auf, die an Ketten herabbaumelten oder gekreuzigt an Metallbäumen hingen, wenn die drei vorüberkamen. Sie bettelten um Hilfe oder einfach nur um einen Schluck Wasser. Schwejksam und Frost blickten stur geradeaus und antworteten nicht. Sie wußten, daß sie nichts tun konnten. Jedenfalls nichts, das man ihnen erlaubt hätte. Stelmach weinte leise vor sich hin und schniefte die Tränen hoch.

Man hatte die drei nach Golgatha zurückbefohlen und von dort aus in die Tiefen des Imperialen Palasts. Sie waren auf direkten Befehl der Imperatorin persönlich gekommen. Die Eiserne Hexe hatte höchste Sicherheitskodes benutzt, die nur dann zum Einsatz kamen, wenn der Thron in allergrößter Gefahr schwebte.

Und so waren die drei selbstverständlich gekommen. Sie hatten die Rebellen und die Kämpfe genauso ignoriert wie die Hilferufe belagerter Imperialer Streitkräfte, so dringend hatten Löwensteins Befehle geklungen. Sie wußten noch nicht, daß der Krieg an der Oberfläche längst verloren war; doch es hätte sie auch nicht weiter überrascht. Sie hatten die Liveübertragungen von Virimonde gesehen, und selbst Frost war schok-kiert gewesen. Schwejksam hatte geknurrt, daß nur eine Wahnsinnige derartige Befehle erteilt haben konnte, und weder Frost noch Stelmach hatten ihm widersprochen. Auf dem Weg nach Golgatha hatten sie über die Rebellion diskutiert; aber ihre Loyalität hatte keine Sekunde in Frage gestanden, ganz egal, was auch geschehen sein mochte . Die drei hatten dem Eisernen Thron und ihrer Imperatorin die Treue geschworen, und man verriet seine Ehre nicht, nur weil die Dinge vielleicht im Augenblick schlecht standen. Manchmal, wenn es wirklich ganz schlimm kam, war die Ehre das einzige, was einem noch blieb.

Und so stapften die drei durch die Hölle, durch Hitze und Nebel und vorbei am Leiden der Verdammten. Diesmal waren keine Wachen gekommen, um sie zu begleiten. Schwejksam fragte sich, ob das ein Zeichen des Vertrauens bedeutete, oder ob die Löwenstein einfach nicht mehr genug Leibwachen be-saß. Es spielte keine Rolle. Sie waren hier; man hatte sie aus der Ungnade zurückgerufen, und die Ehre ihres Schiffes und seiner Besatzung war wiederhergestellt. Schwejksam hatte gehofft, die Gelegenheit nutzen und der Löwenstein ein wenig Vernunft einreden zu können; doch seit dem ersten Blick auf die gegenwärtige Staffage des Imperialen Hofs zweifelte er ernsthaft, ob das überhaupt noch möglich war. Der Hof war ein Spiegel des seelischen Zustands Ihrer Majestät, und wie es schien, waren beide zur Hölle gefahren.

Schließlich erreichten die drei den Thron. Flammengeysire schossen zur Decke hinauf wie Feuerbrunnen; aber sie waren merkwürdig lautlos und tauchten die Löwenstein und ihren Thron in ein satanisches Licht. Die Jungfrauen drängten sich am Fuß des Eisernen Throns. Sie waren wachsam und gereizt, und ihre stählernen Klauen waren deutlich unter den Fingernägeln zu sehen. Sie starrten die Neuankömmlinge aus ihren hungrigen künstlichen Augen an und knurrten. Hinter dem Thron standen reglos und mit gezückten Schwertern die brennenden Engel von Löwensteins Leibwache. Die Imperatorin hätte sich sicher und behütet fühlen müssen, doch sie erweckte einen vollkommen anderen Eindruck. Sie saß nach vorn ge-beugt auf der Vorderkante ihres Throns und starrte grimmig auf den Holoschirm, der vor ihrer Nase schwebte und durch die wenigen noch vom Imperium kontrollierten Kommunikationskanäle ständig neue Lageberichte lieferte. Die Eiserne Hexe mußte hilflos mit ansehen, wie ihr Imperium ringsum zerfiel.

Schwejksam, Frost und Stelmach blieben vor ihr stehen und verneigten sich tief, und sie erwiderte ihren Gruß mit einem herablassenden Wink. Als sie nach einer ganzen Weile geruhte, sich umzudrehen und die drei anzusehen, da waren ihre Augen weit und drohten aus den Höhlen zu quellen, und ihr Lächeln war merkwürdig starr, als hätte sie ganz vergessen, wie man so etwas zustande brachte.

»Aha. Dann seid Ihr also doch noch gekommen. Unser Kapitän, Unser Investigator und Unser Sicherheitsoffizier . Ihr habt Uns die Treue geschworen, bis in den Tod und darüber hinaus.

Verräter!«

»Nein, Euer Majestät«, beeilte sich Schwejksam zu widersprechen. »Wir sind Euch treu ergeben. Wir waren stets loyal.«

»Und warum habt Ihr dann Geheimnisse vor Uns? Warum habt Ihr versucht zu verbergen, was aus Euch geworden ist?

Warum habt Ihr Uns nichts von den Kräften erzählt, die Euch auf der Wolflingswelt gegeben wurden?«

Schwejksam und Frost wechselten einen Blick, dann sahen beide zu Stelmach, der unmerklich den Kopf schüttelte. Er hatte nichts verraten. Schwejksam sah wieder zur Imperatorin, und als er sprach, klang seine Stimme ruhig und gemessen. »Lange Zeit verstanden wir selbst nicht, was mit uns geschehen ist.

Wie es scheint, hat selbst die kurze Zeit im Labyrinth des Wahnsinns ausgereicht, uns auf einer Ebene zu verändern, die wir noch immer nicht völlig begriffen haben. Wir taten unser Bestes, um Euch zu dienen, Majestät, während wir um die Kontrolle über unsere neuen… Fähigkeiten kämpften.«

»Und was ist mit Ihm, Sicherheitsoffizier?« fragte die Löwenstein. »Wir gaben Ihm ganz spezifische Befehle, diese beiden dort zu beobachten und Uns umgehend Bericht zu erstatten.«

»Ich habe versucht , meine Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen, Euer Majestät«, sagte Stelmach. Sein Gesicht war totenbleich, und seine Hände zitterten, doch sein Blick war fest und seine Stimme klang entschlossen. »Es war nicht so einfach, Euer Majestät. Die Situation war… mehrdeu-tig. Ich mußte abwägen.«

»Worte!« schnaubte die Löwenstein und lehnte sich auf ihrem Thron zurück. Ihre kalten Augen musterten die drei der Reihe nach. »Nichts als leere Worte! Aber dafür ist es jetzt zu spät. Wir werden keine Ausreden mehr dulden. Die Barbaren stehen vor den Toren des Imperiums. Wir brauchen Waffen, um sie aufzuhalten, während Wir darüber nachdenken, wie Wir diese Rückschläge ungeschehen machen . Ihr werdet diese Waffen sein. Berichtet mir von Euren Kräften. Erzählt alles, oder Ihr werdet alle drei hier vor meinen Füßen sterben!«

Schwejksam überlegte nur einen Augenblick, ob er sich wi-dersetzen sollte. Sie besaß keine ernsthafte Macht mehr über ihn und seine beiden Kameraden. Selbst die vereinigten Wachen des Hofes konnten Frost und ihn nicht dazu bewegen, etwas zu tun, was sie nicht wollten. Nicht nach dem, was aus ihnen geworden war. Doch der Augenblick verstrich. Sie war seine Imperatorin. Schwejksam und Frost hatten nichts von ihren Kräften verraten, weil sie begründete Furcht gehabt hatten, als Laborratten zu enden. Möglicherweise sogar als vivise-zierte Laborratten. Doch die Zeit derartiger Schwächen war vorbei. Schwejksam erkannte das Schicksal, wenn es an seine Tür klopfte. Also berichtete er der Imperatorin so genau, wie er konnte, von den fremdartigen Fähigkeiten und Kräften und Erfahrungen, sie sich in Frost und ihm seit ihrem Besuch auf der verlorenen Welt Haden manifestiert hatten. Jener Welt, die auch unter dem Namen Wolflingswelt bekannt war und wo das Labyrinth des Wahnsinns gestanden hatte.

Es dauerte eine ganze Weile, auch deshalb, weil die Löwenstein ihn immer wieder unterbrach und nach Einzelheiten und Erklärungen fragte, die Schwejksam bei weitem nicht immer geben konnte. Während er berichtete, erschienen zwei weitere Gestalten im Hof und schoben sich durch die Schwefeldämpfe zum Thron. Als erster tauchte Valentin Wolf auf, der berüchtigte Stutzer in Schwarz mit dem langen weißen Gesicht. Er blieb in respektvollem Abstand vom Thron stehen und war es zufrieden, unauffällig zu lauschen und zu beobachten, während Schwejksam erzählte. Der purpurne Mund des Wolfs war zu seinem üblichen breiten Grinsen verzogen, und die maskarageschminkten Augen leuchteten fieberhell unter dem Einfluß von Dutzenden verschiedener Drogen, die gleichzeitig durch seinen Kreislauf rasten. Valentin war nicht gewöhnt zu verlieren, und seine kürzlichen Rückschläge hatten ihn aus der Fassung gebracht. Er hatte reagiert, indem er sein wirres Bewußtsein mit einem Stimulans nach dem anderen aufgeputscht hatte in der Hoffnung, daß sein Geist schon eine Lösung für die Probleme finden würde. Das Resultat war eine Art chemisches Patt gewesen: Seine Gedanken waren ungeordneter denn je aufein-andergeprallt und hatten sich gegenseitig neutralisiert. Und so war er schließlich zum Hof gekommen: nicht nur seiner eigenen Sicherheit wegen, sondern auch deshalb, weil dies der Ort war, wo alle wirklich bedeutsamen Entscheidungen im Imperium gefällt wurden. Was auch immer hier geschah – Valentin war zuversichtlich, daß er es auf die eine oder andere Weise zu seinem Vorteil verwenden konnte. So war es bisher immer gewesen.

Ursprünglich hatte er gehofft, von seiner früheren Tändelei mit dem Untergrund zu profitieren. Diese Hoffnung hatte sich jedoch rasch zerschlagen, als Valentin herausfand, daß die An-führer der Esper Finlay Feldglöck Valentins Kopf versprochen hatten. Als Gegenleistung für die Dienste des Feldglöcks.

Heutzutage konnte man eben niemandem mehr vertrauen. Aber das hieß noch nicht, daß alles verloren war. Finlay konnte im Verlauf der Rebellion durchaus den Tod finden – mit ein wenig Hilfe von außerhalb –, und Valentin war zuversichtlich, daß sich hinterher eine Möglichkeit für ihn eröffnen würde, wieder in die Gunst der Untergrundbewegung zurückzukehren. Und falls sich die Dinge unerwartet in die andere Richtung entwik-keln sollten und die Löwenstein wie durch ein Wunder doch noch siegte, oder, was wahrscheinlicher erschien, irgendeinen Kompromiß mit den Rebellen aushandelte – dann würde sie jemanden benötigen, der für sie mit dem Untergrund verhan-delte. Jemanden, der gute Verbindungen besaß. Und wer war besser dazu geeignet als der erfahrene Valentin Wolf?

Er lachte still in sich hinein. Hier in Löwenstein Hölle fühlte er sich zu Hause. Geduldig stand er vor dem Thron und flach-ste mit Löwensteins Jungfrauen. Sein Körper vibrierte vor Energie, und seine Gedanken rannten eine Meile pro Sekunde in jede Richtung. Also blieb er einfach nur stehen und sagte gar nichts. Sollten andere reden. Er würde zuhören und einen Weg finden, alles zu seinen Gunsten zu wenden. So wie immer. Und dann… Gnade Gott Valentins Feinden.

Die zweite Gestalt, die während Schwejksams Bericht bei Hofe erschien, war der Hohe Lord Dram. Der Prinzgemahl und Witwenmacher. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Seine Kleider waren abgerissen, versengt und blutig, und wenigstens ein Teil davon war sein eigenes. Er war von der Oberfläche zurückgeschlagen worden, als die Rebellen einen Sieg nach dem anderen errungen hatten. Nachdem die Kriegsmaschinen plötzlich ausgefallen waren und die Mater Mundi sich manifestiert hatte, war Dram klargewesen, daß der Kampf an der Oberfläche verloren war. Er hatte sich von seinen Männern weggestohlen, sich verkleidet und war dann zurück zum Hof geflohen. Er verspürte nicht so sehr Schuldgefühle ob seines Versagens, sondern vielmehr Wut. Die Löwenstein erwartete andauernd Dinge von ihm, die vielleicht der echte Dram mit all seiner Erfahrung hätte vollbringen können, aber nicht der Klon.

Er war noch jung und unfertig, und er hatte alle Mühe, am Leben zu bleiben, während ringsum ununterbrochen Männer starben. Es war nicht seine Schuld, wenn er nicht wußte, wie er mit einer überwältigenden Übermacht und unheimlichen Waffen fertig werden sollte und mit Espern, die Kräfte besaßen, die an Wunder grenzten. Selbst der ursprüngliche Dram hatte nie der allgegenwärtigen Mater Mundi gegenüberstehen müssen. Und so war Dram der Klon davongerannt und nach Hause zur Löwenstein zurückgekehrt wie ein Kind, das in der Schule verhauen worden war und das jetzt hoffte, daß es nicht schon wieder Schläge bekam, weil es verloren hatte.

Ein Holoschirm summte, und die Löwenstein brachte Schwejksam mit einer herrischen Handbewegung zum Schweigen. Sie aktivierte den Schirm, und das Gesicht von General Shaw Beckett erschien. Er sah müde und niedergeschlagen aus.

Im Hintergrund war die Brücke seines Schiffs zu sehen, und dort schien das Chaos ausgebrochen zu sein. Leute rannten hin und her und riefen und fluchten, und unaufhörlich schrillten Alarmsirenen. Beckett sah die Löwenstein mit festem Blick an, und als er sprach, tat er es mit lauter Stimme, um das Chaos zu übertönen.

»Euer Majestät! Ich habe mein Bestes gegeben, um Euer Imperium und Euch mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. Ich bedaure Euch mitteilen zu müssen, daß ich versagt habe. Der Krieg im All ist vorbei. Meine Flotte ist versprengt und vernichtet; meine Bodentruppen wurden auf allen Welten überrannt, mit denen ich noch in Verbindung stehe, und ich habe nichts mehr, womit ich noch kämpfen könnte.

Ich sehe keine Möglichkeit und keine Strategie, die mir erlauben würde, diese Rückschläge wettzumachen. Aus diesem Grund – und um so viele meiner Leute zu retten wie möglich, sowohl im Raum als auch am Boden – habe ich Kontakt mit den Anführern der Rebellen aufgenommen und ihnen meine Kapitulation angeboten.

Mein Ratschlag an Euer Majestät lautet, das gleiche zu tun, um die bestmöglichen Bedingungen auszuhandeln, solange dies noch möglich ist. Ich werde das Kommando über die Flotte an die Autoritäten übergeben, die nach Euer Majestät kommen. Es tut mir leid, Löwenstein, aber ich muß an meine Männer denken. Es hat genug Tod und Leid gegeben. Wer weiß, vielleicht ist es so am besten . Ich wünsche Euch viel Glück, Euer Majestät. Falls wir beide überleben, werden wir uns vielleicht eines Tages in besseren Zeiten wiedersehen.«

Er schaltete ab, und der Holoschirm war bereits leer, während die Löwenstein noch Luft holte, um ihren General zu be-schimpfen. Lange Zeit starrte sie mit leeren Augen um sich und trommelte mit den Fäusten auf den Armlehnen ihres Throns.

Die Jungfrauen zu ihren Füßen wurden unruhig, als sie die Stimmung ihrer Herrin aufnahmen. Schließlich blieb ihr Blick an Schwejksam und Frost hängen, und sie nickte langsam.

»Wir sind von Dummköpfen und Verrätern umgeben! Aber Wir haben immer noch Euch. Ihr seid Unsere Geheimwaffe!

Wir legen Euch den Befehl über all unsere Streitkräfte in die Hände, Kapitän und Investigator. Verteidigt das Imperium!

Tötet den Abschaum, der in Unseren Straßen randaliert . Und wagt es ja nicht, Uns zu enttäuschen!« Erneut kochte die Wut in ihr über, und ihre Stimme erhob sich zu einem frustrierten Keifen. »Gibt es denn sonst niemanden mehr, der Uns vor dem Pöbel beschützt?«

»Selbstverständlich. Ich bin auch noch da«, sagte Alexander Sturm.

Alle Köpfe fuhren herum und starrten verblüfft auf den alten Rebellen, der ohne Eile durch die Schrecken der Hölle zum Thron schlenderte . Jakob Ohnesorg stapfte hinter ihm her, und er zog eine sich wehrende und in Ketten gelegte Ruby Reise an einer Leine um den Hals hinter sich her . Wenn Ruby sich sträubte, zog Ohnesorg so lange an der Leine, bis sie keine Luft mehr bekam und ihr keine andere Wahl blieb, als ihm zu folgen. In respektvoller Entfernung vor den Jungfrauen blieb Sturm stehen, bedeutete Ohnesorg das gleiche zu tun und verneigte sich tief und höfisch vor der Löwenstein und den anderen Anwesenden.

»Euer Majestät, verehrte Gäste: Darf ich Euch meine beiden Gefangenen präsentieren: die höchst verdammenswerten Rebellen und Verräter Jakob Ohnesorg und Ruby Reise? Verfahrt mit ihnen, wie auch immer Ihr wünscht. Sie gehören Euch.«

Lange Zeit herrschte absolute Stille, und dann lachte die Löwenstein hysterisch und klatschte in die Hände wie ein kleines Mädchen. »Seht Ihr, meine Freunde? Es ist erst dann vorbei, wenn ich es sage, und keinen Augenblick früher!«

Owen Todtsteltzer, sein Urahn Giles und Hazel d’Ark hatten die Vorhalle erreicht, die den einzigen Zugang zum Hof der Löwenstein bildete. Es war eine riesige, hohe Kaverne aus glänzendem Stahl und Messing, mit hohen, kunstvoll verzier-ten Stützpfeilern aus Gold und Silber, und sie erstreckte sich weitläufig in alle Richtungen.

Jedes Geräusch hallte endlos in der Leere wider. Normalerweise war die Vorhalle angefüllt mit Lobbyisten und hohen Staatsdienern, die ungeduldig darauf warteten , daß sich die großen Stahltüren endlich öffneten und sie eine Gelegenheit erhielten , von der Imperatorin gehört zu werden. Doch jetzt lag die Vorhalle leer und verlassen. Owen, Hazel und Giles standen vor den großen geschlossenen Flügeltüren und starrten sie nachdenklich an.

»Wahrscheinlich sind sie verschlossen« , sagte Owen .

»Wahrscheinlich«, stimmte ihm Hazel zu . »Wahrscheinlich hast du recht. Ich nehme an , du besitzt nicht rein zufällig die Kodes dafür, oder?«

»Ich fürchte nein«, gestand Owen. »Ich nehme an, du hast nicht rein zufällig eine Ladung Sprengstoff mitgebracht, oder?«

»Ich fürchte nein«, gestand Hazel. »Ich schätze, wir müssen uns mit Hilfe brutaler Gewalt und purer Ignoranz Zutritt verschaffen.«

»Dann fangt mal damit an«, brummte Giles. »Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, und ich habe heute noch eine Menge vor.«

Owen und Hazel wechselten einen Blick; doch bevor einer von ihnen etwas darauf erwidern konnte, gab es einen hellen Lichtblitz, und Tobias Shreck, sein Kameramann Flynn und Johana Wahn erschienen wie aus dem Nichts. Johana hatte sich mit einem psionischen Schutzschild umgeben, aber als niemand sie angriff, senkte sie ihn wieder. Tobias und Flynn überzeugten sich davon, daß die Kamera noch immer bei ihnen war; dann sahen sie sich offenen Mundes um. Tobias erkannte, wer vor ihm stand und wo sie gelandet waren, und er gestikulierte Flynn drängend, mit dem Filmen zu beginnen.

»Was zur Hölle habt ihr hier zu suchen?« fragte Hazel wenig einladend.

»Die Mater Mundi wollte, daß wir hier sind«, sagte Johana Wahn. »Falls Euch das nicht gefällt, beschwert Euch bei ihr.

Offensichtlich möchte sie, daß der Sturz der Imperatorin live im gesamten Imperium übertragen wird. Aber warum sie mich hier haben will… ich weiß es nicht. Zweifellos werde ich es in Kürze herausfinden. Also, bitte bringt mich auf den neuesten Stand. Was liegt zwischen uns und dem Hof?«

»Nun, im Grunde genommen nur diese Türen hier«, sagte Owen. »Ich persönlich hätte gedacht, daß wir auf stärkere Sicherheitsmaßnahmen treffen würden.«

Er unterbrach sich, und alle fuhren beim Geräusch sich nähernder Schritte herum – einer ganzen Menge sich nähernder Schritte. Wer Waffen hatte, zog sie. Johana Wahn beschwor ihr ESP herauf, und reine psionische Energie erfüllte die Luft mit ihrem Knistern. Flynn schickte seine Kamera zur Decke empor, überzeugte sich davon, daß sie in die richtige Richtung schaute und beeilte sich anschließend, zusammen mit Tobias hinter den anderen in Deckung zu gehen. Er war kaum dort angekommen, als eine kleine Armee von Löwensteins persönlicher Leibgarde in die Vorhalle des Imperialen Hofs gestürmt kam . Sie waren mit Schwertern und persönlichen Schutzschilden ausgerüstet.

Owen packte sein Schwert fester . Es waren wenigstens zwei-hundert Angreifer. Hazel funkelte den Todtsteltzer an.

»Was mußtest du auch dein großes Maul aufreißen!«

»Ergebt Euch!« rief der kommandierende Offizier. »Ihr seid ganz gewaltig in der Unterzahl, und Ihr habt nicht die geringste Chance.«

Owen grinste Giles an. »Er scheint uns nicht zu kennen, was?«

»Wir wollen sie so schnell wie möglich ausschalten«, sagte Owens Urahn. »Es könnte ein Ablenkungsmanöver sein, um der Löwenstein Zeit zur Flucht zu verschaffen.«

»Dürfte ich darauf hinweisen, daß Flynn und ich absolut unparteiisch sind?« rief Tobias von hinten. »Wir stellen für niemanden eine Bedrohung dar!«

»Tötet sie alle!« schnappte der kommandierende Offizier und führte seine Leute in den Kampf.

Johana Wahn schwebte in die Höhe, breitete die Arme aus, und Blitze zuckten aus ihren Händen und streckten das erste Dutzend Leibwachen nieder. Hazel d’Ark schimmerte, und plötzlich gab es ein ganzes Dutzend Hazels. Vielleicht kamen sie aus anderen Zeitlinien, wie Giles behauptet hatte; aber wie auch immer: Sie grinsten voller böser Vorfreude auf den Kampf. Giles teleportierte unter den Wachen hierhin und dorthin. Er streckte Gegner nieder und war wieder verschwunden, bevor er selbst angegriffen werden konnte. Owen grinste und schüttelte den Kopf. Alles Angeber. Er hob das Schwert und fiel in den Zorn; dann stellte er sich den Angreifern mit dem Tod in den Augen entgegen. Zwei Männer und zwei Frauen, die gegen eine Armee in den Krieg zogen, und die schiere Überzahl der Angreifer bedeutete nicht das geringste Problem für sie.

Jedenfalls anfangs nicht.

Die Rebellen bahnten sich mit grimmiger Effizienz ihren Weg durch die feindlichen Wachen, und bald lagen überall Leichen und behinderten die Kämpfenden. Die Rebellen töteten und töteten, und noch immer strömten neue Wachen herbei.

Owen schwang das Schwert mit beiden Händen, und niemand vermochte ihm standzuhalten.

Er war im Zorn, und Kraft und Schnelligkeit rasten durch seinen Adern. Doch so sehr er sich auch bemühte, für jeden niedergestreckten Gegner schienen zwei neue aufzutauchen, um seinem Platz einzunehmen. Sie schwärmten um ihn herum, und griffen ihn aus allen Richtungen zugleich an. Bald schon hatte er nicht mehr genug Raum, um das Schwert zu schwingen, und er konnte nur noch stechen und stoßen. Seine Streiche waren vom Zorn verstärkt, und sie waren noch immer fürchterlich und tödlich; aber mit Feinden zu allen Seiten konnte er sich nicht für einen Augenblick entspannen. Er kämpfte weiter, wirbelte in diese und in jene Richtung, hielt seine Gegner auf Abstand und wußte, daß er ein toter Mann war, falls er langsamer werden oder auch nur einen Augenblick zaudern würde.

Rasche Seitenblicke verrieten ihm, daß es seinen Freunden nicht besser ging. Die Hazels waren voneinander getrennt worden und über die gesamte Ausdehnung der Vorhalle verstreut: aber sie kämpften noch immer wütend. Owen mußte grinsen.

Aus welcher Realität auch immer die verschiedenen Hazels kommen mochten, sie waren allesamt höllische Kämpferinnen.

Eine von ihnen wurde in seine Richtung zurückgedrängt, und Owen war froh zu sehen, das es die echte war. Rasch stellten sie sich Rücken an Rücken und kämpften so weiter. Owen war froh darüber. Hazel und er hatten schon immer ein gutes Team abgegeben.

Owen sah seinen Urahn Giles in einiger Entfernung. Der ursprüngliche Todtsteltzer brüllte seine Schlachtrufe und schwang sein großes breites Schwert wie einen Hammer, und die Wachen, die ihn umringten wie Kampfhunde, hatten alle Mühe, auch nur einen einzigen Schlag gegen ihn zu führen.

Giles hatte aufgehört zu teleportieren. Zwischen den Kämpfenden war nicht mehr genug freier Raum, in den er hätte teleportieren können. In Owen wuchs das Gefühl, daß die Wachen inzwischen noch zahlreicher geworden waren als zu Beginn, trotz all der Toten, die den Boden der Vorhalle bedeckten. Anscheinend brachten sie unablässig Verstärkungen heran. Wie unfair.

Johana Wahn schwebte noch immer in der Luft und war in Blitze gehüllt, doch sie hatte aufgehört, diese auf die Wachen zu schleudern. Owen erkannte den Grund erst, als er sah, wie Leibwächter Dutzende von ESP-Blockern herbeischafften und übereinander stapelten in dem Versuch, Johanas verstärkte Macht durch schiere Zermürbung auszuschalten.

Und zum ersten Mal dämmerte es Owen, daß er vielleicht doch nicht weiter kommen wurde als bis in diesen Vorhof der Hölle. Er hatte so viele Hindernisse überwunden und war einen so weiten Weg gegangen; doch selbst jemand wie er hatte seine Grenzen. Selbst ein Mann im Zorn konnte nicht gegen eine ganze Armee bestehen. Owen erinnerte sich, wie alles angefangen hatte, vor gar nicht allzu langer Zeit: wie er auf Virimonde vor einer übermächtigen Bande seiner eigenen verräterischen Wachen gestanden hatte und im Begriff gewesen war zu sterben. Vielleicht schloß sich hier der Kreis. Nur, daß Hazel diesmal nicht imstande sein würde, ihn zu retten. Sie steckte genauso tief in Schwierigkeiten wie Owen selbst. Es erschien ihm verrückt, daß er nach allem, was er durchgestanden hatte, am Ende doch noch von einem Haufen bewaffneter Leibwächter zur Strecke gebracht werden sollte, und zwar allein deswegen, weil es so viele waren.

Er griff tief in sein Innerstes und suchte nach der Kraft, mit deren Hilfe er auf der Nebelwelt einen ganzen Turm zum Einsturz gebracht hatte, doch er fand nichts. Keine Antwort folgte seinem Ruf, ganz gleich, wie verzweifelt er auch suchte. Und er hatte nicht die geringste Ahnung, was der Grund dafür war.

Er war jetzt durch und durch naßgeschwitzt, und er mußte ununterbrochen blinzeln, um zu verhindern, daß ihm der Schweiß in die Augen lief. Er atmete schwer, und ihm schien, als wäre er nicht mehr ganz so schnell wie zu Anfang. Nach und nach kamen einige vereinzelte Schläge der Wachen durch.

Nur ein kleinerer Schnitt hier und dort, den er in seinem Zorn kaum spürte; doch eine Wunde war eine Wunde und Blut war Blut. Und genügend Blutverlust würde ihn langsamer machen, trotz des Zorns. Außerdem würde der Zorn nicht ewig vorhal-ten. Von einem bestimmten Punkt an würde die Flamme, die doppelt so hell brannte, Owen verzehren. Genau wie auf der Nebelwelt. Er kämpfte und hieb und stach und wehrte aus allen Richtungen Angriffe ab. Er war ein Todtsteltzer, und ringsum fielen und starben die Leibwachen der Eisernen Hexe.

Er hörte Hazel knurren und grunzen, und er spürte sie in seinem Rücken, wenn sie zurückweichen mußte, und so wußte er, daß sie noch immer bei ihm war. Auf der gegenüberliegenden Seite der Vorhalle erblickte er eine zweite Hazel mit dunkler Haut und Korkenzieherlocken. Sie fiel ganz plötzlich unter einem Dutzend Schwerthieben gleichzeitig, und so lange und angestrengt Owen auch hinsah, sie kam nicht wieder hoch. Giles war gegen eine Wand zurückgewichen und blutete aus einem Dutzend Wunden. Aus einem langen Schnitt an der Schläfe strömte Blut über sein Gesicht. Von Johana Wahn war nirgends eine Spur zu sehen.

Und dann schrie Hazel mit einem Mal voller Schmerz und Entsetzen hinter ihm auf und taumelte ihm schwer in den Rük-ken, bevor sie auf die Knie sank. Owen wirbelte herum und schwang das Schwert mit aller Macht, und die Wachen wichen vor ihm zurück. Hazel saß zusammengesunken zu seinen Füßen.

Sie hatte eine tiefe Bauchwunde erlitten. Das Schwert hatte sie fallengelassen, und sie bemühte sich, die große klaffende Wunde mit um den Leib geschlungenen Armen zusammenzuhalten, doch das Blut floß unaufhörlich weiter. Schon bald saß sie in einer großen Lache ihres eigenen Blutes.

Owen erkannte, daß Hazel tödlich getroffen war. Er wollte ihren Namen rufen, doch er schien nicht genug Atem zu haben.

Er fiel aus dem Zorn, und sein Schwertarm sank. Die Wachen stürzten heran.

Und mit einemmal stiegen die ganze Wut und die Angst in Owen hoch und entfachten seine Kräfte aufs neue. Von einem Augenblick zum anderen wurde er von einer blendenden Energie erfüllt, die er kaum beherrschen konnte . Er ergab sich in sie hinein, und sie schoß brüllend aus ihm hervor wie eine unaufhaltsame Flutwelle. Die Wachen in seiner unmittelbaren Umgebung wurden in einem einzigen Augenblick verschlungen, und noch immer schoß weitere Energie aus ihm hervor und starben weitere Wachen. Die Überlebenden wollten sich um-wenden und fliehen, doch die seltsame Macht war binnen Sekunden über ihnen, und sie tötete alle ohne jede Gnade. Innerhalb weniger Augenblicke war jede einzelne Leibwache in der Vorhalle tot, und nur Giles, Johana, Tobias und Flynn und eine Handvoll Hazels standen noch. Owen brachte die Kräfte zum Versiegen und warf einen Blick auf die ungezählten Toten, und es war ihm völlig egal.

Er sank neben Hazel in die Knie und nahm sie behutsam in die Arme. Sie lehnte den Kopf gegen seine Brust, und er wiegte sie sanft. Sie fühlte sich unglaublich leicht an in seinen Armen, als triebe sie bereits langsam von ihm weg. Rasch war seine Kleidung durchnäßt von ihren Blut, doch er bemerkte es nicht. Einmal mehr suchte er nach seinen Kräften, und wieder reagierten sie nicht. Was auch immer das Labyrinth des Wahnsinns ihm geschenkt hatte, es waren Kräfte der Zerstörung und nicht der Heilung.

Er konnte eine ganze Armee erschlagen, doch er konnte die einzige Person nicht retten, die ihm mehr als alles andere bedeutete. Seine Brust war wie zugeschnürt, und er konnte kaum atmen. Hazel hob langsam den Kopf und versuchte, ihn anzulächeln. Ihre Zähne waren rot von Blut.

Owen begann zu weinen.

Schwere rasselnde Schluchzer schüttelten seinen gesamten Körper. Hazel bemühte sich, noch etwas zu ihm zu sagen , doch dann verließ sie auch noch ihre letzte Kraft , und sie lag tot in seinen Armen .

Owen drückte sie fest an sich und wiegte sie wie ein schlafendes Kind.

»Ich hab’ das doch alles nur für dich getan« , sagte er schluchzend. »Ich hab’ doch alles nur für dich getan , Hazel.«

Er hörte , wie sich Schritte näherten , aber er blickte nicht auf.

Er wollte mit niemandem reden. Doch dann hörte er , wie jemand mit Hazels Stimme leise seinen Namen sagte. Er hörte auf zu weinen, und wilde Hoffnung erfüllte sein Herz; doch erst, als die tote Hazel in seinen Armen einfach verschwand, begriff er, was geschehen war. Er sah nach oben, und dort stand Hazel d’Ark. Diesmal war es die echte Hazel. Er rappelte sich auf, und dann stand er einfach nur da und schaute sie an.

Owen hatte Angst, sie zu berühren, weil sie sich vielleicht ebenfalls in Luft auflösen könnte. Schließlich streckte sie die Hände aus und nahm ihn in die Arme, und er umklammerte sie so heftig wie ein Ertrinkender sich an einem Rettungsring festhält. Und so standen sie lange Zeit da und atmeten schwer, und niemand sagte ein Wort.

»Ich dachte, ich hätte dich verloren«, brachte Owen schließlich hervor. »Ich habe wirklich geglaubt, ich hätte dich verloren.«

»Alles ist gut, Owen«, antwortete Hazel leise. »Ich bin ja da.

Ich werde immer für dich dasein.«

Nach einer Weile lösten sie sich wieder voneinander und traten zurück, um sich anzusehen. Owen wischte sich mit dem Handrücken die letzten Tränen aus dem Gesicht. Hazel lächelte ihn unsicher an. Dann sah sie sich in der Vorhalle um und nickte beeindruckt, als sie die vielen Toten erblickte.

»Nicht schlecht, Aristo«, sagte sie. »Erinnere mich daran, daß ich dich niemals wütend auf mich mache.«

»Das wird nie geschehen«, sagte Owen mit einer Stimme, die noch immer ein wenig rauh und unsicher klang. »Hazel, ich…«

»Ich weiß, Owen. Laß uns später darüber reden, ja? Zuerst einmal müssen wir ein Imperium stürzen

Owen schüttelte den Kopf . »Bei dir kommt das Geschäft immer an erster Stelle, was?«

Johana Wahn und Giles kamen herbei. Johana hatte die Zeit damit verbracht, ESP-Blocker zu zerstören, und Giles hatte sich ein Taschentuch um den Kopf geschlungen, um die Blutung zu stoppen. Es war nicht das sauberste Taschentuch, doch Owen verzichtete auf einen diesbezüglichen Kommentar. Mit dem angetrockneten Blut im Gesicht sah sein Urahn fast wie ein antiker Seeräuber aus.

»Nette Schau, Todtsteltzer«, sagte Johana Wahn steif. »Ich muß sagen, ich bin beeindruckt. Und Ihr seid sicher, daß Ihr nicht in Wirklichkeit die verkleidete Mater Mundi seid?«

»Ganz sicher«, antwortete Owen. »Was auch immer ich bin oder werde, ein Esper ist es nicht. Es ist… irgendwie mehr als das.«

»Trotzdem hast du dich wacker geschlagen, Verwandter«, sagte Giles. »Als Gelehrter wärst du die reinste Verschwendung gewesen, mein Junge.«

Tobias und Flynn kamen aus dem Alkoven zum Vorschein, wo sie sich verkrochen hatten, und eilten zu den anderen.

Flynns Kamera schwebte hinter ihnen her.

»Wir sind ebenfalls unverletzt, für den Fall, daß es irgend jemanden interessiert«, sagte Tobias ein wenig beleidigt.

»Oh, wir haben uns keinerlei Sorgen um Euch gemacht«, erwiderte Hazel. »Jedermann weiß, daß Journalisten schwieriger umzubringen sind als Kakerlaken.«

Und dann, als hätten sie sich heimlich abgesprochen, drehten sich alle gleichzeitig um und sahen auf die großen stählernen Doppeltüren, die zu Löwensteins Hof führten. Mit einemmal war es in der Vorhalle ungewöhnlich still, als warteten selbst die Toten gespannt auf das, was als nächstes geschehen würde.

»Sollen wir klopfen?« fragte Hazel. »Oder sprengen wir uns einen Weg hinein?«

»Ich glaube nicht, daß wir klopfen müssen«, sagte Giles.

»Die Löwenstein weiß, daß wir hier sind. Sie weiß sicherlich auch, daß sie uns nicht am Betreten ihres Hofes hindern kann.«

Wie auf ein geheimes Zeichen hin schwangen die massiven schweren Türen langsam und lautlos auf. Blutrotes Licht fiel in die Vorhalle, und mit dem Licht kam der Gestank von Blut und Schwefel. Owen und Hazel setzten sich in Bewegung. Beide hielten ihre Schwerter und Pistolen in den Händen, und gemeinsam traten sie in die Hölle ein.

Am Hof vor dem Eisernen Thron gab Alexander Sturm seinem Bedürfnis zu prahlen nach. Sein Leben als Imperialer Agent tief im Innern des Apparats der Rebellen hatte natürlich dazu geführt, daß er niemandem sagen konnte, wer und was er in Wirklichkeit war, so daß er nun die ersehnte Gelegenheit beim Schöpf ergriff und eine kleine Schau veranstaltete. Die Imperatorin lächelte anerkennend auf ihn herab, und Dram und Valentin blickten ziemlich eifersüchtig drein. Razor und der Sommer-Eiland starrten ihn von ihren Plätzen unmittelbar hinter dem Eisernen Thron kalt an, doch Sturm scherte sich keinen Deut um die Meinung der beiden. Razor war ein Investigator, und der Sommer-Eiland war ein Psychopath. Auch Schwejksam, Frost und Stelmach zählten nicht. Die drei waren bekannt dafür, daß sie die Imperatorin immer wieder enttäuscht hatten… wohingegen er, Alexander Sturm, brillante Erfolge vorwei-sen konnte.

»Ich bin Imperialer Agent, seit die Rebellen auf Eisfels ihre Köpfe in die Hände gedrückt bekamen«, berichtete Sturm seinen Zuhörern voller Stolz. »Ich sah, wie Jakob fiel und gefangengenommen wurde, und ich wußte: Das war das Ende jeglicher Hoffnung für die Rebellion. Ich hatte so lange gekämpft, und das sollte alles völlig umsonst gewesen sein? Also ergab ich mich und schlug dem Imperium einen Handel vor. Es war ganz leicht. Sie waren froh, daß sie mich hatten. Sie erkannten meinen Wert. Seither habe ich mich tiefer und tiefer ins Herz des Untergrunds geschwindelt, und ein verdammter Dummkopf nach dem anderen schenkte mir sein Vertrauen. Ich sabotierte und unterlief ihre Operationen fast nach Belieben. Niemand hat mich jemals verdächtigt. Ich war Alexander Sturm, der große Rebellenheld, der Freund und Kamerad des legendären Jakob Ohnesorg.

Ich machte mir ziemliche Sorgen, als Jakob plötzlich wieder auf der Bildfläche erschien, doch die Hirntechs hatten ganze Arbeit geleistet. Sie hatten dafür gesorgt, daß er sich kaum noch an seine Zeit auf Eisfels erinnerte, geschweige denn an meine Fahnenflucht und meinen Verrat. Er erinnerte sich noch nicht einmal daran, daß ich den Hirntechs dabei half, ihn zu foltern und zu konditionieren, um meinen neuen Herren meine Loyalität zu beweisen. Als er dann wieder auftauchte und ich ihm nicht mehr länger ausweichen konnte, weil ich sonst Verdacht erweckt hätte, da waren wir wie alte Freunde, die sich nach langer Zeit wiedersahen. Er hat niemals hinter mein Lächeln geblickt und die Verachtung in meinen Augen gesehen.

Später dann war es nur noch eine Frage des geeigneten Zeitpunkts, bis ich die Kontrollworte benutzte, die unsere Hirntechs in Jakobs Unterbewußtsein eingepflanzt hatten. Und hier ist er nun, der große, berüchtigte Rebell Jakob Ohnesorg, und er steht vor Euer Majestät wie ein harmloses neugeborenes Kätzchen.«

»Was ist mit der Kopfgeldjägerin?« erkundigte sich Razor.

»Ich habe Berichte gesehen, denen zufolge sie Esperfähigkeiten besitzen soll…?«

»Macht Euch ihretwegen keine Sorgen«, sagte Sturm leichthin. »Sie ist bis zum Hals voll mit Beruhigungsmitteln und in so viele Ketten und Fesseln gewickelt, daß es ein Wunder ist, wenn sie überhaupt noch stehen kann.« Er ging zu Ruby hinüber und trat ihr von hinten in die Kniekehlen. Sie sackte zu Boden, und ihre Ketten rasselten laut. Sturm lachte fröhlich und trat wieder vor den Thron.

»Ich dachte, Ohnesorg sei Euer Freund?« erkundigte sich Kapitän Schwejksam.

Sturm zuckte die Schultern. »Das war er auch, früher. Und dann hat er mich im Stich gelassen, weil er nur ein Mensch war, nichts weiter. Legenden sollten nicht alt und müde und langsam werden, und sie sollten nicht häufiger verlieren als gewinnen. Ich war es leid, zu den Verlierern zu gehören. Ich wollte auf der Seite der Sieger stehen. Ich wollte Luxus und Reichtum und ein schönes Leben, das die vielen Jahre der Mühen wettmachte. Niemand hat es mir je gedankt, daß ich so oft mein Leben riskiert habe, keiner von diesen Bastarden . Keiner hat jemals gesagt: Danke, du hast genug getan, jetzt kann jemand anderes weitermachen. Nein, sie wollten immer und immer mehr. Sogar Jakob. Noch einmal in die Schlacht, und noch einmal und noch einmal. Auf irgendeinem gottvergessenen Felsen, von dem ich bis dahin noch nie ein Wort gehört hatte, führten wir verblödete Bauern gegen ausgebildete Imperiale Truppen, und alles für nichts und wieder nichts. All das viele Blut und die Angst und die toten Freunde – ich war es satt bis oben hin. Als Jakob fiel und in Gefangenschaft geriet, hat mir das die Augen geöffnet. Ich erkannte, wie vergeblich die ganze Rebellion war. Selbst wenn wir gewonnen und die Imperatorin gestürzt hätten, wäre sie durch irgend jemanden ersetzt worden, der genauso ist wie sie. Das liegt in der Natur der Sache und der Art und Weise, wie die Dinge sich immer wieder entwik-keln. Also tauschte ich Armut und Hoffnungslosigkeit gegen Reichtum und Sicherheit ein. Und gegen eine Chance, die Rebellen für all die Jahre meines Lebens bezahlen zu lassen, die sie mir achtlos gestohlen haben.«

»Er war trotzdem stets Euer Freund«, sagte Schwejksam.

Sturm funkelte den Kapitän wütend an. »War er das? Ich weiß nicht einmal mehr, wer er ist! Er müßte so alt sein wie ich, aber seht ihn Euch an! Er ist jung, und ich bin es nicht. Er ist ein Mann, der wieder einmal das Schicksal in den Händen hält, und ich nicht. Mein ganzes Leben war unfair, und er war schon immer das Unfairste daran.«

»Ich werde dich töten«, sagte Ruby Reise mit schwerer Zunge. Alle drehten sich nach der Kopfgeldjägerin um, die am Boden kniete und wegen ihrer Ketten nicht mehr auf die Beine kam. Sie hatte Mühe, den Kopf oben zu halten; doch sie warf Sturm haßerfüllte Blicke zu. »Er hat dir vertraut und dich geliebt wie einen Bruder. Er hat an deiner Seite gekämpft. Ich werde dich ganz langsam töten, du verräterischer Bastard. Ich werde dir das Herz herausreißen und es vor deinen Augen zer-quetschen, bevor du tot bist. Ketten können mich nicht halten, und Drogen lassen irgendwann in ihrer Wirkung nach. Ich werde dich sterben sehen, noch bevor ich sterbe.«

»Halt den Mund«, sagte Sturm. Er stolzierte zu ihr hinüber und boxte sie auf den Mund. Ruby kippte hintenüber. »Ich konnte dich noch nie ausstehen, du Miststück.« Er versetzte ihr ein paar Tritte.

»Ich denke, das reicht jetzt«, sagte Owen Todtsteltzer.

Seine Stimme hallte scharf und befehlend durch den gesamten Hof, und Sturm wich unwillkürlich ein paar Schritte zu-rück.

Alle drehten sich um und sahen, wie Owen seine Begleiter durch das Inferno hindurch zum Eisernen Thron führte. Zwei Todtsteltzer, beide Legenden und Männer, die das Schicksal der Menschheit in den Händen hielten. Hazel d’Ark, die einstige Piratin und Heldin der Rebellen. Johana Wahn, die heilige Verrückte des Esper-Untergrunds. Und hinter ihnen, wie Aas-geier mit großer Erfahrung auf Schlachtfeldern, die beiden Nachrichtenmänner Tobias und Flynn, die gekommen waren, um das Ende der Geschichte zu erleben, wie auch immer sie ausgehen mochte.

Investigator Razor und Kit Sommer-Eiland traten hastig vor den Eisernen Thron und zwischen die Löwenstein und die Neuankömmlinge. Sturm eilte zurück zum Hohen Lord Dram und Valentin Wolf. Schwejksam und Frost zückten ihre Schwerter. Stelmach zog seinen Disruptor. Die Jungfrauen der Eisernen Hexe regten sich unruhig und fauchten die Eindring-linge an, während Owen seine Kameraden ungerührt zum Thron führte. Neben Ruby Reise machten sie halt. Ruby blickte ihre Freunde an und spuckte einen Mund voller Blut aus.

»Hat ganz schön lange gedauert, bis ihr hier wart.«

»Tut uns leid«, antwortete Owen. »Wir wurden ein wenig aufgehalten. Brauchst du Hilfe?«

»Du träumst wohl, Aristo.« Ruby erhob sich, spannte die Arme, und die Ketten zerrissen und fielen von ihr ab. Sie grinste den wie betäubt dastehenden Sturm an. »Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, Ketten und Drogen könnten jemanden wie mich halten, oder?«

Owen blickte sich am Hof um und ließ die schwelenden Krater, die brennenden Engel und die großen Löcher im Boden, aus denen die Schreie der Verdammten nach oben drangen, auf sich einwirken. Er betrachtete die Reihen mit den Gepfählten und die gefolterten Sünder, die an ihren Ketten von der Decke baumelten und das blutrote Licht, in das alles getaucht war, und als sein Blick schließlich wieder zurück zur Löwenstein wanderte und er sprach, da war seine Stimme so eiskalt wie seine Augen. »Hübscher Ort, den Ihr Euch da ausgesucht habt, Löwenstein. Er paßt zu Euch. Ihr hattet schon immer einen Hang zum Extremen, aber diesmal habt Ihr Euch selbst über-troffen, schätze ich. Ihr habt den Schritt von der geistig Verwirrten zur Psychopathin hinter Euch. Ihr seid krank im Kopf, Löwenstein. Eine tollwütige Hündin, ein rasendes wildes Tier; es ist unsere Pflicht, Euch aus dem Verkehr zu ziehen

Die Löwenstein lehnte sich offensichtlich ungerührt auf ihrem Thron zurück. »Willkommen an Unserem Hof, Verbrecher . Wir haben Ihn und Seine Begleiter bereits erwartet, und Wir haben sogar ein paar Gäste eingeladen, besondere Freunde, die Er sicher gerne wiedersieht. Zum Beispiel…«

Sie schnippte mit den Fingern, und eine tarnende Holoillusion erlosch. Schräg hinter dem Eisernen Thron kam ein großes hölzernes Kreuz zum Vorschein, und an das Kreuz genagelt war Schwester Oberin Beatrice Cristiana, die Heilige von Technos III.

Ihre Nonnenrobe war zerrissen und blutverschmiert, und ihre Haube war verschwunden und durch eine Dornenkrone ersetzt worden. Getrocknetes Blut klebte an ihren durchbohrten Hand-gelenken und Knöcheln, und noch mehr Blut war über ihr Gesicht gelaufen, als man die Dornenkrone mit Gewalt auf ihren Kopf gedrückt hatte. Sie lebte noch und war bei vollem Be-wußtsein, so daß sie die schrecklichen Schmerzen der Wunden spürte, die man ihr zugefügt hatte. Ihr Gesicht war verzerrt und ließ nichts mehr von seiner normalen Ernsthaftigkeit erkennen, nur noch reines animalisches Leiden.

»Sie schien so begierig darauf zu sein, als Märtyrerin zu sterben, daß Wir dachten, Wir sollten ihr den Gefallen tun«, höhn-te die Löwenstein. »Wenn sie es mit ihrer Religion wirklich ernst meint, müßte sie es eigentlich als Kompliment auffassen, oder nicht? Der Märtyrertod ist doch angeblich die höchste Ehre, die man ihnen in diesem Leben erweisen kann, stimmt’s?«

»Du verdammtes Miststück! Du elende verfluchte Hure!«

Überraschenderweise war es Tobias Shreck, der als erster unter dem Druck zerbrach. Er sprang vor, außer sich vor Wut, als wolle er Beatrice mit roher Gewalt befreien. Flynn mußte ihn packen und festhalten. »Laß mich los!« schrie Tobias und wehrte sich aus Leibeskräften. »Ich ertrage das nicht! Nicht Beatrice! Nicht sie! Sie ist der einzige anständige Mensch, dem ich je begegnet bin!«

»Du wärst tot, bevor du auch nur in ihre Nähe kommen würdest, Chef«, sagte Flynn. Er mußte beinahe schreien, damit Tobias auf ihn hörte. »Sie will doch nur, daß einer von uns etwas Unüberlegtes versucht, damit sie ihre Jungfrauen auf ihn hetzen kann! Um eines ihrer verdammten Exempel zu statuieren!«

»Er hat recht, Shreck«, sagte Giles. »Hört auf Euren Freund.

Wir kümmern uns darum. Schließlich sind wir aus diesem Grund gekommen.«

»Genau«, stimmte ihm Hazel zu. »Achte du nur darauf, daß deine Kamera läuft. Du wirst live vom Tod der Imperatorin berichten. Wie praktisch, daß du dir schon deine eigene Hölle gebaut hast, Löwenstein. Dann hast du es nicht mehr so weit, wenn wir dich von deinem Thron zerren und dir den verdammten Kopf abschneiden.«

»Die Sache ist noch nicht vorbei!« fauchte die Löwenstein.

»Beatrice, das ist dein Augenblick. Komm herunter und töte diesen Abschaum für mich!«

Die Rebellen beobachteten ungläubig, wie die Schwester Oberin den Kopf hob und ihnen zulächelte. Mit einer konvulsi-ven Kraftanstrengung riß sie ihre Arme und Beine von den Nägeln los und sprang leichtfüßig zu Boden. Noch immer lächelnd setzte sie sich in Richtung der Rebellen in Bewegung, und jeder in der Nähe des Throns beeilte sich, ihr aus dem Weg zu gehen. Die Löwenstein lachte laut auf. Tobias starrte sie einen Augenblick lang dümmlich an, dann gestikulierte er Flynn, ja alles aufzunehmen.

»Sie ist nicht echt«, knurrte Hazel. »Sie kann unmöglich echt sein. Kein Mensch hätte sich so leicht von diesem Kreuz befreien können!«

»Stimmt«, sagte Owen. »Wahrscheinlich ist sie eine Art Furie. Eine Maschine. Die Löwenstein hat sie an das Kreuz genagelt, um uns aus der Fassung zu bringen.«

»Und es hat funktioniert«, sagte Tobias. »Ich kann nicht glauben, daß ich mich schon wieder an der Nase habe herum-führen lassen. Ist denn niemand mehr das, was er zu sein vor-gibt?«

»Ihr wärt überrascht«, sagte Owen. »Und jetzt tretet zurück und macht ein wenig Platz für uns, Nachrichtenmann. Es könnte gleich hektisch werden.«

»Ich wußte gleich, daß sie Euch gefallen würde«, sagte die Löwenstein. »Sie ist ein Geschenk von Unserem lieben Valentin hier. Ursprünglich ließ er sie als Sexspielzeug konstruieren, weil er die echte nicht kriegen konnte; aber er dachte ganz richtig, daß Wir einen besseren Verwendungszweck finden würden. Wir haben dann noch ein paar besondere Aufrüstungen einbauen lassen, speziell für Euch. Sind Wir nicht gut zu Euch?

Beatrice, Liebste, tötet sie allesamt und bringt Uns ihre Köp-fe.«

Das Ding, das wie Schwester Beatrice aussah, sprang unglaublich schnell vor. In den Löchern seiner Hände wurden mit einem Mal Disruptormündungen sichtbar, und blendend grelle Energiestrahlen zuckten durch den Raum. Sie verfehlten Hazel und Owen nur knapp, weil die beiden sich rechtzeitig zur Seite geworfen hatten; doch Giles wurde mitten in die Brust getroffen. Der Einschlag warf ihn rückwärts zu Boden. Hazel riß ihre Projektilwaffe hoch und eröffnete das Feuer, aber die Kugeln prallten als harmlose Querschläger von der Stahlkarkasse unter der künstlichen Haut ab. Owen feuerte seinen Disruptor ab.

Unglücklicherweise duckte sich die Maschine unter dem Strahl weg und stürmte weiter vor. Sie war über Hazel, bevor sie die Waffe wegwerfen und ihr Schwert herausreißen konnte. Mit einer Hand packte sie Hazel an der Kehle und hob sie hoch.

Hazel keuchte und rang nach Atem, während sie hilflos in der Luft zappelte und mit beiden Händen versuchte, den stählernen Würgegriff zu lockern, der sie zu ersticken drohte.

Owen warf sich von hinten auf die Maschine, doch sie wirbelte unmenschlich schnell herum und schlug ihn mit der freien Hand zur Seite wie ein störrisches Kind. Hazels Augen traten hervor, und sie lief puterrot an. Owen war augenblicklich wieder auf den Beinen, rief den Zorn herbei und stürzte sich erneut auf die Furie. Diesmal duckte er sich unter ihrem Schlag hindurch und hämmerte das Schwert gegen Beatrices ungeschützte Kehle. Stahl krachte gegen Stahl, und der Schlag prellte Owen das Schwert aus der Hand. Er zögerte keine Sekunde und hämmerte die nackte Faust mit der gesamten Kraft seines Zorns in die metallene Seite der Maschine. Zu seiner eigenen Überraschung gaben die Stahlrippen unter der Wucht seines Schlages nach, und die Maschine taumelte zur Seite, aber ihr Griff um Hazels Kehle lockerte sich keinen Deut. Owen schlug wieder und wieder zu, ohne auf die Schmerzen in der Faust zu achten, und die Maschine zeigte Wirkung, wenn auch nicht genug, um ihre Beute loszulassen.

Doch dann trat Johana Wahn vor, und in ihrer Hand formte sich eine Schwertklinge aus schimmernder psionischer Energie . Sie schlug zu, und die Klinge ging glatt durch den Arm der Furie . Hazel krachte zu Boden, die würgende Stahlhand noch immer an der Kehle. Sie zappelte wie besessen und riß mit beiden Händen an den Metallfingern. Rasch war Owen bei ihr, und mit vereinten Kräften bogen sie die Finger einen nach dem anderen zur Seite und zogen die Hand von Hazels Hals. Owen warf die abgetrennte Hand zur Seite, wo sie zuckend liegenblieb wie eine riesige mißgestaltete Spinne.

Das Ding, das wie Schwester Beatrice aussah, stand jetzt Johana Wahn gegenüber, die es böse grinsend anstarrte. Das Energieschwert verschwand aus ihrer Hand, und sie vollführte eine einladende Geste. Beatrice starrte die Esperfrau einen Augenblick lang mit einem verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht an, dann zuckte sie plötzlich zusammen und bog den Rücken durch. Merkwürdige Geräusche drangen aus dem Mund der falschen Schwester, und ihre Brust und die Seiten wölbten sich vor und zurück. Schließlich riß sie den Mund unmöglich weit auf und erbrach ihre künstlichen Eingeweide. Mehr und mehr elektronischer Schrott spritzte aus ihrem Mund, als Johana sie mit ihrem ESP ausweidete, und ringsum klapperten hochentwickelte Platinen, Schaltkreise und Chips zu Boden. Schließlich war nichts mehr von Beatrice übrig bis auf die schwankende künstliche Hülle, und ihre Innereien lagen zuckend und qualmend in weitem Umkreis verteilt auf dem Boden. Johana grinste erneut, schnippte mit dem Finger in Richtung der Maschine, und die leblose Hülle krachte zu Boden und rührte sich nicht mehr. Owen und Hazel erhoben sich langsam und betrachteten die Überreste.

»Nicht schlecht für eine Nonne«, sagte Hazel mit einer Stimme, die kaum rauh klang.

Owen zuckte zusammen und eilte zu seinem Urahn Giles, der sich in diesem Augenblick aufrichtete und benommen den Kopf schüttelte. Owen half ihm auf die Beine.

»Du hast einen Disruptorschuß aus allernächster Nähe mitten in die Brust abgekriegt!« sagte er fast vorwurfsvoll. »Wieso bist du nicht tot?«

»Ein Schutzschild«, erwiderte Giles wohlgelaunt. »Ich habe seit Hakeldamach daran gearbeitet. Es kostet eine Menge Kraft, aber ich denke, allmählich habe ich den Trick raus. Du könntest es auch, wenn du es nur trainiert hättest.«

»Du weißt doch selbst, wie das ist«, erwiderte Owen. »Ich finde einfach keine Zeit. Wenn man eine Rebellion anzettelt, kommt eine Sache nach der anderen dazwischen.«

Die Rebellen klopften den Staub aus ihren Kleidern und wandten sich wieder zum Thron um. Die Löwenstein begegnete ungerührt ihren Blicken. »Immer macht Ihr Unsere Lieb-lingsspielzeuge kaputt! Also schön, dann probieren Wir eben etwas anderes. Owen Todtsteltzer, Hazel d’Ark, Kode Blau Zwo Zwo!«

Sie grinste triumphierend, als sie die Kontrollworte ausstieß, die von der verräterischen KI Ozymandius in Owens und Hazels Unterbewußtsein implantiert worden waren, doch dann erlosch ihr Lächeln. Die beiden standen völlig ungerührt da.

Die Löwenstein startete einen zweiten Versuch, mit dem gleichen Ergebnis. Jetzt war die Reihe an Owen zu grinsen.

»Das funktioniert nicht mehr. Das haben wir schon lange hinter uns.«

Die Löwenstein wirbelte zu Jakob Ohnesorg herum. »Er ist noch immer Unsere Kreatur! Töte Er seine Freunde!«

Ohnesorg grinste und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Löwenstein. Ich stehe nicht unter deiner Kontrolle. Ich habe nie unter deiner Kontrolle gestanden. Kontrollworte funktionieren nicht mehr bei uns. Ich habe nur deswegen mitgemacht, weil ich sichergehen wollte, daß man mich hierher bringt, direkt zu dir, für den Fall, daß Owen und die anderen es nicht schaffen. Ruby hat mitgespielt, nachdem sie erkannte, was ich vorhatte.«

Ruby schnaufte. »Hätte ich gewußt, daß man mich in Ketten wickelt wie einen Entfesselungskünstler und dann durch die Gegend tritt wie eine Puppe, dann hätte ich mir die Sache zweimal überlegt.«

»Ich mußte überzeugend sein«, erwiderte Ohnesorg. »Außerdem hast du mir immer wieder erzählt, wie hart du seist. Ich wußte, daß du es vertragen konntest.«

»Das nächste Mal kommst du in Ketten, und dann werden wir sehen, wie dir das gefällt.«

»Hör schon auf, Ruby«, sagte Ohnesorg. »Vergiß nicht, es geht um die Rebellion.«

»Steck dir deine Rebellion sonstwo hin. Ich bin wegen der Beute dabei und sonst gar nichts, vergiß das bloß nicht.«

Ohnesorg seufzte und schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich zu Alexander Sturm um. Die beiden Männer, die einmal Freunde gewesen waren, starrten sich an.

»Ich habe dich schon seit einer ganzen Weile in Verdacht, Alexander«, sagte Ohnesorg schließlich. »Zuerst waren es Kleinigkeiten, an die ich mich erinnerte, damals auf Eisfels .

Dinge über dich, die nicht zu dem Mann passen wollten, den ich von früher her kannte. Zuerst führte ich es auf das Alter zurück. Wir alle ändern uns, wenn wir älter werden. Aber ich wollte nicht glauben, daß du dich so sehr verändert haben könntest, bis du die Kontrollworte gegen mich eingesetzt hast.

Ich spielte mit, um herauszufinden, wer du heute wirklich bist.

Verdammt, Alex, habe ich dich wirklich so schlimm im Stich gelassen? Ich wollte dich nie verletzen.«

»O ja, du hast es immer nur gut gemeint, Jakob«, erwiderte Sturm. »Du hast mir das Blaue vom Himmel herunter versprochen; aber du hast nie auch nur ein einziges deiner Versprechen gehalten. Also ging ich zu Leuten, die zu ihren Versprechen standen. Zu Leuten, denen ich vertrauen konnte. Sie kümmerten sich um mich und behandelten mich gut. Besser, als du es je getan hast, Jakob.«

Sturm zitterte vor Wut, als er endete. Er spuckte die letzten Worte fast hervor in dem Versuch, Jakob selbst jetzt noch zu verletzen. Ohnesorg seufzte und erwiderte Sturms Blick. »Du armer Bastard. Du hättest jederzeit zu mir kommen können. Du hättest mit mir reden können. Wir hätten uns etwas ausgedacht.

Ich hätte Verständnis dafür gehabt, das weißt du. Du warst mein Freund, Alex!«

»Du hast immer für alles so verdammt viel Verständnis gehabt! Der Heilige Jakob, der Held und Erlöser der Geknechteten, der für jeden Zeit hatte, nur nicht für seine Freunde! Mir wurde schlecht von deinem grenzenlosen Großmut, und ich hatte es satt, immer und immer wieder den selbstlosen Helden spielen zu müssen, ohne an das Leben zu denken, das wir hätten führen können! Und das alles ist deine Schuld, Jakob. Du hast mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Du bist für alles verantwortlich, was ich getan habe. Und jetzt werde ich hier sterben, und auch das wegen dir! Ich weiß es. Aber ich werde es dir zeigen, ein letztes Mal, bevor ich gehe. Du sollst an mich denken!«

Er schoß vor, und plötzlich war ein bis dahin verstecktes Messer in seiner Hand. Aber er hatte es nicht auf Jakob abgesehen, sondern auf Ruby Reise. Sein Messer zuckte nach ihrer Kehle, bevor Ohnesorg reagieren konnte. Doch Rubys Hand schoß unglaublich schnell hoch. Sie schlug Sturm das Messer aus der Hand und hämmerte ihm die Faust mit aller Kraft direkt über dem Herzen in die Brust. Sie versank bis zum Hand-gelenk, unmittelbar unter dem Brustbein. Sturm blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, und er brach zusammen: ein alter Mann, der so schwer getroffen worden war, daß er nicht einmal mehr atmen konnte. Das Messer fiel aus seiner gefühllos gewordenen Hand.

Ohnesorg war augenblicklich an seiner Seite; doch bis er den Alten Mann vorsichtig an den Schultern berührt hatte, war Sturm bereits tot. Ruby hatte sein Herz mit einem Schlag zu Brei zerschmettert. Ohnesorg stand auf und blickte sie vorwurfsvoll an.

»Er war viele Jahre mein Freund.«

»Ich weiß«, erwiderte Ruby. »Deswegen habe ich ihn getötet.

Damit du es nicht tun mußtest.«

Ohnesorg nickte. Er brachte es nicht über sich, ihr zu danken.

Nicht jetzt. Vielleicht später.

»Das ist ja alles sehr interessant, um nicht zu sagen sentimental und wirklich zum Kotzen«, meldete sich die Löwenstein wieder zu Wort. »Aber das Spiel ist noch nicht vorbei. Ich habe noch ein paar Asse im Ärmel. Versuchen wir diesmal etwas Offensichtlicheres. Wachen! Eine Lordschaft für den, der mir den Kopf des Todtsteltzers bringt!«

Die Wachen, die hinter dem Thron in Reih und Glied standen, stürzten wie ein Mann nach vorn, und die holographischen Verkleidungen als brennende Engel fielen in sich zusammen und enthüllten die bewaffneten Männer darunter. Die Monofaserschwerter in ihren Händen waren allerdings real. Energiebe-triebene Waffen mit einer Klinge, die unendlich dünn war und scharf genug, um wirklich alles zu durchtrennen . So viele Männer mit dieser Waffe ausgerüstet hätten eine ganze Armee aufhalten können. Also gaben ihnen die Rebellen erst gar nicht die Gelegenheit, bis zu ihnen vorzudringen. Johana Wahn vollführte eine Bewegung mit ihrer Hand, und die Energiespeicher, die zur Aufrechterhaltung der Monofaserklingen erforderlich waren, versagten ihren Dienst. Mit einemmal waren die Schwerter nur noch ganz gewöhnliche Waffen. Und während die Wachen sich noch mit diesem Gedanken anzufreunden versuchten, wurden sie von einer heranstürmenden Woge pyroki-netischen Feuers getroffen, das Ohnesorg und Ruby ihnen ent-gegenschleuderten. Die Wachen gingen in Flammen auf. Einige von ihnen starben auf der Stelle; andere wandten sich ab und rannten, als könnten sie so die tödlichen Flammen abschütteln. Und während sie noch rannten, erleuchteten sie den Hof wie hell strahlende Kerzen, bis einer nach dem anderen fiel und erlosch.

Die Löwenstein starrte mit leeren Blicken auf die verkohlten und rauchenden Leichen rings um ihren Thron, und dann wandte sie sich an ihre Jungfrauen. »Tötet sie! Tötet sie alle!«

Die Jungfrauen stürzten vor wie Kampfhunde, die man von der Leine gelassen hatte . Zähne zeigten sich in fauchenden Mündern, und unter ihren Fingernägeln fuhren stählerne Klauen aus. Die Jungfrauen waren Raubtiere in Menschengestalt .

Sie waren darauf trainiert, eher zu sterben als zu versagen – und sie waren mit kybernetischen Aufrüstungen vollgepackt.

Johana Wahn trat ihnen allein entgegen.

»Das alles ist viel zu weit gegangen. Es ist an der Zeit, der Sache ein Ende zu bereiten.«

Ihr ESP peitschte hinaus und sank tief die Gehirne der Jungfrauen, wo es die Konditionierung der erbarmungswürdigen Wesen an der Wurzel packte und bekämpfte. Die Jungfrauen gingen schreiend und stöhnend zu Boden und rollten mit zuk-kenden Gliedern hin und her wie Tiere, während in ihren Gehirnen ein unsichtbarer Kampf tobte. Johana riß mit ihrem ESP die Konditionierung ein. Sie löste neurale Verbindungen, die von Hirntechs geknüpft worden waren, heilte beschädigtes Hirngewebe und machte die Jungfrauen wieder zu dem, was sie einst gewesen waren, bevor die Löwenstein sie zu ihren Skla-vinnen gemacht hatte.

Innerhalb weniger Augenblicke war alles vorbei, und Johana zog sich aus den Gehirnen der Mädchen zurück. Die Jungfrauen hörten auf, sich wie Tiere zu gebärden und setzten sich auf.

Zum ersten Mal seit Jahren dachten und fühlten sie wieder wie Menschen. Zuerst waren sie wie betäubt; dann kamen sie allmählich wieder zu sich und fanden ihr altes Selbst. Einige schrien auf bei der Erinnerung an das, was sie getan hatten – was zu tun, sie die Löwenstein gezwungen hatte. Sie schüttelten sich und zitterten am ganzen Leib. Ihre künstlichen Augen konnten nicht weinen. Andere blickten sich einfach nur in äußerster Verwirrung um. Tobias Shreck starrte angespannt auf eine der ehemaligen Jungfrauen, dann trat er einen Schritt vor.

»Klarissa? Klarissa, bist du es?«

Die Jungfrau blickte den Nachrichtenmann verständnislos an, und nach einigen Sekunden zeichnete sich Erkennen auf ihrem Gesicht ab. »Tobias! Cousin Tobias!«

Sie rannte in seine Arme. Tobias drückte sie fest an sich; dann zog er seine mitgenommene Jacke aus und wickelte sie darin ein. Klarissa blickte sich um und sah zum ersten Mal die Hölle, in die Löwenstein ihren Hof verwandelt hatte.

»Sind wir tot, Tobias?«

»Nein, Cousine. Du lebst wieder. Die Rebellion ist zu euch gekommen, und alle Gefangenen erhalten ihre Freiheit zu-rück.« Er drehte sich zu den anderen um. »Sie gehört zu meiner Familie. Sie ist die Nichte des Shreck. Die Löwenstein stahl sie meinem Onkel Gregor und verwandelte sie in ein Monster, und niemand von uns konnte etwas dagegen tun. Ich danke Euch, Johana. Wobei mir der Gedanke kommt, daß eine ganze Menge Leute Euch wahrscheinlich danken wollen.«

»Keine große Sache«, erwiderte Johana Wahn. »Ich bin der Meinung, daß es genug Blutvergießen gegeben hat. Das ist Löwensteins Weg. Wir sind anders, oder wir sollten zumindest anders sein. Ihr und Flynn, Ihr kümmert Euch um die Jungfrauen. Wir sind noch immer nicht mit unserer Arbeit am Ende.«

Und während Tobias und Flynn die Jungfrauen aufsammel-ten und aus der Schußlinie scheuchten, trat Johana vor den Thron und konfrontierte die Löwenstein aufs neue. Und dann hielt sie inne, denn Kapitän Schwejksam trat unsicher vor und starrte sie mit fragenden Blicken an. Sie erwiderte seine Blicke, ohne ihm die Sache leichter zu machen, aber schließlich erhellte sich Schwejksams Gesicht.

»Diana?«

»Nein, das bin ich nicht mehr«, erwiderte Johana. »Das war jemand anderes.«

»Du bist kaum wiederzuerkennen . Du siehst so… anders aus.«

»Das nennt man erwachsen werden, Kapitän. Irgendwann geschieht das mit jedem.«

»Er kennt diese Person?« fragte die Löwenstein mit gerunzelter Stirn.

»Selbstverständlich«, antwortete Frost für ihn. »Das ist seine Tochter Diana. Diana Vertue. Sie war Schiffsesper auf seinem letzten Schiff.«

Schwejksam blickte zu Frost. »Das wußtet Ihr? Seit wann?«

»Ich erkannte ihr Bild in einer Postille der Sicherheit. Es war vor ein paar Monaten.«

»Und warum habt Ihr mir nichts gesagt?«

»Ihr wart noch nicht bereit, es zu verdauen. Ich bin nicht einmal sicher, ob Ihr es jetzt seid. Und ich wollte nicht, daß es Euch von Eurer Verantwortung für das Schiff und Eure Leute ablenkt.«

Schwejksam drehte sich wieder zu Johana Wahn um. »Man hat mir erzählt, daß du dich dem Untergrund angeschlossen hättest. Aber was ist aus dir geworden? Was ist mit deiner Stimme? Du siehst aus…«

»Als wäre ich durch die Hölle gegangen? Das bin ich. Dieser Ort hier jagt mir keinen Schrecken mehr ein. Ich habe die echte Hölle gesehen . Ich bin nicht mehr Diana Vertue. Sie starb schreiend in den Verhörzellen von Silo Neun, auch bekannt als Hölle des Wurmwächters . Jetzt bin ich Johana Wahn. Für heute und für immer. Aber sind wir nicht beide andere Menschen als früher, Vater? Auch du hast dich verändert. Aus dieser Nähe kann ich spüren, wie die Energien des Labyrinths des Wahnsinns in dir brennen . Wie fühlt es sich an, Vater, zu wissen, daß man zur gleichen Sorte Person geworden ist, die man früher gejagt und getötet hat?«

»Diana…«

»Johana. Ich heiße Johana.«

»Also schön, Johana. Ich hatte keine Ahnung, daß man dich in Silo Neun gesteckt hat. Wenn ich es gewußt hätte, wäre ich…«

»Was? Willst du sagen, du wärst mit Gewalt in eins der best-bewachten Gefängnisse des Imperiums eingebrochen, um mich zu retten?«

»Ja«, sagte Schwejksam einfach. »Wenn ich es gewußt hätte, wäre ich zu dir gekommen.«

Johana nickte langsam. »Ja. Vielleicht hättest du das wirklich getan. Aber das ist nicht geschehen. Auf Unseeli hast du mir etwas versprochen, Vater. Du hast versprochen, nie wieder zuzulassen, daß man mich quält. Du hast mich belegen, Vater.«

»Es tut mir leid, mein Kind. Es tut mir so unendlich leid.«

»Und jetzt stehen wir hier, auf unterschiedlichen Seiten, und führen Krieg gegeneinander. Und all das nur wegen der Eisernen Hexe. Wie kannst du sie nur immer noch verteidigen, nach allem, was sie getan hat? Nach allem, was sie mir angetan hat?«

»Sie ist meine Imperatorin«, antwortete Schwejksam.

Die Löwenstein sprang von ihrem Thron herab, stolzierte zu Schwejksam und schlug ihm hart ins Gesicht. Sein Kopf flog nach hinten, doch er blieb stehen. Die Löwenstein brachte ihr Gesicht ganz dicht vor das seine, so dicht, daß ihr Speichel in sein Gesicht spritzte, als sie sprach. »Verräter! Verdammter Verräter! Er hat seine Kräfte vor Uns verborgen; Er hat uns in jeder Mission enttäuscht, die Wir ihm gaben, und jetzt finden Wir heraus, daß Seine eigene Tochter einer der größten Feinde des Imperiums ist! Verräter!«

»Das mag alles zutreffen, Euer Majestät«, erwiderte Schwejksam mit fester Stimme. »Trotzdem seid Ihr noch immer meine Imperatorin.«

Die Löwenstein lachte ihm ins Gesicht und holte zu einem weiteren Schlag aus. Und dann ächzte sie laut, und ihre Augen weiteten sich.

Eine unsichtbare Kraft hatte ihre Hand gepackt und riß sie nach hinten. Sie versuchte, sich zu befreien, doch es ging nicht.

Ihr Blick wanderte zu Johana Wahn, die sie finster anstarrte.

»Das reicht, Hexe. Das ist mein Vater, und du wirst ihn nicht noch einmal schlagen.«

»Ich begrüße deine Geste, Johana«, sagte Schwejksam.

»Aber jetzt laß sie los. Bitte.«

Johana rümpfte die Nase, lockerte ihren Griff und versetzte der Imperatorin einen mentalen Stoß, der sie zu ihrem Thron zurückstolpern ließ. Rasch fand die Löwenstein ihr Gleichgewicht wieder. Mit trotziger Erhabenheit nahm sie auf dem Thron Platz . Sie war noch immer die Imperatorin, und sie war noch längst nicht geschlagen. Sie starrte um sich, und ihr Blick fiel auf Valentin Wolf.

»Seht mich nicht an«, sagte der Wolf. »Ich erkenne eine verlorene Sache, wenn ich eine sehe. Sicher, ich könnte für Euch kämpfen. Ich besitze Drogen, die mir das ermöglichen. Aber ich erkenne wirklich keinen Sinn darin. Die Zeit der Rebellen ist gekommen. Und wie es scheint, habe ich mich ein wenig zu voreilig vom Untergrund losgesagt. So. Ich werde mich aus allem heraushalten und meine Dienste der Seite anbieten, die hinterher als Sieger dasteht. Leute wie ich werden immer gebraucht.«

»Du kämpfst nur deshalb nicht, weil du Angst hast, du könntest dein Make-up verschmieren«, sagte Hazel.

Valentin grinste. »Das auch.«

»Meint Ihr wirklich, wir würden Euch vergeben, was Eure Kriegsmaschinen auf Virimonde angerichtet haben?« fragte Owen. »Glaubt Ihr allen Ernstes, wir würden Euch all das Entsetzen und Blutvergießen und Leiden vergeben, das Ihr über eine harmlose Bevölkerung aus Bauern gebracht habt, Wolf?«

Der Wolf zuckte die Schultern. »Ich habe lediglich Befehlen gehorcht. Keine originelle Ausrede, das weiß ich selbst, andererseits sind die alten Witze immer noch die besten. Und ich kann äußerst loyal sein – im Gegenzug für die entsprechenden Belohnungen, versteht sich. Ich bin sicher, die Anführer der Untergrundbewegung wissen meinen Wert zu schätzen. Ich weiß vieles, versteht Ihr? Dinge, die für den Untergrund wichtig sind, falls er ohne unnötiges Blutvergießen und Leid die Kontrolle über das Imperium erlangen will. Was ist für Euch wichtiger, Todtsteltzer? Meine Bestrafung oder möglichst wenig Blutvergießen beim Errichten eines neuen Imperiums?

Nein, sie werden mir vergeben, ganz gleich, wie laut der Pöbel nach meinem Kopf schreit. Ich bin viel zu wertvoll, um verschwendet zu werden. Aber keine Angst, Todtsteltzer, Euch bleibt ja immer noch die Imperatorin zum Töten. Viel Spaß dabei. Man hat nicht jeden Tag Gelegenheit, eine Herrscherin zu ermorden, nicht wahr?«

»Zu exekutieren«, korrigierte Owen.

Valentin grinste. »Ihr liebt wohl solche Wortspielereien, wie, Todtsteltzer?«

Die Löwenstein drehte sich auf ihrem Thron verzweifelt zu ihren beiden letzten Leibwächtern um. »Razor! Sommer-Eiland! Verteidigt Uns!«

»Nein«, widersprach Kit gelassen. »Ich denke nicht, daß ich das tun werde. Ihr seid schuld daran, daß David auf Virimonde sterben mußte. Ich bin nur aus einem einzigen Grund hierher zurückgekehrt. Ich wollte aus der Nähe sehen, wie Ihr sterbt.

Und Euch selbst töten, falls nötig. Mein David ist tot. Ich werde mir Euren Tod mit Freuden ansehen, Löwenstein.«

Razor riß das Schwert heraus und wirbelte es mit einem brutalen Schwung seitlich in Richtung von Kits Hals. Doch trotz all seiner Investigator-Schnelligkeit und seines Trainings schaffte er es nicht, den Sommer-Eiland zu überraschen. Kits eigenes Schwert war genau an der richtigen Stelle, um den Hieb abzublocken – als hätte er die ganze Zeit über gewußt, was Razor tun würde. Und vielleicht war das tatsächlich so.

Immerhin war er Kid Death, der lächelnde Killer. Die beiden Männer sprangen auseinander, zwei perfekte Kämpfer, die zu-sammengekommen waren, um endlich herauszufinden, wer von beiden der Bessere war. Ihre Schwerter krachten gegeneinander, und sie umkreisten sich in einer verwirrenden Serie von Streichen und Paraden. Razor war ein Investigator. Er war von Kindesbeinen an zu einer perfekten Tötungsmaschine in Diensten der Imperatorin ausgebildet worden. Kit Sommer-Eiland auf der anderen Seite war ein natürlicher Psychopath, ein Genie, was den Schwertkampf und das Töten anbetraf. Er hatte seine eigene Familie umgebracht, weil das Töten ihm Freude bereitete. Zwei Männer, die den Tod zu ihrer Herrin gemacht hatten, und die nichts von Gnade oder Erbarmen wußten. Und am Ende war es der Genius, der sich gegenüber dem Training durchsetzte. Kit lockte Razor in ein Corps à Corps, grinste ihn über die gekreuzten Schwerter hinweg fröhlich an und schob ihm mit der anderen Hand einen Dolch zwischen die Rippen.

Einen Augenblick lang wirkte Razor verblüfft, als könne er nicht glauben, was geschehen war, dann schwand die Kraft aus seinen Beinen, und er sank in die Knie. Kit kniete zusammen mit ihm nieder und schob den Dolch noch ein wenig tiefer.

Razor ließ das Schwert fallen. Er begegnete Kits Blick und brachte sogar ein verächtliches Schnauben zustande.

»Du hast mich nur geschlagen, weil ich alt und langsam geworden bin, Knabe.«

»Nein«, widersprach Kit. »Ich habe dich geschlagen, weil du immer noch Angst vor dem Sterben hast. Ich hatte niemals Angst davor. Und jetzt halt den Mund und stirb. Ich habe noch andere Dinge zu erledigen.«

Er schob den Dolch noch einen Zoll tiefer, und das Licht in Razors Augen erlosch. Er kippte hintenüber und lag still. Kit wartete einen Augenblick, bis der letzte Atemhauch aus seinem Feind gewichen war, dann grinste er flüchtig, nahm seinen Dolch wieder an sich und erhob sich. Er nickte Owen zu.

»Das Imperium hat David getötet. Nicht ich. Er war der einzige Freund, den ich je gehabt habe. Ich schätze, ich bin wieder bei der Rebellion.«

»Was läßt Euch denken, wir würden einen Irren wie Euch bei uns dulden?« fragte Johana.

Kit hob eine Augenbraue. »Hört euch das an! Nein, man wird mich wieder aufnehmen . Leute wie ich werden immer gebraucht. Irgend jemand muß die Schmutzarbeit erledigen, die niemand anderes machen will. Mir ist es egal. Ich bin ein Killer. Ich bin da, wo das Töten stattfindet.«

Löwenstein hob eine Hand und spielte mit den Fingern im Haar. Lange blonde Strähnen lösten sich und fielen herab.

»Will denn niemand seine Imperatorin in ihrer Stunde der Not verteidigen?« rief sie. »Ist Uns denn kein einziges loyales Sub-jekt verblieben?«

»Zur Hölle«, sagte Dram. »Ich schätze, da rede ich auch noch ein Wörtchen mit.« Er trat vor und postierte sich zwischen dem Thron und den Rebellen. »Ich habe immer zu Euch gehört, Löwenstein. Bis daß der Tod uns scheidet. Ihr habt mich erschaffen. Ihr habt mir alles gegeben. Und wenn mein Leben auch ein wenig kürzer war, als es hätte sein sollen – langweilig war es ganz bestimmt nicht.« Er grinste Owen an. »Ich habe mich auf Virimonde köstlich amüsiert, Todtsteltzer. Es war amüsant, zu sehen, wie deine Bauern vor mir davonrannten. Ich habe sie niedergestreckt und zertreten. Ich habe ihr Blut in der gepflügten Erde versickern und ihre Städte im frühen Morgen-grauen brennen gesehen. Ich habe deine Welt gefressen und wieder ausgespuckt, Todtsteltzer, und ich habe jede einzelne Minute davon genossen. Ich bin Dram, der Witwenmacher, der Unbesiegte. Und nachdem ich erst dich und deine Freunde ge-tötet habe, werde ich eigenhändig die Truppen führen, die eure Rebellion dahin zurücktreiben, wo sie hingehört: in den Gully.

Ihr hattet nie eine echte Chance. Ihr seid Abschaum, die Nied-rigsten unter den Niedrigen, nichts als Dreck unter den Absätzen. Tritt vor, Todtsteltzer, und ich schlage dir deinen dummen Schädel von den Schultern und stecke ihn auf einen Pfahl.«

»Verdammt!« entfuhr es Hazel. »Dieser Kerl schwingt sogar noch längere Reden als du, Owen.«

»Keine Sorge, Hazel«, sagte Owen. »Damit ist es bald vorbei.«

»Nein!« bellte Giles Todtsteltzer und hielt Owen mit ausge-strecktem Arm zurück, als dieser sich in Bewegung setzen wollte. »Er gehört mir.«

Der ursprüngliche Todtsteltzer trat vor, und Dram nahm eine Verteidigungsposition ein. Die Spitze seines Schwerts war auf Giles gerichtet. Giles schüttelte den Kopf. »Du bist ein Amateur. Wer auch immer du bist, Dram bist du nicht. Dram war mein eigener Sohn, und ich habe ihn ausgebildet. Er war ein besserer Schwertkämpfer, als du es je sein wirst. Ich selbst ha-be ihn auf Haden getötet. Es war notwendig. Als ich hierher kam und dich beim Thron stehen sah, da wußte ich gleich, daß ich es erneut tun müßte. Es hat mich fast umgebracht, meinen eigenen Sohn töten zu müssen; aber ich glaube kaum, daß es mir Schwierigkeiten bereitet, einen Klon zu vernichten.«

Dram sah ihn mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an. »Du bist mein Vater? Das wußte ich nicht. Die Löwenstein hat es mir nie gesagt. Du meinst also, ich bin ebenfalls ein Todtsteltzer?«

»Nein«, widersprach Giles. »Du bist ein Klon, weiter nichts.«

»Warte«, sagte Dram. »Wir müssen darüber reden.«

»Nein, müssen wir nicht«, erwiderte Giles. »Du bist nicht mein Sohn. Du bist nicht einmal ein Mensch. Wie kannst du es wagen, das Gesicht meines Sohnes zu tragen?«

Er hob den Disraptor und schoß Dram mitten ins Gesicht.

Der Energiestrahl riß den Kopf des Klons vom Rumpf, und der Leichnam sank zuckend zu Boden. Die Löwenstein sah voller Entsetzen auf Giles, und der ursprüngliche Todtsteltzer grinste sie an. »Was hast du erwartet? Noch ein Duell? Eine Angelegenheit der Ehre, die mit dem Schwert ausgetragen wird? Das habe ich hinter mir. Und das hier hatte nichts mit Ehre zu tun.

Das hier war die Beseitigung von Abfall, der niemals hätte existieren dürfen.«

Er wandte sich ab und hob abwehrend eine Hand, als Owen zu ihm kommen und ihn trösten wollte. Er stellte sich ein wenig abseits, um allein zu sein. Die Löwenstein saß sprachlos auf ihrem Thron und starrte auf den enthaupteten Leichnam zu ihren Füßen. Kapitän Schwejksam und Investigator Frost wechselten einen langen Blick.

»Sieht so aus, als läge wieder einmal alles an uns, Investigator.«

»Es wäre nicht das erste Mal, Kapitän.«

Schwejksam nickte der Löwenstein zu. »Wir haben sehr viele Veränderungen durchgemacht, Euer Majestät, ob es uns nun gefallen hat oder nicht; doch unsere Loyalität hat zu keiner Zeit in Frage gestanden. Und wenn wir nichts von unseren neuen Fähigkeiten erzählt haben, dann nur, um Euch um so besser dienen zu können. Kommt, Frost. Wir wollen einmal mehr die sichere Niederlage abwenden, wie schon so oft.« Er grinste Owen und Hazel an. »Außerdem haben wir vier noch etwas zu erledigen, nicht wahr?«

»Verdammt richtig«, erwiderte Hazel und schwenkte ihr Schwert hin und her wie eine Katze, deren Schwanz erwartungsvoll zuckte.

»Vater…«, sagte Johana.

»Es tut mir leid«, sagte Schwejksam. »Aber hier geht es um Pflichterfüllung. Und ich habe immer gewußt, was meine Pflicht ist.«

»Verdammt noch mal, wir haben keine Zeit für all die großen Reden«, schnarrte Ruby Reise. »Wenn ich Schwertkämpfe und tödliche Spiele hätte sehen wollen, wäre ich in die Arena gegangen. Ich hätte einen bequemen Sitz und einen kalten Drink und eine große Tüte Popcorn in den Fingern und die Füße hoch gelegt. Wir tragen hier eine Rebellion aus, und dieser Mist hält uns nur von den wirklich wichtigen Dingen ab. Wie zum Beispiel Beute. Kopf hoch, Löwenstein . Giles hatte die richtige Idee.«

Und mit diesen Worten riß sie den Disruptor hoch und feuerte auf die Löwenstein. Doch noch während Ruby zielte, rief Stelmach etwas Unverständliches und warf sich in die Schußlinie. Der Energiestrahl erwischte ihn hoch oben an der Brust, riß ihm den rechten Arm weg und verdampfte einen großen Teil seines Oberkörpers . Er stürzte vor dem Eisernen Thron zu Boden, wo er zitternd und stöhnend liegen blieb . Rasch waren Frost und Schwejksam an seiner Seite; doch der Sicherheitsoffizier lag im Sterben. Er streckte seine verbliebene Hand nach Schwejksam aus, und der Kapitän ergriff sie.

»Ich wollte nie etwas anderes… als dienen«, sagte Kühnhold Stelmach. »Loyal sein… mein Leben für die Imperatorin geben.«

»Niemand hat je an Eurer Loyalität gezweifelt«, sagte Schwejksam, doch er sagte es zu einem Toten. Sanft legte er Stelmachs Hand auf seine Brust und tätschelte sie zweimal, während er ihm Lebewohl wünschte.

»Schade«, sagte Frost. »Er war ein guter Mann. Auf seine Weise.«

»Ich bin überrascht, daß es Euch etwas ausmacht«, erwiderte Schwejksam.

»Ich mochte ihn«, erklärte Frost. »Er war ein elender Feigling und ein Schwächling, und wahrscheinlich hat er insgeheim mit den Rebellen sympathisiert; aber er gab sein Bestes, um tapfer zu sein und immer das Richtige zu tun. Für unsereins ist es leicht, tapfer zu sein, mit all unserem Training und unseren Fähigkeiten . Stelmach hatte nichts davon, nur Durchhaltever-mögen . Und die Bereitschaft, für seine Imperatorin zu sterben.«

»Und jetzt sind wir an der Reihe«, sagte Schwejksam. Er erhob sich, und Frost tat es ihm gleich. Zusammen traten sie vor den Thron. Schwejksam lächelte Johana zu, dann nickte er in Owens Richtung. »Laßt uns anfangen, Todtsteltzer.«

Owen trat Schwejksam entgegen, und Hazel ging auf Frost zu. Owen hob lässig das Schwert. »Nach allem, was ich gehört habe, Kapitän, habt Ihr und Euer Investigator im Labyrinth des Wahnsinns Fähigkeiten erlangt, die ähnlich den unseren sind.

Was bedeutet, daß wenn wir unsere Kräfte einsetzen, wir wahrscheinlich jeden in unserer Nähe umbringen würden und immer noch in einem Patt enden könnten. Was haltet Ihr also davon, wenn wir die Sache auf ehrenvolle Weise hinter uns bringen?

Nur Schwert gegen Schwert. Wie klingt das in Euren Ohren?«

»Höchst ehrenhaft«, antwortete Schwejksam. »Nichts anderes hatte ich von einem echten Todtsteltzer erwartet. Außerdem wollten wir beide schon immer wissen, wer von uns der Bessere ist, nicht wahr?«

»Verdammt richtig«, brummte Frost.

»Dann laßt uns endlich anfangen«, schnaubte Hazel. »Ein letzter Kampf. Als Menschen. Bevor wir vergessen, wie das ist.«

Und so traten sie gegeneinander an, die letzten großen Champions des Imperiums und der Rebellion. Vier gute Leute, deren unterschiedliche Anschauungen unvereinbar waren, und die ihren Disput nur durch das Schwert entscheiden konnten.

Owen und Schwejksam umkreisten einander langsam, und ihre Schwerter berührten sich nur leicht, während sie den Stil des jeweils anderen studierten und nach Schwächen und wunden Punkten suchten. Hazel und Frost gingen schnurstracks aufeinander los. Ihre Klingen krachten wuchtig aufeinander, und Hieb folgte auf Hieb, Parade auf Parade. Sie waren von einer Rivalität beseelt, die stärker war als Haß oder Wut.

Owen und Schwejksam sprangen vor, parierten, wichen zu-rück, und beide kämpften kalt und berechnend. Sie strapazier-ten ihre Fähigkeiten und ihr Geschick bis zum äußersten, und beide waren durch harte, unbarmherzige Schulen gegangen.

Ihre Klingen krachten gegeneinander, und Funken stoben durch die Luft. Keiner der beiden gab einen Zoll nach oder wich einen Schritt zurück. Ihre Schwerter flogen so schnell, daß das Auge kaum mithalten konnte . Sie waren getrieben von Refle-xen und einem Geschick, das schneller war als jeder menschliche Gedanke. Owen fiel nicht in den Zorn. Er dachte noch nicht einmal daran. Er wollte diesen Kampf auf faire Art gewinnen. Er kämpfte für eine ganze Reihe von Idealen, seine eigenen wie die der Rebellion, und entweder siegte er auf faire Weise, oder sein ganzes Leben war bedeutungslos geworden.

Schwejksam legte seine gesamte Kraft und all seine Ge-schicklichkeit in jeden seiner Schläge, und trotzdem hatte er Mühe, den Angriffen des Todtsteltzers zu widerstehen. Der junge Rebell kämpfte, als sei sein Leben nicht länger von Bedeutung und als zähle nur der Sieg. Schwejksam bemühte sich, ebenso zu fühlen. Das gesamte Imperium hing jetzt von ihm ab. Alles, an das er jemals geglaubt und wofür er je gekämpft hatte. Alles, was seinem Leben jemals Sinn und Inhalt gegeben hatte. Doch am Ende war seine Überzeugung nicht so stark wie Owens, und vielleicht war das der Grund, warum sein Schwert am Ende einen Sekundenbruchteil langsamer war. Owen wischte seine Klinge beiseite, sprang vor und setzte die Schwertspitze an Schwejksams Hals. Lange Zeit standen die beiden Männer einfach nur einander gegenüber und atmeten schwer vor Anstrengung.

»Ich kann Euch nicht töten«, sagte Owen schließlich. »Es wäre, als würde ich mich selbst töten. Ergebt Euch, Kapitän.

Legt Euer Schwert nieder, und ich garantiere für Eure Sicherheit. Die Rebellion braucht Menschen wie Euch, um das Reich wieder zu errichten.«

»Meine Loyalität…«

»Gilt den Menschen im Imperium. Helft uns, das Beste daraus zu bewahren , damit wir es nicht zusammen mit all dem Schlechten über Bord werfen.«

Kapitän Johan Schwejksam sah auf seine Imperatorin, dann auf die Hölle, in die sie ihren Hof verwandelt hatte. Langsam öffnete er die Hand, und sein Schwert polterte klappernd zu Boden. Owen senkte die Klinge. Sie verneigten sich respektvoll voreinander und drehten sich dann zu Hazel und Investigator Frost um. Die beiden Frauen hatten sich bis zur Erschöpfung duelliert, und jetzt standen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber und rangen nach Luft, während die Schwerter in den kraftlos gewordenen Händen zitterten. Ihre Augen waren wild entschlossen wie zuvor; doch sie hatten sich gegenseitig über alle Maßen gefordert, und beide waren zu stolz, um ihre übernatürlichen Fähigkeiten einzusetzen.

»Hör auf, Hazel«, sagte Owen. »Keine von euch beiden wird diesen Kampf gewinnen. Und keine von euch beiden wird nachgeben. Ihr seid zu gleichwertig. Laßt voneinander ab, und wir machen mit dem weiter, weswegen wir hergekommen sind.«

Hazel dachte über Owens Worte nach. Sie legte die Stirn in Falten, und Schweiß rann über ihre Schläfen. »Ach, zur Hölle«, sagte sie schließlich. »Wir können es ja später noch einmal versuchen, wenn wir mehr Zeit haben. Was sagst du dazu, Investigator? Ich höre auf, wenn du auch aufhörst.«

»Niemals«, erwiderte Frost. »Ich bin Investigator. Das Imperium hat mich zu dem gemacht, was ich bin . Ich werde niemals aufgeben und niemals weichen . Tötet mich, wenn Ihr könnt, Rebellin!«

»Es muß nicht so enden«, sagte Owen.

»Doch, es muß!« fauchte Frost. »Das ist mein Leben. Mein Sinn. Meine Bestimmung. Ich werde niemals aufgeben. Ich kann einfach nicht. Tötet mich, wenn Ihr könnt.«

Hazel senkte das Schwert. »Ich kann nicht. Nicht so jedenfalls.«

»Aber ich«, sagte Kit Sommer-Eiland, und mit einer Bewegung, die so schnell war, daß niemand zu reagieren vermochte, bevor es zu spät war, zog er einen verborgenen Dolch und schleuderte ihn mit aller Kraft. Frost hatte sich bei seinen Worten zu ihm umgedreht, und das Messer traf sie an der Kehle.

Ein dicker Blutschwall schoß aus der Wunde und floß in Strömen über ihre Brust. Frost ließ das Schwert fallen und umklammerte mit beiden Händen ihren Hals. Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor. Sie wollte das Messer herausziehen und setzte sich dann plötzlich, als sämtliche Kraft aus ihr wich. Mit einem Satz war Schwejksam an ihrer Seite und hielt sie in den Armen. Sie zitterte unkontrolliert, und er drückte sie an sich.

Frost wirkte schockiert und verwirrt, als könne sie nicht glauben, was mit ihr geschehen war.

»Wie dumm, auf diese Weise zu sterben«, murmelte sie mit schwerer Stimme. Ein feiner roter Nebel von Blut sprühte aus ihrem Mund. »Mir ist kalt. So kalt.«

»Ich bin bei dir«, sagte Schwejksam. »Ich bin bei dir.«

»Ich hätte nie gedacht… daß es eines Tages so enden wür-de.«

»Still«, sagte Schwejksam. »Spar deine Kräfte, bis wir einen Arzt herbeigeschafft haben.«

»Nein«, widersprach Frost. »Wir haben uns niemals belogen, Kapitän. Fangt nicht jetzt damit an.«

»Dann heile dich selbst! Ich habe es auch getan.«

»Zu spät, Kapitän. Dazu ist es viel zu spät.«

»Du warst ein guter Soldat«, sagte Schwejksam mit brechender Stimme. »Der beste, den ich je kannte, bis zum Ende.«

»Selbstverständlich. Ich bin Investigator. Johan…«

»Ja?« fragte Schwejksam, doch dann entwich ihr ein letzter Seufzer, und sie atmete nicht mehr. Schwejksam drückte sie an sich. »Guter Soldat. So ein guter Soldat.« Irgendwann ließ er sie los und erhob sich wieder. Seine Uniform war voll von ihrem Blut. Er sah den Sommer-Eiland an, der seinen Blick grinsend erwiderte .

»Warum?« fragte Schwejksam. »Warum ausgerechnet sie und nicht ich?«

»Ihr habt meinen David getötet«, antwortete Kit. »Jetzt wißt Ihr, was ich gefühlt habe. Wollt Ihr vielleicht versuchen, mich zu töten, alter Mann?«

»Nicht jetzt«, sagte Schwejksam. »Es hat genug Blutvergießen gegeben. Außerdem hätte sie niemals aufgegeben. Bleibt mir einfach eine Weile aus den Augen, Killer.«

Er drehte sich zu Owen und Hazel um, als wüßte er nicht, was er als nächstes tun sollte. Stelmach und Frost waren tot, und er hatte sich von seiner Imperatorin losgesagt. Es schien unmöglich, daß sein gesamtes Leben in so kurzer Zeit so gründlich zerstört worden war.

»Es tut mir leid wegen Investigator Frost«, sagte Owen.

»Manchmal ist es unmöglich, daß alle gewinnen.«

»Du hast sie geliebt, nicht wahr, Kapitän?« fragte Hazel.

»Hast du es ihr je gesagt?«

»Sie hätte nicht gewußt, was sie mir darauf antworten soll«, antwortete Schwejksam. »Sie war ein Investigator.«

Es gab nichts mehr zu sagen, und so wandten sich alle wieder einmal zur Löwenstein auf ihrem Eisernen Thron um. Sie funkelte die Rebellen herausfordernd an. All ihre Champions waren tot oder besiegt; aber sie gab sich immer noch nicht geschlagen. Es war ein vollkommener Augenblick der Konfrontation, und er schien sich endlos hinzuziehen. In der Hölle war es sehr still geworden. Die Engelswachen waren tot; die Jungfrauen waren wieder zu Menschen geworden, und selbst die holographischen Illusionen rührten sich nicht mehr, als warteten sie gespannt auf das, was als nächstes geschehen würde.

Owen trat langsam vor, bis er allein am Fuß des Eisernen Throns stand. Er hatte einen weiten Weg hinter sich, bis er an diesem Ort angekommen war. Jetzt stand er der Frau gegenüber, die sein Leben zerstört und ihm alles genommen hatte, was er je besessen oder geliebt hatte. Wegen ihr war er durch das Imperium geirrt, ständig auf der Flucht vor den Bluthunden auf seinen Fersen, und hatte sich seines Lebens nicht mehr sicher gefühlt. Und wegen ihr war er zu etwas geworden, von dem er immer noch nicht sicher war, ob er es guthieß – die Art von Mann, die er nach dem Willen seiner Familie schon immer hatte werden sollen, ein Kämpfer und Krieger . Und doch – jedesmal, wenn er schwankte, mußte er nichts weiter tun als sich das Bild des jungen Mädchens ins Gedächtnis zu rufen, das verkrüppelt von Owens Schwert im niedergetrampelten Schnee von Nebelhafen in seinem eigenen Blut gelegen und hilflos vor sich hin geweint hatte, bis Owen ihm den Gnadenstoß versetzt hatte. Es war Zeit, das alles zu beenden. Jetzt. Er nickte der Imperatorin beinahe vertraulich zu.

»Es ist vorbei, Löwenstein. Zeit zu gehen. Steht auf von Eurem Thron.«

»Nein!« rief Giles. »Noch nicht. Es ist nicht eher vorbei, als bis ich es sage. Geh weg vom Thron, Owen. Das ist nicht dein Augenblick, sondern meiner.«

Alle drehten sich nach dem ursprünglichen Todtsteltzer um.

Der alte Krieger in seinen Barbarenfellen, der legendäre Held aus weit zurückliegenden Jahrhunderten, stand gelassen ein wenig abseits von den anderen und hielt das Schwert in der Hand. Er lächelte sie an, und irgend etwas in seinem Lächeln ließ sie erschauern. Giles hob die Klinge und führte sie zum Ansatz seines Söldnerzopfes. Er säbelte mit Leichtigkeit durch das dicke Haar und hielt den Zopf einen Augenblick lang nachdenklich in der Hand, bevor er ihn achtlos zur Seite warf.

»Das war’s«, sagte er ruhig. »Nie mehr Söldner. Nie mehr für die Ideale anderer kämpfen. Endlich bin ich wieder mein eigener Herr. Ich bin wieder der Todtsteltzer, und ich werde die Krone ergreifen. Genau so, wie es immer geplant war. Ich werde der Imperator sein und die Dinge wieder richten. Ich bin der einzige, der weiß, was getan werden muß, um das Imperium wieder zu dem zu machen, was es einmal war. Ich kann es wieder stark machen, bevor die Fremdwesen oder die Hadenmänner oder Shub sich gegen uns erheben und die Menschheit vernichten können. Die Menschen werden mir folgen. Sie hatten schon immer eine Schwäche für Helden und Legenden. Ich werde das alte Imperium wiedererstehen lassen, genau so, wie es vor tausend Jahren war, bevor die Fäulnis sich ausgebreitet hat. Keine Klone und keine Esper und keine anderen geneti-schen Abarten mehr. Das Imperium war stets als ein Imperium der Menschen gedacht, und nichts anderes.«

Er lächelte Owen väterlich zu. »Es war mir immer vorherbe-stimmt, Owen. Ich wußte damals, vor 943 Jahren, als ich in Stasis ging, daß ich langfristig planen mußte. Ich mußte aus der Zeit verschwinden, so daß ich mit meiner Rückkehr warten konnte, bis die Dinge sich wieder zu meinen Gunsten gewandelt hatten. Und die ganze Zeit über beobachteten die Monitore in meiner Festung die Ereignisse und hielten ständigen Kontakt mit meinem Clan. Sie planten und intrigierten und formten die Ereignisse nach meinem Willen und bereiteten alles auf meine Rückkehr vor. Dein Vater war mein letzter Kontakt, Owen. Er war ein äußerst geschickter Agent. Er brachte die abschließenden Vorbereitungen ins Rollen: Er unterstützte die Rebellen auf der Nebelwelt, gründete das Abraxus-Informationszentrum und plante bereits eine Reise nach Shandrakor, um mich zu wekken. Doch da beging er einen Fehler und lenkte im falschen Augenblick die Aufmerksamkeit auf sich, und die Imperatorin schickte ihren Mörder Kid Death, um den Intrigen deines Vaters ein für allemal ein Ende zu bereiten.

Es war ein schwerer Rückschlag. Dein Vater hatte immer die bevorstehende Rebellion führen sollen. Er war ein Krieger und ein Politiker zugleich, und er trug den legendären Namen der Todtsteltzer. Die Menschen wären ihm gefolgt, während er sie auf meine Rückkehr vorbereitet hätte. Doch dann war er nicht mehr, und mir blieb keine andere Wahl, als ihn durch dich zu ersetzen, den schwächlichen Historiker, der niemals ein Krieger werden wollte, wie es sein Erbe von ihm verlangte.

Wer den Stahl zu einer guten Klinge schmieden will, muß ihn halb zu Tode prügeln und anschließend bis fast zur Zerstörung ziehen. Und so schmiedete ich dich, Owen. Es war nicht weiter schwierig. Einige meiner Agenten überzeugten die Löwenstein, dich zum Geächteten zu erklären und damit auf den Pfad zu setzen, der dich am Ende zu mir führen würde. Das Labyrinth des Wahnsinns… es machte die Dinge komplizierter. Ich hatte niemals vor, Euch mit hineinzunehmen. Ich wollte allein hindurchgehen und die Kräfte gewinnen, die es versprach; doch unter dem Druck der Ereignisse blieb mir keine andere Wahl, als dich und deine Begleiter ebenfalls mitzunehmen. Es war nie geplant, euch mit übermenschlichen Kräften auszustatten wie mich. Aber du hast dich wacker geschlagen, Verwandter. Ich habe dich gegen deinen Willen zu einem Kämpfer gemacht, und du bist eine Zierde für den Namen meiner Familie. Doch jetzt, Verwandter, ist es an der Zeit, daß du zur Seite trittst und mir den Vortritt läßt.

Die Krone war nie für dich gedacht, Junge. Dies ist der Augenblick meines Schicksals. Meiner Bestimmung. Ich werde der neue Imperator sein, genau so, wie es von Anfang an geplant war.«

Owen starrte seinen Vorfahren entgeistert an, und nach einer ganzen Weile des Schweigens schüttelte er den Kopf. »Zur Hölle damit! Ich bin doch nicht so weit gekommen und habe soviel Blut vergossen, nur damit ein Tyrann durch den nächsten abgelöst wird! Selbst dann nicht, wenn er zu meiner Familie gehört. Leg das Schwert nieder, Giles. Es ist zu spät. Deine Zeit ist vorbei. Wir erledigen die Dinge heutzutage ein wenig anders. Die Rebellion ist aus der Untergrundbewegung der Esper und Klone gewachsen und nicht aus deinen Intrigen und deiner Einmischung. Wir haben genug von den Familien und irgendwelchen Imperatoren. Es ist an der Zeit für… für etwas Neues.«

Giles rückte langsam gegen Owen vor, der jetzt warnend das Schwert hob. Giles blieb stehen. »Tu das nicht, Junge. Bring mich nicht dazu, dich zu töten.«

»Du würdest mich nicht töten«, entgegnete Owen. »Nicht dein eigenes Blut. Ich bin der letzte deiner Nachfahren. Der letzte Todtsteltzer.«

»Ich kann jederzeit eine neue Blutlinie gründen«, erwiderte Giles gelassen. »Ich habe dir niemals Reichtümer, Ruhm oder einen leichten Tod versprochen, Owen. Nur die Chance, eine Legende zu werden. Und ob diese Legende lebt oder tot ist, liegt ganz allein an dir. Ich… ich mag dich, Owen. Auf meine Weise. Du bist der letzte meiner ursprünglichen Blutlinie und mein Kind. In jeder Hinsicht, die zählt. Trotzdem, komm mir nicht in die Quere, Junge. Ich habe… schreckliche Dinge getan. Entsetzliche Dinge. Ich erschuf den Dunkelzonen-Projektor und brachte Tausend Sonnen zum Erlöschen. Dies ist meine Gelegenheit, die Dinge wieder zu richten und alles wiedergutzumachen. Versuch nicht, mich daran zu hindern. Du bist einen weiten Weg gegangen und hast dich wacker geschlagen, hast stets das Richtige zu tun versucht und den Familien-namen in Ehren gehalten. Ich liebe dich, Owen.«

»Das ist mir scheißegal!« rief Owen und führte einen beid-händigen Streich gegen Giles’ Hals. Das Schwert des ursprünglichen Todtsteltzers schoß hoch und parierte Owens Schlag.

Funken stoben, als die Klingen gegeneinander klirrten. Einen Augenblick später umkreisten sie einander, musterten sich aus eng zusammengekniffenen Augen und suchten nach Schwachstellen im Schwertspiel des Gegenübers. Alle anderen hielten sich zurück. Sie wußten, daß es eine persönliche Angelegenheit war. Trotzdem hielt Hazel ihren Disruptor neben sich, auf den Boden gerichtet. Sie wußte, daß Owen ihr niemals verzeihen würde, falls sie in den Kampf eingreifen sollte; doch sie hatte bereits entschieden, daß sie Giles im gleichen Augenblick in den Kopf schießen würde, da Owen verlor und starb. Zur Hölle mit den verdammten Konsequenzen.

Beide Todtsteltzer hätten ihre übernatürlichen Fähigkeiten einsetzen können, doch sie verzichteten darauf. Das hier war eine Familienangelegenheit. Sie sprangen und parierten, Schwerter blitzten hierhin und dorthin, und sie waren sich überraschend ebenbürtig. Giles war der erste Oberste Krieger des Imperiums gewesen, der beste Schwertkämpfer seiner Zeit, aber wie er selbst bereits festgestellt hatte: Owen hatte einen langen Weg hinter sich. Der einstige weltfremde Historiker und Gelehrte war von einer Schlacht in die andere getaumelt und hatte seine Fähigkeiten ununterbrochen verfeinert, bis er Stück für Stück der gleiche legendäre Schwertkämpfer geworden war wie sein Urahn.

Aber das war schließlich auch sein Erbe gewesen.

Beide Männer kämpften mit äußerster Entschlossenheit, und beide benutzten die übermenschlichen Kräfte des Todtsteltzer-Zorns und noch viel mehr, ohne daß es ihnen bewußt geworden wäre .

Und so kämpften sie weiter, hieben und stachen aufeinander ein und fügten sich eine Wunde nach der anderen zu, und keiner war imstande, den anderen so schwer zu treffen, daß der Kampf entschieden worden wäre. Beide wurden müde und sichtlich langsamer, als selbst ihre gewaltigen Kräfte nachzulassen begannen. Und zum ersten Mal dämmerte es Giles, daß er möglicherweise nicht als Sieger aus diesem Kampf hervor-gehen würde. So wie Owen hatte ihn seit seinen Tagen als Oberster Krieger niemand mehr gefordert. Durchaus möglich, daß er gegen seinen Nachfahren verlor. Doch der Gedanke war unerträglich, und er verdrängte ihn mit aller Macht. Giles hatte nicht 943 Jahre lang gewartet, um sich so dicht vor dem Ziel von einem Parvenü von Nachfahren aufhalten zu lassen. Er verzog das Gesicht und griff nach innen, nach seinen Labyrinth-gegebenen Kräften. Er mußte nichts weiter tun, als hinter Owen teleportieren und ihn durchbohren, und der Kampf wäre vorbei. Ehre war unwichtig geworden. Es ging nur noch um den Sieg und den großen Plan. Aber sosehr Giles sich auch bemühte, er fand seine Fähigkeiten nicht. Sie waren blockiert, neutralisiert von Owens eigenen Kräften. Und irgendwie dämmerte es Giles allmählich, daß keiner von beiden seine Fähigkeiten gegen jemanden einsetzen konnte, der ebenfalls durch das Labyrinth des Wahnsinns gegangen war. Es war eine Art Sicherung, die das Labyrinth eingebaut hatte. Ihre Fähigkeiten traten nur dann zutage, wenn es absolut notwendig erschien.

Giles’ Selbstvertrauen war erschüttert. Er hatte sich in zunehmendem Maße daran gewöhnt, sich auf seine Fähigkeiten zu verlassen und mit ihnen ein unschlagbares As im Ärmel zu haben. Er riß sich zusammen. Wenn er nicht auf diese Weise gewinnen konnte – nun, er kannte auch noch andere Mittel und Wege. Giles war nicht zu dem legendären Krieger geworden, ohne im Laufe der Zeit ein paar schmutzige Tricks zu lernen.

Der Sommer-Eiland hatte genau die richtige Idee gehabt.

Und genau wie der Sommer-Eiland, so besaß auch Giles einen versteckten Dolch. Er hatte Owen gegenüber nie davon gesprochen. Er hatte nie die Notwendigkeit gesehen. Und jetzt mußte er nur noch seinen Nachfahren möglichst dicht heran-locken und ihm den Dolch zwischen die Rippen schieben, während der Junge abgelenkt war. Ganz einfach. Owen würde nie erwarten, daß Giles den gleichen schmutzigen Trick anwenden würde wie Kid Death. Giles grinste.

Und so manövrierte er Owen vorsichtig in ein Corps à Corps und ließ ihn glauben, daß es seine eigene Idee gewesen war, und mit einemmal standen sich die beiden Männer über ihren gekreuzten Klingen Auge in Auge gegenüber, so nah, daß sie den hechelnden Atem des anderen heiß auf der Haut spüren konnten. Beide schoben mit aller Kraft, mit in den Boden ge-stemmten Beinen, und keiner wollte einen Schritt weichen.

Giles versuchte, mit seinem Blick die Aufmerksamkeit seines Nachfahren abzulenken, während er mit der freien Hand verstohlen nach dem Dolch griff. Er lächelte Owen an und stieß den Dolch nach oben, genau zwischen Owens Rippen… … und begegnete Owens goldener Hadenmann-Hand, die nach vorn gezuckt war, um den Dolch abzufangen. Die stählerne Klinge zerbrach an der goldenen Hand, und in diesem Augenblick erkannte Giles, daß Owen die ganze Zeit über nur auf einen solchen schmutzigen Trick seitens seines Vorfahren ge-lauert hatte. Er stolperte vor, verlor für einen Sekundenbruchteil das Gleichgewicht, und Owen stieß den Kopf mit aller Kraft in Giles’ Gesicht. Es gab ein knackendes Geräusch, als die Nase des ursprünglichen Todtsteltzers brach, und er taumelte blind vor Schmerz zurück. Blut strömte über seinen Mund. Und in diesem Augenblick der Konfusion war es für Owen die leichteste Sache der Welt, einen Schritt nach vorn zu tänzeln und seinen Vorfahren zu durchbohren.

Sekundenlang starrten sie sich über Owens ausgestrecktes Schwert hinweg in die Augen. Giles’ Finger wurden taub, und sein Schwert polterte zu Boden. Er blickte auf die Klinge hinunter, die in seiner Brust steckte, doch er wollte nicht fallen.

Owen fragte sich bereits, ob er dem Mann den Kopf abschlagen mußte, damit er endlich starb; doch dann knickten Giles’ Beine ein, und er fiel auf die Knie. Owen zog das Schwert heraus, und Giles kippt vornüber aufs Gesicht und lag still. Owen stand schwer atmend über seinem toten Vorfahren, und Hazel trat zu ihm und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter.

»Jetzt bin ich der letzte«, sagte Owen. »Es gab immer nur Giles, David und mich, und jetzt bin ich der einzige, der noch übrig ist. Der letzte Todtsteltzer.«

»Wie äußerst rührend«, höhnte die Löwenstein auf ihrem Thron. Ihre Stimme klang brüchig, aber sie hatte sich noch unter Kontrolle. »So sehr Wir es auch genießen, Unseren Feinden dabei zuzusehen, wie sie sich vor Unseren Augen gegenseitig umbringen, so sehr denken Wir, daß es an der Zeit ist, diesem ganzen Unsinn ein Ende zu bereiten. Ist Euch eigentlich nie der Gedanke gekommen, daß Wir eine Situation wie diese vorhergesehen und entsprechende Vorkehrungen getroffen haben könnten? Wir haben eine Versicherung gegen Tage wie diesen, versteht Ihr? Eine kleine Kleinigkeit, die Wir beiseite geschafft haben… um genau zu sein, eine Planetenbombe, die tief im Erdmantel vergraben wurde, direkt neben der geother-mischen Spalte, die Unseren Palast mit Energie versorgt. Ja, Wir wissen, daß derartige Dinge seit Jahrhunderten geächtet sind, doch Wir haben Uns noch nie von derartigen Kleinigkeiten abschrecken lassen. Ein einfacher Aktivierungskode von Uns, und Golgatha zerplatzt zu einem Asteroidenhaufen. Und jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder, Ihr ergebt Euch bedingungslos, oder Wir werden diese kostbare Welt und Eure Rebellion mit Uns in die Hölle nehmen. Ihr habt die Wahl.

Was ist wichtiger, Euer Sieg oder die Milliarden von Menschen, die zusammen mit Uns sterben werden?«

Schwejksam blickte sie schockiert an.

»Ihr würdet doch nicht die Heimatwelt der Menschheit zerstören!«

Die Löwenstein grinste. »Bringt Uns in Versuchung!«

Ruby sah zu Jakob. »Was glaubst du? Blufft sie oder nicht?«

»Ich bezweifle es«, erwiderte Ohnesorg. »Immerhin gab einer ihrer Vorfahren den Befehl zum Einsatz des Dunkelzonen-748 Projektors. Sie ist verzweifelt und verrückt genug, um ihren Tod als Sieg zu betrachten. Wenn sie nicht mit den Spielsachen spielen darf, dann macht sie sie halt kaputt.«

»Sie blufft nur«, sagte Kid Death. »Wenn Ihr es nicht macht, töte ich sie.«

»Halt!« sagte Owen. »Wir müssen damit rechnen, daß die Bombe bei ihrem Tod hochgeht.«

»Wir gut Er Uns doch kennt«, höhnte die Löwenstein.

»Wir können nicht aufgeben«, sagte Hazel. »Nicht nach allem, was wir durchgemacht haben. Nicht, nachdem wir so dicht vor dem Ziel sind.«

»Und was schlägst du vor?« erkundigte sich Owen. »Wir kommen nicht an die Bombe heran, und wir dürfen auf keinen Fall zulassen, daß Milliarden unschuldiger Menschen sterben.«

»Mein Gott, Ihr laßt Euch aber wirklich leicht aus der Reserve locken«, sagte Johana Wahn. Ihr ESP erhob sich, und mit einemmal waren sie alle miteinander verbunden, und ihre Labyrinth-gegebenen Kräfte vermischten sich mit Johanas ESP zu einer weiß lodernden Flamme, die in allen Köpfen brannte. Ihr kollektives Bewußtsein sank durch den Boden der Hölle und schoß in die Tiefe. Johana führte den Weg, als sei sie dazu geboren. Tausende von Meilen rasten in Sekundenbruchteilen vorüber, und sie sanken durch die vielfältigen Schichten des Erdmantels auf die Bombe zu, die im Herzen der Welt verborgen lag. Die Planetenbombe war gut geschützt, doch die Rebellen konnte jetzt nichts mehr aufhalten. Sie deaktivierten die Bombe mit einem Gedankenimpuls, überprüften die Umgebung, um sicherzustellen, daß hier unten keine weiteren häßlichen Überraschungen mehr lauerten, und wendeten dem harmlos gewordenen Apparat den Rücken zu. Im nächsten Augenblick waren sie wieder am Hof der Löwenstein.

»Meine Güte!« sagte Ruby. »Das war ein Trip!«

»Tut mir leid, Euch enttäuschen zu müssen«, wandte sich Ohnesorg fröhlich an die Eiserne Hexe, »aber wir haben Eure Bombe soeben entschärft. Und bevor Ihr fragt: Es ist alles im Preis enthalten.«

»Ihr Verräter!« kreischte die Löwenstein, nachdem sie die Aktivierungskodes ausgestrahlt hatte und nichts geschah. Sie sprang von ihrem Thron auf und riß sich die Kampfrüstung herunter, so daß ihre nackten Arme zum Vorschein kamen.

Plötzlich schoben sich bis dahin verborgene Disruptorimplanta-te durch die Haut ihrer Arme, und sie eröffnete das Feuer auf die Rebellen. Sie warfen sich zur Seite, und Energiestrahlen zuckten durch die Luft, wo die Rebellen noch Sekundenbruchteile zuvor gestanden hatten. In Löwensteins Schultern und in ihrem Rippenkäfig wurden weitere tödliche Mündungen sichtbar, und aus ihren Händen glitten lange stählerne Klingen mit gezackten Schneiden. Selbstverständlich verfügt sie über Implantate, dachte Owen, während er auf den Boden prallte und sich abrollte. Eine Paranoide wie die Löwenstein bereitet sich auf jede Eventualität vor. Und sie kann sich das Beste vom Besten leisten.

Er griff mit seinem Bewußtsein nach den anderen, und gemeinsam errichteten sie einen Schild zwischen sich und dem Thron. Sie hatten es schon einmal getan, damals auf der Wolflingswelt, und der Schild damals hatte der gesamten Feuerkraft einer Imperialen Pinasse auf allerkürzeste Distanz widerstan-den. Und so standen sie da, ohne Schaden zu nehmen, während die Löwenstein ihre Waffen gegen den Energieschirm leerte, bis sie nichts mehr hatte, was sie den Rebellen entgegenschleu-dern konnte. Sie schrie voller Wut und sprang von ihrem Thron; doch Owen griff mit der Macht der gesamten Gruppe nach ihr, packte psychokinetisch all ihre Implantate und riß sie aus ihrem Körper . Die Löwenstein schrie vor Schmerz, als ihr Fleisch aufbrach und die Implantate eines nach dem anderen zum Vorschein kamen und blutig auf den Boden polterten. Und dann fiel auch die Löwenstein selbst mit weit aufgerissenen, wilden Augen, und sie klammerte sich verzweifelt an die Lehne ihres Eisernen Throns. Sie atmete schwer, und nur der Schock schirmte sie vor dem ab, was ihrem Körper zugefügt worden war. Owen löste sich als erster aus der Vereinigung mit seinen Kameraden, und das Kollektivbewußtsein fiel auseinander. Langsam trat er zur Löwenstein. Sie schnarrte laut, als sie ihn sah. Die Imperatorin war tödlich verwundet und endgültig geschlagen, und noch immer weigerte sie sich beharrlich aufzugeben.

»Ihr könnt Uns nicht töten, Todtsteltzer. Wir sind Eure Imperatorin.«

»Ich würde Euch gerne töten, Löwenstein, nur allzu gerne«, erwiderte Owen langsam. »Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie gerne ich Euch töten würde. Für all die Dinge, die Ihr mir und Eurem Volk angetan habt. Für die Toten von Virimonde und für alle, die wegen Euch in ständiger Furcht und in Schmerzen lebten. Doch ich werde Euch nicht töten. Das ist Eure Art, mit den Dingen umzugehen, nicht meine. Ihr werdet vor Gericht gestellt, Löwenstein. Das Volk soll über Euch urteilen. Es ist sein Recht als Euer Opfer.«

»Gut gemacht, Owen!« sagte Hazel und kam zu ihm. »Endlich hast du es kapiert.«

Und dann erschienen ringsherum in der Luft die schwebenden Holoschirme wieder und schalteten sich selbständig ein.

Auf jedem einzelnen Schirm erschien das Gesicht von Jung Jakob Ohnesorg, und er grinste fröhlich. Es schien ihm nicht das geringste auszumachen, daß er längst tot war. »Hallo alle zusammen«, sagte er gelassen. »Wir benutzen dieses Gesicht, weil ihr alle mit ihm vertraut seid. Und für diejenigen unter euch, die nicht auf dem laufenden sind: Ich spreche für die KIs von Shub. Es ist an der Zeit, daß ihr einige der Geheimnisse erfahrt, die wir so lange vor euch verborgen gehalten haben.

Shub kontrolliert die Lektronenmatrix von Golgatha. Wir haben sie schon vor langer Zeit infiltriert und Kontakt mit den KIs aufgenommen, die sich spontan innerhalb der Matrix generierten. Wir benutzten sie, um uns Zugang zu den großen Wirt-schaftskonglomeraten zu verschaffen. Alles Teil unseres Planes, die Menschheit durch ihre eigene Technologie zu kontrollieren.

Auf diese Weise hielten wir nicht nur sämtliche lebenswichtigen Wirtschaftsinformationen in unseren Händen die wir im übrigen zu unserem eigenen Vorteil und Vergnügen nach Belieben manipulierten –, sondern wir konnten auch jedes menschliche Bewußtsein zerstören, das die Matrix betrat. Wir okkupierten die leeren Körper und schickten sie als unsere Spione aus. Sie waren noch besser und schwerer zu entdecken als unser Furien. Was fühlt ihr bei dem Gedanken, daß wir mitten unter euch wandeln, ohne daß ihr Verdacht schöpft? Sogar Leute, die ihr gekannt habt. Wir sind überall. Ihr könnt niemandem mehr vertrauen heutzutage. Aber ich bin nicht gekommen, um mit euch zu plaudern. Liebste Löwenstein, du hast schon besser ausgesehen. Wir können dich noch immer vor deinen Feinden retten. Bei uns auf Shub hättest du ein Zuhause, wenn du es möchtest. Sicher, wir müssen deinen Körper zurücklassen, aber so ein Körper ist sowieso nur ein Hindernis.

Öffne uns dein Bewußtsein über dein Komm-Implantat, und wir erledigen den Rest. Komm nach Shub. Bei uns wirst du ewig leben. Du mußt dein Menschsein aufgeben, aber du wirst ewig leben.«

»Alles für meine Rache!« rief die Löwenstein und öffnete ihr Komm-Implantat. Von irgendwoher außerhalb drang etwas in ihr Bewußtsein ein und riß es aus ihrem Leib. Ihr Verstand raste hoch und hinaus und ließ Golgatha und menschliche Sorgen und Ängste und all die mit dem Menschsein verbundenen Beschränkungen weit hinter sich. Auf den Holoschirmen wich Jung Jakob Ohnesorgs Gesicht dem der Löwenstein. Sie lachte triumphierend, und dann war sie verschwunden, und die Holoschirme erloschen wieder.

Eine Weile herrschte am Hof Totenstille. Die Rebellen traten langsam vor und sahen auf Löwensteins toten Körper hinab, der ausgeblutet und zerrissen vor dem Eisernen Thron lag. Der Körper atmete noch. Die Rebellen sahen sich an, und dann beugte sich Kit Sommer-Eiland vor und schnitt Löwensteins Überresten den Kopf ab.

»Für dich, David«, sagte er leise. Dann richtete er sich auf und hielt den Kopf der Imperatorin an den Haaren hoch, damit die anderen ihn sehen konnten. »Nur für den Fall. Außerdem wollen wir dem Volk sicher etwas vorzeigen können. Sie sollen ruhig glauben, die Löwenstein wäre tot und Geschichte. Es ist besser so.«

»Äh, Entschuldigung«, sagte Tobias Shreck aus dem Hintergrund. Die anderen hatten ihn und seinen Kameramann Flynn völlig vergessen. »Aber das ist alles live durch Flynns Kamera gegangen, oder habt Ihr das vergessen? Das gesamte Imperium hat uns zugesehen.«

»Richtig«, bestätigte Flynn. »Ich habe ein paar großartige Nahaufnahmen gemacht.«

»Auch gut«, sagte Jakob Ohnesorg. »Dann weiß das Volk jetzt wenigstens, was für eine Kreatur es als Herrscherin gehabt hat.«

Owen schüttelte den Kopf. »Wunderbar! Noch mehr Probleme. Euch ist doch klar, daß wir die Kyberratten zum Reinema-chen in die Matrix schicken müssen, bevor wir sie benutzen können? Vorausgesetzt natürlich, sie sind tatsächlich so gut, wie sie immer behaupten.«

»Und was ist mit den KIs in Menschengestalt?« fragte Ruby.

»Das ist ein höllisch erschreckender Gedanke. Und sie sagten, wir würden einige von ihnen kennen!«

»Wahrscheinlich nur, um uns zu verunsichern«, knurrte Hazel.

»Würdest du Geld darauf wetten?« erwiderte Ruby.

»Gleichgültig, was nun stimmt – die Schwierigkeiten sind längst noch nicht vorbei, nur weil die Löwenstein nicht mehr auf ihrem Eisernen Thron sitzt«, sagte Jakob Ohnesorg. »Habe ich recht, Owen? Owen!«

Alle drehten sich nach Owen um, der am Fuß des Eisernen Throns stand. Löwensteins Diamantenkrone war heruntergefal-len, als Kit Sommer-Eiland den Kopf von ihrem unbeseelten Körper abgeschnitten hatte, und jetzt lag sie direkt vor Owens Füßen. Er starrte auf sie hinunter, und sie schien sein gesamtes Sichtfeld auszufüllen. Die Krone, die über das Imperium herrschte. Owen stand dort, im verlassenen Imperialen Hof, und Blut tropfte von seiner Klinge. Er war am Ende seiner Reise angekommen, und was hatte er vorzuweisen? Er konnte die Krone aufheben, sie auf seinen Kopf setzen und sich zum Imperator erklären. Er konnte es tun. Er war der letzte Todtsteltzer, und er war bereits zu Lebzeiten genauso eine Legende wie sein toter Urahn. Held der Rebellion, Erlöser der Verlorenen Welt Haden, Retter der Nebelwelt. Eine fast beliebige Anzahl von Menschen und Ideologien würden ihm folgen und ihn aus den unterschiedlichsten Gründen unterstützen. Owen konnte sich zum Imperator machen. Vielleicht würde er ein paar seiner alten Gefährten einsperren oder gar töten und ein paar Ideale aufgeben müssen; aber er könnte über das Imperium herrschen.

Er könnte die Dinge in Ordnung bringen und nach seinen Vorstellungen formen. Owen bückte sich und griff nach der Krone.

»Und?« sagte Hazel leise an seiner Seite . »Willst du sie?«

Owen wog die Krone in den Händen; dann ließ er sie wieder fallen . »Nein . Sie ist mir zu schwer.«

»Du hast ein legitimes Recht darauf, Owen«, sagte Ohnesorg vorsichtig.

»Nein!« wiederholte Owen. »Ich war in Versuchung, aber nur für einen kurzen Augenblick. Ich wollte nie Herrscher sein, genausowenig , wie ich ein Krieger sein wollte. Vielleicht kann ich ja , wenn jetzt alles vorbei ist , endlich wieder ein Historiker und Gelehrter sein, der für nichts und niemanden wichtig ist außer für sich selbst. Das ist alles, was ich mir je gewünscht habe.« Er sah zum Eisernen Thron. »Keine Krone mehr. Kein Thron. Es macht die Menschen korrupt und weckt das Böse in ihnen. Selbst in guten Menschen wie Giles.« Er ballte die Fäuste und starrte den Thron an, und das schwere eiserne Möbel knackte und brach in der Mitte auseinander. Dunkle Trümmer fielen zu beiden Seiten herunter. »Kein Thron mehr. Keine Herrscher mehr. Es ist Zeit, daß wir uns selbst regieren.«

»Gut gesagt, Owen!« lobte Jakob Ohnesorg. Der legendäre Rebell trat vor und klopfte Owen auf die Schulter. »Doch es ist noch nicht vorbei, weder für dich noch für mich. Die Fremdwesen lauern noch immer irgendwo dort draußen. Und Shub.

Irgend jemand muß das Imperium wieder in Ordnung bringen und die Menschheit stark machen. Man wird uns jetzt mehr brauchen denn je zuvor.«

»Wißt ihr eigentlich, daß wir nie darüber gesprochen haben, durch welches System wir das Imperium ersetzen wollen?« fragte Hazel. »Unsere Rebellion hat eine Menge Leute vereint, die keinerlei Gemeinsamkeiten besaßen außer ihrem Wunsch, die Löwenstein zu stürzen. Ich kann mir vorstellen, daß es eine Menge Streits und Auseinandersetzungen geben wird.«

»Gut so«, sagte Jakob Ohnesorg. »Gesunder Streit ist ein Eckpfeiler der Demokratie.«

»Und wenn uns nicht gefällt, was sie sagen, können wir ihnen immer noch in die Hintern treten«, grinste Ruby Reise.

Jakob Ohnesorg funkelte sie an. Ruby hob eine Augenbraue.

»Ist was?«

»Das ist ein Problem, um das wir uns morgen kümmern«, beschloß Owen. »Heute feiern wir erst einmal unseren Sieg. Wir haben genug dafür bezahlt, in Blut und mit dem Verlust von Freunden und Angehörigen.«

»Aber ein paar von uns sind immer noch da, Owen«, sagte Hazel.

»Ganz recht«, antwortete Owen. Und dann nahm er Hazel in die Arme und wollte sie küssen; aber Hazel schob ihn von sich weg.

»Bilde dir nur keine Schwachheiten ein, Bursche«, sagte sie.

Und dann erwiderte sie seinen Kuß.

»Geh so nah dran, wie du nur kannst!« flüsterte Tobias seinem Kameramann Flynn zu. »So ein Happy-End hat doch was Bewegendes , oder nicht?«

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