Anfang Juli, in der heißesten Jahreszeit, am Spätnachmittag trat ein junger Mann aus seiner Kammer, die er als Aftermieter in der S-schen Gasse bewohnte, auf die Straße und begab sich langsam, gleichsam unentschlossen zu der K–schen Brücke.
Es gelang ihm, eine Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe zu vermeiden. Seine Kammer befand sich dicht unter dem Dache eines hohen, vierstöckigen Hauses und sah mehr einem Schrank als einer Wohnung ähnlich. Seine Wirtin aber, bei der er diese Kammer mit Mittagessen und Bedienung mietete, hauste eine Treppe tiefer in eigener Wohnung, und wenn er ausging, mußte er jedesmal an der Küche der Wirtin mit der immer weit offenstehenden Tür vorbeikommen. Jedesmal, wenn der junge Mann an der Küche vorbeiging, überkam ihn ein krankhaftes, feiges Gefühl, dessen er sich schämte und vor dem er das Gesicht verzog. Er schuldete seiner Wirtin viel Geld und fürchtete, ihr zu begegnen.
Er war gar nicht so feige und eingeschüchtert, sogar im Gegenteil; doch seit einiger Zeit befand er sich in einem Zustande von Reizbarkeit und Spannung, der an Hypochondrie erinnerte. Er hatte sich dermaßen in sich selbst vertieft und von allen Menschen zurückgezogen, daß er jede Begegnung, nicht nur die mit seiner Wirtin, fürchtete. Er war von Armut erdrückt; aber selbst diese bedrängte Lage machte ihm in der letzten Zeit wenig Schmerzen. Seinem Tagewerk ging er in der letzten Zeit nicht mehr nach und wollte ihm auch gar nicht nachgehen. Im Grunde hatte er vor keiner Wirtin Angst, was sie gegen ihn auch im Schilde führen mochte. Doch auf der Treppe stehen zu bleiben, jedes Geschwätz über diese alltäglichen Kleinlichkeiten, um die er sich absolut nicht kümmerte, alle diese zudringlichen Vorstellungen wegen der Bezahlung, die Drohungen und Klagen anzuhören und sich dabei selbst herauszuwinden, zu entschuldigen und zu lügen – nein, es ist schon besser, wie eine Katze die Treppe hinunterzuschleichen und, von niemand gesehen, zu verschwinden.
Diesmal mußte er übrigens selbst, als er schon auf der Straße war, über seine Angst vor einer Begegnung mit seiner Gläubigerin staunen.
»So eine Sache will ich unternehmen und habe dabei Angst vor solchem Unsinn!« sagte er sich mit einem seltsamen Lächeln. »Hm ... ja ... alles hat der Mensch in seiner Hand, und alles läßt er sich entgehen aus bloßer Feigheit ... das ist ein Axiom ... Es ist interessant, was die Menschen mehr als alles fürchten! Einen neuen Schritt, ihr eigenes neues Wort fürchten sie am meisten ... Übrigens schwatze ich zu viel. Darum tue ich auch nichts, weil ich nur schwatze. Vielleicht ist es auch so: ich schwatze, weil ich nichts tue. Dieses Schwatzen habe ich mir im letzten Monat angewöhnt, als ich tagelang in meinem Loche lag und an ... des Kaisers Bart dachte. Nun, warum gehe ich jetzt? Bin ich denn dazu fähig? Ist denn das ernst gemeint? Gar nicht ernst. Eine Phantasie, um mich selbst zu unterhalten; Spielerei? Ja, vielleicht, es ist wirklich nur eine Spielerei!«
Draußen war es furchtbar heiß, dazu auch schwül; ein Gedränge; überall Kalk, Baugerüste, Ziegelsteine, Staub und jener eigentümliche sommerliche Gestank, welchen jeder Petersburger kennt, der nicht in der Lage ist, aufs Land zu gehen, – dies alles erschütterte auf einmal die auch ohnehin schon zerrütteten Nerven des jungen Mannes. Der unerträgliche Gestank, der aus den Kneipen drang, die in diesem Stadtteile besonders zahlreich sind, und die vielen Betrunkenen, denen er, obwohl es ein Wochentag war, auf Schritt und Tritt begegnete, vervollständigten das abstoßende, traurige Bild. Über die feinen Gesichtszüge des jungen Mannes glitt der Ausdruck eines tiefen Ekels. Übrigens war er ungewöhnlich hübsch, über das Mittelmaß groß, schlank und geschmeidig und hatte schöne dunkle Augen und dunkelblondes Haar. Bald versank er in tiefe Nachdenklichkeit, eigentlich sogar in eine Ohnmacht, und bemerkte im Gehen nichts von allem, was ihn umgab, und wollte es auch gar nicht bemerken. Nur ab und zu murmelte er etwas vor sich hin: das kam von seiner Angewohnheit, Monologe zu halten, wie er es sich eben selbst eingestanden hatte. Zugleich war er sich auch dessen bewußt, daß seine Gedanken zuweilen durcheinandergerieten und daß er sehr schwach war: seit zwei Tagen schon hatte er fast nichts gegessen.
Seine Kleidung war so zerfetzt, daß auch mancher an alles gewöhnte Mensch sich genieren würde, in diesem Aufzuge bei Tage auf die Straße zu treten. In diesem Stadtteile konnte man übrigens kaum jemand durch solche Kleidung verblüffen. Die Nähe des Heumarktes, die Menge von gewissen Lokalen und die in diesen Straßen und Gassen im Zentrum Petersburgs zusammengedrängte dichte Handwerker- und Arbeiterbevölkerung belebten zuweilen das Straßenbild mit solchen Subjekten, daß es sogar sonderbar wäre, über manche Figur zu staunen. In der Seele des jungen Mannes hatte sich aber schon so viel boshafte Verachtung aufgespeichert, daß er sich, trotz seiner zuweilen noch sehr jugendlichen Empfindlichkeit, seiner zerlumpten Kleidung am allerwenigsten schämte. Anders war es bei den Begegnungen mit manchen seiner Bekannten oder mit seinen früheren Kollegen, denen er überhaupt sehr ungern begegnete ... Als aber ein Betrunkener, den man gerade, Gott weiß warum und wohin, in einem großen, leeren, mit einem riesenhaften Lastpferd bespannten Leiterwagen vorüberführte, ihm plötzlich zurief: »He, du Deutscher mit dem Hute!« und, auf ihn mit der Hand weisend, aus vollem Halse zu schreien begann, blieb der junge Mann plötzlich stehen und griff krampfhaft nach seinem Hut. Es war ein hoher, runder Zimmermannscher Hut, vollkommen abgetragen, ganz rot vor Alter, voller Löcher und Flecken, ohne Krempe und mit einem häßlichen Knick auf einer Seite. Es war aber keine Scham, was er empfand, sondern ein ganz anderes Gefühl, das sogar an Schreck grenzte.
»Das wußte ich ja!« murmelte er verlegen: »Das dachte ich mir auch! Das ist schon das Allerschlimmste! So eine Dummheit, so eine ganz gemeine Kleinigkeit kann den ganzen Plan verderben! Ja, der Hut ist viel zu auffallend ... Er ist lächerlich und darum auffallend ... Zu meinen Lumpen gehört unbedingt eine Mütze, und wenn auch so flach wie ein Pfannkuchen, und nicht dieses Scheusal. Kein Mensch trägt so einen Hut, man wird ihn schon aus einer Entfernung von einer Werst sehen und sich merken ... man wird ihn sich merken, und da hat man schon ein Indizium. Man muß dabei möglichst wenig auffallen ... Kleinigkeiten, solche Kleinigkeiten sind das Wichtigste! ... Solche Kleinigkeiten richten jedes Unternehmen zugrunde ...«
Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte es vom Tore seines Hauses waren: genau siebenhundertunddreißig. Er hatte sie einmal gezählt, als er ganz im Banne seiner Träume war. Damals wollte er noch selbst nicht an diese seine Träume glauben und stachelte sich nur durch ihre häßliche, doch verführerische Kühnheit auf. Doch jetzt, nach einem Monat sah er die Dinge anders an und hatte sich, trotz aller aufstachelnden Monologe über seine eigene Ohnmacht und Unentschlossenheit, schon gewöhnt, seinen »häßlichen« Traum für ein wirkliches Unternehmen zu halten, obwohl er sich auch noch nicht recht traute. Er ging jetzt sogar, eine Probe seines Unternehmens zu machen, und seine Erregung wuchs mit jedem Schritt.
Mit ersterbendem Herzen und nervösem Zittern näherte er sich einem riesengroßen Hause, das mit der einen Seite auf den Kanal und mit der andern auf die *sche Straße hinausging. Dieses Haus bestand aus lauter kleinen Wohnungen und war von allerlei Gewerbetreibenden, Schneidern, Schlossern, Köchinnen, deutschen Handwerkern, alleinstehenden Mädchen, kleinen Beamten usw. bewohnt. Die Aus- und Eingehenden huschten nur so durch die beiden Torwege und die beiden Höfe. Drei oder vier Hausknechte versahen hier den Dienst. Der junge Mann war sehr froh, daß er keinem von ihnen begegnete, und schlüpfte sofort direkt aus dem Torwege unbemerkt die Treppe nach rechts hinauf. Die Treppe war finster und eng, eine richtige »Hintertreppe«, doch er kannte sie schon, hatte alles genau studiert, und die Örtlichkeit gefiel ihm nicht schlecht; in dieser Dunkelheit würde ihm auch ein neugieriges Auge ungefährlich sein. – Wenn ich schon jetzt so fürchte, wie wird es dann werden, wenn ich mal vor der Sache selbst stehe? – dachte er sich unwillkürlich, als er den dritten Stock erreichte. Hier versperrten ihm einige Träger – verabschiedete Soldaten, die aus einer Wohnung Möbel heraustrugen, den Weg. Er wußte schon von früher, daß in dieser Wohnung ein deutscher Beamter mit Familie wohnte: – Dieser Deutsche zieht aus, also bleibt im dritten Stock für einige Zeit nur die Wohnung der Alten allein bewohnt. Das ist gut ... für jeden Fall ... – dachte er sich wieder und läutete bei der Alten an. Die Glocke klimperte schwach, als sei sie aus Blech und nicht aus Kupfer gemacht. In ähnlichen kleinen Wohnungen in Häusern dieser Art sind fast immer solche Glocken. Er hatte den Klang dieser Glocke schon fast vergessen, und nun brachte ihm dieses eigentümliche Klimpern etwas in Erinnerung, gab ihm eine klare Vorstellung von etwas ... Er fuhr zusammen – seine Nerven waren diesmal gar zu schwach. Etwas später ging die Tür ein klein wenig auf: die Bewohnerin blickte den Besucher durch den ganz schmalen Spalt mit sichtbarem Argwohn an, und man sah aus dem Dunkeln nur ihre Augen hervorleuchten. Da sie aber draußen auf der Treppe viele Leute gewahrte, faßte sie Mut und machte die Tür ganz auf. Der junge Mann trat über die Schwelle in ein dunkles Vorzimmer, das durch eine Bretterwand geteilt war; dahinter befand sich eine winzige Küche. Die Alte stand schweigend vor ihm da und sah ihn fragend an. Es war eine sehr kleine, ausgemergelte alte Frau von etwa sechzig Jahren, mit stechenden, bösen Augen, kleiner spitzer Nase und bloßem Kopf. Ihre semmelblonden, nur wenig ergrauten Haare waren ausgiebig mit Öl eingefettet. Um ihren dünnen, langen Hals, der an ein Hühnerbein erinnerte, hatte sie allerlei Flanell-Lumpen gewickelt, und über ihre Schultern hing, trotz der Hitze, eine zerfetzte und vergilbte Pelzjacke. Die Alte ächzte und hustete jeden Augenblick. Der junge Mann hatte sie wohl irgendwie eigentümlich angeblickt, denn in ihren Augen erschien wieder der frühere Argwohn.
»Ich bin der Student Raskolnikow, war schon einmal bei Ihnen vor einem Monat«, beeilte sich der junge Mann mit einer halben Verbeugung zu stammeln: es fiel ihm ein, daß er freundlicher sein müsse.
»Ich weiß noch, Väterchen, ich erinnere mich gut, daß Sie hier waren«, sagte die Alte, jedes Wort betonend, ohne ihre fragenden Augen von seinem Gesicht zu wenden.
»Also, heute ... komme ich wieder in einer ähnlichen Sache ...« fuhr Raskolnikow fort, ein wenig verlegen und über das Mißtrauen der Alten erstaunt.
– Vielleicht ist sie übrigens immer so, und ich habe es damals nur nicht bemerkt – sagte er sich mit einem unbehaglichen Gefühl.
Die Alte schwieg eine Weile, wie nachdenklich, trat dann zur Seite, zeigte auf die Tür zum Wohnzimmer und sagte, indem sie dem Gast den Vorantritt ließ:
»Treten Sie nur ein, Väterchen.«
Das kleine Zimmer, mit den gelben Tapeten, Geranien und Mullvorhängen an den Fenstern, in das der junge Mann kam, war in diesem Augenblick grell von der untergehenden Sonne erleuchtet. – Also wird die Sonne auch dann ebenso leuchten! – ging es Raskolnikow unwillkürlich durch den Kopf, und er überflog mit einem schnellen Blick das ganze Zimmer, um alles zu studieren und sich nach Möglichkeit zu merken. Aber im Zimmer gab es nichts Besonderes. Die sehr alten Möbel aus gelbem Holz bestanden aus einem Sofa mit sehr großer, geschwungener hölzerner Rückenlehne, einem ovalen Tisch vor dem Sofa, einem Toilettentisch mit einem kleinen Spiegel zwischen den Fenstern, mehreren Stühlen an den Wänden und zwei oder drei billigen gelbgerahmten Bildern, die deutsche junge Mädchen mit Vögeln in den Händen darstellten, – das war das ganze Meublement. In einer Ecke brannte vor einem kleinen Heiligenbilde ein Lämpchen. Alles war sehr sauber, die Möbel und der Fußboden waren sehr blank gescheuert; alles glänzte. – Das ist wohl Lisawetas Arbeit – dachte sich der junge Mann. Kein Stäubchen war in der ganzen Wohnung zu finden. – Bei bösen und alten Witwen pflegt es so rein zu sein – dachte Raskolnikow weiter und schielte neugierig nach dem Kattunvorhang vor der Tür zum zweiten winzigen Zimmerchen, wo das Bett und die Kommode der Alten standen und in das er noch niemals hineingeblickt hatte. Die ganze Wohnung bestand nur aus diesen beiden Zimmern.
»Was wünschen Sie?« sagte die Alte streng, als sie ins Zimmer trat und sich wieder gerade vor ihn hinstellte, um ihm ins Gesicht zu blicken.
»Ich habe ein Pfand mitgebracht, hier!« Und er zog aus der Tasche eine alte flache silberne Uhr. Auf der Rückseite war ein Globus dargestellt. Die Kette war aus Stahl.
»Der Termin für das letzte Pfand ist schon um. Vorgestern ist gerade der Monat abgelaufen.«
»Ich will Ihnen die Zinsen für den zweiten Monat bezahlen, gedulden Sie sich noch ein wenig.«
»Es ist mein guter Wille, Väterchen, zu warten oder Ihr Pfand jetzt gleich zu verkaufen.«
»Wieviel geben Sie mir für die Uhr, Aljona Iwanowna?«
»Immer bringst du mir solche Kleinigkeiten, Väterchen, die Uhr ist fast nichts wert. Für den Ring habe ich Ihnen das letzte Mal zwei Rubelscheine gegeben, aber man kann einen solchen bei einem Juwelier für anderthalb Rubel kaufen.«
»Geben Sie mir doch vier Rubel, ich werde sie einlösen, die Uhr habe ich vom Vater. Ich bekomme bald Geld.«
»Anderthalb Rubel und die Zinsen im voraus, wenn Sie wollen.«
»Anderthalb Rubel!« schrie der junge Mann auf.
»Wie Sie wollen.« Und die Alte reichte ihm seine Uhr. Der junge Mann nahm sie und wurde so böse, daß er gleich weggehen wollte; er überlegte sich aber gleich, daß er sonst nirgends hingehen konnte und daß er auch noch aus einem anderen Grunde gekommen war.
»Geben Sie's her!« sagte er grob.
Die Alte steckte die Hand in die Tasche nach den Schlüsseln und ging ins andere Zimmer hinter den Vorhang. Als der junge Mann mitten im Zimmer allein geblieben war, lauschte er neugierig und überlegte. Er hörte, wie sie die Kommode aufschloß. – Wahrscheinlich ist es die oberste Schublade – überlegte er sich. – Die Schlüssel trägt sie also in der rechten Tasche ... Alle Schlüssel sind an einem Stahlring vereinigt ... Darunter ist ein Schlüssel, der dreimal so groß ist als die anderen, mit einem zackigen Bart, – der ist natürlich nicht von der Kommode ... Also hat sie noch irgendeine Schatulle oder Truhe ... Das ist sehr interessant. Truhen haben oft solche Schlüssel ... Übrigens, wie gemein ist dies alles ...
Die Alte kam zurück.
»Hier, Väterchen: wenn ich Ihnen zehn Kopeken pro Rubel im Monat berechne, so schulden Sie mir für die anderthalb Rubel fünfzehn Kopeken für den Monat im voraus. Für die zwei früheren Rubel schulden Sie mir nach der gleichen Rechnung zwanzig Kopeken im voraus. Im ganzen also fünfunddreißig. Für Ihre Uhr bekommen Sie jetzt im ganzen einen Rubel und fünfzehn Kopeken. Hier ist das Geld.«
»Wie! Ich bekomme also nur einen Rubel und fünfzehn Kopeken?«
»Sehr richtig!«
Der junge Mann wollte nicht streiten und nahm das Geld. Er blickte die Alte an und beeilte sich nicht, wegzugehen, als wollte er noch irgend etwas sagen oder tun; doch was, – das wußte er anscheinend selbst nicht ...
»Vielleicht bringe ich Ihnen, Aljona Iwanowna, noch einen Gegenstand ... einen silbernen ... einen guten ... ein Zigarettenetui ... sobald ich es von einem Freunde zurückbekomme ...« Er wurde verlegen und verstummte.
»Nun, dann werden wir darüber reden, Väterchen.«
»Leben Sie wohl ... Sie sitzen aber immer allein zu Hause, Ihre Schwester ist nicht da?« fragte er so ungezwungen, wie er nur konnte, während er ins Vorzimmer trat.
»Was geht sie Sie an, Väterchen?«
»Es ist nichts Besonderes, ich habe nur so gefragt. Sie aber machen sich gleich Gedanken ... Leben Sie wohl, Aljona Iwanowna!«
Raskolnikow verließ ihre Wohnung völlig verwirrt. Seine Verwirrung wurde immer größer. Während er die Treppe hinunterging, blieb er sogar einigemal wie durch etwas erschüttert stehen. Schließlich, schon auf der Straße, rief er aus:
»Mein Gott! Wie abscheulich! Und werde ich denn, werde ich denn ... nein, eine Unmöglichkeit!« fügte er entschlossen hinzu. »Konnte mir denn so ein Wahnsinn einfallen? Zu welchem Schmutz ist aber mein Herz fähig! Vor allen Dingen ist es schmutzig, ekelhaft, häßlich, häßlich! ... Und ich habe einen ganzen Monat ...«
Er konnte aber seine Erregung weder durch Worte noch durch Ausrufe ausdrücken. Das Gefühl eines grenzenlosen Ekels, das sein Herz, schon als er zu der Alten ging, zu bedrücken und zu trüben angefangen hatte, erreichte jetzt ein solches Maß und kam ihm so deutlich zum Bewußtsein, daß er gar nicht wußte, wohin sich vor dieser Qual zu retten. Er ging über das Trottoir wie ein Betrunkener, ohne die Vorübergehenden zu bemerken, zuweilen mit ihnen zusammenstoßend, und kam erst in der nächsten Straße zur Besinnung. Er sah sich um und stellte fest, daß er sich vor einer Schenke befand, zu der vom Trottoir eine Treppe wie in einen Keller führte. Aus der Tür traten eben zwei Betrunkene; sich gegenseitig stützend und beschimpfend, traten sie auf die Straße. Ohne lange nachzudenken, stieg Raskolnikow schnell hinab. Bisher war er noch nie in einer Schenke gewesen, doch jetzt schwindelte ihm der Kopf, und ein brennender Durst peinigte ihn. Er wollte kaltes Bier trinken, um so mehr, als er seine plötzliche Schwäche damit erklärte, daß er nichts im Magen hatte. Er setzte sich in eine dunkle und schmutzige Ecke, an einen klebrigen Tisch, ließ sich Bier geben und trank mit Gier das erste Glas. Sofort fühlte er eine Erleichterung, und seine Gedanken klärten sich. – Das alles ist Unsinn – sagte er sich voller Zuversicht –, und ich brauche nicht den Mut zu verlieren! Es ist einfach eine körperliche Zerrüttung. Ein einziges Glas Bier, ein Stück Zwieback, – und im Nu ist der Geist wieder stark, die Gedanken sind klar und die Absichten bestimmt! Pfui, wie nichtig und lächerlich ist doch das alles! ... Aber trotz dieses verächtlichen Ausspuckens sah er schon so lustig aus, als hätte er sich plötzlich von einer fürchterlichen Last befreit, und blickte die Anwesenden wohlwollend an. Doch selbst in diesem Augenblick hatte er das dunkle Gefühl, daß auch diese Empfänglichkeit für das Bessere krankhaft sei.
In der Schenke waren um diese Stunde wenige Menschen versammelt. Nach den beiden Betrunkenen, denen er auf der Treppe begegnet war, hatte eine ganze Gesellschaft von fünf Mann mit einer Dirne und einer Ziehharmonika die Schenke verlassen. Als sie gegangen waren, wurde es gleich still und geräumig. Es waren noch geblieben: ein etwas angeheiterter Mann, der hinter einer Flasche Bier saß, dem Aussehen nach ein Kleinbürger; sein Freund, ein dicker, großer Mann, in einem langen Überrock, mit grauem Bart, der ordentlich betrunken war, auf einer Bank duselte und ab und zu plötzlich wie im Schlafe mit den Fingern zu schnalzen anfing, wobei er die Arme spreizte, mit dem Oberkörper, ohne von der Bank aufzustehen, wackelte und dazu irgendeinen Unsinn sang, wobei er sich auf den Text zu besinnen versuchte, der beiläufig so lautete:
»Hab ein Jahr mein Weib geliebt,
Ha-ab ein Ja-ahr mein Weib geliebt ...«
Oder er erwachte plötzlich und begann:
»Durch die Stadt bin ich gegangen.
Hab die erste eingefangen ...«
Niemand teilte aber sein Glück; sein schweigsamer Freund sah allen diesen Ausdrücken sogar feindselig und argwöhnisch zu. Es war noch ein Mann da, der wie ein verabschiedeter Beamter aussah. Er saß abseits allein vor seiner Flasche, trank ab und zu einen Schluck und blickte um sich. Auch er schien in einer gewissen Aufregung zu sein.
Raskolnikow war an den Aufenthalt unter vielen Menschen nicht gewöhnt und mied, besonders in der letzten Zeit, jede Gesellschaft. Jetzt aber fühlte er sich zu den Menschen hingezogen. In ihm ging anscheinend eine Veränderung vor, und gleichzeitig fühlte er ein starkes Bedürfnis nach Gesellschaft. Er war nach diesem Monat gespannter Qual und düsterer Erregung so sehr müde, daß er wenigstens eine Minute lang in einer anderen Welt aufatmen wollte, ganz gleich, in was für einer Welt, – und er blieb, trotz des ganzen Schmutzes der Umgebung, mit Vergnügen in der Schenke.
Der Besitzer des Lokals befand sich in einem anderen Zimmer, kam aber oft in das Hauptzimmer, in das er einige Stufen hinabstieg, wobei sich immer erst seine eleganten Schmierstiefeln mit rotem Besatz zeigten. Er trug einen ärmellosen Rock und eine furchtbar fettige, schwarze Atlasweste, hatte keine Halsbinde an, und sein Gesicht schien wie ein eisernes Schloß mit Öl eingeschmiert zu sein. Hinter dem Schenktisch stand ein etwa vierzehnjähriger Junge; es war auch noch ein anderer, etwas jüngerer Junge da, der den Gästen das Verlangte brachte. Auf dem Schenktische lagen kleingehackte Gurken, schwarzer Zwieback und in Stücke geschnittene Fische; dies alles roch sehr schlecht. Die Luft war so dumpf, daß es beinahe unerträglich war, in dem Raume zu sitzen, und alles war dermaßen von Branntweingeruch durchdrungen, daß man von dieser Luft allein in fünf Minuten betrunken werden konnte.
Zuweilen begegnen wir sogar uns völlig unbekannten Menschen, für die wir uns gleich auf den ersten Blick, ganz plötzlich, noch ehe wir mit ihnen ein Wort gesprochen haben, zu interessieren anfangen. Einen solchen Eindruck machte auf Raskolnikow der Gast, welcher abseits saß und wie ein verabschiedeter Beamter aussah. Der junge Mann erinnerte sich später einige Male dieses ersten Eindrucks und schrieb ihn sogar einer Vorahnung zu. Er blickte unausgesetzt den Beamten an, natürlich auch aus dem Grunde, weil jener ihn ebenfalls unverwandt ansah und mit ihm sogar wohl ein Gespräch beginnen wollte. Die übrigen Leute, die sich in der Schenke befanden, den Wirt nicht ausgenommen, sah der Beamte mit gewohnten Blicken gelangweilt an, zugleich mit einem Anfluge einer gewissen hochmütigen Geringschätzung, wie Menschen von niedriger Stellung und Bildung, mit denen er doch gar nicht sprechen konnte. Es war ein Mann von über fünfzig Jahren, von mittlerer Größe und gedrungenem Körper, mit graumelierten Haaren und einer großen Glatze, mit einem vom Trinken aufgedunsenen, gelben, sogar grünlichen Gesicht und angeschwollenen Lidern, unter denen kleine, doch begeisterte, rötliche Schlitzäuglein hervorlugten. Es war aber etwas Seltsames an ihm; aus seinen Augen leuchtete sogar etwas wie Begeisterung – vielleicht auch Geist und Verstand –, aber zugleich lag in ihnen auch etwas wie Wahnsinn. Er war mit einem alten, vollkommen zerrissenen Frack ohne Knöpfe bekleidet. Ein einziger Knopf war noch irgendwie erhalten, und mit diesem knöpfte er den Frack zu, da er offenbar den Anstand nicht ganz aufgeben wollte. Unter der Nankingweste steckte ein zerknittertes, verschmiertes und beflecktes Vorhemd. Das Gesicht war nach Beamtenart glattrasiert, doch schon vor längerer Zeit, so daß überall bläuliche Stoppeln hervortraten. Auch in seinen Manieren lag etwas Solides und Beamtenartiges. Aber er war in großer Unruhe, er zerzauste sich die Haare und stützte zuweilen den Kopf wie vor Schmerz in beide Hände, wobei er die durchgewetzten Ellenbogen auf den begossenen, klebrigen Tisch legte. Schließlich blickte er Raskolnikow gerade ins Gesicht und sagte laut und sicher:
»Darf ich es wagen, mein sehr verehrter Herr, mich an Sie mit einem anständigen Gespräch zu wenden? Denn obwohl Ihr Aussehen unbedeutend ist, erkennt meine Erfahrung in Ihnen einen gebildeten und ans Trinken nicht gewöhnten Menschen. Ich habe die Bildung, die sich mit herzlichen Gefühlen paart, stets geschätzt, und außerdem stehe ich im Range eines Titularrates. Marmeladow – so ist mein Name, Titularrat. Darf ich fragen, ob Sie im Staatsdienst gewesen sind?«
»Nein, ich studiere ...« antwortete der junge Mann, etwas erstaunt, wie über den eigentümlichen, hochtrabenden Stil dieser Ansprache, so auch darüber, daß der Mann sich so unvermittelt an ihn wandte. Obwohl er erst eben den Wunsch nach irgendeiner Gemeinschaft mit Menschen gehabt hatte, empfand er bei den ersten, wirklich an ihn gerichteten Worten seine gewohnte, unangenehme und gereizte Scheu vor jeder fremden Person, die mit ihm in Berührung kam oder bloß in Berührung kommen wollte.
»Also Student, oder gewesener Student!« rief der Beamte aus. »Das dachte ich mir auch! Es ist die Erfahrung, geehrter Herr, die langjährige Erfahrung!« Wie um sich selbst zu loben, führte er den Finger an die Stirn. »Sie waren Student oder haben sich sonstwie mit den Wissenschaften abgegeben! Aber gestatten Sie ...«
Er erhob sich schwankend, nahm seine Flasche und sein Glas und setzte sich zu dem jungen Mann, ihm etwas schräg gegenüber. Er war angetrunken, sprach aber beredt und gewandt und kam nur hie und da aus dem Konzept oder zog die Sätze allzusehr in die Länge. Er fiel über Raskolnikow mit einer gewissen Gier her, als hätte auch er einen ganzen Monat mit niemand gesprochen.
»Verehrter Herr«, begann er fast feierlich. »Armut ist kein Laster, das steht fest. Ich weiß auch, daß der Trunk keine Tugend ist, und das steht noch mehr fest. Doch die äußerste Armut, mein Herr, ist wohl ein Laster. In der gewöhnlichen Armut bewahrt man noch den Adel der angeborenen Gefühle; aber in der äußersten Armut – niemals. Für eine solche Armut wird man aus der menschlichen Gesellschaft nicht mal mit einem Stocke gejagt, sondern mit dem Besen hinausgefegt, damit es beleidigender sei; und das ist auch gerecht, denn in der äußersten Armut bin ich als erster bereit, mich selber zu beleidigen. Davon kommt auch das Trinken! Verehrter Herr, vor einem Monat hat der Herr Lebesjatnikow meine Gattin verprügelt, und meine Gattin ist doch etwas ganz anderes als ich! Verstehen Sie das? Gestatten Sie die Frage, und wenn auch aus purer Neugier. Haben Sie schon auf der Newa in den Heubarken übernachtet?«
»Nein, ich hatte noch nicht die Gelegenheit,« antwortete Raskolnikow. »Was ist denn das?«
»Nun, ich komme von dort, schon die fünfte Nacht ...«
Er schenkte sich ein Gläschen ein, trank es aus und wurde nachdenklich. An seinen Kleidern und selbst in den Haaren sah man hie und da hängengebliebene Heuhalme. Es war sehr wahrscheinlich, daß er sich seit den fünf Tagen weder ausgekleidet noch gewaschen hatte. Besonders schmutzig waren seine fettigen, roten Hände mit den schwarzen Nägeln.
Sein Gespräch schien eine allgemeine, wenn auch träge Aufmerksamkeit erregt zu haben. Die beiden Jungen hinter dem Schenktische begannen zu kichern. Der Wirt war wohl absichtlich aus dem oberen Zimmer gekommen, um den »lustigen Kerl« zu hören, er setzte sich abseits und gähnte träge, doch selbstbewußt. Marmeladow war hier offenbar bekannt. Auch seine Neigung für hochtrabende Redensarten hatte er sich wohl durch die Gewohnheit, in den Schenken mit Unbekannten zu sprechen, angeeignet. Diese Gewohnheit wird bei vielen Trinkern zu einem Bedürfnis, besonders bei solchen, die zu Hause streng behandelt werden und sich alles gefallen lassen müssen. Darum bemühen sie sich immer, in der Gesellschaft von Betrunkenen eine Rechtfertigung und, wenn möglich, auch Achtung zu gewinnen.
»Ein komischer Kerl«, sagte der Wirt laut. »Warum arbeitest du aber nicht, warum sind Sie nicht im Dienst, wenn Sie Beamter sind?«
»Warum ich nicht im Dienste bin, verehrter Herr?« fiel ihm Marmeladow ins Wort, sich ausschließlich an Raskolnikow wendend, als hätte dieser die Frage gestellt. »Warum ich nicht im Dienste bin? Tut mir denn nicht das Herz weh, daß ich mich müßig herumtreibe? Als Herr Lebesjatnikow vor einem Monat eigenhändig meine Gattin verprügelte, tat mir das nicht weh? Gestatten Sie, junger Mann, ist es Ihnen schon passiert ... hm ... nun, jemand hoffnungslos um eine Anleihe zu bitten?«
»Das ist mir schon passiert ... das heißt, was verstehen Sie unter hoffnungslos?«
»Das heißt völlig hoffnungslos, schon im voraus davon überzeugt, daß nichts daraus wird. Sie wissen zum Beispiel im voraus und ganz sicher, daß dieser Herr, dieser äußerst wohlgesinnte und äußerst nützliche Bürger Ihnen für nichts in der Welt Geld geben wird, denn ich frage Sie, warum soll er mir welches geben? Er weiß doch, daß ich es nicht zurückgeben werde. Aus Mitleid? Herr Lebesjatnikow, der die neuen Ideen verfolgt, hat neulich erklärt, daß das Mitleid in unserer Zeit von der Wissenschaft verboten sei und daß man sich in England, wo es die politische Ökonomie gibt, schon danach richte. Warum also, frage ich Sie, soll er geben? Und nun, trotzdem Sie im voraus wissen, daß er nichts geben wird, machen Sie sich dennoch auf den Weg und ...«
»Warum soll man denn hingehen?« warf Raskolnikow ein.
»Wenn man aber sonst keinen Menschen und keinen Ort weiß, um hinzugehen? Jeder Mensch muß doch einmal irgendwo hingehen können! Denn es gibt Zeiten, wo man unbedingt irgendwo hingehen muß? Als meine einzige Tochter zum ersten Male mit einem gelben Paß ausging, so ging ich auch ... (denn meine Tochter lebt mit einem gelben Paß ...)« fügte er in Klammern hinzu und blickte den jungen Mann mit einiger Unruhe an. »Macht nichts, verehrter Herr, macht nichts!« beeilte er sich sofort und anscheinend ruhig zu erklären, als die beiden Jungen hinter dem Schenktische zu lachen anfingen und auch der Wirt selbst lächelte. »Macht nichts! Dieses Kopfschütteln bringt mich nicht in Verlegenheit, denn alles ist allen bekannt, und alles Verborgene wird offenbar; ich trage es auch nicht mit Verachtung, sondern mit Demut. Sollen sie nur! ›Sehet, welch ein Mensch!‹ Erlauben Sie, junger Mann: können Sie ... Aber nein, ich will es stärker und eindringlicher aussprechen: nicht können Sie, sondern wagen Sie, wenn Sie mich jetzt anblicken, positiv zu erklären, daß ich kein Schwein bin?«
Der junge Mann erwiderte kein Wort.
»Nun«, fuhr der Redner solid und sogar mit gehobenem Selbstbewußtsein fort, nachdem er abgewartet hatte, daß das Kichern im Zimmer verstumme. »Nun, mag ich ein Schwein, mag sie eine Dame sein. Ich habe die Gestalt eines Tieres, aber Katerina Iwanowna, meine Gattin, ist eine gebildete Person und eine geborene Stabsoffizierstochter. Mag ich ein Schuft sein, mag sie von Großmut und von Gefühlen, die durch die Erziehung veredelt sind, erfüllt sein. Und doch ... oh, wenn sie mit mir doch Mitleid hätte! Sehr verehrter Herr, sehr verehrter Herr, jeder Mensch müßte doch einen Ort haben, wo man mit ihm Mitleid hätte! Katerina Iwanowna ist aber wohl eine großmütige, doch ungerechte Dame. Und obwohl ich auch selbst einsehe, daß sie, wenn sie mich an den Haaren herumzerrt, es doch nur aus herzlichem Mitleid tut, denn sie zerrt mich, ich wiederhole es ohne Scham, an den Haaren herum, junger Mann!« – (versicherte er mit unterstrichener Würde, als er wieder ein Kichern hörte) »aber, mein Gott, hätte sie doch nur ein einziges Mal ... Doch nein! Nein! Das ist umsonst! Ich brauche davon gar nicht zu reden! ... Denn was ich mir ersehne, wurde mir schon mehr als einmal zuteil, ich wurde schon mehr als einmal bemitleidet, doch ... das ist schon einmal eine Eigenschaft von mir, ich aber bin ein geborenes Vieh!«
»Und ob!« bemerkte gähnend der Wirt.
Marmeladow schlug energisch mit der Faust auf den Tisch.
»Das ist mal eine Eigenschaft von mir! Wissen Sie, wissen Sie, mein Herr, daß ich auch ihre Strümpfe vertrunken habe? Nicht die Schuhe, was doch einigermaßen natürlich wäre, aber die Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich vertrunken! Auch ihr Tuch aus Ziegenwolle habe ich vertrunken, das sie mal früher geschenkt bekommen hat, es war ihr Eigentum und nicht meines; wir wohnen aber in einem kalten Loch, und sie hat sich im letzten Winter erkältet und zu husten angefangen, jetzt schon mit Blut. Wir haben aber drei kleine Kinder, und Katerina Iwanowna arbeitet von früh bis spät, wäscht und scheuert, hält auch die Kinder rein, denn sie ist von Kind auf an Reinlichkeit gewöhnt; dabei hat sie aber eine schwache Brust, die zur Schwindsucht neigt, und ich fühle das! Fühle ich es denn nicht? Und je mehr ich trinke, um so mehr fühle ich es. Darum trinke ich auch, weil ich im Trunke Mitleid und Gefühle suche ... Ich trinke, weil ich doppelt leiden möchte!«
Und er legte seinen Kopf wie in Verzweiflung auf den Tisch.
»Junger Mann,« fuhr er fort, sich wieder aufrichtend, »in Ihrem Gesicht lese ich einen gewissen Gram. Gleich, als Sie eintraten, las ich ihn, und darum wandte ich mich auch an Sie. Denn ich erzähle Ihnen meine Lebensgeschichte nicht, um den müßigen Menschen, die schon alles auch ohnehin wissen, ein schändliches Schauspiel zu liefern, sondern, weil ich einen gefühlvollen und gebildeten Menschen suche. Sie sollen also wissen, daß meine Gattin in einem vornehmen adligen Gouvernementspensionat erzogen worden ist und bei der Abschiedsfeier mit dem Schal vor dem Gouverneur und sonstigen Persönlichkeiten getanzt hat, wofür sie eine goldene Medaille und ein lobendes Attest erhielt. Die Medaille ... ja, die Medaille haben wir längst verkauft ... hm ... das lobende Attest hat sie aber auch jetzt noch im Koffer liegen und hat es erst vor kurzem unserer Wirtin gezeigt. Obwohl sie sich mit dieser Wirtin ständig herumzankt, wollte sie dennoch vor jemand prahlen und von den vergangenen glücklichen Tagen berichten. Ich verurteile sie nicht, ich verurteile sie nicht, weil ihr nur dieses Letzte in den Erinnerungen geblieben, alles andere aber zugrunde gegangen ist! Ja, ja, sie ist eine hitzige, stolze und unbeugsame Dame. Sie scheuert selbst den Fußboden und lebt von Schwarzbrot, wird aber eine Mißachtung ihrer Person nicht dulden. Darum wollte sie sich auch Herrn Lebesjatnikows Grobheit nicht gefallen lassen, und als er sie verprügelte, wurde sie weniger der Schläge als der verletzten Gefühle wegen krank. Ich heiratete sie als Witwe mit drei Kindern, eines kleiner als das andere. Ihren ersten Mann, einen Infanterieoffizier, hatte sie aus Liebe geheiratet und war mit ihm aus dem Elternhause geflohen. Ihren Mann liebte sie über die Maßen, er gab sich aber dem Kartenspiel hin, kam vors Gericht und starb. In der allerletzten Zeit hatte er sie auch geschlagen; sie ließ es sich zwar nicht gefallen, was mir ganz sicher und aus Urkunden bekannt ist, gedenkt seiner aber auch jetzt noch mit Tränen und stellt ihn mir als Muster hin, und ich bin froh, ich bin froh, weil sie wenigstens in der Phantasie glaubt, daß sie einst glücklich gewesen sei ... Er ließ sie als Witwe, mit drei kleinen Kindern, in einem fernen und wilden Landkreise, in dem ich mich damals aufhielt, zurück, in einer so hoffnungslosen Armut, die ich, obwohl ich schon manches gesehen habe, gar nicht beschreiben kann. Auch ihre Verwandten hatten sie verstoßen. Sie war aber stolz, viel zu stolz ... Und dann bot ich ihr, sehr geehrter Herr, der ich auch ein Witwer war und eine vierzehnjährige Tochter von meiner ersten Frau hatte, meine Hand an, da ich solche Qual nicht mitansehen konnte. Auf welche Stufe von Not sie herabgesunken war, können Sie daraus ersehen, daß sie, die gebildet und wohlerzogen war und aus einer bekannten Familie stammte, sich bereit erklärte, mich zu heiraten. Ja, sie heiratete mich! Weinend, schluchzend und händeringend heiratete sie mich! Denn sie konnte sonst nirgends hin. Verstehen Sie es, verstehen Sie es, verehrter Herr, was es heißt, wenn man nirgends mehr hin kann? Nein! Das verstehen Sie noch nicht ... Und ich erfüllte meine Pflichten ein ganzes Jahr fromm und heilig und rührte dieses (er wies mit dem Finger auf die Schnapsflasche) nicht an, denn ich habe Gefühl. Aber auch damit stellte ich sie nicht zufrieden; und da verlor ich auch noch meine Stelle, und zwar nicht durch eigene Schuld, sondern wegen einer Änderung im Etat; und nun erst griff ich danach! ... Es sind schon anderthalb Jahre, seit wir, nach Irrfahrten und vielen Schicksalsschlägen, endlich in diese großartige und mit zahlreichen Denkmälern geschmückte Residenzstadt geraten sind. Und hier bekam ich einen Posten ... Ich bekam ihn und verlor ihn gleich wieder. Verstehen Sie das? Diesmal verlor ich ihn aus eigener Schuld, denn ich hatte den Strich erreicht ... Jetzt bewohnen wir ein halbes Zimmer bei der Wirtin Amalie Fjodorowna Lippewechsel; wovon wir aber leben und womit wir bezahlen, das weiß ich nicht. Viele andere Leute wohnen dort außer uns ... Es geht dort furchtbar zu, ein wahres Sodom ... hm! ... ja ... Indessen ist meine Tochter aus erster Ehe herangewachsen, und was sie, meine Tochter, als sie heranwuchs, von ihrer Stiefmutter alles auszustehen hatte, das verschweige ich. Denn Katerina Iwanowna ist zwar von großmütigen Gefühlen erfüllt, aber eine hitzige und gereizte Dame, sehr streng, und läßt einen gar nicht zu Worte kommen ... Jawohl! Nun, ich will davon lieber nicht sprechen! Eine Erziehung hat meine Ssonja, wie Sie sich wohl denken können, nicht genossen. Vor vier Jahren versuchte ich einmal, sie in Geographie und Weltgeschichte zu unterrichten; da ich aber in diesen Dingen nicht gut beschlagen bin und auch keine ordentlichen Lehrbücher hatte, denn die Bücher, die vorhanden waren ... hm! sie sind jetzt nicht mehr da, diese Bücher, – so endigte damit der ganze Unterricht. Beim Cyrus von Persien blieben wir stehen. Später, als sie schon erwachsen war, las sie einige Romane, und vor kurzem bekam sie durch Vermittlung des Herrn Lebesjatnikow das Buch ›Physiologie‹ von Lewes – kennen Sie es? – sie las es mit großem Interesse und teilte auch uns einige Bruchstücke daraus mit: das ist ihre ganze Bildung. Nun wende ich mich an Sie, verehrter Herr, mit einer privaten Frage: wieviel kann nach Ihrer Meinung ein armes, doch ehrliches junges Mädchen durch ehrliche Arbeit verdienen? ... Sie verdient keine fünfzehn Kopeken im Tag, verehrter Herr, wenn sie ehrlich ist und über keine besonderen Talente verfügt, und auch das nur, wenn sie unermüdlich arbeitet! Und da hat ihr noch der Staatsrat Klopstock, Iwan Iwanowitsch – haben Sie von ihm nichts gehört? – nicht nur das Geld für das Nähen von einem halben Dutzend holländischer Hemden bis heute nicht bezahlt, sondern sie auch noch unter Beleidigungen hinausgeworfen, indem er mit den Füßen trampelte und sie mit einem unanständigen Worte beschimpfte, unter dem Vorwande, daß der Hemdkragen nicht nach Maß und schief genäht sei. Meine Kinder sind aber hungrig ... Und Katerina Iwanowna geht händeringend im Zimmer auf und ab und hat rote Flecken auf den Wangen, was bei dieser Krankheit immer der Fall ist. ›Du lebst,‹ sagte sie, ›du Müßiggängerin, bei uns, ißt und trinkst und hast es warm‹; was ist das aber für ein Essen und Trinken, wenn selbst die kleinen Kinder oft drei Tage lang keine Brotrinde zu sehen bekommen! Ich aber lag damals ... ach, was soll ich viel reden! – ich lag betrunken da und hörte meine Ssonja sagen (sie ist sonst schweigsam und hat ein so sanftes Stimmchen ... blond ist sie, das Gesichtchen immer bleich und mager), ich hörte sie sagen: ›Wie, Katerina Iwanowna, soll ich auf eine solche Sache eingehen?‹ Darja Franzewna, ein übles und der Polizei gut bekanntes Frauenzimmer hat sich aber schon an die dreimal durch die Wirtin erkundigt. ›Warum nicht?‹ antwortet Katerina Iwanowna zum Spott: ›Was sollst du es hüten? So eine Kostbarkeit!‹ Sie dürfen sie aber nicht anklagen, mein Herr, nein, nicht anklagen! Dies war nicht bei gesundem Verstand gesagt worden, sondern in Erregung aller Gefühle und angesichts der kranken und weinenden Kinder, die nichts gegessen haben, und auch mehr in beleidigender Absicht, als im genauen Sinne des Wortes ... Denn Katerina Iwanowna hat mal einen solchen Charakter, und wenn die Kinder zu weinen anfangen, und sei es auch nur aus Hunger, fängt sie sie gleich zu schlagen an. So sehe ich, wie Ssonjetschka so gegen sechs Uhr abends aufsteht, ihr Tüchlein umnimmt, das Mäntelchen anzieht und die Wohnung verläßt und in der neunten Stunde wieder heimkommt. Sie kam heim, ging gleich auf Katerina Iwanowna zu und legte vor ihr schweigend dreißig Rubel auf den Tisch. Kein Wörtchen sprach sie dabei, sah sie nicht mal an, sondern nahm nur unser großes grünes Drap-de-dames-Tuch (wir haben so ein gemeinsames Drap-de-dames-Tuch), bedeckte damit ganz den Kopf und das Gesicht und legte sich aufs Bett mit dem Gesicht zu der Wand, bloß die Schultern und der ganze Körper zitterten. Ich aber lag noch im gleichen Zustande wie früher ... Und da sah ich, junger Mann, da sah ich, wie Katerina Iwanowna, auch ohne ein Wort zu sagen, an Ssonetschkas Bettchen herantrat und den ganzen Abend zu ihren Füßen kniete und ihr die Füße küßte und nicht aufstehen wollte, und dann schliefen sie beide zusammen ein, umschlungen ... beide ... beide ... jawohl ... und ich ... ich lag betrunken da.«
Marmeladow verstummte, als versagte ihm die Stimme. Dann schenkte er sich plötzlich ein Gläschen ein, trank es aus und räusperte sich.
»Seit jener Zeit, mein Herr,« fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »seit jener Zeit wurde meine Tochter, Ssonja Ssemjonowna, infolge eines unglücklichen Umstandes und auf Anzeige übelwollender Menschen, wozu Darja Franzewna besonders viel beitrug, weil man ihr angeblich nicht die gebührende Achtung erwiesen hatte, – gezwungen, einen gelben Paß zu nehmen und konnte infolgedessen nicht mehr bei uns bleiben. Denn auch unsere Wirtin, Amalie Fjodorowna wollte es nicht zulassen (vorher hatte sie aber die Darja Franzewna bei ihren Bemühungen unterstützt), und auch der Herr Lebesjatnikow ... hm! ... Nun, der Ssonja wegen kam es eben zu dieser Geschichte zwischen ihm und Katerina Iwanowna. Anfangs hatte er sich selbst um Ssonetschka beworben, plötzlich stieg er aber aufs hohe Roß: ›Wie kann ich, ein gebildeter Mensch, in der gleichen Wohnung mit so einer leben?‹ Katerina Iwanowna wollte es sich aber nicht bieten lassen und trat für Ssonja ein ... So kam die Geschichte ... Ssonjetschka besucht uns aber meistens in der Abenddämmerung, sie hilft Katerina Iwanowna und unterstützt uns nach Kräften mit Geldmitteln ... Sie wohnt beim Schneider Kapernaumow, mietete bei ihm ein Zimmer; dieser Kapernaumow ist aber lahm und stottert, und auch seine ganze zahlreiche Familie stottert. Auch seine Frau stottert. Sie wohnen alle in einem Zimmer, Ssonja hat aber ihr eigenes Zimmer mit einem Alkoven ... Hm! ... ja ... Es sind bettelarme Menschen und stottern alle ... ja ... Also ich stand damals am Morgen auf, zog meine Lumpen an, hob beide Arme gen Himmel und begab mich zu Seiner Exzellenz Iwan Afanassjewitsch. Geruhen Sie Seine Exzellenz Iwan Afanassjewitsch zu kennen? ... Nein? Nun, dann kennen Sie einen göttlichen Mann nicht! Er ist ein Stück Wachs ... Wachs vor dem Antlitz des Herrn; er schmilzt wie Wachs! ... Es traten ihm sogar einige Tränen in die Augen, als er mich anzuhören geruhte. ›Nun,‹ sagte er, ›Marmeladow, du hast schon einmal meine Hoffnungen getäuscht ... Ich stelle dich aber wieder an, auf meine persönliche Verantwortung‹, so sagte er mir. ›Merk es dir und geh!‹ Ich küßte den Staub seiner Füße, in Gedanken natürlich, denn in Wirklichkeit hätte er es mir gar nicht erlaubt, denn er ist doch ein hoher Würdenträger und von der neuen politischen und gebildeten Gesinnung; ich kam nach Hause, und als ich erklärte, daß ich wieder einen Posten habe und Gehalt bekommen werde – mein Gott, was gab es da ...«
Marmeladow hielt wieder in großer Erregung inne. In diesem Augenblick kam von der Straße ein ganzer Trupp schon ohnehin betrunkener Säufer, und vor dem Eingange ertönten die Klänge eines von ihnen gemieteten Leierkastens und die gleichsam gesprungene Stimme eines siebenjährigen Kindes, das einen Gassenhauer sang. Es gab großen Lärm. Der Wirt und die Bedienung widmeten sich den neuen Gästen. Marmeladow schenkte ihnen keine Beachtung und fuhr in seiner Erzählung fort. Er schien sehr schwach, doch je mehr er trank, um so redseliger wurde er. Die Erinnerungen an den Erfolg, den er neulich im Dienste gehabt hatte, belebten ihn gleichsam und spiegelten sich sogar in seinem Gesichte wie ein Leuchten. Raskolnikow hörte ihm aufmerksam zu.
»Das war aber, mein Herr, vor fünf Wochen ... Ja ... Kaum hatten beide, Katerina Iwanowna und Ssonjetschka, es erfahren, da war es mir, mein Gott! – wie wenn ich ins Himmelreich geraten wäre. Früher konnte ich wie ein Vieh daliegen und bekam nichts als Schimpfworte zu hören. Aber jetzt: sie gehen auf den Fußspitzen und rufen die Kinder zur Ruhe. ›Ssemjon Sacharytsch ist im Dienste müde geworden und ruht aus ... Pst!‹ Kaffee gaben sie mir, wenn ich morgens in den Dienst gehe, und kochten Sahne für mich! Richtige Sahne kauften sie für mich, hören Sie?! Und wo sie nur die elf Rubel fünfzig Kopeken für eine anständige Equipierung hergenommen haben? Das weiß ich wirklich nicht! Stiefel, ein prachtvolles Kattunvorhemd, ein Uniformfrack – dies alles richteten sie in vorzüglicher Qualität für elf Rubel fünfzig Kopeken her. Wie ich am ersten Tage des Morgens vom Dienste herkomme, sehe ich: Katerina Iwanowna hat zwei Gerichte gekocht, eine Suppe und Pökelfleisch mit Meerrettich, wovon wir früher keinen Begriff hatten. Sie hat nichts anzuziehen, aber wirklich gar nichts, diesmal aber putzte sie sich aus, als wollte sie Besuche machen; und dabei hatte sie nichts Besonderes an, sie verstand es nur, aus nichts alles zu machen: sie frisiert sich, tut einen sauberen Kragen und Manschetten an, und gleich ist sie ein ganz anderer Mensch, jünger und hübscher. Ssonjetschka, mein Täubchen, hatte nur Geld beigesteuert, doch sie selbst, sagt sie, kann uns jetzt noch nicht besuchen, höchstens in der Abenddämmerung, daß es niemand sieht. Hören Sie es, hören Sie es? Wie ich am Nachmittag komme und etwas schlafen will, was denken Sie sich wohl? – Katerina Iwanowna konnte es sich doch nicht versagen: vor einer Woche noch hatte sie mit der Wirtin Amalie Fjodorowna einen großen Krach gehabt, aber diesmal lud sie sie zu einer Tasse Kaffee ein. Zwei Stunden saß sie mit ihr und flüsterte fortwährend: ›Ssemjon Sacharowitsch‹, sagte sie, ›ist jetzt im Dienste und bekommt Gehalt, und er ist selbst zu Seiner Exzellenz gegangen, und Seine Exzellenz kam selbst heraus, ließ alle warten und führte Ssemjon Sacharytsch an allen vorbei zu sich ins Zimmer.‹ Hören Sie, hören Sie? ›Ich erinnere mich,‹ sagte er, ›Ssemjon Sacharytsch, Ihrer Verdienste. Sie haben zwar diese leichtsinnige Schwäche, da Sie mir es aber versprechen und auch weil es ohne Sie bei uns nicht gut ging (hören Sie, hören Sie!), so verlasse ich mich jetzt‹, sagt er, ›auf Ihr Ehrenwort‹ – ich muß Ihnen sagen, das hat sie alles erfunden, doch nicht aus Leichtsinn, um damit zu prahlen. Nein, sie glaubt es alles selbst und erfreut sich an ihrer eigenen Erfindung, bei Gott! Und ich verurteile es nicht, bei Gott, ich verurteile es nicht! Als ich aber vor sechs Tagen mein erstes Gehalt – dreiundzwanzig Rubel und vierzig Kopeken heimbrachte und ihr vollzählig ablieferte, nannte sie mich Schätzchen: ›Mein Schätzchen!‹ sagte sie mir. Und das unter vier Augen, verstehen Sie? Nun, bin ich denn schön, und was bin ich für ein Gatte? Doch nein, sie kniff mich in die Backe und sagte: ›Du, mein Schätzchen!‹«
Marmeladow hielt inne, wollte lächeln, doch sein Kinn begann plötzlich heftig zu zittern. Er beherrschte sich aber. Diese Schenke, sein liederliches Aussehen, die fünf Nächte auf den Heubarken und die Schnapsflasche, zugleich aber diese krankhafte Liebe zur Frau und Familie hatten seinen Zuhörer ganz wirr gemacht. Raskolnikow hörte ihm gespannt, doch mit schmerzvollem Gefühl zu. Er ärgerte sich, daß er hier eingekehrt war.
»Sehr verehrter Herr, sehr verehrter Herr!« rief Marmeladow aus, als er sich wieder zusammengenommen hatte. »Oh, mein Herr, vielleicht kommt Ihnen das alles lächerlich vor, wie den andern, und ich belästige Sie nur mit der Dummheit dieser elenden Einzelheiten meines Lebens, aber mir ist es wirklich nicht zum Lachen! Denn ich kann das alles fühlen! ... Und im Verlauf jenes paradiesischen Tages meines Lebens und des ganzen Abends gab ich mich auch selbst flüchtigen Träumen hin: wie ich wohl alles einrichten und den Kindern Kleider kaufen werde, wie ich ihr selbst die Ruhe gebe und meine einzige Tochter aus der Schmach in den Schoß der Familie zurückbringe ... Und vieles, vieles andere ... Das durfte ich wohl, mein Herr! Und nun, mein Herr (Marmeladow fuhr plötzlich zusammen, hob den Kopf und blickte seinen Zuhörer aufmerksam an), nun, am nächsten Tage nach diesen Träumen – es werden genau fünf Tage her sein –, gegen Abend, stahl ich auf listige Weise, wie ein Dieb in der Nacht, den Schlüssel von ihrem Koffer, nahm alles, was vom mitgebrachten Gehalt noch übrig blieb, wieviel es war, weiß ich nicht mehr, und nun, sehen Sie mich an, jetzt ist es alle! Den fünften Tag bin ich von zu Hause weg, sie suchen mich dort, und auch die Stelle ist hin, und mein Uniformfrack liegt in der Schenke bei der Egyptischen Brücke, und im Tausch dafür habe ich diese Bekleidung erhalten ... und alles ist zu Ende!«
Marmeladow schlug sich mit der Faust vor die Stirn, preßte die Zähne zusammen und stemmte den Ellenbogen fest gegen den Tisch. Doch nach einer Minute schon war sein Gesicht wieder verändert, er blickte Raskolnikow mit gespielter Verschmitztheit und Frechheit an, lachte und sagte:
»Und heute war ich bei Ssonja, habe sie um Geld zu Schnaps, zur Stärkung nach dem letzten Rausch, gebeten! He-he-he!«
»Hat sie's gegeben?« schrie jemand von den Neuangekommenen abseits; er schrie es und fing aus vollem Halse zu lachen an.
»Hier diese halbe Flasche ist für ihr Geld gekauft«, sagte Marmeladow, sich ausschließlich an Raskolnikow wendend. »Dreißig Kopeken gab sie mir, mit eigenen Händen, die letzten, alles, was sie hatte, das hab' ich selbst gesehen ... Sie sagte nichts, sah mich nur schweigend an ... So klagt und weint man über die Menschen nicht hier auf Erden ... sondern dort ... und ohne ein Wort des Vorwurfs, ohne ein Wort des Vorwurfs! Und das tut viel mehr weh, viel mehr weh, wenn man keinen Vorwurf zu hören bekommt! ... Dreißig Kopeken, jawohl. Sie braucht aber das Geld selbst, wie? Was glauben Sie, mein lieber Herr? Sie muß jetzt doch auf Reinlichkeit sehen! Diese Reinlichkeit, diese besondere Reinlichkeit kostet aber Geld, verstehen Sie? Nun, dann muß sie auch mal Pomade kaufen, anders geht es ja nicht; gestärkte Unterröcke muß sie haben, so ein elegantes Schuhchen, um ihr Füßchen zu zeigen, wenn sie über eine Pfütze gehen will. Verstehen Sie, verstehen Sie, mein Herr, was diese Reinlichkeit bedeutet? Nun, und ich, ihr leiblicher Vater, habe ihr diese dreißig Kopeken weggenommen, um mich zu stärken! Und nun trinke ich! Und habe sie schon vertrunken! ... Nun, wer wird mit so einem, wie ich, Mitleid haben? Wie? Tue ich Ihnen jetzt leid, mein Herr, oder nicht? Sag', mein Herr, tue ich dir leid, oder nicht? He-he-he-he!«
Er wollte sich wieder einschenken, aber es war nichts mehr da. Die Flasche war leer.
»Was soll man mit dir Mitleid haben?« rief der Wirt, der plötzlich neben ihnen stand.
Man hörte Lachen und sogar Schimpfen. Alle, die Marmeladow zugehört hatten, und auch solche, die ihm nicht zugehört hatten, lachten und schimpften beim bloßen Anblick des verabschiedeten Beamten.
»Mitleid haben?! Was soll man mit mir Mitleid haben?!« schrie plötzlich Marmeladow, so laut er konnte, mit vorgestrecktem Arm aufstehend, in sichtbarer Begeisterung, als hätte er auf diese Worte nur gewartet. »Was man mit mir Mitleid haben soll, fragst du? Ja! Man soll auch kein Mitleid mit mir haben! Man muß mich kreuzigen, ans Kreuz schlagen, und nicht bemitleiden! Doch kreuzige, Richter, kreuzige ihn, und nachdem du ihn gekreuzigt hast, hab' mit ihm Mitleid! Und dann komme ich selbst zu dir, um mich kreuzigen zu lassen, denn ich suche keine Freude, sondern Schmerz und Tränen! ... Glaubst du vielleicht, du Schnapsverkäufer, daß diese Flasche mir süß war? Trauer, Trauer suchte ich auf ihrem Grunde, Trauer und Tränen, und die habe ich gefunden und gekostet; bemitleiden wird uns aber der, der mit allen Mitleid hatte, der alle und alles verstand. Er ist der Einzige, er ist auch der Richter. Er wird an jenem Tage kommen und fragen: ›Wo ist die Tochter, die sich einer bösen und schwindsüchtigen Stiefmutter und fremden kleinen Kindern zuliebe verkauft hat? Wo ist die Tochter, die mit ihrem irdischen Vater, dem abscheulichen Trunkenbold, ohne vor seiner Tierheit zurückzuschrecken, Mitleid gehabt hat?‹ Und er wird sagen: ›Komm! Ich habe dir schon einmal vergeben ... Ich habe dir einmal vergeben ... Vergeben werden dir auch jetzt deine vielen Sünden, weil du viel geliebet hast ...‹ Und er wird meiner Ssonja vergeben, wird ihr vergeben, ich weiß es, daß er ihr vergeben wird ... Das fühlte ich, als ich neulich bei ihr war, in meinem Herzen! Und er wird alle richten und allen vergeben, den Guten und den Bösen, den Weisen und den Demütigen ... Und wenn er mit allen fertig sein wird, da wird an uns der Ruf ergehen: ›Kommt‹, wird er sagen, ›auch ihr! Kommt, ihr Trunkenen, kommt, ihr Schwachen, kommt, ihr Schamlosen!‹ Und wir werden alle, ohne uns zu schämen, vortreten und uns vor ihn hinstellen. Und er wird sagen: ›Ihr Schweine! Ihr Ebenbilder des Tieres und mit seinem Siegel Gezeichnete! Kommt aber auch ihr!‹ Und die Weisen werden sprechen, und die Klugen werden sagen: ›Herr, warum nimmst du diese auf?‹ Und er wird antworten: ›Darum, ihr Weisen, darum, ihr Klugen, weil keiner von ihnen sich für dessen würdig hielt ...‹ Und er wird seine Hände gegen uns ausstrecken, und wir werden niederfallen ... und weinen ... und alles verstehen! Dann werden wir es verstehen! Und alle werden es verstehen ... auch Katerina Iwanowna wird es verstehen! Herr, dein Reich komme!«
Und er ließ sich, erschöpft und entkräftet, auf die Bank sinken, ohne jemand anzusehen, als hätte er alles, was ihn umgab, vergessen und wäre in Gedanken versunken. Seine Worte machten einigen Eindruck; für eine Weile wurde es still, doch bald ertönte wieder das Lachen und Schimpfen.
»Klug gesprochen!«
»Hat sich verrannt!«
»Ein netter Beamter!«
Und so weiter, und so weiter ...
»Kommen Sie, Herr,« sagte Marmeladow, den Kopf hebend und sich an Raskolnikow wendend, »begleiten Sie mich nach Hause ... Es ist das Koselsche Haus, im Hofe ... Es ist Zeit ... zu Katerina Iwanowna ...«
Raskolnikow wollte schon längst weggehen; auch hatte er schon selbst daran gedacht, Marmeladow zu helfen. Dieser zeigte sich viel schwächer auf den Beinen als im Reden und stützte sich fest auf den jungen Mann. Sie hatten zwei- bis dreihundert Schritte zu gehen. Je mehr sie sich dem Hause näherten, um so mehr bemächtigten sich des Betrunkenen Verwirrung und Angst.
»Ich fürchte jetzt nicht Katerina Iwanowna,« stammelte er erregt, »und auch nicht, daß sie mir die Haare raufen wird. Was sind Haare! ... Die Haare sind Unsinn! ... Das sage ich! Es ist sogar besser, wenn sie sie mir zu raufen anfängt, das fürchte ich nicht ... ich ... fürchte ihre Augen ... ja ... die Augen ... Die roten Flecken an den Wangen fürchte ich auch ... dann fürchte ich noch ihren Atem ... Hast du mal gesehen, wie man bei diesem Leiden atmet ... wenn man erregt ist? Auch das Weinen der Kinder fürchte ich ... Denn, wenn Ssonja ihnen nichts zu essen gebracht hat, so weiß ich gar nicht! Ich weiß nicht! Die Schläge aber fürchte ich nicht ... Wisse, mein Herr, daß diese Schläge mir keinen Schmerz, sondern einen Genuß bedeuten ... Denn ohne dies kann ich selbst nicht auskommen. Es ist besser so. Soll sie mich nur schlagen und ihrem Herzen Luft machen ... es ist besser ... Da ist schon das Haus. Das Koselsche Haus. Kosel ist Schlosser. Ein reicher Deutscher ... Führe mich!«
Sie gingen durch den Hof und stiegen in den dritten Stock. Auf der Treppe wurde es immer dunkler. Es war fast elf Uhr, und obwohl es um diese Jahreszeit in Petersburg keine richtige Nacht gibt, war es oben auf der Treppe sehr dunkel.
Eine kleine verrauchte Tür ganz oben am Ende der Treppe stand offen. Ein Lichtstumpf beleuchtete ein furchtbar armes Zimmer von etwa zehn Schritt Länge; aus dem Flur war alles zu sehen. Alles lag hier durcheinander, besonders verschiedene Kinderlumpen. Die hinterste Ecke war durch ein zerrissenes Laken abgeteilt. Hinter diesem stand wohl das Bett. Im Zimmer selbst befanden sich nur zwei Stühle und ein wachstuchüberzogenes, zerrissenes Sofa, vor dem ein alter ungestrichener und ungedeckter Küchentisch aus Fichtenholz stand. Am Rande des Tisches brannte in einem eisernen Leuchter ein kleiner Talglichtstumpf. Marmeladow wohnte also doch in einem eigenen Zimmer, und nicht in einem »halben«; es war aber ein Durchgangszimmer. Die Tür zu den anderen Räumen oder Käfigen, in die die Wohnung der Amalie Lippewechsel eingeteilt war, stand offen. Dort wurde gelärmt und geschrien. Man lachte. Man spielte wohl auch Karten und trank Tee. Zuweilen tönten von dort recht unschickliche Worte herüber.
Raskolnikow erkannte Katerina Iwanowna auf den ersten Blick. Sie war eine furchtbar abgemagerte Frau, schlank und recht groß mit noch schönem dunkelblondem Haar und tatsächlich mit roten Flecken an den Wangen. Sie ging in ihrem kleinen Zimmer auf und ab, die Hände an die Brust gedrückt, mit vertrockneten Lippen, und atmete nervös und stoßweise. Ihre Augen glänzten wie im Fieber, doch der Blick war scharf und unbeweglich, und ihr schwindsüchtiges und erregtes Gesicht, auf dem der Widerschein des ausgehenden Lichtes zitterte, machte einen krankhaften Eindruck. Raskolnikow hielt sie für dreißig Jahre alt, und sie paßte auch gar nicht zu Marmeladow ... Die Eintretenden hatte sie weder gehört noch gesehen; sie war wie geistesabwesend und schien nichts zu hören und zu sehen. Im Zimmer war es dumpf, sie hatte aber das Fenster nicht geöffnet; von der Treppe her stank es, doch die Tür zur Treppe stand offen; aus den inneren Räumen drangen durch die offene Tür Wolken von Tabakrauch herein, sie hustete, machte aber diese Tür nicht zu. Das jüngste Mädchen, etwa sechs Jahre alt, schlief auf dem Fußboden zusammengekauert, den Kopf ans Sofa gelehnt. Ein Junge, ein Jahr älter als sie, zitterte in einer Ecke am ganzen Leibe und weinte. Offenbar hatte er eben Schläge bekommen. Das älteste Mädchen, an die neun Jahre alt, hochaufgeschossen und dünn wie ein Streichholz, stand im bloßen, fadenscheinigen und zerrissenen Hemdchen, ein altes Mäntelchen aus Drap-de-dames, das wohl vor zwei Jahren gemacht worden war, weil es ihr jetzt nicht mal bis zu den Knien reichte, über die bloßen Schultern geworfen, in der Ecke neben dem kleinen Bruder und umschlang mit ihrem langen, wie ein Streichholz dürren Arm seinen Hals. Sie schien ihn beruhigen zu wollen; sie flüsterte ihm etwas zu und hielt ihn auf jede Weise zurück, damit er nicht wieder zu weinen anfange, und verfolgte zugleich ängstlich mit ihren auffallend großen dunklen Augen, die in dem ausgemergelten und erschrockenen Gesichtchen noch größer aussahen, die Mutter. Marmeladow kniete, ohne in das Zimmer zu treten, in der Tür nieder und schob Raskolnikow vor. Als die Frau den Fremden erblickte, blieb sie zerstreut vor ihm stehen; sie kam für einen Augenblick zur Besinnung und schien sich zu fragen: wozu ist er hergekommen? Aber sie sagte sich wohl gleich darauf, daß er in ein anderes Zimmer wolle, da das ihrige doch ein Durchgangszimmer war. Nachdem sie sich dies überlegt hatte, schenkte sie ihm keine weitere Beachtung und ging zu der Flurtür, um sie zu schließen; plötzlich erblickte sie ihren auf der Schwelle knienden Mann und schrie auf.
»Ah!« schrie sie wütend. »Du bist zurückgekommen! Zuchthäusler! Verbrecher! ... Und wo ist das Geld?! Was hast du in der Tasche? Zeig' es her! Das sind auch nicht deine Kleider! Wo sind deine Kleider? Wo ist das Geld? Sprich! ...«
Und sie fing ihn zu durchsuchen an. Marmeladow streckte sofort gehorsam und demütig die Arme nach beiden Seiten aus, um ihr die Durchsuchung der Taschen zu erleichtern. Vom Geld war keine Kopeke mehr da.
»Wo ist denn das Geld?« schrie sie. »O Gott, hat er denn alles vertrunken?! Zwölf Rubel waren ja im Koffer übrig geblieben! ...«
Und plötzlich packte sie ihn wie rasend an den Haaren und schleppte ihn ins Zimmer. Marmeladow erleichterte ihr selbst die Mühe, indem er ihr demütig auf den Knien nachrutschte.
»Und das ist mir ein Genuß! Und das ist mir kein Schmerz, sondern ein Ge-nuß, sehr ge-ehr-ter Herr!« schrie er, während sie ihn an den Haaren herumzerrte und er sogar einmal mit der Stirn gegen den Boden anschlug.
Das Kind, das auf dem Fußboden schlief, erwachte und fing zu weinen an. Der Junge in der Ecke hielt es nicht länger aus: er fing zu zittern an, schrie auf und stürzte in furchtbarer Angst, beinahe in einem Krampfe, zu seiner Schwester hin. Das älteste Mädchen fuhr wie aus dem Schlafe auf und zitterte wie Espenlaub.
»Vertrunken! Alles, alles vertrunken!« schrie die arme Frau in ihrer Verzweiflung. »Auch die Kleider sind hin! Und die sind hungrig, hungrig! (sie zeigte händeringend auf die Kinder). O, dieses verfluchte Leben! Und Sie, Sie schämen sich nicht?« wandte sie sich plötzlich zu Raskolnikow: »Aus der Schenke! Du hast mit ihm getrunken? Auch du hast mit ihm getrunken?! Hinaus!«
Der junge Mann beeilte sich, ohne ein Wort zu sagen, hinauszugehen. Da ging auch noch die Innentür sperrweit auf, und aus ihr blickten mehrere Neugierige herein. Freche, lachende Gesichter, mit Zigaretten und Pfeifen zwischen den Zähnen und Kappen auf dem Kopfe, drängten sich in die Tür. Man sah Gestalten in offenen Schlafröcken, in sommerlicher Kleidung, die beinahe unanständig war, manche mit Karten in der Hand. Sie unterhielten sich besonders gut und lachten, wenn der an den Haaren herumgezerrte Marmeladow schrie, daß dies ihm ein Genuß sei. Manche traten sogar ins Zimmer; schließlich erklang ein unheildrohendes Kreischen: es war Amalie Lippewechsel, die sich einen Weg durch die Zuschauer bahnte, um auf ihre Weise Ordnung zu schaffen und die arme Frau zum hundertsten Male durch den von Schimpfworten begleiteten Befehl, die Wohnung morgen zu räumen, zu erschrecken. Beim Weggehen fand Raskolnikow noch Zeit, die Hand in die Tasche zu stecken und einige von den Kupfermünzen, die er in der Schenke auf den Rubel herausbekommen hatte, ohne zu zählen, zusammenzuraffen und auf die Fensterbank zu legen. Später, auf der Treppe, besann er sich und wollte umkehren.
»Was habe ich eben für eine Dummheit gemacht,« sagte er sich, »sie haben ja ihre Ssonja, und ich brauche mein Geld selber.« – Als er aber eingesehen hatte, daß er das Geld nicht mehr zurückholen konnte und daß er es sowieso nicht mehr zurücknehmen würde, machte er eine unbestimmte Gebärde mit der Hand und ging nach Hause. – »Ssonja braucht ja auch Pomade« – fuhr er fort, durch die Straße gehend und giftig lächelnd. – »Diese Reinlichkeit kostet doch Geld ... Hm! Ssonjetschka wird vielleicht heute selbst Bankerott machen, denn es ist immerhin ein Risiko, diese Jagd auf den reichen Mann ... eine Art Goldgräberei ... So würden sie vielleicht morgen ohne mein Geld auf dem Trocknen sitzen ... Ja, die Ssonja, alle Achtung! Was für einen Brunnen haben sie sich gegraben! Und sie schöpfen aus ihm! Sie schöpfen doch aus ihm! Und sie haben sich daran gewöhnt. Sie haben ein wenig geweint und haben sich dann gewöhnt. An alles gewöhnt sich der Mensch, dieser Schuft!«
Er wurde nachdenklich.
»Nun, und wenn ich gelogen habe,« rief er plötzlich aus, »wenn der Mensch wirklich kein Schuft ist, der Mensch im allgemeinen, das heißt das ganze Menschengeschlecht, so ist alles übrige nur ein Vorurteil, eine Angst, die man sich selbst gemacht hat, und es gibt keine Schranken, und so muß es auch sein! ...«
Er erwachte am anderen Tage nach einem unruhigen Schlafe sehr spät, der Schlaf hatte ihn aber nicht gestärkt. Er erwachte in einer galligen, reizbaren, bösen Stimmung und sah sich voll Haß in seiner Kammer um. Es war ein Loch von etwa sechs Schritt Länge, das mit seinen gelben, staubigen und überall von den Wänden abstehenden Tapeten den jämmerlichsten Eindruck machte; es war dabei so niedrig, daß es jedem einigermaßen großen Menschen ganz unheimlich wurde, vor Angst, er würde gleich mit dem Kopf an die Decke stoßen. Die Möbel entsprachen durchaus dem Zimmer: es gab da drei alte, nicht ganz heile Stühle, einen gestrichenen Tisch in der Ecke, auf dem einige Hefte und Bücher lagen; schon der Staub, mit dem sie bedeckt waren, ließ darauf schließen, daß sie schon lange von keiner Menschenhand berührt worden waren; und schließlich ein großes plumpes Sofa, das fast die ganze Wand und die Hälfte des Zimmers einnahm und einst mit Kattun bezogen gewesen, jetzt aber ganz zerfetzt war und Raskolnikow als Bett diente. Oft schlief er darauf, ohne sich auszuziehen, ohne Laken, mit seinem alten, abgetragenen Studentenmantel als Bettdecke und einem einzigen kleinen Kissen unter dem Kopfe, worunter er alles, was er an sauberer Wäsche besaß, stopfte, damit es höher sei. Vor dem Sofa stand ein kleines Tischchen.
Es würde einem Menschen schwer fallen, noch tiefer zu sinken und noch mehr zu verkommen; Raskolnikow war das aber in seiner jetzigen Gemütsverfassung nur angenehm. Er hatte sich von allen Menschen vollkommen zurückgezogen, wie eine Schildkröte in ihre Schale, und selbst das Gesicht der Dienstmagd, die ihn zu bedienen hatte und zuweilen in sein Zimmer hineinschaute, reizte seine Galle und brachte ihn zu Krämpfen. So geht es manchen Monomanen, die sich allzu stark auf etwas konzentriert haben.
Seine Wirtin hatte schon seit zwei Wochen aufgehört, ihm Essen zu geben, und es war ihm bisher noch gar nicht eingefallen, zu ihr zu gehen und sich mit ihr auseinanderzusetzen, obwohl er ohne Mittagessen saß. Nastasja, die Köchin und einzige Dienstmagd der Wirtin, war über diese Gemütsverfassung des Zimmerherrn zum Teil sogar froh und hatte ganz aufgehört, bei ihm aufzuräumen und den Boden zu kehren; nur ab und zu, so einmal in der Woche, griff sie, wie aus Versehen, nach dem Besen. Sie war es auch, die ihn jetzt geweckt hatte.
»Steh auf, was schläfst du!« schrie sie über seinem Kopfe, »es ist bald zehn. Ich habe dir Tee gebracht; willst du Tee? Bist wohl hungrig!?«
Der Zimmerherr öffnete die Augen, fuhr zusammen und erkannte Nastasja.
»Ist der Tee von der Wirtin, wie?« fragte er, indem er sich langsam und mit krankhaftem Ausdruck vom Sofa erhob.
»Ach was, von der Wirtin!«
Sie stellte vor ihn ihre eigene, gesprungene Teekanne mit dem schon einmal aufgebrühten Tee hin und legte zwei Stückchen gelben Zucker dazu.
»Hier, Nastasja, nimm das, bitte«, sagte er, nachdem er in seiner Tasche gesucht (er hatte in den Kleidern geschlafen) und eine Handvoll Kupfergeld hervorgeholt hatte. »Geh und kaufe mir eine Semmel. Bring auch etwas Wurst aus dem Wurstladen mit, doch von der billigen.«
»Die Semmel bringe ich dir sofort, willst du aber vielleicht statt der Wurst Kohlsuppe? Es ist eine gute Kohlsuppe von gestern. Ich hatte sie gestern für dich zurückgestellt, du kamst aber spät heim. Eine gute Kohlsuppe.«
Als die Kohlsuppe vor ihm stand und er sie zu löffeln begann, setzte sich Nastasja neben ihn aufs Sofa und fing zu schwatzen an. Sie stammte vom Lande und war sehr geschwätzig.
»Praskowja Pawlowna will sich über dich bei der Polizei beschweren«, sagte sie.
Er verzog schmerzvoll das Gesicht.
»Bei der Polizei? Was will sie denn?«
»Du zahlst nichts und ziehst nicht aus. Kannst dir wohl denken, was sie will.«
»Zum Teufel, das hat mir noch gefehlt«, murmelte er, mit den Zähnen knirschend. »Nein, das ist mir jetzt ... sehr ungelegen ... Eine dumme Gans ist sie«, fügte er laut hinzu. »Ich will heute zu ihr gehen und mit ihr reden.«
»Sie ist wohl eine dumme Gans wie ich, aber warum liegst du, Kluger, wie ein Sack da, warum sieht man dich nichts tun? Früher, sagst du, hast du Kindern Stunden gegeben; warum tust du aber jetzt nichts?«
»Ich tue ...« versetzte Raskolnikow unwillig und düster.
»Was tust du denn?«
»Eine Arbeit ...«
»Was für eine Arbeit?«
»Ich denke«, antwortete er nach einem Schweigen ernst.
Nastasja schüttelte sich vor Lachen. Sie war von den Lachlustigen, und wenn man sie zum Lachen brachte, lachte sie lautlos, sich schüttelnd und am ganzen Leibe bebend, bis es ihr übel wurde.
»Hast du dir schon viel Geld erdacht?« brachte sie endlich hervor.
»Ohne Stiefel kann man keine Stunden geben. Ich spucke auch darauf.«
»Spuck nicht in den Brunnen.«
»Das Stundengeben bringt nur Kupfergeld ein. Was kann man mit den paar Kopeken anfangen?« fuhr er unwillig fort, als antwortete er seinen eigenen Gedanken.
»Du willst aber wohl das ganze Kapital auf einmal haben?«
Er sah sie sonderbar an.
»Ja, das ganze Kapital«, antwortete er mit fester Stimme nach einer Pause.
»Platz doch nicht gleich damit heraus, sonst machst du einem Angst; es ist gar zu schrecklich. Soll ich dir die Semmel holen oder nicht?«
»Wie du willst.«
»Ja, ich hab's vergessen! Gestern, als du fort warst, kam ein Brief für dich.«
»Ein Brief?! Für mich?! Von wem?!«
»Von wem, das weiß ich nicht. Drei Kopeken habe ich dem Briefträger aus eigenem Geld geben müssen. Wirst du sie mir zurückgeben?«
»Bring ihn doch um Gottes willen her!« schrie Raskolnikow ganz aufgeregt. »Mein Gott!«
Nach einer Minute erschien der Brief. »Also wirklich von der Mutter aus dem R-schen Gouvernement.« Er erbleichte sogar, als er ihn in die Hand nahm. Lange schon hatte er keine Briefe erhalten, und jetzt preßte ihm auch noch etwas anderes das Herz zusammen.
»Nastasja, geh fort, um Gottes willen; da hast du deine drei Kopeken, geh aber um Gottes willen schnell fort!«
Der Brief zitterte in seinen Händen; er wollte ihn nicht in ihrer Anwesenheit öffnen: er wollte mit dem Briefe allein bleiben. Als Nastasja gegangen war, führte er den Brief schnell an seine Lippen und küßte ihn; dann studierte er lange die Handschrift der Adresse, die ihm so gut bekannte und liebe, feine, schräge Schrift der Mutter, die ihn einst im Lesen und Schreiben unterrichtet hatte. Er zögerte; er schien sogar etwas zu fürchten. Endlich öffnete er ihn: der Brief war lang, ganze zwei Lot schwer; zwei große Briefbogen waren eng beschrieben.
»Mein lieber Rodja,« schrieb die Mutter, »es sind schon über zwei Monate her, daß ich mit Dir nicht mehr brieflich gesprochen habe; darunter habe ich selbst gelitten und konnte manche Nacht vor lauter Denken nicht einschlafen. Du wirst mir sicher aus diesem ungewollten Schweigen einen Vorwurf machen. Du weißt doch, wie ich Dich liebe; Du bist unser Einziger, Du bist für mich und Dunja unser alles, unsere ganze Hoffnung und Zuversicht. Was habe ich nicht alles gelitten, als ich erfuhr, daß Du schon vor einigen Monaten die Universität aus Mangel an Mitteln verlassen hast und daß das Stundengeben und die übrigen Einkünfte aufgehört haben! Wie hätte ich Dir auch bei meiner Pension von hundertzwanzig Rubeln im Jahre helfen können? Die fünfzehn Rubel, die ich Dir vor vier Monaten schickte, habe ich, wie Du selbst weißt, von unserem Kaufmann Wasilij Iwanowitsch Wachruschin auf meine Pension hin geliehen. Er ist ein guter Mensch und war einst mit Deinem Vater befreundet. Indem ich ihn aber ermächtigte, die Pension für mich zu empfangen, mußte ich warten, bis die ganze Schuld gedeckt war; dies ist soeben erst eingetreten, und darum konnte ich Dir die ganze Zeit nichts schicken. Aber jetzt, Gott sei Dank, kann ich Dir wohl wieder schicken; wir können uns jetzt überhaupt mit einer Besserung unserer Finanzen rühmen, und das beeile ich mich, Dir mitzuteilen. Erstens – wirst Du es wohl erraten, lieber Rodja, – daß Deine Schwester schon seit anderthalb Monaten mit mir wohnt und daß wir uns auch in Zukunft nicht mehr trennen werden? Gott sei Dank, ihre Martern haben ein Ende genommen, ich will es Dir aber alles der Reihe nach erzählen, damit Du weißt, wie sich alles zutrug und was wir vor Dir bisher verheimlicht haben. Als Du mir vor zwei Monaten schriebst, Du hättest gehört, daß Dunja im Hause der Herrschaften Swidrigailow viele Grobheiten zu leiden habe, und von mir genaue Erklärungen verlangtest, was konnte ich Dir damals antworten? Hätte ich Dir die ganze Wahrheit geschrieben, so wärest Du imstande, alles liegen zu lassen und, sei es auch zu Fuß, zu uns zu kommen, denn ich kenne Deinen Charakter und Deine Gefühle, und Du würdest die Beleidigung Deiner Schwester nicht dulden. Ich war auch selbst verzweifelt, aber was konnte ich tun? Ich kannte damals auch selbst nicht die ganze Wahrheit. Die größte Schwierigkeit bestand aber darin, daß Dunjetschka, als sie im vorigen Jahre die Gouvernantenstelle annahm, sich ganze hundert Rubel als Vorschuß auszahlen ließ, unter der Bedingung, daß das Geld ihr monatlich vom Gehalt abgezogen werde; sie konnte also die Stelle nicht aufgeben, bevor die ganze Schuld abgetragen war. Diese Summe aber (jetzt kann ich Dir alles erklären, teurer Rodja) hatte sie hauptsächlich darum genommen, um Dir die sechzig Rubel schicken zu können, die Du damals so dringend gebraucht und die Du von uns im vorigen Jahre auch wirklich erhalten hast. Wir haben Dich damals betrogen, wir schrieben Dir, es sei von dem Gelde, das Dunjetschka sich früher erspart hätte; es war aber nicht so, jetzt teile ich Dir die ganze Wahrheit mit, weil alles sich plötzlich nach Gottes Fügung zum Besten gewendet hat, und damit Du weißt, wie sehr Dich Dunja liebt und was für ein kostbares Herz sie hat. Herr Swidrigailow hatte sie zuerst wirklich sehr grob behandelt und sich ihr gegenüber allerlei Unhöflichkeiten und Sticheleien bei Tisch erlaubt ... Ich will mich aber auf diese traurigen Einzelheiten nicht einlassen, um Dich jetzt, wo alles vorbei ist, nicht aufzuregen. Kurz, trotz des gutmütigen und vornehmen Verhaltens Marfa Petrownas, der Gattin des Herrn Swidrigailow, wie auch der ganzen Familie, hatte es Dunjetschka sehr schwer, besonders wenn Herr Swidrigailow nach seiner alten Regimentsangewohnheit unter dem Einfluß des Gottes Bacchus stand. Aber was stellte sich später heraus? Denke Dir nur: dieser Wahnsinnige hatte schon früher eine Leidenschaft zu Dunja gefaßt, verbarg sie aber immer unter der Maske von Grobheit und Verachtung. Vielleicht schämte er sich auch und entsetzte sich, als er, der doch ein bejahrter Mann und Familienvater ist, sich auf solchen leichtsinnigen Hoffnungen ertappte, und ließ darum seine Wut unwillkürlich an Dunja aus. Vielleicht wollte er auch unter dem Deckmantel seines groben Benehmens und Spottes die Wahrheit vor den andern verbergen. Zuletzt hielt er es nicht mehr aus und erfrechte sich, Dunja einen offenen und gemeinen Antrag zu machen unter der Versprechung, sie reich zu belohnen und auch alles im Stich zu lassen und mit ihr auf ein anderes Gut oder sogar ins Ausland zu ziehen. Du kannst Dir wohl alle ihre Leiden vorstellen! Sie konnte aber ihre Stellung nicht sofort aufgeben, und zwar nicht nur wegen der Geldangelegenheit, sondern auch aus Rücksicht auf Marfa Petrowna, die dadurch Verdacht schöpfen könnte, was zu einem Zerwürfnis in der Familie hätte führen können. Und auch für Dunjetschka wäre es ein Skandal; ohne einen solchen wäre es doch nicht abgelaufen. Es waren auch noch viele andere Gründe da, so daß Dunja gar nicht rechnen durfte, früher als in sechs Wochen aus diesem schrecklichen Hause herauszukommen. Du kennst natürlich Dunja und weißt, wie klug und charakterfest sie ist. Dunjetschka kann vieles ertragen und im äußersten Falle noch soviel Mut aufbringen, um nicht ihre Kraft zu verlieren. Sie hat mir nichts darüber geschrieben, um mich nicht aufzuregen; wir tauschten aber oft Briefe. Die Lösung kam sehr unerwartet. Marfa Petrowna belauschte einmal zufällig ihren Mann, wie er Dunjetschka im Garten anflehte; sie faßte aber alles falsch auf, schob die ganze Schuld auf Dunja und glaubte, sie hätte angefangen. Es kam gleich im Garten zu einer fürchterlichen Szene: Marfa Petrowna schlug sogar Dunja, wollte auf nichts hören, schrie eine ganze Stunde und gab zuletzt den Befehl, Dunja sofort zu mir in die Stadt zu bringen, in einem einfachen Bauernwagen, in den man alle ihre Sachen – Wäsche und Kleider, alles, wie es gerade lag, unverpackt und nicht zusammengelegt – hineinwarf. Da kam aber gerade ein Guß, und Dunja mußte, beleidigt und geächtet, unter strömendem Regen ganze siebzehn Werst mit dem Bauer im offenen Wagen fahren. Nun überlege Dir, was konnte ich Dir in meinem Antwortbrief auf den Deinigen, den ich vor zwei Monaten erhalten habe, schreiben? Ich war selbst verzweifelt; Dir die Wahrheit zu schreiben, wagte ich nicht, weil Du unglücklich, erbittert und empört geworden wärest; und was hättest Du auch in der Sache tun können? Du hättest Dich vielleicht zugrunderichten können, und auch Dunjetschka wollte es mir nicht erlauben; aber einen Brief mit Dummheiten füllen, wo ich im Herzen solchen Kummer hatte, das konnte ich nicht. Einen ganzen Monat lang erzählte man sich in unserer ganzen Stadt allerlei Klatsch über diese Geschichte, und es kam so weit, daß ich mit Dunja vor Tuscheln und verächtlichen Blicken nicht mal in die Kirche gehen konnte; die Leute sprachen sogar ganz laut in unsrer Gegenwart. Alle Bekannten sagten sich von uns los, alle hörten sogar auf, uns zu grüßen, und ich erfuhr aus sicherer Quelle, daß die Ladenkommis und einige Kanzlisten uns eine gemeine Beleidigung durch das Beschmieren unseres Haustores mit Teer antun wollten, so daß die Wirtsleute verlangten, daß wir die Wohnung räumen. Schuld an alledem hatte Marfa Petrowna, die es fertigbrachte, Dunja in allen Häusern zu verleumden und anzuschwärzen. Sie kennt hier alle Leute und kam in diesem Monat jeden Augenblick in die Stadt; und da sie ein wenig geschwätzig ist und gern über ihre Familienangelegenheiten spricht, mit besonderer Vorliebe aber jedem, der es hören will, über ihren Mann klagt, was doch sehr häßlich ist, so hat sie diese Geschichte in kürzester Zeit nicht nur in der Stadt, sondern auch im ganzen Landkreise ausposaunt. Ich wurde ganz krank, Dunjetschka war aber fester als ich, und Du hättest nur sehen sollen, wie sie alles trug und auch mich noch tröstete und mir Mut zusprach! Sie ist ein Engel! Doch dank der Barmherzigkeit Gottes wurden unsere Qualen abgekürzt: Herr Swidrigailow besann sich, bereute und legte, wohl aus Mitleid mit Dunja, Marfa Petrowna volle und überzeugende Beweise für die Unschuld Dunjetschkas vor, und zwar einen Brief, den Dunja, noch bevor Marfa Petrowna sie im Garten überraschte, ihm zu schreiben und einzuhändigen gezwungen war, um alle persönlichen Erklärungen und geheimen Zusammenkünfte, die er von ihr verlangte, abzulehnen, – und dieser Brief war nach Dunjetschkas Abreise in den Händen des Herrn Swidrigailow geblieben. In diesem Briefe warf sie ihm mit der glühendsten und tiefsten Entrüstung sein gemeines Benehmen gegen Marfa Petrowna vor – und erklärte ihm, wie niedrig es von ihm, einem Vater und Gatten sei, ein ohnehin schon unglückliches, wehrloses Mädchen so zu quälen und noch unglücklicher zu machen. Mit einem Wort, lieber Rodja, der Brief war so edel und rührend geschrieben, daß ich beim Lesen weinte und ihn auch jetzt nicht ohne Tränen lesen kann. Zur Rechtfertigung Dunjas kamen jetzt auch noch die Aussagen der Dienstboten hinzu, die viel mehr gesehen hatten und wußten, als es Herr Swidrigailow annahm, wie es auch immer zu gehen pflegt. Marfa Petrowna war ganz bestürzt und ›von neuem erschlagen‹, wie sie uns selbst gestand, aber völlig von der Unschuld Dunjetschkas überzeugt. Gleich am nächsten Tag, einem Sonntag, fuhr sie direkt in die Domkirche und erflehte sich von der Mutter Gottes kniefällig und unter Tränen die Kraft, diese neue Prüfung zu ertragen und ihre Pflicht zu erfüllen. Direkt aus der Kirche, ohne jemand anderen zu besuchen, kam sie zu uns, erzählte uns alles, weinte bitterlich, umarmte Dunja voller Reue und bat sie um Verzeihung. Am selben Morgen begab sie sich unverzüglich, direkt von uns in alle Häuser der Stadt und stellte überall in den schmeichelhaftesten Ausdrücken, unter Tränen, Dunjetschkas Unschuld fest und sprach vom Adel ihrer Gefühle und ihres Betragens. Und noch mehr als das: sie zeigte allen den eigenhändigen Brief Dunjetschkas an Herrn Swidrigailow, las ihn vor und ließ von ihm sogar Abschriften anfertigen (was ich sogar für überflüssig halte). So mußte sie einige Tage hintereinander alle Menschen in der Stadt aufsuchen, so daß manche sich sogar gekränkt fühlten, weil sie erst nach den anderen kamen; auf diese Weise wurde eine Reihenfolge festgesetzt, so daß man sie in jedem Hause schon im voraus erwartete, und alle Menschen wußten, daß Marfa Petrowna an dem und dem Tage dort und dort den Brief vorlesen würde; zu jeder Vorlesung versammelten sich immer neue Leute, und auch solche, die den Brief schon einige Male wie bei sich, so auch bei ihren Bekannten gehört hatten. Ich meine, daß hierbei vieles, sehr vieles überflüssig war. Aber Marfa Petrowna ist einmal so. Jedenfalls stellte sie die Ehre Dunjetschkas vollkommen wieder her, und die ganze Gemeinheit dieser Sache fiel als unverwischbare Schmach auf ihren Mann, als den Hauptschuldigen, so daß er mir sogar leid tut; man hat diesen Wahnsinnigen doch zu streng bestraft. Dunja bekam sofort mehrere Aufforderungen, in verschiedenen Häusern Unterricht zu geben, doch sie schlug es ab. Alle begannen ihr überhaupt eine besondere Achtung zu zeigen. Dies alles trug hauptsächlich zu dem unerwarteten Ereignis bei, durch das sich jetzt unser ganzes Schicksal sozusagen wendet. Wisse nun, lieber Rodja, daß ein Freier um Dunja angehalten und daß sie ihm bereits ihr Jawort gegeben hat: dies beeile ich mich, Dir mitzuteilen. Obwohl diese Sache auch ohne Deinen Ratschlag zustande gekommen ist, wirst Du wohl weder mir noch Deiner Schwester Vorwürfe machen, denn Du kannst aus der Sache selbst ersehen, daß es uns unmöglich war, zu warten und die Entscheidung bis zum Eintreffen Deiner Antwort hinauszuschieben. Auch hättest Du das alles von Petersburg aus gar nicht beurteilen können. Es kam aber so. Er ist schon Hofrat, heißt Pjotr Petrowitsch Luschin und ist ein entfernter Verwandter von Marfa Petrowna, die die ganze Sache lebhaft gefördert hat. Es fing damit an, daß er durch sie den Wunsch äußerte, unsere Bekanntschaft zu machen; dann wurde er, wie es sich ziemt, empfangen, trank bei uns Kaffee und schickte schon am nächsten Tag einen Brief, in dem er sehr höflich seinen Antrag darlegte und um eine schnelle und bestimmte Antwort ersuchte. Er ist ein vielbeschäftigter Mensch und hat die Absicht, sofort nach Petersburg zu reisen, und will keinen Augenblick verlieren. Natürlich waren wir zuerst sehr bestürzt, denn es war allzu schnell und unerwartet gekommen. Wir überlegten uns die Sache gemeinsam den ganzen Tag. Er ist ein zuverlässiger, gut versorgter Mann, bekleidet zwei Stellungen und besitzt schon ein eigenes Kapital. Allerdings ist er schon fünfundvierzig Jahre alt, aber von recht angenehmem Außern und kann noch Frauen gefallen; er ist auch überhaupt ein höchst solider und anständiger Mann, nur ein wenig düster und vielleicht auch hochmütig. Es mag sein, daß das nur auf den ersten Blick so vorkommt. Ich bitte Dich schon jetzt, lieber Rodja, ihn, wenn Du ihn in Petersburg siehst, was sehr bald geschehen wird, nicht so voreilig und zu hitzig zu beurteilen, wie es Dir eigen ist, wenn Dir auf den ersten Blick etwas an ihm mißfällt. Ich sage das für jeden Fall, obwohl ich überzeugt bin, daß er auf Dich einen angenehmen Eindruck machen wird. Außerdem muß man an einen Menschen, den man wirklich kennenlernen will, ganz allmählich und mit der größten Vorsicht herantreten, um nicht in Fehler oder Vorurteile zu verfallen, die später sehr schwer zu korrigieren und zu beseitigen sind. Pjotr Petrowitsch ist aber, wenigstens nach vielen Anzeichen zu schließen, ein höchst ehrenwerter Mann. Gleich bei seinem ersten Besuch erklärte er uns, daß er ein nüchterner Mensch sei, doch in vielen Dingen, wie er sich selbst ausdrückte, ›die Überzeugungen unserer jüngsten Generation‹ teile und ein Feind von allen Vorurteilen sei. Er sagte noch vieles andere, denn er scheint etwas ehrgeizig zu sein und es zu lieben, daß man ihm zuhöre, aber das ist ja fast kein Fehler. Ich habe davon natürlich wenig verstanden, aber Dunja erklärte mir, daß er zwar nicht übermäßig gebildet, doch klug und anscheinend auch gut sei. Du kennst doch den Charakter Deiner Schwester, Rodja. Sie ist ein starkes, vernünftiges, geduldiges und großmütiges Mädchen, wenn auch etwas zu hitzig, was ich an ihr genau studiert habe. Natürlich liegt hier weder auf seiner noch auf ihrer Seite eine besondere Liebe vor, aber Dunja ist nicht nur ein kluges Mädchen, sondern auch ein edles Wesen, ein Engel, und wird es für ihre Pflicht halten, das Glück eines Mannes auszumachen, der auch seinerseits für ihr Glück sorgt; das letztere zu bezweifeln, haben wir zunächst keine zwingenden Gründe, obwohl die Sache, offen gestanden, doch etwas zu schnell zustandegekommen ist. Außerdem ist er ein klug berechnender Mann und wird natürlich selbst einsehen, daß sein eigenes Eheglück um so gesicherter sein wird, je glücklicher Dunjetschka mit ihm ist. Was aber irgendwelche Unebenheiten im Charakter, irgendwelche alte Angewohnheiten und sogar gewisse Gegensätze in den Ansichten (die sich ja auch in den glücklichsten Ehen nicht vermeiden lassen) betrifft, so hat mir Dunjetschka gesagt, daß sie sich darin auf sich selbst verläßt; daß kein Grund zur Beunruhigung vorliege und daß sie vieles tragen könne, unter der Bedingung, daß das Verhältnis auch in Zukunft ebenso ehrlich und gerecht bleibe. Das Außere eines Menschen ist aber oft trügerisch. Mir erschien er zum Beispiel im ersten Augenblick etwas schroff; das kann aber auch darauf beruhen, daß er gerade und offenherzig ist, und das ist auch sicher der Fall. Zum Beispiel schon bei seinem zweiten Besuche, als er das Jawort hatte, äußerte er sich im Gespräch, daß er sich schon früher, ehe er noch Dunja kennengelernt, vorgenommen hätte, ein ehrliches Mädchen, doch ohne Mitgift, zu heiraten, und zwar unbedingt eines, das schon in einer Notlage gewesen sei: er erklärte es damit, daß ein Mann, nach seiner Meinung, seiner Frau durch nichts verpflichtet sein müsse und daß es viel besser sei, wenn die Frau den Mann für ihren Wohltäter halte. Ich bemerke, daß er sich etwas weicher und liebenswürdiger ausdrückte, als ich es Dir hier schreibe, denn ich habe seine genauen Ausdrücke vergessen und erinnere mich nur des Sinnes; außerdem sagte er dies durchaus nicht mit Absicht, sondern ließ es nur in der Hitze des Gesprächs wohl ganz zufällig fallen, so daß er sich später bemühte, es zu vertuschen und zu mildern; und doch kam mir dies etwas schroff vor, und ich teilte diese Bedenken später auch Dunja mit. Aber Dunja antwortete mir sogar geärgert: ›Worte sind noch keine Taten‹, und hat natürlich recht. Vor ihrem Entschluß hatte Dunjetschka eine ganze Nacht nicht geschlafen und war, in der Meinung, daß ich schon schlafe, vom Bett aufgestanden und die ganze Nacht im Zimmer auf und ab gegangen; schließlich kniete sie nieder und betete lange und heiß vor dem Heiligenbilde; am anderen Morgen erklärte sie mir aber, daß sie sich entschlossen habe.
Ich habe schon erwähnt, daß Pjotr Petrowitsch jetzt nach Petersburg reist. Er hat dort viel zu tun und will in Petersburg ein öffentliches Bureau für Rechtsangelegenheiten eröffnen. Er beschäftigt sich schon seit langer Zeit mit der Führung von Zivilklagen und Prozessen und hat erst dieser Tage einen bedeutenden Prozeß gewonnen. Darum muß er auch nach Petersburg, weil er dort vor dem Senat einen wichtigen Prozeß zu führen hat. So kann er auch Dir sehr nützlich sein, lieber Rodja, sogar in jeder Beziehung, und für mich und Dunja steht es schon fest, daß Du vom heutigen Tage an Deine zukünftige Karriere ganz bestimmt beginnen wirst und Deine Zukunft für gesichert ansehen darfst. Oh, wenn dies doch in Erfüllung ginge! Das wäre so ein Gewinn, daß man es nur für eine Gnade des Allerhalters ansehen dürfte. Dunja träumt überhaupt nur davon. Wir haben schon riskiert, einige Worte darüber Pjotr Petrowitsch zu sagen. Er äußerte sich sehr vorsichtig und sagte, daß er, da er ohne einen Sekretär nicht auskommen könne, es natürlich vorziehen würde, das Gehalt einem Verwandten und nicht einem Fremden zu zahlen, wenn dieser Verwandte sich nur für den Posten eigne (Du solltest Dich nicht eignen!); zugleich äußerte er aber auch Bedenken, ob Deine Studien an der Universität Dir genug Zeit für die Arbeit in seinem Bureau übrig lassen würden. Damit endete auch das erste Gespräch; Dunja will jetzt an nichts anderes denken. Seit einigen Tagen ist sie wie im Fieber und hat schon ein ganzes Projekt ausgeheckt, daß Du in Zukunft Gehilfe und sogar Kompagnon von Pjotr Petrowitsch in seinen Rechtsangelegenheiten werden könntest, um so mehr, als Du Jus studierst. Ich bin mit ihr vollkommen einverstanden, Rodja, und teile alle ihre Pläne und Hoffnungen, da ich sie für durchaus erfüllbar halte; und trotz der jetzigen, wohl verständlichen Zurückhaltung Pjotr Petrowitschs (weil er Dich noch gar nicht kennt) ist Dunja fest überzeugt, daß sie alles durch ihren guten Einfluß auf ihren künftigen Mann durchsetzen wird; ja, davon ist sie fest überzeugt. Wir nahmen uns natürlich sehr in acht, Pjotr Petrowitsch auch nur etwas von unseren Hoffnungen und davon, daß Du sein Kompagnon werden sollst, zu verraten. Er ist ein nüchterner Mensch und könnte es vielleicht etwas trocken aufnehmen, da ihm dies alles als ein leerer Traum erschienen wäre. Ebenso haben wir, weder ich noch Dunja, auch nur ein Sterbenswörtchen von unserer festen Zuversicht fallen lassen, daß er uns helfen werde, Dich mit Geld zu unterstützen, solange Du noch auf der Universität bist; wir sprachen nicht davon, erstens, weil er mit der Zeit ganz von selbst kommt und weil er es uns doch sicher selbst, ohne viele Worte, anbieten wird (kann er denn Dunjetschka etwas abschlagen?), um so mehr, als Du seine rechte Hand im Bureau werden kannst und diese Unterstützung nicht als eine Wohltat, sondern als ein verdientes Gehalt bekommen kannst. So will es Dunjetschka einrichten, und ich bin mit ihr vollkommen einverstanden. Zweitens haben wir mit ihm darüber nicht gesprochen, weil ich durchaus möchte, daß Du bei der bevorstehenden Begegnung auf dem gleichen Fuße mit ihm stehen sollst. Als Dunja zu ihm mit Entzücken über Dich sprach, antwortete er, daß man jeden Menschen zuerst persönlich und aus nächster Nähe sehen müsse, um über ihn urteilen zu können, und daß er sich selbst vorbehalte, nachdem er Dich einmal kennengelernt, seine Meinung über Dich zu bilden. Weißt Du was, mein teuerer Rodja, mir scheint aus gewissen Erwägungen, (die sich übrigens gar nicht auf Pjotr Petrowitsch beziehen, sondern aus meinen eigenen, persönlichen Erwägungen, vielleicht sogar aus einer Altweiberlaune) – mir scheint, daß ich vielleicht besser tue, wenn ich nach ihrer Hochzeit allein, so wie jetzt, lebe, und nicht mit ihnen. Ich bin fest davon überzeugt, daß er so vornehm und zartfühlend sein wird, mich selbst einzuladen und aufzufordern, mich von meiner Tochter nicht zu trennen; wenn er darüber noch nicht gesprochen hat, so doch natürlich nur darum, weil es sich auch ohne Worte ganz von selbst versteht; ich werde aber die Einladung nicht annehmen. Ich habe in meinem Leben mehr als einmal gesehen, daß die Schwiegermütter den Männern nicht sehr sympathisch sind, ich aber will nicht nur keinem Menschen zur Last fallen, sondern auch vollkommen frei und unabhängig sein, solange ich noch ein Stück Brot und solche Kinder habe wie Dich und Dunjetschka. Wenn es geht, werde ich mich in Euerer Nähe niederlassen, denn das Angenehmste habe ich für den Schluß des Briefes aufgespart, Rodja: erfahre nun, mein lieber Freund, daß wir uns alle drei vielleicht sehr bald nach der fast dreijährigen Trennung wiedersehen und umarmen werden! Es ist schon festbeschlossen, daß ich und Dunja nach Petersburg reisen; wann, weiß ich noch nicht, jedenfalls aber sehr, sehr bald, vielleicht sogar in einer Woche. Alles hängt von den Anordnungen Pjotr Petrowitschs ab, der uns, sobald er sich in Petersburg umgesehen hat, Nachricht geben wird. Aus verschiedenen Gründen will er die Eheformalitäten möglichst beschleunigen und die Hochzeit womöglich in der Fastnachtswoche feiern, und wenn das infolge der kurzen Frist nicht mehr geht, dann gleich nach Mariä Himmelfahrt. Oh, mit welchem Glück werde ich Dich an mein Herz drücken! Dunja ist vor Freude, Dich wiederzusehen, ganz aufgeregt und hat einmal im Scherz gesagt, daß sie schon deswegen den Pjotr Petrowitsch heiraten würde. Sie ist ein Engel! Sie schreibt Dir diesmal nicht, bittet mich aber, Dir zu schreiben, daß sie mit Dir so viel zu sprechen hat, so viel, daß sie sich jetzt scheut, nach einer Feder zu greifen, – weil man in einigen Zeilen gar nichts sagen, sondern sich nur aufregen kann; sie läßt Dich herzlich umarmen und unzähligemal küssen. Obwohl wir uns vielleicht sehr bald sehen werden, werde ich Dir dieser Tage Geld, soviel ich kann, schicken. Jetzt, wo alle erfahren haben, daß Dunjetschka Pjotr Petrowitsch heiratet, ist auch mein Kredit gestiegen, und ich weiß auch ganz bestimmt, daß Afanassij Iwanowitsch mir jetzt auf meine Pension hin eine größere Summe vorstrecken wird, vielleicht sogar fünfundsiebzig Rubel, so daß ich Dir vielleicht fünfundzwanzig oder sogar dreißig Rubel schicken werde. Gern würde ich Dir noch mehr schicken, aber ich fürchte die Reisekosten; obwohl Pjotr Petrowitsch so gut war, einen Teil der Kosten unserer Reise nach Petersburg auf sich zu nehmen, – er hat uns nämlich selbst angeboten, unser Gepäck und den großen Koffer auf eigene Rechnung (irgendwie durch Bekannte) zu befördern, müssen wir aber doch auch mit dem Aufenthalt in Petersburg rechnen, wo man doch wenigstens in den ersten Tagen nicht ohne einen Pfennig Geld dasitzen darf. Ich habe übrigens schon alles mit Dunjetschka genau berechnet, und es kam dabei heraus, daß die Reise selbst nicht viel kosten wird. Bis zur Bahnstation sind es nur neunzig Werst, und wir haben uns schon für jeden Fall mit einem bekannten Bauern, der Fuhrmann ist, geeinigt; in der Eisenbahn fahren wir aber glücklich in der dritten Klasse. So ist es möglich, daß es mir gelingt, Dir nicht fünfundzwanzig, sondern ganz sicher dreißig Rubel zu schicken. Doch genug davon; zwei Bogen habe ich vollgeschrieben, und es bleibt kein Platz mehr übrig. Da hast Du unsere ganze Geschichte; nun, es hat sich ja eine Menge von Ereignissen angesammelt! Ich umarme Dich, mein teuerer Rodja, bis zu unserem baldigen Wiedersehen und schicke Dir meinen mütterlichen Segen. Liebe Deine Schwester Dunja, Rodja; liebe sie so, wie sie Dich liebt, und wisse, daß sie Dich grenzenlos, mehr als sich selbst liebt. Sie ist ein Engel, und Du, Rodja, Du bist unsere ganze Hoffnung und unsere ganze Zuversicht. Wenn Du bloß glücklich bist, so sind wir auch glücklich. Betest Du noch zu Gott, Rodja, wie früher und glaubst Du an die Güte unseres Schöpfers und Erlösers? Ich fürchte in meinem Herzen, ob Dich nicht schon der neueste moderne Unglaube angesteckt hat. Wenn dem so ist, so bete ich für Dich. Denke doch, Liebster, daran, wie Du in Deiner Kindheit, als Dein Vater noch lebte, auf meinen Knien Deine Gebete stammeltest und wie glücklich wir damals waren! Lebe wohl, oder besser: Auf Wiedersehen! Ich umarme Dich fest und küsse Dich unzählige Male.
Bis zum Grabe Deine
Pulcheria Raskolnikowa.«
Fast die ganze Zeit, als Raskolnikow diesen Brief las, gleich von Anfang an, war sein Gesicht feucht von Tränen; als er ihn aber zu Ende gelesen hatte, war es bleich, von einem Krampfe verzerrt, und ein schweres, galliges, böses Lächeln spielte um seine Lippen. Er ließ seinen Kopf auf das magere und abgenutzte Kissen fallen und dachte lange, lange nach. Mächtig schlug sein Herz, und mächtig regten sich seine Gedanken. Schließlich wurde es ihm in dieser gelben Kammer, die einem Schrank oder einem Koffer glich, zu dumpf und zu eng. Seine Blicke und Gedanken verlangten nach Freiheit und Raum. Er ergriff seinen Hut und ging hinaus, diesmal ohne Angst, jemand auf der Treppe zu begegnen; er hatte das ganz vergessen, er schlug die Richtung nach der Wassiljewski-Insel durch den W–schen Prospekt ein, als eile er in einer wichtigen Angelegenheit hin; er ging aber, wie immer, ohne auf den Weg zu achten, vor sich hinflüsternd und sogar laut mit sich selbst sprechend, wodurch er die Vorübergehenden in Erstaunen setzte. Viele hielten ihn für betrunken.
Der Brief der Mutter hatte ihn müdegequält. Doch über den wichtigsten Punkt, den Kardinalpunkt, war er auch nicht einen Augenblick im Zweifel, selbst als er den Brief noch nicht zu Ende gelesen hatte. Die Hauptsache war in seinem Kopfe beschlossen, und zwar unumstößlich beschlossen: »Aus der Heirat wird nichts, solange ich lebe, und zum Teufel mit dem Herrn Luschin!«
»Denn die Sache ist ja ganz klar«, murmelte er vor sich hin, grinsend und über den Erfolg seines Entschlusses im voraus triumphierend. – »Nein, Mama, nein, Dunja, ihr werdet mich nicht anführen! ... Und sie entschuldigen sich noch, daß sie mich nicht um Rat gefragt und die Sache ohne mich entschieden haben! Das will ich meinen! Sie glauben, daß es nicht mehr zu zerreißen ist; wir wollen sehen, ob es geht, oder nicht geht! Was für eine kapitale Ausrede: ›Pjotr Petrowitsch ist so beschäftigt, so furchtbar beschäftigt, daß er nicht anders als mit der Post, beinahe mit der Eisenbahn heiraten kann!‹ Nein, Dunjetschka, ich sehe alles und weiß, worüber du mit mir so viel zu sprechen hast; ich weiß auch, worüber du dachtest, als du die ganze Nacht im Zimmer auf und ab gingst und vor dem Bilde der Mutter Gottes von Kasan betetest, das in Mamas Schlafzimmer steht. Der Gang nach Golgatha ist wohl schwer. Hm! ... Es ist also schon endgültig beschlossen: einen tüchtigen Geschäftsmann und Rationalisten belieben Sie zu heiraten, Awdotja Romanowna, der sein Kapital besitzt (der schon sein eigenes Kapital besitzt: das klingt solider und eindrucksvoller), der zwei Stellungen bekleidet, die Überzeugungen der jüngsten Generation teilt (wie Mama schreibt) und auch gut zu sein scheint, heiraten! Großartig! ... Großartig! ...
Es ist immerhin interessant, warum Mama mir das über ›die jüngste Generation‹ geschrieben hat: bloß zur Charakteristik der Person, oder mit einer weiteren Absicht: mich für Herrn Luschin günstig zu stimmen? O diese Schlauen! Interessant wäre es, auch noch diesen Umstand aufzuklären: wie weit ging ihre gegenseitige Aufrichtigkeit an jenem Tage, in jener Nacht und in der ganzen folgenden Zeit? Wurde alles in Worte gekleidet, oder hatte eine jede erraten, was die andere denkt und auf dem Herzen hat, so daß man es gar nicht laut auszusprechen brauchte und es sogar überflüssig wäre, ein Wort zu viel zu sagen? Wahrscheinlich verhielt es sich zum Teil so; das ist aus dem Brief zu ersehen: der Mama kam er ein wenig schroff vor, und die naive Mama kam sofort zu Dunja mit ihren Wahrnehmungen. Jene aber wurde natürlich böse und antwortete ihr ›geärgert‹. Das will ich meinen! Wer wird nicht böse auffahren, wenn die Sache auch ohne die naiven Fragen verständlich ist und wenn alles fest beschlossen ist, so daß man nicht mehr zu reden braucht! Und warum schreibt sie mir das: ›Liebe Deine Schwester Dunja, Rodja; liebe sie so, wie sie dich liebt‹? Hat sie nicht heimlich Gewissensbisse, daß sie sich entschlossen hat, die Tochter dem Sohne zum Opfer zu bringen? ›Du bist unsere Hoffnung, du bist unser Alles!‹ – O Mama! ...«
Er schäumte immer mehr vor Wut, und wäre ihm jetzt Herr Luschin begegnet, er hätte ihn wohl erschlagen!
»Hm! ... Es ist wahr« – fuhr er fort, den Wirbel der Gedanken, die in seinem Kopfe schwirrten, verfolgend –, »es ist wahr, daß man an einen Menschen, den man wirklich kennenlernen will, ganz allmählich und vorsichtig herantreten muß: aber Herr Luschin ist mir klar. Die Hauptsache: ›Ein tüchtiger und anscheinend guter Mensch‹; das ist doch kein Spaß: das Gepäck hat er auf sich genommen und befördert den großen Koffer auf eigene Kosten! Und der sollte nicht gut sein! Sie aber, die Braut und die Mutter mieten einen Bauern und fahren in einem mit Bastmatten gedeckten Wagen (ich bin ja selbst mit den dortigen Fuhrwerken gefahren)! Das macht doch nichts! Es sind ja nur neunzig Werst, ›und weiter fahren wir glücklich in der dritten Klasse‹ – an die tausend Werst. Ist auch durchaus vernünftig: ein jeder strecke sich nach seiner Decke; aber Sie, Herr Luschin, was denken Sie sich? Sie ist doch Ihre Braut! ... Und sollte es Ihnen unbekannt sein, daß die Mutter für diese Reise ihre Pension verpfändet? Natürlich, es ist ein Kompaniegeschäft, ein Unternehmen mit gleichen Einlagen und gleichen Vorteilen, darum müssen auch die Auslagen geteilt werden; Brot und Salz sind gemeinsam, den Tabak hat jeder für sich, wie es im Sprichworte heißt. Der tüchtige Geschäftsmann hat sie aber ein wenig beschummelt; das Gepäck kostet viel weniger als ihre Reise, vielleicht kostet es ihm überhaupt nichts. Sehen denn die beiden nichts, oder wollen sie es nicht sehen? Sie sind doch zufrieden, zufrieden! Und wenn man bedenkt, daß das nur die Blüten sind und die eigentliche Frucht erst nachkommt! Was ist dabei das wichtigste? Es ist nicht der Geiz, nicht die Knauserei, sondern der Ton des Ganzen. Das ist ja der künftige Ton nach der Hochzeit, eine Prophezeiung ... Ja, und die Mama, warum ist sie auf einmal so verschwenderisch? Mit was kommt sie nach Petersburg? Mit drei Rubeln oder mit zwei ›Banknoten‹, wie jene sagt ... die Alte ... hm! ... Wovon hofft sie später in Petersburg zu leben? Sie ist ja schon irgendwie dahinter gekommen, daß sie mit Dunja, selbst in der ersten Zeit nach der Verheiratung nicht leben können wird! Der liebe Mensch hat wohl auch hier irgendeine Bemerkung fallen lassen, hat einen Willen geäußert, obwohl Mama es mit beiden Händen zurückweist: ›Ich nehme die Einladung nicht an.‹ Was denkt sie sich, worauf hofft sie noch: auf die hundertzwanzig Rubel Pension mit Abzug der Schuld an Afanassij Iwanowitsch? Sie strickt warme Tüchlein, stickt Manschetten, ruiniert sich ihre alten Augen. Diese Tüchlein bringen ihr doch nur zwanzig Rubel im Jahre zu den hundertzwanzig Rubeln ein, das ist mir bekannt. Folglich hoffen sie doch auf die edle Gesinnung des Herrn Luschin: ›Er wird es selbst vorschlagen, wird mich darum bitten.‹ Ja, Schnecken! Und so geht es immer diesen Schillerschen schönen Seelen: bis zum letzten Augenblick schmücken sie einen Menschen mit Pfauenfedern, bis zum letzten Augenblick erhoffen sie das Beste und nicht das Schlimmste; und obwohl sie die Kehrseite der Medaille ahnen, werden sie nie die Dinge mit ihrem wahren Namen nennen; sie schrecken vor dem bloßen Gedanken zurück; sie wehren sich mit beiden Händen gegen die Wahrheit, so lange, bis der mit Pfauenfedern geschmückte Mensch sie eigenhändig hereinlegt. Es wäre auch interessant, zu wissen, ob der Herr Luschin Orden hat; ich möchte wetten, daß er einen Annenorden im Knopfloch hat und ihn zu den Diners bei Kaufleuten und Staatslieferanten anlegt. Vielleicht wird er ihn auch bei seiner Hochzeit tragen! Übrigens, hol' ihn der Teufel! ...
Nun, Mama ist einmal so, aber was denkt sich bloß Dunja? Liebe Dunjetschka, ich kenne Sie ja! Sie waren ja schon fast zwanzig Jahre alt, als wir uns zum letztenmal sahen: Ihren Charakter habe ich schon damals erfaßt. Da schreibt Mama, daß ›Dunjetschka vieles ertragen kann‹. Das habe ich gewußt. Das habe ich schon vor zweiundeinhalb Jahren gewußt und habe zweiundeinhalb Jahre lang daran gedacht, nämlich daß ›Dunjetschka vieles ertragen kann‹. Wenn Sie den Herrn Swidrigailow mit allen Folgen ertragen kann, so kann sie wohl wirklich vieles ertragen. Nun hat sie sich zugleich mit Mama eingeredet, daß man auch den Herrn Luschin ertragen könne, der die Theorie von den Vorzügen der Frauen predigt, die man aus den ärmsten Kreisen nimmt und die ihre Männer als ihre Wohltäter ansehen sollen, – der davon fast bei der ersten Zusammenkunft spricht. Nun, geben wir zu, daß er sich ›versprochen‹ hat, obwohl er ein nüchterner Mensch ist (also ist es wohl möglich, daß er sich gar nicht versprochen hat, sondern eben die Absicht hatte, alles sofort aufzuklären). Aber Dunja, Dunja! Der Mensch ist ihr doch klar, und sie wird mit dem Menschen leben müssen. Sie wird eher von Brot und Wasser leben, aber ihre Seele wird sie nicht verkaufen, wird ihre sittliche Freiheit für keinen Komfort hergeben; für ganz Schleswig-Holstein wird sie sie nicht hergeben, geschweige denn für Herrn Luschin. Nein, Dunja war ganz anders, soweit ich sie kannte, und ... und sie hat sich natürlich auch jetzt nicht verändert! ... Was ist da noch zu reden! Schwer sind die Swidrigailows zu tragen! Schwer ist es, sich für zweihundert Rubel sein ganzes Leben lang in allen Gouvernements als Gouvernante herumzutreiben, aber ich weiß, daß meine Schwester lieber unter die Neger zu einem Plantagenbesitzer oder unter die Letten zu einem Ostseedeutschen gehen wird, als daß sie ihren Geist und ihr sittliches Gefühl durch die Verbindung mit einem Menschen beschmutzt, den sie nicht achtet und mit dem sie nichts anfangen kann, – für alle Ewigkeit, bloß aus persönlichem Vorteil! Und wäre Herr Luschin sogar aus reinstem Golde oder aus einem einzigen Brillanten, auch dann würde sie niemals darauf eingehen, die legitime Mätresse des Herrn Luschin zu sein! Warum geht sie aber jetzt darauf ein? Wo ist der Haken, wo ist die Lösung? Die Sache ist ja klar: ihrer selbst, ihres Komforts wegen, selbst wenn es um ihr Leben ginge, wird sie sich nicht verkaufen; aber für einen anderen verkauft sie sich! Für einen geliebten, vergötterten Menschen wird sie sich verkaufen. Das ist eben der ganze: Witz für den Bruder, für die Mutter wird sie sich verkaufen! Alles wird sie verkaufen! Jawohl, bei einer solchen Gelegenheit werden wir auch unser sittliches Gefühl unterdrücken, unsere Freiheit, unsere Ruhe, selbst unser Gewissen, alles auf den Markt tragen. Soll nur das Leben zugrunde gehen! Wenn nur die von uns geliebten Wesen glücklich sind! Und noch mehr als das: wir werden unsere eigene Kasuistik erfinden, werden von den Jesuiten lernen und für eine Zeitlang uns selbst beruhigen und überzeugen, daß es so nötig sei und einem guten Zwecke diene. So sind wir eben, und alles ist so klar wie der Tag. Es ist klar, daß hier niemand anderes als Rodion Romanowitsch Raskolnikow im Spiele ist und sogar im Vordergrunde steht. Ja, natürlich, man kann ihn glücklich machen, man kann ihm seine Universitätsstudien bezahlen, ihn zum Kompagnon am Bureau machen und sein Schicksal sicherstellen; vielleicht wird er mit der Zeit ein reicher, allgemein geachteter Mensch sein, wird vielleicht auch als berühmter Mann sein Leben beschließen. Und die Mutter? Ja, hier handelt es sich doch um Rodja, um den teuren Rodja, den Erstgeborenen! Wie soll man nicht einem solchen Erstgeborenen selbst eine solche Tochter zum Opfer bringen! O ihr lieben und ungerechten Herzen! Herr Gott, wir werden vielleicht auch vor dem Lose Ssonjetschkas nicht zurückschrecken! Ssonjetschka, Ssonjetschka Marmeladowa, die ewige Ssonjetschka, solange die Welt steht! Das Opfer, haben Sie das Opfer genau ermessen? Wirklich? Geht es nicht über Ihre Kraft? Ist es zum Nutzen? Ist es vernünftig? Wissen Sie denn auch, Dunjetschka, daß Ssonjetschkas Los durchaus nicht schlechter ist als Ihr Los mit Herrn Luschin? ›Von Liebe ist hier nicht die Rede‹, schreibt Mama. ›Wenn aber nicht nur von Liebe und Achtung nicht die Rede ist, sondern, im Gegenteil, Abscheu, Verachtung und Ekel vorhanden sind, was dann? Dann geht es wieder darauf hinaus, daß man auf die Reinlichkeit sehen muß‹. Ist es vielleicht nicht so? Wissen Sie, wissen Sie, wissen Sie, was diese Reinlichkeit bedeutet? Wissen Sie, daß die Luschinsche Reinlichkeit dasselbe ist wie die Reinlichkeit Ssonjetschkas, vielleicht noch ärger, gemeiner, weil Sie, Dunjetschka, immerhin auf einen erhöhten Komfort rechnen, während es sich dort einfach um den Hungertod handelt! ›Teuer, teuer kommt diese Reinlichkeit zu stehen, Dunjetschka!‹ Nun, und wenn es einmal über Ihre Kraft geht und Sie bereuen? Wieviel Gram, Trauer, Flüche und heimliche Tränen wird es da geben, denn Sie sind doch nicht die Marfa Petrowna! Und was soll dann mit der Mutter geschehen? Sie ist ja auch jetzt schon unruhig und quält sich; aber später, wenn sie alles klar sieht? Und was wird mit mir geschehen? ... Was haben Sie sich tatsächlich von mir gedacht? Ich will nicht Ihr Opfer, Dunjetschka, ich will es nicht, Mama! Es wird nicht geschehen, solange ich lebe, es darf nicht geschehen! Ich nehme es nicht an!«
Er kam plötzlich zur Besinnung und blieb stehen.
»Es soll nicht geschehen? Und was willst du tun, damit es nicht geschieht? Wirst du es verbieten? Was für ein Recht hast du dazu? Was kannst du ihnen deinerseits versprechen, um dieses Recht zu beanspruchen? Dein ganzes Schicksal, deine ganze Zukunft ihnen zu weihen, wenn du die Studien absolviert und einen Posten bekommen hast? Das haben wir schon gehört, das ist das ›B‹, wo ist aber das ›A‹, was soll ich jetzt tun? Man muß doch jetzt gleich etwas unternehmen, verstehst du das? Was tust du aber jetzt? Du beutest sie doch nur aus. Sie bekommen ihr Geld doch nur als Vorschuß auf ihre Pension oder auf das Gehalt von einem Herrn Swidrigailow! Wie willst du sie denn vor den Swidrigailows, vor Afanassij Iwanowitsch Wachruschin schützen, du zukünftiger Millionär, du Zeus, der du ihr Schicksal in deiner Hand hast? Nach zehn Jahren? Nach zehn Jahren wird aber deine Mutter vor dem Tücherstricken, vielleicht auch vor Tränen erblindet sein; wird am Fasten zugrunde gehen; und die Schwester? Nun, denk dir mal aus, was mit deiner Schwester nach zehn Jahren oder in diesen zehn Jahren geschehen kann! Weißt du es?«
So quälte und reizte er sich mit diesen Fragen, sogar mit einer gewissen Wollust. Alle diese Fragen waren übrigens nicht neu und plötzlich, sondern alt und in Schmerzen gereift. Seit langem hatten sie ihn zu martern angefangen und ihm sein Herz zerrissen. Sein jetziger Gram war in ihm schon längst entstanden; er war gewachsen, hatte sich angesammelt, war in der letzten Zeit zur Reife gekommen, hatte sich konzentriert und die Gestalt einer schrecklichen, wilden und phantastischen Frage angenommen, die sein Herz und seinen Geist zerquälte und gebieterisch nach Lösung verlangte. Der Brief der Mutter hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Es war ihm klar, daß er jetzt weder passiv trauern und leiden noch sich mit den Erörterungen, daß diese Fragen unlösbar seien, zermartern durfte, sondern unbedingt sofort und schnell etwas unternehmen mußte. Um jeden Preis mußte er sich zu etwas entschließen, ganz gleich wozu – oder ...
»Oder sich ganz vom Leben lossagen!« rief er plötzlich wie rasend. – »Das Schicksal, so wie es ist, ein für allemal hinnehmen, in sich alles ersticken, auf jedes Recht, zu handeln, zu leben und zu lieben, verzichten! ...«
»Verstehen Sie das, verstehen Sie das, sehr verehrter Herr, was das heißt, wenn man nirgends mehr hingehen kann?« Plötzlich fiel ihm die gestrige Frage Marmeladows ein. »Denn jeder Mensch muß doch irgendwo hingehen können ...«
Plötzlich fuhr er zusammen: ein Gedanke, ein gestriger Gedanke durchzuckte ihn wieder. Er fuhr aber nicht deshalb zusammen, weil ihn dieser Gedanke durchzuckte. Er wußte ja, er ahnte, daß der Gedanke ihn unbedingt »durchzucken« würde, und er erwartete ihn; der Gedanke war ja auch gar nicht von gestern. Der Unterschied bestand aber darin, daß der Gedanke vor einem Monat, selbst noch gestern ein bloßer Traum war, doch jetzt ... ihm nicht als Traum erschien, sondern in einer neuen, drohenden und ihm völlig unbekannten Gestalt ... und das kam ihm plötzlich zum Bewußtsein ... Er fühlte einen heftigen Schmerz im Kopf, und es wurde ihm finster vor den Augen.
Er sah sich schnell um, er suchte etwas. Er wollte sich hinsetzen und suchte eine Bank; er ging aber gerade durch den K–schen Boulevard. Etwa hundert Schritte vor ihm stand eine Bank. Er ging, so schnell er konnte, auf sie zu; doch unterwegs hatte er ein kleines Erlebnis, das für einige Minuten seine ganze Aufmerksamkeit fesselte.
Als er sich nach einer Bank umschaute, sah er etwa zwanzig Schritte vor sich ein weibliches Wesen gehen, schenkte ihm aber zuerst ebensowenig Beachtung wie allen Gegenständen, die an ihm vorbeihuschten. Es passierte ihm oft, daß er z.B. nach Hause ging und zuletzt gar nicht mehr wußte, welchen Weg er gegangen war; er war es schon gewöhnt. Doch an der Person, die vor ihm ging, war etwas so Seltsames, gleich auf den ersten Blick in die Augen Fallendes, daß er seine Aufmerksamkeit allmählich auf sie lenkte, – zuerst unwillkürlich und sogar ärgerlich, dann aber immer intensiver. Plötzlich kam ihm der Wunsch, sich klar zu machen, was an dieser Person so seltsam war? Erstens war sie wohl noch ein blutjunges Ding, sie ging in der Hitze mit bloßem Kopf, ohne Schirm und ohne Handschuhe und bewegte komisch die Hände. Sie hatte ein Kleidchen aus leichtem Seidenstoff an; es saß aber sehr merkwürdig, war kaum zugeknöpft und hinten an der Taille, wo der Rock anfängt, zerrissen; ein ganzer Fetzen hing herab. Ein kleines Tüchlein war um den bloßen Hals geworfen, doch es saß irgendwie schief. Außerdem ging das Mädchen mit unsicheren Schritten, stolpernd und sogar schwankend. Diese Begegnung erregte endlich die ganze Aufmerksamkeit Raskolnikows. Er holte das Mädchen vor der Bank ein; als sie aber die Bank erreichte, ließ sie sich sofort in eine Ecke fallen, warf den Kopf in die Lehne zurück und schloß die Augen, anscheinend in äußerster Erschöpfung. Als er sie näher betrachtete, sah er gleich, daß sie gänzlich betrunken war. Der Anblick war seltsam und erschütternd. Er glaubte sogar, daß er sich getäuscht habe. Er sah vor sich ein außerordentlich jugendliches Gesichtchen von sechzehn, vielleicht auch nur von fünfzehn Jahren, doch auffallend gerötet und gleichsam geschwollen. Das Mädchen schien nicht bei vollem Bewußtsein; es hatte ein Bein über das andere geschlagen und zeigte davon viel mehr, als anständig war; anscheinend wußte es kaum, daß es sich auf der Straße befand.
Raskolnikow setzte sich nicht, wollte auch nicht weggehen, sondern stand ratlos vor ihr. Dieser Boulevard ist auch sonst immer menschenleer, doch jetzt um die zweite Nachmittagstunde und bei dieser Hitze war fast kein Mensch da. Aber etwas abseits, etwa fünfzehn Schritte von der Bank, am Rande des Boulevards, war ein Herr stehen geblieben, dem man es ansah, daß er sich dem Mädchen mit irgendwelchen Absichten nähern wollte. Auch er hatte sie wohl schon aus der Ferne erblickt und einzuholen versucht, aber Raskolnikow war ihm in den Weg gekommen. Er warf ihm boshafte Blicke zu, bemühte sich übrigens, daß er es nicht merke, und wartete ungeduldig, daß der zerlumpte Kerl weggehe, damit er an die Reihe komme. Der Sachverhalt war klar. Der Herr war etwa dreißig Jahre alt, feist, wohlbeleibt, frisch wie Milch und Blut, mit rosigen Lippen und kleinem Schnurrbart und sehr elegant gekleidet. Raskolnikow ärgerte sich furchtbar; er spürte plötzlich Lust, diesen dicken Gecken irgendwie zu beleidigen. Er verließ für eine Weile das Mädchen und ging auf den Herrn zu.
»He, Sie, Swidrigailow! Was wollen Sie hier?« schrie er, die Fäuste ballend, während ein Lächeln seine Lippen verzerrte, auf die vor Wut Schaum getreten war.
»Was soll das heißen?« fragte der Herr streng, mit hochmütigem Erstaunen, die Stirne runzelnd.
»Packen Sie sich, heißt das!«
»Wie unterstehst du dich, Kanaille! ...«
Und er holte mit seiner Gerte aus. Raskolnikow stürzte sich mit den Fäusten auf ihn hin, ohne zu bedenken, daß der kräftige Herr auch mit zwei solchen, wie er, fertig werden könnte. Doch in diesem Augenblick packte ihn jemand fest von hinten, und zwischen ihnen erschien ein Schutzmann.
»Lassen Sie es, meine Herren, Sie dürfen sich an einem öffentlichen Platze nicht herumschlagen. Was wollen Sie? Wer bist du?« wandte er sich streng an Raskolnikow, als er seine zerlumpte Kleidung bemerkte.
Raskolnikow betrachtete ihn aufmerksam. Es war ein braves Soldatengesicht mit grauem Schnurrbart und Backenbart und einem klugen Blick.
»Sie brauche ich eben«, rief er, ihn bei der Hand packend. »Ich bin ehemaliger Student, Raskolnikow ... Das dürfen Sie auch erfahren«, wandte er sich an den Herrn. »Kommen Sie mal mit, ich will Ihnen etwas zeigen ...«
Er packte den Schutzmann bei der Hand und schleppte ihn zur Bank ...
»Hier, schauen Sie, ganz betrunken ist sie, soeben ging sie durch den Boulevard; wer weiß, was sie ist, sie sieht aber nicht so aus, als ob es ihr Gewerbe wäre. Wahrscheinlich hat man sie irgendwo betrunken gemacht und verführt ... zum erstenmal ... verstehen Sie? ... und hat sie dann laufen lassen. Schauen Sie nur, wie ihr Kleid zerrissen ist und wie es sitzt; man hat es ihr angezogen, nicht sie selbst, ungeschickte Männerhände haben es ihr angezogen. Das sieht man. Jetzt aber schauen Sie bitte her: dieser Geck, den ich eben schlagen wollte, – ich kenne ihn nicht und sehe ihn zum erstenmal; er hat sie auch soeben bemerkt, wie sie betrunken und bewußtlos ging, und hat furchtbar große Lust, sich an sie heranzumachen, sie abzufangen und, da sie in diesem Zustande ist, – irgendwohin zu verschleppen ... Es ist sicher so; verlassen Sie sich darauf, daß ich mich nicht täusche. Ich habe selbst gesehen, wie er sie beobachtete und verfolgte, ich kam ihm aber zuvor, und er wartete immer, daß ich weggehe. Da ist er eben ein wenig zurückgegangen, steht da und tut, als wolle er sich eine Zigarette drehen ... Wie machen wir es bloß, daß er sie nicht kriegt? Wie bringen wir sie nur nach Hause, – denken Sie mal nach!«
Der Schutzmann hatte sofort alles begriffen. Was der dicke Herr wollte, war ihm klar; nun blieb noch das Mädchen. Der alte Soldat beugte sich über sie, um sie genauer zu betrachten, und seine Züge nahmen den Ausdruck aufrichtigen Mitleides an.
»Ach, wie die einem leid tut!« sagte er kopfschüttelnd. »Sie ist ja noch ein Kind. Man hat sie verführt, das ist mal sicher. Hören Sie, Fräulein,« begann er sie zu rufen, »wo wohnen Sie denn?«
Das Mädchen öffnete die müden, verschlafenen Augen, blickte die Fragenden stumpf an und machte eine abwehrende Handbewegung.
»Hören Sie mal,« sagte Raskolnikow, »hier, nehmen Sie dies ... (er suchte in der Tasche und holte zwanzig Kopeken hervor; soviel hatte er noch), nehmen Sie eine Droschke und sagen Sie dem Kutscher, daß er sie nach Hause bringt. Wenn wir nur ihre Adresse erfahren könnten!«
»Fräulein, Sie, Fräulein!« begann der Schutzmann von neuem, nachdem er das Geld eingesteckt hatte. »Ich will gleich eine Droschke nehmen und Sie selbst nach Hause bringen. Wohin befehlen Sie? Wie? Wo geruhen Sie zu wohnen?«
»Fort! ... Die lassen einen nicht in Ruhe!« murmelte das Mädchen und winkte wieder mit der Hand ab.
»Ach, ach, wie häßlich! Sie sollten sich doch schämen, Fräulein! Diese Schande!« Er schüttelte wieder mißbilligend, mitleidig und entrüstet den Kopf. »Eine schwierige Sache!« wandte er sich an Raskolnikow und musterte ihn wieder vom Kopf bis zu den Füßen. Er kam ihm wohl merkwürdig vor: ist so zerlumpt, hat aber Geld hergegeben!
»Haben Sie das Fräulein weit von hier gefunden?« fragte er ihn.
»Ich sage Ihnen ja: sie ging schwankend vor mir her, hier auf diesem Boulevard. Wie sie die Bank erreichte, da fiel sie auch gleich hin.«
»Ach, welch eine Schande macht sich jetzt in der Welt breit, mein Gott! Ein so unerfahrenes Ding und schon betrunken! Man hat sie verführt, das steht fest! Auch das Kleidchen ist zerrissen ... Wie liederlich und zuchtlos sind jetzt die Leute! Vielleicht ist sie auch aus anständiger Familie, die aber verarmt ist ... Heute gibt es viele von dieser Art. Dem Aussehen nach ist sie was Besseres, ganz wie ein Fräulein ...« Und er beugte sich wieder über sie.
Vielleicht hatte er auch selbst solche heranwachsenden Töchter, »ganz wie Fräuleins, wie was Besseres«, mit Gewohnheiten von wohlerzogenen jungen Mädchen und nachgeäfften modischen Manieren ...
»Die Hauptsache ist, daß man sie vor diesem Schuft da rettet«, sagte Raskolnikow besorgt. »Warum soll auch er ihr noch Schande antun! Man sieht ihm ja an, was er gerne möchte. Sie sehen, daß er gar nicht weggehen will!«
Raskolnikow sprach laut und zeigte mit der Hand auf den Mann. Jener hörte es und wollte wieder auffahren, überlegte es sich aber und beschränkte sich auf einen verächtlichen Blick. Dann ging er noch an die zehn Schritte weiter und blieb wieder stehen.
»Das kann man wohl machen, daß er sie nicht kriegt«, antwortete der Unteroffizier nachdenklich. »Wenn sie mir nur sagen wollte, wohin ich sie bringen soll, sonst ... Fräulein, Sie, Fräulein!« Er beugte sich wieder über sie.
Jene machte plötzlich ihre Augen weit auf, blickte aufmerksam um sich, als hätte sie etwas verstanden, erhob sich von der Bank und ging in dieselbe Richtung zurück, aus der sie gekommen war.
»Pfui, diese Schamlosen, sie lassen einen gar nicht in Ruhe!« sagte sie, mit der gleichen abwehrenden Handbewegung.
Sie ging sehr schnell, doch wie früher schwankend. Der Geck folgte ihr, aber durch eine andere Allee, ohne sie aus den Augen zu lassen.
»Seien Sie unbesorgt, ich werde es nicht zulassen«, sagte der Schutzmann energisch und folgte den beiden.
»Ach, wie sich jetzt die üblen Sitten breit machen!« wiederholte er laut und seufzte.
Raskolnikow fühlte sich plötzlich wie von einer Schlange gebissen: in einem Nu war er verändert.
»Sie, hören Sie, he!« rief er dem Schutzmann nach.
Jener wandte sich um.
»Lassen Sie es! Was geht es Sie an? Geben Sie's auf! Soll er sich nur amüsieren (er zeigte auf den Gecken). Was geht Sie das an?«
Der Schutzmann verstand ihn nicht und starrte ihn an. Raskolnikow lachte.
»Ach!« sagte der Schutzmann, winkte mit der Hand und folgte dem Gecken und dem Mädchen. Er hielt Raskolnikow wohl für einen Verrückten oder für etwas noch Schlimmeres.
»Meine zwanzig Kopeken hat er mitgenommen«, sagte Raskolnikow böse, als er allein geblieben war. »Soll er auch von dem anderen etwas nehmen und ihm das Mädchen überlassen; damit wird es auch enden ... Was habe ich mich auch mit meiner Hilfe hineinmischen brauchen? Kann ich denn helfen? Habe ich überhaupt ein Recht, zu helfen? Sollen sie doch einander bei lebendigem Leibe auffressen, was geht mich das an? Und wie wagte ich es, ihm diese zwanzig Kopeken zu geben? Gehören sie denn mir?«
Trotz dieser seltsamen Worte wurde es ihm sehr schwer zumute. Er setzte sich auf die verlassene Bank. Seine Gedanken waren zerstreut ... Es fiel ihm überhaupt schwer, jetzt an irgend etwas zu denken. Er wollte sich vollkommen vergessen, alles vergessen, später erwachen und alles von neuem beginnen ...
»Das arme Mädchen!« sagte er sich mit einem Blick auf die nun leere Ecke der Bank. »Sie wird zu sich kommen, wird etwas weinen, dann wird es die Mutter erfahren ... Zuerst wird sie sie schlagen, dann ordentlich mit Ruten züchtigen und dann vielleicht mit Schande aus dem Hause jagen ... Und wenn sie sie nicht aus dem Hause jagt, so erfährt es irgendeine Darja Franzowna, und mein Mädchen fängt an, sich auf den Straßen herumzutreiben ... Dann kommt sie bald ins Krankenhaus (so geht es immer denen, die bei sehr achtbaren Müttern leben und hinter ihren Rücken auf Abenteuer ausgehen), und dann ... dann kommt wieder das Krankenhaus ... Schnaps ... Kneipen ... und wieder das Krankenhaus ... nach zwei oder drei Jahren ist sie ein Krüppel, sie hat also im ganzen neunzehn oder achtzehn Jahre zu leben ... Habe ich denn nicht auch solche gesehen? Und wie kamen sie dazu? Alle auf diesem selben Wege ... Pfui! Sollen sie nur! Man sagt, das sei ganz in Ordnung, man sagt, so ein Prozentsatz müsse jedes Jahr ... wohl zum Teufel gehen, um die anderen zu erfrischen und sie nicht zu stören! Ein Prozentsatz? Was sie doch für nette Wörtchen haben: so beruhigend und so wissenschaftlich. Es heißt einmal: Prozentsatz, also braucht man keine weiteren Sorgen zu haben. Wäre es ein anderes Wort, dann ... dann wäre es vielleicht beunruhigend ... Und was, wenn auch Dunjetschka mal in einen Prozentsatz gerät? ... Und wenn nicht in diesen, so in einen andern ...
Wohin gehe ich aber?« fragte er sich plötzlich. »Seltsam. Ich wollte doch irgendwohin. Nachdem ich den Brief gelesen hatte, ging ich aus dem Hause ... Auf die Wasiljewskij-Insel zu Rasumichin wollte ich, jetzt weiß ich es. Wozu aber? Wie kam mir gerade jetzt der Gedanke, zu Rasumichin zu gehen? Das ist doch merkwürdig.«
Er staunte über sich selbst. Rasumichin war einer von seinen früheren Universitätskollegen. Es ist zu bemerken, daß Raskolnikow, als er auf der Universität war, fast keine Freunde hatte, allen aus dem Wege ging, niemand besuchte und auch ungern jemand bei sich empfing. Bald wandten sich auch die anderen von ihm ab. Er nahm keinen Anteil an den allgemeinen Versammlungen, Gesprächen oder Unterhaltungen. Er arbeitete mit großem Fleiß, ohne sich zu schonen; man achtete ihn deswegen, doch niemand liebte ihn. Er war sehr arm und zugleich hochmütig, stolz und verschlossen, als trüge er ein Geheimnis in sich. Manchen seiner Kollegen kam es vor, daß er auf sie alle, wie auf Kinder, von oben herabsehe, als hätte er sie alle wie in der Entwicklung, so auch im Wissen und in den Überzeugungen überholt und als betrachtete er ihre Überzeugungen und Interessen als etwas Minderwertiges.
Dem Rasumichin hatte er sich aber aus irgendeinem Grunde etwas näher angeschlossen, oder genauer gesagt, er war ihm gegenüber mitteilsamer und aufrichtiger. Es war übrigens auch unmöglich, sich zu Rasumichin irgendwie anders zu verhalten. Rasumichin war ein ungewöhnlich lustiger und mitteilsamer Bursche, von einer Güte, die an Einfalt grenzte. Unter dieser Einfalt steckte aber auch viel Tiefe und Würde. Die besten seiner Kameraden fühlten das und liebten ihn. Er war gar nicht dumm, wenn er auch zuweilen einen einfältigen Eindruck machte. Sein Außeres war sehr eindrucksvoll: er war groß, hager, immer schlecht rasiert und schwarzhaarig. Zuweilen machte er Skandal und galt als stark. Eines Nachts hatte er in lustiger Gesellschaft mit einem Hiebe einen hünenhaften Hüter der öffentlichen Ordnung niedergeschlagen. Trinken konnte er unendlich viel, konnte sich aber auch des Trinkens enthalten; manchmal stellte er Dinge an, die ans Unerlaubte grenzten, er konnte aber auch nichts anstellen. Rasumichin war auch in der Beziehung bemerkenswert, daß ihn kein Mißerfolg entmutigte und keine noch so widrigen Verhältnisse zu erdrücken vermochten. Er war imstande, selbst auf einem Dache zu wohnen, höllischen Hunger und jede Kälte zu leiden. Er war sehr arm und verschaffte sich selbst seinen Unterhalt durch irgendwelche Arbeiten. Er kannte eine Menge Quellen, um aus ihnen zu schöpfen, natürlich durch ehrliche Arbeit. Einmal heizte er einen ganzen Winter seine Kammer nicht und behauptete, daß es so angenehmer sei, weil man in der Kälte besser schlafen könne. Zurzeit war er gezwungen, die Universität zu verlassen, doch nur vorübergehend, und bemühte sich aus allen Kräften, seine Verhältnisse zu bessern, um das Studium fortsetzen zu können. Raskolnikow hatte ihn seit vier Monaten nicht besucht, und Rasumichin kannte Raskolnikows Wohnung nicht. Vor zwei Monaten waren sie sich einmal zufällig auf der Straße begegnet, Raskolnikow hatte sich aber abgewandt und war auf die andere Straßenseite hinübergegangen, damit jener ihn nicht sehe. Rasumichin hatte ihn zwar gesehen, ging aber vorbei, weil er den Freund nicht belästigen wollte.
»In der Tat, ich hatte doch vor kurzem die Absicht, Rasumichin zu bitten, daß er mir eine Arbeit oder Stunden verschaffe ...« erinnerte sich Raskolnikow, »womit kann er mir aber jetzt helfen? Angenommen, daß er mir Stunden vermittelt, angenommen, daß er mit mir die letzte Kopeke teilt, wenn er überhaupt eine Kopeke hat, so daß ich mir sogar ein Paar Stiefel kaufen und meinen Anzug instandsetzen lassen kann ... hm ... Nun, und weiter? Was fange ich mit den Fünfkopekenstücken an? Brauche ich denn jetzt das? Es ist einfach lächerlich, daß ich zu Rasumichin wollte ...«
Die Frage, warum er zu Rasumichin aufgebrochen war, beunruhigte ihn mehr, als er sich dessen bewußt war; mit Unruhe suchte er in dieser anscheinend so gewöhnlichen Handlung einen unheilkündenden Sinn.
»Wie, will ich denn alles durch Rasumichin allein in Ordnung bringen, habe ich denn in Rasumichin den letzten Ausweg gefunden?« fragte er sich erstaunt.
Er dachte nach und rieb sich die Stirn, und plötzlich, ganz von selbst und unerwartet, kam ihm nach langen Überlegungen ein sehr seltsamer Gedanke.
»Hm ... zu Rasumichin«, sagte er sich plötzlich ganz ruhig, als sei es sein endgültiger Entschluß, »zu Rasumichin werde ich natürlich gehen, doch ... nicht jetzt ... Ich will zu ihm ... am anderen Tage nach dem gehen, wenn es schon vorbei ist und wenn alles sich gewendet hat ...«
Plötzlich kam er zur Besinnung.
»Nach dem«, rief er aus, von der Bank aufspringend: »Ja, wird denn das überhaupt sein? Wird es denn wirklich sein?«
Er verließ die Bank und ging, oder rannte vielmehr fort; er wollte schon nach Hause zurückkehren, doch dieser Gedanke, nach Hause zu gehen, erschien ihm plötzlich widerlich: dort, in der Ecke, in jenem schrecklichen Schrank war das schon seit mehr als einem Monat gereift. Er ging nicht nach Hause, sondern aufs Geratewohl und ohne Ziel.
Sein nervöses Zittern ging in ein fieberhaftes über; er fühlte sogar Schüttelfrost; trotz dieser Hitze war es ihm kalt. Er begann, mit Anstrengung, beinahe unbewußt, aus irgendeiner inneren Notwendigkeit heraus, alle Gegenstände, denen er begegnete, zu betrachten, als suche er angestrengt nach Zerstreuung; dies wollte ihm aber nicht recht gelingen, und er versank jeden Augenblick wieder in seine Gedanken. Und wenn er zusammenfuhr, den Kopf hob und um sich blickte, so vergaß er sofort alles, was er sich eben gedacht hatte, selbst den Weg, den er gegangen war. Auf diese Weise durchschritt er die ganze Wassiljewskij-Insel, kam zur Kleinen Newa heraus, passierte die Brücke und wandte sich den Inseln zu. Das Grün und die frische Natur erfreuten anfangs seine müden Augen, die an den Staub, Kalk und an die großen, erdrückenden und beengenden Häuser der Stadt gewöhnt waren. Hier gab es weder die Schwüle, noch den Gestank, noch die Kneipen. Bald gingen aber diese neuen angenehmen Empfindungen in krankhafte und aufreizende über. Zuweilen blieb er vor einem im Grün liegenden, reichgeschmückten Landhause stehen, blickte durch den Zaun und sah in der Ferne auf den Balkonen und Terrassen ausgeputzte Frauen sitzen und im Garten Kinder herumlaufen. Besonders interessierten ihn die Blumen; auf ihnen verweilten seine Blicke am längsten. Er begegnete auch prunkvollen Equipagen, Reitern und Amazonen; er begleitete sie interessiert mit den Augen und vergaß sie, noch ehe sie seinen Blicken entschwanden. Einmal blieb er stehen und zählte sein Geld nach; er hatte noch an die dreißig Kopeken. »Zwanzig bekam der Schutzmann, drei – Nastasja für den Brief, also habe ich den Marmeladows gestern siebenundvierzig oder fünfzig Kopeken gegeben«, sagte er sich, nachdem er aus irgendeinem Grunde diese Berechnung angestellt hatte, vergaß aber gleich, wozu er das Geld aus der Tasche hervorgeholt hatte. Es fiel ihm wieder ein, als er an einer Speiseanstalt, einer Art Garküche vorbeiging, und er fühlte plötzlich Hunger. Er kehrte ein, trank ein Glas Schnaps und nahm dazu eine gefüllte Pastete. Diese aß er später im Gehen zu Ende. Er hatte seit sehr langer Zeit keinen Schnaps getrunken, und die Wirkung trat sofort ein, obwohl er nur ein einziges Glas getrunken hatte. Seine Füße wurden schwer, und er wollte schlafen. Er schlug den Weg nach Hause ein, als er aber schon die Petrowskij-Insel erreicht hatte, blieb er völlig erschöpft stehen, bog vom Wege ins Gebüsch ab, fiel ins Gras nieder und schlief sofort ein.
Bei krankhaften Zuständen pflegen die Träume äußerst lebhaft und überzeugend zu sein und der Wirklichkeit täuschend ähnlich zu sehen. Dabei entsteht oft ein ganz ungeheuerliches Bild, aber alle Umstände und der ganze Vorstellungsprozeß sind dabei so natürlich und glaubhaft und enthalten so viele unerwartete, feine und in wunderbarem künstlerischem Gleichgewicht zu dem ganzen Bilde stehende Einzelheiten, wie sie dem Träumenden im wachen Zustande nie einfallen könnten, selbst wenn er ein Künstler wie Puschkin oder Turgenjew wäre. Solche krankhaften Träume prägen sich immer tief ins Gedächtnis ein und haben eine starke Wirkung auf einen kranken und bereits erregten Organismus.
Raskolnikow sah einen schrecklichen Traum. Er sah sich in seine Jugend, in seine kleine Heimatstadt versetzt. Er ist sieben Jahre alt und geht an einem Feiertag abends mit seinem Vater in der Vorstadt spazieren. Der Tag ist schwül, es dämmert, die Landschaft ist genau so, wie er sie in seiner Erinnerung bewahrt hat, sie ist sogar viel deutlicher gezeichnet als in der Erinnerung. Das ganze Städtchen ist leicht zu überblicken, in der Umgebung ist kein Strauch oder Baum zu sehen, nur am fernen Horizonte sieht man etwas Dunkles – ein Wäldchen. Einige Schritte hinter dem letzten Gemüsegarten des Städtchens steht eine Branntweinschenke. Sie machte auf ihn, sooft er mit seinem Vater vorüberging, den unangenehmsten Eindruck, sie flößte ihm sogar Schrecken ein. Eine johlende Menge stand immer um die Schenke herum, man schrie, lachte und sang mit heiseren, trunkenen Stimmen, und immer gab es da Schlägereien. Man begegnete hier schrecklich versoffenen Individuen, und er schmiegte sich jedesmal zitternd an seinen Vater. Dicht an der Schenke geht eine Fahrstraße vorbei, sie ist staubig, und der Staub ist immer schwarz. Die Straße schlängelt sich etwa dreihundert Schritte von der Schenke entfernt um den städtischen Friedhof. Auf dem Friedhof steht eine Kirche aus Backstein mit einer grünen Kuppel. Diese Kirche pflegte er mit seinen Eltern zweimal jährlich zu den Seelenmessen für seine Großmutter zu besuchen, die vor vielen Jahren gestorben war und die er nicht gekannt hatte. Sie nahmen dann jedesmal in einer weißen Serviette eine weiße Schüssel mit dem Totengericht mit; es bestand aus süßem Reisbrei, in den Rosinen in Form eines Kreuzes hineingedrückt waren. Er liebte diese Kirche und die alten Heiligenbilder, die zum großen Teil keine Beschläge hatten, und den alten Priester mit dem zitternden Kopf. Neben dem Grabstein der Großmutter war das kleine Grab seines Bruders, der im Alter von sechs Monaten gestorben war und den er gleichfalls nicht gekannt hatte; es wurde ihm aber gesagt, er hätte einmal einen kleinen Bruder gehabt, und er bekreuzte sich jedesmal voll Andacht und küßte das Grab. Und da träumte ihm, er gehe mit seinem Vater diese Straße zum Friedhof an der Schenke vorbei. Er hat den Arm des Vaters umklammert und blickt ängstlich zu der Schenke hinüber. Sie interessiert ihn heute mehr als sonst; es scheint da ein Volksfest zu sein, es wimmelt von geputzten Weibern, Bauern und allem möglichen Gesindel. Alle sind betrunken und alle singen; vor der Schenke steht ein Wagen. Es ist einer von jenen großen Leiterwagen, die gewöhnlich mit schweren Lastgäulen bespannt werden und zum Transport von Schnapsfässern und anderen Waren dienen. Er liebte es, solchen langmähnigen und dickbeinigen Lastgäulen zuzuschauen, wie sie ruhig und sicher ganze Berge schleppen und sich dabei gar nicht abmühen, als spürten sie die schwere Last überhaupt nicht. Aber jetzt ist diesem schweren Wagen ein kleines schwaches hellbraunes Bauernpferd vorgespannt, eines von denen, die, wie er es oft gesehen hatte, mit einem Wagen Heu oder Brennholz stecken bleiben, besonders, wenn der Wagen in Kot gerät; in solchen Fällen pflegen die Bauern das Pferd erbarmungslos zu peitschen, die Peitschenhiebe fallen oft auf die Schnauze und auf die Augen; sooft er eine solche Szene beobachtet hatte, waren ihm Tränen in die Augen getreten, und die Mutter hatte ihn vom Fenster wegführen müssen. In die Menge kommt plötzlich Bewegung: aus der Schenke tritt ein Trupp gänzlich besoffener, riesengroßer, schreiender und singender Bauern, sie tragen rote und blaue Kittel, ihre Filzmäntel sind lose um die Schultern geworfen, und sie halten Balalaikas in der Hand. »Setzt euch alle, alle!« schreit ein junger Bauer mit fleischigem Hals und ziegelrotem Gesicht. »Ich fahre euch alle! Setzt euch nur!« Ringsum erschallt Gelächter, man ruft ihm zu:
»So eine Schindmähre soll uns schleppen?!«
»Bist du verrückt, Mikolka? Ein solches Pferd in diesen Wagen zu spannen!«
»Die Stute ist ja mindestens zwanzig Jahre alt!«
»Setzt euch nur, ich fahre euch alle!« schreit Mikolka, in den Wagen springend und die Zügel ergreifend. »Matwej ist vorhin mit dem braunen Hengst fortgefahren, und diese Mähre da ärgert mich nur, ich möchte sie gerne totschlagen, sie frißt ihr Futter ganz umsonst. Ich sage, setzt euch! Ich werde Galopp fahren! Ja, im Galopp!« Und mit diesen Worten ergreift er die Peitsche und bereitet sich auf den Genuß vor, die Stute zu schlagen.
»Setzt euch nur! Warum denn nicht?« johlt man in der Menge. »Ihr hört doch: er wird im Galopp fahren.«
»Die Braune ist wohl seit zehn Jahren nicht Galopp gelaufen.«
»Wird schon laufen!«
»Kein Erbarmen! Nehmt alle eure Peitschen her!«
»Hallo, haut los!«
Alle besteigen Mikolkas Wagen, man lacht und reißt Witze. Sechs Mann stehen schon auf dem Wagen, es ist aber noch Platz da. Man nimmt auch ein dickes rotbackiges Weib mit. Sie trägt ein grellrotes Kattunkleid, und ihr Kopfputz ist mit Glasperlen bestickt; sie knackt Nüsse und grinst. Auch die Zuschauer lachen: wie sollte man da nicht lachen: diese Schindmähre soll den schweren Wagen ziehen! Zwei Burschen im Wagen ergreifen ihre Peitschen, um Mikolka zu helfen. Das Pferd zieht mit allen Kräften an, es wird aber kein Galopp, es vermag den schweren Wagen selbst im Schritt nicht von der Stelle zu bringen, es keucht, schwankt und duckt sich unter den niederprasselnden Schlägen der drei Peitschen. Die Leute im Wagen und auf der Straße lachen wie toll. Mikolka gerät in Wut und schlägt immer wahnsinniger los, als wollte er wirklich das Pferd in Galopp bringen.
»Brüder, laßt auch mich herauf!« ruft ein Bursche aus der Zuschauermenge, der gleichfalls Appetit bekommen hat.
»Setzt euch nur! Setzt euch alle!« schreit Mikolka. »Sie wird euch alle ziehen. Ich peitsche sie tot!« Und es regnet wieder Peitschenhiebe; in seiner Raserei weiß er nicht mehr, womit er schlagen soll.
»Papa, Papa!« schreit der Knabe. »Papa, was tun die Leute? Papa, sie schlagen das arme Pferdchen!«
»Gehen wir, gehen wir,« sagt der Vater, »die Betrunkenen treiben ihre Possen. Sieh nicht hin!« Er will ihn wegführen, der Knabe reißt sich aber von ihm los und läuft ganz außer sich zum Pferd. Dem armen Tier geht es schon sehr schlecht: es ringt um Atem, bleibt stehen, zieht wieder an und fällt beinahe um.
»Peitscht sie tot!« schreit Mikolka. »Jetzt ist mir alles gleich. Ich schlage sie tot!«
»Bist du denn kein Christenmensch?« ruft ein alter Bauer. »Du Teufel!«
»Hat man es denn schon je gesehen, daß ein solches Pferd eine solche Last schleppen soll?« sagt ein anderer.
»Du wirst es noch umbringen!« schreit ein dritter.
»Ruhig! Es ist mein Gut! Was ich will, das tu ich. Setzt euch noch herauf! Alle! Ich will, daß sie Galopp läuft!«
Plötzlich ertönt schallendes Gelächter: die Stute hält es nicht länger aus und beginnt in ihrer Wehrlosigkeit auszuschlagen. Selbst der alte Bauer lacht mit; es ist in der Tat zu lächerlich: eine solche Schindmähre wagt es noch, auszuschlagen!
Zwei Burschen nehmen je eine Peitsche und laufen zu dem Pferd, um es von den Seiten zu schlagen, der eine rechts, der andere links.
»Schlagt sie auf die Schnauze, auf die Augen!« schreit Mikolka. »Auf die Augen!«
»Singt doch, Brüder!« schreit jemand im Wagen, und sofort ertönt ein ausgelassenes Lied, Schellen rasseln, beim Refrain wird gepfiffen. Das junge Weib knackt Nüsse und grinst.
... Der Knabe läuft neben dem Pferde her, er sieht, wie es auf die Augen, mitten auf die Augen geschlagen wird! Er weint. Sein Herz zuckt zusammen. Tränen laufen ihm aus den Augen. Ein Peitschenhieb trifft sein Gesicht, doch er fühlt ihn nicht; er ringt die Hände, er schreit, er wendet sich zu dem alten Bauer, der den Kopf schüttelt und das Ganze zu verurteilen scheint. Eine Frau nimmt ihn bei der Hand, um ihn wegzuführen, aber er reißt sich los und rennt wieder zu dem Pferd. Dieses ist schon halbtot und schlägt wieder aus.
»Daß dich der Teufel!« schreit Mikolka voller Wut; er wirft die Peitsche weg und holt aus dem Innern des Wagens eine lange dicke Deichselstange, er ergreift sie mit beiden Händen und schwingt sie über der Stute.
»Er bringt sie um!« rufen die Zuschauer.
»Er schlägt sie tot!«
»Es ist mein Gut!« Mikolka läßt die schwere Stange mit aller Wucht auf das Pferd niedersausen. Ein dumpfer Schlag ertönt.
»Peitscht sie, peitscht! Was steht ihr da?« klingt es aus der Menge.
Mikolka holt zu einem neuen Schlage aus, und die Stange saust wieder auf den Rücken der unglücklichen Stute nieder. Sie setzt sich auf die Hinterbeine, erhebt sich wieder und macht den letzten Versuch, den Wagen vorwärts zu ziehen, doch die Hiebe der sechs Peitschen prasseln auf sie von neuem, und die Deichsel saust zum dritten-, dann zum viertenmal nieder. Mikolka ist ganz wild, weil es ihm nicht gelungen ist, die Stute gleich beim ersten Schlag zu töten.
»Die ist zäh!« ertönt es in der Menge.
»Gleich fällt sie um, Brüder, gleich ist sie hin!« sagt ein Kenner.
»Nehmt doch eine Axt! Macht rascher ein Ende!« schlägt ein dritter vor.
»Daß dich die Mücken fressen!« brüllt Mikolka. Dann wirft er die Deichsel fort und nimmt eine schwere eiserne Brechstange. »Vorsicht!« und er läßt das Eisen mit voller Wucht auf seine arme Stute niedersausen. Das Tier taumelt, duckt sich und macht Anstalten, wieder zu ziehen, aber die Brechstange prallt ihr wieder auf den Rücken. Das Pferd stürzt, als hätte man ihm zugleich alle vier Beine entzweigeschlagen.
»Macht ein Ende!« schreit Mikolka und springt wie toll vom Wagen. Einige betrunkene Burschen mit roten Gesichtern ergreifen, was sie gerade finden – Peitschen, Stöcke und eine Deichsel – und eilen zu der verendenden Stute. Mikolka pflanzt sich an der Seite auf und bearbeitet mit seiner Eisenstange den Rücken. Die Stute reckt ihren Kopf, seufzt schwer auf und verendet.
»Nun hat er ihr den Garaus gemacht!« sagt jemand.
»Warum wollte sie auch nicht Galopp laufen!«
»Es ist mein Gut!« schreit Mikolka. Er hat noch immer die Eisenstange in der Hand, seine Augen sind blutunterlaufen. Es scheint ihm leid zu tun, daß er nun nichts zum Schlagen hat.
»Du bist wirklich kein Christenmensch!« tönt es in der Menge.
Der arme Knabe ist ganz außer sich. Er bahnt sich schreiend den Weg zu der Stute, er umarmt ihren toten, blutigen Kopf, küßt ihre Augen und Nüstern ... Dann springt er auf und stürzt sich, seine schwachen Hände zu Fäusten ballend, auf Mikolka. Aber in diesem Augenblick erwischt ihn endlich der Vater, er nimmt ihn auf die Arme und trägt ihn fort.
»Papa! Warum ... haben sie ... das arme Pferdchen getötet ...« Er schluchzt, und die Worte dringen wie Schreie aus seiner Brust.
»Es sind Betrunkene ... die machen sich einen Spaß ... uns geht es ja nichts an ... gehen wir!« sagt der Vater. Er umarmt den Vater. Er spürt eine schwere Last auf der Brust ... er will Atem holen, aufschreien und – erwacht.
Er ist in Schweiß gebadet, seine Haare triefen von Schweiß, er atmet schwer und richtet sich entsetzt auf.
»Gott sei Dank! Es war nur ein Traum!« sprach er zu sich. Dann setzte er sich unter dem Baume hin und holte tief Atem. »Was ist das nun eigentlich? Fiebere ich? So ein gräßlicher Traum!«
Sein Körper war wie zerschlagen. In seiner Seele war es dunkel und öde. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände.
»Mein Gott!« rief er aus, »werde ich nun wirklich ein Beil nehmen, werde ihr den Schädel einschlagen ... werde im warmen klebrigen Blut herumtasten. Kästen aufbrechen, stehlen und zittern und mich dann, mit Blut besudelt, zu verbergen suchen ... mit dem Beile ... Mein Gott, wird es so kommen?«
Er zitterte wie Espenlaub, als er dies sprach.
»Was ist nur mit mir?« fuhr er mit Erstaunen fort. »Ich habe ja gewußt, daß ich es nicht ertragen kann; warum habe ich mich bis jetzt so gequält? Gestern, ja gestern, als ich zu ihr ging, um die ... Probe zu machen, war es mir ja ganz klar, daß ich es nicht über mich bringe ... Was ist nur jetzt mit mir? Wie konnte ich noch zweifeln? Als ich gestern die Treppe hinunterging, hab' ich mir ja selbst gesagt, daß es häßlich, schlecht, gemein ist ... Mir wurde ja beim bloßen Gedanken im wachen Zustand so schlecht, und ich war wie gelähmt vor Angst.
Nein, ich ertrage es nicht, ich ertrage es nicht! Wenn in meinen Berechnungen auch gar keine Fehler enthalten sind, wenn auch alles, was ich mir in den letzten vier Wochen zurechtgelegt habe, so klar wie die Sonne, so logisch wie die Mathematik ist ... Mein Gott! Ich werde mich doch nie entschließen können! Ich werde es nicht ertragen, ich werde es nicht ertragen ... Was habe ich mir nur bisher gedacht?! ...«
Er erhob sich, blickte erstaunt um sich, als begreife er nicht, wie er hergeraten sei. Dann schlug er den Weg zu der T–schen Brücke ein. Er war blaß, seine Augen brannten, er fühlte eine große Müdigkeit in allen Gliedern, doch er atmete viel leichter als früher. Er fühlte, daß er die schwere Last, die ihn so lange bedrückte, von sich geworfen habe, und dies gab ihm tiefen Frieden und Erleichterung. »O Herr!« betete er. »Zeige mir den Weg, den ich gehen soll, ich will mich aber von jenem verfluchten ... Wahn lossagen!«
Er ging über die Brücke und betrachtete ruhig und friedevoll die Newa und das leuchtende Abendrot. Trotz seiner Schwäche spürte er nichts von Müdigkeit. Es war, als sei das Geschwür auf seinem Herzen, das während der letzten Woche reif geworden war, plötzlich geplatzt ... Freiheit ... Freiheit! Er fühlte sich frei von jenem Zauber, von Verführung und Versuchung.
Als er später an diese Tage und Ereignisse zurückdachte und sie Minute für Minute, Punkt für Punkt durchnahm, wunderte er sich jedesmal über einen Umstand, der zwar an sich durchaus nicht merkwürdig war, den er aber als einen Fingerzeig des Schicksals auffaßte.
Er fragte sich nämlich, warum er damals, trotz seiner Müdigkeit und Abspannung nicht den kürzesten Weg nach Hause genommen, sondern einen völlig überflüssigen Umweg über den Heumarkt gemacht hatte. Der Umweg war allerdings nicht groß, aber doch ganz sinnlos und unnötig. Es passierte ihm zwar oft, daß er heimging, ohne auf den Weg zu achten. Er fragte sich aber, warum die wichtige, entscheidende und höchst zufällige Begegnung auf dem Heumarkte gerade mit jener Stimmung, mit jenen Umständen und mit jenem Augenblick seines Lebens zusammenfiel, in denen diese Begegnung einen entscheidenden Einfluß auf sein ganzes Schicksal haben mußte? Als hätte dieser Augenblick auf ihn gelauert ...
Es war gegen neun Uhr, als er über den Platz ging. Alle Händler, die in Läden, auf Tischen und im Herumziehen ihre Geschäfte betrieben, machten Feierabend, räumten ihre Waren fort und gingen, ebenso wie die Käufer, nach Hause. In der Nähe der Garküchen, in den schmutzigen und stinkenden Höfen und besonders bei den Schenken drängten sich noch viele Händler und Trödler. Raskolnikow bevorzugte bei seinen Spaziergängen gerade diese Gegend und die anstoßenden Gassen. Seine schäbige Kleidung fiel hier niemand auf, und hier konnte er in jedem Aufzug erscheinen, ohne Anstoß zu erregen. An der Ecke der K–Gasse trieb ein Kleinbürgerpaar an zwei Tischen Handel mit Garn, Bändern, billigen Tüchern und ähnlichem Kram. Sie waren gleichfalls im Begriff, Feierabend zu machen, da kam aber zu ihrem Verkaufsstand eine Bekannte und hielt sie auf. Diese Bekannte war Lisaweta Iwanowna, oder kurzweg Lisaweta, wie sie von allen genannt wurde, eine jüngere Schwester der alten Aljona Iwanowna, der Kollegienregistratorswitwe und Wucherin, bei der Raskolnikow gestern gewesen war, um ihr eine Uhr zum Pfand anzubieten und dabei seine Probe zu machen ... Er kannte Lisaweta seit längerer Zeit sehr genau, und auch sie kannte ihn flüchtig. Es war eine lange, plumpe, schüchterne alte Jungfer, beinahe eine Idiotin; sie war etwa fünfunddreißig und wurde von ihrer Schwester wie eine Sklavin behandelt; sie arbeitete für sie Tag und Nacht, hatte vor ihr den größten Respekt und bekam von ihr zuweilen Schläge. Sie stand nachdenklich mit einem Bündel in der Hand vor dem Händlerehepaar und hörte aufmerksam zu. Diese redeten auf sie mit besonderem Eifer ein. Als Raskolnikow sie erkannte, bemächtigte sich seiner ein tiefes Erstaunen, obwohl an der Begegnung eigentlich nichts Wunderbares war.
»Entscheiden Sie, Lisaweta Iwanowna, doch selbst über die Sache«, sprach der Kleinbürger. »Kommen Sie morgen so gegen sieben, und dann treffen Sie auch die Leute.«
»Morgen?« fragte nachdenklich und gedehnt Lisaweta. Sie konnte sich wohl nicht entschließen.
»Wie Sie die Aljona Iwanowna eingeschüchtert hat!« sagte die Frau, ein geriebenes Weib. »Wenn ich Sie so anschaue, kommen Sie mir wie ein kleines Kind vor. Sie ist nicht einmal eine richtige Schwester von Ihnen, nur eine Stiefschwester, und doch hat sie Sie so unter dem Pantoffel.«
»Sagen Sie doch der Aljona Iwanowna diesmal überhaupt nichts!« unterbrach der Händler seine Frau. »So rate ich Ihnen. Kommen Sie einfach her, ohne ihr ein Wort zu sagen. Das Geschäft ist doch glänzend. Ihre Schwester wird es hinterdrein schon selbst einsehen.«
»Soll ich wirklich kommen?«
»Morgen um sieben. Dann kommen auch die Leute her. Sie können dann alles persönlich abschließen.«
»Es wird auch Tee geben«, bemerkte die Frau.
»Gut. Ich werde kommen«, sagte endlich Lisaweta. Sie war noch immer unschlüssig und verließ zögernd den Verkaufsstand.
Dies war alles, was Raskolnikow im Vorbeigehen hörte. Er ging leise und unbemerkt vorbei und gab sich Mühe, jedes Wort aufzufangen. Sein Erstaunen von vorhin ging allmählich in Grauen über; es überlief ihn kalt: er hatte ja soeben erfahren, daß Lisaweta, die Schwester und einzige Hausgenossin der alten Wucherin, morgen um sieben Uhr abends fortgehen und daß die Alte um diese Zeit ganz allein bleiben werde.
Er hatte nur noch wenige Schritte bis zu seiner Wohnung. Er betrat sein Zimmer in der Stimmung eines zum Tode Verurteilten. Er überlegte sich nichts mehr und war dazu auch nicht imstande. Aber mit seinem ganzen Wesen fühlte er, daß er von nun an weder über die Freiheit seiner Vernunft noch über seinen Willen verfügte und daß nun alles endgültig besiegelt sei.
Wenn er auch viele Jahre auf eine geeignete Gelegenheit gelauert hätte, so hätte er selbst bei einem endgültig gefaßten Entschluß kaum einen größeren Erfolg auf dem Wege zur Ausführung seines Entschlusses erzielen können als diesen, den er soeben erreicht hatte. Jedenfalls wäre es sehr schwierig gewesen, am Vorabend des entscheidenden Tages mit größerer Sicherheit und mit geringerem Risiko, ganz ohne alle gefährlichen Umfragen, festzustellen, daß die Alte, gegen die er ein Attentat plante, zur betreffenden Stunde ganz mutterseelenallein zu Hause sein würde.
Raskolnikow erfuhr später durch Zufall, wozu die Händler Lisaweta zu sich bestellt hatten. Es war eine ganz gewöhnliche Angelegenheit. Eine zugereiste verarmte Familie wollte verschiedene Kleidungsstücke verkaufen. Da der Verkauf auf offenem Markt unvorteilhaft gewesen wäre, so suchte man eine Trödlerin. Lisaweta Iwanowna betrieb gerade solche Geschäfte und Kommissionen. Sie hatte eine große Kundschaft, denn sie war ehrlich und pflegte immer feste Preise zu machen. Sonst war sie ja sehr wortkarg und, wie schon gesagt, schüchtern und scheu.
Raskolnikow war in der letzten Zeit abergläubisch. Spuren von Aberglauben bewahrte er auch in seinem späteren Leben. Und die ganze Sache erschien ihm sehr seltsam und geheimnisvoll, als hätte das Schicksal selbst diese Zufälligkeiten angeordnet. Im letzten Winter hatte ihm ein Student namens Pokorew vor seiner Abreise nach Charkow die Adresse der alten Aljona Iwanowna gegeben, für den Fall, wenn er etwas versetzen wolle. Lange Zeit machte er keinen Gebrauch von dieser Adresse, denn er konnte mit Stundengeben einigermaßen auskommen. Vor etwa sechs Wochen war ihm die Adresse wieder eingefallen, er hatte zwei Gegenstände zum Versetzen: eine alte silberne Uhr von seinem Vater und einen kleinen goldenen Ring mit drei roten Steinchen – ein Abschiedsgeschenk von seiner Schwester. Er entschloß sich, den Ring zu versetzen; er ging zu der Alten, die ihm gleich beim ersten Blick einen unüberwindbaren Ekel einflößte, bekam von ihr zwei »Banknoten« und kehrte auf dem Heimwege in ein billiges Restaurant ein. Er bestellte sich Tee und versank in Gedanken. Aus seinem Gehirne schälte sich, wie ein Küchlein aus einem Ei, eine seltsame Idee aus, die ihn vollkommen fesselte.
Am Nebentisch saßen ein Student, den er nicht kannte, und ein junger Offizier. Sie hatten soeben Billard gespielt und tranken Tee. Plötzlich hörte er, wie der Student dem Offizier die Adresse der alten Wucherin und Kollegienregistratorswitwe Aljona Iwanowna mitteilte. Dies fiel Raskolnikow sofort auf: er kam ja soeben von der Alten, und da hörte er gleich von ihr sprechen. Es war ja selbstverständlich reiner Zufall, aber er stand noch ganz unter dem sehr ungewöhnlichen Eindruck, den die Alte auf ihn gemacht hatte; der Student schien aber diesen Eindruck absichtlich verstärken zu wollen, denn er erzählte seinem Freund auch allerlei Details über Aljona Iwanowna.
»Sie ist ja sehr nett,« erzählte der Student, »man bekommt von ihr immer Geld; sie ist reich wie ein Jude und kann jederzeit selbst fünftausend Rubel beschaffen, und dabei lehnt sie auch ein Pfand von einem Rubel nie ab. Viele von den Kollegen haben mit ihr zu tun. Sie ist aber ein Luder.«
Und dann erzählte er, wie böse und eigensinnig sie sei; wenn man nur einen Tag im Verzug wäre, sei das Pfand unrettbar verloren. Sie beleihe die Gegenstände nur mit einem Viertel ihres Wertes, nehme aber fünf bis sieben Prozent Monatszinsen. Der Student erzählte noch vieles, und unter anderem auch von der Schwester der Alten; die Alte sei zwar klein und schwächlich, und doch schlage sie die Lisaweta jeden Augenblick, behandele sie wie eine Sklavin, während Lisaweta mindestens zweimal so groß wie sie sei ...
»Die ist auch ein Unikum!« rief der Student lachend aus.
Und nun sprachen sie von Lisaweta. Dem Studenten schien seine Erzählung besonderes Vergnügen zu bereiten, und er lachte jeden Augenblick auf; der Offizier hörte mit großem Interesse zu und beauftragte ihn, ihm die Lisaweta zu schicken: er wolle ihr Wäsche zum Ausbessern geben. Raskolnikow hörte schweigend zu und erfuhr alles: Lisaweta sei die jüngere und eine Stiefschwester der Alten (von verschiedenen Müttern); sie zähle etwa fünfunddreißig Jahre, arbeite Tag und Nacht und sei zugleich Waschfrau und Köchin bei ihrer Schwester, dabei finde sie noch Zeit, Näharbeit anzunehmen und sich als Taglöhnerin zu verdingen; alles, was sie dabei verdiene, liefere sie der Alten ab. Ohne Erlaubnis der Alten nehme sie keine Bestellung oder Arbeit an. Die Alte habe schon ihr Testament gemacht, nach welchem, wie es auch der Lisaweta bekannt sei, ihr nur einige Stühle und sonstiger Hausrat zufielen, während das ganze Geld für ein Kloster im N–schen Gouvernement zu ewigen Seelenmessen bestimmt sei. Lisaweta sei eine Kleinbürgerin und von äußerst lächerlicher äußerer Erscheinung; sie sei ungeheuer lang, habe lange krumme Beine, trage immer abgetretene Schuhe aus Bockleder und halte sich sonst sehr sauber. Worüber aber der Student besonders lachte, war, daß Lisaweta sich meistens in gesegneten Umständen befand ...
»Du sagst ja, sie sei ein Scheusal?« bemerkte der Offizier.
»Ja, sie hat eine so dunkle Hautfarbe, sieht wie ein verkleideter Soldat aus, aber eigentlich ist sie gar kein Scheusal. Ihr Gesicht und ihre Augen drücken große Güte aus. Wirklich! Darum gefällt sie auch vielen. Sie ist so still, sanft, dienstfertig, gefügig, ja, zu allem gefügig. Ihr Lächeln ist sogar direkt schön.«
»Ich glaube gar, sie gefällt auch dir?« Der Offizier lachte.
»Ihrer Originalität wegen. Aber ich will dir etwas sagen. Ich hätte die verfluchte Alte gern ermordet und beraubt; ich schwöre dir, ohne mein Gewissen irgendwie zu belasten.«
Der Offizier lachte laut auf. Raskolnikow zuckte zusammen: das Ganze kam ihm so seltsam vor!
»Erlaube mal,« sagte der Student erregt, »ich will dir eine ernste Frage vorlegen. Ich habe ja natürlich gescherzt, aber denke dir nur; einerseits die dumme, nichtsnutzige, sinnlose, böse und kranke Alte, die jeden Augenblick sterben kann ... Verstehst du mich?«
»Ja, ich verstehe«, sagte der Offizier. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Studenten.
»Höre nur weiter. Andererseits gehen Tausende junger, lebensfähiger Existenzen hilflos zugrunde. Und so ist es überall! Mit dem Geld der Alten, das für ein Kloster bestimmt ist, könnte man Hunderte und Tausende guter Werke verrichten! Man könnte Hunderte, Tausende von Existenzen auf den richtigen Weg bringen! Unzählige Familien vor Armut, Verfall, Verderben, Unzucht, Geschlechtskrankheiten erretten! Und alles mit ihrem Geld. Wenn ich sie nun töte und ihr Geld nehme, um mich dann dem Dienste der Menschheit, der Allgemeinheit zu widmen, – glaubst du denn nicht, daß das kleine Vergehen – mit den Tausenden von guten Werken ganz aufgewogen wird? Mit einem Leben werden tausend vor Verfall und Auflösung gerettete Leben erkauft. Ein Tod und hundert Leben – das ist ja ein Rechenexempel! Und was bedeutet denn auf der großen Wage das Leben dieser schwindsüchtigen, dummen und bösen Alten? Doch kaum mehr als das Leben einer Laus, einer Küchenschabe und noch weniger, denn die Alte ist schädlich; sie schädigt auch das Leben einer anderen; sie hat neulich die Lisaweta aus Bosheit in den Finger gebissen. Der Finger mußte beinahe amputiert werden!«
»Ja, sie hat kein Recht auf das Leben,« bemerkte der Offizier, »aber so will es wohl die Natur.«
»Aber Freund! Die Natur soll man verbessern und korrigieren, sonst müßte man ja in Vorurteilen versinken. Wir hätten dann keinen einzigen großen Menschen. Man sagt: Pflicht, Gewissen; ich habe ja nichts gegen Pflicht und Gewissen einzuwenden, – aber wie verstehen wir sie? Warte, ich will noch eine Frage stellen. Höre!«
»Nein, warte du; ich will dich fragen. Höre!«
»Nun?«
»Du redest und predigst jetzt, aber sage mir: bist du imstande, die Alte selbst umzubringen, oder nicht?«
»Natürlich nicht! Ich sage ja nur, was die Gerechtigkeit verlangt ... Sonst ist es ja nicht meine Sache ...«
»Da will ich dir folgendes sagen: wenn du dich selbst nicht entschließt, so darfst du hier nicht von Gerechtigkeit sprechen! ... Komm, spielen wir noch eine Partie!«
Raskolnikow war äußerst aufgeregt. Es waren zwar nur ganz gewöhnliche und ganz private Gedanken junger Menschen, wie er sie in anderen Worten und über andere Stoffe schon oft gehört hatte. Warum mußte er aber dies Gespräch gerade in diesem Augenblick anhören, als auch in seinem Kopf die ganz gleichen Gedanken keimten? Warum geriet er gerade in dem Augenblick, als in ihm dieser Keim aufging, auf dieses Gespräch? ... Dieses Zusammentreffen kam ihm immer seltsam vor. Dieses unbedeutende Restaurantgespräch hatte im folgenden einen entscheidenden Einfluß auf ihn: darin schien wirklich eine Vorbedeutung, ein Fingerzeig zu liegen ...
* * *
Vom Heumarkte zurückgekehrt, stürzte er sich auf sein Sofa und saß eine ganze Stunde lang regungslos da. Inzwischen war der Abend angebrochen; er hatte keine Kerze, auch fühlte er kein Bedürfnis, Licht zu machen. Er konnte sich später nie genau erinnern, ob er in dieser Stunde überhaupt an etwas gedacht hatte. Endlich fühlte er einen neuen Fieberanfall, und da fiel es ihm ein, daß er sich auf dem Sofa auch hinlegen könnte. Bald überfiel ihn ein schwerer, bleierner, bedrückender Schlaf.
Er schlief ungewöhnlich lange, ohne zu träumen. Der Dienstmagd Nastasja, die am nächsten Morgen um zehn Uhr in sein Zimmer kam, gelang es nur mit Mühe, ihn zu wecken. Sie brachte ihm Tee und Brot. Der Tee war wie immer vom zweiten Aufguß, und sie brachte ihn in ihrer eigenen Kanne.
»Wie er nur so schlafen kann!« rief sie empört aus. »Nichts als schlafen!«
Er erhob sich mit großer Anstrengung. Sein Kopf schmerzte; er stand ganz auf, machte einige Schritte durch seine Kammer, fiel aber gleich wieder aufs Sofa.
»Wieder schlafen!« rief Nastasja aus. »Bist du denn krank?«
Er gab keine Antwort.
»Willst du Tee?«
»Später«, brachte er mit Mühe heraus; er schloß wieder die Augen und kehrte sich zur Wand.
»Er ist vielleicht wirklich krank«, sagte sie und ging weg.
Sie kam um zwei Uhr wieder und brachte ihm Suppe. Er lag noch immer. Der Tee stand unberührt. Nastasja fühlte sich dadurch verletzt und begann ihn wie wütend zu rütteln.
»Was schnarchst du noch!« schrie sie und blickte ihn dabei wie angeekelt an. Er erhob sich und setzte sich, erwiderte aber kein Wort und sah immer zu Boden.
»Bist du krank oder nicht?« fragte Nastasja. Sie bekam wieder keine Antwort.
»Du solltest wenigstens etwas ins Freie gehen!« sagte sie nach einer Pause. »Dann bekommst du Luft. Wirst du etwas essen?«
»Später«, sagte er mit schwacher Stimme. »Geh!« Und er winkte ihr ab.
Sie blieb noch eine Weile stehen, sah ihn voll Mitleid an und ging.
Nach einigen Minuten öffnete er die Augen, starrte lange den Tee und die Suppe an, ergriff darauf den Löffel und das Brot und begann zu essen.
Er nahm nur drei oder vier Löffel zu sich, ganz automatisch und ohne Appetit. Der Kopf schmerzte etwas weniger. Nach dem Essen streckte er sich wieder auf dem Sofa aus, aber er schlief nicht mehr ein. Er lag unbeweglich, den Kopf in das Kissen vergraben. Er phantasierte, und seine Phantasien waren sehr eigenartig; er sah sich in Afrika, in einer ägyptischen Oase. Die Karawane hielt Rast, die Kamele lagen ruhig da. Palmen standen im Kreise umher. Alle aßen zu Mittag, er aber trank Wasser aus einem Bach, der gleich an seiner Seite rauschte. Das kühle, wunderbar blaue Wasser lief über bunte Steine und goldig schimmernden Sand ... Plötzlich hörte er ganz deutlich eine Uhr schlagen. Er zuckte zusammen, kam zu sich, hob den Kopf, schaute zum Fenster hinaus, um nach der Zeit zu sehen, sprang dann rasch vom Sofa auf, als hätte ihm jemand einen Stoß versetzt. Er ging auf den Fußspitzen zur Tür, machte sie leise auf und horchte zur Stiege hinunter. Er hatte heftiges Herzklopfen. Aber auf der Stiege war es so still, als schlafe das ganze Haus ... Es kam ihm so dumm und sonderbar vor, daß er imstande gewesen war, die ganze Zeit durchzuschlafen, und daß er noch gar keine Vorbereitungen getroffen hatte ... Vielleicht hatte es schon sechs geschlagen ... An Stelle der Schläfrigkeit trat jetzt eine fieberhafte, unruhige Geschäftigkeit. Er hatte übrigens nicht viel vorzubereiten. Er spannte seine ganze Denkkraft an, um ja nichts zu vergessen; sein Herz pochte wie wild, und sein Atem ging schwer. Zuerst mußte er eine Schlinge machen und sie an seinen Mantel nähen; das war bald getan. Er langte unter sein Kopfkissen und holte aus der Wäsche, mit der es gefüllt war, ein ganz zerrissenes ungewaschenes Hemd hervor. Er riß davon einen Streifen, etwa zwei Zoll breit und vierzehn Zoll lang ab. Diesen Streifen legte er zusammen, zog seinen weiten Sommermantel, der aus einem sehr festen Baumwollstoff gefertigt war, aus und begann den Streifen mit beiden Enden auf die Innenseite des Mantels unter der linken Achsel anzunähen. Seine Hände zitterten während der Arbeit, doch war von den Nähten nichts zu sehen. Nadel und Faden hatte er längst zurechtgelegt, sie lagen in Papier eingewickelt in seiner Tischlade. Diese Schlinge war seine eigene höchst geistreiche Erfindung: sie war für das Beil bestimmt. Er konnte das Beil ja nicht offen auf der Straße tragen. Hätte er es einfach unter dem Mantel verborgen, so hätte er es ja mit einer Hand halten müssen, was aufgefallen wäre. Wenn er nun das Beil mit der Schneide in diese Schlinge hängte, so konnte er es ganz unauffällig unter dem Arm tragen. Die Hand konnte er in die Manteltasche stecken und so den Griff des Beiles festhalten, damit dieser nicht hin und her pendele. Der Mantel war sehr weit, und man konnte unmöglich erraten, daß seine Hand den Beilgriff hielt. Diese Erfindung hatte er bereits vor vierzehn Tagen gemacht.
Als er damit fertig war, langte er mit der Hand in den schmalen Spalt zwischen seinem »türkischen« Sofa und dem Fußboden, suchte in der linken Ecke und holte das längst vorbereitete und versteckte Pfand heraus. Dieses »Pfand« bestand aus einem glatt gehobelten Holzbrettchen in der Größe eines gewöhnlichen silbernen Zigarettenetuis. Das Brettchen hatte er bei einem seiner Spaziergänge zufällig auf einem Hof in der Nähe einer Werkstatt gefunden. Später fügte er noch eine dünne Eisenplatte hinzu, die er wohl auch zufällig gefunden hatte. Die Eisenplatte war etwas kleiner als das Brettchen; er legte beide übereinander und band sie kreuzweise mit einem Faden zusammen; das Ganze wickelte er dann elegant in ein sauberes Papier und schnürte das Paket noch einmal zusammen, und zwar sehr kompliziert, damit die Alte einige Zeit zum Aufschnüren brauchte und er dabei einen günstigen Augenblick abwarten konnte. Die Eisenplatte diente zur Vergrößerung des Gewichts, damit die Alte nicht gleich sähe, daß der »Gegenstand« aus Holz sei. Das Ganze lag schon einige Zeit bereit. Als er das Pfand herausholte, hörte er jemand im Hof schreien:
»Es hat ja längst sechs geschlagen!«
»Längst! Mein Gott!«
Er stürzte zur Tür, horchte, nahm den Hut und begann unhörbar wie eine Katze die siebzehn Stufen hinabzugehen. Jetzt galt es noch, aus der Küche das Beil zu stehlen. Er hatte schon längst beschlossen, die Tat mit einem Beil auszuführen. Er besaß noch ein zusammenklappbares Gärtnermesser; er wollte sich aber nicht auf dies Messer und besonders auf seine Kräfte verlassen und wählte daher endgültig ein Beil. Wir wollen hier auf eine Eigentümlichkeit aller seiner endgültigen Entschlüsse hinweisen: je endgültiger sie wurden, um so dümmer und sinnloser erschienen sie ihm. Trotz seiner qualvollen inneren Kämpfe konnte er auch nicht einen Augenblick an die Ausführbarkeit seiner Pläne glauben.
Und selbst wenn es ihm gelungen wäre, alles bis zum allerletzten Detail durchzudenken und endgültig zu beschließen, wenn er gar keine Zweifel mehr gehabt hätte, so hätte er sich schließlich doch von allem losgesagt wie von einer Dummheit, Ungeheuerlichkeit und Unmöglichkeit. Es gab aber noch eine große Menge von Zweifeln und ungeklärten Details. Die Beschaffung eines Beils machte ihm gar keine Schwierigkeiten, denn nichts war leichter als das. Nastasja ging jeden Augenblick, besonders in den Abendstunden aus; sie steckte bei den Nachbarn oder beim Krämer, die Küchentür ließ sie weit offenstehen. Die Wirtin zankte mit ihr immer darüber. Er brauchte also nur leise in die Küche zu gehen, das Beil zu nehmen und es eine Stunde später (wenn alles geschehen war) wieder hinzubringen. Es waren allerdings auch da Zweifel: wenn z.B. in einer Stunde, wenn er das Beil wiederbringen will, Nastasja zufällig in der Küche ist. Dann muß er natürlich an der Küche vorbeigehen und abwarten, bis Nastasja wieder fort ist. Wenn sie aber inzwischen das Beil sucht, es nicht findet und zu schimpfen beginnt, – so ist gleich ein Verdacht oder wenigstens ein Verdachtsmoment vorhanden.
Das waren nur Kleinigkeiten, über die er noch gar nicht nachgedacht hatte, auch hatte er keine Zeit zum Nachdenken. Er dachte nur an die Hauptsache und schob alles andere hinaus. Das Wichtigste schien ihm absolut unausführbar. Er konnte sich z.B. gar nicht vorstellen, daß er einmal zu denken aufhören und sich auf den Weg machen sollte ... Auch seine Probe (d.h. den Besuch bei der Alten mit der Absicht, den Ort auszukundschaften) hatte er nur probiert, d.h. nicht mit vollem Ernst unternommen; er hatte sich gesagt, ich will einmal hingehen und probieren, statt noch länger zu grübeln – und er hatte es ja auch nicht ausgehalten; er hatte ausgespuckt und war, wütend über sich selbst, davongelaufen. Und doch schien es ihm, daß er mit der Analyse der Sache vom Standpunkte der Moral aus gänzlich fertig sei: seine Kasuistik war nun so scharf wie ein Rasiermesser, und er kannte keine ernstlichen Einwände mehr. Doch zuletzt glaubte er sich selbst nicht mehr und suchte hartnäckig und sklavisch nach Einwänden, als ob er dazu von jemand gezwungen oder gestoßen worden wäre. Der letzte Tag, der so unerwartet angebrochen war und alles entschieden hatte, wirkte auf ihn rein mechanisch: als ob jemand seine Hand ergriffen und ihn mit sich fortgerissen hätte, blind, mit ungewöhnlicher Kraft, ohne Einwände und Gegenwehr. Als wäre er mit einem Rockzipfel in das Rad einer Maschine geraten, das ihn nun mit sich fortriß.
Anfangs – es war übrigens vor längerer Zeit – interessierte ihn die Frage, warum die meisten Verbrechen so leicht aufgedeckt wurden und warum die Spuren der Verbrecher so leicht zu finden wären. Allmählich kam er zu verschiedenartigen, sehr interessanten Schlußfolgerungen: der Grund liege nicht so sehr in der physischen Unmöglichkeit, alle Spuren der Tat zu verwischen, wie im Täter selbst; dieser erfahre im Augenblick der Tat eine sonderbare Abschwächung des Willens und der Vernunft, an deren Stelle ein ungewöhnlicher Leichtsinn träte, und zwar gerade in dem Augenblick, da Vernunft und Vorsicht besonders notwendig seien. Er glaubte, daß diese Vernunfts- und Willensschwäche sich wie eine Krankheit ganz allmählich entwickele, unmittelbar vor der Tat ihren Höhepunkt erreiche, in diesem Stadium auch während der Tat und einige Zeit nach derselben – je nach Veranlagung des Täters – verbleibe und schließlich, wie jede Krankheit, weiche. Er fühlte jedoch nicht die Kraft, über die Frage, ob die Krankheit das Verbrechen zur Folge habe, oder ob das Verbrechen die Krankheit mit sich bringe, zu entscheiden.
Als er zu dieser Schlußfolgerung gekommen war, gewann er auch die Überzeugung, daß er für seine Person vor solchen krankhaften Zuständen gefeit sei und daß er seinen Willen, seine Vernunft während der Ausführung seines Vorhabens bewahren werde, denn das, was er vorhatte, sei ja »kein Verbrechen«. Wir wollen den ganzen Denkprozeß, durch den er zu dieser letzten Folgerung gelangte, nicht untersuchen; wir sind auch sonst den Ereignissen zu weit vorausgeeilt ... Wir wollen nur erwähnen, daß alle rein praktischen Schwierigkeiten für ihn eine untergeordnete Bedeutung hatten. »Wenn man sie nur unter der Gewalt seines ganzen Willens und seiner ganzen Vernunft behält, so werden alle diese Schwierigkeiten sofort überwunden sein, sobald man das Unternehmen mit allen Details vor sich sieht ...« Er kam aber noch immer nicht zum entscheidenden Schritt. Seinen endgültigen Beschlüssen traute er nicht, und als die Stunde geschlagen hatte, entwickelte sich alles gar nicht so, wie er es sich zurechtgelegt hatte, sondern ganz automatisch und beinahe unerwartet.
Ein Umstand verblüffte ihn, noch ehe er die Stiege hinuntergegangen war. Als er an der Küchentür, die wie immer weit offenstand, vorbeiging, schielte er hinein, um sich zu überzeugen, ob in Nastasjas Abwesenheit nicht die Wirtin selbst in die Küche gekommen sei; und wenn die Küche leer war, ob die Tür zum Zimmer der Wirtin ordentlich zugemacht sei, damit sie nicht hörte, wie er das Beil holte, und nicht in die Küche hinausguckte. Wie groß war sein Erstaunen, als er bemerkte, daß Nastasja ausnahmsweise nicht nur zu Hause und in der Küche war, sondern auch arbeitete! Sie stand vor einem Waschkorb und hängte auf eine Leine Wäsche zum Trocknen auf. Als sie ihn bemerkte, hielt sie in ihrer Arbeit inne, wandte sich zu ihm und verfolgte ihn mit den Augen. Er sah weg und ging vorüber, als hätte er nichts gemerkt. Die Sache war aber verloren: er hatte kein Beil! Er war sehr bestürzt.
»Wie konnte ich nur so bestimmt darauf rechnen,« sagte er sich, während er das Tor passierte, »daß sie gerade in diesem Augenblick nicht zu Hause sein würde! Wie kam ich nur auf diesen Fehler?« Er war zerknirscht und tief erniedrigt. Er wollte über sich selbst lachen; stumpfer, tierischer Haß erfüllte ihn.
Unten im Torweg blieb er nachdenklich stehen. Es war ihm unerträglich, jetzt zum Schein einen Spaziergang zu machen, aber noch unerträglicher – nach Hause zurückzukehren. »So ein günstiger Zufall ist nun für immer verloren!« murmelte er, während er im Torweg automatisch vor der offenen Kammer des Hausknechts stehen blieb. Plötzlich zuckte er zusammen: unter der Bank in der finsteren Kammer, etwa zwei Schritte vor ihm, sah er etwas aufblitzen ... Er blickte um sich: kein Mensch war zu sehen. Er ging unhörbar die zwei Stufen zur Kammer hinunter und rief mit schwacher Stimme nach dem Hausknecht. »Es stimmt! Er ist nicht zu Hause. Er wird irgendwo in der Nähe sein, denn die Tür steht weit offen.« – Er stürzte sich blitzschnell auf das Beil (denn es war ein Beil) und zog es unter der Bank, wo es zwischen zwei Holzklötzen lag, hervor, er befestigte es in der Schlinge, steckte beide Hände in die Taschen und verließ, von niemand bemerkt, die Kammer. »Hilft nicht die Vernunft, so hilft der Teufel« sagte er sich mit einem sonderbaren Lächeln. Dieser Zufall ermutigte ihn außerordentlich.
Er ging langsam und gesetzt seinen Weg, ohne Eile, um keinerlei Verdacht zu erregen. Die Passanten sah er gar nicht an und gab sich die größte Mühe, möglichst wenig aufzufallen. Da fiel ihm sein Hut ein. – »Mein Gott! Ich hatte ja noch vorgestern Geld, warum habe ich mir nicht statt des Hutes eine Mütze gekauft?« Er fluchte.
Er schielte in einen Laden hinein und sah auf die Wanduhr: es war zehn Minuten über sieben. Er mußte sich beeilen und dabei noch einen Umweg machen, um an das Haus von einer anderen Seite heranzukommen ...
Als er sich früher diesen Gang vorstellte, glaubte er, daß er sich sehr fürchten werde. Jetzt spürte er aber nichts von Furcht. Er beschäftigte sich sogar mit einigen ganz nebensächlichen Gedanken, allerdings nur kurze Zeit. Als er beim Jussupow-Park vorbeiging, dachte er daran, wie gut es doch wäre, wenn man auf allen Plätzen der Stadt so große Springbrunnen errichten würde, die die Luft so köstlich erfrischen. Dann dachte er, wie nützlich es für die Stadt wäre, wenn man den Sommergarten über das ganze Marsfeld ausdehnen und ihn mit dem Michailowschen Schloßpark verbinden würde. Dann hielt er sich bei der Frage auf, warum die Bewohner der großen Städte ohne besondere Notwendigkeit und eigentlich mehr instinktiv sich gerade in solchen Stadtteilen niederlassen, in denen es weder Gärten noch Springbrunnen gibt und die von Unrat und Schmutz starren. Dann fielen ihm seine eigenen Spaziergänge auf dem Heumarkte ein, und er kam für einen Augenblick zu sich. »Was für ein Blödsinn! Lieber will ich an gar nichts denken.«
»So klammern sich wohl alle, die zum Schafott geführt werden, mit ihren Gedanken an die Gegenstände, denen sie begegnen«, ging es ihm durch den Kopf, aber nur für einen Augenblick, rasch wie ein Blitz, und er beeilte sich selbst, diesen Gedanken niederzudrücken ... Da ist ja auch schon das Haus und das Tor. Eine Uhr schlug irgendwo einmal. »Was ist das? Schon halb acht? Unmöglich! Die Uhr geht vor.«
Im Tor lief alles glücklicherweise glatt ab. Zufällig wurde unmittelbar vor ihm ein großer Heuwagen in den Hof gefahren, der ihn, während er das Tor passierte, ganz verdeckte. Kaum fuhr der Wagen durch das Tor, so schwenkte Raskolnikow blitzschnell nach rechts ab. Von der anderen Seite des Wagens klangen mehrere Stimmen durcheinander, man schrie und zankte sich; ihn merkte aber niemand. Von den vielen Fenstern, die in den quadratischen Hof gingen, standen mehrere offen; er hatte aber nicht die Kraft, hinaufzublicken. Die Stiege zur Wohnung der Alten war gleich in der Nähe der Einfahrt. Nun war er schon auf der Stiege.
Er holte Atem, drückte seine Hand auf das wild pochende Herz, betastete und richtete den Beilgriff und begann nun langsam und vorsichtig horchend die Treppe hinaufzusteigen. Das Stiegenhaus war ganz leer. Alle Wohnungstüren waren zu, und er begegnete niemand. Im zweiten Stock stand die Tür einer leeren Wohnung weit offen, und in der Wohnung arbeiteten Anstreicher; diese sahen ihn aber gar nicht an. Er blieb eine Weile stehen, überlegte und ging schließlich weiter. – »Es wäre allerdings besser, wenn die Anstreicher nicht da wären, aber es liegen ja noch zwei Stockwerke dazwischen.«
Da ist schon der vierte Stock und die Wohnung der Alten. Die Wohnung gegenüber steht leer. Die Wohnung im dritten Stock, unter der Wohnung der Alten, scheint auch unbewohnt zu sein: die Visitenkarte, die früher an die Tür genagelt war, fehlte; die Partei war wohl ausgezogen. Er keuchte. »Soll ich nicht umkehren?« ging es ihm blitzartig durch den Kopf. Er gab sich keine Antwort darauf und begann an der Wohnungstür der Alten zu horchen, alles still! Dann horchte er noch auf die Stiege hinunter: er horchte lange und aufmerksam ... Dann blickte er noch zum letztenmal hinab, raffte sich auf, betastete noch einmal das Beil. »Bin ich nicht zu blaß, sehe ich nicht zu aufgeregt aus? Sie ist ja argwöhnisch ... Sollte ich nicht noch ein wenig warten, damit sich das Herz beruhigt? ...«
Das Herz wollte sich aber nicht beruhigen. Es schien sogar immer wilder zu pochen ... Er hielt es nicht aus, führte die Hand langsam an den Glockenzug und läutete. Nach einer halben Minute läutete er wieder, diesmal stärker.
In der Wohnung regte sich nichts. Es hatte keinen Sinn, wieder zu läuten, es würde sich auch nicht gut ausnehmen. Die Alte war natürlich zu Hause, aber sie war mißtrauisch und ganz allein in der Wohnung. Er kannte ihre Gewohnheiten und drückte noch einmal sein Ohr fest an die Tür. Waren seine Sinne so sehr geschärft (was eigentlich wenig wahrscheinlich war), oder war es wirklich wahrzunehmen, jedenfalls glaubte er das leise Geräusch einer Hand, die auf die Türklinke gelegt wurde und das Rascheln eines Kleides an der Türe zu hören. Jemand stand unsichtbar an der Tür und horchte, wie er, vielleicht gleichfalls das Ohr an die Tür gelegt, hinaus ...
Er machte absichtlich eine Bewegung und murmelte etwas vor sich hin, um nicht den Anschein zu erwecken, daß er hier lauere; dann läutete er zum drittenmal, solid und nicht zu laut, und ganz ohne Ungeduld. Dieser Augenblick prägte sich für immer grell und klar seinem Gedächtnisse ein. Er konnte später nie begreifen, wie er mit solcher List und Vorsicht hatte handeln können, während seine Vernunft im Verlöschen war und er selbst seinen Körper nicht mehr fühlte ... Einen Augenblick später hörte er, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde.
Die Tür ging auf und ließ, wie bei seinem ersten Besuch, nur einen schmalen Spalt offen. Zwei scharfe mißtrauische Augen richteten sich auf ihn aus der Dunkelheit. Raskolnikow verlor die Selbstbeherrschung und machte einen Fehler.
Er fürchtete, daß die Alte vor ihm Angst bekäme und daß seine Gestalt ihr wenig Vertrauen einflöße. Damit sie die Tür nicht wieder zuschlüge, ergriff er die Türklinke und zog sie zu sich. Die Alte machte keine Gegenbewegung, sie ließ jedoch auch ihre Klinke nicht aus der Hand, so daß er sie mit der Tür beinahe auf den Flur hinauszog. Als er sie mitten in der Tür stehen und ihm so den Eingang versperren sah, ging er auf sie zu. Sie taumelte erschrocken zurück und schien etwas sagen zu wollen, sagte aber nichts und sah ihn nur durchdringend an.
»Guten Abend, Aljona Iwanowna«, begann er möglichst ungezwungen. Aber er verlor die Gewalt über seine Stimme, und sie begann zu zittern. »Ich habe Ihnen da ... einen Gegenstand gebracht ... Wollen wir lieber hineingehen ... zum Licht ...« Er schob sie zur Seite und ging ohne Aufforderung in die Wohnung. Sie lief ihm nach; ihre Zunge löste sich.
»Mein Gott! Was wollen Sie da? ... Wer sind Sie? Was wünschen Sie?«
»Erlauben Sie, Aljona Iwanowna, Sie kennen mich ja! ... Raskolnikow ... da habe ich Ihnen das Pfand gebracht, wie neulich versprochen ...« Mit diesen Worten reichte er ihr den Gegenstand.
Die Alte warf einen Blick auf das Paket und blickte dann den ungebetenen Gast wieder durchdringend an. Sie betrachtete ihn aufmerksam, feindselig und mißtrauisch. So verging eine Minute; da schien ihm, daß sie lächelte, als hätte sie alles erraten. Er fühlte, wie er den Boden unter sich verlor und von einem namenlosen Entsetzen ergriffen wurde. Wenn sie ihn noch eine halbe Minute so angestarrt hätte, ohne ein Wort zu sprechen, wäre er davongelaufen.
»Was starren Sie mich so an? Erkennen Sie mich nicht?« sagte er mit verhaltener Wut. »Wenn Sie wollen, nehmen Sie es, wenn nicht, – gehe ich zu einer andern. Ich habe keine Zeit.«
Er sagte dies ganz automatisch ohne Überlegung.
Die Alte kam zu sich, und sein energischer Ton schien sie zu ermutigen.
»Was denn, Väterchen, so plötzlich ... Was ist's denn?« fragte sie mit einem Blick auf das Pfand.
»Ein silbernes Zigarettenetui; ich habe Ihnen davon erzählt.«
Sie streckte ihre Hand aus.
»Warum sind Sie denn so blaß? Auch zittern Ihre Hände! Haben Sie ein Bad genommen?«
»Ich habe Fieber«, sagte er kurz. »Man muß schon blaß aussehen ... wenn man nichts zu essen hat«, fügte er mit schwacher Stimme hinzu. Seine Kräfte verließen ihn wieder. Seine Antwort erschien ihr glaubwürdig; die Alte nahm das Pfand in die Hand.
»Was ist es denn?« fragte sie wieder, Raskolnikow aufmerksam musternd und das Pfand mit der Hand auf sein Gewicht prüfend.
»Ein Pfand ... Ein Zigarettenetui ... aus Silber ... Schauen Sie nach.«
»Es scheint doch nicht Silber zu sein ... Wie er das nur verschnürt hat!«
Sie machte sich nun an der Verschnürung zu schaffen und wandte sich zum Fenster (trotz der drückenden Luft waren alle Fenster zu), ihm für einige Augenblicke den Rücken kehrend. Er knöpfte seinen Mantel auf, nahm das Beil aus der Schlinge und hielt es mit der Rechten unter dem Mantel bereit. Seine Hände waren wie gelähmt; er spürte, wie sie mit jedem Augenblick starrer und hölzerner wurden. Er fürchtete, das Beil fallen zu lassen ... plötzlich schwindelte ihm der Kopf.
»Wie er das nur verpackt hat!« rief die Alte geärgert und wandte sich halb zu ihm.
Er durfte keinen Augenblick mehr verlieren. Er zog das Beil hervor, hob es mit beiden Händen hoch und ließ es dann ganz ohne Anstrengung halb mechanisch mit dem Rücken auf den Kopf der Alten niederfallen. Es kostete ihn gar keinen Kraftaufwand. Kaum hatte er aber das Beil einmal fallen gelassen, als er auch Kräfte in sich spürte.
Die Alte war, wie immer, barhäuptig. Ihr helles, leicht ergrautes dünnes Haar war stark eingefettet und zu einem dünnen Zopf geflochten, der mit einem zerbrochenen Hornkamm im Nacken festgesteckt war. Der Schlag traf sie direkt auf den Scheitel, denn sie war klein gewachsen. Sie schrie schwach auf und setzte sich plötzlich auf den Boden; sie hatte noch die Kraft, beide Hände zum Kopf zu heben. In der einen Hand hielt sie noch immer das Pfand. Da schlug er sie zum zweiten- und zum drittenmal immer mit dem Beilrücken und immer auf den Scheitel. Das Blut lief wie aus einem umgefallenen Glas, und der Körper fiel auf den Rücken. Er trat etwas zurück, ließ dem Körper Zeit, ganz umzusinken, und beugte sich dann über ihr Gesicht; sie war tot. Die Augen traten so stark aus ihren Höhlen hervor, als ob sie herausspringen wollten; die Stirn und das ganze Gesicht waren runzlig und vom Todeskampf entstellt.
Er legte das Beil auf den Fußboden neben der Toten nieder und steckte seine Hand in ihre rechte Tasche, aus der sie bei seinem vorigen Besuch ihre Schlüssel hervorgeholt hatte; er gab sich die größte Mühe, um sich nicht mit dem Blut zu beschmieren. Er war bei vollem Bewußtsein, hatte weder Kopfschwindel noch Schwächeanfälle, aber seine Hände zitterten noch. Er war sogar, wie er sich später erinnerte, sehr aufmerksam und vorsichtig und gab sich immer Mühe, Blutflecken zu vermeiden ... Bald hatte er die Schlüssel in den Händen, es war das ihm bekannte Schlüsselbund auf einem Stahlreifen. Er eilte sofort in die Schlafkammer. Es war ein ganz kleiner Raum mit einem großen Heiligenschrein. An der anderen Wand stand ein großes, sehr sauberes Bett mit einer aus Seidenflecken zusammengesetzten wattierten Decke. An der dritten Wand stand eine Kommode. Im Augenblick, als er sich an der Kommode zu schaffen machte und das Rasseln der Schlüssel hörte, ging ein krampfartiges Zucken durch seinen Körper. Er wollte schon wieder alles im Stich lassen und davonlaufen. Es war nur ein kurzer Augenblick; auch war es schon zu spät, umzukehren. Er lächelte über diesen Gedanken, da kam ihm aber gleich ein anderer: wenn nun die Alte noch lebt und zu sich kommt! Er ließ das Schlüsselbund bei der Kommode, eilte zur Leiche, erhob das Beil, ließ es aber nicht niederfallen. Er zweifelte nicht, daß sie tot sei. Er sah sie sich genauer an und bemerkte, daß der Schädel gespalten und sogar etwas verrenkt war. Er wollte ihn betasten, zog aber die Hand gleich wieder zurück; er konnte es ja auch so sehen. Das Blut hatte inzwischen eine große Lache gebildet. Plötzlich bemerkte er auf ihrem Hals eine Schnur. Er zog an ihr, doch sie war zu fest und riß nicht, auch war sie mit Blut durchtränkt. Er versuchte, die Schnur herunterzuzerren, es gelang ihm aber nicht, denn er stieß auf einen Widerstand. In seiner Ungeduld griff er wieder zum Beil, um die Schnur direkt auf dem Körper entzweizuhauen, aber er wagte nicht, es zu tun. Er arbeitete noch einige Minuten, und endlich gelang es ihm, die Schnur zu zerschneiden, ohne den Körper mit dem Beil zu berühren; er beschmierte sich dabei seine Hände und auch das Beil mit dem Blut. Er hatte sich nicht geirrt: da war ein Beutel. An der Schnur hingen zwei Kreuze – eins aus Zypressenholz und eins aus Messing, ein kleines Heiligenbild aus Email und ein kleiner schmieriger Geldbeutel aus Sämischleder mit Stahlbügel und Ring. Der Beutel war ganz vollgestopft. Raskolnikow steckte ihn ein, ohne ihn näher zu untersuchen; die Kreuze warf er der Alten auf die Brust. Dann ging er mit dem Beil in die Schlafkammer.
Er hatte große Eile. Er nahm wieder die Schlüssel vor, es gelang ihm aber nicht, die richtigen zu finden und die Kommode aufzusperren. Seine Hände zitterten eigentlich nicht, er verwechselte aber immer die Schlüssel, und selbst wenn er sah, daß er den unrichtigen hatte, fuhr er doch fort, mit ihm am Schloß zu hantieren. Dann überlegte er sich, daß der große Schlüssel mit dem zackigen Bart, der neben dem kleineren hing, wohl kaum zu der Kommode, sondern zu irgendeiner Truhe gehörte, in der vielleicht alles verwahrt war. Er verließ die Kommode und kroch unter das Bett, denn er wußte, daß alte Frauen ihre Truhen gewöhnlich unter dem Bett verwahren. Es stimmte: er fand eine ziemlich große Truhe, über einen Arschin breit, mit gewölbtem Deckel, mit rotem Saffian ausgeschlagen und kleinen Stahlnägeln geschmückt. Der zackige Schlüssel paßte sofort. Oben lag unter einem weißen Tuch ein roter Mantel mit Hasenpelzbesatz; dann kam ein Seidenkleid, dann ein Schal; darunter schienen lauter Lumpen zu liegen. Zuerst machte er sich daran, seine blutbefleckten Finger an dem roten Mantel abzuwischen. »Der Mantel ist ja rot, und das Blut wird nicht zu sehen sein.« So überlegte er, und plötzlich kam er zu sich und erschrak: »Mein Gott! Werde ich nicht verrückt?« Kaum rührte er an den Lumpen, als aus dem Mantel eine goldene Uhr hinausglitt. Nun untersuchte er alles sorgfältig: zwischen den Lumpen lagen wirklich viele Goldsachen – Armbänder, Ketten, Ohrringe, Nadeln usw. – wohl lauter verfallene und auch nicht verfallene Pfänder. Einzelne Gegenstände steckten in Etuis, die anderen waren einfach in Zeitungspapier gewickelt, doch sauber und ordentlich verschnürt. Er begann sofort seine Hosen-und Manteltaschen zu füllen. Er wählte nicht und untersuchte die Pakete und Etuis nicht näher. Doch gelang es ihm nicht, viel einzustecken.
Er hörte plötzlich im Zimmer, wo die Alte lag, Schritte. Er blieb regungslos und hielt den Atem an. Alles blieb still, folglich war es eine Halluzination. Aber plötzlich hörte er einen heiseren Schrei oder ein kurzes Aufstöhnen. Dann war zwei oder drei Minuten lang wieder alles still. Er hockte neben dem Koffer und wartete mit angehaltenem Atem. Plötzlich sprang er auf, ergriff das Beil und lief ins Zimmer.
Mitten im Zimmer stand Lisaweta mit einem großen Bündel in der Hand; sie betrachtete ihre ermordete Schwester, war weiß wie Kreide und schien nicht die Kraft zu haben, zu schreien. Als sie ihn gewahrte, begann sie wie Espenlaub zu zittern, ein Beben lief durch ihre Gesichtszüge, sie hob einen Arm, öffnete den Mund, doch sie schrie nicht auf; sie wich langsam in die Ecke zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen; sie schien keine Luft zum Aufschreien zu haben. Er stürzte sich auf sie mit dem Beil: ihr Mund verzog sich wie bei einem sehr kleinen Kinde, das, durch etwas erschreckt, den schreckeneinflößenden Gegenstand anstarrt und Anstalten macht, zu schreien. Die unglückliche Lisaweta war schon von früher her dermaßen eingeschüchtert, scheu und einfältig, daß sie nicht einmal versuchte, ihr Gesicht mit den Händen zu schützen, obwohl dies die einzige notwendige und natürliche Bewegung in diesem Augenblick gewesen wäre, denn das Beil war direkt über ihrem Gesichte erhoben. Sie hob nur etwas ihren linken Arm und streckte ihn ihm entgegen, als ob sie ihn abwehren wollte. Das Beil traf sie mit der Schneide auf die Stirn und spaltete ihren Schädel fast bis zum Scheitel. Sie fiel schwer hin. Raskolnikow verlor die Fassung: er ergriff ihr Bündel, das er gleich wieder fortwarf, und lief ins Vorzimmer.
Nach dieser zweiten, ganz unerwarteten Mordtat wurde er noch mehr von Entsetzen gepackt. Er wollte möglichst schnell entkommen. Hätte er in diesem Augenblick die Fähigkeit gehabt, klar zu sehen und zu denken, hätte er die Schwierigkeit, Ungeheuerlichkeit und Unsinnigkeit seiner verzweifelten Lage erfaßt und eingesehen, wieviel Schwierigkeiten, vielleicht auch Mordtaten er noch zu überwinden und zu verüben haben würde, um aus dieser Wohnung weglaufen und nach Hause kommen zu können, – so hätte er vielleicht jetzt alles aufgegeben und sich der Polizei gestellt, und zwar nicht so sehr aus Furcht für sich selbst wie aus Entsetzen und Abscheu vor seiner Tat. Dieser Abscheu verstärkte sich in ihm von Minute zu Minute. Um nichts in der Welt wäre er jetzt zu der Truhe und zum Tatort zurückgekehrt.
Eine seltsame Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemächtigte sich seiner; zeitweise vergaß er sich oder vielmehr die Hauptsache ganz und klammerte sich an Kleinigkeiten. Als er in die Küche hineinsah und dort einen halb mit Wasser gefüllten Eimer bemerkte, fiel es ihm übrigens ein, seine Hände und das Beil zu waschen. Die Hände waren blutig und klebrig. Er legte das Beil mit der Schneide ins Wasser, fand dann auf dem Fensterbrett ein Stückchen Seife, das auf einer zerschlagenen Untertasse lag und wusch sich direkt im Eimer die Hände. Als er mit den Händen fertig war, zog er das Beil aus dem Wasser und wusch das Eisen und dann, etwa drei Minuten lang, den Holzgriff. Dann wischte er alles mit den Wäschestücken, die in der Küche an einer Leine zum Trocknen aufgehängt waren, ab. Darauf ging er mit dem Beil zum Fenster und unterzog es einer eingehenden Untersuchung: von Blut war keine Spur mehr zu sehen, der Griff war nur noch etwas feucht. Er befestigte es wieder in der Schlinge. Dann untersuchte er noch, soweit es das spärliche Licht in der halbfinsteren Küche erlaubte, seinen Mantel, Hose und Stiefel. Bei der oberflächlichen Betrachtung war nichts zu merken, nur auf den Stiefeln waren einige Flecke. Er befeuchtete einen Lappen und wischte die Stiefel ab. Er wußte übrigens, daß seine Untersuchung nur flüchtig war und daß er leicht etwas Auffälliges übersehen haben konnte. Er blieb nachdenklich mitten im Zimmer stehen. Ein quälender, dunkler Gedanke tauchte in ihm auf: daß er wahnsinnig werde, daß er in diesem Augenblick weder richtig denken noch sich verteidigen könne und daß alles, was er jetzt tue, möglicherweise ganz verkehrt sei ... »Mein Gott! Ich muß fort ins Vorzimmer!« Hier sah er aber etwas, was ihn mit solchem Entsetzen erfüllte, wie er es noch nie im Leben empfunden hatte.
Er stand da, sah hin und traute seinen Augen nicht: die Wohnungstür, die Tür aus dem Vorzimmer auf die Treppe, die Tür, an der er vorhin gelautet und gelauert hatte, – war nicht versperrt und ließ einen handbreiten Spalt frei; Schloß und Riegel waren die ganze Zeit über offen gewesen! Die Alte hatte, wohl aus Vorsicht, hinter ihm nicht abgesperrt. Aber mein Gott! Er hatte ja auch Lisaweta gesehen und konnte sich doch denken, daß sie irgendwie hereingekommen war! Sie hatte ja nicht durch die Wand eintreten können!
Er stürzte zur Tür und verriegelte sie.
»Nein! Es ist wieder nicht das Richtige! Ich muß ja fort, fort ...«
Er riegelte wieder auf, öffnete die Tür und horchte hinunter.
Er horchte so eine lange Weile. Irgendwo weit unten, vermutlich im Torweg, klangen zwei kreischende Stimmen, man schimpfte und zankte sich. »Was wollen die? ...« Er wartete geduldig. Endlich wurde mit einemmal alles still: sie waren wohl fort. Er machte die Tür ganz auf und wollte schon hinuntergehen, als unten im dritten Stock eine Tür aufgerissen wurde und jemand, eine Melodie summend, die Stiege hinunterzugehen begann. »Wie die Leute immer lärmen!« ging es ihm durch den Kopf. Er schloß die Tür und wartete ab. Endlich war alles wieder still. Als er aber den Fuß auf die Treppe gesetzt hatte, hörte er unten neue Schritte.
Diese Schritte tönten weit unten ganz am Anfang der Stiege, er hatte aber gleich beim ersten Schritt, wie er sich später genau erinnerte, den Verdacht, daß da jemand hierher, in den dritten Stock, zur Alten hinaufwollte. Warum? Klangen denn die Schritte irgendwie eigentümlich und bedeutungsvoll? Es waren schwere, gleichmäßige, langsame Schritte. Da ist er schon im ersten Stock, nun steigt er höher, die Schritte werden immer hörbarer. Er hörte auch schon den keuchenden Atem des Unbekannten. Nun ist er bereits im zweiten Stock. Er kommt her! Und plötzlich fühlte er, wie alle seine Glieder hölzern wurden. Er hatte das Gefühl, das man im Traume hat, wenn man sich von einem Mörder verfolgt sieht, fliehen will und dabei nicht vom Platz kommt und nicht einmal eine Hand zu rühren vermag.
Endlich, als der Gast sich bereits dem dritten Stock näherte, raffte er sich auf, sprang in das Vorzimmer zurück und schloß die Tür. Dann riegelte er vorsichtig und unhörbar zu. Hier half ihm der Instinkt. Als er damit fertig war, postierte er sich mit verhaltenem Atem dicht an der Tür. Die beiden standen sich jetzt genau so gegenüber, mit der Tür dazwischen, wie Raskolnikow vorhin der Alten gegenüber gestanden hatte.
Der Gast holte einige Male schwer Atem. Er ist wohl groß und dick, kombinierte Raskolnikow; er hielt das Beil fest umklammert. Das war wirklich wie im Traum. Der Gast ergriff den Glockenzug und läutete stark.
Beim ersten Ton der Klingel glaubte er ein Geräusch im Zimmer zu vernehmen. Einige Sekunden lang horchte er auch ernsthaft hinüber. Der Unbekannte läutete wieder, wartete einige Augenblicke und begann dann ungeduldig an der Türklinke zu zerren. Raskolnikow sah entsetzt, wie der Riegel dabei wackelte, und erwartete mit Angst, daß der Verschluß aufginge. Dies konnte leicht geschehen, denn der Gast riß mit aller Kraft an der Klinke. Er wollte anfangs den Riegel mit der Hand festhalten, aber dann fiel ihm ein, daß der andere es merken könnte. Er fühlte wieder Kopfschwindel. »Ich falle gleich hin!« ging es ihm durch den Kopf, aber in diesem Augenblick begann der Unbekannte zu sprechen, und Raskolnikow beherrschte sich wieder.
»Schlafen dort alle, oder hat sie jemand erwürgt? Die Verfluchten!« Seine Stimme klang wie aus einem hohlen Faß. »He, Aljona Iwanowna, alte Hexe! Lisaweta Iwanowna, unbeschreibliche Schönheit! Macht auf! Ha, diese Verfluchten, schlafen sie beide?«
Er geriet in Wut und riß noch an die zehnmal am Glockenzug. Offenbar war er im Hause gut bekannt und genoß Respekt.
In diesem Augenblick ertönten neue rasche Schritte auf der Stiege. Es kam noch jemand herauf. Raskolnikow hatte es anfangs überhört.
»Ist denn niemand da?« fragte der Neuankömmling mit heller, klingender Stimme den ersten Gast, der noch immer am Glockenzug riß. »Guten Abend, Koch!«
»Seiner Stimme nach scheint er jung zu sein«, dachte Raskolnikow.
»Das weiß der Teufel! Ich habe schon beinahe das Schloß abgerissen«, erwiderte Koch. »Wieso kennen Sie mich?«
»Haben Sie es schon vergessen? Ich habe Ihnen ja vorgestern im ›Gambrinus‹ drei Partien Billard abgewonnen!«
»Ach so ...«
»Es ist also niemand da? Sonderbar. Es ist übrigens dumm. Wo kann die Alte nur hingegangen sein? Ich muß sie sprechen.«
»Ja, Väterchen, ich muß sie auch sprechen!«
»Was soll man da machen? Umkehren? Und ich habe gehofft, daß ich hier Geld bekomme!« rief der junge Mann.
»Natürlich müssen wir umkehren. Warum bestellt sie aber einen zu einer bestimmten Stunde? Ich mußte ja einen weiten Weg machen. Wo treibt sie sich nur herum? Das ganze Jahr hockt die alte Hexe zu Hause, so daß sie schwarz wird und ihr die Füße schmerzen, und gerade heute muß sie einen Ausflug machen!«
»Soll man nicht den Hausknecht fragen?«
»Was denn?«
»Wo sie hingegangen ist, und wann sie heimkommt?«
»Hm ... den Teufel auch! ... fragen ... Sie geht aber nie aus ...« Er riß noch einmal an der Türklinke.
»Zum Teufel, nichts zu machen! Wir müssen umkehren!«
»Warten Sie!« rief plötzlich der Jüngere. »Schauen Sie her; sehen Sie, wie die Tür wackelt, wenn man an der Klinke zieht?«
»Nun?«
»Folglich ist sie nicht versperrt, sondern nur verriegelt. Hören Sie, wie der Riegel klirrt?«
»Nun?«
»Verstehen Sie noch immer nicht? Folglich ist eine von den beiden zu Hause. Wären sie ausgegangen, so hätten sie die Tür von außen mit einem Schlüssel abgesperrt und nicht von innen zugeriegelt! Sie hören doch, wie der Riegel klirrt! Um aber die Tür von innen zu verriegeln, muß man zu Hause sein, nicht wahr? Folglich sind sie zu Hause und sperren nicht auf!«
»Wirklich!« rief Koch erstaunt aus. »Was treiben die aber da?« Und er zerrte wieder mit aller Kraft an der Klinke.
»Warten Sie!« sagte der junge Mann. »Ziehen Sie nicht! Wir haben ja geläutet und geklopft, sie sperren aber nicht auf. Folglich liegen beide in Ohnmacht, oder ...«
»Was denn?«
»Wir wollen den Hausknecht holen, damit er sie weckt.«
»Gut!« Beide begannen die Treppe hinabzusteigen.
»Warten Sie! Bleiben Sie hier, und ich gehe allein zum Hausknecht.«
»Warum soll ich dableiben?«
»Man kann nie wissen ...«
»Sie haben vielleicht recht ...«
»Ich will ja Untersuchungsrichter werden. Hier ist aber offenbar, offenbar etwas nicht in Ordnung!« Mit diesen Worten rannte er hinunter.
Koch, der allein zurückblieb, rührte noch am Glockenzug. Die Klingel ertönte einmal. Dann faßte er langsam und nachdenklich die Klinke, drückte sie nieder und ließ sie los, um sich zu überzeugen, daß die Tür nur verriegelt sei. Dann beugte er sich keuchend zum Schlüsselloch, um hineinzusehen. Im Schloß steckte aber von innen der Schlüssel, folglich konnte er nichts sehen.
Raskolnikow stand mit dem Beil in der Hand. Er fieberte und war bereit, wenn sie hereinkämen, Widerstand zu leisten. Während sie vor der Tür sprachen und klopften, kam ihm einige Male der Wunsch, schneller ein Ende zu machen und sie von seinem Posten aus anzurufen. Er wollte sogar schimpfen und sie necken, solange die Tür nicht aufgerissen war. »Daß nur alles schneller ein Ende nimmt!« ging es ihm durch den Kopf.
»Daß ihn der Teufel ...«
Es vergingen mehrere Minuten, niemand kam herauf. Koch wurde ungeduldig:
»Daß ihn der Teufel!« schrie er plötzlich aus, gab seinen Posten auf und stieg ungeduldig, mit großem Lärm eilig die Treppe hinunter. Seine Schritte waren bald verhallt.
»Mein Gott, was soll ich tun?«
Raskolnikow riegelte auf, öffnete etwas die Tür und ging plötzlich, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, hinaus. Er schloß hinter sich die Tür und begann die Treppe hinunterzugehen.
Als er drei Treppen hinter sich hatte, hörte er unten lärmen. Was tun? Er konnte sich nirgend verstecken. Er wollte zuerst wieder hinaufgehen.
»Teufel! Haltet ihn!«
Aus einer Wohnung ganz unten stürzte jemand wie verrückt heraus und lief – es war mehr ein Fallen – hinunter. Dabei schrie er wie besessen:
»Mitjka! Mitjka! Mitjka! Mitjka! Mitjka! Daß dich der Teufel!«
Das Schreien ging in Winseln über. Die letzten Töne klangen schon im Hof. Dann wurde alles still. In diesem Augenblick kamen aber mehrere Männer, die laut und eifrig sprachen, die Treppe hinauf. Es waren ihrer drei oder vier, Raskolnikow erkannte die Stimme des Jüngeren. »Das sind sie!«
Verzweifelt und auf alles gefaßt ging er ihnen entgegen. Wenn sie ihn stellen – ist alles verloren; stellen sie ihn nicht, so ist auch alles verloren, denn sie werden ihn sich merken. Sie kamen immer näher, nun war nur noch eine Treppe zwischen ihm und ihnen; plötzlich – Rettung! – einige Stufen unter ihm steht die leere Wohnung offen; es ist jene Wohnung im ersten Stock, in der früher die Anstreicher arbeiteten, die jetzt – wie auf Bestellung – weggegangen sind. Den Lärm von vorhin machten wohl die Anstreicher, als sie die Wohnung verließen. Der Fußboden ist frisch gestrichen, mitten im Zimmer steht ein Kübel, liegt ein Topfscherben mit Farbe und ein Pinsel. Er schlich rasch in die offene Wohnung und verbarg sich hinter der Wand; es war auch die höchste Zeit, denn sie waren bereits an der Tür. Dann gingen sie, immer noch laut sprechend, zum vierten Stock hinauf. Er wartete ab, verließ auf den Fußspitzen die Wohnung und lief die Treppe hinunter.
Auf der Treppe war kein Mensch! Auch im Torweg niemand! Er ging rasch durch das Tor und schwenkte nach links ab.
Er wußte ganz genau, daß sie sich in diesem Augenblick schon in der Wohnung befanden, daß sie erstaunt waren, die Wohnung offen zu finden, während sie früher versperrt war, daß sie nun die Leichen entdeckt hatten und daß sie in höchstens einer Minute einsahen, daß der Mörder eben noch da war und sich nun irgendwo versteckt hatte; sie würden vielleicht darauf kommen, daß er sich in der leeren Wohnung versteckt gehalten hatte, während sie hinaufgingen. Er wagte aber nicht, schneller zu gehen, obwohl die nächste Straßenecke höchstens hundert Schritte entfernt war. – Soll ich nicht in irgendeinen Torweg abschwenken oder auf einer unbekannten Straße abwarten? Nein, es ist gefährlich! Oder das Beil wegschmeißen? Oder eine Droschke nehmen? Es ist gefährlich ...
Da war auch schon die Quergasse, er erreichte sie mehr tot als lebendig. Hier war er beinahe außer Gefahr; er sah es ein, denn hier konnte er schwerlich Verdacht erregen: auch war die Straße sehr belebt, und er verschwand vollkommen in der Menge. Alle inneren Qualen hatten ihn so schwach gemacht, daß er sich nur mit Mühe fortbewegte. Der Schweiß lief in Strömen, sein Hals war ganz durchnäßt. »Wie der besoffen ist!« rief ihm jemand zu, als er an den Kanal trat.
Er ging wie im Traume, und mit jedem Augenblick wurde es schlimmer. Als er aber an den Kanal kam, erschrak er, weil da weniger Menschen waren und er daher mehr auffiel, und er versuchte wieder auf die Straße zu gelangen. Trotz seiner großen Schwäche machte er den Umweg, um aus einer anderen Richtung nach Hause zu kommen.
Als er sein Tor passierte, war er nicht bei vollem Bewußtsein; das Beil fiel ihm erst dann ein, als er eine Treppe hinaufgestiegen war. Er hatte noch eine schwierige Aufgabe vor sich: er mußte das Beil zurücktragen und es unbemerkt auf den alten Platz legen. Er hatte nicht mehr die Kraft, zu überlegen, daß es durchaus nicht notwendig war, das Beil zurückzutragen, und daß er es später einmal auf irgendeinem fremden Hof fallen lassen konnte.
Aber alles lief glücklich ab. Die Tür zur Hausknechtskammer war zu, aber nicht versperrt, der Hausknecht war also höchstwahrscheinlich zu Hause. Raskolnikow hatte aber jede Fähigkeit zu denken verloren; er ging direkt auf die Tür los und öffnete sie. Wenn ihn der Hausknecht gefragt hätte, was er wollte, so hätte er ihm wohl gleich das Beil gereicht. Der Hausknecht war aber wieder nicht da, Raskolnikow legte das Beil auf den alten Platz unter die Bank und verdeckte es mit einem Holzklotz. Auf dem Wege über die Stiege und in sein Zimmer traf er keinen Menschen; die Tür zum Zimmer der Wirtin war zu. Sobald er in sein Zimmer kam, fiel er sofort, so wie er war, auf sein Sofa nieder. Er schlief nicht, war aber bewußtlos. Wäre jetzt jemand in sein Zimmer getreten, so hätte er aufgeschrien. Fetzen und Bruchstücke von Gedanken zogen ihm durch den Kopf; es gelang ihm aber nicht, so sehr er sich auch anstrengte, bei irgendeinem dieser Gedanken stehen zu bleiben ...
So lag er sehr lange. Ab und zu kam er gleichsam zu sich und merkte in diesen Augenblicken, daß es schon längst Nacht war, und doch fiel ihm nicht ein, aufzustehen. Endlich sah er, daß es so hell war, wie am Tage. Er lag auf dem Sofa, rücklings, noch starr von seiner Ohnmacht. Ein fürchterliches, verzweifeltes Geschrei drang von der Straße zu ihm herauf; er hörte es übrigens jede Nacht gegen drei Uhr unter seinem Fenster. Dieses Geschrei hatte ihn auch jetzt geweckt. – Ah! Da kommen schon die Betrunkenen aus den Schenken, – dachte er sich: – also ist es bald drei! – Er setzte sich auf, und da fiel ihm alles ein! Plötzlich, in einem Augenblick fiel ihm alles ein!
Im ersten Augenblick glaubte er, er würde verrückt werden. Eine furchtbare Kälte ergriff ihn; die Kälte kam aber vom Fieber, das schon längst, als er noch schlief, angefangen hatte. Und jetzt erfaßte ihn ein Schüttelfrost, daß ihm beinahe die Zähne heraussprangen und alles in ihm bebte. Er öffnete die Tür und lauschte hinaus: im Hause schlief alles. Mit Erstaunen betrachtete er sich und alles, was ihn umgab, und konnte es nicht begreifen: wie konnte er nur gestern, als er heimgekommen, die Tür nicht zuhaken und sich auf das Sofa nicht nur in den Kleidern, sondern auch mit dem Hute werfen; der Hut war herabgerollt und lag auf dem Fußboden, neben dem Kissen. – Wenn jemand gekommen wäre, was hätte er sich gedacht? Daß ich betrunken bin, aber ... – Er stürzte zum Fenster. Es war genügend hell, und er beeilte sich, seine ganze Kleidung vom Kopfe bis zu den Füßen zu untersuchen, ob keine Spuren da seien. So ging es aber nicht; zitternd vor Schüttelfrost, fing er an, alles auszuziehen und sorgfältig von allen Seiten zu besehen. Er drehte alles um, bis zum letzten Faden und Fetzen, und da er sich selbst nicht traute, wiederholte er die Untersuchung an die dreimal. Es war aber anscheinend nichts zu sehen, auch nicht die geringste Spur; nur ganz unten an der Hose, wo diese ausgefranst war, waren an den Fransen noch Spuren eingetrockneten Blutes geblieben. Er griff nach seinem großen Taschenmesser und schnitt die Fransen ab. Sonst war anscheinend nichts zu sehen. Plötzlich fiel ihm ein, daß der Beutel und alle die Sachen, die er aus der Truhe der Alten genommen hatte, noch immer in seinen Taschen lagen. Es war ihm bisher gar nicht eingefallen, sie herauszunehmen und zu verstecken! Auch jetzt eben, als er seine Kleider untersuchte, hatte er an diese Sachen gar nicht gedacht! Was ging denn mit ihm vor? Augenblicklich begann er sie herauszunehmen und auf den Tisch zu werfen. Nachdem er alles hervorgeholt und selbst die Taschen herausgekehrt hatte, um sich zu überzeugen, ob nicht doch etwas zurückgeblieben sei, trug er diesen ganzen Haufen in die Ecke. Unten in dieser Ecke war die von der Wand abstehende Tapete zerrissen, und er begann sofort alles in das Loch unter der Tapete zu stecken: »Alles hat Platz gefunden! Alles bin ich los und auch den Beutel!« dachte er sich erfreut. Er stand auf und blickte stumpf in die Ecke auf die Tapete, die über dem Loch noch mehr abstand. »Mein Gott,« flüsterte er in Verzweiflung, »was ist mit mir los? Ist denn das versteckt? Versteckt man denn so?«
Allerdings hatte er mit den Gegenständen nicht gerechnet; er hatte geglaubt, daß er nur Geld finden würde, und darum keinen Platz vorher vorbereitet. »Aber jetzt, jetzt, worüber freue ich mich denn?« dachte er. »Versteckt man denn so? Wirklich, mein Verstand läßt mich im Stich!« Erschöpft setzte er sich aufs Sofa und wurde wieder von einem unerträglichen Schüttelfrost gepackt. Mechanisch zog er den neben ihm auf dem Stuhl liegenden früheren Studentenmantel, der warm gefüttert, doch völlig zerlumpt war, zu sich heran, bedeckte sich mit ihm und fiel wieder in einen Schlaf mit schweren Fieberträumen. Die Sinne verließen ihn.
Doch schon nach höchstens fünf Minuten sprang er von neuem auf und stürzte sich in größter Erregung wieder zu seinen Kleidern. »Wie konnte ich bloß einschlafen, wo noch nichts getan ist! Richtig: die Schlinge unter der Achsel habe ich noch nicht abgetrennt! Ich hatte es vergessen, eine so wichtige Sache vergessen! Ein so wichtiges Indizium!« Er riß die Schlinge mit einem Ruck ab und begann sie eilig in Stücke zu reißen und diese unter das Kissen in die Wäsche zu stopfen. »Zerrissene Leinwandfetzen werden keinen Verdacht erregen; ich glaube, ich glaube, es stimmt!« wiederholte er, während er mitten im Zimmer stand und mit schmerzvoll gespannter Aufmerksamkeit von neuem um sich, auf den Fußboden und überallhin blickte, ob er nicht noch etwas vergessen hätte. Die Überzeugung, daß alles, selbst das Gedächtnis, selbst die einfachste Überlegung ihn verließen, begann ihn unerträglich zu quälen. »Was, fängt es denn schon an, beginnt denn schon die Strafe? Ja, so ist es, so ist es!« Und in der Tat, die Fransen, die er von der Hose abgeschnitten hatte, lagen auf dem Fußboden, mitten im Zimmer, damit sie jeder Eintretende sofort sehe! »Was ist denn mit mir los?!« rief er wieder, wie verloren.
Da kam ihm ein seltsamer Gedanke: daß vielleicht auch seine ganzen Kleider blutig seien, daß vielleicht viele Blutflecken da seien, die er bloß nicht sehe, nicht bemerke, weil seine Sinne geschwächt und gleichsam zersplittert seien ... sein Verstand verdüstert sei ... Plötzlich erinnerte er sich, daß auch an dem Beutel Blut war. »Ach! Also muß auch in meiner Tasche Blut sein, weil ich den noch nassen Beutel in die Tasche steckte!« Augenblicklich kehrte er die Tasche heraus, und, in der Tat, auf dem Futter der Tasche waren noch Blutflecken! »Also hat mich die Vernunft noch nicht ganz verlassen, also kann ich noch überlegen, habe noch ein Gedächtnis, wenn ich von selbst darauf kam!« sagte er sich triumphierend und atmete freudig aus voller Brust auf. »Es war nur ein fieberhafter Schwächeanfall, ein kurzer Fiebertraum.« Er riß das ganze Futter aus der linken Hosentasche heraus. In diesem Augenblick fiel ein Sonnenstrahl auf seinen linken Stiefel; auf dem Strumpf, der aus dem Stiefel hervorlugte, glaubte er Spuren zu sehen. Er zog den Stiefel aus. »In der Tat, Spuren! Die ganze Strumpfspitze ist mit Blut durchtränkt!« Wahrscheinlich war er damals aus Versehen in die Pfütze getreten ...
»Was soll ich jetzt damit anfangen? Wo soll ich diesen Strumpf, die Fransen und die Tasche hintun?«
Er raffte alles in eine Hand zusammen und blieb mitten im Zimmer stehen. »In den Ofen? Aber im Ofen wird man doch zu allererst suchen. Verbrennen? Womit soll ich es verbrennen? Ich habe nicht mal Streichhölzer. Nein, besser wäre es, auszugehen und alles fortzuwerfen!« wiederholte er. »Ja! Das Beste ist Fortwerfen!« wiederholte er, sich wieder auf das Sofa setzend: »Und zwar sofort, augenblicklich, ohne Zeit zu verlieren ...« Statt dessen fiel sein Kopf wieder auf das Kissen; wieder durchschauerte ihn eisige Kälte, wieder zog er seinen Mantel über sich. Lange, mehrere Stunden hintereinander durchzuckte ihn im Schlafe der Gedanke: »Sofort, ohne aufzuschieben, weggehen und alles wegwerfen, damit ich es ein für allemal los bin!« Er versuchte einige Male vom Sofa aufzustehen, konnte es aber nicht mehr. Endgültig geweckt wurde er durch ein starkes Klopfen an der Tür.
»Mach doch auf, lebst du oder nicht? Immer schläft er!« schrie Nastasja, mit der Faust an die Tür schlagend. »Ganze Tage schläft er wie ein Hund! Ist auch ein Hund! Mach doch auf! Ist ja bald elf.«
»Vielleicht ist er gar nicht zu Hause«, versetzte eine Männerstimme.
»Gott, das ist doch die Stimme des Hausknechts ... Was will er bloß?«
Er sprang auf und setzte sich aufs Sofa. Das Herz pochte so stark, daß es sogar wehtat.
»Wie wäre dann die Tür zugehakt?« entgegnete Nastasja. »Sieh mal an, er hat angefangen sich einzuschließen! Fürchtet er, daß man ihn selbst stiehlt? Mach doch auf, du kluger Kopf, mach auf!«
»Was wollen die? Warum ist der Hausknecht dabei? Sie wissen alles. Soll ich Widerstand leisten oder öffnen? Ist ja alles eins ...«
Er stand halb auf, beugte sich vor und nahm den Haken ab.
Seine Kammer war gerade so groß, daß er den Türhaken abnehmen konnte, ohne von seinem Lager aufzustehen.
Es stimmte: vor ihm standen der Hausknecht und Nastasja.
Nastasja sah ihn etwas eigentümlich an. Er warf einen herausfordernden und verzweifelten Blick auf den Hausknecht. Jener reichte ihm schweigend ein graues, doppelt gefaltetes und mit Flaschenlack versiegeltes Papier.
»Eine Vorladung aus dem Bureau,« sagte er, als er ihm das Papier einhändigte.
»Aus welchem Bureau? ...«
»Sie sollen auf die Polizei kommen, ins Bureau. Man weiß doch, was es für ein Bureau ist.«
»Auf die Polizei?! ... Wozu? ...«
»Woher soll ich das wissen? Wenn man vorgeladen wird, muß man hingehen.« Er blickte ihn aufmerksam an, sah sich im Zimmer um und wandte sich zum Gehen.
»Ich glaube, er ist ganz krank!« bemerkte Nastasja, die ihn nicht aus den Augen ließ. Auch der Hausknecht wandte für einen Augenblick den Kopf um. »Seit gestern liegt er im Fieber«, fügte sie hinzu.
Er gab keine Antwort und hielt das Papier in den Händen, ohne es zu öffnen.
»Bleib nur liegen,« fuhr Nastasja etwas milder fort, als sie sah, daß er die Füße vom Sofa herabließ. »Wenn du krank bist, so brauchst du nicht zu gehen: es brennt nicht. Was hast du in den Händen?«
Er blickte hin: in der rechten Hand hielt er noch die abgeschnittenen Fransen, den Strumpf und die Fetzen des herausgerissenen Taschenfutters. So hatte er mit diesen Dingen in der Hand geschlafen. Als er später darüber nachdachte, erinnerte er sich, daß er, auch als er im Fieber lag und ab und zu zum Bewußtsein kam, dies alles fest in der Hand zusammendrückte und dann wieder einschlief.
»Sieh nur an, was er für Lumpen angesammelt hat! Und er schläft mit ihnen, als wäre es eine Kostbarkeit ...«
Nastasja fing zu lachen an. Es war ein krankhaftes, nervöses Lachen.
Sofort stopfte er alles unter den Mantel und heftete auf sie seinen gespannten Blick. Obwohl er in diesem Augenblick kaum klar denken konnte, fühlte er doch, daß man einen Menschen anders behandeln würde, wenn man zu ihm käme, um ihn zu verhaften. – Aber ... die Polizei? –
»Solltest doch etwas Tee trinken! Willst du? Ich bringe dir welchen; ist noch übriggeblieben ...«
»Nein ... ich gehe; ich gehe gleich hin«, murmelte er, aufstehend.
»Wirst wohl die Treppe nicht hinuntergehen können?«
»Ich gehe ...«
»Wie du willst.«
Sie ging mit dem Hausknecht hinaus. Er stürzte sofort zum Fenster, um den Strumpf und die Fransen zu untersuchen. »Flecken sind wohl da, aber kaum zu sehen; alles ist schmutzig geworden, abgerieben und hat schon die Farbe verändert. Wer es nicht vorher weiß, der wird nichts bemerken. Also kann auch Nastasja aus der Ferne nichts gesehen haben, Gott sei Dank!« Jetzt erst entfaltete er zitternd die Vorladung und begann zu lesen; lange las er das Papier, bis er es endlich begriff. Es war eine gewöhnliche Vorladung vom Revier, heute um halb zehn ins Bureau des Revieraufsehers zu kommen.
»Wann hat man so was gesehen? Ich habe doch mit der Polizei nichts zu schaffen! Und warum gerade heute!« dachte er in schmerzvoller Verwirrung. »Mein Gott, wäre das doch schneller zu Ende!« Er wollte schon niederknien, um zu beten, fing aber zu lachen an, nicht über das Gebet, sondern über sich selbst. Dann begann er, sich eilig anzukleiden. »Wenn ich zugrundegehe, so gehe ich eben zugrunde! Ich muß aber den Strumpf anziehen!« fiel es ihm plötzlich ein: »Er wird vom Staub noch schmieriger werden, und dann verschwinden alle Spuren.« Kaum aber hatte er ihn angezogen, als er ihn gleich wieder angeekelt und entsetzt herunterriß. Er riß ihn herunter, überlegte sich aber gleich, daß er keinen anderen hatte, zog ihn wieder an und begann wieder zu lachen. »Alles ist Konvention, alles ist relativ, das sind ja bloß leere Formen!« ging es ihm flüchtig durch den Kopf, streifte nur die äußerste Oberfläche seines Hirns, doch er zitterte am ganzen Leibe. »Nun hab ich ihn doch angezogen! Schließlich hab ich es doch getan!« Sein Lachen ging aber sogleich in Verzweiflung über. »Nein, das geht über meine Kraft ...« dachte er sich. Seine Füße zitterten. »Das kommt von der Angst«, murmelte er vor sich hin. Der Kopf schwindelte ihm und schmerzte vor Fieber. »Das ist eine List! Sie wollen mich mit List einfangen und plötzlich überrumpeln!« fuhr er fort, als er auf die Treppe hinausging. »Es ist schlimm, daß ich im Fieber bin ... ich kann leicht irgendeine Dummheit sagen ...«
Auf der Treppe erinnerte er sich, daß er alle Sachen im Loche hinter der Tapete liegengelassen hatte. »Vielleicht werden sie aber gerade jetzt, wo ich weg bin, eine Haussuchung machen«, ging es ihm plötzlich durch den Sinn, und er blieb stehen. Seiner bemächtigten sich aber eine solche Verzweiflung und ein solcher, man darf wohl sagen, Zynismus des Unterganges, daß er gleichgültig mit der Hand winkte und seinen Weg fortsetzte.
»Wenn es doch nur schneller zu Ende wäre! ...«
Draußen war es unerträglich heiß; an allen diesen Tagen hatte es keinen Tropfen geregnet. Wieder der Staub, die Ziegelsteine und Kalk, wieder der Gestank aus den Läden und Schenken, wieder jeden Augenblick Betrunkene, finnische Hausierer und schlafende Droschkenkutscher. Die Sonne leuchtete ihm grell in die Augen, so daß sie ihm schmerzten, und der Kopf schwindelte ihm, – das gewöhnliche Gefühl eines Fieberkranken, wenn er plötzlich bei grellem Sonnenlichte auf die Straße tritt.
Als er die gestrige Straße erreichte, blickte er mit qualvoller Unruhe um die Ecke, auf jenes Haus ... und sah sofort wieder weg.
»Wenn sie mich fragen, so werde ich es vielleicht sagen«, dachte er sich, als er sich dem Polizeibureau näherte.
Das Bureau lag eine Viertelwerst von seiner Wohnung entfernt. Es war kürzlich umgezogen und befand sich im dritten Stock eines neuen Hauses. In den alten Räumen war er einmal flüchtig gewesen, doch vor sehr langer Zeit. Als er in den Torweg trat, erblickte er rechts eine Treppe, die gerade ein Mann mit einem Buche in der Hand herunter kam. »Ein Hausknecht; also ist hier auch das Polizeibureau!« sagte er sich und stieg die Treppe aufs Geratewohl hinauf. Er wollte sich bei niemand und nach nichts erkundigen.
»Ich trete ein, knie nieder und erzähle alles ...« dachte er sich, während er zum dritten Stock hinaufstieg.
Die Treppe war schmal, steil, mit Schmutzwasserpfützen auf jeder Stufe. Alle Küchen von allen Wohnungen in allen vier Stockwerken gingen auf diese Treppe hinaus und standen den ganzen Tag offen. Daher war die Luft im Treppenhause furchtbar dumpf. Hinauf und hinunter kamen und gingen Hausknechte mit Büchern unterm Arm, Boten und allerlei Volk beiderlei Geschlechts. Auch die Tür zu dem Polizeibureau stand weit auf. Er trat ein und blieb im Vorzimmer stehen. Hier standen und warteten allerlei einfache Menschen. Auch hier war es außerordentlich dumpf, außerdem roch es zum Übelwerden nach frischer, noch nicht ausgetrockneter, mit verdorbenem Öl zubereiteter Farbe, mit der die Böden neu gestrichen waren. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, entschloß er sich, weiter vorzugehen, in das nächste Zimmer. Es waren lauter winzige und niedrige Zimmerchen. Eine schreckliche Ungeduld trieb ihn immer weiter und weiter. Niemand bemerkte ihn. Im zweiten Zimmer saßen bei der Arbeit einige Schreiber, die vielleicht ein wenig besser gekleidet waren als er, dem Außern nach recht merkwürdige Menschen. Er wandte sich an einen von ihnen.
»Was willst du?«
Er zeigte die Vorladung vom Bureau.
»Sind Sie Student?« fragte jener mit einem Blick auf die Vorladung.
»Ja, gewesener Student.«
Der Schreiber musterte ihn, übrigens ganz ohne Neugier. Es war ein besonders zerzauster Mensch, der so unbeweglich blickte, als sei er von einer fixen Idee besessen.
»Von diesem erfahre ich nichts, denn ihm ist alles gleich,« dachte sich Raskolnikow.
»Gehen Sie hin zum Sekretär,« sagte der Schreiber und deutete mit dem Finger auf das allerletzte Zimmer.
Er trat in dieses Zimmer (das vierte vom Eingang), das eng und voller Menschen war; das Publikum war hier etwas besser gekleidet, als in den anderen Zimmern. Unter den Besuchern waren auch zwei Damen. Die eine, in Trauer, ärmlich gekleidet, saß vor dem Tisch, dem Sekretär gegenüber, und schrieb etwas nach seinem Diktat. Die andere Dame, eine sehr volle, puterrote Person mit Flecken im Gesicht, sehr pompös gekleidet, mit einer Brosche in der Größe einer Untertasse an der Brust, stand abseits und schien auf etwas zu warten. Raskolnikow schob dem Sekretär seine Vorladung hin. Jener blickte sie flüchtig an, sagte: »Warten Sie!« und wandte sich wieder der Dame in Trauer zu.
Er atmete erleichtert auf. »Es ist sicher nicht das!« Allmählich faßte er Mut und ermahnte sich selbst, sich zu beherrschen und zu sich zu kommen.
»Eine einzige Dummheit, irgendeine lächerliche Unvorsichtigkeit, und ich kann mich verraten! Hm! ... schade, daß hier so wenig Luft ist,« fügte er hinzu, »so schwül ... Der Kopf schwindelt mir noch mehr ... und der Verstand auch ...«
Er fühlte, daß in seinem Innern alles durcheinandergeraten war. Er fürchtete, sich nicht beherrschen zu können. Er bemühte sich, sich an etwas festzuklammern, an etwas zu denken, an etwas vollkommen Abseitsliegendes, allein das gelang ihm nicht. Der Sekretär interessierte ihn übrigens außerordentlich: er wollte gern in seinem Gesicht etwas lesen, ihn durchschauen. Es war ein junger Mann von etwa zweiundzwanzig Jahren, mit dunklem Teint und beweglichem Gesicht, das ihn älter erscheinen ließ, nach der Mode und etwas geckenhaft gekleidet, mit einem bis zum Nacken durchgezogenen Scheitel, frisiert und pomadisiert, mit einer Menge von Ringen an den weißen, sorgfältig mittels Bürste gereinigten Fingern und mit goldenen Kettchen auf der Weste. An einen anwesenden Ausländer richtete er sogar ein paar französische Worte, und zwar gar nicht schlecht.
»Luisa Iwanowna, warum setzen Sie sich nicht?« wandte er sich nebenbei an die pompöse puterrote Dame, die noch immer stand, als wagte sie es nicht, sich hinzusetzen, obwohl ein Stuhl dicht neben ihr stand.
»Ich danke«, sagte jene leise auf deutsch und ließ sich auf den Stuhl nieder, wobei ihre seidenen Röcke rauschten. Ihr hellblaues, mit weißen Spitzen garniertes Kleid bauschte sich wie ein Luftballon um ihren Stuhl auf und nahm beinahe das halbe Zimmer ein. Ein Geruch von Parfüm verbreitete sich im Zimmer. Die Dame genierte sich wohl, daß sie das halbe Zimmer einnahm und daß sie so stark nach Parfüm roch, obwohl sie zugleich ängstlich und frech, doch mit sichtlicher Unruhe lächelte.
Die Dame in Trauer war endlich fertig und machte Anstalten, aufzustehen. Plötzlich trat mit einigem Geräusch recht schneidig und bei jedem Schritte eigentümlich die Schultern bewegend, ein Offizier ins Zimmer; er warf seine Mütze mit der Kokarde auf den Tisch und setzte sich in einen Sessel. Als die pompöse Dame ihn erblickte, sprang sie auf und begann mit besonderer Begeisterung zu knicksen; der Offizier schenkte ihr aber nicht die geringste Beachtung, sie aber wagte es nicht mehr, sich in seiner Gegenwart hinzusetzen. Es war der Gehilfe des Revieraufsehers, ein Mann mit einem horizontal nach beiden Seiten abstehenden rötlichen Schnurrbart und außerordentlichen Gesichtszügen, die übrigens außer einer gewissen Frechheit nichts ausdrückten. Er blickte Raskolnikow von der Seite mit einer gewissen Entrüstung an: sein Anzug war gar zu schäbig, während seine Haltung, trotzdem er sichtlich heruntergekommen war, diesem Aufzuge gar nicht entsprach: Raskolnikow blickte ihn unvorsichtigerweise zu lange an, so daß jener sich sogar verletzt fühlte.
»Was willst du?« schrie er ihn an und war wohl nicht wenig erstaunt, als der zerlumpte Kerl gar nicht daran dachte, vor seinem blitzeschleudernden Blicke zu verschwinden.
»Ich bin vorgeladen ... schriftlich ...« brachte Raskolnikow mit Mühe hervor.
»Es ist die Geldforderung an den Studenten«, mischte sich eilig der Sekretär hinein, seinen Blick von den Akten losreißend. »Hier!« Er warf Raskolnikow ein Heft zu und zeigte ihm die Stelle. »Lesen Sie es!«
»Eine Geldforderung? Was für eine Geldforderung?« dachte sich Raskolnikow. »Es ist also sicher was anderes!« Er fuhr vor Freude zusammen. Er fühlte sich plötzlich unsagbar erleichtert. Die ganze Last war ihm vom Herzen gefallen.
»Und welche Stunde ist in Ihrer Vorladung angegeben, verehrter Herr?« schrie der Leutnant, der sich, man wußte nicht warum, immer mehr verletzt fühlte. »Man bestellt Sie für neun, jetzt ist es aber beinahe zwölf!«
»Man hat es mir erst vor einer Viertelstunde gebracht«, antwortete Raskolnikow laut und über die Schulter hinweg. Auch er war plötzlich und für sich selbst unerwartet böse geworden und fand darin sogar einen gewissen Genuß. »Es genügt wohl schon, daß ich krank, im Fieber hergekommen bin.«
»Schreien Sie bitte nicht!«
»Ich schreie nicht, ich spreche ruhig; Sie schreien mich aber an; doch ich bin Student und werde es nicht dulden, daß man mich anschreit.«
Der Gehilfe geriet in solche Wut, daß er im ersten Augenblick kein Wort hervorbringen konnte und nur so um sich spritzte. Er sprang von seinem Platze auf.
»Wollen Sie den Mu-und halten! Sie befinden sich in einem Amtsbureau. Sie dürfen sich keine Grrrobheiten erlauben, Herr!«
»Auch Sie befinden sich in einem Amtsbureau,« schrie Raskolnikow auf. »Sie schreien nicht nur, Sie rauchen auch noch eine Zigarette und benehmen sich also respektlos gegen uns alle.«
Als er es sagte, empfand er einen unbeschreiblichen Genuß.
Der Sekretär sah die beiden lächelnd an. Der hitzige Leutnant war sichtlich bestürzt.
»Das ist nicht Ihre Sache!« schrie er schließlich unnatürlich laut. »Geben Sie lieber die Erklärung ab, die man von Ihnen verlangt. Zeigen Sie es ihm, Alexander Grigorjewitsch. Es laufen Klagen gegen Sie ein! Sie zahlen Ihre Schulden nicht! Das ist mir mal ein netter Vogel!«
Raskolnikow hörte aber nicht mehr zu und griff gierig nach dem Papier, um endlich die Lösung zu finden. Er las es einmal und ein zweites Mal und begriff nichts.
»Was ist es denn?« fragte er den Sekretär.
»Man verlangt von Ihnen die Bezahlung eines Schuldscheins, es ist eine Geldforderung. Sie müssen sie entweder mit allen Kosten, Strafgeldern usw. bezahlen oder eine schriftliche Erklärung abgeben, wann Sie es bezahlen können, und sich zugleich verpflichten, vor der Bezahlung die Hauptstadt nicht zu verlassen und Ihr Eigentum weder zu verkaufen noch auf die Seite zu tun. Der Gläubiger ist aber berechtigt, Ihr Eigentum zu veräußern und mit Ihnen nach den Gesetzen zu verfahren.«
»Ja, aber ... ich schulde doch keinem Menschen etwas!«
»Das ist nicht unsere Sache. Uns wurde ein verfallener und gesetzlich protestierter Schuldschein über hundertundfünfzehn Rubel, den Sie auf den Namen der Kollegienassessorswitwe Sarnizyna vor neun Monaten ausgestellt haben und der von der Witwe Sarnizyna an den Hofrat Tschebarow durch Kauf übergegangen ist, zwecks Eintreibung übergeben, und wir fordern Sie auf, die Erklärung abzugeben.«
»Sie ist doch meine Wirtin!«
»Was macht das, daß sie Ihre Wirtin ist?«
Der Sekretär blickte ihn mit herablassendem, mitleidigem Lächeln an, zugleich auch mit dem Ausdruck einer gewissen Überlegenheit, wie einen Neuling, der zum erstenmal ins Feuer kommt, als wollte er ihm sagen: »Nun, wie fühlst du dich jetzt?« Doch was ging ihn jetzt der Schuldschein und die Eintreibung an? Verdiente denn diese Sache auch die geringste Unruhe, auch die geringste Beachtung? Er stand da, las, hörte zu, gab Antworten, stellte sogar selbst Fragen, machte aber alles mechanisch. Der Triumph des Selbsterhaltungstriebes, die Errettung vor der bedrückenden Gefahr – das erfüllte in diesem Augenblick sein ganzes Wesen, ohne daß er in die Zukunft blickte, analysierte, ohne daß er die Zukunft zu enträtseln versuchte, ohne Zweifel und ohne Fragen. Es war ein Augenblick einer vollständigen, unmittelbaren, rein animalischen Freude. Doch in diesem selben Augenblick ereignete sich im Bureau etwas wie die Entladung eines Gewitters. Der Leutnant, der durch die Unehrerbietigkeit Raskolnikows noch immer erschüttert war, vor Empörung glühte und offenbar sein gekränktes Ehrgefühl wiederherstellen wollte, stürzte sich mit einem richtigen Donnerwetter auf die unglückliche pompöse Dame, die ihn während der ganzen Zeit, seit er das Lokal betreten, mit dem dümmsten Lächeln angesehen hatte.
»Ach du, so eine und so eine!« schrie er plötzlich aus vollem Halse (die Dame in Trauer war schon weggegangen). »Was hat es bei dir in der vorigen Nacht schon wieder gegeben? Wieder eine Schande, ein Skandal in der ganzen Straße? Wieder eine Schlägerei und eine Sauferei? Du willst wohl ins Gefängnis? Ich habe dir doch schon gesagt, ich habe dich schon zehnmal gewarnt, daß ich es das elftemal nicht dulden werde! Und du fängst wieder an, du so eine und so eine!«
Raskolnikow entfiel sogar das Papier, und er blickte ganz bestürzt die pompöse Dame an, die man so ungeniert behandelte; bald begriff er jedoch den Sachverhalt, und die ganze Geschichte fing an, ihm zu gefallen. Er hörte mit Vergnügen zu und spürte sogar Lust, zu lachen, zu lachen, zu lachen. Alle seine Nerven zitterten förmlich.
»Ilja Petrowitsch!« versuchte der Sekretär sich vorsichtig einzumischen, hielt aber inne und wartete, denn der Leutnant ließ sich bei solchen Wutausbrüchen nur auf die Weise besänftigen, daß man ihm die Hände festhielt, was er aus eigener Erfahrung wußte.
Was aber die pompöse Dame betrifft, so fing sie zuerst vor den Donnern und Blitzen zu zittern an; doch seltsam! – je zahlreicher und kräftiger die Schimpfwörter fielen, um so freundlicher blickte sie, um so bezaubernder wurde ihr Lächeln, das dem wütenden Leutnant galt. Sie trippelte auf einem Fleck, knickste ununterbrochen und wartete ungeduldig, daß er endlich auch sie zu Worte kommen lasse, was sie schließlich auch erlebte.
»Gar kein Lärm und Schlägerei bei mir, Herr Kapitän«, schnatterte sie plötzlich drauf los, auf russisch, doch mit einem starken deutschen Akzent; es klang, wie wenn man Erbsen ausgeschüttet hätte: »Und gar kein, gar kein Skandal, aber der Herr war betrunken, und ich werde alles erzählen, Herr Kapitän, aber ich nicht schuld ... ich habe anständiges Haus, Herr Kapitän, und anständige Manieren, Herr Kapitän, und ich wollte immer, immer keinen Skandal haben. Der Herr kam aber betrunken und verlangte dann wieder drei Flaschen, und dann hob einen Fuß und spielte mit Fuß Klavier, und das ist gar nicht schön in vornehmes Haus, und er hat Klavier kaputt gemacht, und das ist keine Manier, und ich ihm das gesagt. Aber er nahm Flasche und fing an alle mit Flaschen hinten zu stoßen. Ich bald Hausknecht gerufen und Karl gekommen, da hat er Karl Auge geschlagen, und auch Henriette Auge geschlagen, und hat mich fünfmal Backe geschlagen. Und das ist nicht schön in anständiges Haus, Herr Kapitän, und ich habe geschrien, aber er hat Fenster zu dem Kanal aufgemacht und hat geschrien wie kleines Schwein, und das ist Schande. Wie kann man aus dem Fenster auf die Straße wie kleines Schwein schreien? Pfui, pfui, pfui! Und Karl schleppte ihn am Frack von hinten vom Fenster und hat ihm, das ist wahr, Herr Kapitän, seinen Rock zerrissen. Und da hat er geschrien, daß man ihm fünfzehn Rubel Strafe zahlen muß. Und ich fünf Rubel für seinen Rock bezahlt, Herr Kapitän. Das ist nicht anständiger Gast, Herr Kapitän, und macht jeden Skandal! Er sagt: in allen Zeitungen eine große Satire über Sie gedruckt werden, weil ich in allen Zeitungen über Sie schreiben kann.«
»Ist also auch einer von den Schriftstellern?«
»Jawohl, Herr Kapitän, was ist das für ein unanständiger Gast, Herr Kapitän, wenn er in anständiges Haus ...«
»Nun, nun, genug! Ich habe dir schon gesagt, ich habe dir schon gesagt ...«
»Ilja Petrowitsch!« begann der Sekretär wieder bedeutungsvoll. Der Leutnant warf ihm einen schnellen Blick zu: der Sekretär nickte leicht mit dem Kopf.
»... Also das ist mein letztes Wort, verehrteste Lawisa Iwanowna, zum allerletzten Mal«, fuhr der Leutnant fort: »Wenn es in deinem anständigen Hause nur noch ein einziges Mal Skandal gibt, so werde ich dich beim Schlafittchen nehmen, wie es in der Dichtersprache heißt. Hast du es gehört? Also hat sich ein Literat, ein Schriftsteller in einem anständigen Hause fünf Rubel für einen zerrissenen Frack bezahlen lassen? So sind sie alle, diese Herren Schriftsteller!« Er warf Raskolnikow einen verächtlichen Blick zu. »Vorgestern gab es in einem Wirtshause die gleiche Geschichte: so einer aß zu Mittag, wollte aber nicht bezahlen und sagte: ›Ich schreibe über euch eine Satire.‹ Ein anderer hat in der vorigen Woche auf einem Dampfschiffe eine ehrbare Staatsratsfamilie mit den gemeinsten Worten beschimpft. Einen anderen hat man dieser Tage aus einer Konditorei an die Luft gesetzt. So sind sie alle diese Schriftsteller, Literaten, Studenten, Apostel ... Pfui! Du aber scher dich zum Teufel! Ich werde mal selbst bei dir nachschauen ... dann nimm dich in acht! Hast du es gehört?«
Luisa Iwanowna begann mit beschleunigter Freundlichkeit nach allen Seiten hin zu knicksen und zog sich, immer knicksend, zur Tür zurück: doch in der Tür stieß sie von hinten mit einem stattlichen Offizier zusammen, der ein offenes frisches Gesicht und einen wunderbaren, dichten, blonden Backenbart hatte. Es war Nikodim Fomitsch, der Revieraufseher in eigener Person. Luisa Iwanowna beeilte sich, beinahe bis zum Boden zu knicksen, und flog mit schnellen Schritten, hüpfend aus dem Bureau hinaus.
»Wieder ein Ungewitter, wieder Donner und Blitz, Sturm und Orkan!« wandte sich Nikodim Fomitsch liebenswürdig und freundschaftlich an Ilja Petrowitsch. »Wieder hat man Ihr Herz in Unruhe versetzt, wieder sind Sie in Wut geraten! Ich habe es schon auf der Treppe gehört!«
»Ach, was!« versetzte Ilja Petrowitsch mit nobler Nonchalance (er sagte sogar nicht »was« sondern: »wa-«), indem er mit einigen Papieren zu einem anderen Tisch ging; dabei zuckte er bei jedem Schritt höchst malerisch die Achseln, so daß jede Schulter die Bewegung des entsprechenden Fußes mitmachte. »Sehen Sie nur den da an: dieser Herr Schriftsteller, ich wollte sagen, das heißt, gewesener Student, zahlt seine Schulden nicht, hat Wechsel ausgestellt, will die Wohnung nicht räumen, fortwährend beklagt man sich über ihn, und dabei rümpft er die Nase, als ich mir erlaubte, mir in seiner Gegenwart eine Zigarette anzustecken! Die Leute begehen selbst allerlei Gemeinheiten; da sehen Sie sich aber den Herrn an: da steht er in seiner ganzen Schönheit!«
»Armut ist keine Schande, Freundchen, was fängt man aber mit dir an! Ich weiß es, du bist wie Schießpulver und kannst keine Beleidigung ertragen. Wahrscheinlich haben Sie sich durch ihn irgendwie verletzt gefühlt und sich nicht beherrschen können«, fuhr Nikodim Fomitsch fort, sich freundlich an Raskolnikow wendend. »Aber das hätten Sie nicht tun sollen: er ist der e-del-ste Mensch, aber wie Schießpulver, wie Schießpulver! Er braust auf, schäumt, verbrennt und fertig! Und alles ist vorbei! Zuletzt bleibt nur das Gold seines Herzens! Auch im Regiment nannte man ihn ›Leutnant Schießpulver‹ ...«
»Und was war das für ein Rrregiment!« rief Ilja Petrowitsch aus, sehr zufrieden, daß man seinen Ehrgeiz so angenehm kitzelte, doch immer noch schmollend.
Raskolnikow spürte plötzlich Lust, ihnen allen etwas ungemein Angenehmes zu sagen.
»Erlauben Sie mal, Herr Hauptmann«, begann er recht ungezwungen, sich plötzlich an Nikodim Fomitsch wendend. »Versetzen Sie sich doch mal in meine Lage ... Ich bin sogar bereit, den Herrn um Entschuldigung zu bitten, wenn ich mir zu viel herausgenommen habe. Ich bin ein armer und kranker Student, niedergedrückt (er gebrauchte diesen Ausdruck: ›niedergedrückt‹) durch Armut. Ich bin augenblicklich nicht mehr Student, weil ich meinen Unterhalt nicht bezahlen kann, ich werde aber Geld bekommen ... Ich habe eine Mutter und eine Schwester im *–schen Gouvernement. Sie werden mir Geld schicken, und dann werde ich bezahlen. Meine Wirtin ist eine gute Frau, sie ist aber so böse geworden, weil ich meine Stunden verloren habe und seit vier Monaten nicht mehr zahle, daß sie mir sogar kein Mittagessen mehr gibt ... aber ich kann unmöglich verstehen, was das für ein Wechsel ist! Jetzt verlangt sie von mir Zahlung, aber was kann ich ihr bezahlen, urteilen Sie doch selbst! ...«
»Das ist aber nicht unsere Sache ...« bemerkte wieder der Sekretär.
»Erlauben Sie, erlauben Sie, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden, aber lassen Sie mich Ihnen alles erklären«, fiel ihm Raskolnikow wieder ins Wort, sich nicht an den Sekretär, sondern immer noch an Nikodim Fomitsch wendend; dabei bemühte er sich aus aller Kraft, sich auch an Ilja Petrowitsch zu wenden, obwohl jener so tat, als suche er etwas in den Akten und schenke ihm keine Beachtung. »Erlauben Sie mir auch meinerseits zu erklären, daß ich bei ihr schon seit ungefähr drei Jahren wohne, seit meiner Ankunft aus der Provinz, und früher, früher ... warum soll ich es übrigens nicht gestehen, – ich hatte ihr ganz zu Anfang das Versprechen gegeben, ihre Tochter zu heiraten, ein mündliches, durchaus freies Versprechen ... Das Mädchen war ... sie gefiel mir sogar sehr gut ... obwohl ich nicht verliebt war ... mit einem Worte, meine Jugend, das heißt, ich will sagen, daß meine Wirtin mir damals einen großen Kredit einräumte, und ich führte zum Teil so ein Leben ... Ich war sehr leichtsinnig ...«
»Man verlangt von Ihnen keine Intimitäten, sehr verehrter Herr, außerdem haben wir keine Zeit«, versuchte ihn Ilja Petrowitsch roh und triumphierend zu unterbrechen; Raskolnikow fiel ihm aber leidenschaftlich ins Wort, obwohl es ihm gar nicht leicht war, zu sprechen.
»Aber erlauben Sie, erlauben Sie mir doch, zum Teil alles zu erzählen ... wie die Sache war und ... auch meinerseits ... ich gebe übrigens zu, daß es überflüssig ist, davon zu erzählen ... aber vor einem Jahr ist das Mädchen an Typhus gestorben; ich aber blieb Zimmerherr, und meine Wirtin sagte mir, als sie in die neue Wohnung zog ... sagte mir freundschaftlich ... daß sie mir vollkommen vertraue und alles ... ob ich ihr aber nicht einen Schuldschein über die hundertfünfzehn Rubel ausstellen wolle, die ich ihr noch schuldete. Erlauben Sie: sie sagte mir ausdrücklich, daß, wenn ich ihr dieses Papier gebe, sie mir jeden Kredit einräumen würde und daß sie niemals, niemals, – das sind ihre eigenen Worte – von diesem Papier Gebrauch machen werde, bis ich es selbst bezahle ... Und jetzt, wo ich die Stunden verloren und nichts zu essen habe, will sie den Betrag eintreiben lassen. Was soll ich dazu sagen?«
»Alle diese rührenden Einzelheiten gehen uns gar nichts an, verehrter Herr«, schnitt Ilja Petrowitsch frech ab. »Sie müssen die Erklärung abgeben und die Verpflichtung unterschreiben; aber daß Sie geruht haben, verliebt zu sein, und alle diese tragischen Stellen gehen uns nichts an.«
»Nun, du, das ist schon ... grausam ...« murmelte Nikodim Fomitsch, indem er sich an den Tisch setzte und gleichfalls Papiere zu unterschreiben begann. Er schämte sich irgendwie.
»Schreiben Sie also«, sagte der Sekretär zu Raskolnikow.
»Was soll ich schreiben?« fragte jener besonders grob.
»Ich werde es Ihnen diktieren.«
Raskolnikow schien es, als hätte der Sekretär angefangen, ihn nach seiner Beichte geringschätziger und verächtlicher zu behandeln; doch seltsam: ihm war es plötzlich ganz gleich, was die andern von ihm hielten, und diese Veränderung vollzog sich in ihm augenblicklich, in einem Nu. Wenn er nur ein wenig nachgedacht hätte, so wäre er erstaunt, wie er es fertiggebracht hatte, mit ihnen vor einer Minute so zu sprechen und sich ihnen sogar mit seinen Gefühlen aufzudrängen. Und woher waren diese Gefühle gekommen? Jetzt aber, selbst wenn das Zimmer plötzlich nicht voller Revieraufseher, sondern voll seiner besten Freunde wäre, so hätte er wohl auch für sie kein einziges menschliches Wort finden können – so leer war plötzlich sein Herz geworden. Das finstere Gefühl einer qualvollen, unendlichen Vereinsamung regte sich plötzlich bewußt in seiner Seele. Es war nicht die Erniedrigung durch die Herzensergüsse vor Ilja Petrowitsch und auch nicht die Erniedrigung durch den Triumph des Leutnants über ihn, was diese Veränderung in seinem Herzen verursacht hatte. Ach, was ging ihn seine eigene Erniedrigung, was gingen ihn alle die Ehrbegriffe, Leutnants, Luisa Iwanownas, Wechselforderungen, Bureaus usw. an! Hätte man ihn jetzt zum Feuertode verurteilt, so hätte er sich auch dann nicht gerührt, hätte auch kaum das Urteil aufmerksam angehört. Mit ihm geschah etwas ihm völlig Unbekanntes, etwas Neues, Plötzliches, Niedagewesenes. Er begriff nicht – er empfand es deutlich, mit der ganzen Kraft seines Empfindens, daß es ihm unmöglich war, sich nicht nur mit Gefühlsausbrüchen, sondern womit es auch sei, an diese Menschen im Polizeibureau zu wenden; und wenn es auch seine leiblichen Brüder und keine Polizeileutnants wären – selbst dann hätte es keinen Sinn, sich an sie, unter welchen Lebensumständen es auch sei, zu wenden; bis zu diesem Augenblick hatte er noch nie diese seltsame und erschreckende Empfindung gehabt. Und was das Qualvollste war, – es war mehr eine Empfindung als eine Erkenntnis, als eine Einsicht; eine unmittelbare Empfindung, die qualvollste von allen, die er bisher im Leben gehabt hatte.
Der Sekretär begann ihm den Text der in solchen Fällen üblichen Erklärung zu diktieren, d.h.: zahlen kann ich nicht, verpflichte mich, dann und dann (später einmal) zu bezahlen; werde die Stadt nicht verlassen und mein Eigentum weder verkaufen noch verschenken usw.
»Sie können ja gar nicht schreiben, die Feder fällt Ihnen aus der Hand«, bemerkte der Sekretär, Raskolnikow neugierig anblickend. »Sind Sie krank?«
»Ja ... der Kopf schwindelt mir ... fahren Sie fort!«
»Das ist alles. Unterschreiben Sie nur.«
Der Sekretär nahm ihm das Papier ab und machte sich an eine andere Arbeit.
Raskolnikow gab die Feder zurück, aber statt aufzustehen und wegzugehen, legte er beide Ellenbogen auf den Tisch und preßte den Kopf mit den Händen zusammen. Es war ihm, als wenn man ihm einen Nagel in den Scheitel hineintriebe. Ein seltsamer Gedanke kam ihm plötzlich in den Sinn: sofort aufstehen, auf Nikodim Fomitsch zugehen und ihm alles Gestrige erzählen, alles bis zur letzten Einzelheit; dann mit ihm zusammen in seine Wohnung gehen und ihm die Sachen in der Ecke, im Loch zeigen. Der Drang dazu war so stark, daß er sich schon erhob, um es auszuführen. »Soll ich es mir nicht noch eine Minute überlegen?« ging es ihm durch den Kopf. »Nein, besser ohne nachzudenken, und die Sache ist erledigt!« Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Nikodim Fomitsch erzählte etwas mit großem Feuer Ilja Petrowitsch, und folgende Worte erreichten sein Ohr:
»Es kann nicht sein, man wird beide freilassen. Erstens sind zu viel Widersprüche da; urteilen Sie doch selbst: wozu brauchten Sie den Hausknecht zu rufen, wenn es ihr Werk ist? Etwa um sich selbst anzuzeigen? Oder war es eine List? Nein, das wäre schon zu schlau! Schließlich wurde der Student Pestrjakow im selben Augenblick, als er eintrat, dicht vor dem Tore von den beiden Hausknechten und von der Kleinbürgerin gesehen; er ging mit drei Freunden, von denen er sich vor dem Tore trennte, und erkundigte sich in Gegenwart dieser Freunde bei den Hausknechten nach der Wohnung. Nun, wird ein Mensch nach der Wohnung fragen, wenn er mit einer solchen Absicht gekommen ist? Was aber Koch betrifft, so hat er, bevor er zu der Alten hinaufging, eine halbe Stunde unten beim Silberschmied gesessen und ist genau um dreiviertel acht zu der Alten hinaufgegangen. Überlegen Sie es sich jetzt ...«
»Aber erlauben Sie, wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Sie behaupten selbst, daß sie geklopft haben und daß die Tür verschlossen war, als sie aber nach drei Minuten mit dem Hausknecht kamen, war die Tür plötzlich offen?«
»Das ist eben der Witz: der Mörder hatte sich unbedingt in der Wohnung eingeschlossen, und man hätte ihn dort ganz gewiß erwischt, wenn Koch nicht die Dummheit begangen hätte und nicht selbst nach dem Hausknecht gegangen wäre. Er aber ging gerade in der Zwischenzeit die Treppe hinunter und schlüpfte irgendwie an ihnen vorbei. Koch bekreuzt sich mit beiden Händen: ›Wäre ich dort geblieben,‹ sagt er, ›so wäre er herausgesprungen und hätte mich mit einer Axt erschlagen.‹ Er will sogar einen russischen Dankgottesdienst abhalten lassen, ha-ha!..«
»Den Mörder hat aber niemand gesehen?«
»Wie konnte man ihn auch sehen? Das Haus ist eine Arche Noah«, bemerkte der Sekretär, der von seinem Platz aus zuhörte.
»Die Sache ist klar, die Sache ist klar!« wiederholte Nikodim Fomitsch mit großem Eifer.
»Nein, die Sache ist sehr unklar«, entgegnete Ilja Petrowitsch.
Raskolnikow hob seinen Hut auf und ging zur Tür, aber er erreichte die Tür nicht ...
Als er zu sich kam, sah er sich auf einem Stuhle sitzen: von rechts stützte ihn irgendein Mann, links stand ein anderer Mann mit einem gelben, mit gelbem Wasser gefüllten Glase in der Hand; Nikodim Fomitsch stand vor ihm und sah ihn unverwandt an. Er erhob sich vom Stuhl.
»Was haben Sie, sind Sie krank?« fragte Nikodim Fomitsch ziemlich scharf.
»Schon beim Unterschreiben konnte der Herr kaum die Feder bewegen«, bemerkte der Sekretär, indem er sich wieder auf seinen Platz setzte und die Akten vornahm.
»Sind Sie schon lange krank?« rief Ilja Petrowitsch von seinem Platz, gleichfalls in Akten blätternd.
Auch er hatte selbstverständlich den Kranken betrachtet, als er ohnmächtig war, hatte sich aber sofort zurückgezogen, als jener zu sich kam.
»Seit gestern ...« murmelte Raskolnikow zur Antwort.
»Sind Sie gestern ausgegangen?«
»Ja.«
»Obwohl Sie krank waren?«
»Ja.«
»Um wieviel Uhr?«
»Gegen acht abends.«
»Und wohin, wenn ich fragen darf?«
»Über die Straße.«
»Kurz und bündig.«
Raskolnikow gab seine Antworten scharf und kurz, so bleich wie ein Taschentuch, ohne seine schwarzen entzündeten Augen vor den Blicken Ilja Petrowitschs zu senken.
»Er steht kaum auf den Beinen, und du ...« bemerkte Nikodim Fomitsch.
»Macht gar nichts!« sagte Ilja Petrowitsch in einem eigentümlichen Tone.
Nikodim Fomitsch wollte noch etwas hinzufügen, blickte aber den Sekretär an, der ihn gleichfalls sehr aufmerksam ansah, und sagte nichts. Plötzlich waren alle verstummt. Es war sehr sonderbar.
»Nun, schön,« schloß Ilja Petrowitsch, »wir wollen Sie nicht aufhalten.«
Raskolnikow ging hinaus. Er konnte noch hören, wie nach seinem Weggehen plötzlich ein lebhaftes Gespräch begann, in dem am lautesten die fragende Stimme von Nikodim Fomitsch tönte ...
Auf der Straße kam er ganz zu sich.
»Eine Haussuchung, jetzt gleich kommt die Haussuchung!« wiederholte er vor sich hin und beeilte sich, sein Haus zu erreichen. »Diese Räuber! Sie verdächtigen mich!« Die frühere Angst packte ihn wieder vom Kopf bis zu den Füßen.
»Was, wenn die Haussuchung schon gewesen ist? Wenn ich sie bei mir antreffe?«
Da ist aber schon sein Zimmer. Nichts und niemand; niemand hat hereingeblickt. Selbst Nastasja hat nichts angerührt ... Aber, Gott! Wie konnte er bloß vorhin alle diese Sachen in diesem Loche zurücklassen?
Er stürzte in die Ecke, steckte die Hand unter die Tapete und begann die Sachen hervorzuholen und sie sich in die Taschen zu stopfen. Es waren im ganzen, wie er jetzt sah, acht Stück: zwei kleine Schächtelchen mit Ohrringen oder ähnlichen Dingen, – er hatte sie nicht genau untersucht; dann vier kleine Etuis aus Safian. Eine Uhrkette war einfach in Zeitungspapier eingewickelt. Dann war noch ein Gegenstand in Zeitungspapier, wohl ein Orden ...
Er steckte alles in die verschiedenen Taschen, in den Mantel und in die noch übriggebliebene rechte Hosentasche, wobei er sich Mühe gab, die Sachen so zu verteilen, daß man von außen nichts sehen konnte. Den Beutel nahm er mit den übrigen Sachen mit. Dann ging er aus dem Zimmer und ließ diesmal die Tür weit offenstehen.
Er ging schnell und sicher, obwohl er sich am ganzen Leibe zerschlagen fühlte, aber sein Bewußtsein war klar. Er fürchtete, daß man ihn verfolgen würde, daß vielleicht schon nach einer Viertelstunde der Befehl ergehen würde, ihn zu beobachten; also mußte er um jeden Preis, noch solange er Zeit hatte, alle Spuren verwischen. Er mußte es erledigen, solange er noch etwas Kraft und Überlegung hatte ... Wohin sollte er aber gehen?
Das war schon längst beschlossen: »Alles in den Kanal werfen, und die Sache ist erledigt.« Das hatte er noch nachts im Fieber beschlossen, in den Augenblicken – er konnte sich ihrer noch erinnern –, als er einige Male aufzustehen und fortzugehen versuchte: »Schneller, schneller, alles fortwerfen!« Es zeigte sich aber, daß es sehr schwer war, die Sachen fortzuwerfen.
Er ging schon seit einer halben Stunde, vielleicht auch länger, am Kai des Katharinenkanals auf und ab und blickte auf die zum Kanal hinabführenden Stufen, sooft er an solchen vorüberging. Er durfte aber nicht mal daran denken, seinen Plan auszuführen: entweder lagen dicht vor den Stufen Flöße, auf denen Wäscherinnen ihre Arbeit verrichteten, oder Kähne, überall wimmelte es von Menschen, und von allen Seiten konnte man es sehen und ihn sich merken; es ist doch verdächtig, daß ein Mensch absichtlich hinabgegangen und stehengeblieben ist und etwas ins Wasser wirft. Und wenn die Etuis nicht untergehen, sondern weiterschwimmen? Natürlich wird es so sein. Ein jeder wird es sehen. Schon ohnehin schauen ihn die Leute so aufmerksam an, als ob sie sich nur für ihn allein interessierten. »Warum ist das so, oder kommt es mir nur so vor?« dachte er.
Endlich fiel es ihm ein, daß es vielleicht besser wäre, irgendwohin an die Newa zu gehen. Dort sind weniger Menschen, dort ließe es sich weniger auffällig und jedenfalls bequemer machen, und, was wohl das wichtigste ist, das wäre weit weg von hier. Und plötzlich staunte er: eine halbe Stunde war er voller banger Unruhe an dieser gefährlichen Stelle herumgegangen und hatte an diese Möglichkeit gar nicht gedacht. Eine volle halbe Stunde hatte er für dieses unsinnige Beginnen geopfert, nur weil es einmal im Traume, im Fieber so beschlossen war! Er wurde immer zerstreuter und vergeßlicher, und er wußte das. Er mußte sich unbedingt beeilen!
Er ging zur Newa durch den W–schen Prospekt; unterwegs kam ihm aber plötzlich ein neuer Gedanke! »Warum zur Newa? Warum ins Wasser? Wäre es nicht besser, irgendwohin sehr weit hinzugehen, vielleicht wieder auf die Inseln und dort alles im Walde unter einem Busche zu verscharren und sich vielleicht auch den Baum zu merken?« Obwohl er fühlte, daß er in diesem Augenblick nicht imstande war, alles klar und vernünftig zu überlegen, erschien ihm dieser Gedanke fehlerlos.
Aber es war ihm auch nicht beschieden, auf die Inseln zu kommen, es geschah etwas anderes: als er vom W–schen Prospekt auf den Platz kam, erblickte er plötzlich linker Hand den Eingang in einen von lauter blinden Mauern eingeschlossenen Hof. Rechts, gleich vom Eingange zog sich tief in den Hof hinein die blinde, ungetünchte Mauer eines dreistöckigen Nachbarhauses. Links, parallel zu der blinden Mauer, zog sich, gleichfalls beim Tore beginnend, etwa zwanzig Schritte in die Tiefe des Hofes hinein, ein Bretterzaun, der dann nach links abbog. Es war ein leerer eingezäunter Platz, wo allerlei Materialien lagen. Weiter, in der Tiefe des Hofes, sah hinter dem Zaune die Ecke eines niedrigen, verrauchten, gemauerten Schuppens hervor, offenbar der Teil einer Werkstätte. Hier befand sich wohl eine Wagnerei oder eine Schlosserei oder etwas ähnliches; überall, fast beim Tore beginnend, lag schwarzer Kohlenstaub. »Hier könnte ich es wegwerfen und dann fortgehen!« kam es ihm in den Sinn. Da er im Hofe keinen Menschen bemerkte, schlüpfte er in das Tor und erblickte sofort dicht beim Tore eine am Zaune angebrachte Rinne (solche Rinnen werden oft in den Höfen angebracht, wo es viele Arbeiter, Angestellte, Fuhrleute usw. gibt); über der Rinne war am Zaune mit Kreide höchst unorthographisch der übliche Witz geschrieben: »Hier ist es verboten, stehen zu bleiben.« Das hatte auch den Vorteil, daß es keinen Verdacht erregte: er ist einfach hereingegangen und ist stehengeblieben. »Alles auf einmal in einen Haufen werfen und fortgehen!«
Als er sich noch einmal umgesehen und die Hand schon in die Tasche gesteckt hatte, erblickte er plötzlich dicht an der Außenmauer, zwischen dem Tor und der Rinne, wo der Zwischenraum höchstens einen Arschin breit war, einen großen unbehauenen Stein, der etwa eineinhalb Pud schwer sein mochte und direkt an der Straßenmauer lag. Hinter dieser Mauer lagen die Straße und der Bürgersteig, und er konnte die vielen Leute vorbeigehen hören, die es hier immer gab; doch hinter dem Tore konnte ihn niemand bemerken, höchstens wenn jemand von der Straße hereinkäme, was übrigens leicht passieren konnte, und darum mußte er sich beeilen.
Er beugte sich zum Stein, packte ihn oben fest mit beiden Händen, nahm alle seine Kräfte zusammen und drehte den Stein um. Unter dem Steine bildete sich eine kleine Vertiefung: er begann sofort alle Gegenstände aus seiner Tasche hineinzuwerfen. Der Beutel kam ganz oben zu liegen, und doch blieb in der Vertiefung noch Platz. Darauf packte er wieder den Stein, drehte ihn mit einem Ruck um, so daß er wieder an den alten Platz zu liegen kam und vielleicht nur ein wenig in die Höhe geschoben schien. Er scharrte aber etwas Erde zusammen und drückte sie mit dem Fuße am Rande fest. Nun war nichts mehr zu sehen.
Dann verließ er den Hof und ging auf den Platz zu. Wieder bemächtigte sich seiner für einen Augenblick eine starke, beinahe unerträgliche Freude, wie vorhin im Polizeibureau. »Alle Spuren sind verwischt! Wem wird jetzt einfallen, unter diesem Stein zu suchen? Er liegt hier vielleicht seit der Erbauung des Hauses und wird vielleicht noch ebenso lange liegen. Und wenn man es auch findet: wer wird auf mich kommen? Alles ist erledigt! Es gibt keine Indizien!« Und er fing zu lachen an. Ja, er erinnerte sich später, daß er in ein nervöses, vibrierendes, lautloses, langes Lachen ausgebrochen war und so lange gelacht hatte, als er über den Platz ging. Als er aber den K–schen Boulevard erreichte, wo er vorgestern jenem Mädchen begegnet war, verging ihm das Lachen. Andere Gedanken kamen ihm in den Sinn. Es kam ihm sogar vor, daß es ihm ekelhaft sein müsse, an jener Bank vorbeizugehen, auf der er damals, nachdem das Mädchen gegangen war, gesessen und nachgedacht hatte; daß es ihm auch schrecklich sein würde, jenem Schutzmann zu begegnen, dem er damals zwanzig Kopeken gegeben hatte. »Hol ihn der Teufel!«
Er ging und blickte zerstreut und gehässig um sich. Alle seine Gedanken drehten sich jetzt um einen einzigen Punkt, den Hauptpunkt – und er fühlte selbst, daß es wirklich der Hauptpunkt sei und daß er jetzt, gerade jetzt, vor diesem Hauptpunkte stehe – und das sogar zum erstenmal seit diesen zwei Monaten.
»Hol alles der Teufel!« sagte er sich plötzlich in einem Anfalle unerschöpflicher, Wut. »Nun, wenn es begonnen hat, so hat es eben begonnen, mag der Teufel das neue Leben holen! Mein Gott, wie dumm ist doch das alles! ... Und wieviel habe ich zusammengelogen, wie gemein habe ich mich heute benommen! Wie häßlich habe ich vorhin vor dem niederträchtigen Ilja Petrowitsch scharwenzelt und mich erniedrigt! Übrigens ist alles Unsinn ... Ich spucke auf sie alle und auch auf das, daß ich scharwenzelt und mich erniedrigt habe! Das ist es nicht, das ist es gar nicht!«
Plötzlich blieb er stehen; eine neue, völlig unerwartete und äußerst einfache Frage brachte ihn auf einmal aus der Fassung und verblüffte ihn bitter:
»Wenn du diese ganze Sache wirklich bewußt und nicht wie ein Narr gemacht hast, wenn du wirklich ein bestimmtes und festes Ziel gehabt hast, warum hast du bisher nicht mal in den Beutel hineingeschaut und weißt nicht, was dir zugefallen ist und weswegen du alle Qualen auf dich genommen und dich mit vollem Bewußtsein zu einer so gemeinen, häßlichen und niedrigen Tat entschlossen hast? Du wolltest doch eben den Beutel mit den anderen Sachen, die du gleichfalls nicht gesehen hast, ins Wasser werfen ... Wie ist es nun?«
Ja, es ist so; alles ist so. Er hatte es übrigens auch vorher gewußt, und die Frage war für ihn gar nicht neu; und als es damals in der Nacht beschlossen wurde, alles ins Wasser zu werfen, so war es ohne jedes Schwanken und ohne Widerspruch beschlossen worden, vielmehr so, als hätte es so sein müssen, als wäre es anders unmöglich ... Ja, er hatte das alles gewußt und alles verstanden; vielleicht schon gestern war es so beschlossen, im gleichen Augenblick, als er über der Truhe hockte und aus ihr die Etuis herausholte ... Es ist doch so! ...
»Es kommt daher, weil ich sehr krank bin,« entschied er plötzlich finster, »ich habe mich selbst zermartert, und ich weiß selbst nicht, was ich tue ... Auch gestern und vorgestern und diese ganze Zeit habe ich mich gemartert ... Wenn ich gesund werde, werde ich mich nicht mehr martern ... Wenn ich aber nicht gesund werde? Mein Gott, wie habe ich das alles satt!« Er ging, ohne stehen zu bleiben. Er wollte so furchtbar gern sich irgendwie zerstreuen, wußte aber nicht, was zu tun, was zu unternehmen. Eine neue, unüberwindliche Empfindung bemächtigte sich seiner von Augenblick zu Augenblick stärker; es war ein grenzenloser, beinahe physischer Ekel vor allem, was ihm begegnete und ihn umgab, ein hartnäckiger, boshafter, gehässiger Widerwille. Alle Menschen, denen er begegnete, waren ihm ekelhaft – ekelhaft waren ihre Gesichter, ihr Gang, ihre Bewegungen. Er wäre imstande, jeden von ihnen anzuspeien oder zu beißen, der ihn angesprochen hätte ...
Er blieb plötzlich stehen, als er den Kai der Kleinen Newa auf der Wassiljewskij-Insel dicht bei der Brücke erreicht hatte. »Hier wohnt er, in diesem Hause«, sagte er sich. »Was, bin ich gar zu Rasumichin gekommen?! Wieder dieselbe Geschichte wie damals ... Es ist doch immerhin interessant: ob ich mit Absicht hergekommen bin oder mich nur zufällig verirrt habe? Ich habe doch sowieso damals ... vorgestern ... gesagt, daß ich ihn ... am andern Tage nach dem aufsuchen werde; nun, ich werde zu ihm hinaufschauen! Als ob ich jetzt nicht mehr zu ihm gehen dürfte ...«
Er stieg zu Rasumichin in den vierten Stock hinauf.
Jener war daheim, in seiner Kammer; er war gerade mit Schreiben beschäftigt und hatte ihm selbst geöffnet. An die vier Monate hatten sie sich nicht gesehen. Rasumichin trug zu Hause einen vollkommen zerfetzten Schlafrock und Pantoffeln auf den bloßen Füßen und war zerzaust, unrasiert und ungewaschen. Sein Gesicht drückte großes Erstaunen aus.
»Was hast du?« rief er aus, indem er seinen Freund vom Kopf bis zu den Füßen musterte. Dann verstummte er und stieß einen Pfiff aus.
»Steht es denn wirklich so schlecht? Du hast unsereins übertroffen, mein Bester«, fügte er mit einem Blick auf Raskolnikows Lumpen hinzu. »Setz dich doch, du bist wohl müde!«
Und als jener sich in sein wachstuchüberzogenes türkisches Sofa fallen ließ, das in einem noch schlimmeren Zustande war als das seinige, merkte Rasumichin plötzlich, daß sein Gast krank war.
»Du bist ja ernstlich krank, weißt du das?«
Er begann seinen Puls zu fühlen; Raskolnikow entriß ihm aber die Hand.
»Laß das«, sagte er, »ich bin gekommen ... es ist folgendes ... ich habe gar keine Stunden ... ich wollte ... es ist mir übrigens nicht um die Stunden zu tun ...«
»Weißt du was? Du phantasierst ja!« bemerkte Rasumichin, der ihn aufmerksam betrachtete.
»Nein, ich phantasiere nicht ...«
Raskolnikow erhob sich vom Sofa. Als er zu Rasumichin hinaufging, dachte er nicht daran, daß er ihm Auge in Auge gegenüberstehen werde. Doch jetzt erfaßte er, durch die Erfahrung belehrt, daß er in diesem Augenblick am allerwenigsten fähig sei, irgend jemand auf der ganzen Welt Auge in Auge gegenüberzustehen. Seine ganze Galle stieg in ihm auf. Er erstickte beinahe vor Wut über sich selbst, daß er über Rasumichins Schwelle getreten war.
»Leb wohl!« sagte er plötzlich und ging zur Tür.
»Warte doch, warte, du komischer Mensch!«
»Laß das! ...« wiederholte jener und riß wieder seine Hand los.
»Zum Teufel, warum bist du dann hergekommen? Bist du verrückt? Das ist ja ... beinahe beleidigend. Ich lasse dich nicht so ...«
»Also höre: Ich bin zu dir gekommen, weil ich außer dir keinen Menschen kenne, der mir helfen könnte ... anzufangen ... weil du besser, das heißt klüger bist als sie alle und alles erwägen kannst ... Jetzt sehe ich aber, daß ich nichts brauche, hörst du, gar nichts ... weder einen Dienst noch Teilnahme ... Ich will selbst ... allein ... Nun, es ist genug! Laß mich in Ruhe!«
»Aber wart' einen Augenblick, du Schornsteinfeger. Du bist ganz von Sinnen! Von mir aus kannst du tun, was du willst. Siehst du, ich habe keine Stunden, und ich pfeife drauf, doch auf dem Trödlermarkte gibt es den Buchhändler Cheruwimow, dieser ist auch eine Stunde seiner Art. Jetzt gebe ich ihn auch für fünf Stunden in Kaufmannshäusern nicht her. Er gibt so allerlei kleine Sachen und naturwissenschaftliche Bücher heraus, und wie die gehen! Was schon die Titel allein wert sind! Du hast immer behauptet, ich sei dumm; bei Gott, Bruder, es gibt Menschen, die noch dümmer sind als ich! Jetzt macht er sogar Tendenzliteratur; er hat davon zwar keinen blauen Dunst, und ich sporne ihn natürlich an. Hier sind etwas mehr als zwei Bogen deutscher Text – meiner Ansicht nach die dümmste Scharlatanerie; mit einem Wort, es wird hier die Frage untersucht, ob die Frau ein Mensch sei oder nicht. Natürlich wird zuletzt sehr feierlich erklärt, sie sei ein Mensch. Cheruwimow bringt das als Beitrag zur Frauenfrage; ich mache die Übersetzung; er wird diese zweiundeinhalb Bogen auf sechs Bogen breitziehen, wir werden einen prunkvollen Titel, der eine halbe Seite füllen wird, erfinden und es zu fünfzig Kopeken verkaufen. Es findet schon seinen Absatz! Für die Übersetzung bekomme ich sechs Rubel für den Bogen, für das Ganze also an die fünfzehn Rubel, sechs Rubel habe ich mir im voraus bezahlen lassen. Wenn wir damit fertig sind, fangen wir an, ein Buch über die Walfische zu übersetzen, dann haben wir uns im zweiten Band der ›Confessions‹ einige langweilige Klatschgeschichten angemerkt und werden auch sie übersetzen; dem Cheruwimow hat jemand gesagt, Rousseau sei eine Art Radischtschew. Ich widerspreche ihm natürlich nicht, hol ihn der Teufel! Nun, willst du den zweiten Bogen von ›Ist die Frau ein Mensch?‹ übersetzen? Wenn du willst, so nimm gleich den Text, auch Papier und Federn – das wird alles vom Verleger beigestellt – nimm auch die drei Rubel: da ich die ganze Übersetzung für den ersten und zweiten Bogen vorausgezahlt bekommen habe, so kommen auf deinen Teil gerade drei Rubel. Und wenn du mit dem Bogen fertig bist, kriegst du noch drei Rubel. Und dann noch eins: halte es bitte nicht für einen Dienst meinerseits. Im Gegenteil: gleich als du hereinkamst, sagte ich mir, womit du mir nützlich sein kannst. Ich bin erstens in der Orthographie nicht ganz sicher und zweitens im Deutschen oft sehr schwach, so daß ich meistens einfach dichte und mich nur damit tröste, daß es dadurch noch besser wird. Wer kann es aber wissen – vielleicht wird es gar nicht besser, sondern schlechter ... Nimmst du es oder nicht?«
Raskolnikow nahm schweigend die deutschen Textseiten, nahm auch die drei Rubel und ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus. Rasumichin sah ihm erstaunt nach. Als Raskolnikow schon bei der Ersten Linie war, kehrte er um, stieg wieder zu Rasumichin hinauf, legte ihm die deutschen Seiten und die drei Rubel auf den Tisch und ging, wieder ohne ein Wort zu sagen, hinaus.
»Hast du das Delirium, oder was?!« brüllte Rasumichin, der schließlich rasend wurde. »Was spielst du Komödie! Selbst mich hast du ganz konfus gemacht ... Was bist du dann hergekommen, der Teufel noch einmal?«
»Ich brauche ... keine Übersetzungen ...« murmelte Raskolnikow, der schon die Treppe hinunterging.
»Was brauchst du denn, zum Teufel?« schrie ihm Rasumichin von oben nach.
Jener ging stumm hinunter.
»He, du! Wo wohnst du?«
Eine Antwort erfolgte nicht.
»Dann hol dich der Teufel!«
Raskolnikow trat aber schon auf die Straße. Auf der Nikolaibrücke mußte er infolge eines für ihn recht unangenehmen Zwischenfalles noch einmal zur Besinnung kommen. Der Kutscher einer Equipage versetzte ihm einen heftigen Peitschenhieb auf den Rücken, weil er beinahe unter die Pferde geraten war, obwohl der Kutscher ihn drei- oder viermal angeschrien hatte. Der Peitschenhieb erboste ihn so, daß er zum Brückengeländer sprang (er ging, er wußte selbst nicht warum, in der Mitte der Brücke, wo gefahren wird, und nicht auf dem Bürgersteig) und zornig mit den Zähnen knirschte und klapperte. Ringsherum erklang natürlich Lachen.
»Ganz recht geschehen!«
»Ist wohl ein Spitzbube!«
»Man kennt es ja: stellt sich betrunken und läuft absichtlich unter die Räder, und unsereins muß dafür auf kommen.«
»Davon leben sie, Verehrtester, davon leben sie ...«
Doch in dem Augenblick, als er am Geländer stand und, sich den Rücken reibend, ganz dumm und gehässig der davonrollenden Equipage nachsah, fühlte er plötzlich, daß ihm jemand Geld in die Hand drückte. Er blickte auf: eine ältere Kaufmannsfrau mit einem Kopftuche und in Bocklederschuhen und neben ihr ein junges Mädchen mit Hut und grünem Schirm, wahrscheinlich die Tochter. »Nimm's, Väterchen, um Christi willen.« Er nahm das Geld, und die beiden Frauen gingen weiter. Es war ein Zwanzigkopekenstück. Der Kleidung und dem Aussehen nach konnten sie ihn gut für einen Bettler, für einen echten Kupfergeldsammler von der Straße halten, die zwanzig Kopeken hatte er aber dem Peitschenhieb zu verdanken, der sie mitleidig gestimmt hatte.
Er drückte das Zwanzigkopekenstück fest in der Hand zusammen, ging an die zehn Schritte weiter und wandte sich mit dem Gesicht zur Newa, in der Richtung zum Palais. Kein Wölkchen stand am Himmel, und das Wasser war fast blau, was auf der Newa so selten vorkommt. Die Kuppel der Kathedrale, die von keinem Punkt so gut zu sehen ist wie von dieser Brücke, etwa zwanzig Schritte vor der Kapelle, leuchtete und strahlte, und durch die reine Luft konnte man jede ihrer Verzierungen deutlich unterscheiden. Der Schmerz vom Peitschenhiebe hatte nachgelassen, und Raskolnikow hatte den Hieb vergessen; ihn beschäftigte ausschließlich ein unruhiger und nicht ganz klarer Gedanke. Er stand da und blickte lange und unverwandt in die Ferne; diese Stelle war ihm besonders gut bekannt. Als er noch zur Universität ging, so geschah es vielleicht hundertmal, daß er, meistens auf dem Heimwege, an dieser Stelle stehenblieb, aufmerksam dieses prachtvolle Panorama betrachtete und jedesmal über einen unklaren und unerklärlichen Eindruck staunte. Das prachtvolle Panorama wehte ihn immer mit einer unerklärlichen Kälte an; das prunkvolle Bild war für ihn von einem stummen und dumpfen Geiste erfüllt ... Jedesmal staunte er über diesen düsteren und rätselhaften Eindruck und schob die Lösung, da er dem Eindruck nicht traute, in die Zukunft. Jetzt erinnerte er sich plötzlich deutlich seiner früheren Fragen und Zweifel, und es kam ihm vor, als hätte er sich ihrer nicht ganz zufällig erinnert. Schon dies allein erschien ihm befremdend und erstaunlich, daß er auf der gleichen Stelle stehenblieb wie einst, als hätte er sich tatsächlich eingebildet, daß er imstande sei, auch jetzt ebenso zu denken wie einst und sich für die gleichen Themen und Bilder zu interessieren, für die er sich ... noch vor so kurzer Zeit interessiert hatte. Das kam ihm beinahe komisch vor, zugleich preßte es ihm die Brust zusammen. Er glaubte, unten in der Tiefe, irgendwo kaum sichtbar unter seinen Füßen diese ganze Vergangenheit zu sehen, die früheren Gedanken, die früheren Aufgaben, die früheren Probleme, die früheren Eindrücke, das frühere Panorama, und sich selbst; und alles, alles ... Es war ihm, als fliege er irgendwo hinauf und als verschwinde alles vor seinen Augen. Bei einer unwillkürlichen Handbewegung fühlte er plötzlich in seiner Faust das Zwanzigkopekenstück. Er öffnete die Hand, sah die Münze aufmerksam an, schwang den Arm und warf sie ins Wasser; dann wandte er sich um und ging nach Hause. Ihm schien es, als hätte er sich in diesem Augenblick selbst mit einer Schere von allen und von allem abgeschnitten.
Er kam erst gegen Abend heim, also war er wohl an die sechs Stunden herumgegangen. Auf welchem Wege er zurückgegangen war, wußte er nicht mehr. Er zog sich aus, legte sich, wie ein abgehetztes Pferd am ganzen Leibe zitternd, aufs Sofa, zog den Mantel über sich und schlief sofort ein.
Er kam zur Besinnung in völliger Dämmerung, von einem furchtbaren Schrei geweckt. Gott, was war das für ein Schrei! Solche unnatürlichen Laute, solches Heulen, Jammern, Zähneknirschen, Schluchzen, solche Schläge und Schimpfworte hatte er noch nie erlebt und nie gehört. Er konnte sich eine solche Roheit, eine solche Raserei nicht mal vorstellen. Von Entsetzen gepackt, erhob er sich und setzte sich auf seinem Lager auf; jeden Augenblick erstarb er vor schmerzvollem Grauen. Doch die Schläge, das Jammern und Fluchen wurden immer stärker und stärker. Und plötzlich erkannte er zu seinem größten Erstaunen die Stimme seiner Wirtin. Sie heulte, kreischte und jammerte, brachte die Worte in solcher Hast heraus, daß man nichts verstehen konnte, sie flehte um etwas, – natürlich, daß man sie zu schlagen aufhöre, denn sie wurde auf der Treppe von jemand erbarmungslos geschlagen. Die Stimme des Schlagenden war vor Wut und Raserei so schrecklich, daß sie nur noch röchelte, aber auch der Schlagende sagte etwas, ebenso hastig, unverständlich und sich überstürzend. Plötzlich erbebte Raskolnikow wie Espenlaub: er erkannte die Stimme; es war die Stimme von Ilja Petrowitsch. Ilja Petrowitsch ist hier und schlägt seine Wirtin! Er tritt sie mit den Füßen, schlägt sie mit dem Kopf gegen die Stufen – das ist klar, das kann man an den Lauten, den Schreien, den Schlägen erkennen! Geht die Welt unter? Es war zu hören, wie sich die Leute aus allen Stockwerken auf der Treppe versammelten, man hörte Stimmen und Ausrufe, sie gingen hinauf, klopften, schlugen die Türen zu, liefen zusammen. »Aber wofür, wofür, wie kann man das nur!« wiederholte er vor sich hin, ernsthaft davon überzeugt, daß er den Verstand verloren hätte. Aber nein, er hört es zu deutlich! ... Also wird man wohl gleich auch zu ihm kommen, wenn es sich wirklich so verhält, – denn das ist sicher wegen desselben ... wegen des gestrigen ... Mein Gott! – Er wollte die Tür zuhaken, konnte aber die Hand nicht heben ... das wäre ja auch nutzlos! Die Angst legte sich um seine Seele wie Eis, sie zermarterte ihn, sie ließ ihn vor Kälte erstarren ... Endlich schien dieser ganze Lärm, der mindestens zehn Minuten gedauert hatte, allmählich aufzuhören. Die Wirtin stöhnte und ächzte. Ilja Petrowitsch drohte und fluchte noch immer ... Endlich schien auch er ruhiger zu werden; nun ist er nicht mehr zu hören. »Ist er denn wirklich fortgegangen? Mein Gott!« Ja, da entfernt sich, noch immer stöhnend und weinend, die Wirtin ... da fällt auch schon ihre Tür ins Schloß ... Da zieht sich auch schon die Menge von der Treppe in ihre Wohnungen zurück, – die Leute jammern, streiten, wechseln Bemerkungen, die Stimmen bald zum Geschrei erhebend, bald zum Flüstertone dämpfend. Es waren ihrer wohl viele gewesen; fast das ganze Haus war zusammengelaufen. »Aber, mein Gott, ist denn das möglich! Und wozu, wozu war er hergekommen?«
Raskolnikow fiel entkräftet auf das Sofa, konnte aber die Augen nicht mehr schließen; so lag er etwa eine halbe Stunde in solcher Qual, von einem so grenzenlosen Schrecken gepackt, wie er ihn noch nie empfunden hatte. Plötzlich wurde sein Zimmer von einem grellen Schein erleuchtet: Nastasja kam mit einer Kerze und einem Teller Suppe zu ihm herein. Nachdem sie ihn aufmerksam betrachtet und festgestellt hatte, daß er nicht schlief, stellte sie die Kerze auf den Tisch und begann das Mitgebrachte aufzustellen: Brot, Salz, einen Teller und Löffel ...
»Hast wohl seit gestern nichts gegessen. Hast dich den ganzen Tag herumgetrieben, im Fieber und Schüttelfrost.«
»Nastasja ... warum schlug man die Wirtin?«
Sie sah ihn unverwandt an.
»Wer hat die Wirtin geschlagen?«
»Soeben ... vor einer halben Stunde, Ilja Petrowitsch, der Gehilfe des Revieraufsehers, auf der Treppe ... Warum hat er sie so geprügelt? Und ... warum war er hergekommen?«
Nastasja betrachtete ihn schweigend mit gerunzelter Stirn und sah ihn lange so an. Dies wurde ihm unangenehm, es erschreckte ihn sogar.
»Nastasja, was schweigst du?« fragte er schließlich ängstlich mit schwacher Stimme.
»Das ist das Blut«, antwortete sie endlich leise wie vor sich hin.
»Blut! ... Was für ein Blut? ...« murmelte er erbleichend und zur Wand rückend.
Nastasja sah ihn noch immer schweigend an.
»Niemand hat die Wirtin geschlagen«, sagte sie wieder streng und bestimmt.
Er sah sie an und atmete kaum.
»Ich habe es selbst gehört ... ich habe nicht geschlafen ... ich habe gesessen«, sagte er noch ängstlicher. »Ich habe lang zugehört ... Der Gehilfe des Revieraufsehers war hier ... Alle Leute aus allen Wohnungen waren auf der Treppe zusammengelaufen ...«
»Niemand war hier. Es ist das Blut, das aus dir schreit. Wenn es keinen Ausweg hat und gerinnt, so kommt einem mancherlei vor ... Wirst du essen, wie?«
Er gab keine Antwort. Nastasja stand noch immer vor ihm, sah ihn unverwandt an und ging nicht.
»Gib mir zu trinken ... Nastasjuschka.«
Sie ging hinunter und brachte nach zwei Minuten Wasser in einem weißen tönernen Becher; was weiter kam, erinnerte er sich nicht mehr. Er erinnerte sich nur noch, wie er einen Schluck kalten Wassers getrunken und den Inhalt des Bechers auf die Brust verschüttet hatte. Dann wurde er bewußtlos.
Man kann jedoch nicht sagen, daß er während seiner ganzen Krankheit bewußtlos geblieben wäre: es war ein fieberhafter Zustand mit Delirien und halbem Bewußtsein. An vieles konnte er sich später erinnern. Bald schien es ihm, als versammele sich um ihn eine Menge von Menschen, die ihn nehmen und irgendwohin forttragen wollten; als stritten und zankten sie sich seinetwegen. Bald sah er sich allein im Zimmer; alle sind weggegangen und fürchten sich vor ihm und öffnen nur zuweilen die Tür, um nach ihm zu sehen; sie drohen ihm, vereinbaren etwas unter sich, lachen und necken ihn. Er erkannte oft Nastasja in seiner Nähe; er unterschied auch noch einen anderen Menschen, der ihm bekannt vorkam, wer es aber war, darauf konnte er unmöglich kommen; er litt darunter und weinte sogar. Zuweilen schien es ihm, daß er schon seit einem Monat liege: zuweilen aber, es sei noch immer der gleiche Tag. Aber jenes hatte er vollkommen vergessen; dafür war er sich fortwährend bewußt, daß er etwas vergessen habe, was er nicht hätte vergessen dürfen, – er zermarterte sich und quälte sich, indem er sich dessen zu erinnern bemühte, er stöhnte, ihn packte Raserei oder eine schreckliche, unerträgliche Angst. Dann wollte er aufstehen, wollte weglaufen, doch jemand hielt ihn jedesmal mit Gewalt zurück, und er fiel wieder in Ohnmacht und Bewußtlosigkeit. Endlich kam er aber ganz zu sich.
Das geschah an einem Morgen um zehn Uhr. Um diese Stunde pflegte die Sonne an heiteren Tagen immer einen langen Streifen auf seiner rechten Wand zu malen und die Ecke an der Tür zu beleuchten. Vor seinem Bette standen Nastasja und noch ein Mensch, der ihn sehr neugierig betrachtete und den er gar nicht kannte. Es war ein junger Bursche in einem langen Rock, mit kleinem Bärtchen, dem Aussehen nach ein Kontordiener. Durch die halbgeöffnete Tür blickte die Wirtin herein. Raskolnikow erhob sich.
»Wer ist das, Nastasja?« fragte er, auf den Burschen zeigend.
»Schau, er ist zu sich gekommen!« sagte sie.
»Der Herr sind zu sich gekommen«, wiederholte der Kontordiener.
Als die Wirtin, die hereinblickte, merkte, daß er zu sich gekommen war, schloß sie sofort die Tür und verschwand. Sie war immer schüchtern gewesen, und alle Gespräche und Auseinandersetzungen waren ihr eine Last; sie war gegen vierzig, sehr dick und fett, hatte schwarze Augen und schwarze Brauen und war vor lauter Dicke und Faulheit gutmütig; ihr Gesicht war gar nicht übel. Dabei war sie von einer übertriebenen Schamhaftigkeit.
»Wer sind ... Sie?« fragte er weiter, sich an den Kontordiener selbst wendend. Doch im gleichen Augenblick wurde die Tür wieder weit geöffnet, und herein trat, ein wenig gebückt, da er sehr groß war, Rasumichin.
»Diese Schiffskajüte!« rief er beim Eintreten. »Jedesmal stoße ich mit der Stirn an. Das nennt sich auch Wohnung! Du bist aber zu dir gekommen, Bruder? Ich habe es eben von Paschenjka1 gehört.«
»Eben ist er zu sich gekommen«, sagte Nastasja.
»Eben sind der Herr zu sich gekommen«, bestätigte der Kontordiener mit einem Lächeln.
»Wer sind Sie?« fragte ihn plötzlich Rasumichin. »Ich, zum Beispiel, sehen Sie, ich bin Wrasumichin, nicht Rasumichin, wie mich alle nennen, sondern Wrasumichin, Student, Sohn eines Adligen, und er ist mein Freund. Nun, und wer sind Sie?«
»Ich bin Diener in unserem Kontor, vom Kaufmann Schelopajew, ich komme in Geschäften.«
»Setzen Sie sich, bitte, auf diesen Stuhl.« Rasumichin selbst setzte sich auf den anderen Stuhl, an der anderen Seite des Tischchens. »Das hast du gut getan, Bruder, daß du zu dir gekommen bist«, fuhr er fort, sich an Raskolnikow wendend. »Den vierten Tag ißt und trinkst du fast nichts. Wirklich, man mußte dir Tee mit einem Löffelchen eingeben. Ich brachte zweimal Sossimow her. Kannst du dich an Sossimow erinnern? Er hat dich aufmerksam untersucht und gleich gesagt, daß es nichts von Belang sei, – das Blut sei dir irgendwie in den Kopf gestiegen. Irgendeine Dummheit mit den Nerven, die Ration war ungenügend, sagt er, du hättest zu wenig Bier und Meerrettich bekommen, daher auch die Krankheit; es mache aber nichts, alles werde schon gut werden. Ein tüchtiger Kerl dieser Sossimow! Er fängt an, glänzender Arzt zu werden. Nun, ich halte Sie aber auf,« wandte er sich wieder an den Kontordiener, »wollen Sie erklären, was Sie wünschen? Ich muß dir sagen, Rodja, daß man schon zum zweitenmal aus dem Kontor kommt; nur ist es das vorige Mal nicht dieser gewesen, sondern ein anderer, und ich habe mit dem anderen gesprochen. Wer war denn vor Ihnen dagewesen?«
»Ich meine, es war vorgestern. Das war Alexej Ssemjonowitsch; er ist auch an unserem Kontor angestellt.«
»Er wird wohl etwas tüchtiger sein als Sie, was meinen Sie?«
»Jawohl, er ist wirklich etwas solider.«
»Das ist lobenswert. Nun, fahren Sie fort.«
»Sie bekommen durch unser Kontor von Afanassij Iwanowitsch Wachruschin, von dem Sie wohl mehr als einmal gehört haben, auf Wunsch Ihrer Frau Mama eine Geldüberweisung«, begann der Kontordiener, sich direkt an Raskolnikow wendend. »Falls Sie bei Bewußtsein sind, soll ich Ihnen fünfunddreißig Rubel einhändigen, da Ssemjon Ssemjonowitsch von Afanassij Iwanowitsch auf Wunsch Ihrer Frau Mama auf die gleiche Weise wie früher darüber benachrichtigt worden ist. Belieben Sie ihn zu kennen?«
»Ja ... ich weiß ... Wachruschin ...« sagte Raskolnikow nachdenklich.
»Hören Sie: er kennt den Kaufmann Wachruschin!« schrie Rasumichin. »Und er sollte nicht bei Bewußtsein sein? Übrigens merke ich jetzt, daß auch Sie ein tüchtiger Mensch sind. Nun! Kluge Reden hört man gern.«
»Ja, es stimmt, es ist von Wachruschin, Afanassij Iwanowitsch, auf Wunsch Ihrer Frau Mama, die Ihnen schon einmal auf die gleiche Weise Geld überwiesen hat; er hat es ihr auch diesmal nicht abgeschlagen und unseren Ssemjon Ssemjonowitsch von seiner Stadt aus beauftragt, Ihnen fünfunddreißig Rubel auszuzahlen, in Erwartung besserer Zeiten.«
»Dieses ›in Erwartung besserer Zeiten‹ ist Ihnen am besten gelungen; auch das von der ›Frau Mama‹ ist nicht übel. Nun, wie glauben Sie, ist er bei vollem Bewußtsein oder nicht, wie?«
»Mir kann es gleich sein. Wenn ich nur eine Quittung haben könnte.«
»Die wird er schon hinkritzeln. Haben Sie ein Buch mit, wie?«
»Jawohl, ein Buch, hier ist es.«
»Geben Sie es her. Nun Rodja, steh etwas auf. Ich werde dich stützen; schreib ihm den Raskolnikow hin, nimm die Feder, denn wir brauchen jetzt das Geld dringender als Sirup, Bruder.«
»Nicht nötig«, sagte Raskolnikow, die Feder von sich stoßend.
»Was ist nicht nötig?«
»Ich werde nicht unterschreiben.«
»Pfui Teufel, das geht doch nicht ohne Unterschrift!«
»Ich will ... das Geld nicht ...«
»Das Geld willst du nicht? Nein, Bruder, das ist Unsinn, ich bin Zeuge! Achten Sie bitte nicht darauf, daß er schon wieder ... voyagiert. Das kommt bei ihm übrigens auch im wachen Zustande vor ... Sie sind ein vernünftiger Mensch, und wir wollen ihn leiten, das heißt einfach seine Hand leiten, dann wird er schon unterschreiben. Nun, fassen Sie an ...«
»Ich kann übrigens auch ein anderes Mal kommen.«
»Nein, nein, warum sollen Sie sich die Mühe machen. Sie sind doch ein vernünftiger Mensch ... Nun, Rodja, halt den Gast nicht auf ... du siehst doch, er wartet.« Und er schickte sich ernsthaft an, Raskolnikows Hand zu führen.
»Laß, ich will selbst ...« sagte jener, ergriff die Feder und setzte seine Unterschrift ins Buch.
Der Kontordiener zählte das Geld auf und ging.
»Bravo! Und nun, Bruder, willst du essen?«
»Ich will«, antwortete Raskolnikow.
»Habt ihr Suppe?«
»Von gestern«, antwortete Nastasja, die die ganze Zeit dabei gestanden hatte.
»Mit Kartoffeln und Reis?«
»Mit Kartoffeln und Reis.«
»Das weiß ich auswendig. Bring's her, bring auch Tee.«
»Ich bring es gleich.«
Raskolnikow verfolgte alles mit tiefem Erstaunen und einer stumpfen, sinnlosen Angst. Er entschloß sich zu schweigen und zu warten: was wird wohl weiter kommen? »Ich glaube, es ist kein Fiebertraum,« dachte er sich, »mir scheint, es ist Wirklichkeit ...«
Nach zwei Minuten kam Nastasja mit der Suppe und erklärte, daß gleich auch der Tee kommen würde. Zur Suppe brachte sie zwei Löffel, zwei Teller und alles, was dazu gehört: ein Salzfaß, eine Pfefferbüchse, Senf für das Fleisch und alles andere, in einer Ordnung, wie sie Raskolnikow schon lange nicht gesehen hatte. Das Tischtuch war sauber.
»Es wäre nicht schlecht, Nastasjuschka, wenn Praskowja Pawlowna an die zwei Flaschen Bier kommandieren wollte. Wir trinken sie schon aus.«
»Du bist mir gar zu fix!« brummte Nastasja und ging, den Befehl auszuführen.
Raskolnikow fuhr fort, mit gespannten, beinahe wahnsinnigen Blicken zu beobachten. Rasumichin setzte sich indessen zu ihm aufs Sofa herüber, umfaßte so plump wie ein Bär mit der linken Hand seinen Kopf, obwohl er sich selbst erheben konnte, und führte mit der Rechten einen Löffel Suppe an seinen Mund, nachdem er vorher ein paarmal darauf geblasen hatte, damit er sich nicht verbrühe. Die Suppe war aber nur lauwarm. Raskolnikow verschlang voll Gier erst einen Löffel, dann einen zweiten und einen dritten. Rasumichin hielt aber, nachdem er ihm einen Löffel gereicht hatte, plötzlich inne und erklärte, daß er sich wegen des ferneren mit Sossimow beraten müsse.
Nastasja brachte zwei Flaschen Bier.
»Willst du auch Tee?«
»Ja.«
»Bring mal schnell Tee her, Nastasja, denn Tee kann man ihm wohl auch ohne ein Fakultätsgutachten geben. Da ist aber auch das Bier!« Er setzte sich auf seinen Stuhl herüber, rückte die Suppe und das Fleisch zu sich heran und begann mit solchem Appetit zu essen, als hätte er seit drei Tagen nichts im Munde gehabt.
»Ich esse jetzt jeden Tag hier bei euch zu Mittag, Rodja«, murmelte er, soweit es ihm sein mit Fleisch vollgestopfter Mund erlaubte. »Und das ist alles ein Werk Paschenjkas, deiner lieben Wirtin, sie bezeugt mir ihre Achtung von ganzem Herzen. Ich bestehe natürlich nicht darauf, protestiere aber auch nicht. Da kommt aber schon Nastasja mit dem Tee! Wie fix die ist! Nastenjka, willst du Bier?«
»Zum Kuckuck!«
»Und Tee?«
»Tee – vielleicht.«
»Schenk ein. Wart, ich schenk dir selbst ein; setz dich an den Tisch.«
Er fing sofort zu wirtschaften an; er schenkte ein, schenkte dann auch noch eine zweite Tasse ein, ließ sein Essen stehen und setzte sich wieder aufs Sofa. Wie früher umschlang er mit der linken Hand den Kopf des Kranken, hob ihn und fing an, ihm den Tee mit dem Löffelchen einzugeben, wobei er wieder fortwährend und besonders eifrig auf den Löffel blies, als liege in diesem Prozeß des Blasens das wichtigste und heilsame Moment der Genesung. Raskolnikow schwieg und wehrte sich nicht, obwohl er sich stark genug fühlte, um ohne fremde Hilfe aufzustehen und auf dem Sofa zu sitzen, vielleicht auch herumzugehen, und nicht nur, seine Hände so weit zu gebrauchen, um einen Löffel oder eine Tasse festhalten zu können. Aber aus einer seltsamen, beinahe tierischen Schlauheit heraus, kam ihm der Gedanke, vorderhand seine Kräfte zu verheimlichen, sich auf die Lauer zu legen; sich wenn nötig sogar so zu stellen, als verstünde er nichts, indessen aber zuzuhören und auszukundschaften, was eigentlich vorging. Übrigens konnte er seinen Widerwillen nicht zurückhalten: nachdem er an die zehn Löffel Tee getrunken hatte, befreite er plötzlich den Kopf, stieß den Löffel trotzig von sich und ließ sich wieder auf das Kissen fallen. Unter seinem Kopf lagen jetzt wirklich Kissen, – richtige Daunenkissen mit sauberen Überzügen; das merkte er gleich und nahm es zur Kenntnis.
»Paschenjka soll uns heute noch Himbeersaft schicken, damit wir ihm einen Trank bereiten«, sagte Rasumichin. Er setzte sich wieder auf seinen Platz und machte sich an die Suppe und das Bier.
»Wo soll sie dir denn den Himbeersaft hernehmen?« fragte Nastasja, indem sie die Untertasse auf fünf gespreizten Fingern hielt und den Tee »durch den Zucker« schlürfte.
»Den Himbeersaft bekommt sie im Laden, mein Schatz. Siehst du, Rodja, als du noch bewußtlos warst, hat sich hier eine ganze Geschichte abgespielt. Als du in einer solchen verbrecherischen Weise von mir durchbranntest und mir deine Adresse nicht sagtest, packte mich solche Wut, daß ich beschloß, dich aufzusuchen und zu bestrafen. Am gleichen Tage machte ich mich ans Werk. Ich ging und ging und fragte und fragte. Deine jetzige Adresse hatte ich vergessen, ich hatte sie auch niemals gewußt. Und von deiner früheren Wohnung wußte ich nur, daß sie irgendwo an den Fünf Ecken im Hause Charlamow lag. Nun suchte und suchte ich dieses Charlamowsche Haus, und später zeigte es sich, daß es nicht von Charlamow, sondern von Buch war, – wie leicht kann man sich am Klange irren! Nun wurde ich böse. Ich wurde böse und ging am nächsten Tag auf gut Glück aufs polizeiliche Auskunftsbureau, und denk dir nur: in zwei Minuten hatten sie dich gefunden. Du bist dort eingetragen.«
»Eingetragen?!«
»Gewiß! Aber den General Kobeljow, den sie in meiner Gegenwart suchten, konnten sie unmöglich finden. Nun, davon könnte ich noch lange erzählen. Kaum war ich hier eingebrochen, als ich sofort alle deine Angelegenheiten kennen lernte; alles, Bruder, alles weiß ich jetzt; auch sie hat es gesehen: den Nikodim Fomitsch lernte ich kennen, auch den Ilja Petrowitsch zeigte man mir, den Hausknecht, den Herrn Samjotow, Alexander Grigorjewitsch, den Sekretär im hiesigen Polizeibureau und zuletzt Paschenjka – das war schon die Krone. Auch Nastasja weiß es ...«
»Hat sich bei ihr eingeschmeichelt«, murmelte Nastasja mit einem verschmitzten Lächeln.
»Tun Sie doch Zucker in Ihren Tee, Nastasja Nikiforojowna!«
»Hör auf, Hund!« rief plötzlich Nastasja schier berstend vor Lachen. »Ich heiße Petrowna und nicht Nikiforojowna«, fügte sie hinzu, als sie aufgehört hatte zu lachen.
»Das werden wir nach Gebühr schätzen. Also, Bruder, um es kurz zu sagen, – ich wollte hier zuerst einen elektrischen Strom loslassen, um alle Vorurteile in der hiesigen Gegend auf einmal auszurotten, aber Paschenjka hat gesiegt. Ich hatte gar nicht erwartet, Bruder, daß sie so ... einnehmend sei ... wie? Nun, was meinst du?«
Raskolnikow schwieg, obwohl er für keinen Augenblick seinen unruhigen Blick von ihm gewandt hatte und ihn auch jetzt noch starr ansah.
»Und zwar sehr einnehmend«, fuhr Rasumichin fort, ohne sich durch sein Schweigen aus der Fassung bringen zu lassen, als stimme er einer erhaltenen Antwort zu. »Und sogar in bester Ordnung, in jeder Beziehung.«
»Ist das ein Kerl!« rief wieder Nastasja, der dieses Gespräch eine unbeschreibliche Wonne zu bereiten schien.
»Schlimm ist es, Bruder, daß du die Sache nicht gleich von Anfang an richtig angepackt hast. Mit ihr hättest du ganz anders verfahren sollen. Sie hat ja sozusagen einen ganz unberechenbaren Charakter! Doch vom Charakter später ... Aber wie hast du es nur so weit bringen können, daß sie zum Beispiel wagte, dir kein Mittagessen zu schicken? Oder zum Beispiel das mit dem Wechsel? Bist du von Sinnen, daß du Wechsel unterschreibst! Oder zum Beispiel diese beabsichtigte Heirat, als ihre Tochter Natalja Jegorowna noch am Leben war ... Ich weiß alles! Übrigens sehe ich, daß es ein heikles Thema ist und daß ich ein Esel bin; entschuldige! Doch zum Kapitel Dummheit: wie glaubst du, Praskowja Pawlowna ist gar nicht so dumm, Bruder, wie man es auf den ersten Blick annimmt, wie?«
»Ja ...« sagte Raskolnikow durch die Zähne, auf die Seite blickend, doch einsehend, daß es für ihn vorteilhafter war, bei dem Thema zu bleiben.
»Nicht wahr?« rief Rasumichin, sichtlich erfreut, daß man ihm geantwortet hatte. »Aber sie ist auch nicht klug, nicht wahr? Ein vollkommen, vollkommen unberechenbarer Charakter! Ich bin zum Teil selbst verwirrt, ich versichere dir ... Ihre Vierzig hat sie sicher. Sie spricht von sechsunddreißig, und das ist ihr gutes Recht. Übrigens schwöre ich dir, daß ich sie mehr geistig, bloß metaphysisch beurteile; zwischen uns ist so ein Emblem entstanden, schwieriger als jede Algebra! Ich verstehe gar nichts! Das sind aber Dummheiten; doch als sie sah, daß du kein Student mehr bist, daß du keine Stunden und keinen Anzug mehr hast und daß sie dich nach dem Tode ihrer Tochter nicht mehr verwandtschaftlich zu behandeln braucht, bekam sie plötzlich Angst; und da du deinerseits dich in dein Schneckenhaus verkrochst und alles Frühere abbrachst, fiel es ihr ein, dich aus der Wohnung hinauszuwerfen. Schon lange hatte sie diese Absicht, aber der Wechsel tat ihr leid. Zudem hattest du ja selbst versichert, daß deine Mama bezahlen wird ...«
»Das sagte ich aus lauter Niedertracht ... Meine Mutter muß beinahe selbst betteln ... und ich log, damit sie mich in der Wohnung behält und ... verpflegt«, sagte Raskolnikow laut und deutlich.
»Ja, das war vernünftig von dir. Die Sache war aber die, daß sie auf einen Herrn Tschebarow stieß, einen Hofrat und Geschäftsmann. Paschenjka hätte ohne seinen Rat nichts unternommen, denn sie ist gar zu schamhaft; der Geschäftsmann ist aber gar nicht schamhaft und stellte darum natürlich sofort die Frage: ist Hoffnung vorhanden, für den Wechsel Geld zu bekommen? Die Antwort lautete: es ist wohl Hoffnung vorhanden, denn es gibt eine solche Mama, die von ihren hundertfünfundzwanzig Rubeln Pension ihren lieben Rodja retten wird, selbst wenn sie verhungern müßte; außerdem gibt es noch ein Schwesterchen, das fürs Brüderchen jedes Joch auf sich nehmen wird. Darauf stützte er sich ... Was zappelst du? Ich habe jetzt alle deine Geheimnisse erforscht, nicht umsonst hast du alles selbst der Paschenjka ausgeplaudert, als du noch auf verwandtschaftlichem Fuße mit ihr standst, ich aber sage dir das alles aus Liebe ... So ist es immer: der ehrliche und gefühlvolle Mensch erzählt offenherzig alle seine Geheimnisse, und der Geschäftsmann hört zu und verschlingt ihn zuletzt. So trat sie diesen Wechsel, angeblich gegen Bezahlung, diesem Tschebarow ab, und er klagte ihn in aller Form ein, genierte sich gar nicht. Als ich dies alles erfuhr, wollte ich ihm zur Beruhigung meines Gewissens auch einen Streich spielen, aber da entstand gerade zwischen mir und Paschenjka die Harmonie, und ich ließ diese ganze Affäre gleich im Keim unterdrücken, indem ich mich verbürgte, daß du zahlen wirst. Ich habe mich für dich verbürgt, Bruder, hörst du es? Man ließ den Tschebarow kommen und gab ihm zehn Rubel, nahm ihm das Papierchen ab, und nun habe ich die Ehre, es Ihnen vorzulegen, – man glaubt Ihnen jetzt aufs Wort, – nehmen Sie es in Empfang, ich habe es, wie es sich gehört, eingerissen.«
Rasumichin legte den Wechsel auf den Tisch; Raskolnikow sah ihn an und wandte sich, ohne ein Wort zu sagen, zur Wand. Das machte selbst auf Rasumichin einen unangenehmen Eindruck.
»Ich sehe, Bruder,« sagte er nach einer Minute, »daß ich wieder ein Dummkopf war. Ich wollte dich nur zerstreuen und mit dem Geplauder unterhalten, habe aber, wie es scheint, deine Galle in Wallung gebracht.«
»Warst du es, den ich im Fieber nicht erkennen konnte?« fragte Raskolnikow, ohne den Kopf zu wenden, nachdem auch er eine Weile geschwiegen hatte.
»Ja, mich, und Sie gerieten sogar aus diesem Anlasse in Wut, besonders, als ich einmal Samjotow herbrachte.«
»Samjotow? ... Den Sekretär? ... Wozu?« Raskolnikow wandte sich rasch um und bohrte seinen Blick in Rasumichin.
»Was hast du bloß ... Was bist du so aufgeregt? Er wollte dich kennen lernen ... er äußerte selbst den Wunsch, denn wir hatten viel über dich gesprochen ... Von wem hätte ich denn sonst so viel über dich erfahren können? Ein reizender Bursche ist er, Bruder, ein wundervoller Mensch ... in seiner Art, versteht sich. Jetzt sind wir Freunde und sehen uns beinahe jeden Tag. Ich bin ja in das gleiche Revier gezogen. Weißt du es noch nicht? Soeben bin ich umgezogen. Zweimal war ich mit ihm bei der Lawisa. Erinnerst du dich noch an die Lawisa Iwanowna?«
»Habe ich phantasiert?«
»Das will ich meinen! Sie waren ganz bewußtlos.«
»Worüber habe ich phantasiert?«
»Mein Gott! Worüber du phantasiert hast? Man weiß doch, worüber ein Mensch phantasiert ... Nun, Bruder, wir wollen jetzt keine Zeit verlieren, zur Sache.«
Er stand, vom Stuhle auf und griff nach seiner Mütze.
»Worüber habe ich phantasiert?«
»Wie er sich das in den Kopf gesetzt hat! Fürchtest du vielleicht, daß du ein Geheimnis ausgeplaudert hast? Beruhige dich: von der Gräfin hast du kein Wort gesagt. Aber von einer Bulldogge, und von Ohrringen, und von irgendwelchen Uhrketten, und von der Krestowskij-Insel, und von einem Hausknecht, und von Nikodim Fomitsch, und von Ilja Petrowitsch, dem Gehilfen des Revieraufsehers, wurde viel gesprochen. Außerdem haben Sie ein außerordentliches Interesse für Ihren eigenen Strumpf gezeigt, ein außerordentliches! Sie jammerten immer: Gebt mir den Strumpf her. Samjotow suchte die Strümpfe in allen Ecken und reichte Ihnen dieses Lumpenzeug mit seinen eigenen, in Parfüm gewaschenen, mit Ringen geschmückten Händchen. Dann erst beruhigten Sie sich und hielten dieses Lumpenzeug einen ganzen Tag und eine ganze Nacht so fest, daß man es Ihnen gar nicht entreißen konnte. Wahrscheinlich liegt es auch jetzt noch irgendwo unter deiner Decke. Außerdem batst du um Fransen für deine Hose, und zwar mit Tränen! Wir fragten dich immer, was das für Fransen seien. Aber man konnte nichts verstehen ... Also, zur Sache. Hier sind fünfunddreißig Rubel; ich nehme zehn davon mit und werde so in zwei Stunden Rechenschaft darüber abgeben. Inzwischen werde ich auch Sossimow benachrichtigen, obwohl er schon längst hätte hier sein sollen, denn es ist bald zwölf. Und Sie Nastenjka, schauen Sie bitte öfters in meiner Abwesenheit nach, für den Fall, daß er zu trinken oder sonst etwas verlangt ... Der Paschenjka werde ich gleich selbst alles Nötige sagen. Auf Wiedersehen!«
»Paschenjka nennt er sie! Ach, du schlaue Fratze!« rief ihm Nastasja nach; dann öffnete sie die Tür und begann zu horchen; doch sie hielt es nicht aus und lief auch selbst hinunter. Es interessierte sie doch zu sehr, was er mit der Wirtin wohl sprechen mochte; überhaupt schien sie von Rasumichin ganz bezaubert zu sein.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, als der Kranke die Decke von sich warf und wie wahnsinnig vom Lager sprang. Er hatte mit brennender, krampfhafter Ungeduld gewartet, daß sie schneller fortgingen, damit er sich sofort ans Werk machen könne. Doch was war das für ein Werk? – das hatte er jetzt wie zum Trotz vergessen.
»Herr! Sag mir nur das eine; wissen sie alles, oder wissen sie es noch nicht? Und wenn sie es schon wissen und sich nur so verstellen und mich necken, solange ich liege, dann aber plötzlich herkommen und sagen, daß alles schon längst bekannt sei und daß sie nur so ... Was soll ich jetzt anfangen? Nun hab ich's wie zum Trotz vergessen; plötzlich habe ich es vergessen, obwohl ich es eben noch wußte! ...«
Er stand mitten im Zimmer und blickte in qualvoller Ratlosigkeit um sich; er ging zur Tür, machte sie auf und horchte hinaus; dies war es aber nicht. Plötzlich stürzte er, als hätte er sich nun an alles erinnert, zur Ecke, wo unter der Tapete das Loch war, sah sich alles genau an, steckte die Hand ins Loch und suchte; das war es aber nicht. Dann ging er zum Ofen, machte die Tür auf und begann in der Asche zu wühlen; die Fetzen der Franse von der Hose und der zerrissenen Tasche lagen noch immer so da, wie er sie damals hineingeworfen hatte: also hat niemand nachgesehen! Jetzt fiel ihm der Strumpf ein, von dem Rasumichin eben erzählt hatte. Wirklich, da liegt er auf dem Sofa unter der Decke, ist aber so abgetragen und beschmutzt, daß Samjotow natürlich nichts hat merken können.
»Ach ja, Samjotow! ... Das Polizeibureau! ... Wozu ruft man mich aufs Polizeibureau? Wo ist die Vorladung? Ach ja, ich habe es verwechselt: man hat mich damals geladen! Auch damals hatte ich den Strumpf untersucht, aber jetzt ... jetzt war ich krank. Wozu war aber Samjotow hier? Warum hat ihn Rasumichin hergebracht? ...« stammelte er kraftlos, sich wieder auf das Sofa setzend. »Was ist denn das? Phantasiere ich noch immer, oder ist das die Wirklichkeit? Ich glaube, es ist die Wirklichkeit ... Ah, jetzt weiß ich es: Fliehen! So schnell als möglich fliehen, unbedingt, unbedingt fliehen! Aber ... wohin? Wo sind meine Kleider? Meine Stiefel sind nicht da! Sie haben sie weggeräumt! Versteckt! Ich verstehe! Aber den Mantel da haben sie übersehen! Da liegt auch das Geld auf dem Tisch, Gott sei Dank! Da ist auch der Wechsel ... Ich nehme das Geld und gehe fort, nehme mir eine andere Wohnung, sie werden mich nicht finden! ... Ja, aber das polizeiliche Auskunftsbureau? Sie finden mich! Rasumichin wird mich schon finden. Besser wäre es, ganz zu entfliehen ... weit weg ... nach Amerika, und ich spucke auf sie! Und auch den Wechsel nehme ich mit ... den kann ich dort brauchen. Was soll ich noch mitnehmen? Sie glauben, ich sei krank! Sie wissen gar nicht, daß ich gehen kann, ha, ha, ha! Ich habe es ihren Augen angesehen, daß sie alles wissen! Wenn ich nur die Treppe hinuntergehen könnte! Wenn sie aber dort Posten stehen haben, Polizisten! Was ist das, Tee? Ah, da ist ja auch noch Bier übriggeblieben, eine halbe Flasche, es ist kalt!«
Er ergriff die Flasche, in der noch ein ganzes Glas geblieben war, und trank es mit Genuß auf einen Zug aus, als wollte er das Feuer in seiner Brust löschen. Doch schon nach einer Minute stieg ihm das Bier zu Kopfe, und ein leichtes, sogar angenehmes Frösteln lief ihm über den Rücken. Er legte sich hin und zog die Decke über sich. Seine schon ohnehin kranken und zusammenhanglosen Gedanken gerieten immer mehr durcheinander, und bald bemächtigte sich seiner ein leichter und angenehmer Schlaf. Mit Wohlgefühl suchte er mit dem Kopfe eine recht bequeme Stelle auf dem Kissen, hüllte sich fester in die weiche wattierte Decke, die er jetzt statt des alten zerrissenen Mantels hatte, seufzte leise auf und fiel in einen tiefen, festen, heilsamen Schlaf.
Er erwachte, als er jemand eintreten hörte; er schlug die Augen auf und erblickte Rasumichin, der die Tür weit geöffnet hatte und auf der Schwelle stand, ohne sich entschließen zu können, ob er eintreten solle oder nicht. Raskolnikow setzte sich schnell auf und sah ihn an, als bemühte er sich, auf etwas zu kommen.
»Ach so, du schläfst nicht, da bin ich! Nastasja, schlepp mal den Pack herein!« rief Rasumichin hinunter. »Gleich bekommst du die Abrechnung ...«
»Wie spät ist es?« fragte Raskolnikow, unruhig um sich blickend.
»Du hast fein geschlafen, Bruder; es ist schon dunkel draußen, sechs wird es sein. Über sechs Stunden hast du geschlafen ...«
»Mein Gott! Was war bloß mit mir?! ...«
»Warum denn? Wohl bekomm's! Was hast du solche Eile? Willst du vielleicht zu einem Stelldichein? Die ganze Zeit gehört jetzt uns. Ich warte schon seit drei Stunden; zweimal war ich hier, und du hast immer geschlafen. Ich war auch zweimal bei Sossimow: er ist nicht zu Hause, nichts zu machen! Das tut aber nichts, er wird schon kommen! ... Auch in eigenen Angelegenheiten war ich fort. Heute bin ich doch umgezogen, ganz umgezogen, mit meinem Onkel. Ich habe jetzt einen Onkel bei mir ... Na ja, hol's der Teufel! Zur Sache ... Gib den Pack her, Nastenjka. Gleich werden wir ... Und wie fühlst du dich, Bruder?«
»Ich bin gesund; gar nicht krank ... Rasumichin, bist du schon lange hier?«
»Ich sage dir ja, daß ich seit drei Stunden warte.«
»Nein, früher?«
»Was früher?«
»Seit wann kommst du hierher?«
»Ich habe es dir doch vorhin erzählt; hast du es schon vergessen?«
Raskolnikow wurde nachdenklich. Was er soeben erlebt, sah er jetzt wie im Traume. Er konnte sich ohne fremde Hilfe nicht erinnern und sah Rasumichin fragend an.
»Hm!« sagte jener. »Du hast es vergessen. Mir kam es schon früher vor, daß du noch nicht ganz ... Jetzt nach dem Schlafe hast du dich erholt ... Wirklich, du siehst bedeutend besser aus. Das ist brav! Nun gut, zur Sache! Gleich wirst du dich an alles erinnern. Schau mal her, mein Lieber.«
Er begann den Pack aufzubinden, für den er sich sichtlich sehr interessierte.
»Das lag mir besonders am Herzen, Bruder. Denn man muß doch aus dir einen Menschen machen. Also fangen wir an, und zwar von oben. Siehst du diese Mütze?« sagte er, indem er aus dem Pack eine recht hübsche, zugleich aber auch sehr gewöhnliche und billige Mütze hervorholte. »Darf ich sie dir anprobieren?«
»Nachher, später«, sagte Raskolnikow, sich wie angeekelt wehrend.
»Nein, Bruder Rodja, wehre dich nicht, nachher wird es zu spät sein; ich werde auch die ganze Nacht nicht einschlafen, weil ich sie ohne Maß, aufs Geratewohl gekauft habe. Wie angegossen!« rief er feierlich, nachdem er ihm die Mütze anprobiert hatte. »Wie auf Maß! Die Kopfbedeckung, Bruder, ist der wichtigste Bestandteil der Kleidung, sozusagen eine Empfehlung. Mein Freund Tolstjakow muß jedes Mal seinen Deckel abnehmen, wenn er an einen öffentlichen Ort kommt, wo alle anderen in Hüten und Mützen stehen. Alle glauben, er täte es aus sklavischer Gesinnung, er tut es aber nur, weil er sich seines Vogelnestes schämt; er ist mal so schamhaft! Nun, Nastenjka, hier sehen Sie zwei Kopfbedeckungen; diesen Palmerston (er holte aus einer Ecke den zerbeulten runden Hut Raskolnikows, den er aus unbekanntem Grunde Palmerston nannte) und dieses Juweliererzeugnis; welche gefällt Ihnen besser? Taxiere mal, Rodja, was glaubst du, daß ich bezahlt habe? Nastasjuschka?« wandte er sich an sie, als er sah, daß Raskolnikow schwieg.
»Zwanzig Kopeken wirst du wohl bezahlt haben«, antwortete Nastasja.
»Zwanzig Kopeken – dumme Gans!« rief er gekränkt. »Heutzutage kauft man selbst dich nicht für zwanzig Kopeken. Achtzig Kopeken habe ich gegeben! Und das auch nur, weil sie getragen ist. Allerdings mit der Bedingung: wenn du diese abträgst, bekommst du im nächsten Jahre eine andere umsonst, bei Gott! Schreiten wir nun zu den Vereinigten Staaten von Amerika, wie man dieses Kleidungsstück bei uns im Gymnasium nannte. Das sage ich gleich: auf die Hosen bin ich stolz!« Und er breitete vor Raskolnikow eine graue Hose aus leichtem wollenen Sommerstoff aus. – »Kein Löchelchen, kein Fleckchen, dabei ist sie aber noch sehr anständig, wenn auch getragen; dazu eine ebensolche Weste von der gleichen Farbe, wie es die Mode verlangt. Und daß die Sachen getragen sind, ist, offen gestanden, besser: sie sind weicher und zarter ... Siehst du, Rodja, um in dieser Welt Karriere zu machen, genügt es, meiner Meinung nach, stets die Saison zu beobachten: wenn du im Januar keinen Spargel verlangst, so bleiben dir ein paar Rubel im Beutel zurück; so verhält es sich auch mit diesem Kauf. Jetzt ist die Sommersaison, und ich habe euch einen Sommerkauf gemacht, denn die Herbstsaison wird sowieso einen wärmeren Stoff verlangen, und so wird man es wegwerfen müssen ... um so mehr, als dies alles bis dahin ganz von selbst zerfallen wird, und wenn nicht alle erhöhter Prunksucht, so aus innerer Zerrüttung. Nun taxiere es einmal! Wieviel glaubst du? Zwei Rubel fünfundzwanzig Kopeken! Und merk es dir, wieder mit derselben Bedingung: wenn du diese Hose abgetragen hast, bekommst du im nächsten Jahre eine neue umsonst! Im Laden Fedjajews werden die Sachen nur so verkauft: wenn du einmal bezahlt hast, so gilt das fürs ganze Leben, denn ein zweites Mal gehst du selbst nicht hin. Nun, jetzt zu den Stiefeln, – wie gefallen sie dir? Man sieht wohl, daß sie getragen sind, aber an die zwei Monate werden sie noch halten, denn es ist ausländische Arbeit und ausländische Ware: der Sekretär der englischen Botschaft hat sie in der vorigen Woche auf dem Trödelmarkte verkauft; bloß sechs Tage hat er sie getragen, brauchte aber dringend Geld. Der Preis ist ein Rubel fünfzig Kopeken. Ein guter Kauf?«
»Vielleicht passen sie ihm gar nicht!« bemerkte Nastasja.
»Sie passen nicht! Und was ist das?« Er zog aus der Tasche den alten, eingeschrumpften, ganz mit trockenem Schmutz bedeckten durchlöcherten Stiefel Raskolnikows. »Ich bin mit einem Muster hingegangen, und man hat mir nach diesem Ungeheuer das richtige Maß rekonstruiert. Diese Angelegenheit habe ich mit Liebe behandelt. Und was die Wäsche betrifft, so habe ich mit der Wirtin gesprochen. Hier sind erstens drei leinene Hemden, doch mit modernem Einsatz ... Also: achtzig Kopeken die Mütze, zwei Rubel fünfundzwanzig die übrige Kleidung, macht drei Rubel fünf Kopeken; ein Rubel fünfzig die Stiefel – weil sie gar so gut sind, – macht vier Rubel fünfundfünfzig Kopeken und fünf Rubel die ganze Wäsche – wir haben sie engros gekauft, – alles in allem neun Rubel fünfundfünfzig Kopeken. Den Rest von fünfundvierzig Kopeken in kupfernen Fünfkopekenstücken überreiche ich Ihnen hiermit. So ist nun, Rodja, deine ganze Kleidung instand gesetzt, denn dein Mantel kann, wie ich glaube, nicht nur weiterdienen, sondern sieht sogar noch besonders vornehm aus: ja, wenn man bei Scharmer arbeiten läßt! Was die Strümpfe und das übrige betrifft, so überlasse ich es dir selbst; an Geld sind uns noch fünfundzwanzig Rubel geblieben, aber wegen Paschenjka und der Miete kannst du unbesorgt sein; ich sagte dir ja: dein Kredit ist unbeschränkt. Jetzt aber erlaube, daß ich dir die Wäsche wechsele, Bruder, denn deine Krankheit sitzt jetzt vielleicht nur noch im Hemde ...«
»Laß ab, ich will nicht!« wehrte sich Raskolnikow, der mit Widerwillen den geschraubt-scherzhaften Bericht Rasumichins über den Einkauf der Kleider gehört hatte ...
»Nein, Bruder, das geht nicht: warum habe ich mir die Sohlen abgelaufen!« drang. Rasumichin in ihn. – »Nastasjuschka, schämen Sie sich nicht, sondern helfen Sie, ja so!«
Trotz des Widerstandes Raskolnikows wechselte er ihm die Wäsche. Jener fiel auf die Kissen und sprach an die zwei Minuten kein Wort.
»Jetzt lassen Sie mich lange nicht in Ruhe!« dachte er.
»Von welchem Gelde ist das alles gekauft?« fragte er endlich, auf die Wand blickend.
»Von welchem Geld? Hat man so was gehört! Doch von deinem eigenen. Vorhin war der Kontordiener hier, von Wachruschin, deine Mama hat es dir geschickt, oder hast du auch das vergessen?«
»Jetzt erinnere ich mich ...«, sagte Raskolnikow nach langem, mürrischem Schweigen. Rasumichin sah ihn besorgt mit gerunzelter Stirn an.
Die Tür ging auf, und herein trat ein großer, kräftiger Mann, der Raskolnikow schon irgendwie bekannt vorkam.
»Sossinow! Endlich!« rief Rasumichin erfreut.
Fußnoten
1 Koseform von Praskowja (so heißt die Wirtin).
D. Übers.
Sossimow war ein großer, dicker Mann mit einem gedunsenen, farblos-blassen, glattrasierten Gesicht und hellblonden schlichten Haaren, mit einer Brille auf der Nase und einem großen goldenen Ring an einem vom Fett geschwollenen Finger. Er war an die siebenundzwanzig. Er trug einen weiten, eleganten, leichten Mantel und eine helle Sommerhose, und alles an ihm war weit, elegant und nagelneu; die Wäsche war tadellos und die Uhrkette massiv. Seine Gebärden waren langsam, beinahe träge, zugleich aber von einer genau berechneten Ungezwungenheit; Prätensionen, die er übrigens mit Mühe zu verbergen suchte, kamen jeden Augenblick zum Vorschein. Alle, die ihn kannten, hielten ihn für einen schwer zu behandelnden Menschen, sagten aber, daß er seine Sache verstehe.
»Ich bin zweimal bei dir gewesen, Bruder ... Siehst du, er ist zu sich gekommen!« rief Rasumichin.
»Ich sehe es, ich sehe es, nun, wie fühlen wir uns jetzt, he?« wandte sich Sossimow an Raskolnikow, indem er ihn aufmerksam betrachtete und sich zu ihm ans Fußende des Sofas setzte, wo er es sich sofort nach Möglichkeit bequem machte.
»Er fängt immer Grillen«, fuhr Rasumichin fort. »Als wir ihm eben die Wäsche wechselten, weinte er beinahe.«
»Es ist begreiflich; die Wäsche hätte man ihm auch später wechseln können, wenn er es verlangte. Der Puls ist ausgezeichnet. Der Kopf tut wohl immer noch etwas weh, wie?«
»Ich bin gesund, ich bin vollkommen gesund!« sagte Raskolnikow hartnäckig und gereizt, indem er sich plötzlich vom Sofa erhob und mit den Augen blitzte; gleich darauf fiel er wieder auf das Kissen zurück und wandte sich zur Wand. Sossimow beobachtete ihn aufmerksam.
»Sehr gut ... alles in Ordnung«, versetzte er träge. »Hat er was gegessen?«
Man berichtete es ihm und fragte, was man ihm geben dürfe.
»Alles kann man ihm geben ... Suppe, Tee ... Pilze und Gurken natürlich nicht; auch kein Fleisch und ... was ist da noch viel zu reden! ...« Er wechselte mit Rasumichin einen Blick. »Die Arznei fällt weg, und alles fällt weg; morgen schau ich nach ... Eigentlich hätte ich auch heute ... na, ja ...«
»Morgen abend führe ich ihn spazieren!« beschloß Rasumichin, »In den Jussupow-Garten, und dann gehen wir ins ›Palais de Cristal‹.«
»Morgen würde ich ihn noch in Ruhe lassen, doch übrigens ein wenig ... na, wir werden schon sehen.«
»So ärgerlich: gerade heute feiere ich meine Übersiedlung, es sind nur zwei Schritte von hier; wenn er doch auch zu mir kommen könnte! Er könnte wenigstens auf dem Sofa zwischen uns liegen! Und du, wirst du kommen?« wandte sich Rasumichin plötzlich an Sossimow. »Vergiß es nicht, du hast versprochen.«
»Vielleicht, aber wahrscheinlich später. Was hast du hergerichtet?«
»Nichts besonderes: Tee, Schnaps, Hering. Eine Pastete wird es auch geben; es werden nur meine Freunde dabei sein.«
»Wer denn?«
»Lauter Hiesige und lauter Neue, – ausgenommen den alten Onkel, aber auch der ist neu: ist erst gestern nach Petersburg in irgendwelchen Angelegenheiten gekommen; wir sehen uns einmal in fünf Jahren.«
»Was ist er?«
»Er hat sein ganzes Leben als Postmeister in einer Kreisstadt vegetiert ... bekommt eine kleine Pension, ist fünfundsechzig Jahre alt, was soll ich noch viel erzählen ... Übrigens habe ich ihn gern. Auch Porfirij Ssemjonowitsch wird kommen, der Untersuchungsrichter dieses Bezirks ... hat die Hochschule für Rechtswissenschaft absolviert. Du kennst ihn ja ...«
»Ist er auch ein Verwandter von dir?«
»Ein ganz entfernter; warum rümpfst du die Nase? Weil ihr euch einmal gezankt habt, so wirst du vielleicht nicht kommen?«
»Ich pfeife auf ihn ...«
»Das ist auch das beste. Außerdem kommen Studenten, ein Lehrer, ein Beamter, ein Musiker, ein Offizier, Samjotow ...«
»Sag mir bitte, was kann es zwischen dir oder dem da«, Sossimow wies mit einer Kopfbewegung auf Raskolnikow, »und einem Samjotow Gemeinsames geben?«
»Ach, diese Überempfindlichen! Diese Prinzipien! ... du sitzt auf deinen Prinzipien wie auf Sprungfedern und wagst gar nicht, dich nach eigenem Willen zu rühren. Ich frage nur, ob der Mensch gut ist, – das ist mein Prinzip, und ich will nichts anderes hören. Samjotow ist ein Prachtmensch.«
»Und schert sein Schäfchen.«
»Ja, und schert sein Schäfchen, doch ich pfeife drauf: Was macht's, daß er sein Schäfchen schert?!« rief plötzlich Rasumichin unnatürlich gereizt. »Habe ich ihn dir deswegen gelobt, weil er sein Schäfchen schert? Ich habe nur gesagt, daß er in seiner Art gut ist! Wenn man einen jeden in jeder Beziehung genau betrachtet, – bleiben dann noch viele gute Menschen übrig? Ich bin überzeugt, daß man dann für mich mit meinem ganzen Gekröse höchstens eine gebackene Zwiebel geben wird, und das auch nur, wenn man dich als Zugabe kriegt! ...«
»Das ist zu wenig; ich gebe für dich auch zwei Zwiebeln ...«
»Aber ich für dich nur eine! Laß deine Witze! Samjotow ist noch ein grüner Junge, ich werde ihm noch oft die Haare raufen, denn man muß ihn zu gewinnen suchen und nicht abstoßen. Wenn man einen Menschen abstößt, so macht man ihn nicht besser, am wenigsten so einen grünen Jungen. Mit einem grünen Jungen muß man doppelt so vorsichtig sein. Ihr fortschrittlichen Schwachköpfe versteht gar nichts! Ihr achtet den Menschen nicht und beleidigt euch selbst ... und wenn du es durchaus wissen willst, so arbeiten wir jetzt an einer gemeinsamen Sache.«
»Das möchte ich gerne wissen.«
»Es ist immer noch die Sache mit dem Maler, das heißt, mit dem Anstreicher ... Wir werden ihn schon freikriegen! Übrigens ist er jetzt außer Gefahr. Die Sache ist nun ganz klar! Wir wollen bloß etwas nachschüren.«
»Was ist das für ein Anstreicher?«
»Wie, habe ich es denn noch nicht erzählt? Wirklich nicht? Ja, ich habe dir bloß den Anfang erzählt ... das von der Ermordung der alten Pfandleiherin, der Beamtenwitwe ... nun ist jetzt auch der Anstreicher verwickelt ...«
»Von diesem Morde habe ich schon früher gehört und interessiere mich sehr für diesen Fall ... teilweise ... aus einem gewissen Grunde ... habe auch in den Zeitungen darüber gelesen! Und nun ...«
»Auch die Lisaweta hat man ermordet!« platzte plötzlich Nastasja heraus, sich an Raskolnikow wendend.
Sie war die ganze Zeit über im Zimmer geblieben, in die Ecke neben der Tür gelehnt, und hatte zugehört.
»Lisaweta?« murmelte Raskolnikow kaum hörbar.
»Lisaweta, die Händlerin, kennst du sie nicht? Sie kam oft in die Wohnung unten. Hat dir auch mal ein Hemd ausgebessert.«
Raskolnikow wandte sich zur Wand, suchte sich auf der schmutzigen gelben Tapete mit den weißen Blümchen eine plumpe weiße Blume mit braunen Streifchen aus und begann sie zu studieren: wieviel Blätter sie habe, wie die Blätter gezackt und wieviel Streifchen da seien? Er fühlte, daß ihm die Arme und Beine erstarrt waren, als wären sie gelähmt, aber er versuchte nicht mal, sich zu rühren, und blickte hartnäckig auf die Blume.
»Also was ist mit dem Anstreicher?« unterbrach Sossimow mit einem eigentümlichen Mißvergnügen Nastasjas Geschwätz.
Jene seufzte und verstummte.
»Auch er ist unter die Mörder gekommen!« fuhr Rasumichin mit großem Feuer fort.
»Hat man irgendwelche Beweise?«
»Den Teufel auch, Beweise! Übrigens stützt man sich auf einen Beweis, doch der Beweis ist gar kein Beweis, und das soll jetzt nachgewiesen werden! Es ist genau so, wie man zuerst diese, wie heißen sie noch ... Koch und Pestrjakow verhaftet und verdächtigt hatte. Ekelhaft! Wie dumm wird das alles gemacht, selbst einen Unbeteiligten widert es an! Pestrjakow wird vielleicht heute auch zu mir kommen ... Rodja, du kennst übrigens die ganze Geschichte, sie passierte noch vor deiner Erkrankung, gerade einen Tag, bevor du im Polizeibureau ohnmächtig wurdest, als man dort darüber redete ...«
Sossimow blickte Raskolnikow neugierig an; jener rührte sich nicht.
»Weißt du was, Rasumichin? Wenn ich dich anschaue, muß ich staunen: wie du dich in alles hineinmischst«, bemerkte Sossimow.
»Mag sein, aber wir werden ihn doch freibekommen!« rief Rasumichin aus und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Weißt du, was mich daran am meisten ärgert? Nicht das, daß sie lügen; das Lügen kann man immer entschuldigen; das Lügen ist sogar sympathisch, denn es führt zur Wahrheit. Nein, ärgerlich ist, daß sie lügen und ihr eigenes Lügen vergöttern. Ich achte den Porfirij, aber ... Was hat sie zum Beispiel gleich am Anfang so konfus gemacht? Die Tür war verschlossen, als sie aber mit dem Hausknecht kamen, war sie offen; daraus folgt, daß Koch und Pestrjakow den Mord begangen haben. Das ist ihre ganze Logik.«
»Ereifere dich nicht so; man hat sie einfach festgenommen; es geht doch nicht anders ... Übrigens bin ich mit diesem Koch schon mal zusammengekommen; wie es sich herausstellte, pflegte er von der Alten die verfallenen Pfänder zu kaufen! Wie gefällt dir das?«
»Ja, er scheint ein Gauner zu sein! Er kauft auch Wechsel auf. So ein Industrieritter. Hol ihn der Teufel! Weißt du, worüber ich mich ärgere? Über ihre alte, banale, verschimmelte Routine ... Und doch kann man an diesem einen Fall einen ganz neuen Weg entdecken. Man kann auf Grund der psychologischen Daten allein zeigen, wie man die richtige Spur finden kann. ›Wir haben Tatsachen!‹ sagen sie. Die Tatsachen sind aber noch nicht alles; mindestens die Hälfte der Sache besteht darin, wie man mit diesen Tatsachen umzugehen versteht!«
»Nun, und verstehst du mit Tatsachen umzugehen?«
»Ja, man kann doch nicht schweigen, wenn man fühlt, ganz deutlich fühlt, daß man helfen könnte, wenn ... Ach, ja! Kennst du die Sache mit allen Einzelheiten?«
»Ich warte immer, daß du mir vom Anstreicher erzählst.«
»Ja, richtig. Hör also die Geschichte. Genau am dritten Tag nach dem Morde, am Morgen, als sie sich dort mit dem Koch und Pestrjakow abgaben – obwohl diese jeden ihrer Schritte nachgewiesen hatten, die Augenscheinlichkeit schreit zum Himmel! – erfährt man plötzlich eine ganz unerwartete Tatsache. Ein gewisser Bauer Duschkin, Besitzer einer Schenke im Hause gegenüber, kommt ins Polizeibureau, bringt ein Etui mit goldenen Ohrringen und erzählt einen ganzen Roman: ›Da kam zu mir gestern abend, so bald nach acht Uhr‹ – er gibt also Tag und Stunde an! merk sie dir! – ›ein Anstreicher, der auch schon früher untertags bei mir eingekehrt war, namens Mikolai und brachte mir diese Schachtel mit den goldenen Ohrringen und Steinen und bat mich, ihm zwei Rubel darauf zu leihen; und auf meine Frage, wo er es hergenommen hatte, erklärte er, er hätte es auf dem Trottoir gefunden. Mehr habe ich ihn darüber nicht ausgefragt‹ – das sagt dieser Duschkin! – ›ich gab ihm eine Banknote‹ – das heißt einen Rubel – ›denn ich sagte mir, wenn ich's nicht nehme, so versetzt er es bei wem anders, jedenfalls vertrinkt er es; soll die Sache besser bei mir liegen: je weiter man ein Ding versteckt, um so leichter kriegt man's wieder; wenn aber was geschieht oder Gerüchte aufkommen, so bring ich's zur Polizei.‹ Das war natürlich nur so ein Großmuttermärchen, er lügt wie ein Pferd; diesen Duschkin kenne ich ja: er ist selbst Pfandleiher und Hehler und hat diesen Gegenstand, der seine dreißig Rubel wert ist, dem Mikolai nicht dazu abgeschwindelt, um ihn an die Polizei abzuliefern. Er hat einfach Angst bekommen. Hol ihn der Teufel, hör weiter. Dieser Duschkin fährt also fort: ›Jenen Bauer Mikolai Dementjew kenne ich aber von Kind auf, er stammt aus dem gleichen Gouvernement und aus dem gleichen Saraisker Kreise, denn wir sind beide aus dem Rjasanschen. Mikolai ist zwar kein Säufer, trinkt aber ab und zu, und es war mir bekannt, daß er in diesem selben Hause mit dem Mitrej Anstreicherarbeiten machte, und Mitrej ist aus der gleichen Gegend wie er. Und als er die Banknote bekam, ließ er sie sich sofort wechseln, trank auf einmal zwei Gläschen, nahm den Rest und ging; den Mitrej habe ich aber damals mit ihm nicht gesehen. Und am nächsten Tage hörte ich, daß man die Aljona Iwanowna und ihre Schwester Lisaweta Iwanowna mit einer Axt erschlagen hat; ich habe sie gekannt, und da kamen mir Zweifel wegen der Ohrringe, denn es war mir bekannt, daß die Selige Geld gegen Pfänder auslieh. Ich ging zu ihnen ins Haus und fing an, vorsichtig auszuforschen; vor allen Dingen fragte ich, ob Mikolai da sei. Mitrej sagte mir, daß Mikolai zu bummeln angefangen habe; er sei bei Tagesanbruch betrunken heimgekommen, an die zehn Minuten zu Hause geblieben und dann wieder fortgegangen; Mitrej hätte ihn nicht mehr gesehen und die Arbeit allein fertiggemacht. Sie arbeiteten aber im ersten Stock an der gleichen Treppe, an der die Ermordeten wohnten. Nachdem ich dieses alles gehört hatte, sagte ich keinem Menschen etwas davon‹ – sagt Duschkin. ›Ich habe aber alles, was ich nur konnte, über den Mord erfahren und bin dann mit dem gleichen Zweifel heimgegangen. Und heute früh, um acht Uhr,‹ das heißt also auf den dritten Tag, verstehst du das? – ›kommt zu mir Mikolai; er ist nicht ganz nüchtern, doch auch nicht sehr betrunken, und versteht gut, was man zu ihm spricht. Er setzt sich auf eine Bank und schweigt. Außer ihm war aber damals in der Schenke ein einziger fremder Mann, und ein zweiter Mann, den ich kannte, schlief auf der Bank, und zwei von meinen Jungen waren dabei. – »Hast du den Mitrej gesehen?« frage ich ihn. »Nein,« sagt er, »ich habe ihn nicht gesehen.« »Warst du auch nicht hier?« – »Nein,« sagt er, »seit vorgestern war ich nicht mehr hier.« – »Und wo hast du heute übernachtet?« – »Auf den Pjeski,« sagt er, »bei Bekannten aus Kolomna.« – »Und wo hast du«, frage ich, »die Ohrringe hergenommen?« – »Auf dem Trottoir habe ich sie gefunden.« Dies sagt er so, daß ich ihm nicht recht glauben kann, auch sieht er mich nicht an. »Hast du gehört,« sage ich, »daß an jenem selben Abend und zur selben Stunde dies und dies geschehen ist?« – »Nein,« sagt er, »ich habs nicht gehört«, und er hört mit weit aufgerissenen Augen zu und ist plötzlich weiß wie Kreide. Während ich es ihm erzähle, sehe ich, wie er nach der Mütze greift. Da wollte ich ihn aufhalten. »Wart, Mikolai,« sage ich ihm, »trinkst du denn nichts?« Und ich gab dem Jungen einen Wink, daß er die Tür schließt, aber wie ich hinter dem Schanktische herauskomme, springt er auf und rennt auf die Straße und dann in die Quergasse und ist weg. Nun gab ich meinen Zweifel auf, denn es ist sicher sein Werk‹ ...«
»Das will ich meinen! ...« sagte Sossimow.
»Wart'! Hör das Ende! Natürlich machte man sich sofort auf die Suche nach dem Mikolai; den Duschkin nahm man fest und hielt eine Haussuchung bei ihm ab; auch den Mitrej verhaftete man; die Leute aus Kolomna nahm man ins Gebet. Da bringt man vorgestern plötzlich den Mikolai; man hat ihn in einer Herberge an der Stadtgrenze aufgegriffen. Er war hingekommen, hatte sich sein silbernes Kreuz vom Halse genommen und für das Kreuz ein Glas Schnaps verlangt. Man gab es ihm. Etwas später ging die Frau in den Kuhstall und sah durch einen Spalt: im Schuppen neben dem Kuhstall hat er seinen Gürtel an einen Balken gebunden und eine Schlinge gemacht; er steht auf einem Klotz und will sich die Schlinge um den Hals legen; die Frau erhob ein Geschrei, und die Leute liefen zusammen. ›So einer bist du also!‹ – ›Führt mich‹, sagt er, ›auf das und das Polizeirevier, ich werde alles bekennen.‹ Nun schaffte man ihn mit den gebührenden Ehren auf das betreffende Polizeirevier, das heißt hierher. Dies und jenes, wie alt – ›zweiundzwanzig‹, und so weiter. Frage: ›Als du mit Mitrej im Hause gearbeitet hast, hast du da nicht um die und die Stunde jemand auf der Treppe gesehen?‹ Antwort: ›Gewiß, es sind verschiedene Menschen vorbeigegangen, aber wir merken uns so was nicht.‹ – ›Habt ihr nicht einen Lärm oder dergleichen gehört?‹ – ›Nein, wir haben nichts Besonderes gehört.‹ – ›Nun, und war es dir bekannt, Mikolai, daß man am selben Tage die und die Witwe um die und die Stunde samt ihrer Schwester ermordet und ausgeplündert hat?‹ – ›Ich habe nichts davon gewußt, hab es erst von Afanassij Pawlowitsch am dritten Tag in der Schenke gehört.‹ – ›Und wo hast du die Ohrringe her?‹ – ›Auf dem Trottoir gefunden.‹ – ›Warum bist du nicht am anderen Tage mit Mitrej zur Arbeit gekommen?‹ – ›Weil ich gebummelt habe.‹ – ›Wo hast du gebummelt?‹ – ›Da und da.‹ – ›Warum bist du von Duschkin weggelaufen?‹ – ›Weil ich sehr erschrocken war.‹ – ›Warum warst du erschrocken?‹ – ›Daß man mich einsperren wird.‹ – ›Wie konntest du das fürchten, wo du dich vollkommen unschuldig fühltest?‹
Du magst mir glauben oder nicht, Sossimow, diese Frage wurde tatsächlich gestellt, und zwar wörtlich in diesen Ausdrücken: ich weiß es positiv, man hat es mir genau berichtet! Wie gefällt dir das? Wie gefällt dir das?«
»Hm, Beweise sind also doch vorhanden.«
»Ich spreche jetzt nicht von Beweisen, sondern von dieser Frage, und wie sie die Sache auffassen! Aber zum Teufel damit! ... Sie haben ihn also gepreßt und gepreßt, bis er alles gestand: ›Nicht auf dem Trottoir habe ich es gefunden, sondern in der Wohnung, die ich mit Mitrej anstrich.‹ – ›Auf welche Weise?‹ – ›Auf die Weise, daß wir beide, ich und Mitrej, den ganzen Tag bis acht Uhr gearbeitet hatten und schon weggehen wollten; da nahm Mitrej einen Pinsel mit Farbe und fuhr mir damit in die Visage; er fuhr mir in die Visage und lief davon, und ich ihm nach. So laufe ich ihm nach und schreie dabei, was ich schreien kann; und im Torweg rannte ich gegen den Hausknecht und einige Herrschaften; wieviel Herrschaften es waren, das weiß ich nicht mehr, und der Hausknecht hat deswegen geschimpft, und auch ein anderer Hausknecht hat geschimpft, und das Weib vom Hausknecht kam heraus und hat auch geschimpft, und auch ein Herr, der mit einer Dame durch das Tor ging, hat geschimpft, weil ich und Mitrej den Weg versperrten: ich hatte den Mitrej bei den Haaren gepackt, zu Boden geworfen und zu prügeln begonnen, und auch Mitrej hatte mich, unter mir liegend, bei den Haaren gepackt und auch mit den Fäusten gepufft; wir machten das aber nicht aus Feindschaft, sondern in aller Freundschaft, im Spiel. Mitrej machte sich dann frei und lief auf die Straße, und ich ihm nach. Ich holte ihn aber nicht ein und kam allein in die Wohnung zurück, denn es war da noch nicht aufgeräumt. Wie ich aufräumte und auf Mitrej wartete, trat ich an der Vorzimmertür, an der Wand in der Ecke auf die Schachtel. Ich sehe, da liegt sie in Papier eingewickelt. Ich wickelte sie aus dem Papier und sah so kleine Häkchen; die Häkchen hakte ich auf und sah in der Schachtel die Ohrringe liegen ...‹«
»Hinter der Tür? Hinter der Tür hat sie gelegen? Hinter der Tür?« rief plötzlich Raskolnikow, Rasumichin mit trüben, erschrockenen Augen ansehend; er erhob sich langsam vom Sofa, indem er sich mit der Hand stützte.
»Ja ... warum? Was hast du? Was bist du so aufgeregt?« Auch Rasumichin erhob sich von seinem Platz.
»Nichts!« sagte Raskolnikow kaum hörbar, wieder auf das Kissen sinkend und sich zur Wand wendend. Alle schwiegen eine Weile.
»Er war wohl eingeschlafen und hat aus dem Schlafe gesprochen«, sagte endlich Rasumichin mit einem fragenden Blick auf Sossimow; jener schüttelte aber leise den Kopf.
»Nun, fahr fort,« sagte Sossimow, »was kam weiter?«
»Was weiter kam? Kaum hatte er die Ohrringe erblickt, als er sofort die Wohnung und den Mitrej vergaß, seine Mütze nahm und zu Duschkin lief; von ihm bekam er bekanntlich einen Rubel und log ihm vor, daß er die Ohrringe auf dem Trottoir gefunden habe. Und gleich darauf fing er zu bummeln an. Was aber den Mord betrifft, so bestätigt er, was er schon einmal gesagt hat: ›Ich weiß von nichts, hab es erst am dritten Tage erfahren.‹ – ›Warum hast du dich aber bisher nicht sehen lassen?‹ – ›Vor Angst.‹ – ›Und warum hast du dich erhängen wollen?‹ – ›Ich hatte so einen Gedanken.‹ – ›Was für einen Gedanken?‹ – ›Daß man mich einsperrt.‹ Das ist die ganze Geschichte. Nun, wie denkst du, was für Schlüsse haben sie daraus gezogen?«
»Was ist da viel zu denken, eine Spur ist doch immerhin vorhanden, eine Tatsache. Sollte man etwa deinen Anstreicher laufen lassen?«
»Sie haben ihn aber einfach zum Mörder gemacht! Sie haben gar keine Zweifel ...«
»Du übertreibst, du bist zu hitzig. Nun, und die Ohrringe? Gib doch zu, daß, wenn die Ohrringe am gleichen Tage und zur selben Stunde aus der Truhe der Alten in Mikolais Hände geraten sind, – so gib doch zu, daß sie auf irgendeine Weise zu ihm geraten sein müssen! Das ist doch bei einer solchen Untersuchung gar nicht unwichtig.«
»Wie sie geraten sind! Wie sie geraten sind!« schrie Rasumichin. »Siehst du denn nicht, der du als Arzt vor allen Dingen verpflichtet bist, den Menschen zu studieren, und mehr als jeder andere die Gelegenheit hast, die menschliche Natur zu erfassen, siehst du denn aus allen diesen Daten nicht, was für eine Natur dieser Mikolai ist? Siehst du denn nicht gleich auf den ersten Blick, daß alles, was er bei den Verhören ausgesagt hat, die heiligste Wahrheit ist? Die Ohrringe sind in seine Hände genau so geraten, wie er es ausgesagt hat: er ist auf die Schachtel getreten und hat sie aufgehoben!«
»Die heiligste Wahrheit? Er hat aber doch selbst gestanden, daß er das erste Mal gelogen hat!«
»Höre, was ich sage, höre aufmerksam zu: der Hausknecht, und Koch, und Pestrjakow, und der zweite Hausknecht, und die Frau des ersten Hausknechts, und die Kleinbürgerin, die um jene Zeit in der Hausmeisterwohnung saß, und der Hofrat Krjukow, der im selben Augenblick aus einer Droschke stieg und mit einer Dame am Arm in den Torweg trat, sie alle, das heißt acht oder neun Zeugen, sagen übereinstimmend aus, daß Mikolai den Dmitrij zu Boden gedrückt hatte, auf ihm lag und ihn mit den Fäusten bearbeitete und daß jener ihn an den Haaren gepackt hatte und mit den Fäusten schlug. Sie liegen beide quer im Wege und versperren die Passage; man schimpft auf sie deswegen von allen Seiten, sie aber ›liegen wie kleine Kinder‹ (buchstäblicher Ausdruck der Zeugen) aufeinander, kreischen, balgen sich und lachen, lachen beide um die Wette, mit den komischsten Fratzen, und dann laufen beide wie die Kinder auf die Straße, und einer will den anderen fangen. Hast du es gehört? Nun beachte folgendes: die Leichen oben sind noch warm, du hörst? – sie waren noch warm, als man sie fand! Wenn sie beide, oder Mikolai allein, die Frauen ermordet und dabei die Kästen erbrochen haben, oder nur irgendwie am Verbrechen beteiligt waren, so erlaube mir, nur diese eine Frage zu stellen: wie reimt sich ein solcher Seelenzustand, das heißt das Kreischen, Lachen, die kindliche Balgerei im Torweg, mit den Axten, Blut, mit der verbrecherischen List und Vorsicht und mit dem Raube zusammen? Sie haben erst eben, also vor fünf oder höchstens zehn Minuten, den Mord begangen – das folgt daraus, daß die Leichen noch warm waren –, und plötzlich lassen sie die Leichen in der offenen Wohnung liegen, obwohl sie wissen, daß eben Menschen hinaufgegangen sind, lassen auch die Beute im Stich und wälzen sich wie kleine Kinder im Torweg, lachen und ziehen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, was von zehn Zeugen übereinstimmend bestätigt wird!«
»Das ist allerdings sonderbar! Natürlich ist dies unmöglich, aber ...«
»Nein, Bruder, kein aber; doch wenn die Ohrringe, die am gleichen Tage und zur selben Stunde in Mikolais Hände geraten sind, tatsächlich einen wichtigen Beweis gegen ihn – welcher jedoch durch seine Aussagen sehr erschüttert wird – also einen strittigen Beweis darstellen, so muß man doch auch die entlastenden Tatsachen mit in Betracht ziehen, um so mehr, als diese Tatsachen unwiderlegbar sind. Was hältst du aber von unserer Jurisprudenz: werden sie eine solche Tatsache, die einzig auf der psychologischen Unmöglichkeit, einzig auf einer seelischen Stimmung begründet ist, als eine unwiderlegbare Tatsache, die sämtliche belastenden und gegenständlichen Tatsachen, welcher Art sie auch seien, vollkommen zerstört, gelten lassen und sind sie dessen überhaupt fähig? Nein, sie werden es für nichts in der Welt so auffassen, weil sie einmal das Kästchen gefunden haben und weil der Mann sich hat erhängen wollen, ›was nicht der Fall wäre, wenn er sich nicht schuldig fühlte!‹ Das ist die Kardinalfrage, deswegen rege ich mich so auf! Begreife es doch!«
»Das sehe ich auch, daß du dich aufregst. Wart', ich vergaß, dich zu fragen: wodurch ist es bewiesen, daß die Schachtel mit den Ohrringen tatsächlich aus der Truhe der Alten stammt?«
»Das ist bewiesen,« antwortete Rasumichin finster und, wie es schien, mit Unlust. »Koch erkannte den Gegenstand und gab auch denjenigen an, der ihn verpfändet hatte, und jener erklärte positiv, daß der Gegenstand tatsächlich ihm gehörte.«
»Das ist schlimm. Jetzt noch eine Frage: Hat denn niemand den Mikolai um jene Zeit gesehen, als Koch und Pestrjakow nach oben gingen, und kann man es nicht irgendwie beweisen?«
»Das ist es eben, daß ihn niemand gesehen hat,« antwortete Rasumichin ärgerlich. »Das ist eben so schlimm; selbst Koch und Pestrjakow haben die Anstreicher nicht gesehen, als sie nach oben gingen, obwohl ihre Aussage jetzt nicht viel zu bedeuten hätte. Sie sagen; ›Wir haben wohl gesehen, daß die Wohnung offen stand und daß darin wahrscheinlich gearbeitet wurde, doch im Vorbeigehen schenkten wir dem keine Beachtung und können uns nicht erinnern, ob in jenem Augenblick Arbeiter in der Wohnung waren oder nicht.‹«
»Hm! ... Folglich ist der einzige Gegenbeweis, daß sie sich miteinander balgten und lachten. Zugegeben, daß das ein gewichtiger Beweis ist, aber ... Erlaube jetzt: wie erklärst du selbst diese Tatsache? Wie erklärst du den Fund der Ohrringe, wenn er sie wirklich so gefunden hat, wie er aussagt?«
»Wie ich das erkläre? Da ist nichts zu erklären, die Sache ist ja klar! Jedenfalls ist der Weg, auf dem man diese Sache verfolgen muß, klar gegeben, und gerade die Schachtel hat ihn aufgedeckt. Der wahre Mörder hat diese Ohrringe fallen lassen. Als Koch und Pestrjakow klopften, saß der Mörder oben in der Wohnung eingeschlossen. Koch machte die Dummheit und ging hinunter; in diesem Augenblick sprang der Mörder heraus und lief gleichfalls hinunter, denn er hatte keinen anderen Ausweg. Auf der Treppe versteckte er sich vor Koch, Pestrjakow und dem Hausknecht in die leere Wohnung, gerade in dem Augenblick, als Dmitrij und Mikolai herausgelaufen waren; als der Hausknecht und die anderen hinaufgingen, stand er hinter der Tür, wartete, bis ihre Schritte verhallten, und ging dann ganz ruhig hinunter, gerade in dem Augenblick, als Dmitrij und Mikolai auf die Straße hinausgelaufen waren und alle sich verzogen hatten, so daß kein Mensch mehr im Torweg blieb. Vielleicht sah man ihn auch, merkte ihn sich aber nicht: es gehen doch genug Menschen vorbei! Die Schachtel ließ er aber aus der Tasche fallen, als er hinter der Tür stand; er merkte nicht, daß er sie hat fallen lassen, weil er an andere Dinge zu denken hatte. Die Schachtel ist aber ein klarer Beweis dafür, daß er gerade hinter der Tür gestanden hat. Das ist der ganze Witz!«
»Sehr schlau! Nein, Bruder, das ist zu schlau. Das ist schlauer als alles!«
»Aber warum denn, warum denn?«
»Weil alles gar zu genau ineinander paßt ... und die Fäden so fein verschlungen sind ... wie im Theater.«
»Ach Gott!« begann Rasumichin, aber in diesem Augenblick ging die Tür auf, und herein trat eine neue Person, die allen Anwesenden unbekannt war.
Es war ein nicht mehr junger Herr, stattlich und steif, mit einem Gesichtsausdruck, als sei er auf der Hut und als ekle er sich. Er begann damit, daß er in der Tür stehenblieb und mit einem Erstaunen, das er in einer geradezu verletzenden Weise nicht verhehlte, um sich blickte, als fragte er mit den Augen: »Wohin bin ich denn geraten?« Mißtrauisch, sogar mit dem affektierten Ausdruck einer gewissen Angst, fast eines Beleidigtseins, betrachtete er die enge und niedrige »Schiffskajüte« Raskolnikows. Mit dem gleichen Erstaunen richtete er dann seine Blicke auf Raskolnikow selbst, der nicht angekleidet, zerzaust und ungewaschen auf seinem schmutzigen elenden Sofa lag und ihn ebenso unverwandt musterte. Darauf begann er ebenso bedächtig die zerzauste, unrasierte und ungekämmte Gestalt Rasumichins zu betrachten, der ihm seinerseits frech und fragend gerade in die Augen blickte, ohne sich vom Platze zu rühren. Das gespannte Schweigen dauerte etwa eine Minute, und schließlich erfolgte, wie es auch zu erwarten war, ein kleiner Dekorationswechsel. Als der Gast nach einigen, übrigens sehr deutlichen Anzeichen wohl eingesehen hatte, daß in dieser Schiffskajüte durch übertrieben stolze Haltung nichts auszurichten war, wurde er etwas weicher und versetzte, sich an Sossimow wendend, höflich, doch nicht ohne Strenge, jede Silbe seiner Frage betonend:
»Rodion Romanowitsch Raskolnikow, Student oder ehemaliger Student?«
Sossimow machte eine langsame Bewegung und hätte vielleicht geantwortet, wenn ihm nicht Rasumichin, an den man sich gar nicht gewandt hatte, sofort zuvorgekommen wäre.
»Hier liegt er auf dem Sofa! Und was wollen Sie?«
Dieses familiäre »Und was wollen Sie?« machte auf den steifen Herrn einen sehr peinlichen Eindruck; fast hätte er sich zu Rasumichin umgewandt, beherrschte sich aber noch rechtzeitig und wandte sich schnell wieder an Sossimow.
»Da ist Raskolnikow!« sagte Sossimow langsam und undeutlich mit einem Wink auf den Kranken; dann gähnte er, wobei er seinen Mund ungewöhnlich weit aufriß und ihn dann ungewöhnlich lange in diesem Zustande behielt. Dann griff er sehr langsam in seine Westentasche, holte eine riesengroße dicke goldene Uhr mit zwei Deckeln hervor, öffnete sie und begann sie ebenso langsam wieder in die Tasche zu stecken.
Raskolnikow selbst lag die ganze Zeit schweigend auf dem Rücken und blickte unverwandt, wenn auch gedankenlos, den Besucher an. Sein Gesicht, das er jetzt von der interessanten Blume auf der Tapete losgerissen hatte, war ungewöhnlich blaß und drückte einen außerordentlichen Schmerz aus, als hätte er soeben eine qualvolle Operation überstanden oder als hätte man ihn von einer Tortur befreit. Doch der eingetretene Herr erregte in ihm erst immer mehr und mehr Aufmerksamkeit, dann Erstaunen, dann Mißtrauen und sogar etwas wie Angst. Und als Sossimow mit einem Wink auf ihn sagte: »Da ist Raskolnikow«, setzte er sich schnell mit einem Ruck auf dem Lager auf und sagte beinahe herausfordernd, doch mit gebrochener, schwacher Stimme:
»Ja! Ich bin Raskolnikow! Was wollen Sie?«
Der Gast blickte ihn aufmerksam an und sagte eindringlich:
»Pjotr Petrowitsch Luschin. Ich nehme als sicher an, daß mein Name Ihnen nicht ganz unbekannt ist.«
Aber Raskolnikow, der etwas ganz anderes erwartet hatte, sah ihn stumpf und nachdenklich an und antwortete nicht, als höre er den Namen Pjotr Petrowitschs wirklich zum erstenmal.
»Wie, haben Sie denn bisher noch keinerlei Nachrichten bekommen?« fragte Pjotr Petrowitsch peinlich berührt.
Statt eine Antwort zu geben, ließ sich Raskolnikow langsam auf das Kissen fallen, verschränkte die Hände im Nacken und richtete seinen Blick auf die Zimmerdecke. Luschins Züge zeigten Langweile und Unbehagen. Sossimow und Rasumichin fingen an, ihn mit noch größerer Neugier zu mustern, und er wurde schließlich sichtlich verlegen.
»Ich nahm an und rechnete,« sagte er langsam, »daß der Brief, der schon vor mehr als zehn Tagen, vielleicht sogar vor zwei Wochen abgegangen ist ...«
»Hören Sie mal, was sollen Sie immer in der Tür stehen?« unterbrach ihn plötzlich Rasumichin. »Wenn Sie etwas zu sagen haben, so setzen Sie sich, denn für Sie und Nastasja ist es in der Tür zu eng. Nastasjuschka, laß den Herrn durchgehen! Kommen Sie herein, hier haben Sie einen Stuhl! Kriechen Sie doch herein!«
Er rückte seinen Stuhl vom Tische weg, machte den Raum zwischen dem Tisch und seinen Knien ein wenig frei und wartete in gespannter Stellung, daß der Gast durch diesen Spalt durchkrieche. Der Augenblick war so gewählt, daß jener sich nicht weigern konnte, und der Gast kroch eilig und stolpernd durch den engen Zwischenraum. Nachdem er den Stuhl erreicht hatte, setzte er sich hin und blickte Rasumichin mißtrauisch an.
»Genieren Sie sich bitte nicht«, warf jener hin. »Rodja ist schon den fünften Tag krank und hat drei Tage phantasiert; jetzt ist er zu sich gekommen und hat sogar mit Appetit gegessen. Da sitzt sein Arzt, er hat ihn soeben untersucht, und ich bin Rodjas Kollege, auch ein ehemaliger Student, und bemuttere ihn jetzt; nehmen Sie also bitte auf uns keine Rücksicht und sagen Sie, was Sie wollen.«
»Ich danke Ihnen. Werde ich aber nicht den Kranken durch meine Anwesenheit und mein Gespräch beunruhigen?« wandte sich Pjotr Petrowitsch an Sossimow.
»N-nein«, sagte Sossimow langsam. »Sie können ihn vielleicht zerstreuen.« Und er gähnte wieder.
»Oh, er ist schon lange bei Besinnung, seit heute früh!« fuhr Rasumichin fort, dessen Familiarität den Eindruck einer so unverfälschten Herzenseinfalt machte, daß Pjotr Petrowitsch nach einiger Überlegung seine Fassung wieder gewann, vielleicht zum Teil auch darum, weil dieser abgerissene und freche Mensch sich schon als Student vorgestellt hatte.
»Ihre Frau Mama ...« begann Luschin.
»Hm!« versetzte Rasumichin laut.
Luschin sah ihn fragend an.
»Ich sage nichts. Fahren Sie fort ...«
Luschin zuckte die Achseln.
»... Ihre Frau Mama hat, noch als ich dort war, einen Brief an Sie begonnen. Nach meiner Ankunft ließ ich absichtlich einige Tage verstreichen und suchte Sie nicht auf, um ganz sicher zu sein, daß Sie von allem unterrichtet sind; jetzt aber ... zu meinem Erstaunen ...« ...«
»Ich weiß, ich weiß!« sagte plötzlich Raskolnikow mit dem Ausdrucke des ungeduldigsten Ärgers. »Sie sind es? Der Bräutigam? Nun, ich weiß! ... und genug davon! ...«
Pjotr Petrowitsch fühlte sich entschieden verletzt, sagte aber nichts. Er bemühte sich, möglichst schnell dahinter zu kommen, was dies alles zu bedeuten habe. Das Schweigen währte etwa eine Minute.
Raskolnikow, der sich bei seiner Antwort ein wenig zu ihm umgewandt hatte, begann indessen wieder, ihn aufmerksam und mit einer eigentümlichen Neugier zu betrachten, als hätte er vorhin noch nicht Zeit gehabt, ihn vollständig zu sehen, oder als hätte ihn etwas Neues an ihm überrascht; er hob sogar zu diesem Zweck seinen Kopf vom Kissen. Im ganzen Aussehen Pjotr Petrowitschs fiel in der Tat etwas Eigentümliches auf, was die Bezeichnung »Bräutigam«, die man ihm soeben etwas ungeniert verliehen hatte, zu rechtfertigen schien. Erstens konnte man ihm ansehen, und zwar viel zu deutlich, daß Pjotr Petrowitsch sich mit Eifer beeilt hatte, die einigen Tage seines Aufenthalts in der Residenz auszunutzen, um sich in Erwartung der Braut auszuputzen und zu verschönen, was übrigens höchst harmlos und erlaubt war. Sogar das vielleicht etwas allzu selbstzufriedene Bewußtsein seiner angenehmen Veränderung zum Besseren konnte ihm in diesem Falle nachgesehen werden, denn Pjotr Petrowitsch befand sich ja im Stande eines Bräutigams. Seine ganze Kleidung war soeben vom Schneider gekommen, und alles war schön; auszusetzen wäre vielleicht nur, daß alles viel zu neu war und den bestimmten Zweck zu sehr unterstrich. Selbst der elegante, neue runde Hut zeugte von diesem Zweck: Pjotr Petrowitsch behandelte ihn allzu respektvoll und hielt ihn allzu vorsichtig in den Händen. Selbst das wunderschöne Paar fliederfarbener Handschuhe – ein echtes Erzeugnis von Jouvin – zeugte davon, wenn auch nur dadurch, daß er sie nicht angezogen hatte, sondern als Paradestück in der Hand hielt. In der Kleidung Pjotr Petrowitschs herrschten helle und jugendliche Farben vor. Er trug einen hübschen hellbraunen Sommerrock, eine leichte helle Hose, eine Weste aus dem gleichen Stoff, soeben angeschaffte feine Wäsche und eine sehr leichte Battistkrawatte mit rosa Streifen, und das beste daran war, daß dies alles Pjotr Petrowitsch nett zu Gesicht stand. Sein frisches und sogar hübsches Gesicht ließ ihn auch ohnehin jünger als fünfundvierzig Jahre, die er zählte, erscheinen. Der dunkle Backenbart umrahmte es in Form zweier Koteletts anmutig von beiden Seiten und verdichtete sich sehr hübsch an seinem glänzenden, sorgfältig rasierten Kinn. Sogar seine übrigens nur hier und da ergrauten Haare, die vom Friseur gekämmt und gekräuselt waren, erschienen dadurch in keiner Weise lächerlich oder dumm, was doch meistens bei gekräuselten Haaren der Fall ist, weil sie dem Gesicht unbedingt die Ähnlichkeit mit einem Deutschen verleihen, der zur Trauung geht. Und wenn in diesem recht hübschen und soliden Gesicht wirklich etwas Unangenehmes und Abstoßendes lag, so beruhte das auf anderen Ursachen. Nachdem Raskolnikow Herrn Luschin recht ungeniert betrachtet hatte, lächelte er giftig, ließ sich wieder auf das Kissen fallen und begann wie früher auf die Decke zu sehen.
Herr Luschin nahm sich aber zusammen und entschloß sich anscheinend, diesen Eigentümlichkeiten vorerst keine Beachtung zu schenken.
»Ich bedaure sehr lebhaft, daß ich Sie in diesem Zustande treffe«, begann er wieder, mit Mühe das Schweigen brechend. »Wenn ich von Ihrem Zustande etwas gewußt hätte, so wäre ich schon früher gekommen. Aber, wissen Sie, die Geschäfte! ... Außerdem habe ich eine sehr wichtige Sache im Senat, die meine Advokatenpraxis betrifft. Die anderen Sorgen, die Sie leicht erraten können, erwähne ich gar nicht. Die Ihrigen, das heißt Ihre Frau Mama und Schwester, erwarte ich von Stunde zu Stunde ...«
Raskolnikow machte eine Bewegung und wollte etwas sagen. Sein Gesicht drückte einige Erregung aus. Pjotr Petrowitsch hielt inne und wartete; da aber nichts erfolgte, fuhr er fort:
»... Von Stunde zu Stunde. Ich habe für sie zunächst eine Wohnung gefunden ...«
»Wo?« fragte Raskolnikow mit schwacher Stimme.
»Gar nicht weit von hier, im Hause Bakalejews ...«
»Das ist auf dem Wosnesenskij-Prospekt«, unterbrach ihn Rasumichin. »Dort sind zwei Stockwerke voller möblierter Zimmer. Sie gehören dem Kaufmann Juschin; ich bin dort schon mal gewesen.«
»Ja, es sind möblierte Zimmer ...«
»Fürchterlich und ekelhaft: Schmutz, Gestank und außerdem ein verdächtiger Ort: es ist da manches passiert. Auch weiß der Teufel, wer da nicht alles wohnt! ... Ich selbst bin dort mal anläßlich einer Skandalaffäre gewesen. Übrigens ist es billig.«
»Selbstverständlich konnte ich dies alles gar nicht erfahren, denn ich bin hier neu«, antwortete Pjotr Petrowitsch empfindlich. »Es sind übrigens zwei außerordentlich saubere Zimmerchen, und da es sich nur um eine kurze Zeit handelt ... Ich habe auch schon eine wirkliche, das heißt unsere zukünftige Wohnung gemietet«, wandte er sich an Raskolnikow, »und jetzt wird sie fertiggemacht; inzwischen hause ich auch selbst in einem möblierten Zimmer, zwei Schritte von hier, bei der Frau Lippewechsel, in der Wohnung meines jungen Freundes Andrej Ssemjonytsch Lebesjatnikow; er hat mir auch das Haus Bakalejews empfohlen ...« ...«
»Bei Lebesjatnikow?« sagte Raskolnikow langsam, als ob er sich auf etwas besinne.
»Ja, bei Andrej Ssemjonytsch Lebesjatnikow, der im Ministerium angestellt ist. Kennen Sie ihn?«
»Nein ...« antwortete Raskolnikow.
»Entschuldigen Sie, Ihre Frage ließ mich es vermuten. Ich war einmal sein Vormund ... Ein sehr netter junger Mann ... der dem Zeitgeiste folgt ... Ich aber freue mich immer, wenn ich mit der Jugend zusammenkomme: an ihr erfährt man alles, was es Neues gibt.«
Pjotr Petrowitsch sah die Anwesenden erwartungsvoll an.
»Wie meinen Sie das?« fragte Rasumichin.
»Ich meine es ernsthaft, sozusagen den Kern der Sache«, fiel Pjotr Petrowitsch ein, als wäre er über die Frage erfreut. »Sehen Sie, ich bin seit zehn Jahren nicht mehr in Petersburg gewesen. Alle unsere Neuerungen, Reformen, Ideen haben auch uns in unserer Provinz erreicht, doch um dies alles genau zu sehen, muß man in Petersburg sein. Ich stehe aber auf dem Standpunkte, daß man am meisten sieht und erfährt, wenn man unsere junge Generation betrachtet! Offen gestanden, war ich sehr erfreut ...«
»Worüber denn?«
»Ihre Frage ist sehr weit gesteckt. Ich kann mich irren, doch es scheint mir, daß ich einen klaren und, sozusagen, kritischeren Blick finde; mehr Tüchtigkeit ...«
»Das stimmt«, sagte Sossimow durch die Zähne.
»Unsinn, es ist keine Tüchtigkeit da«, fiel ihm Rasumichin erregt ins Wort. »Tüchtigkeit wird durch Mühe erworben und fällt nicht vom Himmel. Wir aber sind fast seit zweihundert Jahren von jeder Arbeit entwöhnt ... Ideen spuken vielleicht auch herum«, wandte er sich an Pjotr Petrowitsch, »und es ist auch ein Streben nach dem Guten da, wenn es auch kindisch ist; man kann auch Ehrlichkeit vorfinden, obwohl sich hier unzählige Gauner versammelt haben, aber von Tüchtigkeit ist dennoch nichts zu sehen! Tüchtigkeit hat Stiefel an ...«
»Ich kann Ihnen nicht zustimmen«, entgegnete Pjotr Petrowitsch mit sichtbarem Genuß. »Natürlich gibt es Übertreibungen und Verirrungen, man muß aber auch nachsichtig sein; die Übertreibungen zeugen von Eifer für die Sache und von den unnormalen äußern Umständen, unter denen man zu arbeiten hat. Und wenn noch wenig getan ist, so war ja auch die Zeit so kurz. Von den Mitteln spreche ich nicht. Wenn Sie wollen, ist meine persönliche Überzeugung, daß auch schon etwas getan ist: es sind neue, nützliche Gedanken verbreitet worden, es sind einige neue nützliche Werke an Stelle der früheren, schwärmerischen und romantischen erschienen; die Literatur nimmt eine immer reifere Form an; viele schädliche Vorurteile sind ausgerottet worden und wirken nur noch lächerlich ... Mit einem Worte, wir haben uns unwiderruflich von der Vergangenheit getrennt, und das ist nach meiner Ansicht auch schon eine Tat ...«
»Das hat er auswendig gelernt! Will sich damit wohl empfehlen«, sagte plötzlich Raskolnikow.
»Wie meinen?« fragte Pjotr Petrowitsch, der es nicht recht gehört hatte, bekam aber keine Antwort.
»Das stimmt alles«, beeilte sich Sossimow zu bemerken.
»Nicht wahr?« fuhr Pjotr Petrowitsch mit einem gewinnenden Blick auf Sossimow fort. »Sie werden doch selbst zugeben«, sagte er, sich an Rasumichin wendend, doch schon im Tone eines gewissen Triumphes und einer Überlegenheit; beinahe hätte er »junger Mann« hinzugefügt, – »daß es wohl einen Fortschritt oder, wie man sich jetzt ausdrückt, einen Progreß gibt, und wenn auch nur im Namen der Wissenschaft und der ökonomischen Lehrsätze ...«
»Ein Gemeinplatz!«
»Nein, es ist kein Gemeinplatz! Wenn man mir zum Beispiel bisher sagte: ›Liebe deinen Nächsten‹ und ich ihn liebte, was kam dabei heraus?« fuhr Pjotr Petrowitsch vielleicht gar zu eifrig fort. »Es kam dabei heraus, daß ich meinen Rock mitten entzweiriß und ihn mit meinem Nächsten teilte; so blieben wir beide halbnackt, wie es im russischen Sprichworte heißt: ›Wenn du mehreren Hasen nachjagst, fängst du keinen einzigen.‹ Die Wissenschaft aber sagt: Liebe zunächst dich selbst, denn alles in der Welt ist auf persönlichen Interessen gegründet. Wenn du dich selbst liebst, so besorgst du deine eigenen Geschäfte wie es sich gehört, und dein Rock bleibt ganz. Die ökonomische Wissenschaft fügt aber hinzu, daß, je mehr es in der Gesellschaft geordnete Privatangelegenheiten, sozusagen ganze Röcke gibt, sie um so mehr feste Grundlagen hat und auch die allgemeine Sache dadurch besser geordnet wird. Wenn ich also ausschließlich und einzig für mich selbst erwerbe, so erwerbe ich gleichsam auch für alle und erreiche damit, daß auch mein Nächster etwas mehr als einen zerrissenen Rock bekommt, und zwar nicht mehr aus privater Freigebigkeit einer Einzelperson, sondern infolge des allgemeinen Wohlstandes. Der Gedanke ist einfach, ist aber leider lange Zeit niemand eingefallen, da er von Exaltation und Schwärmerei verdeckt war; und doch müßte man meinen, daß man gar nicht besonders geistreich zu sein braucht, um auf ihn zu kommen ...«
»Entschuldigen Sie, ich bin aber gar nicht geistreich«, unterbrach ihn Rasumichin scharf. »Darum wollen wir lieber aufhören. Ich habe ja das Gespräch mit einer ganz bestimmten Absicht darauf gebracht, sonst habe ich dieses ganze Geschwätz, mit dem man sich bloß ergötzt, alle diese endlosen, unaufhörlichen Gemeinplätze und das ewige Einerlei in drei Jahren so satt bekommen, daß ich, bei Gott, erröte, wenn auch andere in meiner Gegenwart, und nicht nur ich, davon sprechen. Sie haben sich selbstverständlich beeilt, Ihre Kenntnisse zu zeigen, um in einem günstigen Lichte zu erscheinen; dies ist durchaus verzeihlich, und ich verurteile es nicht. Ich aber wollte nur erfahren, wer Sie sind; denn, sehen Sie, in der letzten Zeit haben sich so viele Industrieritter an die allgemeine Sache gehängt und alles, was sie nur berührt haben, in ihren eigenen Interessen dermaßen verunstaltet, daß die ganze Sache verdreckt ist. Nun, genug davon!«
»Mein Herr,« begann Herr Luschin, mit großer Würde das Gesicht verziehend, »wollen Sie damit etwa in einer so verletzenden Form sagen, daß auch ich ...«
»Oh, bitte, bitte ... Wie könnte ich es denn! ... Nun ist's genug!« schnitt Rasumichin ab und wandte sich jäh, im unterbrochenen Gespräch fortfahrend, an Sossimow.
Pjotr Petrowitsch war klug genug, um dieser Erklärung sofort zu glauben. Übrigens hatte er sich entschlossen, nach zwei Minuten wegzugehen.
»Ich hoffe, daß unsere eben geschlossene Bekanntschaft«, wandte er sich an Raskolnikow, »nach Ihrer Genesung und angesichts der Ihnen bekannten Umstände sich noch mehr festigen wird ... Ganz besonders wünsche ich Ihnen Gesundheit ...«
Raskolnikow wandte sich nach ihm nicht mal um. Pjotr Petrowitsch machte Anstalten, sich vom Stuhle zu erheben.
»Den Mord beging unbedingt ein Pfandgeber!« sagte Sossimow mit Nachdruck.
»Unbedingt ein Pfandgeber!« bestätigte Rasumichin. »Porfirij verrät seine Gedanken nicht, verhört aber alle Pfandgeber ...«
»Er verhört die Pfandgeber?« fragte Raskolnikow laut.
»Ja, was ist denn?«
»Nichts.«
»Wo nimmt er sie denn her?« fragte Sossimow.
»Die einen hat Koch angegeben; die Namen der andern standen auf den Umhüllungen der Pfänder, und manche kamen von selbst, als sie davon hörten ...«
»Das muß aber eine geschickte und erfahrene Kanaille sein! Diese Kühnheit! Diese Entschlossenheit!«
»Das ist es eben, daß es nicht der Fall ist!« unterbrach ihn Rasumichin. »Das bringt euch alle auf einen falschen Weg. Ich sage aber: ein ungeschickter und unerfahrener Mensch, und das war sicher sein erster Schritt! Wenn man eine Berechnung und eine kluge Kanaille annimmt, erscheint es unglaublich. Wenn man aber einen Unerfahrenen annimmt, so kommt man zum Schluß, daß ihn nur der Zufall gerettet hat, – und was tut nicht alles der Zufall! Erlaube doch: er hat vielleicht nicht mal die Hindernisse vorausgesehen! Und wie machte er die Sache? – Er nimmt Gegenstände im Werte von zehn und zwanzig Rubeln, stopft sie sich in die Tasche, wühlt in der Altweibertruhe, in allerlei Lumpen herum, – und in der Kommode, in der oberen Schublade findet man nachher an Bargeld allein anderthalb Tausend Rubel, außer den Wertpapieren! Er hat nicht mal verstanden, zu plündern: nur zu morden hat er verstanden! Der erste Schritt war es, sage ich dir, der erste Schritt; er hat seine Fassung verloren! Und nicht durch Berechnung, sondern durch einen Zufall ist er der Gefahr entronnen!«
»Ich glaube, Sie sprechen von der kürzlichen Ermordung der alten Beamtenwitwe?« mischte sich ins Gespräch Pjotr Petrowitsch, der schon mit Hut und Handschuhen in der Hand stand, doch vor dem Fortgehen noch einige kluge Worte sagen wollte. Offenbar war er um einen guten Eindruck besorgt, und die Eitelkeit besiegte die Vernunft.
»Ja. Haben Sie es gehört?«
»Gewiß, es geschah ja in der Nachbarschaft ...«
»Kennen Sie auch die Einzelheiten?«
»Das will ich nicht behaupten; mich interessiert aber dabei ein anderer Umstand, sozusagen das ganze Problem. Ich spreche nicht davon, daß die Verbrechen in den unteren Klassen in den letzten fünf Jahren zugenommen haben, ich spreche auch nicht von den zahlreichen Raubmorden und Brandstiftungen, über die man von überall berichtet; am sonderbarsten erscheint es mir, daß auch die Verbrechen in den höheren Klassen zunehmen und sozusagen parallel. Hier, hört man, hat ein ehemaliger Student die Post auf der Landstraße überfallen und ausgeraubt; dort fabrizieren Menschen, die gesellschaftlich die erste Stellung einnehmen, falsche Banknoten; in Moskau erwischt man eine ganze Gesellschaft von Leuten, die die Scheine der letzten Prämienanleihe fälschen, und unter den Hauptbeteiligten befindet sich ein Lektor der Weltgeschichte; dort, im Auslande wird einer unserer Sekretäre aus einem rätselhaften Grunde, der aber mit Geld zusammenhängt, ermordet ... Und wenn jetzt diese alte Pfandleiherin von einem Angehörigen der höheren Gesellschaftskreise ermordet wurde – Bauern versetzen doch keine Goldsachen, – womit kann man dann diese Verderbtheit des gebildeten Teiles unserer Gesellschaft erklären?«
»Es gibt eben viele wirtschaftliche Veränderungen ...« meldete sich Sossimow.
»Womit man es erklären kann?« fiel ihm Rasumichin heftig ins Wort. »Gerade mit der tief eingewurzelten Untüchtigkeit kann man es erklären.«
»Wie meinen Sie das eigentlich?«
»Was antwortete Ihr Moskauer Lektor auf die Frage, warum er die Scheine gefälscht habe? ›Alle bereichern sich auf jede Weise, so wollte auch ich reich werden.‹ Des genauen Wortlautes entsinne ich mich nicht, der Sinn war aber der, daß er auf fremde Rechnung, schnell und ohne Arbeit reich werden wollte! Die Leute sind eben gewöhnt, alles gratis zu haben, am Gängelbande zu gehen, Vorgekautes zu essen. Schlägt aber die große Stunde, so zeigt jeder sein wahres Gesicht ...«
»Aber die Moral? Und sozusagen die sittlichen Gesetze ...«
»Was regen Sie sich so auf?« mischte sich plötzlich Raskolnikow ein. »Es entspricht doch Ihrer Theorie!«
»Wieso meiner Theorie?«
»Führen Sie doch das, was Sie vorhin gepredigt haben, zu den letzten Konsequenzen, und es wird sich ergeben, daß es erlaubt ist, seine Mitmenschen abzuschlachten ...«
»Aber bitte!« rief Luschin aus.
»Nein, es ist doch nicht so!« versetzte Sossimow.
Raskolnikow lag blaß mit zitternder Oberlippe da und atmete schwer.
»Alles hat sein Maß«, fuhr Luschin hochmütig fort. »Eine ökonomische Idee bedeutet noch nicht die Aufforderung zum Mord, und wenn man nur annimmt ...«
»Ist es wahr«, unterbrach ihn Raskolnikow plötzlich wieder mit vor Wut zitternder Stimme, aus der man die eigentümliche Freude am Beleidigen heraushörte: »Ist es wahr, daß Sie Ihrer Braut sagten ... und zwar in der selben Stunde, als Sie ihr Jawort erhielten, daß Sie sich am meisten darüber freuten, daß ... daß sie eine Bettlerin ist ... weil es vorteilhafter sei, eine Frau aus dem Bettlerstande zu nehmen, um über sie später zu herrschen ... und ihr vorwerfen zu können, daß man ihr eine Gnade erwiesen hat?«
»Mein Herr!« rief Luschin erbost und gereizt; er war ganz rot geworden und hatte seine Fassung verloren. »Mein Herr ... so meinen Gedanken zu entstellen! Entschuldigen Sie mich, aber ich muß Ihnen sagen, daß die Gerüchte, die Sie erreicht haben, oder besser gesagt, die man Ihnen zugetragen hat, auch nicht den Schatten eines vernünftigen Grundes haben, und ich ahne schon, wer ... mit einem Worte ... dieser Pfeil ... mit einem Worte, Ihre Frau Mama ... Sie schien mir auch ohnedem, übrigens bei allen ihren ausgezeichneten Eigenschaften, eine etwas exaltierte und romantische Gedankenrichtung zu haben ... Aber ich war doch tausend Werst von der Annahme entfernt, daß sie die Sache in einer von der Phantasie dermaßen entstellten Weise auffassen und darstellen könnte ... Und schließlich ... schließlich ...«
»Wissen Sie aber was?« rief Raskolnikow aus, den Kopf vom Kissen hebend und ihn unverwandt mit durchdringendem brennendem Blicke ansehend. »Wissen Sie was?«
»Was denn?«
Luschin hielt inne und wartete mit herausfordernder und gekränkter Miene. Das Schweigen dauerte einige Sekunden.
»Daß, wenn Sie noch einmal ... wagen, auch nur ein Wort von meiner Mutter zu erwähnen ... ich Sie die Treppe hinunterwerfen werde!«
»Was hast du nur?« rief Rasumichin.
»Ah, so steht es also!« Luschin erbleichte und biß sich auf die Lippe. »Hören Sie, mein Herr«, begann er langsam, ich mit aller Kraft beherrschend, aber dennoch beinahe erstickend. »Ich habe schon vorhin, gleich beim ersten Schritt, Ihre Feindseligkeit erraten, bin aber absichtlich hier geblieben, um noch mehr zu erfahren. Vieles könnte ich einem Kranken und einem Verwandten verzeihen, doch jetzt ... Ihnen ... niemals ...«
»Ich bin nicht krank!« schrie Raskolnikow.
»Dann um so weniger ...«
»Scheren Sie sich zum Teufel!«
Luschin ging aber schon von selbst, ohne seine Rede beendet zu haben, und wieder zwischen dem Tisch und dem Stuhl durchkriechend; Rasumichin stand diesmal auf, um ihn vorbeizulassen. Ohne jemand anzusehen und selbst ohne Sossimow zuzunicken, der ihm schon längst durch einen Wink bedeutet hatte, daß er den Kranken in Ruhe lassen möchte, verließ Luschin das Zimmer; als er gebückt durch die Tür ging, hielt er vorsichtshalber den Hut in der Höhe seiner Schulter. Selbst die Krümmung seines Rückens schien dabei zu sagen, daß er eine furchtbare Beleidigung mit sich forttrage.
»Wie kann man es nur, wie kann man es nur?« sagte der betroffene Rasumichin, den Kopf schüttelnd.
»Laßt mich, laßt mich alle!« schrie Raskolnikow wie rasend. »Werdet Ihr mich endlich einmal in Ruhe lassen, ihr Peiniger?! Ich fürchte euch nicht! Ich fürchte jetzt niemand, niemand! Fort von mir! Ich will allein sein, allein, allein, allein!«
»Gehen wir!« sagte Sossimow.
»Ich bitte dich, kann man ihn denn so lassen?«
»Gehen wir!« wiederholte Sossimow mit Nachdruck und ging hinaus. Rasumichin dachte eine Weile nach und lief ihm nach, um ihn einzuholen.
»Es könnte viel schlimmer werden, wenn wir ihm nicht gehorcht hätten«, sagte Sossimow schon auf der Treppe. »Man darf ihn nicht reizen ...«
»Was hat er denn?«
»Wenn er doch nur irgendeinen günstigen Anstoß bekommen könnte, das wäre vonnöten! Vorhin war er bei Kräften ... Weißt du, er hat etwas auf dem Herzen! Etwas Starres, etwas Drückendes ... Das fürchte ich sehr; ganz bestimmt hat er was!«
»Vielleicht ist es dieser Herr Pjotr Petrowitsch? Aus dem Gespräch kann man ersehen, daß er seine Schwester heiraten will und daß Rodja darüber kurz vor seiner Erkrankung einen Brief erhalten hat ...«
»Ja. Hat ihn auch der Teufel herbringen müssen! Vielleicht hat er die ganze Sache verdorben. Hast du aber bemerkt, daß er gegen alles gleichgültig ist, auf nichts reagiert, mit Ausnahme des einen Punktes, der ihn aus der Fassung bringt: ich meine den Mord ...«
»Ja, ja!« fiel ihm Rasumichin ins Wort. »Ich habe es wohl bemerkt! Er interessiert sich, er fürchtet. Man hat ihn am Tage seiner Erkrankung auf dem Bureau des Revieraufsehers damit erschreckt; er war in Ohnmacht gefallen.«
»Erzähl mir das alles genauer am Abend, und dann werde ich dir auch etwas sagen. Es interessiert mich sehr! In einer halben Stunde will ich wieder nach ihm sehen ... Eine Entzündung ist übrigens nicht zu befürchten.«
»Ich danke dir! Ich will aber inzwischen bei Paschenjka warten und ihn durch Nastasja beobachten lassen ...«
Als Raskolnikow allein geblieben war, blickte er Nastasja voll Ungeduld und Unlust an; sie zögerte aber noch, wegzugehen.
»Willst du jetzt Tee trinken?« fragte sie.
»Später! Ich will schlafen! Laß mich ...«
Er wandte sich krampfhaft zur Wand; Nastasja ging hinaus.
Kaum war sie aber hinausgegangen, als er aufstand, die Tür zuhakte, den Pack mit Kleidern, den Rasumichin vorhin mitgebracht und wieder zugebunden hatte, wieder aufband und sich anzukleiden begann. Seltsam: plötzlich schien er völlig beruhigt; das halbwahnsinnige Delirium von vorhin und die panische Angst, die ihn in der ganzen letzten Zeit verfolgte, waren weg. Es war der erste Augenblick einer seltsamen plötzlichen Beruhigung. Seine Bewegungen waren genau und klar und zeugten von einem festen Entschluß. »Heute noch, heute noch! ...« murmelt er vor sich hin. Er sah wohl ein, daß er noch schwach war, doch die äußerste seelische Spannung, die zu einer Ruhe, zu einer unbeweglichen Idee geworden war, verlieh ihm Kräfte und Selbstvertrauen; er hoffte übrigens, daß er auf der Straße nicht hinfallen würde. Nachdem er lauter neue Sachen angezogen hatte, erblickte er das Geld, das auf dem Tische lag, überlegte und steckte es in die Tasche. Es waren fünfundzwanzig Rubel. Er nahm auch alle die kupfernen Fünfkopekenstücke mit, den Rest von den zehn Rubeln, die Rasumichin für die Kleider ausgegeben hatte. Dann hob er leise den Haken ab, ging aus dem Zimmer und stieg die Treppe hinab; er warf einen Blick in die weit geöffnete Küche: Nastasja stand mit dem Rücken zu ihm und blies gebückt in den Samowar der Wirtin. Sie hörte nichts. Wer hätte auch erwarten können, daß er fortgehen würde? Nach einer Minute war er schon auf der Straße.
Es war gegen acht Uhr, die Sonne ging unter. Es herrschte die frühere Schwüle, er aber atmete mit Gier diese stinkende, staubige, durch die Stadt verpestete Luft. Der Kopf schwindelte ihm ein wenig, eine eigentümliche wilde Energie leuchtete plötzlich aus seinen entzündeten Augen und aus seinem abgemagerten, gelblich-weißen Gesicht. Er wußte nicht, überlegte auch nicht, wohin er gehen würde: er wußte nur das eine: »daß man dem allen heute noch, sofort auf einen Schlag, ein Ende machen müsse; daß er anders nicht nach Hause zurückkommen würde, weil er so nicht leben könne«. Doch wie ein Ende machen? Wodurch? Davon hatte er keine Ahnung und wollte daran auch nicht denken. Er versuchte den Gedanken zu verscheuchen, denn der Gedanke quälte ihn. Er fühlte und wußte nur, daß es notwendig war, daß alles sich ändere, so oder anders, »ganz gleich wie«, – das wiederholte er mit einer verzweifelten, unbeweglichen Entschlossenheit und großem Selbstvertrauen.
Nach alter Gewohnheit ging er den gewöhnlichen Weg seiner früheren Wanderungen zum Heumarkt. Kurz vor dem Heumarkte stand auf dem Straßenpflaster vor einem kleinen Laden ein junger schwarzhaariger Leierkastenmann und leierte ein rührendes Lied. Er begleitete ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen, das auf dem Trottoir stand und wie ein vornehmes Fräulein mit Krinoline, Mantille, Handschuhen und einem Strohhut mit einer feuerroten Feder bekleidet war; alle diese Sachen waren alt und abgetragen. Mit einer zittrigen, aber recht angenehmen und starken Stimme sang sie ihr Lied in Erwartung eines Zweikopekenstücks aus dem Laden. Raskolnikow blieb neben zwei oder drei anderen Zuhörern stehen, hörte eine Weile zu, holte ein Fünfkopekenstück aus der Tasche und legte es dem jungen Mädchen in die Hand. Jenes brach den Gesang bei der empfindsamsten und höchsten Note ab, rief dem Leierkastenmann scharf zu: »Genug!« und beide gingen weiter, zu dem nächsten Laden.
»Lieben Sie Straßengesang?« wandte sich Raskolnikow an einen nicht mehr jungen Passanten, der neben ihm vor dem Leierkasten stand und wie ein Flaneur aussah. Jener blickte ihn bestürzt und erstaunt an. – »Ich liebe ihn«, fuhr Raskolnikow fort, doch mit einer Miene, als rede er gar nicht vom Straßengesang. »Ich liebe es, wenn an einem kalten, dunklen und feuchten Herbstabend zum Leierkasten gesungen wird, unbedingt an einem feuchten, wenn alle Leute auf der Straße blaßgrüne und kranke Gesichter haben; oder noch besser, wenn nasser Schnee ganz gerade, ohne Wind herabfällt, wissen Sie, und die Flammen der Gaslaternen hindurchleuchten ...«
»Ich weiß nicht ... Entschuldigen Sie ...« murmelte der Herr, wie durch die Frage, so auch durch das sonderbare Aussehen Raskolnikows erschreckt, und ging auf die andere Straßenseite hinüber.
Raskolnikow ging geradeswegs weiter und gelangte zu der Ecke des Heumarktes, wo der Kleinbürger und seine Frau, die damals mit Lisaweta sprachen, ihre Verkaufsstände hatten; jetzt waren sie aber nicht da. Als er aber die Stelle erkannt hatte, blieb er stehen, sah sich um und wandte sich an einen jungen Burschen im roten Hemde, der vor dem Eingange zu einem Mehllager gähnte.
»Hier handelt doch an der Ecke ein Kleinbürger mit einem Weib, seiner Frau, wie?«
»Allerlei Leute handeln hier«, antwortete der Bursche, Raskolnikow mit einem Blicke messend.
»Wie heißt er?«
»Wie man ihn getauft hat, so heißt er.«
»Bist du nicht auch aus dem Saraisker Kreise? Aus welchem Gouvernement bist du?«
Der Bursche sah Raskolnikow von oben herab an.
»Wir haben kein Gouvernement, Eure Durchlaucht, sondern bloß einen Kreis; die Reise hat mein Bruder gemacht, ich saß aber zu Hause und weiß von nichts ... Verzeihen Sie gütigst, Durchlaucht.«
»Ist es eine Garküche dort oben?«
»Es ist ein Wirtshaus, es gibt ein Billard, und man kann auch Prinzessinnen finden ... Eine Wonne!«
Raskolnikow durchschritt den Platz. Dort an der anderen Ecke stand eine dichte Volksmenge, lauter Bauern. Er drängte sich mitten hinein und blickte in jedes Gesicht. Aus irgendeinem Grunde fühlte er sich hingezogen, jeden Menschen anzusprechen. Die Bauern beachteten ihn aber nicht; sie redeten laut unter sich und drängten sich zu kleinen Gruppen zusammen. Er stand und dachte eine Weile nach und ging dann nach rechts über das Trottoir in der Richtung zum W–schen Prospekt. Nachdem er den Platz wieder durchschritten hatte, geriet er in ein Gäßchen ...
Er war auch früher oft durch dieses kurze, krumme Gäßchen gegangen, das den Heumarkt mit der Ssadowaja verbindet. In der letzten Zeit zog es ihn sogar hin, sich an allen diesen Stellen herumzutreiben, wenn es ihm übel zumute war, »damit es noch übler werde«. Jetzt ging er aber, ohne an etwas zu denken. Es gibt hier ein großes Haus, das ganz mit Schenken und sonstigen Speise- und Trinklokalen angefüllt ist; aus diesen kamen jeden Augenblick Frauen heraus, gekleidet, wie man »in der Nachbarschaft« Besuche zu machen pflegt – barhaupt und ohne Mäntel. An mehreren Stellen drängten sie sich auf dem Trottoir in Gruppen, vorwiegend vor den Eingängen zu den Kellergeschossen, wo zwei Stufen in allerlei sehr amüsante Vergnügungsstätten hinabführen. Aus einem dieser Lokale tönte in diesem Augenblick ein Lärmen und Trampeln, so daß es auf der ganzen Straße zu hören war; eine Gitarre klimperte, jemand sang, und es schien sehr lustig zuzugehen. Eine große Gruppe von Frauen drängte sich am Eingange; andere saßen auf den Stufen, andere wieder auf dem Trottoir; einige standen herum und unterhielten sich. Auf dem Straßenpflaster daneben ging, laut fluchend, ein betrunkener Soldat mit einer Zigarette im Munde auf und ab; anscheinend wollte er irgendwo einkehren, hatte aber wohl vergessen, wo. Ein abgerissener Kerl zankte sich mit einem anderen abgerissenen Kerl, und ein sinnlos Betrunkener lag quer über der Straße. Raskolnikow blieb vor der großen Gruppe von Frauen stehen. Sie sprachen mit heiseren Stimmen; alle waren barhaupt und hatten Kattunkleider und Bocklederschuhe an. Einige waren über vierzig Jahre alt, doch es gab auch siebzehnjährige darunter, fast alle mit blauen Flecken unter den Augen.
Aus irgendeinem Grunde interessierte ihn dieser ganze Lärm dort unten ... Man hörte, wie jemand unter dem Lachen und Kreischen zur ausgelassenen Melodie, die eine Fistelstimme sang, und zu den Tönen einer Gitarre wie verrückt tanzte und den Takt mit den Absätzen schlug. Er hörte finster und nachdenklich zu und blickte, sich vor dem Eingange bückend, neugierig vom Trottoir in den Vorraum hinein.
»Schöner Schutzmann, laß dir's sagen:
Sollst mich ohne Grund nicht schlagen!«
tönte die dünne Stimme des Sängers. Raskolnikow hatte großes Verlangen, zu hören, was da gesungen wurde, als wäre das die Hauptsache.
»Soll ich nicht hineingehen?« dachte er. »Sie lachen. Sind wohl betrunken. Soll ich mich vielleicht auch betrinken?«
»Wollen Sie nicht einkehren?« fragte eine der Frauen mit ziemlich heller und noch nicht ganz heiserer Stimme. Sie war jung und nicht mal abstoßend – die einzige in der ganzen Gruppe.
»Sieh mal an, wie hübsch die ist!« antwortete er, nachdem er sich aufgerichtet und sie angeblickt hatte.
Sie lächelte; das Kompliment gefiel ihr gut.
»Sie sind auch selbst sehr hübsch«, sagte sie.
»Wie mager!« bemerkte eine andere mit einer Baßstimme. »Kommen Sie eben aus dem Spital?«
»Ihr seid zwar alle Generalstöchter, habt aber lauter Stutznasen!« unterbrach sie plötzlich ein Bauer, der angeheitert im aufgeknöpften Mantel und mit einer verschmitzt lächelnden Visage herantrat. »Sieh mal an, wie lustig!«
»Tritt nur ein, wenn du schon da bist!«
»Ich trete schon ein! Ist das ein süßes Leben!«
Und er kugelte hinunter.
Raskolnikow ging weiter.
»Hören Sie, Herr!« rief ihm das Mädchen nach.
»Was denn?«
Sie wurde verlegen.
»Lieber Herr, ich werde mich immer freuen, mit Ihnen meine Stunden zu vertreiben, aber jetzt kann ich mir vor Ihnen kein Herz fassen. Schenken Sie mir, mein angenehmer Kavalier, sechs Kopeken zu einem Schluck Branntwein!«
Raskolnikow holte aus der Tasche, was er mit den Fingern gerade erwischte: drei Fünfkopekenstücke.
»Ach, was für ein gütiger Herr!«
»Wie heißt du?«
»Fragen Sie nach der Duklida.«
»Nein, das geht doch nicht«, bemerkte plötzlich ein anderes Frauenzimmer aus der Gruppe, über Duklida den Kopf schüttelnd. »Ich weiß gar nicht, wie man nur so betteln kann! Ich würde, glaube ich, vor lauter Scham in die Erde versinken!«
Raskolnikow sah die Sprechende neugierig an. Es war ein pockennarbiges Mädel, an die dreißig Jahre alt, voll blauer Flecken im Gesicht und mit geschwollener Oberlippe. Sie sprach und kritisierte ruhig und ernst.
»Wo habe ich bloß gelesen,« dachte sich Raskolnikow im Weitergehen, »daß ein zum Tode Verurteilter eine Stunde vor dem Tode sagt oder denkt: wenn er nur irgendwo in der Höhe, auf einem Felsen, auf einem so schmalen Plateau, das nur für seine zwei Füße Platz hätte, leben könnte – rings Abgründe, Ozean, ewige Finsternis, ewige Einsamkeit und ewiger Sturm –, und so auf diesem nur einen Arschin breiten Raum sein ganzes Leben lang, tausend Jahre, eine Ewigkeit bleiben sollte – so wäre es besser, so zu leben, als jetzt gleich zu sterben! Wie das Leben auch sei, nur leben, leben, leben! ... Wie wahr! Mein Gott, wie wahr! Gemein ist doch der Mensch! ... Und gemein ist auch der, der ihn deswegen gemein nennt«, fügte er nach einer Minute hinzu.
Er kam in eine andere Straße. »Ach, das ist ja der ›Kristallpalast‹? Rasumichin sprach vorhin vom ›Kristallpalast‹! Ja, aber was wollte ich eigentlich? Ja, lesen! ... Sossimow sagte, er hätte es in der Zeitung gelesen ...«
»Gibt es Zeitungen?« fragte er, in ein geräumiges und sogar sauberes Lokal tretend, das aus einigen, übrigens recht leeren Zimmern bestand. Zwei oder drei Gäste tranken Tee, und in einem der entfernteren Zimmer saß eine Gesellschaft von etwa vier Menschen, die Champagner tranken. Raskolnikow kam es vor, als ob unter ihnen auch Samjotow säße. Von weitem konnte man es übrigens nicht genau sehen.
»Und wenn auch!« dachte er sich.
»Befehlen der Herr einen Schnaps?« fragte der Kellner.
»Bring mir Tee. Und bring mir alte Zeitungen, so von den fünf letzten Tagen hintereinander, du bekommst ein Trinkgeld dafür.«
»Zu Befehl. Hier sind die heutigen. Befehlen Sie auch einen Schnaps?«
Bald kamen die alten Zeitungen und der Tee. Raskolnikow setzte sich hin und begann zu suchen: »Isler – Isler – Azteken – Azteken – Isler – Bartold – Massimo – Azteken – Isler ... pfui Teufel! Und hier die kleinen Notizen: von der Treppe gestürzt – ein Kleinbürger im Rausche verbrannt – eine Feuersbrunst – eine Feuersbrunst auf der Petersburger Seite – noch eine Feuersbrunst auf der Petersburger Seite – und noch eine Feuersbrunst auf der Petersburger Seite – Isler – Isler – Isler – Isler – Massimo ... Ja, hier ...«
Er fand endlich das, was er suchte, und fing zu lesen an: die Zeilen hüpften ihm vor den Augen, trotzdem las er diesen ganzen »Bericht« und suchte voll Gier in den folgenden Nummern nach weiteren Mitteilungen. Seine Hände zitterten, als er in den Zeitungen blätterte vor krampfhafter Ungeduld. Plötzlich setzte sich jemand neben ihn, an seinen Tisch. Er blickte auf: es war Samjotow, der gleiche Samjotow, im gleichen Aufzuge, mit den Ringen und Uhrketten, mit dem Scheitel im schwarzen, gekräuselten pomadisierten Haar, in einer eleganten Weste und in einem etwas schäbigen Rocke und nicht ganz sauberer Wäsche. Er war sehr heiter, jedenfalls lächelte er sehr lustig und gutmütig. Sein gebräuntes Gesicht war von dem getrunkenen Champagner etwas gerötet.
»Wie! Sie sind hier?« begann er erstaunt und in einem Ton, als wäre er mit Raskolnikow Gott weiß wie lange bekannt. »Rasumichin hat mir aber erst gestern erzählt, daß Sie immer noch bewußtlos seien. Wie merkwürdig! Ich war doch bei Ihnen ...«
Raskolnikow hatte gewußt, daß er sich zu ihm heransetzen würde. Er legte die Zeitungen weg und wandte sich zu Samjotow. Auf seinen Lippen spielte ein spöttisches Lächeln, und aus diesem Lächeln sprach eine neue Reizbarkeit und Ungeduld.
»Ich weiß es, daß Sie bei mir waren,« antwortete er, »ich habe es gehört. Sie haben den Strumpf gesucht ... Wissen Sie, Rasumichin ist ganz bezaubert von Ihnen, er sagt, Sie seien mit ihm bei der Lawisa Iwanowna gewesen, bei derselben, um die Sie sich damals so sehr bemühten und dem Leutnant Pulver zuzwinkerten; er begriff aber immer nicht, erinnern Sie sich noch? Was gab es da nicht zu verstehen, eine klare Sache ... nicht wahr?«
»Was ist er doch für ein Radaumacher!«
»Pulver?«
»Nein, Ihr Freund Rasumichin ...«
»Ein schönes Leben haben Sie, Herr Samjotow; die angenehmsten Orte dürfen Sie gratis besuchen! Wer hat Sie soeben mit Champagner bewirtet?«
»Wir haben ... ein wenig getrunken ... Niemand hat mich bewirtet!«
»Ein Honorar! Sie genießen!« Raskolnikow lachte. »Macht nichts, guter Junge, macht nichts!« fügte er hinzu und klopfte Samjotow auf die Schulter. »Ich sage es ja nicht aus Feindschaft, sondern ›aus Freundschaft, im Spiele‹, wie Ihr Arbeiter sagte, als er den Mitrej puffte, wissen Sie, in der Sache der Alten.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß vielleicht mehr als Sie.«
»Sie sind so sonderbar ... Wahrscheinlich sind Sie noch krank. Das war dumm, daß Sie ausgegangen sind.«
»Komme ich Ihnen sonderbar vor?«
»Ja. Was lesen Sie da, Zeitungen?«
»Ja, Zeitungen.«
»Man schreibt viel von den Feuersbrünsten.«
»Nein, ich lese nicht von den Feuersbrünsten.« Er blickte Samjotow rätselhaft an; ein spöttisches Lächeln verzerrte wieder seine Lippen. »Nein, ich lese nicht von den Feuersbrünsten«, fuhr er fort, Samjotow zublinzelnd. »Gestehen Sie doch, lieber Junge, daß Sie furchtbar gerne wissen möchten, was ich gelesen habe?«
»Das möchte ich gar nicht; ich habe nur so gefragt. Darf man denn nicht fragen? Warum sind Sie immer gleich so ...«
»Hören Sie, Sie sind doch ein gebildeter Mensch mit literarischen Interessen, nicht wahr?«
»Ich habe sechs Gymnasialklassen absolviert«, antwortete Samjotow mit einiger Würde.
»Sechs Klassen! Ach du mein kleiner Spatz! Mit einem Scheitel und mit Ringen, ein reicher Mann! Gott, was für ein lieber Junge!«
Raskolnikow lachte nervös Samjotow direkt ins Gesicht. Jener rückte weg, weniger gekränkt als erstaunt.
»Gott, wie sonderbar Sie sind!« wiederholte Samjotow sehr ernst. »Mir scheint, daß Sie noch immer phantasieren.«
»Ich phantasiere? Unsinn, kleiner Spatz! ... Ich bin also sonderbar? Erscheine ich Ihnen interessant? Interessant?«
»Ja, Sie sind wohl interessant.«
»Soll ich Ihnen sagen, was ich gelesen, was ich gesucht habe? So viele Nummern habe ich mir doch bringen lassen! Das ist ja verdächtig, wie?«
»Nun, sagen Sie es.«
»Sie spitzen die Ohren, was?«
»Was für Ohren?«
»Das werde ich Ihnen später sagen, was für Ohren, aber jetzt mein Lieber, erkläre ich Ihnen ... oder besser: ›ich gestehe‹ ... Nein, das ist nicht das Richtige! ›Ich sage aus, und Sie nehmen es zu Protokoll,‹ – ja, so! Also ich sage aus, daß ich gelesen, mich interessiert, gesucht ... nachgeforscht habe ...« Raskolnikow kniff die Augen zusammen und hielt inne. »Nachgeforscht habe und eigens dazu hergekommen bin – das von der Ermordung der alten Beamtenwitwe«, sagte er schließlich fast im Flüstertone, indem sein Gesicht das des Samjotow beinahe berührte. Samjotow sah ihn unverwandt an, ohne sich zu regen und ohne sein Gesicht von dem seinigen zurückzuziehen. Am sonderbarsten erschien später Samjotow, daß dieses Schweigen eine volle Minute gedauert und daß sie sich eine volle Minute angestarrt hatten.
»Nun, was ist denn dabei, daß Sie es gelesen haben?« rief er plötzlich ganz verwirrt und ungeduldig aus. »Was geht mich das an? Was ist denn dabei?«
»Es ist dieselbe Alte,« fuhr Raskolnikow im gleichen Flüstertone und ohne sich beim Ausrufe Samjotows zu rühren fort: »Dieselbe, von der man, Sie erinnern sich doch noch, im Polizeibureau zu sprechen anfing, worauf ich in Ohnmacht fiel. Nun, verstehen Sie jetzt?«
»Was denn? Was ›verstehen Sie‹?« sagte Samjotow fast unruhig.
Das unbewegliche und ernste Gesicht Raskolnikows veränderte sich in einem Augenblick, und plötzlich brach er wieder in das gleiche nervöse Lachen wie vorhin aus, als könnte er sich gar nicht beherrschen. Und augenblicklich erinnerte er sich in außerordentlicher Klarheit jenes Moments, als er hinter der Tür stand, mit dem Beil in der Hand, als der Riegel hüpfte, die anderen hinter der Tür standen und schimpften und die Tür aufbrechen wollten, er aber plötzlich Lust spürte, sie anzuschreien, zu beschimpfen, ihnen die Zunge zu zeigen und zu lachen, zu lachen, zu lachen!
»Sie sind entweder verrückt, oder ...« begann Samjotow und hielt inne, wie erschüttert durch den Gedanken, der ihm plötzlich in den Sinn gekommen war.
»Oder? Was ›oder‹? Nun, was? Sagen Sie es doch!«
»Nichts!« antwortete Samjotow erbost. »Unsinn!«
Beide verstummten. Nach dem plötzlichen Lachkrampfe wurde Raskolnikow nachdenklich und traurig. Er legte die Ellenbogen auf den Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Er schien Samjotow ganz vergessen zu haben. Das Schweigen dauerte recht lange.
»Warum trinken Sie Ihren Tee nicht? Er wird kalt«, sagte Samjotow.
»Ah? Was? Tee? ... Meinetwegen ...« Raskolnikow nahm einen Schluck aus dem Glase, steckte ein Stückchen Brot in den Mund, blickte Samjotow an und schien sich plötzlich an alles zu erinnern, als hätte er einen Rausch von sich abgeschüttelt: sein Gesicht nahm sofort den früheren spöttischen Ausdruck an. Er fuhr fort, Tee zu trinken.
»Heutzutage gibt es viele solche Gaunereien«, sagte Samjotow. »Neulich las ich in den ›Moskauer Nachrichten‹, daß man in Moskau eine ganze Bande von Falschmünzern erwischt hat. Es war eine Gesellschaft. Sie haben Scheine gefälscht.«
»Ach, das ist schon lange her! Ich habe es schon vor einem Monat gelesen,« antwortete Raskolnikow ruhig. »Es sind also Ihrer Ansicht nach Gauner?« fügte er lächelnd hinzu.
»Vielleicht keine Gauner?«
»Diese? Sie sind Kinder, Grünschnäbel, aber keine Gauner! Ein halbes Hundert Menschen tut sich zu diesem Zweck zusammen! Geht denn das? Es wären auch drei zuviel, und selbst wenn jeder dem andern mehr als sich selbst vertraute! Es braucht sich bloß einer im Rausche zu verschnappen, und alles ist verloren! Grünschnäbel! Sie schicken unzuverlässige Menschen in die Bankkontors zum Wechseln der Banknoten: wie kann man nur so eine Sache dem ersten besten anvertrauen? Und nehmen wir an, daß es den Grünschnäbeln geglückt ist, nehmen wir an, daß ein jeder für eine Million Banknoten eingewechselt hat; nun, und weiter? Das ganze Leben lang? Ein jeder hängt dann sein ganzes Leben lang vom andern ab! Es ist schon besser, sich zu erhängen! Sie verstanden aber nicht mal, einzuwechseln: einer kam ins Kontor zum Wechseln, und als er die ersten Fünftausend bekommen hatte, zitterten ihm die Hände. Die ersten vier zählte er nach, aber das fünfte Tausend nahm er ohne zu zählen, auf gut Glauben an, um es schneller in die Tasche zu stecken und sich aus dem Staube zu machen. Und so erregte er Verdacht. So platzte alles wie eine Seifenblase wegen eines einzigen Dummkopfes. Ist das nur möglich?«
»Daß ihm die Hände zitterten?« fiel ihm Samjotow ins Wort. »Gewiß ist das möglich. Ich bin vollkommen davon überzeugt, daß es möglich ist. Zuweilen hält man es nicht aus.«
»So etwas?«
»Halten Sie es vielleicht aus? Nein, ich könnte es nicht aushalten! Für hundert Rubel Belohnung sich diesem Schrecken auszusetzen! Mit einer falschen Banknote hingehen – und wohin? in ein Bankkontor, wo sie Spezialisten sind, – nein, ich würde mich nicht beherrschen können. Würden Sie sich etwa beherrschen können?«
Raskolnikow hatte wieder furchtbar Lust, »die Zunge zu zeigen«. Ein kalter Schauer überlief hin und wieder seinen Rücken.
»Ich hätte es anders gemacht«, fing er etwas weitläufig an. »Ich würde so wechseln: ich zähle das erste Tausend an die viermal von beiden Enden nach, sehe mir jeden Schein genau an und mache mich dann an das zweite Tausend; ich fange an, es zu zählen, und hole etwa bei der Mitte einen Fünfzigrubelschein heraus, halte ihn gegens Licht und sehe ihn genau von allen Seiten an, ob er nicht falsch ist. ›Ich habe Angst‹, sage ich: ›Eine Verwandte von mir hat auf diese Weise einen Schaden von fünfundzwanzig Rubeln gehabt‹; und ich erzähle eine ganze Geschichte. Und wie ich das dritte Tausend zähle, – nein, erlauben Sie: ich habe, glaub ich, dort im zweiten Tausend das siebente Hundert falsch gezählt, ich habe Zweifel. Und ich lege das dritte Tausend weg und mache mich wieder an das zweite; und so bei allen fünf Tausend. Und wie ich fertig bin, hole ich aus dem zweiten und aus dem fünften Tausend je einen Schein heraus, halte ihn wieder gegens Licht und sage zweifelnd: ›Tauschen Sie ihn mir bitte um!‹ In den siebenten Schweiß treibe ich den Kontoristen, so daß er nicht mehr weiß, wie mich loszuwerden! Und wie ich mit allem fertig bin, gehe ich weg, mache schon die Tür auf, – aber nein; Sie entschuldigen, ich komme wieder zurück, um etwas zu fragen, um eine Auskunft zu holen. – So hätte ich es gemacht!«
»Ach, was Sie für schreckliche Sachen sagen!« erwiderte Samjotow lachend. »Das sind aber nur Worte, in, der Tat würden Sie sicher stolpern. Bei so einer Sache, sage ich Ihnen, können nicht nur wir beide, kann auch ein geriebener, tolldreister Mensch für sich nicht einstehen. Wozu weit suchen, da haben Sie ein Beispiel: in unserm Revier hat man eine Alte ermordet. Man müßte meinen, ein Tollkopf hat es am hellichten Tage riskiert, ist nur durch ein Wunder entkommen, und doch zitterten ihm die Hände: hat nicht zu stehlen verstanden, hat es nicht ausgehalten; man sieht es an allem ...«
Raskolnikow schien beleidigt.
»Man sieht es! Aber gehen Sie mal hin und fangen Sie ihn!« rief er aus, Samjotow schadenfroh neckend.
»Nun, man wird ihn schon fangen.«
»Wer? Sie? Sie werden ihn fangen! Da werden Sie lange springen müssen! Die Hauptsache ist doch bei Ihnen, ob der Mensch Geld ausgibt oder nicht? Früher hat er kein Geld gehabt, und plötzlich gibt er welches aus. – Wie sollte er nicht der Mörder sein? So führt Sie aber jedes Kind hinters Licht, wenn es nur will!«
»Das ist es eben, daß sie alle so tun«, antwortete Samjotow. »Den Mord führt er schlau aus und setzt sein Leben aufs Spiel, läßt sich aber dann in einer Schenke erwischen. Beim Geldausgeben werden sie immer erwischt. Nicht alle sind doch so schlau wie Sie. Sie würden natürlich nicht in die Schenke gehen.«
Raskolnikow runzelte die Brauen und blickte Samjotow durchdringend an.
»Sie haben wohl Appetit bekommen und möchten gerne wissen, wie ich in einem solchen Falle handeln würde?« fragte er mürrisch.
»Das möchte ich wohl«, antwortete jener fest und ernst.
Er blickte und sprach auf einmal gar zu ernst.
»Sehr?«
»Sehr.«
»Gut. Ich würde es so machen«, begann Raskolnikow, indem er sein Gesicht plötzlich wieder dem des Samjotow näherte, ihn wieder durchdringend anblickte und wieder im Flüstertone sprach, so daß jener diesmal zusammenfuhr. »Ich würde es so machen: ich würde das Geld und die Sachen nehmen und direkt von dort, ohne irgendwo einzukehren, irgendwohin weit weggehen, an einen entlegenen Ort, wo lauter Zäune sind und wo fast kein Mensch vorbeigeht, – in einen Gemüsegarten oder dergleichen. Schon vorher würde ich mir auf so einem Hofe irgendeinen Stein, so einen oder anderthalb Pud schwer, der da vielleicht schon seit der Erbauung des Hauses irgendwo in einer Ecke oder am Zaune liegt, aussuchen; ich würde den Stein aufheben, – unter ihm muß eine kleine Vertiefung sein – und in diese Vertiefung alle Sachen und das Geld hineinlegen. Ich würde alles hineinlegen, den Stein dann wieder darauf wälzen, wie er früher gelegen hat, mit dem Fuße festdrücken und fortgehen. Ein ganzes Jahr, zwei Jahre würde ich die Sachen nicht anrühren, drei Jahre würde ich sie nicht anrühren, – da soll mich einer finden! Er war da und ist nicht mehr!«
»Sie sind verrückt«, sagte Samjotow, er wußte selbst nicht warum, auch im Flüstertone und rückte von Raskolnikow weg.
Raskolnikows Augen brannten; er war furchtbar blaß geworden; seine Oberlippe zuckte und begann zu hüpfen. Er beugte sich zu Samjotow so nahe als möglich vor und begann die Lippen zu bewegen, ohne etwas zu sagen; das dauerte eine halbe Minute; er wußte wohl, was er tat, konnte sich aber nicht beherrschen. Das schreckliche Wort sprang wie der Türriegel damals, auf seinen Lippen: gleich wird es sich losreißen; er braucht es nur loszulassen, braucht es nur zu sprechen!
»Wie, wenn ich die Alte und die Lisaweta ermordet habe?« sagte er plötzlich und – kam zu sich.
Samjotow blickte ihn wild an und wurde so weiß wie das Tischtuch. Sein Gesicht wurde von einem Lächeln verzerrt.
»Ist es denn möglich?« sagte er kaum hörbar.
Raskolnikow blickte ihn boshaft an.
»Gestehen Sie doch, daß Sie es geglaubt haben!« sagte er endlich kalt und spöttisch. »Ja? Doch – ja?«
»Durchaus nicht! Jetzt glaube ich es weniger als je!« antwortete Samjotow hastig.
»Nun haben Sie sich verschnappt! Man hat den kleinen Spatz gefangen. Sie haben es also vorher geglaubt, wenn Sie ›es jetzt weniger als je‹ glauben?«
»Nein, wirklich nicht!« rief Samjotow sichtlich verlegen. »Sie haben mir solche Angst gemacht, um mich darauf zu bringen!«
»Sie glauben es also nicht? Worüber haben Sie aber damals in meiner Abwesenheit gesprochen, als ich aus dem Bureau gegangen war? Warum hat mich Leutnant Pulver nach dem Ohnmachtsanfall vernommen? He, du!« rief er dem Kellner zu, aufstehend und seine Mütze ergreifend. »Was habe ich zu bezahlen?«
»Dreißig Kopeken im ganzen«, antwortete jener herbeieilend.
»Da hast du noch zwanzig Kopeken Trinkgeld. Das viele Geld!« wandte er sich an Samjotow und hielt ihm seine zitternde Hand mit den Banknoten hin: »Rote, blaue Scheine, fünfundzwanzig Rubel. Woher habe ich die? Und woher die neue Kleidung? Sie wissen doch, daß ich keine Kopeke hatte ... Meine Wirtin haben Sie doch schon sicher vernommen ... Nun genug! Assez causé! Auf Wiedersehen, auf angenehmes Wiedersehen! ...«
Er ging hinaus, am ganzen Leibe von einer wilden hysterischen Empfindung zitternd, in der aber auch etwas von einer unerträglichen Wollust lag, – übrigens finster und furchtbar müde. Seine Züge waren verzerrt wie nach einem Anfall. Seine Müdigkeit nahm rasch zu. Seine Kräfte erwachten, sie meldeten sich jetzt beim ersten Anstoß, beim ersten Reize, um dann ebenso schnell abzunehmen, in dem Maße, wie der Reiz abnahm.
Aber Samjotow saß, nachdem er allein geblieben war, lange nachdenklich auf dem gleichen Platz. Raskolnikow hatte ganz unerwartet seine Gedanken in dem bewußten Punkte umgestoßen, und er bildete sich nun seine endgültige Ansicht.
»Ilja Petrowitsch ist ein Narr!« stellte er endgültig fest.
Kaum hatte Raskolnikow die Tür zur Straße geöffnet, als er plötzlich auf der Schwelle mit dem eintretenden Rasumichin zusammenstieß. Sie hatten einander selbst vor einem Schritt noch nicht gesehen, so daß sie jetzt beinahe mit den Köpfen zusammenprallten. Eine Weile maßen sie sich mit den Blicken. Rasumichin war aufs höchste erstaunt, aber plötzlich flammte in seinen Augen Zorn, echter Zorn drohend auf.
»Hier bist du also!« schrie er aus vollem Halse. »Du bist aus dem Bette entlaufen! Ich habe ihn aber schon unter dem Sofa gesucht! Auf dem Dachboden haben wir nachgeschaut! Nastasja habe ich deinetwegen beinahe verprügelt ... Und er steckt hier! Rodjka! Was soll das bedeuten? Sag die Wahrheit? Gestehe! Hörst du!«
»Das soll bedeuten, daß ihr mich alle tödlich langweilt und daß ich allein sein will«, antwortete Raskolnikow ruhig.
»Allein sein? Wo du noch kaum gehen kannst, wo deine Visage weiß wie Leinwand ist und du so schwer keuchst. Dummkopf! Was hast du im ›Kristallpalast‹ gemacht? Gestehe sofort!«
»Laß mich!« sagte Raskolnikow und wollte an ihm vorbeigehen.
Das brachte Rasumichin ganz aus der Fassung; er packte ihn fest an der Schulter.
»Laß mich! Du wagst nach allem, was du getan hast, zu sagen ›laß mich?‹ Weißt du denn auch, was ich mit dir gleich tun werde? Ich packe dich, binde dich zu einem Knoten zusammen, trage dich unter dem Arm nach Hause und sperre dich ein!«
»Hör mal, Rasumichin,« fing Raskolnikow leise und anscheinend ganz ruhig an, »siehst du denn nicht, daß ich deine Wohltaten nicht will? Und was ist das für ein Vergnügen, einem Wohltaten zu erweisen, der ... darauf spuckt? Einem, schließlich, der es wirklich nicht ertragen kann? Sag, wozu hast du mich gleich bei Beginn meiner Krankheit aufgesucht? Vielleicht wäre ich froh, zu sterben! Habe ich dir denn heute wenig gezeigt, daß du mich quälst, daß ich dich satt habe! Was ist es für ein Vergnügen, einen Menschen so zu quälen! Ich versichere dir, daß dies alles meiner Genesung ernstlich im Wege steht, weil es mich unaufhörlich aufregt. Sossimow ist doch vorhin weggegangen, um mich nicht aufzuregen! Laß mich doch um Gottes willen in Ruhe! Und was hast du schließlich für ein Recht, mich mit Gewalt zurückzuhalten? Siehst du denn jetzt nicht, daß ich bei vollem Verstande spreche? Womit, belehre mich doch, womit soll ich dich endlich erweichen, daß du mich mit deinen Wohltaten in Ruhe läßt? Mag ich undankbar sein, mag ich gemein sein, aber laßt doch um Gottes willen von mir ab ... Laßt mich in Ruhe! Laßt mich in Ruhe!«
Er hatte ganz ruhig angefangen und sich im voraus über das ganze Gift gefreut, das er ergießen wollte, endete aber keuchend vor Raserei, wie vorhin, als er Luschin vor sich hatte.
Rasumichin stand eine Weile da, überlegte und ließ seine Hand los.
»Scher dich zum Teufel!« sagte er leise, beinahe nachdenklich. »Halt!« schrie er plötzlich, als Raskolnikow sich vom Platze rührte. »Hör, was ich dir sage. Ich erkläre dir, daß ihr alle ohne Ausnahme Schwätzer und Aufschneider seid! Wenn Ihr mal einen kleinen Schmerz habt, macht ihr so viel Aufhebens wie die Henne mit dem Ei! Und dabei plagiiert ihr fremde Autoren. Ihr habt keine Spur von einem selbständigen Leben! Aus Spermacetsalbe seid ihr alle gemacht und habt statt Blut – Molke! Keinem von euch glaube ich! Eure erste Sorge unter allen Umständen ist, möglichst wenig einem Menschen zu gleichen! Ha-alt!« rief er mit doppelter Wut, als er merkte, daß Raskolnikow wieder Anstalten machte, wegzugehen. »Hör mich zu Ende! Du weißt, heute kommen Leute zu mir, um mit mir meine neue Wohnung einzuweihen; vielleicht sind sie schon gekommen, aber ich habe dort meinen Onkel zurückgelassen – ich war eben auf einen Sprung dort –, um die Gäste zu empfangen. Wenn du also kein Dummkopf wärest, kein gemeiner Dummkopf, kein Idiot, keine Übersetzung aus dem Ausländischen ... siehst du, Rodja, ich gebe zu, du bist ein gescheiter Bursche, aber ein Dummkopf! – wenn du also kein Dummkopf wärest, so würdest du heute abend lieber zu mir kommen und bei mir ein Stündchen verbringen, als dir die Sohlen ablaufen. Wenn du schon mal ausgegangen bist, so ist nichts zu machen! Ich würde dir so einen weichen Sessel heranrollen, die Wirtsleute haben einen ... Tee und Gesellschaft ... Und wenn es dir nicht paßt, so lege ich dich aufs Sofa hin, – dann liegst du immerhin unter uns ... Auch Sossimow kommt. Wirst du kommen?«
»Nein.«
»Unsinn!« rief Rasumichin ungeduldig aus. »Woher weißt du das? Du kannst für dich nicht garantieren! Gar nichts verstehst du davon ... Tausendmal habe ich mich mit Menschen ebenso verzankt und bin doch immer wieder zu ihnen zurückgekehrt ... Man schämt sich und kehrt zum Menschen zurück! Merk es dir also: Haus Potschinkow, zweiter Stock ...«
»Dann werden Sie, Herr Rasumichin, vielleicht auch jemand gestatten, Sie zu schlagen, nur um jenem die Wohltat zu erweisen?!«
»Wen? Mich! Schon für den bloßen Einfall schraube ich einem die Nase ab! Haus Potschinkow, Nr. 47, Wohnung des Beamten Babuschkin ...«
»Ich komme nicht, Rasumichin!« Raskolnikow wandte sich um und ging.
»Ich wette, daß du kommst!« schrie ihm Rasumichin nach. »Sonst bist du ... sonst will ich von dir nichts mehr wissen! Halt, hallo! Ist Samjotow hier?«
»Ja.«
»Hast ihn gesehen?«
»Ja.«
»Und gesprochen?«
»Ja.«
»Worüber? Nun, hol dich der Teufel, kannst es mir auch nicht sagen. Haus Potschinkow, 47, bei Babuschkin, merk es dir.«
Raskolnikow ging bis zur Ssadowaja und bog um die Ecke. Rasumichin sah ihm nachdenklich nach. Endlich fuhr er mit der Hand durch die Luft und trat ins Haus, blieb aber auf der Mitte der Treppe stehen.
»Hol der Teufel!« fuhr er fort, beinahe laut. »Er spricht vernünftig, und doch macht er den Eindruck ... Ich bin aber auch ein Dummkopf! Sprechen denn nicht auch die Verrückten vernünftig? Sossimow scheint aber gerade das zu befürchten!« Er schlug sich mit dem Finger an die Stirne. »Nun, und wenn ... wie kann man ihn jetzt nur allein gehen lassen? Er wird sich noch ertränken ... Ach, ich habe mich blamiert! Das geht nicht!« Und er lief zurück, um Raskolnikow einzuholen, jener war aber schon verschwunden.
Er spuckte aus und ging mit raschen Schritten wieder in den »Kristallpalast« zurück, um möglichst schnell Samjotow auszufragen.
Raskolnikow ging direkt auf die *sche Brücke, blieb in der Mitte am Geländer stehen, stützte darauf beide Ellenbogen und fing an, in die Ferne zu schauen. Nach dem Abschied von Rasumichin war er auf einmal so schwach geworden, daß er sich nur mit Mühe hatte hierherschleppen können. Er wollte sich auf der Straße irgendwo hinsetzen oder hinlegen. Über das Wasser gebeugt, blickte er mechanisch auf den letzten rosigen Widerschein des Abendrots, auf die Reihe der Häuser, die in der sich verdichtenden Dämmerung dunkel dastanden, auf ein fernes Fenster an irgendeiner Mansarde auf dem linken Kai, das, für einen Augenblick von einem letzten Sonnenstrahl getroffen, wie Feuer erglänzte, auf das dunkelnde Wasser des Kanals, und er bohrte seinen Blick in dieses Wasser. Schließlich drehten sich vor seinen Augen rote Kreise, die Häuser schwankten, die Menschen, die Kais, die Equipagen – alles um ihn herum wirbelte und tanzte. Plötzlich fuhr er zusammen, durch ein wildes häßliches Gesicht vielleicht vor einem neuen Ohnmachtsanfall bewahrt. Er fühlte, wie sich jemand rechts neben ihn stellte; er blickte hin und sah eine großgewachsene Frau, mit einem Tuche um den Kopf, mit einem gelben, länglichen, abgelebten Gesicht und roten eingefallenen Augen. Sie blickte gerade auf ihn, sah und unterschied aber offenbar nichts. Plötzlich stützte sie sich mit der rechten Hand auf das Geländer, hob das rechte Bein, schwang es über das Gitter, dann das linke und stürzte sich in den Kanal. Das schmutzige Wasser öffnete den Schlund und verschlang für einen Augenblick sein Opfer, doch nach einer Minute tauchte die Selbstmörderin wieder auf und trieb langsam mit der Strömung, den Kopf und die Füße im Wasser, den Rücken nach oben; der Rock war hinaufgerutscht und ragte, zu einem Kissen angeschwollen, über dem Wasser.
»Sie hat sich ertränkt! Ertränkt!« riefen Dutzende von Stimmen; die Leute liefen zusammen, beide Ufer bedeckten sich mit Zuschauern, auf der Brücke um Raskolnikow herum drängte sich das Volk und drückte ihn von rückwärts ans Geländer.
»Väterchen, das ist ja unsere Afrossinjuschka!« ertönte irgendwo in der Nähe eine jammernde Frauenstimme ... »Väterchen, rettet! Liebe Menschen, zieht sie heraus!«
»Ein Boot! Ein Boot!« schrie man in der Menge.
Das Boot war aber schon unnötig: ein Schutzmann war die zum Kanal führenden Stufen hinuntergelaufen, hatte Mantel und Stiefel ausgezogen und sich ins Wasser gestürzt. Er hatte nicht viel zu arbeiten: die Selbstmörderin trieb etwa zwei Schritte von der Treppe vorbei; er packte mit der einen Hand ihre Kleider und mit der anderen eine Stange, die ihm ein Kamerad hinhielt, und die Selbstmörderin war im Nu herausgefischt. Man legte sie auf die Granitplatten des Ufers. Sie kam bald zu sich, setzte sich auf und begann zu niesen und zu prusten, während sie sich mit den Händen wie geistesabwesend ihr nasses Kleid abwischte. Sie sagte nichts.
»Sie hat sich vollgesoffen, bis sie weiße Mäuse sah, Väterchen, weiße Mäuse!« jammerte die gleiche Frauenstimme, schon dicht neben Afrossinjuschka. »Neulich wollte sie sich erhängen, da nahm man sie aus der Schlinge. Ich ging eben zum Krämer, ließ mein Mädel bei ihr zurück zum Aufpassen, und da ist schon das Unglück geschehen! Eine Kleinbürgerin ist sie, Väterchen, eine Kleinbürgerin, gleich in der Nähe wohnen wir, im zweiten Haus von der Ecke, hier gleich ...«
Die Menge zerstreute sich, die Polizisten machten sich noch bei der Selbstmörderin zu schaffen, jemand rief etwas vom Polizeibureau ... Raskolnikow betrachtete alles mit seltsamer Gleichgültigkeit und Teilnahmlosigkeit. Er spürte Ekel. »Nein, es ist ekelhaft ... Wasser ... es lohnt sich nicht«, murmelte er vor sich hin. »Es wird nichts werden,« fügte er hinzu, »es hat keinen Sinn, zu warten. Was ist mit dem Polizeibureau ... Warum ist Samjotow nicht im Bureau? Das Bureau ist doch um zehn Uhr offen ...« Er wandte sich mit dem Rücken zum Geländer und sah sich um.
»Nun, warum auch nicht! Man kann's auch so!« sagte er entschlossen. Er verließ die Brücke und ging in die Richtung nach dem Polizeibureau. In seinem Herzen war es leer und öde. Er wollte an nichts denken. Auch sein ganzer Gram war verschwunden, auch von der früheren Energie, als er von zu Hause fortging, um »allem ein Ende zu machen«, war keine Spur geblieben! An ihre Stelle war volle Apathie getreten.
»Nun, auch das ist ein Ausweg!« dachte er sich, während er langsam und träge am Kanalkai ging. »Ich werde dem doch ein Ende machen, weil ich es so will ... Ist es aber auch ein Ausweg? Ist ja ganz gleich! Den Arschin Raum werde ich doch noch haben, ja! Was ist das aber für ein Ende! Ist es denn das Ende? Werde ich es ihnen sagen oder nicht? Ach ... Teufel! Ich bin auch müde, wenn ich mich nur schnell irgendwo hinlegen oder hinsetzen könnte! Das Beschämendste ist, daß es so dumm ist. Aber ich spucke auch darauf! Pfui, was für Dummheiten einem manchmal in den Sinn kommen! ...«
Um ins Polizeibureau zu kommen, mußte man immer geradeaus gehen und bei der zweiten Ecke nach links einschwenken: es waren nur wenige Schritte. Aber er blieb schon an der ersten Ecke stehen, dachte eine Weile nach, bog in die Seitengasse ein und machte so einen Umweg von zwei Straßen, – vielleicht machte er es ohne jede Absicht, vielleicht aber auch, um es noch eine Weile hinzuziehen und Zeit zu gewinnen. Er ging und blickte zu Boden. Plötzlich war es ihm, als hätte ihm jemand etwas ins Ohr geraunt. Er hob den Kopf und merkte, daß er an jenem Hause, dicht vor dem Toreingange stand. Seit jenem Abend war er hier weder gewesen noch vorbeigegangen.
Ein unwiderstehliches und unerklärliches Verlangen zog ihn hin. Er trat ein, durchschritt den ganzen Torweg, bog in den ersten Eingang nach rechts ein und fing an, die bekannte Treppe in das dritte Stockwerk hinaufzusteigen. Auf der engen und steilen Treppe war es sehr finster. Er blieb auf jedem Absatze stehen und sah sich neugierig um. Auf dem ersten Treppenabsatze war ein Fensterrahmen ganz herausgenommen. »Das war damals nicht«, sagte er sich. Da ist auch die Wohnung im ersten Stock, wo damals die zwei Anstreicher gearbeitet haben. »Zugeschlossen; die Tür ist neu gestrichen; also ist die Wohnung zu vermieten.« Da ist schon das zweite Stockwerk ... das dritte ... »Hier ist es!« Da überkamen ihn Zweifel: die Tür zu dieser Wohnung stand weit offen, es waren Menschen darin, man hörte Stimmen; das hatte er keineswegs erwartet. Nach kurzem Schwanken ging er die letzten Stufen hinauf und trat in die Wohnung ein.
Auch diese Wohnung wurde neu hergerichtet, und es waren Arbeiter da; dies versetzte ihn wohl in Erstaunen. Aus irgendeinem Grunde hatte er geglaubt, daß er hier alles genau in dem gleichen Zustande antreffen würde, wie er es damals zurückgelassen hatte; vielleicht sogar die Leichen auf denselben Stellen auf dem Boden. Jetzt aber: kahle Wände, keine Möbel; es war so seltsam! Er ging zum Fenster und setzte sich aufs Fensterbrett.
Es waren in dem Raume zwei Arbeiter, beide junge Burschen: der eine älter, der andere viel jünger. Sie beklebten die Wände mit neuen Tapeten, weiß mit lila Blümchen, an Stelle der früheren gelben, zerrissenen und abgewetzten. Auf Raskolnikow machte das, er wußte selbst nicht warum, einen unangenehmen Eindruck; er blickte diese neuen Tapeten feindselig an, als täte es ihm leid, daß man alles verändert hatte.
Die Arbeiter hatten sich anscheinend verspätet. Jetzt rollten sie das Papier schnell zusammen und wollten wohl aufbrechen. Das Erscheinen Raskolnikows erregte ihre Aufmerksamkeit fast gar nicht. Sie unterhielten sich über etwas. Raskolnikow kreuzte die Arme und begann zuzuhören.
»Kommt also jene des Morgens zu mir«, erzählte der Altere dem Jüngeren, »in aller Frühe, schön ausgeputzt. ›Was scharwenzelst du so vor mir‹, sage ich ihr, ›was tust du so schön?‹ – ›Ich will‹, sagte sie, ›Tit Wassiljitsch, Ihnen ganz angehören!‹ Ja, siehst du, so ist es! Und ausgeputzt war sie – das reinste Journal!«
»Was ist das: ›Journal‹, Onkelchen?« fragte der Jüngere.
Offenbar ließ er sich vom »Onkelchen« belehren.
»Ein Journal, Bruder, das sind solche bemalte Bildchen, und die kommen an die hiesigen Schneider jeden Sonnabend mit der Post aus dem Auslande, um zu zeigen, wie sich jedermann, das männliche Geschlecht und das weibliche, zu kleiden hat. So eine Zeichnung also. Das männliche Geschlecht wird meistens in Pekeschen dargestellt, und was das weibliche Geschlecht betrifft, so sind da solche Souffleurs, daß einem das Wasser im Munde zusammenläuft.«
»Was es in diesem Petersburg nicht alles gibt!« rief der Jüngere begeistert. »Außer Vater und Mutter gibt es hier alles!«
»Ja, außer ihnen findest du hier alles«, bestätigte der Ältere belehrend.
Raskolnikow stand auf und ging ins andere Zimmer, wo die Truhe, die Betten und die Kommode gestanden hatten; das Zimmer erschien ihm jetzt ohne die Möbel furchtbar klein. Die Tapeten waren noch dieselben; in der Ecke war auf der Tapete deutlich die Stelle zu sehen, wo der Schrein mit dem Heiligenbilde gestanden hatte. Er sah sich alles an und kehrte zu seinem Fenster zurück. Der ältere Arbeiter schielte nach ihm.
»Was wünschen Sie?« fragte er plötzlich, sich an ihn wendend.
Statt eine Antwort zu geben, stand Raskolnikow auf, ging auf die Treppe hinaus, ergriff den Glockenzug und zog daran. Die gleiche Klingel, der gleiche blecherne Ton! Er zog noch einmal und ein drittes Mal. Er lauschte und besann sich. Die frühere quälende, furchtbare, häßliche Empfindung kam ihm immer greller und lebhafter in Erinnerung, er zuckte bei jedem Tone zusammen, und es wurde ihm immer wohler und wohler ums Herz.
»Was willst du denn? Wer bist du?« rief der Arbeiter, zu ihm hinausgehend.
Raskolnikow trat wieder in die Tür.
»Ich will die Wohnung mieten«, sagte er. »Ich sehe sie mir an.«
»Nachts mietet man keine Wohnungen; außerdem müßten Sie mit dem Hausknecht kommen.«
»Der Fußboden ist gewaschen. Wird man ihn neu streichen?« fuhr Raskolnikow fort. »Ist kein Blut da?«
»Was für ein Blut?«
»Hier hat man doch die Alte und ihre Schwester ermordet. Hier war eine ganze Pfütze.«
»Was bist du denn für ein Mensch?« rief der Arbeiter unruhig.
»Ich?«
»Ja.«
»Du willst es wohl wissen? ... Komm mit aufs Polizeibureau, dort werde ich es sagen.«
Die Arbeiter sahen ihn erstaunt an.
»Wir müssen gehen, wir haben uns verspätet. Komm, Aljoschka. Wir müssen schließen«, sagte der ältere Arbeiter.
»Gut, wollen wir gehen!« erwiderte Raskolnikow gleichgültig und ging voraus, langsam die Treppe hinabsteigend. »He, Hausknecht!« rief er, als er in den Torweg trat.
Vor dem Hauseingange auf der Straße standen einige Menschen, die sich die Vorübergehenden ansahen, es waren die beiden Hausknechte, ein Weib, ein Kleinbürger in einem Hausrock und noch jemand. Raskolnikow ging gerade auf sie zu.
»Was wollen Sie?« fragte einer der Hausknechte.
»Bist da im Polizeibureau gewesen?«
»Ja, soeben. Was wünschen Sie?«
»Sitzen die Beamten noch dort?«
»Ja, sie sitzen noch.«
»Ist auch der Gehilfe da?«
»Ja, er war eine Zeitlang da. Was wollen Sie?«
Raskolnikow gab keine Antwort und blieb neben ihnen nachdenklich stehen.
»Er wollte sich die Wohnung ansehen«, sagte der ältere Arbeiter herantretend.
»Was für eine Wohnung?«
»Wo wir arbeiten. ›Warum hat man das Blut abgewaschen?‹ hat er gesagt. ›Hier ist ein Mord geschehen, und ich will mir die Wohnung mieten.‹ Und er begann an der Klingel zu ziehen, hätte sie beinahe abgerissen, ›Gehen wir‹, sagte er, ›aufs Polizeibureau, dort werde ich alles sagen.‹ Er gab uns keine Ruhe!«
Der Hausknecht musterte Raskolnikow verständnislos und finster.
»Wer bist du denn!?« fragte er etwas strenger.
»Ich bin Rodion Romanowitsch Raskolnikow, ehemaliger Student und wohne im Hause Schiel, hier in der Seitengasse, es ist nicht weit von hier, Wohnung Nr. 14. Kannst beim Hausknecht nachfragen ... der kennt mich.«
Raskolnikow sagte das alles träge und nachdenklich, ohne sich umzuwenden, aufmerksam auf die dunkel gewordene Straße blickend.
»Wozu sind Sie in die Wohnung gekommen?«
»Um sie mir anzusehen.«
»Was gibt's da zu sehen?«
»Man sollte ihn festnehmen und aufs Polizeibureau bringen!« mischte sich plötzlich der Kleinbürger ein und verstummte gleich wieder.
Raskolnikow sah ihn über die Schulter hinweg an und sagte ebenso leise und träge:
»Gehen wir!«
»Man sollte ihn wirklich hinführen!« sagte der Kleinbürger, neuen Mut fassend. »Warum hat er sich bloß danach erkundigt? Hat er nicht was im Sinn?«
»Betrunken ist er wohl nicht, aber Gott allein weiß, was er für ein Mensch ist«, murmelte der Arbeiter.
»Ja, was wollen Sie denn?« schrie ihn wieder der Hausknecht an, der ernstlich böse wurde. »Was klebst du hier?«
»Vor dem Polizeibureau hast du wohl Angst?« sagte ihm Raskolnikow mit einem Lächeln.
»Wer hat Angst? Was willst du von mir?«
»Ein Gauner!« rief das Weib.
»Was soll man mit ihm viel reden«, rief der andere Hausknecht, ein riesengroßer Kerl, in offenem Bauernrock und mit Schlüsseln im Gürtel. »Scher dich! ... Ist wohl wirklich ein Gauner ... Scher dich!«
Und er packte Raskolnikow an der Schulter und warf ihn auf die Straße hinaus. Raskolnikow stolperte, fiel aber nicht hin. Er richtete sich auf, blickte alle die Zuschauer schweigend an und ging weiter.
»Ein merkwürdiger Mensch«, sagte der Arbeiter.
»So merkwürdig sind jetzt die Leute«, sagte das Weib.
»Man hätte ihn doch aufs Polizeibureau bringen sollen«, fügte der Kleinbürger hinzu.
»Es lohnte sich nicht, sich mit ihm einzulassen«, sagte der große Hausknecht sehr entschieden. »Ist gewiß ein Gauner! Er will es ja selbst, und wenn man sich mit ihm einläßt, so wird man ihn nicht wieder los ... Wir kennen das!«
»Soll ich also hingehen oder nicht?« dachte sich Raskolnikow, indem er mitten auf dem Straßenpflaster an einer Kreuzung stehenblieb und um sich blickte, als erwartete er von jemand das entscheidende Wort. Aber von nirgends kam Antwort; alles war so stumm und tot wie die Steine, auf die er trat; nur für ihn allein tot ... Plötzlich unterschied er in der Ferne, zweihundert Schritte vor sich, am Ende der Straße in der immer dichter werdenden Dunkelheit eine Menschenmenge, Stimmen, Schreie ... Mitten in der Menge stand eine Equipage ... Auf der Straße bewegte sich ein Lichtschein. »Was ist das?« Raskolnikow wandte sich nach rechts und ging auf die Menge zu. Er klammerte sich gleichsam an alles fest und lächelte kalt, als er es merkte, denn er hatte sich schon fest entschlossen, auf das Polizeibureau zu gehen und wußte bestimmt, daß alles gleich ein Ende nehmen würde.
Mitten in der Straße stand eine elegante herrschaftliche Equipage, mit einem Paar feuriger grauer Pferde bespannt; niemand saß in ihr, und der Kutscher war vom Bock gestiegen und stand daneben; die Pferde wurden an den Zügeln gehalten ... Ringsherum drängten sich viele Menschen, ganz vorne Polizisten. Einer von ihnen hielt eine kleine brennende Laterne in der Hand, mit der er, sich bückend, etwas, was auf dem Pflaster dicht vor den Rädern lag, beleuchtete. Alle sprachen, schrien und jammerten; der Kutscher schien bestürzt zu sein und wiederholte ab und zu:
»Dieses Unglück! Mein Gott, welch ein Unglück!«
Raskolnikow drängte sich nach Möglichkeit vor und erblickte endlich die Ursache der Erregung und der Neugier. Auf dem Boden lag ein von den Pferden zertretener Mann, bewußtlos, anscheinend sehr schlecht, doch wie ein »Gebildeter« gekleidet, über und über mit Blut bedeckt. Vom Gesicht und vom Kopf floß das Blut; das Gesicht war zerschlagen, zerschunden und verstümmelt. Offenbar war er wirklich schwer verletzt.
»Liebe Leute!« jammerte der Kutscher. »Wie hätte ich da aufpassen sollen! Wenn ich noch zu schnell gefahren wäre oder ihn nicht angeschrien hätte – aber ich fuhr gar nicht schnell und ganz gleichmäßig. Alle haben es gesehen; was alle sagen, das sage ich auch. Ein Betrunkener kann nicht mal ein Licht vors Heiligenbild stellen, das weiß man ja! ... Ich sehe, wie er über die Straße geht, hin und her wankt und fast hinfällt – ich schreie ihn einmal an, ein zweites Mal, ein drittes Mal und halte die Pferde an, aber er fallt ihnen gerade unter die Hufe! Ob er es mit Absicht getan hat, oder schon so besoffen war ... Die Pferde sind jung und scheu – sie zogen an, er schrie auf –, sie zogen noch mehr an ... und so war das Unglück geschehen.«
»Ja, es ist so!« ertönte aus der Menge die Stimme eines Augenzeugen.
»Er hat wohl geschrien, das ist wahr, dreimal hat er ihn angeschrien!« bestätigte eine andere Stimme.
»Genau dreimal, das haben alle gehört!« rief eine dritte Stimme.
Der Kutscher war übrigens nicht allzu bekümmert und erschrocken. Die Equipage gehörte wohl einem reichen und hochgestellten Besitzer, der irgendwo auf sie wartete; die Polizisten gaben sich natürlich keine geringe Mühe, die Sache in Anbetracht dieses Umstandes in Ordnung zu bringen. Der Überfahrene sollte auf das Polizeirevier und von dort ins Krankenhaus geschafft werden. Niemand kannte seinen Namen.
Raskolnikow drängte sich indessen vor und beugte sich über den Verunglückten. Die kleine Laterne beleuchtete plötzlich hell das Gesicht des Unglücklichen: er erkannte ihn.
»Ich kenne ihn, ich kenne ihn!« rief er, indem er sich ganz nach vorne drängte. »Es ist ein verabschiedeter Beamter, der Titularrat Marmeladow! Er wohnt hier in der Nähe, im Koselschen Hause ... Schnell einen Arzt! Ich werde bezahlen, hier!« Er holte aus der Tasche sein Geld und zeigte es dem Polizisten. Er war in höchster Aufregung.
Die Polizisten waren sehr zufrieden, daß sie erfahren hatten, wer der Überfahrene war. Raskolnikow gab auch seinen Namen und seine Adresse an und redete ihnen so inständig zu, als handele es sich um seinen leiblichen Vater, den bewußtlosen Marmeladow in dessen Wohnung zu bringen.
»Es ist hier, nur drei Häuser weit«, sagte er geschäftig. »Das Haus Kosels, eines reichen Deutschen ... Er ging jetzt wohl betrunken nach Hause. Ich kenne ihn ... Er ist ein Säufer ... Er hat dort eine Familie, eine Frau und Kinder, er hat auch noch eine Tochter. Was soll man ihn erst ins Krankenhaus schleppen, es gibt doch sicher im Hause einen Arzt! Ich werde alles bezahlen! ... Er wird immerhin bei sich zu Hause gepflegt werden, man wird ihm gleich helfen, sonst stirbt er noch auf dem Wege zum Krankenhause ...«
Er hatte sogar Zeit gefunden, einem der Beamten unbemerkt etwas in die Hand zu drücken; die Sache war übrigens ganz klar und gesetzlich, und die Hilfe war jedenfalls näher zu finden. Man hob den Überfahrenen auf und trug ihn hin; es fanden sich freiwillige Helfer. Das Koselsche Haus war nur dreißig Schritte entfernt. Raskolnikow ging hinterher, den Kopf des Verunglückten vorsichtig stützend, und zeigte den Weg.
»Hierher, hierher! Die Treppe hinauf muß man ihn mit dem Kopfe nach oben tragen; wendet ihn um ... ja, so! Ich werde bezahlen, ich werde euch danken!« murmelte er.
Katerina Iwanowna ging wie immer, wenn sie einen freien Augenblick hatte, in ihrem winzigen Zimmerchen auf und ab, vom Fenster zum Ofen und zurück, die Arme fest über der Brust gekreuzt, mit sich selbst redend und hustend. In der letzten Zeit sprach sie immer öfter und mehr mit ihrem ältesten Töchterchen, der zehnjährigen Polenjka, die zwar vieles noch nicht verstand, dafür aber sehr gut wußte, daß die Mutter sie brauchte, und ihr darum immer mit ihren großen klugen Augen folgte und sich die größte Mühe gab, den Anschein zu wecken, als verstände sie alles. Jetzt zog Polenjka ihren kleinen Bruder aus, der sich den ganzen Tag unwohl gefühlt hatte, um ihn zu Bett zu bringen. Der Junge wartete, daß man ihm sein Hemd wechsele, welches in der Nacht noch gewaschen werden sollte, und saß auf dem Stuhle schweigend, mit ernster Miene, gerade und unbeweglich, die Beinchen fest aneinander gedrückt und nach vorne gestreckt, so daß die Fersen dem Publikum zugewandt waren und die Fußspitzen nach rechts und links abstanden. Er hörte zu, was die Mutter mit seinem Schwesterchen sprach, die Lippen aufgeworfen, die Augen weit aufgerissen, ohne sich zu rühren, wie brave Knaben zu sitzen pflegen, wenn man sie auszieht und zu Bett bringt. Ein noch kleineres Mädchen, in lauter Lumpen gekleidet, stand bei der spanischen Wand und wartete, bis sie an die Reihe käme. Die Tür zur Treppe stand offen, der Tabakswolken wegen, die aus den anderen Zimmern hereindrangen und die arme Schwindsüchtige zwangen, jeden Augenblick lange und schmerzhaft zu husten. Katerina Iwanowna schien in dieser Woche noch magerer geworden zu sein, und die roten Flecken an ihren Wangen leuchteten noch greller als früher.
»Du wirst es mir nicht glauben, du kannst es dir nicht mal vorstellen, Polenjka,« sagte sie, immer auf und ab gehend, »wie lustig und vornehm wir im Hause meines Papas gelebt haben und wie dieser Trunkenbold mich und euch alle zugrunde gerichtet hat. Papa war ein Ziviloberst und beinahe Gouverneur; es blieb ihm nur noch ein Schritt, um Gouverneur zu werden, und darum kamen alle zu ihm und sagten: ›Wir halten Sie schon für unseren Gouverneur, Iwan Michailowitsch.‹ Als ich ... kche! als ich ... kche-kche-kche- ... Oh, dieses dreimal verfluchte Leben!« schrie sie auf, den Schleim ausspuckend und sich an die Brust greifend. »Als ich ... ach ... als ich auf dem letzten Ball ... beim Adelsmarschall ... als mich die Fürstin Bessemeljnaja sah, – die mir später den Segen gab, als ich deinen Papa heiratete, Polja, – so fragte sie mich gleich: ›Ist es nicht das liebe Mädchen, das mit dem Schal bei der Schlußfeier im Institut getanzt hat?‹ ... (Das Loch muß man doch zunähen; wenn du doch eine Nadel nehmen und es stopfen wolltest, wie ich es dich gelehrt habe, sonst wird er es morgen ... kche morgen ... kche-kche-kche! ... noch mehr zerreißen!« schrie sie fast erstickend.) »Damals war aus Petersburg soeben der Kammerjunker Fürst Schtschegolskij gekommen ... er tanzte mit mir eine Mazurka und wollte schon am anderen Tage mit dem Heiratsantrag kommen; aber ich bedankte mich in den schmeichelhaftesten Ausdrücken und sagte ihm, mein Herz gehöre schon längst einem anderen. Dieser andere war dein Vater, Polja; mein Papa war furchtbar böse ... Ist das Wasser fertig? Nun, gib das Hemdchen her; und die Strümpfchen? ... Lida,« wandte sie sich an die jüngste Tochter: »du kannst diese Nacht ohne Hemd schlafen; das wird schon irgendwie gehen ... leg die Strümpfe daneben ... Die wasch ich dann zusammen ... Was kommt unser Lump noch nicht, der Säufer! Er trägt sein Hemd schon so lange; wie ein schmutziger Lappen ist es schon, ganz zerrissen hat er es ... Das ginge dann zusammen, damit ich mich nicht zwei Nächte zu quälen brauche! Gott! Kche-kche-kche! Wieder! Was ist denn da?« schrie sie, als sie die Menge draußen auf der Treppe erblickte und die Menschen, die sich mit ihrer Last ins Zimmer gedrängt hatten. »Was ist das? Was bringt man da? Gott!«
»Wo soll man ihn hier hinlegen?« fragte ein Polizist, sich umsehend, als man den blutbedeckten und besinnungslosen Marmeladow hereingetragen hatte.
»Aufs Sofa! Legt ihn direkt aufs Sofa, mit dem Kopfe hierher!« zeigte Raskolnikow.
»Man hat ihn auf der Straße überfahren, als er betrunken war!« rief jemand von der Treppe herein.
Katerina Iwanowna stand ganz blaß da und atmete schwer. Die Kinder waren erschrocken. Die kleine Lidotschka schrie auf, stürzte zu Polenjka hin, umarmte sie und erzitterte am ganzen Körper.
Nachdem er den Marmeladow aufs Sofa gebettet hatte, wandte sich Raskolnikow an Katerina Iwanowna:
»Um Gottes willen, beruhigen Sie sich, erschrecken Sie nicht!« sagte er in großer Hast. »Er ging über die Straße und wurde überfahren. Beunruhigen Sie sich nicht, er wird gleich zu sich kommen, ich ließ ihn herbringen ... Ich bin schon mal bei Ihnen gewesen, Sie erinnern sich noch ... Er wird zu sich kommen, ich werde bezahlen!«
»Nun hat er es erreicht!« schrie Katerina Iwanowna verzweifelt auf und stürzte zu ihrem Mann.
Raskolnikow merkte bald, daß sie nicht zu den Frauen gehörte, die leicht in Ohnmacht fallen. Im Nu lag unter dem Kopfe des Unglücklichen ein Kissen, an das noch niemand gedacht hatte; Katerina Iwanowna begann ihn auszuziehen und zu besehen; sie tat sehr geschäftig, verlor nicht die Fassung, dachte nicht mehr an sich selbst und biß sich in die zitternden Lippen, um die Schreie zu unterdrücken, die sich ihrer Brust entringen wollten ...
Raskolnikow überredete indessen jemand, einen Arzt zu holen. Der Arzt wohnte, wie es sich zeigte, gleich im Nebenhause.
»Ich habe nach einem Arzt geschickt«, sagte er zu Katerina Iwanowna. »Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde bezahlen ... Kann ich nicht Wasser haben? Und geben Sie mir eine Serviette, ein Handtuch, irgendwas, schnell; es ist noch unbekannt, wie die Verletzungen sind ... Er ist nur verletzt und nicht tot, seien Sie überzeugt ... Was wird wohl der Arzt sagen!«
Katerina Iwanowna stürzte zum Fenster; dort stand in der Ecke auf einem durchgedrückten Stuhl eine große irdene Schüssel mit Wasser, das sie zum Waschen der Wäsche der Kinder und ihres Mannes bereitgestellt hatte. Dieses nächtliche Wäschewaschen besorgte Katerina Iwanowna eigenhändig mindestens zweimal in der Woche, manchmal auch öfter, denn sie waren schon so heruntergekommen, daß sie gar keine Wäsche zum Wechseln hatten und jedes Familienmitglied bloß ein Exemplar von allem besaß. Katerina Iwanowna konnte aber keine Unreinlichkeit ertragen und zog es vor, sich in der Nacht, während alle schliefen, über ihre Kraft abzuquälen, um die nasse Wäsche auf dem gespannten Strick bis zum Morgen zu trocknen und dann ihren Angehörigen in gewaschenem Zustande zu geben, statt in ihrem Hause Schmutz zu dulden. Sie griff schon nach der Schüssel, um sie Raskolnikow, wie er es verlangte, zu bringen, fiel aber fast mit dieser Last hin. Raskolnikow hatte aber schon ein Handtuch gefunden und angefeuchtet und fing an, das blutbedeckte Gesicht Marmeladows abzuwaschen. Katerina Iwanowna stand neben ihm, rang schmerzvoll um Atem und preßte die Hände an die Brust. Sie brauchte selbst Hilfe. Raskolnikow sah allmählich ein, daß es vielleicht falsch war, den Überfahrenen hierher bringen zu lassen. Auch der Schutzmann stand unschlüssig da.
»Polja!« rief Katerina Iwanowna. »Lauf zu Ssonja, schnell. Wenn du sie nicht zu Hause triffst, so macht das nichts, laß ihr sagen, daß man den Vater überfahren hat und daß sie sofort herkommen soll ... sobald sie heimkommt. Schneller, Polja! Hier, nimm das Tuch, bedecke dich damit!«
»Lauf, was du kannst!« rief plötzlich der kleine Junge von seinem Stuhl. Nachdem er das gesagt hatte, versank er wieder in sein früheres stummes aufrechtes Sitzen auf dem Stuhle, die Augen weit aufgerissen, die Fersen vorgestreckt, die Fußspitzen gespreizt.
Das Zimmer füllte sich indessen so, daß kein Apfel zu Boden fallen konnte. Die Polizisten entfernten sich, außer einem, welcher noch dablieb und versuchte, das Publikum, das von der Treppe hereingedrungen war, wieder auf die Treppe hinauszudrängen. Dafür kamen aus den inneren Zimmern fast alle Mieter der Frau Lippewechsel zusammen; anfangs drängten sie sich nur in der Tür, dann aber fluteten sie in einem Haufen in die Stube. Katerina Iwanowna geriet in Wut.
»Wenn ihr ihn doch wenigstens ruhig sterben lassen wolltet!« schrie sie die Menge an. »Ist das eine Theatervorstellung? Mit Zigaretten kommen sie her! Kche-kche-kche! Kommt doch auch mit Hüten herein! ... Da ist wirklich einer im Hut ... Hinaus! Man muß doch wenigstens vor einer Leiche Achtung haben!«
Der Husten erstickte sie, aber das Schreien half. Vor Katerina Iwanowna hatte man offenbar Respekt; die Mieter drängten sich einer nach dem anderen wieder zur Tür mit dem eigentümlichen Gefühl einer inneren Befriedigung, das man stets selbst bei den Nahestehenden bemerken kann, wenn einen ihrer Mitmenschen ein Unglück trifft; von diesem Gefühl ist kein Mensch ohne Ausnahme befreit, so aufrichtig auch sein Mitleid und seine Teilnahme sind.
Hinter der Tür wurden übrigens Stimmen laut, daß man den Verunglückten doch ins Krankenhaus schaffen solle und daß es ungehörig sei, damit die Nachbarn zu belästigen.
»Es ist ungehörig, zu sterben!« rief Katerina Iwanowna und stürzte schon zur Tür, um sie aufzureißen und ein Donnerwetter gegen die Nachbarn loszulassen, stieß aber in der Tür mit der Frau Lippewechsel selbst zusammen, die eben erst vom Unglück erfahren hatte und herbeigelaufen kam, um Ordnung zu schaffen. Sie war eine außerordentlich dumme und unordentliche Deutsche.
»Ach, mein Gott!« rief sie und schlug die Hände zusammen. »Ihren Mann betrunken hat Pferd zertreten. Er ins Krankenhaus! Ich bin die Wirtin!«
»Amalia Ludwigowna! Ich bitte Sie, sich zu überlegen, was Sie sagen«, begann Katerina Iwanowna hochmütig (mit der Wirtin sprach sie immer hochmütig, damit jene sich nicht vergesse, und auch jetzt konnte sie sich dieses Vergnügen nicht versagen) – »Amalia Ludwigowna ...«
»Ich Ihnen einmal für immer gesagt, daß Sie niemals wagen, mich Amalia Ludwigowna nennen; ich bin Amalia Iwanowna!«
»Sie sind nicht Amalia Iwanowna, sondern Amalia Ludwigowna, und da ich nicht zu Ihren gemeinen Schmeichlern gehöre, wie der Herr Lebesjatnikow, der jetzt hinter der Tür lacht (hinter der Tür hörte man wirklich Lachen und die Worte: ›Da sind sie sich wieder in die Haare geraten!‹), so werde ich Sie immer Amalia Ludwigowna nennen, obwohl ich unmöglich begreifen kann, warum dieser Name Ihnen mißfällt. Sie sehen ja selbst, was Ssemjon Sacharowitsch zugestoßen ist; er stirbt. Ich bitte Sie, diese Tür sofort zu schließen und niemand hereinzulassen. Lassen Sie ihn wenigstens ruhig sterben! Sonst wird Ihre Handlungsweise morgen dem Generalgouverneur bekannt, das versichere ich Ihnen! Der Fürst hat mich als junges Mädchen gekannt und erinnert sich gut Ssemjon Sacharowitschs, dem er schon oft seine Wohltaten erwiesen hat. Es ist allen bekannt, daß Ssemjon Sacharowitsch viele Freunde und Gönner hatte, denen er selbst aus edlem Stolz den Rücken gekehrt hat, da er sich seiner unglücklichen Schwäche bewußt war; aber jetzt (sie wies auf Raskolnikow) hilft uns ein großmütiger junger Mann, der Mittel und Verbindungen besitzt und den Ssemjon Sacharowitsch schon als Kind gekannt hat; – ich versichere Ihnen, Amalia Ludwigowna ...«
Dies alles wurde mit außergewöhnlicher und immer anwachsender Hast gesprochen, doch der Husten unterbrach mit einemmal den Redefluß Katerina Iwanownas. In diesem Augenblick kam der Sterbende zu sich und stöhnte auf, und sie lief zu ihm hin. Der Kranke öffnete die Augen und fing an, ohne jemand zu erkennen und ohne etwas zu verstehen, den über ihn gebeugten Raskolnikow zu betrachten. Er atmete schwer, tief und langsam; an den Mundwinkeln zeigte sich Blut; Schweiß war ihm in die Stirne getreten. Er erkannte Raskolnikow nicht und fing an, unruhig um sich zu blicken. Katerina Iwanowna sah ihn traurig, doch streng an, während aus ihren Augen die Tränen liefen.
»Mein Gott! Seine ganze Brust ist ja eingedrückt! Das viele Blut, das Blut!« rief sie verzweifelt. »Man muß ihm die Kleider ausziehen! Dreh dich etwas um, Ssemjon Sacharowitsch, wenn du kannst!« rief sie ihm zu.
Marmeladow erkannte sie.
»Einen Geistlichen!« sagte er mit heiserer Stimme.
Katerina Iwanowna trat ans Fenster, drückte ihre Stirn an den Fensterrahmen und rief verzweifelt:
»O dieses dreimal verfluchte Leben!«
»Einen Geistlichen!« sagte der Sterbende wieder nach einer minutenlangen Pause.
»Man ist doch schon hingegangen!« schrie ihm Katerina Iwanowna zu; er hörte den Schrei und verstummte. Mit scheuen, traurigen Blicken suchte er sie; sie kehrte zu ihm zurück und stellte sich ihm zu Häupten hin. Er wurde etwas ruhiger, doch nicht für lange.
Seine Augen blieben bald auf der kleinen Lidotschka (seinem Liebling) haften, die in der Ecke wie im Krampfe zitterte und ihn mit ihren erstaunten, kindlich aufmerksamen Augen ansah.
»Ah ... ah ...« lallte er voll Unruhe auf sie weisend.
Er wollte etwas sagen.
»Was ist denn?« schrie ihn Katerina Iwanowna an.
»Barfuß? Sie ist barfuß!« murmelte er, mit wahnsinnigen Blicken auf die bloßen Füßchen des Kindes zeigend.
»Schweig!« schrie Katerina Iwanowna gereizt. »Weißt selbst, warum sie barfuß ist!«
»Gott sei Dank, der Arzt!« rief Raskolnikow erfreut.
Herein trat der Arzt, ein sauber gekleidetes altes Männchen, ein Deutscher; mißtrauisch um sich blickend, ging er auf den Kranken zu, fühlte seinen Puls, betastete aufmerksam seinen Kopf, knöpfte ihm mit Hilfe Katerina Iwanownas das blutdurchtränkte Hemd auf und entblößte die Brust des Kranken. Die ganze Brust war zerquetscht, zerdrückt und zerrissen; mehrere Rippen rechts waren gebrochen. Links, dicht über dem Herzen, war ein unheimlicher, großer, gelblich schwarzer Fleck – die Spur eines furchtbaren Hufschlages. Der Arzt runzelte die Stirn. Der Polizist berichtete ihm, daß eines der Räder den Verunglückten erfaßt und, sich immer noch drehend, an die dreißig Schritte weit über das Pflaster geschleift habe.
»Es ist ein Wunder, daß er überhaupt zu sich gekommen ist«, flüsterte der Arzt leise Raskolnikow zu.
»Nun, was meinen Sie?« fragte jener.
»Er wird gleich sterben.«
»Ist denn wirklich keine Hoffnung mehr?«
»Nicht die geringste! Er liegt in den letzten Zügen ... Außerdem ist auch der Kopf sehr schwer verletzt ... Hm! ... Man könnte ihn vielleicht zur Ader lassen ... aber ... es wird nichts nützen. In fünf oder zehn Minuten wird er ganz gewiß sterben.«
»Dann lassen Sie ihn lieber zur Ader!«
»Meinetwegen ... Aber ich sage Ihnen gleich, daß es nichts nützen wird.«
In diesem Augenblicke ertönten neue Schritte, die Menge auf der Treppe machte Platz, und auf der Schwelle erschien ein alter grauhaariger Geistlicher mit den Sakramenten. Ein Polizist war noch von der Straße ihn holen gegangen. Der Arzt machte ihm sofort Platz und wechselte mit ihm einen vielsagenden Blick. Raskolnikow bat den Arzt, noch ein Weilchen zu bleiben. Jener zuckte die Achseln und blieb.
Alle traten zur Seite. Die Beichte dauerte gar nicht lange. Der Sterbende begriff kaum etwas; er konnte auch nur abgerissene, unverständliche Laute von sich geben. Katerina Iwanowna nahm Lidotschka, holte den Jungen von seinem Stuhl und kniete in der Ecke am Ofen nieder; die Kinder mußten vor ihr niederknien. Das Mädchen zitterte nur; der Junge aber lag auf den nackten Knien, hob gleichmäßig und langsam die Hand, bekreuzigte sich bedächtig und verneigte sich bis zur Erde, so daß die Stirn auf den Boden anstieß, was ihm anscheinend Vergnügen machte. Katerina Iwanowna biß sich in die Lippen und hielt die Tränen zurück; auch sie betete; ab und zu zupfte sie dem Jungen das Hemdchen zurecht; dem Mädchen warf sie aber auf die allzu entblößten Schultern ein Tuch, das sie, ohne von den Knien aufzustehen und immer betend, von der Kommode genommen hatte. Die Tür zu den anderen Zimmern wurde indessen wieder von Neugierigen geöffnet. Draußen vor der Wohnungstür drängten sich die Zuschauer – die Hausbewohner aus allen Stockwerken immer enger zusammen –, ohne übrigens über die Schwelle des Zimmers zu treten. Die ganze Szene war von einem einzigen Lichtstumpf erleuchtet.
In diesem Augenblick drängte sich aus dem Flure durch die Menge Polenjka, die gelaufen war, um ihre Schwester zu holen. Sie trat ein, kaum atmend vom schnellen Laufen, nahm sich das Tuch ab, suchte mit den Augen die Mutter, ging auf sie zu und sagte: »Sie kommt schon! Ich hab sie auf der Straße getroffen!« Die Mutter zwang sie neben sich auf die Knie. Durch die Menge drängte sich unhörbar und scheu ein junges Mädchen, und seltsam war ihr plötzliches Erscheinen in diesem Zimmer, wo Armut, Lumpen, Tod und Verzweiflung herrschten. Auch sie war in Lumpen gekleidet; es war eine billige, doch nach dem Geschmack der Straße aufgeputzte Kleidung, den Regeln und Forderungen entsprechend, die sich in dieser eigentümlichen Welt gebildet haben, mit grell und schamlos unterstrichenem besondern Zweck. Ssonja blieb draußen, dicht vor der Schwelle stehen, trat aber nicht über die Schwelle und blickte wie verloren, anscheinend ohne etwas zu begreifen und ohne an ihr aus vierter Hand gekauftes, hier so unpassendes buntes Seidenkleid mit der sehr langen komischen Schleppe, an die ungeheure Krinoline, die den Eingang versperrte, an die hellen Schuhe, an den Sonnenschirm, der bei Nacht zwar überflüssig war, den sie aber doch mitgenommen hatte, und an den lächerlichen runden Strohhut mit der feuerroten Feder zu denken. Unter diesem nach Knabenart schief aufgesetzten Hute blickte ein mageres, blasses, erschrockenes Gesichtchen mit offenem Munde und vor Schreck erstarrten Augen hervor. Ssonja war klein gewachsen, etwa achtzehn Jahre alt, eine magere, doch recht niedliche Blondine mit wunderbaren blauen Augen. Sie blickte unverwandt auf das Bett und auf den Geistlichen; auch sie war vom schnellen Gehen ganz atemlos. Endlich erreichten wohl das Tuscheln und einige in der Menge gesprochene Worte ihr Ohr. Sie senkte die Augen, trat einen Schritt über die Schwelle und stand nun im Zimmer, aber immer noch dicht bei der Tür.
Die Beichte und das Abendmahl waren zu Ende. Katerina Iwanowna trat wieder ans Bett ihres Mannes. Der Geistliche machte ihr Platz und wandte sich beim Weggehen an Katerina Iwanowna, um ihr einige Worte zum Abschied und Trost zu sagen.
»Und wo soll ich diese da hintun?« unterbrach sie ihn scharf und gereizt, auf die Kleinen zeigend.
»Gott ist gnädig; hoffen Sie auf die Hilfe des Höchsten«, fing der Geistliche an.
»Ach ja, gnädig, doch nicht gegen uns!«
»Das ist Sünde, Sünde, meine Dame!« bemerkte der Geistliche kopfschüttelnd.
»Und ist das keine Sünde?« rief Katerina Iwanowna, auf den Sterbenden zeigend.
»Vielleicht werden die, die das Unglück ungewollt verschuldet haben, bereit sein, Sie zu entschädigen, wenigstens für den verlorenen Verdienst ...«
»Sie verstehen mich nicht!« rief Katerina Iwanowna gereizt und winkte mit der Hand ab. »Wofür soll man mich entschädigen? Er ist ja selbst im betrunkenen Zustande unter die Pferde gelaufen! Was für ein Verdienst? Von ihm hatten wir gar keinen Verdienst, sondern nur Qual. Der Trunkenbold hat ja doch alles vertrunken! Er bestahl uns und trug das Gestohlene in die Schenke, mein Leben und das Leben der Kinder hat er in der Schenke zugrunde gerichtet! Und Gott sei Dank, daß er stirbt! Nun werde ich weniger Auslagen haben!«
»In der Todesstunde soll man einem Menschen verzeihen; das ist aber Sünde, meine Dame, solche Gefühle sind eine schwere Sünde!«
Katerina Iwanowna machte sich am Sterbenden zu schaffen; sie gab ihm zu trinken, wischte ihm den Schweiß und das Blut vom Kopfe, rückte die Kissen zurecht und sprach mit dem Geistlichen, an den sie sich ab und zu mitten in der Arbeit wandte. Jetzt aber stürzte sie sich fast wütend auf ihn.
»Ach, Väterchen! Das sind ja nur Worte! Verzeihen! Da wäre er, wenn man ihn nicht überfahren hätte, betrunken heimgekommen, sein einziges Hemd ist schmutzig und zerfetzt, er hätte sich schlafen gelegt, und ich hätte bis zum Morgen im Wasser herumgepatscht, hätte seine Lumpen und die der Kinder gewaschen, dann vor dem Fenster getrocknet, und beim Tagesanbruch hätte ich mich hingesetzt, um das Zeug zu flicken, so wäre meine Nacht gewesen! ... Was soll man da vom Verzeihen reden! Ich habe ihm auch so verziehen.«
Ein tief aus der Lunge dringender, schrecklicher Husten unterbrach ihre Worte. Sie spuckte ins Taschentuch und hielt dieses dem Geistlichen hin, während sie die eine Hand schmerzvoll an die Brust drückte. Das Taschentuch war voll Blut ...
Der Geistliche senkte den Kopf und sagte nichts.
Marmeladow lag im letzten Todeskampfe; er wandte seine Augen nicht vom Gesicht Katerina Iwanownas, die sich wieder über ihn beugte. Er wollte immer etwas sagen; er fing auch an, angestrengt die Zunge zu bewegen und unverständliche Worte hervorzustoßen, aber Katerina Iwanowna erriet, daß er sie um Verzeihung bitten wollte, und schrie ihn an:
»Schweig! Ist nicht nötig! ... Ich weiß, was du sagen willst! ...«
Der Kranke verstummte; im gleichen Augenblick fiel aber sein umherschweifender Blick auf die Tür, und er erblickte Ssonja.
Bisher hatte er sie nicht bemerkt; sie stand im Schatten in der Ecke.
»Wer ist das? Wer ist das?« sprach er plötzlich mit heiserer, ersterbender Stimme, ganz aufgeregt, entsetzt mit den Augen auf die Tür zeigend, wo seine Tochter stand, und versuchte sich zu erheben.
»Lieg ruhig!« herrschte ihn Katerina Iwanowna an.
Er brachte es aber mit unnatürlicher Anstrengung fertig, sich auf die Hand zu stützen. Wild und unbeweglich blickte er eine Weile die Tochter an, als ob er sie nicht erkenne. Er hatte sie auch noch nie in diesem Aufzuge gesehen. Plötzlich erkannte er sie, die Erniedrigte, Erdrückte, Aufgeputzte und Verschämte, die demütig wartete, bis an sie die Reihe kam, sich von ihrem Vater zu verabschieden. Seine Züge zeigten ein unendliches Leid.
»Ssonja! Tochter! Vergib!« schrie er und wollte nach ihr die Hand ausstrecken, aber er verlor den Stützpunkt und stürzte vom Sofa mit dem Gesicht auf den Fußboden; man lief herbei, hob ihn auf, legte ihn wieder aufs Sofa, er war aber schon im Sterben. Ssonja stieß einen leisen Schrei aus, lief zu ihm hin und umarmte ihn. Er starb in ihren Armen.
»Nun hat er es!« rief Katerina Iwanowna, als sie die Leiche ihres Mannes sah. »Nun, was soll ich jetzt tun? Womit soll ich ihn beerdigen? Und womit soll ich morgen diese da satt kriegen?«
Raskolnikow ging auf Katerina Iwanowna zu.
»Katerina Iwanowna,« fing er an, »Ihr verstorbener Mann hat mir in der vorigen Woche sein ganzes Leben und alle seine Umstände erzählt ... Seien Sie überzeugt, daß er von Ihnen mit Begeisterung und Achtung gesprochen hat. Von jenem Abend an, an dem ich erfuhr, wie er an Ihnen allen hing und wie sehr er besonders Sie, Katerina Iwanowna, trotz seiner unglücklichen Schwäche, achtete und liebte, von jenem Abend an waren wir Freunde geworden ... Erlauben Sie mir jetzt, Ihnen behilflich zu sein ... meinem verstorbenen Freunde die letzte Ehre zu erweisen. Hier sind ... ich glaube, zwanzig Rubel, – und wenn Ihnen mit diesem Gelde geholfen ist, so ... werde ich ... mit einem Wort, ich werde noch vorbeikommen, – ich werde ganz bestimmt vorbeikommen ... vielleicht schon morgen ... Leben Sie wohl ...«
Er ging schnell aus dem Zimmer und drängte sich durch die Menge auf die Treppe; doch hier stieß er plötzlich mit Nikodim Fomitsch zusammen, der vom Unfall gehört hatte und hergekommen war, um persönlich nach dem Rechten zu sehen. Seit dem Vorfall im Polizeibureau hatten sie sich nicht mehr gesehen, aber Nikodim Fomitsch erkannte ihn sofort.
»Ach, sind Sie es?« fragte er ihn.
»Er ist tot«, erwiderte Raskolnikow. »Der Arzt war da, auch der Geistliche war da, alles ist in Ordnung. Ersparen Sie der armen Frau die Aufregung, sie ist ohnehin schwindsüchtig. Sprechen Sie ihr Mut zu, wenn Sie es können ... Sie sind ja ein guter Mensch, ich weiß es ...« fügte er mit einem Lächeln hinzu, ihm gerade in die Augen blickend.
»Wie Sie sich mit Blut beschmiert haben«, bemerkte Nikodim Fomitsch, als er beim Lichte der Laterne einige frische Flecke auf Raskolnikows Weste erblickte.
»Ja, ich habe mich beschmiert ... ich bin ganz mit Blut bedeckt!« sagte Raskolnikow mit einem eigentümlichen Ausdruck. Dann lächelte er, nickte und ging die Treppe hinunter.
Er stieg langsam hinunter, ohne Übereilung, im Fieber zitternd, doch ohne sich dessen bewußt zu sein, von einem einzigen, neuen, unfaßbaren Gefühl des ihn plötzlich überströmenden vollen und mächtigen Lebens erfüllt. Diese Empfindung mochte der eines zum Tode Verurteilten gleichen, dem man unerwartet die Begnadigung mitteilt. Auf der halben Treppe holte ihn der Geistliche ein, der nach Hause eilte; Raskolnikow gab ihm schweigend den Vortritt und wechselte mit ihm einen stummen Gruß. Als er aber die letzten Stufen hinunterging, hörte er hinter sich eilige Schritte, jemand lief ihm nach. Es war Polenjka; sie lief ihm nach und rief:
»Hören Sie mal! Hören Sie mal!«
Er wandte sich zu ihr um. Sie lief die letzte Treppe hinunter und blieb dicht vor ihm, eine Stufe über ihm stehen. Ein trübes Licht drang vom Hofe herein. Raskolnikow erkannte das magere, doch liebliche Gesichtchen der Kleinen, die ihm zulächelte und ihn kindlich und heiter ansah. Sie kam mit einem Auftrage gelaufen, der ihr anscheinend selbst gut gefiel.
»Hören Sie mal, wie heißen Sie? Und noch: wo wohnen Sie?« fragte sie hastig mit erstickendem Stimmchen.
Er legte ihr beide Hände auf die Schultern und blickte sie mit einem eigentümlichen beseligenden Gefühl an. Es war ihm so angenehm, sie anzusehen, er wußte selbst nicht warum.
»Wer hat Sie geschickt?«
»Mich hat Schwesterchen Ssonja geschickt«, antwortete das Kind noch freudiger lächelnd.
»Das wußte ich, daß Schwesterchen Ssonja Sie geschickt hat.«
»Auch die Mama hat mich geschickt. Als Schwesterchen Ssonja mich schickte, kam auch die Mama heran und sagte: ›Lauf schneller hin, Polenjka!‹«
»Lieben Sie das Schwesterchen Ssonja?«
»Ich liebe sie mehr als alle!« antwortete Polenjka mit einer eigentümlichen Sicherheit, und ihr Lächeln wurde plötzlich ernster.
»Werden Sie auch mich lieben?«
Statt einer Antwort näherte sich ihm das Gesicht der Kleinen, und die weichen Lippen spitzten sich zu einem Kusse. Plötzlich umschlangen ihn fest die wie Streichhölzer dünnen Ärmchen, das Köpfchen legte sich auf seine Schulter, und das kleine Mädchen fing leise zu weinen an, das Gesicht immer fester und fester an das seinige schmiegend.
»Papa tut mir so leid!« sagte sie nach einer Weile, ihr verweintes Gesichtchen hebend und sich mit den Händen die Tränen abwischend. »Jetzt haben wir immer Unglück«, fügte sie unerwartet hinzu, mit jenem wichtigen Ausdruck, den die Kinder mit großer Mühe annehmen, wenn sie plötzlich wie »die Großen« sprechen wollen.
»Und hat auch Papa Sie geliebt?«
»Er hat Lidotschka mehr als uns alle geliebt«, fuhr sie sehr ernst und ohne zu lächeln fort, ganz wie Erwachsene zu sprechen pflegen. »Er hat sie darum geliebt, weil sie so klein ist und auch weil sie krank ist, und hat ihr immer Geschenke mitgebracht, uns aber hat er im Lesen unterrichtet und mich in der Grammatik und Religion«, fügte sie stolz hinzu. »Mamachen sagte nichts, aber wir wußten, daß sie es gerne sah, auch Papachen wußte es. Mamachen will mich aber Französisch lehren, weil es für mich Zeit ist, eine Erziehung zu bekommen.«
»Können Sie auch beten?«
»O gewiß können wir es! Schon lange; ich bete, da ich schon groß bin, leise für mich, aber Kolja und Lidotschka beten laut mit der Mama; zuerst sprechen sie das Gebet an die Mutter Gottes, dann das Gebet: ›Gott, vergib dem Schwesterchen Ssonja und segne es‹, und dann: ›Gott, verzeihe unserem anderen Papa und segne ihn‹, denn unser älterer Papa ist schon tot, und dieser ist unser zweiter Papa, aber wir beten auch für ihn.«
»Polenjka, ich heiße Rodion; beten Sie mal auch für mich: ›für den Knecht Gottes Rodion‹ – und sonst nichts.«
»Mein ganzes künftiges Leben werde ich für Sie beten«, sagte das Mädchen mit Feuereifer. Plötzlich lachte es wieder, stürzte auf ihn zu und umarmte ihn sehr fest.
Raskolnikow nannte ihr seinen Namen, gab auch die Adresse an und versprach, morgen unbedingt zu kommen. Das Kind ging ganz entzückt von ihm. Es war die elfte Stunde, als er auf die Straße trat. Nach fünf Minuten stand er auf der Brücke, genau an der gleichen Stelle, von der sich vorhin die Frau ins Wasser gestürzt hatte.
»Genug!« sagte er entschlossen und feierlich: »Fort mit den Trugbildern, fort mit den vermeintlichen Schrecken, fort mit den Gespenstern! ... Es gibt ein Leben! Habe ich denn eben nicht gelebt? Mein Leben ist noch nicht mit der alten Wucherin gestorben! Gott gebe ihr ewige Ruhe, – genug, Mütterchen, es ist Zeit für dich auszuruhen! Das Reich der Vernunft und des Lichts bricht jetzt an ... und des Willens, und der Kraft ... und wir wollen sehen! Wir wollen uns jetzt messen!« fügte er herausfordernd hinzu, als wende er sich an eine dunkle Gewalt und fordere sie heraus. »Und ich war schon bereit, auf einem Arschin freien Raumes zu leben! ...«
»... Schwach war ich in diesem Augenblick, aber ... aber ich glaube, die Krankheit ist schon vorüber. Ich wußte ja, daß sie vergehen wird, als ich vorhin von zu Hause wegging. Übrigens: das Haus Potschinkow ist ja nur zwei Schritte von hier ... soll er die Wette gewinnen! ... Soll er das Vergnügen haben, ich gönne es ihm! ... Kraft, ich brauche Kraft: ohne Kraft kann ich nichts erreichen; die Kraft kann man sich aber nur durch Kraft erwerben, das ist es, was sie nicht wissen«, fügte er stolz und selbstbewußt hinzu und ging, mühevoll die Beine bewegend, von der Brücke. Sein Stolz und sein Selbstvertrauen wuchsen von Minute zu Minute; schon in der nächsten Minute war er ein anderer Mensch als in der vorhergehenden. Was hatte er aber so Außergewöhnliches erlebt, das ihn so verändert hatte? Das wußte er auch selbst nicht; wie einem Ertrinkenden, der nach einem Strohhalm greift, kam es ihm plötzlich vor, daß er »noch leben könne, daß es noch ein Leben gäbe, daß sein Leben nicht zugleich mit der alten Wucherin gestorben sei«. Vielleicht war diese Schlußfolgerung etwas voreilig, aber er dachte nicht daran.
»Ich bat sie aber, den Knecht Gottes Rodion im Gebete zu erwähnen«, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. »Nun, dies für jeden Fall!« fügte er hinzu und mußte schon selbst über diesen kindlichen Einfall lachen. Er war in einer ausgezeichneten Laune.
Er fand Rasumichin ohne jede Mühe; im Hause Potschinkows war der neue Mieter schon bekannt, und der Hausknecht zeigte ihm sofort den Weg. Schon auf der halben Treppe konnte man den Lärm und die lebhaften Gespräche einer großen Versammlung hören. Die Tür zur Treppe stand weit offen; man hörte Schreie und Streit. Rasumichins Zimmer war recht groß, die Versammlung bestand aber aus etwa fünfzehn Menschen. Raskolnikow blieb im Flur stehen. Hier, hinter einem Bretterverschlag machten sich zwei Mägde der Wirtsleute mit zwei großen Samowars zu schaffen; Flaschen, Teller und Platten mit Pasteten und Imbiß waren aus der Küche der Wirtsleute hergeschafft. Raskolnikow ließ Rasumichin zu sich herausrufen. Jener kam entzückt herbeigelaufen. Man konnte ihm auf den ersten Blick ansehen, daß er ungewöhnlich viel getrunken hatte, und obwohl Rasumichin sich nie richtig betrinken konnte, war es ihm diesmal doch anzumerken.
»Hör,« sagte ihm Raskolnikow eilig, »ich komme nur, um dir zu sagen, daß du die Wette gewonnen hast und daß wirklich kein Mensch weiß, was mit ihm alles geschehen kann. Zu dir hereinkommen kann ich aber nicht; ich bin so schwach, daß ich gleich umfalle. Darum: guten Tag und leb wohl! Komm du aber morgen zu mir ...«
»Weißt du was? Ich bringe dich nach Hause! Wenn du schon selbst sagst, daß du schwach bist, so ...«
»Und die Gäste? Wer ist der mit dem Lockenkopf, der eben herausgeschaut hat?«
»Der? Weiß der Teufel, wer es ist! Wahrscheinlich ein Bekannter des Onkels, vielleicht ist er aber auch ungebeten hergekommen ... Bei den Gästen lasse ich den Onkel zurück: er ist ein Prachtmensch; schade nur, daß du ihn jetzt nicht kennen lernen kannst. Übrigens – hol sie alle der Teufel! Sie kümmern sich jetzt nicht um mich, und auch ich muß an die frische Luft; denn du kommst mir sehr gelegen, Bruder! Noch zwei Minuten, und ich hätte mich mit ihnen geprügelt, bei Gott! Was die für einen Unsinn zusammenschwatzen ... Du kannst dir gar nicht vorstellen, was so ein Mensch alles zusammenreden kann! Warum sollst du es dir auch nicht vorstellen können? Schwatzen denn wir wenig? Sollen sie nur schwatzen, dafür werden sie später keinen Unsinn reden ... Bleib eine Weile hier, ich bringe gleich den Sossimow her.«
Sossimow fiel mit Gier über Raskolnikow her; es war ihm eine eigentümliche Neugierde anzusehen; sein Gesicht heiterte sich bald auf.
»Sofort schlafen gehen«, sagte er, nachdem er den Patienten, so gut es ging, untersucht hatte. »Und zur Nacht nehmen Sie ein Mittelchen! Werden Sie es einnehmen? Ich habe es schon vorhin für Sie vorbereitet ... es ist ein Pülverchen.«
»Meinetwegen auch zwei«, antwortete Raskolnikow.
Das Pulver wurde sofort eingenommen.
»Es ist sehr gut, daß du ihn selbst begleitest«, sagte Sossimow zu Rasumichin. »Wie es morgen sein wird, werden wir erst sehen, aber heute ist es gar nicht schlecht: eine bedeutende Veränderung gegen früher. Man lernt nie aus ...«
»Weißt du, was mir eben Sossimow zugeflüstert hat, als wir weggingen?« platzte Rasumichin heraus, als sie auf die Straße traten. »Ich werde es dir aber nicht so direkt sagen, Bruder, denn sie sind alle Dummköpfe. Sossimow sagte mir, ich solle den ganzen Weg mit dir schwatzen und auch dich zum Schwatzen animieren und dann alles ihm berichten, denn er hat die Idee ... daß du verrückt bist, oder nahe daran bist, es zu werden. Denk es dir nur! Erstens bist du dreimal so klug als er, zweitens, wenn du nicht verrückt bist, pfeifst du drauf, daß er solchen Unsinn im Kopfe hat, und drittens ist jetzt dieses Stück Fleisch, seiner engeren Spezialität nach Chirurg, auf Geisteskrankheiten versessen, und was dich betrifft, so hat ihn sein heutiges Gespräch mit Samjotow endgültig darauf gebracht.«
»Hat dir Samjotow alles erzählt?«
»Alles, und es war sehr gut, daß er es getan hat. Jetzt habe ich es durch und durch begriffen, und auch Sossimow hat es begriffen ... Na ja, mit einem Worte, Rodja ... die Sache ist die ... ich bin jetzt ein wenig betrunken ... Das ... macht aber nichts ... die Sache ist die, daß dieser Gedanke ... verstehst du? ... ihnen wirklich gekommen war ... verstehst du? Das heißt, niemand wagte es laut zu sagen, denn es ist ein haarsträubender Unsinn, und besonders, als man diesen Anstreicher festgenommen hatte, fiel das alles zusammen und erlosch für immer. Warum sind sie aber solche Dummköpfe? Den Samjotow hatte ich damals ein wenig verprügelt, doch das bleibt unter uns, Bruder; zeige ihm nur nicht, daß du davon etwas weißt; ich habe bemerkt, daß er empfindlich ist; es passierte bei der Lawisa – doch heute, heute wurde alles klar. Hauptsächlich dieser Ilja Petrowitsch! Er nutzte damals deinen Ohnmachtsanfall im Polizeibureau aus, aber später schämte er sich dessen selbst; ich weiß es ja ...«
Raskolnikow hörte ihm mit Gier zu. Rasumichin fing in seinem Rausche an, alles auszuplaudern.
»Ich war damals darum ohnmächtig geworden, weil es schwül war und nach Ölfarbe roch«, sagte Raskolnikow.
»Du erklärst es mir noch! Es war aber nicht die Farbe allein: die Entzündung bereitete sich doch einen ganzen Monat lang vor; dazu haben wir den Sossimow! Wie dieser dumme Junge jetzt niedergeschlagen ist, das kannst du dir gar nicht vorstellen! Ich bin nicht den kleinen Finger dieses Menschen wert!« sagt er. »Das heißt, deines Fingers. Manchmal hat er auch gute Gefühle, Bruder. Doch die Lektion, die Lektion, die du ihm heute im ›Kristallpalast‹ erteilt hast, ist der Gipfel der Vollkommenheit! Du hast ihn doch anfangs so erschreckt, daß er beinahe Krämpfe kriegte! Du hast ihn fast dazu gebracht, daß er an diesen ganzen abscheulichen Unsinn von neuem glaubte, und dann – dann zeigtest du ihm plötzlich die Zunge: ›Da hast du es!‹ Tadellos! Nun ist er erdrückt und vernichtet. Ein Meister bist du, bei Gott! So muß man auch diese Leute behandeln! Schade, daß ich nicht dabei war! So sehnsüchtig hat er dich jetzt erwartet. Auch Porfirij möchte dich kennen lernen ...«
»So ... auch er ... Und warum wollten sie mich für verrückt erklären?«
»Das heißt, nicht für verrückt. Ich habe mich, glaub ich, doch etwas verschnappt ... Es ist ihm, siehst du, vorhin aufgefallen, daß dich nur ein einziger Punkt interessiert; jetzt ist es ihm klar, warum er dich so interessiert: nachdem er alle Umstände kennt ... und wie es dich damals gereizt und sich mit deiner Krankheit verquickt hat ... Ich bin jetzt etwas betrunken, Bruder, aber er hat, hol ihn der Teufel, irgendeine eigene Idee ... Ich sage dir ja: er ist auf Geisteskrankheiten versessen. Pfeif aber darauf ...«
Eine halbe Minute lang schwiegen sie beide.
»Hör mal, Rasumichin,« begann Raskolnikow, »ich will es dir offen sagen; ich war eben bei einer Leiche, ein Beamter ist gestorben ... dort ließ ich mein ganzes Geld zurück ... außerdem hat mich ebenso ein Geschöpf geküßt, das, wenn ich wirklich jemand ermordet hätte ... mit einem Worte, ich sah dort auch noch ein anderes Geschöpf ... mit einer feuerroten Feder ... übrigens rede ich dummes Zeug; ich bin sehr schwach, stütze mich ... gleich kommt die Treppe ...«
»Was ist mit dir? Was ist mit dir?« fragte Rasumichin besorgt.
»Mir schwindelt etwas der Kopf, aber das ist es nicht; die Hauptsache ist, es ist mir so traurig, so traurig! Wie einem Weibe ... wirklich! Schau, was ist das? Schau! Schau!«
»Was ist denn los?«
»Siehst du es denn nicht? Licht in meinem Zimmer, siehst du es? In der Ritze ...«
Sie standen schon vor der letzten Treppe neben der Tür zur Wohnung der Wirtin, und man konnte wirklich von unten sehen, daß in Raskolnikows Kammer Licht brannte.
»Sonderbar! Vielleicht ist es Nastasja«, bemerkte Rasumichin.
»Niemals kommt sie um diese Zeit zu mir ins Zimmer, auch schläft sie schon längst, aber ... es ist mir ganz gleich! Leb wohl!«
»Was hast du? Ich will dich begleiten, wir gehen zusammen hinein!«
»Ich weiß, daß wir zusammen hineingehen, aber ich will dir hier die Hand drücken und mich hier von dir verabschieden! Nun, gib die Hand, leb wohl!«
»Was ist mit dir, Rodja?«
»Es ist nichts ... gehen wir ... du wirst Zeuge sein ...«
Als sie die Treppe weiter hinaufstiegen, kam Rasumichin der Gedanke, daß Sossimow vielleicht im Rechte sei. »Ach, ich habe ihn mit meinem Geschwätz aufgeregt!« murmelte er vor sich hin. Plötzlich hörten sie, als sie vor die Tür traten, Stimmen im Zimmer.
»Was ist denn hier los?« schrie Rasumichin.
Raskolnikow ergriff als erster die Klinke, öffnete die Tür weit und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.
Seine Mutter und Schwester saßen auf seinem Sofa und warteten auf ihn schon seit anderthalb Stunden. Warum hatte er sie am allerwenigsten erwartet, warum am allerwenigsten an sie gedacht, trotz der auch heute wiederholten Nachricht, daß sie schon abreisen, unterwegs seien und jeden Augenblick eintreffen müßten? Diese anderthalb Stunden hatten sie beide Nastasja ausgefragt, die auch jetzt noch vor ihnen stand und ihnen schon alles mit allen Einzelheiten erzählt hatte. Sie waren ganz außer sich vor Schreck, als sie hörten, daß er »heute durchgebrannt« sei, krank und, wie Nastasja berichtete, ganz bestimmt im Fieber! »Mein Gott, was ist nur mit ihm geschehen!« Beide weinten, beide hatten in diesen anderthalb Stunden der Erwartung eine Kreuzespein ausgestanden.
Ein freudiger, entzückter Aufschrei begrüßte Raskolnikows Erscheinen. Beide stürzten auf ihn zu. Er stand aber wie tot da; eine plötzliche, unerträgliche Erkenntnis hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Seine Hände konnten sich nicht erheben, um sie zu umarmen; sie konnten es nicht! Die Mutter und die Schwester erdrückten ihn in ihren Umarmungen, küßten ihn, lachten, weinten ... Er trat einen Schritt vor, schwankte und stürzte ohnmächtig zu Boden.
Aufregung, erschreckte Schreie, Stöhnen ... Rasumichin, der an der Schwelle gestanden hatte, sprang ins Zimmer, nahm den Kranken in seine mächtigen Arme, und jener lag im Nu auf dem Sofa.
»Es ist nichts, es ist nichts!« rief er der Mutter und der Schwester zu. »Es ist bloß ein Ohnmachtsanfall, ein Unsinn! Der Arzt hat soeben gesagt, daß es ihm viel besser gehe, daß er vollkommen gesund sei! Wasser! Nun, da kommt er schon zu sich, da ist er ganz bei Bewußtsein! ...«
Und er packte Dunjetschkas Hand so, daß er ihr beinahe den Arm verrenkte, und zwang sie, sich niederzubeugen und zu sehen, daß »er schon ganz bei Bewußtsein« sei. Die Mutter und die Schwester sahen Rasumichin wie die Vorsehung mit Rührung und Dankbarkeit an; von Nastasja hatten sie schon gehört, was dieser »flinke junge Mann« für ihren Rodja während seiner Krankheit gewesen war; so nannte ihn am gleichen Abend in einem intimen Gespräche mit Dunja Pulcheria Alexandrowna Raskolnikowa selbst.
Raskolnikow erhob sich und setzte sich aufs Sofa.
Er winkte Rasumichin schwach ab, um dem Strome seiner zusammenhanglosen und eifrigen Trostworte, die er an Mutter und Schwester richtete, ein Ende zu machen, nahm die Hände der beiden in die seinigen und blickte etwa zwei Minuten schweigend bald die eine, bald die andere an. Die Mutter erschrak vor diesem Blick. In diesem Blicke lag ein starkes Gefühl, das an Schmerz grenzte, zugleich aber etwas Unbewegliches, sogar fast Wahnsinniges. Pulcheria Alexandrowna fing zu weinen an.
Awdotja Romanowna war bleich, ihre Hand zitterte in der Hand des Bruders.
»Geht nach Hause ... mit ihm«, sagte er mit zitternder Stimme, auf Rasumichin zeigend. »Bis morgen; morgen werde ich alles ... Seid ihr schon lange angekommen?«
»Heute abends Rodja«, antwortete Pulcheria Alexandrowna. »Der Zug hatte eine fürchterliche Verspätung. Aber, Rodja, ich gehe jetzt um nichts in der Welt von dir weg! Ich übernachte hier nebenan ...«
»Quält mich nicht«, sagte er und winkte gereizt mit der Hand.
»Ich bleibe bei ihm!« rief Rasumichin. »Ich verlasse ihn für keinen Augenblick, soll nur alle meine Gäste der Teufel holen, sollen sie nur rasen und toben! Ich habe dort meinen Onkel als Präsidenten zurückgelassen.«
»Womit, womit soll ich es Ihnen lohnen!« begann Pulcheria Alexandrowna, indem sie Rasumichin wieder die Hand drückte, aber Raskolnikow unterbrach sie von neuem:
»Ich kann nicht, ich kann nicht«, wiederholte er gereizt, »quält mich nicht! Es ist genug, geht ... Ich kann nicht! ...«
»Gehen wir, Mamachen, gehen wir wenigstens für einen Augenblick aus dem Zimmer«, flüsterte Dunja erschrocken. »Wir quälen ihn ja, das sieht man doch.«
»Werde ich ihn denn gar nicht sehen können nach den drei Jahren Trennung!« jammerte Pulcheria Alexandrowna.
»Wartet!« hielt er sie wieder zurück. »Ihr unterbrecht mich immer, und meine Gedanken geraten durcheinander ... Habt Ihr den Luschin gesehen?«
»Nein, Rodja, er weiß aber schon von unserer Ankunft. Wir hörten, Rodja, daß Pjotr Petrowitsch so gütig war, dich heute zu besuchen«, fügte Pulcheria Alexandrowna etwas unsicher hinzu.
»Ja ... er war so gütig ... Dunja, ich habe dem Luschin vorhin gesagt, daß ich ihn die Treppe hinunterwerfen werde, und habe ihn zum Teufel gejagt ...«
»Rodja, was, fällt dir ein! Wahrscheinlich ... willst du sagen«, fing Pulcheria Alexandrowna erschrocken an, hielt aber nach einem Blick auf Dunja inne.
Awdotja Romanowna betrachtete unverwandt den Bruder und wartete, was er noch sagen würde. Beide waren schon von dem Auftritt mit Luschin durch Nastasja unterrichtet, soweit sie imstande war, es zu begreifen und mitzuteilen, und hatten in der Ungewißheit und Erwartung furchtbare Qualen gelitten.
»Dunja,« fuhr Raskolnikow mit Mühe fort, »ich wünsche diese Ehe nicht, und darum mußt du gleich morgen beim ersten Wort dem Luschin absagen, damit wir ihn nicht mehr riechen!«
»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
»Bruder, überlege dir, was du sagst!« begann Awdotja Romanowna auffahrend, beherrschte sich aber gleich wieder. »Vielleicht bist du jetzt nicht imstande, bist müde«, sagte sie sanft.
»Im Fieber? Nein ... Du heiratest den Luschin nur um meinetwillen. Ich nehme aber das Opfer nicht an. Schreibe ihm darum morgen einen Brief ... mit einer Absage ... Morgen früh gibst du ihn mir zu lesen, und die Sache ist erledigt!«
»Ich kann es nicht tun!« rief das junge Mädchen gekränkt: »Mit welchem Recht ...«
»Dunjetschka, auch du bist hitzig, hör auf, morgen ... Siehst du denn nicht ...« rief die Mutter erschrocken, sich zu Dunja stürzend. »Ach, gehen wir lieber fort!«
»Er phantasiert!« rief der betrunkene Rasumichin. »Wie würde er es sonst wagen! Morgen ist dieser ganze Unsinn aus seinem Kopfe weg ... Heute hat er ihn tatsächlich hinausgeworfen. Das war wirklich so. Nun wurde jener böse ... Er hat hier Reden geschwungen, mit seinem Wissen geprahlt und ist schließlich mit eingezogenem Schwanz abgezogen ...«
»So ist es wirklich wahr?« rief Pulcheria Alexandrowna.
»Bis auf morgen, Bruder«, sagte Dunja mitleidsvoll. »Wollen wir gehen, Mamachen ... Leb wohl, Rodja!«
»Hör, Schwester«, sagte er ihr wieder, seine letzten Kräfte zusammennehmend: »ich phantasiere nicht; diese Ehe ist eine Gemeinheit. Mag ich ein Schuft sein, du darfst es aber nicht! ... nur einer von beiden ... und wenn ich auch ein Schuft bin, so werde ich eine solche Schwester nicht als Schwester anerkennen. Entweder ich oder Luschin! Geht ...«
»Du bist ja verrückt geworden! Despot!« brüllte Rasumichin, aber Raskolnikow antwortete nicht, war vielleicht auch gar nicht imstande, zu antworten. Er legte sich aufs Sofa und wandte sich völlig erschöpft zur Wand. Awdotja Romanowna blickte Rasumichin neugierig an; ihre schwarzen Augen funkelten; Rasumichin fuhr unter diesem Blicke sogar zusammen. Pulcheria Alexandrowna stand wie vom Blitz getroffen da.
»Ich kann doch unmöglich weggehen!« flüsterte sie fast verzweifelt Rasumichin zu. »Ich bleibe hier, irgendwo ... begleiten Sie Dunja nach Hause.«
»Sie verderben die ganze Sache«, antwortete Rasumichin außer sich, gleichfalls flüsternd. »Gehen wir wenigstens auf die Treppe hinaus. Nastasja, leuchte uns! Ich schwöre Ihnen,« fuhr er halblaut auf der Treppe fort, »er hat vorhin mich und den Arzt beinahe verprügelt! Verstehen Sie das? Den Arzt selbst! Und jener gab ihm nach, um ihn nicht zu reizen, und ging fort, ich aber blieb unten, um aufzupassen. Nun hat er sich angekleidet und ist durchgebrannt. Er wird auch jetzt durchbrennen, wenn Sie ihn reizen werden, bei Nacht, und wird sich etwas antun ...«
»Ach, was sagen Sie?«
»Auch kann Awdotja Romanowna unmöglich allein ohne Sie in diesen möblierten Zimmern bleiben. Bedenken Sie doch, wo Sie abgestiegen sind, als hätte dieser Schuft, Pjotr Petrowitsch keine bessere Wohnung für Sie finden können! Übrigens, wissen Sie, ich bin ein wenig betrunken und habe darum ... geschimpft; beachten Sie nicht ...«
»Ich gehe aber zur Wirtin«, bestand Pulcheria Alexandrowna auf ihrem Willen, »und will sie anflehen, mir und Dunja irgendeinen Platz für diese Nacht zu geben. Ich kann ihn nicht so zurücklassen, ich kann es nicht!«
Als sie so sprachen, standen sie draußen auf dem Treppenabsatz vor der Tür zur Wohnung der Wirtin, Nastasja leuchtete ihnen von der letzten Stufe herab. Rasumichin war in ungewöhnlicher Erregung. Vor einer halben Stunde, als er Raskolnikow nach Hause begleitete, war er zwar übermäßig gesprächig, dessen er sich auch bewußt war, dabei aber vollkommen munter und beinahe frisch, trotz der ungeheuren Menge des von ihm ausgetrunkenen Weines. Sein jetziger Zustand glich aber einer Ekstase, und zugleich stieg ihm der ganze Wein mit doppelter Kraft auf einmal in den Kopf. Er stand mit den beiden Damen, hielt sie beide an den Händen fest, redete ihnen zu, drückte ihnen, während er seine Gründe mit erstaunlicher Offenheit darlegte, die Hände bei jedem Wort so fest zusammen, daß es ordentlich wehtat, und verschlang dabei, ohne sich im geringsten zu genieren, Awdotja Romanowna mit den Augen. Vor Schmerz versuchten sie ab und zu ihre Hände seiner großen knochigen Hand zu entreißen, sobald er aber die Absicht merkte, zog er sie noch fester zu sich heran. Wenn sie ihm jetzt befohlen hätten, kopfüber von der Treppe hinunterzuspringen, um ihnen damit einen Dienst zu erweisen, so hätte er es, ohne zu überlegen und ohne zu zweifeln, getan. Pulcheria Alexandrowna, ganz aufgeregt vom Gedanken an ihren Rodja, fühlte zwar, daß der junge Mann allzu exzentrisch sei und ihre Hand viel zu stark drücke, doch da er für sie die Vorsehung war, wollte sie alle diese exzentrischen Einzelheiten nicht beachten. Trotz der gleichen Aufregung und obwohl sie nicht zu den Angstlichen zählte, beobachtete Awdotja Romanowna erstaunt und sogar fast erschrocken die in wildem Feuer brennenden Blicke des Freundes ihres Bruders, und nur das grenzenlose Vertrauen, das sie aus den Berichten Nastasjas über diesen schrecklichen Menschen geschöpft hatte, hielt sie davon ab, von ihm wegzulaufen und die Mutter mit sich mitzuziehen. Sie verstand auch, daß es ihnen vielleicht nicht mehr möglich war, vor ihm zu fliehen. Nach zehn Minuten wurde sie aber schon bedeutend ruhiger: Rasumichin hatte die Fähigkeit, sich in jedem Zustand, in dem er sich befand, gleich in seinem wahren Lichte zu zeigen, und so sahen sie sehr bald, mit wem sie es zu tun hatten.
»Zu der Wirtin geht es nicht, und es ist ein furchtbarer Unsinn!« schrie er, indem er Pulcheria Alexandrowna zu überreden suchte. »Obwohl Sie seine Mutter sind, bringen Sie ihn doch zur Raserei, wenn Sie hier bleiben, und dann kann weiß der Teufel was werden! Hören Sie, ich will folgendes tun: einstweilen wird bei ihm Nastasja sitzen, und ich begleite Sie beide nach Hause, denn Sie können unmöglich allein durch die Straße gehen: bei uns in Petersburg ist es in dieser Beziehung ... Na, ich spucke drauf! ... Dann laufe ich sofort von Ihnen her und bringe Ihnen in einer Viertelstunde, mein Ehrenwort drauf, den Bericht, wie es ihm geht, ob er schläft, usw. Dann, hören Sie, dann laufe ich von Ihnen sofort zu mir nach Hause – dort habe ich Gäste sitzen, sie sind alle betrunken – ich nehme Sossimow mit – es ist der Arzt, der ihn behandelt, er sitzt jetzt bei mir und ist nicht betrunken; der ist niemals betrunken! – Ich schleppe ihn zu Rodja und komme dann gleich wieder zu Ihnen; so erhalten Sie in einer Stunde zwei Berichte über ihn – auch vom Arzt, verstehen Sie, vom Arzt selbst, und das ist doch etwas ganz anderes als von mir! Wenn es schlecht geht, so schwöre ich Ihnen, daß ich Sie zu ihm herbringe, und wenn es gut geht, können Sie sich schlafen legen. Ich aber bleibe die ganze Nacht hier im Flur, er wird es gar nicht hören; den Sossimow werde ich aber zwingen, bei der Wirtin zu nächtigen, damit er gleich zur Hand sei. Nun, wen braucht er jetzt notwendiger, Sie oder den Arzt? Der Arzt ist doch wichtiger, wichtiger. Gehen Sie also nach Hause! Zu der Wirtin ist es ganz unmöglich; mir ist es möglich, Ihnen aber nicht – sie wird Sie nicht hereinlassen, weil ... weil sie dumm ist ... Sie wird auf Awdotja Romanowna eifersüchtig sein, wenn Sie es unbedingt wissen wollen, und auch auf Sie ... Auf Awdotja Romanowna auf jeden Fall. Sie hat einen vollkommen – vollkommen unberechenbaren Charakter! Übrigens bin auch ich dumm ... Ich spucke drauf! Gehen wir! Vertrauen Sie mir? Nun, vertrauen Sie mir oder nicht?«
»Gehen wir, Mamachen«, sagte Awdotja Romanowna. »Er wird es sicher so machen, wie er versprochen hat. Er hat den Bruder schon einmal lebendig gemacht, und wenn es wahr ist, daß der Arzt wirklich bereit ist, hier zu nächtigen, so kann man sich doch wirklich nichts Besseres wünschen!«
»Sie ... ja Sie ... Sie verstehen mich, weil Sie ein – ein Engel sind!« rief Rasumichin entzückt. »Gehen wir! ... Nastasja! Lauf sofort hinauf und sitze bei ihm mit dem Licht; in einer Viertelstunde komme ich wieder ...«
Pulcheria Alexandrowna war zwar noch nicht völlig überzeugt, leistete aber keinen Widerstand mehr. Rasumichin faßte beide unter und schleppte sie die Treppe hinab. Übrigens hatte sie doch einige Sorge: »Er ist zwar flink und gut, kann er aber auch das erfüllen, was er verspricht? In diesem Zustande?! ...«
»Ich weiß, Sie denken jetzt an meinen Zustand!« unterbrach sie Rasumichin, ihre Gedanken erratend, während er mit Riesenschritten über das Trottoir weiterging, so daß die beiden Damen ihm kaum folgen konnten, was er übrigens gar nicht merkte. »Unsinn! Das heißt ... ich bin betrunken wie ein Narr, aber die Sache ist die: ich bin nicht vom Wein betrunken. Als ich Sie sah, da stieg es mir in den Kopf ... Aber spucken Sie auf mich! Beachten Sie es nicht: ich rede Unsinn, ich bin Ihrer unwürdig ... ich bin Ihrer im höchsten Grade unwürdig! Sobald ich Sie heimgebracht habe, gehe ich sofort zum Kanal, gieße mir zwei Eimer Wasser über den Kopf und bin gleich ein anderer Mensch ... Wenn Sie nur wüßten, wie sehr ich Sie beide liebe! ... Lachen Sie nicht, und seien Sie mir nicht böse! ... Allen Menschen dürfen Sie böse sein, nur mir nicht! Ich bin sein Freund, folglich auch Ihr Freund. So will ich es ... Ich habe es vorausgeahnt ... im vergangenen Jahr war mal so ein Augenblick ... Ubrigens habe ich es gar nicht vorausgeahnt, denn Sie sind wie vom Himmel gefallen. Vielleicht werde ich diese ganze Nacht gar nicht schlafen ... Dieser Sossimow fürchtete vorhin, daß er verrückt werden könnte ... Darum darf man ihn eben nicht reizen ...«
»Was sagen Sie!« rief die Mutter aus.
»Hat es der Arzt wirklich gesagt?« fragte Awdotja Romanowna erschrocken.
»Er hat es wohl gesagt, aber das ist es nicht. Er hat ihm auch so eine Arznei gegeben, ein Pulver, ich sah es, und da sind Sie gekommen ... Ach! ... Wären Sie doch lieber morgen gekommen! Es ist gut, daß wir weggegangen sind! Nach einer Stunde wird Ihnen Sossimow selbst Bericht erstatten. Er ist gar nicht betrunken! Auch ich werde nicht mehr betrunken sein ... Warum habe ich mich bloß so betrunken? Weil diese Verfluchten mich in den Streit hereingezogen haben! Ich habe das Gelübde geleistet, nicht mehr zu streiten! ... So einen Unsinn schwatzen Sie zusammen! Beinahe hätte ich mich mit ihnen geprügelt! Ich habe ihnen meinen Onkel als Präsidenten zurückgelassen ... Nun, können Sie es glauben: sie verlangen nach völliger Unpersönlichkeit und finden darin den richtigen Geschmack! Der Mensch soll nur nicht er selbst sein, soll möglichst wenig sich selbst ähnlich sehen, das halten sie für den größten Fortschritt. Und wenn sie wenigstens aus dem eigenen lügen wollten, sie aber ...«
»Hören Sie mal«, unterbrach ihn schüchtern Pulcheria Alexandrowna, aber das brachte ihn noch mehr in Feuer.
»Ja, was glauben Sie denn?« schrie Rasumichin, die Stimme noch mehr erhebend: »Sie glauben wohl, ich bin Ihnen böse, weil Sie lügen? Unsinn! Ich liebe es, wenn die Menschen lügen. Das Lügen ist das einzige menschliche Privilegium vor allen anderen Organismen. Wenn man lügt, gelangt man zur Wahrheit! Ich bin darum auch Mensch, weil ich lüge. Man hat noch keine einzige Wahrheit erreicht, ohne daß man vorher vierzehn und vielleicht auch hundertvierzehnmal gelogen hat, und das ist in seiner Art ehrenvoll; wir verstehen aber nicht mal auf eigene Art zu lügen! Lüge, so viel du willst, aber lüge auf deine eigene Art, und ich werde dich dafür küssen. Auf eigene Art zu lügen, ist beinahe besser, als die Wahrheit einem anderen nachzuplappern; im ersten Falle bist du ein Mensch, im letzteren aber bloß ein Vogel! Die Wahrheit wird nicht entrinnen, wie leicht kann man aber sein Leben vernageln; es hat auch schon solche Fälle gegeben. Nun, was sind wir jetzt? Wir alle ohne Ausnahme sitzen in bezug auf Wissenschaft, Entwicklung, Denken, Erfindungsgeist, Ideale, Streben, Liberalismus, Vernunft, Erfahrung und alles, alles, alles erst in der Vorbereitungsklasse eines Gymnasiums! Es gefällt uns so gut, mit fremdem Verstand zu leben, und wir sind es schon gewöhnt! Ist es nicht so? Hab ich nicht recht?« schrie Rasumichin, die Hände der beiden Damen zusammendrückend und schüttelnd: »Ist es nicht so?«
»Mein Gott, ich weiß es nicht!« versetzte die arme Pulcheria Alexandrowna.
»Ja, es ist so ... obwohl ich mit Ihnen nicht in allem einverstanden bin«, fügte Awdotja Romanowna ernst hinzu und schrie im gleichen Augenblick auf: so fest hatte er ihr diesmal die Hand zusammengepreßt.
»Ja? Sie sagen: ja? Nun, in diesem Falle sind Sie ... sind Sie ...« schrie er entzückt, »eine Quelle der Güte, der Reinheit, der Vernunft und ... der Vollkommenheit! Geben Sie mir Ihre Hand, geben Sie sie ... geben auch Sie die Ihrige, ich will Ihre Hände küssen, hier gleich, auf den Knien!«
Und er kniete mitten auf dem Trottoir nieder, das jetzt glücklicherweise menschenleer war.
»Hören Sie auf, ich bitte Sie, was machen Sie?« rief die aufs höchste beunruhigte Pulcheria Alexandrowna.
»Hören Sie auf, hören Sie auf!« rief auch Dunja lachend, doch besorgt.
»Um nichts in der Welt, wenn Sie mir Ihre Hände nicht geben! Ja, so! Und jetzt ist's genug, ich bin aufgestanden, und wir wollen weitergehen! Ich bin ein unglücklicher Narr, ich bin Ihrer unwürdig, ich bin betrunken und schäme mich ... Sie zu lieben, bin ich nicht wert, doch vor Ihnen niederzuknien – das ist die Pflicht eines jeden, der kein vollkommenes Vieh ist. Ich bin auch in die Knie gesunken ... Da sind auch schon Ihre möblierten Zimmer, und Rodion hat schon darum allein recht gehabt, als er gestern Ihren Pjotr Petrowitsch hinauswarf! Wie wagte er es, Sie in solchen Zimmern unterzubringen? Das ist ein Skandal! Wissen Sie, wer hier aus und eingeht? Sie sind ja eine Braut! Sie sind doch eine Braut, nicht wahr? Und darum muß ich Ihnen sagen, daß Ihr Bräutigam nach alledem ein Schuft ist!«
»Hören Sie mal, Herr Rasumichin, Sie haben vergessen ...« begann Pulcheria Alexandrowna.
»Ja, ja, Sie haben recht, ich habe mich vergessen, ich schäme mich!« rief Rasumichin einsehend, daß er zu weit gegangen war. »Aber, aber ... Sie dürfen mir nicht zürnen, daß ich so spreche! Denn ich sage es aufrichtig und nicht etwa, weil ... Hm! Das wäre gemein; mit einem Worte, nicht etwa, weil ich in Sie ... hm! ... nun, es darf nicht sein, ich will nicht sagen, warum, ich wage es nicht! ... Wir aber hatten alle gleich, als er hereinkam, eingesehen, daß er nicht in unsere Gesellschaft gehört. Nicht weil er mit gekräuseltem Haar kam, nicht weil er sich beeilte, seinen Geist zu zeigen, sondern weil er ein Spitzel und ein Spekulant ist; weil er ein Jud und ein Gauner ist, das sieht man. Sie glauben wohl, er sei klug? Nein, er ist ein Dummkopf, ein Dummkopf; nun, paßt er zu Ihnen? Oh, mein Gott! Sehen Sie, meine Damen,« sagte er, plötzlich auf der Treppe zu den möblierten Zimmern stehenbleibend, »meine Gäste sind zwar betrunken, dafür sind sie alle ehrliche Menschen, und obwohl wir lügen, denn ich lüge auch, werden wir durchs Lügen schließlich doch zur Wahrheit gelangen, weil wir auf einem ehrlichen Wege gehen; aber Pjotr Petrowitsch ... geht nicht auf einem ehrlichen Wege. Ich habe zwar auf sie alle ordentlich geschimpft, doch ich achte sie alle; selbst den Samjotow, wenn ich ihn auch nicht achte, so liebe ich ihn doch, denn er ist ein junger Hund. Sogar den Sossimow, dieses Vieh, weil er ehrlich ist und seine Sache versteht ... Aber genug davon, alles ist gesagt und vergeben. Ist es auch vergeben? Wirklich? Nun, gehen wir. Ich kenne diesen Korridor, bin schon mal hier gewesen; hier, auf Nummer drei war mal ein Skandal ... Nun, wo ist Ihr Zimmer? Welche Nummer? Acht? Also schließen Sie sich für die Nacht ein, und lassen Sie niemand herein. Nach einer Viertelstunde komme ich mit dem Bericht zurück, und dann nach einer halben Stunde noch einmal mit Sossimow, Sie werden es sehen! Leben Sie wohl, ich muß laufen!«
»Mein Gott, Dunjetschka, was wird nur werden?« sagte Pulcheria Alexandrowna, sich unruhig und scheu an die Tochter wendend.
»Beruhigen Sie sich, Mamachen«, antwortete Dunja, während sie Hut und Mantille abnahm. »Gott selbst hat uns diesen Herrn geschickt, obwohl er direkt von einer Zecherei kommt. Man kann sich auf ihn verlassen, ich versichere Sie. Und alles, was er für den Bruder schon getan hat ...«
»Ach, Dunjetschka, Gott allein weiß, ob er zurückkommen wird! Und wie konnte ich mich bloß entschließen, Rodja allein zu lassen! ... Nicht in diesem Zustande hoffte ich ihn zu treffen! Wie ernst war er doch, als freute er sich gar nicht, daß wir gekommen sind! ...«
Tränen traten ihr in die Augen.
»Nein, Mamachen, es ist nicht so. Sie haben ihn nicht ordentlich sehen können, weil Sie immer weinten. Er ist jetzt nach einer schweren Krankheit sehr zerrüttet, – das ist der ganze Grund.«
»Ach ja, diese Krankheit! Was soll noch werden, was soll noch werden! Und wie er mit dir gesprochen hat, Dunja! ...« sagte die Mutter, der Tochter scheu in die Augen blickend, um alle ihre Gedanken zu erraten, und schon halb dadurch getröstet, daß Dunja ihren Bruder verteidigte, ihm also verziehen hatte. »Ich bin überzeugt, daß er sich morgen eines anderen besinnen wird«, fügte sie hinzu, um das letzte zu erforschen.
»Ich bin aber überzeugt, daß er auch morgen darüber genau so sprechen wird ...«, schnitt Awdotja Romanowna ab, und das war natürlich ein harter Schlag für die Mutter, denn es berührte den Punkt, über den zu sprechen Pulcheria Alexandrowna sich jetzt zu sehr fürchtete. Dunja trat an die Mutter heran und küßte sie. Diese umarmte sie schweigend und fest. Dann setzte sie sich in unruhiger Erwartung Rasumichins hin und begann, ihre Tochter scheu zu beobachten, die mit gekreuzten Armen und gleichfalls voll Erwartung im Zimmer auf und ab ging und sich etwas zu überlegen schien. Dieses nachdenkliche Aufundabgehen war die ständige Angewohnheit Awdotja Romanownas, und die Mutter hatte in solchen Fällen immer eine gewisse Angst, sie in ihrem Nachdenken zu stören.
Rasumichin war mit seiner plötzlichen, im Rausche entbrannten Leidenschaft zu Awdotja Romanowna natürlich komisch; doch wenn man Awdotja Romanowna sah, besonders jetzt, wie sie mit gekreuzten Armen, traurig und nachdenklich im Zimmer auf und ab ging, müßte man ihn entschuldigen, auch abgesehen von seinem exzentrischen Zustande. Awdotja Romanowna war ungewöhnlich hübsch: großgewachsen, ungewöhnlich schlank, kräftig und selbstbewußt, – was sich in jeder ihrer Gebärden zeigte, aber ihre Bewegungen durchaus nicht der Weichheit und Grazie beraubte. Im Gesicht ähnelte sie dem Bruder, man konnte sie aber eine Schönheit nennen. Ihr Haar war dunkelblond, ein wenig heller als das des Bruders, die Augen fast schwarz, funkelnd und stolz, zugleich aber zuweilen ungewöhnlich gütig. Sie war bleich, aber nicht krankhaft bleich; ihr Gesicht leuchtete vor Frische und Gesundheit. Der Mund war etwas klein, die frische und rote Unterlippe stand eine Kleinigkeit hervor, ebenso das Kinn, – die einzige Unregelmäßigkeit in diesem schönen Gesicht, die ihm dafür etwas sehr Charakteristisches, vielleicht etwas Hochmütiges verlieh. Ihr Gesichtsausdruck war immer mehr ernst als heiter und meistens nachdenklich; wie gut stand dafür ein Lächeln diesem Gesicht, wie gut stand ihr das lustige, junge, sorglose Lachen! Es ist darum begreiflich, daß der hitzige, offenherzige, etwas einfältige, ehrliche, riesenstarke und zugleich betrunkene Rasumichin, der in seinem Leben nichts dergleichen gesehen hatte, gleich beim ersten Blick den Kopf verlor. Außerdem wollte es der Zufall, daß er Dunja zum erstenmal im schönen Augenblick der Liebe und der Freude des Wiedersehens mit dem Bruder sah. Er sah, wie ihre Unterlippe vor Empörung über die frechen und undankbar grausamen Zumutungen des Bruders gezuckt hatte, – und konnte nicht widerstehen.
Übrigens hatte er vorhin die Wahrheit gesagt, als er in seiner Trunkenheit auf der Treppe schwatzte, daß die exzentrische Wirtin Raskolnikows, Praskowja Pawlona, auf ihn nicht bloß wegen Awdotja Romanowna, sondern auch vielleicht wegen Pulcheria Alexandrowna selbst eifersüchtig sein würde. Obwohl Pulcheria Alexandrowna schon dreiundvierzig Jahre alt war, zeigte ihr Gesicht noch immer die Reste der einstigen Schönheit; außerdem sah sie viel jünger aus, als sie war, was fast immer bei Frauen, die die Klarheit des Geistes, die Frische der Eindrücke und ein ehrliches, reines Feuer des Herzens bis zum Alter bewahrt haben, der Fall ist. Wir wollen in Parenthese noch bemerken, daß dies alles zu bewahren das einzige Mittel ist, seine Schönheit auch im Alter nicht zu verlieren. Ihr Haar hatte schon angefangen, grau und dünn zu werden, um ihre Augen herum hatten sich schon längst kleine strahlenartige Runzeln gebildet, die Wangen waren eingefallen und vor Kummer und Sorgen eingetrocknet, und doch war dieses Gesicht schön. Es war ein Bildnis Dunjetschkas, wie sie nach zwanzig Jahren aussehen würde, abgesehen vom Ausdrucke der Unterlippe, die bei ihr nicht hervorstand. Pulcheria Alexandrowna war empfindsam, doch nicht süßlich, sie war scheu und nachgiebig, doch nur bis zu einer gewissen Grenze; sie konnte in vielen Dingen nachgeben, auf vieles eingehen, selbst auf Dinge, die ihren Überzeugungen widersprachen, aber es gab immer eine gewisse Grenze der Ehrlichkeit, Moral und äußerster Überzeugung, die zu überschreiten sie keinerlei Umstände hätten zwingen können.
Genau zwanzig Minuten nach Rasumichins Verschwinden ertönten zwei leise, doch hastige Schläge an der Tür; er war zurückgekehrt.
»Ich komme gar nicht herein, ich habe keine Zeit!« teilte er hastig mit, als man die Tür öffnete. »Er schläft wie ein Murmeltier, vorzüglich, ruhig, und gebe Gott, daß er noch zehn Stunden schläft. Nastasja sitzt bei ihm; ich befahl ihr, nicht wegzugehen, bis ich zurückkomme. Jetzt schleppe ich den Sossimow her, er wird Ihnen Bericht erstatten, und dann können Sie sich schlafen legen; Sie sind, wie ich sehe, bis zum äußersten erschöpft ...«
Und er lief wieder durch den Korridor zurück.
»Was für ein flinker ... und ergebener junger Mann!« rief Pulcheria Alexandrowna außerordentlich erfreut.
»Scheint wirklich ein netter Mensch zu sein!« antwortete Awdotja Romanowna mit einer gewissen Erregung und schickte sich wieder an, im Zimmer auf und ab zu gehen.
Fast nach einer Stunde hörte man Schritte auf dem Korridor und ein neues Klopfen an der Tür. Die beiden Frauen warteten, diesmal vollkommen dem Versprechen Rasumichins vertrauend; und er hatte in der Tat den Sossimow mitgeschleppt. Sossimow war sofort einverstanden gewesen, die Zecherei zu verlassen und nach Raskolnikow zu sehen, doch zu den Damen war er sehr ungern und mit großem Mißtrauen gegangen, da er dem betrunkenen Rasumichin nicht recht traute. Seine Eitelkeit wurde aber sofort beruhigt und sogar angenehm berührt: er sah, daß man ihn hier wirklich wie ein Orakel erwartete. Er blieb genau zehn Minuten sitzen und brachte es fertig, Pulcheria Alexandrowna vollkommen zu überzeugen und zu beruhigen. Er sprach mit ungewöhnlicher Teilnahme, aber zurückhaltend und mit erzwungenem Ernst, wie ein siebenundzwanzigjähriger Arzt bei einer wichtigen Konsultation zu sprechen pflegt, schweifte mit keinem Wort vom Thema ab und zeigte auch nicht den geringsten Wunsch, zu den beiden Damen in ein persönlicheres und intimeres Verhältnis zu treten. Da er schon bei seinem Eintritt bemerkt hatte, wie blendend schön Awdotja Romanowna war, nahm er sich gleich zusammen: er bemühte sich, sie während des ganzen Besuches nicht zu beachten, und wandte sich immer ausschließlich an Pulcheria Alexandrowna. Dies alles gewährte ihm eine außerordentliche innere Befriedigung. Über den Kranken äußerte er sich, daß er seinen Zustand augenblicklich für höchst befriedigend halte. Nach seinen Beobachtungen beruhe die Krankheit des Patienten außer auf den schlechten materiellen Umständen in den letzten Monaten auch auf gewissen moralischen Ursachen: »Sie ist sozusagen das Produkt vieler komplizierter moralischer und materieller Einflüsse, Sorgen, Befürchtungen, gewisser Ideen ... und dergleichen.« Als er flüchtig merkte, daß Awdotja Romanowna ihm besonders aufmerksam zuzuhören begann, fing Sossimow an, sich über dieses Thema noch mehr zu verbreiten. Auf die besorgte und schüchterne Frage Pulcheria Alexandrownas wegen »eines angeblichen Verdachts von geistiger Umnachtung« antwortete er mit einem ruhigen und offenen Lächeln, daß seine Worte etwas übertrieben seien; bei dem Kranken könne man natürlich wohl eine fixe Idee, etwas, was auf Monomanie hinwiese, wahrnehmen – da er, Sossimow, zurzeit besonders aufmerksam diesen so interessanten Zweig der ärztlichen Wissenschaft verfolge –, aber man dürfe nicht vergessen, daß der Kranke bis heute im Fieber gelegen und phantasiert habe, und ... und die Ankunft seiner Angehörigen werde ihn natürlich kräftigen und zerstreuen und auf ihn heilbringend wirken – »wenn es nur gelingt, neue heftige Erschütterungen zu vermeiden«, fügte er bedeutungsvoll hinzu. Dann erhob er sich, verabschiedete sich gesetzt, doch freundlich, begleitet von Segnungen, heißer Dankbarkeit und Bitten und selbst von dem sich ihm unaufgefordert entgegenstreckenden Händchen Awdotja Romanownas, und ging, außerordentlich zufrieden mit seinem Besuche und noch mehr mit sich selbst.
»Reden wollen wir morgen; jetzt müssen Sie sich unbedingt hinlegen!« sagte Rasumichin sehr bestimmt, als er zugleich mit Sossimow wegging. »Morgen bin ich, so früh es geht, wieder mit einem Bericht bei Ihnen.«
»Was ist diese Awdotja Romanowna für ein reizendes Mädel!« bemerkte Sossimow, dem fast das Wasser im Munde zusammenlief, als sie auf die Straße traten.
»Reizend? Du sagst reizend?« brüllte Rasumichin; er stürzte sich plötzlich auf Sossimow und packte ihn an der Kehle. »Wenn du dich noch einmal unterstehst ... Verstehst du? Verstehst du?« schrie er, ihn am Kragen schüttelnd und an die Wand drückend. »Hast du es gehört?«
»Laß los, betrunkener Teufel!« wehrte sich Sossimow. Als jener ihn losgelassen hatte, sah er ihn unverwandt an und schüttelte sich plötzlich vor Lachen. Rasumichin stand vor ihm mit gesenkten Armen, düster, ernst und nachdenklich.
»Natürlich bin ich ein Esel«, sagte er finster wie eine Gewitterwolke. »Aber ... auch du bist gut!«
»Nein, Bruder, ich bin nicht so. Ich bilde mir keine Dummheiten ein.«
Sie gingen schweigend weiter. Erst dicht vor der Wohnung Raskolnikows brach Rasumichin sehr erregt das Schweigen.
»Hör mal,« sagte er zu Sossimow, »du bist ein braver Bursche, doch, abgesehen von den anderen üblen Eigenschaften, bist du auch noch ein liederlicher Taugenichts und ein schmutziger dazu, das weiß ich. Du bist ein nervöser, schwacher Waschlappen, du bist verdreht und verfettet und kannst dir nichts versagen – das nenne ich aber schon schmutzig, denn es führt in den Schmutz. Du bist so verzärtelt, daß ich, offen gestanden, gar nicht begreifen kann, wie du dabei ein guter und sogar aufopfernder Arzt sein kannst. Er schläft auf einem Federbett (der Arzt!), steht aber nachts für jeden Kranken auf ... Nach drei Jahren wirst du aber nicht mehr wegen eines Kranken aufstehen ... Na ja, zum Teufel, es handelt sich nicht darum, sondern um folgendes: du schläfst heute in der Wohnung seiner Wirtin (mit Mühe habe ich sie dazu überredet!) und ich in der Küche: da habt ihr Gelegenheit, euch näher kennen zu lernen! Aber nicht so, wie du es dir vorstellst! Davon ist keine Rede ...«
»Ich stelle mir gar nichts vor.«
»Hier ist, Bruder, Schamhaftigkeit, Schweigsamkeit, Schüchternheit und eine erbitterte Keuschheit und dabei – Seufzer, und sie schmilzt wie Wachs, wie Wachs! Befreie mich von ihr um aller Teufel willen! Sie ist wirklich sehr avenant! ... Ich werde es dir lohnen, das schwöre ich bei meinem Kopf!«
Sossimow lachte noch unbändiger als früher.
»Wie du in Rage gekommen bist! Was soll ich mit ihr?«
»Ich versichere dir, das macht gar keine Arbeit, schwatz bloß irgendeinen Unsinn, der dir gerade einfällt, sitz nur neben ihr und rede. Außerdem bist du ja auch Arzt und fange an, sie zu behandeln. Ich schwöre dir, du wirst es nicht bereuen. Sie hat ein Klavier stehen; du weißt doch, ich verstehe ein wenig zu klimpern; ich habe dort ein russisches Lied, ein echtes Volkslied liegen: ›Ich vergieße heiße Tränen‹ ... Sie liebt die echten Volkslieder; nun, mit diesem Liede hat es angefangen. Du aber spielst Klavier wie ein Virtuose, wie ein Meister, wie ein Rubinstein ... Ich versichere dir, du wirst es nicht bereuen ...«
»Hast du ihr denn etwas versprochen? Hast du dich schriftlich verpflichtet? Hast ihr vielleicht die Ehe versprochen ...«
»Keine Spur, keine Spur! Sie ist auch gar nicht so. Tschebarow versuchte einmal ...«
»Laß sie doch laufen!«
»Ich kann sie nicht laufen lassen!«
»Warum nicht?«
»Nun, es geht eben nicht und basta! Es ist hier nämlich ein verlockendes Moment dabei.«
»Warum hast du sie verlockt?«
»Ich habe sie gar nicht verlockt, vielleicht habe ich mich selbst verlocken lassen aus Dummheit; ihr wird es aber völlig gleich sein, ob sie dich oder mich hat: es muß nur jemand neben ihr sitzen und seufzen. Hier ist, Bruder ... Das kann ich dir nicht erklären, hier ... nun, du verstehst dich gut auf Mathematik und befaßt dich auch jetzt noch mit ihr, ich weiß es ... nun fang an, mit ihr Integralrechnung zu studieren, bei Gott, ich spaße nicht und meine es vollkommen ernst: es wird ihr vollkommen gleich sein; sie wird dich anstarren und seufzen, und so wird es ein ganzes Jahr gehen. Ich habe ihr unter anderm sehr lange, zwei Tage hintereinander, vom preußischen Herrenhaus erzählt (worüber soll man denn mit ihr sonst sprechen?), und sie seufzte nur und schwitzte! Nur von der Liebe darfst du nicht sprechen, denn sie ist schüchtern bis zu Krämpfen – tu aber dabei so, daß du nicht mehr weg kannst – und das genügt. Es ist so furchtbar komfortabel; du fühlst dich ganz wie zu Hause, kannst lesen, sitzen, liegen, schreiben ... Darfst sie sogar küssen, doch mit Vorsicht ...«
»Was brauche ich sie aber?«
»Ach, das kann ich dir unmöglich erklären! Siehst du: ihr paßt so vollkommen zueinander! Ich habe auch schon früher an dich gedacht ... Du wirst doch sowieso damit enden! Ist es dir nicht ganz gleich, ob es früher oder später geschieht? Hier ist, Bruder, so ein Federbettmoment darin, ja, und nicht bloß das allein! Das zieht einen herein; das ist das Ende der Welt, ein Anker, eine stille Zuflucht, der Nabel der Erde, die auf drei Walfischen ruhende Grundfeste der Welt, eine Essenz von Pfannkuchen, fetten Fleischpasteten, Abendsamowars, stillen Seufzern und warmen Jacken, geheizten Ofenbänken – kurz, es ist, als ob du gestorben wärest und zugleich noch lebtest, also beide Vorteile auf einmal! Zum Teufel damit, ich bin ins Schwatzen gekommen, Bruder, es ist Zeit, schlafen zu gehen! Hör: in der Nacht wache ich zuweilen auf und schaue dann nach ihm. Doch es ist nichts, Unsinn, alles geht gut. Mache dir keine besonderen Sorgen, aber wenn du willst, so schau auch mal nach. Wenn du nur etwas merkst, zum Beispiel, daß er phantasiert oder Fieber hat oder sonstwas, so wecke mich sofort. Ubrigens, es kann gar nichts kommen ...«
Rasumichin erwachte am anderen Tag ernst und besorgt gegen acht Uhr. An diesem Morgen stand er plötzlich vor einer Menge neuer und unvorhergesehener Fragen. Er hätte es sich früher nie gedacht, daß er je in dieser Stimmung aufwachen würde. Er erinnerte sich ans Gestrige mit allen Einzelheiten und begriff, daß mit ihm etwas ganz Ungewöhnliches geschehen war, daß er einen gewissen neuen, ihm bis dahin unbekannten Eindruck aufgenommen hatte, der allen bisherigen so gar nicht glich. Zugleich war er sich vollkommen klar, daß der Gedanke, der sich in seinem Kopfe festgesetzt hatte, im höchsten Grade unerfüllbar war, – dermaßen unerfüllbar, daß er sich seiner sogar schämte und so schnell als möglich zu anderen dringenderen Sorgen und Fragen überging, die ihm der »dreimal verfluchte gestrige Tag« als Erbe hinterlassen hatte.
Die schrecklichste Erinnerung war für ihn, daß er sich gestern als »niedrig und gemein« gezeigt hatte, nicht nur weil er betrunken war, sondern auch weil er vor dem jungen Mädchen, deren Lage er ausnutzte, aus dümmster voreiliger Eifersucht ihren Bräutigam beschimpft hatte, ohne ihre gegenseitigen Beziehungen und Verpflichtungen, ohne sogar den Menschen selbst richtig zu kennen. Welches Recht hatte er auch, so vorschnell und übereilt über ihn zu urteilen? Wer hat ihn zum Richter berufen? Ist denn so ein Geschöpf wie Awdotja Romanowna imstande, sich einem unwürdigen Menschen für Geld hinzugeben? Also muß er auch Vorzüge haben. Die möblierten Zimmer? Ja, woher hätte er auch wissen sollen, daß es solche Zimmer sind? Er richtet doch auch eine Wohnung ein ... pfui, wie gemein war das! Und was ist das für eine Entschuldigung, daß er damals betrunken war? Eine dumme Ausrede, die ihn noch mehr herabsetzte! Im Weine hat sich wirklich die Wahrheit gezeigt, nämlich: »Der ganze Schmutz seines neidischen rohen Herzens!« Und ist denn solch ein Gedanke ihm, Rasumichin, überhaupt erlaubt? Wer ist er im Vergleich mit diesem jungen Mädchen, er, der betrunkene Skandalmacher und gestrige Aufschneider? »Ist denn eine solche zynische und lächerliche Nebeneinanderstellung überhaupt möglich?« Rasumichin errötete furchtbar bei diesem Gedanken, und im gleichen Augenblick fiel es ihm plötzlich ein, daß er ihnen gestern auf der Treppe gesagt hatte, die Wirtin würde seinetwegen auf Awdotja Romanowna eifersüchtig sein ... das war schon ganz unerträglich. Er schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Küchenherd, verletzte sich die Hand und schlug einen Ziegelstein heraus.
»Natürlich«, sagte er sich nach einer Minute mit einem eigentümlichen Gefühl von Selbsterniedrigung, »alle diese Gemeinheiten kann ich jetzt nicht mehr beschönigen oder wiedergutmachen ... also darf ich daran nicht mal denken, muß vielmehr schweigend hingehen und ... meine Pflicht tun ... ebenfalls schweigend und ... und nicht um Entschuldigung bitten und nichts sagen und ... und natürlich ist jetzt alles verloren!«
Trotzdem untersuchte er beim Ankleiden seinen Anzug sorgfältiger als gewöhnlich. Andere Kleider hatte er nicht, und wenn er auch welche gehabt hätte, so hätte er sie vielleicht gar nicht angezogen, »absichtlich nicht«. Aber Zyniker und Schmutzfink durfte er keineswegs bleiben: er hatte kein Recht, die Gefühle anderer zu verletzen, um so mehr, als diese anderen seiner benötigten und ihn selbst zu sich riefen. Er reinigte seinen Anzug sorgfältig mit einer Bürste. Seine Wäsche war immer erträglich; in dieser Beziehung war er besonders reinlich.
An diesem Morgen wusch er sich auch besonders sorgfältig – bei Nastasja fand sich ein Stück Seife –, er wusch sich den Kopf, den Hals und besonders die Hände. Als er aber vor der Frage stand, ob er sich auch seine Borsten rasieren sollte oder nicht (Praskowja Pawlona hatte ausgezeichnete Rasiermesser, die vom verstorbenen Herrn Sarnizyn geblieben waren), so entschied er diese Frage, sogar mit Wut, im negativen Sinne: »Soll es nur so bleiben! Sie werden noch glauben, ich hätte mich rasiert, um ... ja, sie werden es gewiß glauben! Nein, um nichts in der Welt!« –
Und ... und die Hauptsache ist, daß er so roh und schmutzig ist und Wirtshausmanieren hat; er weiß zwar, daß er ein einigermaßen anständiger Mensch ist ... aber kann man denn damit prahlen, daß man ein anständiger Mensch ist? Jeder Mensch muß anständig sein und noch mehr als er, und ... und er hat auch einiges (er weiß es noch) auf dem Gewissen ... nicht daß es etwas Unehrenhaftes wäre, aber immerhin! ... Und was er bloß für Gedanken gehabt hat! Hm! ... Und wenn er dabei an Awdotja Romanowna denkt! Na, zum Teufel damit ... Soll es nur so bleiben! – »Ich will absichtlich so schmutzig und schmierig sein und nach dem Wirtshaus riechen, ich spucke drauf! Und ich will es noch mehr sein!« ...
Bei solchen Monologen traf ihn Sossimow an, der im Gastzimmer Praskowja Pawlownas übernachtet hatte.
Er war eben im Begriff, nach Hause zu gehen, und wollte vor dem Weggehen nach dem Kranken schauen. Rasumichin berichtete ihm, daß jener wie ein Murmeltier schlafe. Sossimow ordnete an, daß man ihn nicht wecke, bis er selbst aufwache. Gegen elf Uhr wollte er wiederkommen.
»Wenn er nur zu Hause bleibt«, fügte er hinzu. »Pfui Teufel! Selbst über meinen Patienten habe ich keine Gewalt, und da soll ich ihn noch behandeln. Weißt du nicht, wird er zu ihnen gehen, oder werden sie herkommen?«
»Ich glaube, sie werden herkommen«, antwortete Rasumichin, der den Sinn der Frage erriet. »Ich werde fortgehen. Du als Arzt hast natürlich mehr Rechte als ich.«
»Auch ich bin doch kein Beichtvater; ich werde kommen und gleich wieder weggehen; auch ohne sie habe ich genug zu tun.«
»Eines macht mir nur Sorge«, unterbrach ihn Rasumichin düster. »Gestern habe ich ihm im Rausche auf dem Wege hierher allerlei Dummheiten ausgeplaudert ... verschiedenes ... unter anderem deine Befürchtung, daß er ... zum Wahnsinn neige ...«
»Auch den Damen hast du es gestern ausgeplaudert.«
»Ich weiß, daß es dumm ist! Du kannst mich schlagen. Hast du wirklich einen bestimmten Gedanken darüber gehabt?«
»Ich sage doch, daß es Unsinn ist! Was für einen bestimmten Gedanken? Du hast ihn mir doch selbst als einen Monomanen geschildert, als du mich zu ihm führtest ... Nun, und gestern haben wir diesen Verdacht noch mehr geschürt, eigentlich du, mit diesen Erzählungen ... von dem Anstreicher; das war ein schönes Gespräch, wenn er vielleicht wirklich deswegen verrückt geworden ist! Wenn ich nur sicher wüßte, was damals im Polizeibureau geschehen ist und daß ihn dort irgendeine Kanaille mit ihrem Verdacht beleidigt hat! Hm! ... dann hätte ich gestern solch ein Gespräch nicht geduldet. Diese Monomanen machen doch aus einem Tropfen einen Ozean und sehen jeden Unsinn leibhaftig vor sich ... Soweit ich mich erinnere, war mir gestern aus der Erzählung Samjotows die Hälfte der Sache klar geworden. Aber was hat das zu sagen! Ich kenne einen Fall, wo ein vierzigjähriger Mann, ein Hypochonder, der es nicht ertragen konnte, daß ein achtjähriger Junge sich über ihn bei Tisch täglich lustig machte, ihn ermordete! Hier aber: sein zerlumpter Zustand, die Frechheit des Revieraufsehers, die beginnende Krankheit und dazu dieser Verdacht! Und das sagt man einem rasenden Hypochonder! Bei seiner wahnsinnigen außergewöhnlichen Eitelkeit! Hier sitzt vielleicht gerade der Ausgangspunkt der ganzen Krankheit! Na, hol's der Teufel! Dieser Samjotow ist übrigens wirklich ein netter Junge, aber hm! ... es war ganz unnötig, daß er es gestern erzählte. Ein furchtbarer Schwätzer!«
»Wem hat er es denn erzählt? Doch nur mir und dir!«
»Und dem Porfirij.«
»Was macht das, daß er es auch Porfirij erzählt hat?«
»Übrigens, hast du irgendeinen Einfluß auf jene, ich meine auf seine Mutter und Schwester? Sie müßten ihn heute vorsichtiger behandeln ...«
»Sie werden sich schon einigen!« antwortete Rasumichin unwillig.
»Warum ist er nur so über Luschin hergefallen? Der Mensch hat doch Geld und ist ihr anscheinend gar nicht zuwider ... sie haben wohl keinen Heller? Wie?«
»Was fragst du mich so aus?« rief Rasumichin gereizt. »Woher soll ich wissen, ob sie einen Heller haben oder nicht? Frag sie selbst, vielleicht wirst du es erfahren.«
»Pfui, wie dumm du zuweilen bist! Der gestrige Rausch sitzt dir noch im Kopfe ... Auf Wiedersehen; bedanke dich in meinem Namen bei deiner Praskowja Pawlowna für das Nachtquartier. Sie hat sich eingeschlossen, hat auf mein ›Guten Morgen‹ durch die Tür nicht geantwortet, war aber schon um sieben Uhr aufgestanden; man hatte ihr den Samowar aus der Küche durch den Korridor gebracht ... Ich bin nicht für würdig befunden worden, ihr Antlitz zu schauen ...«
Punkt neun Uhr erschien Rasumichin in den möblierten Zimmern Bakalejews. Die beiden Damen erwarteten ihn schon längst mit einer hysterischen Ungeduld. Sie waren schon um sieben aufgestanden, vielleicht sogar früher. Er trat finster wie die Nacht ein und machte eine ungeschickte Verbeugung, worüber er sofort böse wurde, – natürlich auf sich selbst. Er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Pulcheria Alexandrowna fiel über ihn buchstäblich her, packte ihn an beiden Händen und küßte sie ihm beinahe. Er warf einen schüchternen Blick auf Awdotja Romanowna; dieses hochmütige Gesicht drückte aber in diesem Augenblick so viel Dankbarkeit und Freundlichkeit aus, eine so vollkommene und unerwartete Achtung ihm gegenüber (statt höhnischer Blicke und einer unwillkürlichen, schlecht verheimlichten Verachtung), daß es ihm wirklich leichter zumute gewesen wäre, wenn man ihn hier mit Schimpfworten empfangen hätte; so mußte er sich aber furchtbar genieren. Zum Glück hatte er ein fertiges Gesprächsthema, an das er sich auch sofort klammerte.
Als sie hörte, daß er »noch nicht erwacht« sei, daß aber alles »vorzüglich gehe«, erklärte Pulcheria Alexandrowna, daß dies sogar gut sei, »denn sie habe mit ihm sehr vieles dringend zu besprechen«. Darauf folgte die Frage, ob er schon Tee getrunken habe, und die Einladung, ihn mit ihnen zu trinken; sie hatten in Erwartung Rasumichins noch selbst keinen getrunken. Awdotja Romanowna klingelte, worauf ein schmutziger und zerlumpter Bursche erschien, dem der Tee bestellt wurde; der Tee wurde schließlich serviert, doch so schmutzig und unanständig, daß die Damen sich schämten. Rasumichin schimpfte energisch auf diese möblierten Zimmer, verstummte aber und wurde verlegen, als er sich Luschins erinnerte; er war ordentlich froh, als Pulcheria Alexandrowna ihn mit ihren Fragen zu bestürmen begann.
Diese Fragen beantwortend, sprach er dreiviertel Stunden, jeden Augenblick unterbrochen und wieder gefragt, und so teilte er ihnen die wichtigsten und notwendigsten ihm bekannten Tatsachen aus dem letzten Jahre des Lebens Rodions Romanowitschs mit und schloß mit einem umständlichen Bericht über dessen Erkrankung. Vieles verschwieg er, was auch wirklich verschwiegen werden mußte, unter anderem auch die Szene auf dem Polizeibureau mit allen Folgen. Seiner Erzählung lauschten sie gierig; als er aber schon glaubte, daß er zu Ende sei und seine Zuhörerinnen befriedigt habe, zeigte es sich, daß er für sie so gut wie noch gar nicht begonnen hatte.
»Sagen Sie, sagen Sie mir, wie meinen Sie ... ach, entschuldigen Sie, ich weiß noch immer nicht, wie Sie heißen!« fragte Pulcheria Alexandrowna hastig.
»Dmitrij Prokofjitsch.«
»Also Dmitrij Prokofjitsch, ich möchte sehr gerne wissen ... wie er überhaupt ... wie er jetzt die Dinge ansieht, das heißt, Sie müssen mich richtig verstehen, wie soll ich es Ihnen bloß sagen; was liebt er und was liebt er nicht? Ist er immer so reizbar? Was hat er für Wünsche, wonach sehnt er sich, wenn man so sagen darf? Was hat jetzt auf ihn einen besonderen Einfluß? Mit einem Worte, ich möchte ...«
»Ach, Mamachen, wie kann man nur alle diese Fragen auf einmal beantworten!« bemerkte Dunja.
»Ach, mein Gott, ich hatte gar nicht, gar nicht erwartet, ihn so zu finden, Dmitrij Prokofjitsch.«
»Das ist sehr natürlich«, antwortete Dmitrij Prokofjitsch. »Eine Mutter habe ich nicht, aber mein Onkel kommt jedes Jahr her und kann mich fast jedesmal nicht wiedererkennen, selbst äußerlich, und dabei ist er doch ein kluger Mensch! Nun, und in den drei Jahren Ihrer Trennung ist doch viel Wasser ins Meer geflossen. Was soll ich Ihnen auch sagen? Ich kenne Rodion seit anderthalb Jahren: er ist finster, düster, hochmütig und stolz; in der letzten Zeit (vielleicht auch schon viel länger) argwöhnisch und ein Hypochonder, großmütig und gut. Er liebt es nicht, seine Gefühle zu zeigen, und ist eher bereit, grausam zu sein, als sein Herz durch Worte zu enthüllen. Manchmal ist er übrigens gar kein Hypochonder, sondern einfach unmenschlich kalt und gefühllos, als ob in ihm zwei entgegengesetzte Charaktere abwechselten. Zuweilen furchtbar verschlossen! Nie hat er Zeit; immer stört man ihn, dabei liegt er aber da und tut nichts. Er ist nicht spöttisch, – nicht weil es ihm etwa an Witz mangelte, sondern als hätte er keine Zeit für solchen Unsinn. Er hört nie bis zu Ende, was man ihm sagt. Niemals interessiert er sich dafür, wofür sich die anderen interessieren. Er hält sehr viel von sich und hat wohl auch ein gewisses Recht dazu. Nun, was soll ich noch sagen? ... Mir scheint, daß Ihre Ankunft auf ihn eine heilsame Wirkung haben wird.«
»Ach, gebe Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna, für die der Bericht Rasumichins über ihren Sohn eine Qual gewesen war.
Rasumichin aber blickte Awdotja Romanowna endlich etwas mutiger an. Er hatte sie während des Gesprächs öfter angesehen, aber nur flüchtig, bloß für einen Augenblick, und die Augen immer gleich wieder weggewandt. Awdotja Romanowna setzte sich bald an den Tisch und hörte aufmerksam zu und stand bald wieder auf und begann, ihrer Gewohnheit nach, auf und ab zu gehen, die Arme gekreuzt, die Lippen zusammengepreßt; zuweilen stellte sie nachdenklich ihre Fragen, ohne ihre Wanderung zu unterbrechen. Auch sie hatte die Gewohnheit, was man ihr sagte, nicht bis ans Ende zu hören. Sie trug ein dunkles Kleid aus einem leichten Stoff und ein weißes, durchsichtiges Tüchlein um den Hals. Rasumichin schloß aus vielen Anzeichen, daß die beiden Frauen sich in außerordentlich dürftigen Verhältnissen befanden. Wäre Awdotja Romanowna wie eine Königin gekleidet gewesen, so hätte er sich vor ihr wohl gar nicht gefürchtet; jetzt aber, vielleicht gerade aus dem Grunde, weil sie so ärmlich gekleidet war und er die ganze elende Umgebung sah, hatte sich in seinem Herzen eine gewisse Angst festgesetzt, und er fürchtete für jedes seiner Worte, für jede Gebärde, was für ihn, der sich auch ohnehin nicht recht traute, natürlich sehr lästig war.
»Sie haben viel Interessantes über den Charakter meines Bruders erzählt und ... haben es wirklich unparteiisch erzählt. Das ist gut; ich glaubte, Sie hätten eine heilige Scheu vor ihm«, bemerkte Awdotja Romanowna mit einem Lächeln.
»Auch ich glaube, daß er eine Frau um sich haben muß«, fügte sie nachdenklich hinzu.
»Das habe ich nicht gesagt, aber vielleicht haben Sie auch darin recht, nur ...«
»Was denn?«
»Nur liebt er niemand; vielleicht wird er auch nie jemand lieben«, schnitt Rasumichin ab.
»Das heißt, er ist unfähig, jemand zu lieben?«
»Wissen Sie, Awdotja Romanowna, Sie sehen Ihrem Bruder furchtbar ähnlich, sogar in allen Dingen!« platzte er plötzlich, für sich selbst unerwartet, heraus; da er sich aber erinnerte, was er eben über ihren Bruder gesagt hatte, wurde er rot wie ein Krebs und furchtbar verlegen.
Awdotja Romanowna konnte sich bei seinem Anblick nicht des Lachens erwehren.
»In bezug auf Rodja könnt ihr euch beide irren«, mischte sich Pulcheria Alexandrowna etwas pikiert ins Gespräch. »Ich spreche nicht vom Jetzigen, Dunjetschka. Was Pjotr Petrowitsch in diesem Briefe schreibt ... und was wir beide annahmen, ist vielleicht gar nicht wahr, aber Sie können sich nicht vorstellen, Dmitrij Prokofjitsch, wie phantastisch und wie – wie soll ich es nur sagen, – wie launisch er ist. Seinem Charakter konnte ich niemals vertrauen, selbst als er erst fünfzehn Jahre alt war. Ich bin überzeugt, daß er auch jetzt plötzlich etwas mit sich anstellen kann, was keinem Menschen je einfallen wird ... Was brauche ich weit zu gehen: ist Ihnen bekannt, wie er mich vor eineinhalb Jahren überrascht, erschüttert und fast vernichtet hat, als er diese, wie heißt sie noch, die Tochter seiner Wirtin Sarnizyna heiraten wollte?«
»Wissen Sie etwas Näheres über diese Geschichte?« fragte Awdotja Romanowna.
»Glauben Sie vielleicht,« mischte sich Pulcheria Alexandrowna mit Feuer ein, »daß ihn damals meine Tränen, meine Bitten, meine Krankheit, mein Tod vielleicht aus Kummer, unsere Armut hätten zurückhalten können? Er hätte sich ruhig über alle diese Hindernisse hinweggesetzt. Kann man aber annehmen, daß er uns nicht liebt?«
»Er hat mir nie etwas über diese Geschichte erzählt,« antwortete Rasumichin vorsichtig, »aber ich habe manches von der Frau Sarnizyna selbst gehört, die in ihrer Art auch wenig gesprächig ist, und was ich gehört habe, mutet vielleicht sogar etwas seltsam an ...«
»Aber was, was haben Sie gehört?« fragten beide Frauen zugleich.
»Es ist übrigens nichts Besonderes. Ich erfuhr nur, daß diese Heirat, die endgültig beschlossen war und nur infolge des Todes der Braut nicht zustande kam, der Frau Sarnizyna selbst sehr gegen den Strich ging ... Außerdem sagt man, daß die Braut sehr unschön, das heißt sogar ausgesprochen häßlich gewesen sei ... und kränklich, und ... und so sonderbar ... übrigens, glaube ich nicht ohne gewisse Vorzüge. Sie muß sicher irgendwelche Vorzüge gehabt haben, sonst wäre es nicht möglich, zu verstehen ... Eine Mitgift hatte sie nicht, er würde auch nicht auf eine Mitgift rechnen ... Es ist überhaupt schwer, in solch einer Sache zu urteilen.«
»Ich bin überzeugt, daß sie ein würdiges junges Mädchen war«, bemerkte Awdotja Romanowna kurz.
»Gott verzeih es mir, aber ich freute mich damals über ihren Tod, obwohl ich nicht weiß, wer von den beiden den anderen zugrunde gerichtet hätte: er sie, oder sie ihn?« schloß Pulcheria Alexandrowna. Dann begann sie vorsichtig, mit Pausen, jeden Augenblick Dunja anblickend, was jener offenbar unangenehm war, Rasumichin wieder über den gestrigen Auftritt zwischen Rodja und Luschin auszufragen.
Dieser Vorfall machte ihr, wie man sehen konnte, die größten Sorgen, so daß sie fast vor Angst zitterte. Rasumichin erzählte die ganze Geschichte mit allen Einzelheiten wieder, fügte aber diesmal auch sein eigenes Urteil hinzu: er beschuldigte Raskolnikow direkt, daß er Pjotr Petrowitsch mit Absicht gekränkt habe, und entschuldigte ihn diesmal sehr wenig durch seine Krankheit.
»Er hat es noch vor seiner Krankheit beschlossen«, fügte er hinzu.
»Das ist auch meine Meinung«, sagte Pulcheria Alexandrowna tief bekümmert.
Diesmal war sie aber sehr überrascht, daß Rasumichin sich so vorsichtig und sogar anscheinend mit Achtung über Pjotr Petrowitsch geäußert hatte. Dies überraschte auch Awdotja Romanowna.
»Sie sind also dieser Meinung von Pjotr Petrowitsch?« Pulcheria Alexandrowna konnte sich nicht enthalten, diese Frage zu stellen.
»Über den künftigen Mann Ihrer Tochter kann ich keiner anderen Meinung sein«, antwortete Rasumichin fest und überzeugt. »Und das sage ich nicht aus banaler Höflichkeit, sondern weil ... weil ... nun schon aus dem Grunde allein, weil Awdotja Romanowna diesen Menschen selbst und freiwillig ihrer Wahl würdigte. Und wenn ich ihn gestern so beschimpft habe, so doch nur, weil ich blödsinnig betrunken war und auch ... verrückt; ja, verrückt, meiner Sinne nicht mächtig, vollständig wahnsinnig ... und heute schäme ich mich dessen! ...«
Er errötete und verstummte. Auch Awdotja Romanowna errötete, unterbrach aber nicht das Schweigen. Seitdem man über Luschin zu sprechen angefangen hatte, hatte sie noch kein Wort gesagt.
Pulcheria Alexandrowna befand sich ohne die Unterstützung seitens der Tochter offenbar in Verlegenheit. Schließlich erklärte sie, stotternd und ständig nach der Tochter blickend, daß ein gewisser Umstand sie jetzt außerordentlich beunruhige.
»Sehen Sie, Dmitrij Prokofjitsch«, fing sie an. »Ich werde mit Dmitrij Prokofjitsch ganz offen sein, nicht wahr, Dunjetschka?«
»Natürlich, Mamachen«, antwortete Awdotja Romanowna mit Nachdruck.
»Es handelt sich um folgendes«, beeilte sie sich, als hätte man ihr durch die Erlaubnis, von ihrem Kummer zu sprechen, eine schwere Last vom Herzen genommen. »Heute in aller Frühe erhielten wir von Pjotr Petrowitsch ein Billett als Antwort auf unsere gestrige Mitteilung über unsere Ankunft. Sehen Sie, er sollte uns gestern, wie er es versprochen, auf dem Bahnhofe erwarten. Statt dessen schickte er auf den Bahnhof einen Diener mit der Adresse dieser möblierten Zimmer und um uns den Weg zu zeigen; Pjotr Petrowitsch ließ aber sagen, daß er heute früh uns hier aufsuchen würde. Statt dessen kam heute früh von ihm dieses Billett ... Es ist das beste, wenn Sie es selbst lesen; es ist ein Punkt dabei, der mir große Sorge macht ... Sie werden gleich selbst sehen, was das für ein Punkt ist, und sagen Sie mir Ihre aufrichtige Meinung, Dmitrij Prokofjitsch! Sie kennen besser als alle den Charakter Rodjas und können uns darum besser als alle raten. Ich will Ihnen im voraus sagen, daß Dunjetschka ihren Entschluß schon gefaßt hat, gleich vom ersten Schritt an; aber ich weiß noch nicht, was ich tun soll und ... und habe darum Sie erwartet.«
Rasumichin entfaltete das mit dem gestrigen Datum versehene Billett und las folgendes:
»Sehr geehrte gnädige Frau, Pulcheria Alexandrowna, ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß ich infolge plötzlich eingetretener Hindernisse Sie nicht auf dem Bahnhofe habe empfangen können und deshalb zu diesem Zweck einen sehr gewandten Menschen hinschickte. Ebenso muß ich auf die Ehre, Sie morgen früh zu sehen, verzichten, weil ich unaufschiebbare Angelegenheiten im Senat zu erledigen habe und Ihre verwandtschaftliche Zusammenkunft mit Ihrem Sohn und Awdotja Romanownas mit ihrem Bruder nicht stören möchte. Ich werde mir aber die Ehre nehmen, Sie spätestens morgen, Punkt acht Uhr abends in Ihrer Wohnung aufzusuchen, wobei ich mir erlaube, dem eine inständige und, ich möchte sagen, dringende Bitte hinzuzufügen, daß Rodion Romanowitsch bei unserer gemeinsamen Begegnung nicht mehr anwesend sei, da er mich bei meinem gestrigen Krankenbesuch bei ihm in einer beispiellosen und sehr kränkenden Weise beleidigt hat und da ich außerdem mit Ihnen eine notwendige und ausführliche Aussprache über einen gewissen Punkt haben möchte, über den ich Ihre eigene Meinung hören will. Ich habe die Ehre, Ihnen im voraus mitzuteilen, daß ich, falls ich entgegen meiner Bitte, Rodion Romanowitsch antreffe, genötigt sein werde, mich sofort zurückzuziehen, und die Folgen können Sie sich dann selbst zuschreiben. Ich schreibe Ihnen dies in der Voraussetzung, daß Rodion Romanowitsch, der bei meinem Besuche so schwer krank zu sein schien, aber nach zwei Stunden plötzlich gesund geworden ist, folglich auch ausgehen und zu Ihnen kommen kann. Davon habe ich mich mit meinen eigenen Augen in der Wohnung eines von Pferden überfahrenen Trunkenboldes überzeugt, der an diesen Verletzungen auch gestorben ist und dessen Tochter, einem Mädchen von verrufenem Lebenswandel, er unter dem Vorwande, daß es für die Beerdigung sein solle, einen Betrag von etwa fünfundzwanzig Rubel ausgehändigt hat, was mich sehr überraschte, da ich weiß, mit welcher Mühe Sie diese Summe aufgetrieben haben. Indem ich hierbei meine besondere Hochachtung der verehrten Awdotja Romanowna ausspreche, bitte ich Sie, den Ausdruck meiner achtungsvollen Ergebenheit entgegenzunehmen.
Ihr ergebenster Diener
P. Luschin.«
»Was soll ich jetzt machen, Dmitrij Prokofjewitsch?« begann Pulcheria Alexandrowna fast weinend. »Wie kann ich Rodja bitten, nicht zu kommen. Er hat gestern so eindringlich darauf bestanden, daß wir Pjotr Petrowitsch absagen, und nun verlangt jener, daß wir ihn selbst nicht empfangen? Er wird ja absichtlich kommen, wenn er es erfährt, und ... was wird dann geschehen?«
»Machen Sie es so, wie Awdotja Romanowna beschlossen hat«, antwortete Rasumichin ruhig und sofort.
»Ach, mein Gott! Sie sagt ... Sie sagt, Gott weiß was, und erklärt mir nicht den Zweck! Sie sagt, es würde besser sein, das heißt nicht besser, aber es sei aus irgendeinem Grunde dringend notwendig, daß auch Rodja unbedingt heute um acht Uhr herkäme und daß sie sich beide hier träfen ... Ich aber hatte die Absicht, ihm diesen Brief gar nicht zu zeigen, sondern es irgendwie durch Ihre Vermittlung so einzurichten, daß er nicht käme ... denn er ist so reizbar ... Ich verstehe auch gar nicht, was für ein Trunkenbold dort gestorben ist, und was für eine Tochter, und wie er dieser Tochter sein letztes Geld hat hergeben können ... das Geld, das ...«
»Das Ihnen so teuer zu stehen kam, Mamachen«, fügte Awdotja Romanowna hinzu.
»Er war gestern nicht recht bei Sinnen«, sagte Rasumichin nachdenklich. »Wenn Sie nur wüßten, was er dort gestern im Wirtshause angerichtet hat, obwohl es auch klug war ... Hm! Von einem Verstorbenen und von einem Mädchen hat er wirklich was erzählt, als wir nach Hause gingen, aber ich habe kein Wort verstanden ... Übrigens war ich auch selbst gestern ...«
»Das beste ist, Mamachen, wenn wir selbst zu ihm hingehen. Ich versichere Ihnen, wir werden dann sehen, was zu tun ist, außerdem ist es schon Zeit. Mein Gott! Schon bald elf Uhr!« rief sie nach einem Blick auf ihre prachtvolle goldene Uhr mit Emaille, die sie an einem feinen Venezianer Kettchen um den Hals hängen hatte und die mit der übrigen Kleidung so gar nicht harmonierte.
– Ein Geschenk des Bräutigams – dachte sich Rasumichin.
»Ach, es ist Zeit! ... Es ist Zeit, Dunjetschka!« rief Pulcheria Alexandrowna aufgeregt. »Er wird denken, daß wir ihm noch von gestern her böse sind, weil wir so lange nicht kommen! ... Ach, mein Gott!«
Während sie das sagte, warf sie sich hastig die Mantille um und setzte den Hut auf; auch Dunjetschka machte sich fertig. Ihre Handschuhe waren nicht nur abgetragen, sondern auch zerrissen, was Rasumichin auch merkte, und doch verlieh diese offensichtliche Armseligkeit der Kleidung den beiden Damen eine besondere Würde, wie es immer bei Menschen ist, die ärmliche Kleidung zu tragen verstehen. Rasumichin blickte Dunjetschka andächtig an und war schon stolz, daß er sie führen würde.
– Jene Königin – dachte er bei sich – die sich im Gefängnisse die Strümpfe stopfte, sah in jenem Augenblick natürlich wie eine echte Königin aus und sicher viel königlicher, als bei den prunkvollsten Festen und Empfängen.
»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna: »Hab ich mir denn je gedacht, daß ich das Wiedersehen mit meinem Sohn, mit meinem lieben, lieben Rodja so fürchten werde, wie ich es jetzt fürchte! ... Ich hab solche Angst, Dmitrij Prokofjewitsch!« fügte sie hinzu mit einem ängstlichen Blick auf Rasumichin.
»Fürchten Sie nicht, Mamachen«, sagte Dunja, sie küssend. »Glauben Sie besser an ihn. Ich glaube.«
»Ach, mein Gott! Auch ich glaube, und doch habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen!« rief die arme Frau.
Sie traten auf die Straße.
»Weißt du, Dunjetschka, als ich gegen Morgen einschlief, erschien mir plötzlich im Traume die verstorbene Marfa Petrowna ... sie war ganz weiß gekleidet ... sie ging auf mich zu, nahm mich bei der Hand und schüttelte dabei den Kopf so streng, so streng, als ob sie mich verurteilte ... Ob das was Gutes bedeutet? Ach, mein Gott, Dmitrij Prokofjitsch, Sie wissen es noch nicht: Marfa Petrowna ist gestorben!«
»Nein, ich weiß nichts; was für eine Marfa Petrowna?«
»Plötzlich! Und denken Sie sich nur ...«
»Später, Mamachen«, mischte sich Dunja ein. »Er weiß ja noch nicht, wer Marfa Petrowna war.«
»Ach, Sie wissen es nicht? Und ich glaubte, Sie wüßten schon alles. Sie müssen schon entschuldigen, Dmitrij Prokofjitsch, ich bin dieser Tage ganz von Sinnen. Wirklich, ich halte Sie für unsere Vorsehung, und darum bin ich so überzeugt, daß Ihnen schon alles bekannt sei. Ich betrachte Sie wie einen Verwandten ... Seien Sie nicht böse, daß ich so spreche. Ach, mein Gott, was haben Sie mit Ihrer rechten Hand? Haben Sie sie sich verstaucht?«
»Ja, verstaucht«, murmelte Rasumichin beglückt.
»Manchmal spreche ich so offenherzig, daß Dunja mich zurechtweisen muß ... Aber, mein Gott, in was für einer Kammer lebt er doch! Ist er schon aufgewacht? Und diese Frau, seine Wirtin, hält das für ein Zimmer? Hören Sie, Sie sagen, er liebe es nicht, sein Herz zu enthüllen, so daß ich ihm vielleicht zur Last fallen werde mit meinen ... Schwächen? ... Wollen Sie mich nicht belehren, Dmitrij Prokofjitsch? Wie soll ich ihn behandeln? Wissen Sie, ich gehe ganz wie verloren umher.«
»Fragen Sie ihn nicht zu sehr aus, wenn Sie sehen, daß er das Gesicht verzieht; fragen Sie ihn nicht zu sehr über seine Gesundheit, das liebt er nicht.«
»Ach, Dmitrij Prokofjitsch, wie schwer ist es, Mutter zu sein! Aber da ist schon die Treppe ... Was für eine schreckliche Treppe!«
»Mama, Sie sind so blaß, beruhigen Sie sich, Liebste«, sagte Dunja, sich an sie schmiegend. »Er muß glücklich sein, daß er Sie sieht, Sie aber quälen sich so«, fügte sie mit funkelnden Augen hinzu.
»Warten Sie, ich will zuerst nachschauen, ob er schon aufgewacht ist.«
Die Damen folgten leise Rasumichin, der vor ihnen die Treppe hinaufgegangen war; als sie im dritten Stock an der Tür der Wirtin vorübergingen, merkten sie, daß diese Tür ein wenig aufgemacht war und einen schmalen Spalt offen ließ, und daß zwei lebhafte schwarze Augen sie beide aus der Dunkelheit betrachteten. Als sich aber ihre Blicke trafen, wurde die Tür zugeschlagen, so laut, daß Pulcheria Alexandrowna vor Schreck beinahe aufschrie.
»Er ist gesund, gesund!« rief Sossimow den Eintretenden freudig entgegen.
Er war schon vor etwa zehn Minuten gekommen und saß in seiner gestrigen Ecke auf dem Sofa. Raskolnikow saß in der Ecke ihm gegenüber, fertig angekleidet und sogar sorgfältig gewaschen und gekämmt, was bei ihm schon lange nicht der Fall war. Das Zimmer füllte sich sofort, aber Nastasja brachte es doch fertig, mit den Gästen ins Zimmer einzudringen, und begann zuzuhören.
Raskolnikow war in der Tat fast ganz gesund, besonders im Vergleiche mit gestern, er war nur sehr blaß, zerstreut und finster. Äußerlich glich er einem Verwundeten oder einem, der einen heftigen physischen Schmerz leidet: seine Brauen waren zusammengezogen, die Lippen zusammengepreßt und der Blick fieberhaft. Er sprach wenig und ungern, als ginge es über seine Kraft, und in seinen Bewegungen zeigte sich ab und zu eine gewisse Unruhe.
Es fehlte bloß ein Verband am Arm oder ein schwarzes Taftpflaster auf dem Finger, um die Ähnlichkeit mit einem Menschen voll zu machen, der zum Beispiel ein schmerzhaftes Geschwür am Finger oder einen verstauchten Arm oder etwas Ähnliches hat.
Übrigens wurde auch dieses blasse und düstere Gesicht wie von einem inneren Lichte erhellt, als seine Mutter und Schwester eintraten, doch dies fügte seinem Ausdruck von griesgrämiger Zerstreutheit nur noch den einer gespannten Qual hinzu. Das Licht erlosch bald wieder, aber die Qual blieb zurück, und Sossimow, der seinen Patienten mit dem ganzen jugendlichen Eifer eines erst eben zu praktizieren beginnenden Arztes studierte, nahm an ihm beim Eintritt der Verwandten mit Erstaunen statt der Freude die heimliche schwere Entschlossenheit wahr, noch eine oder zwei Stunden Folterpein zu ertragen, der er nicht mehr entrinnen könnte. Später merkte er, daß fast jedes Wort der folgenden Unterhaltung irgendeine Wunde seines Patienten berührte und aufwühlte; zugleich staunte er aber auch einigermaßen, wie jener es heute verstand, sich zu beherrschen und die Gefühle des Monomanen zu verbergen, der gestern wegen des geringsten Wortes fast in Raserei geriet.
»Ja, jetzt sehe ich selbst, daß ich fast gesund bin«, sagte Raskolnikow, die Mutter und die Schwester freundlich küssend, so daß Pulcheria Alexandrowna sofort erstrahlte. »Und ich spreche auch nicht mehr wie gestern«, fügte er hinzu, sich an Rasumichin wendend und ihm freundschaftlich die Hand drückend.
»Ich mußte mich über ihn heute sogar wundern«, begann Sossimow, der über den Besuch sehr erfreut war, da er in den vorhergegangenen zehn Minuten schon den Faden des Gesprächs mit seinem Patienten verloren hatte. »Wenn es so weiter geht, so wird er in drei oder vier Tagen wieder der Frühere sein, das heißt, wie er vor einem Monat oder zwei Monaten war ... oder vielleicht vor drei Monaten? Das Ganze hat sich doch seit langem vorbereitet ... Nicht? Werden Sie jetzt selbst eingestehen, daß Sie vielleicht selbst schuld daran waren?« fügte er mit einem vorsichtigen Lächeln hinzu, als fürchtete er noch immer, ihn irgendwie zu reizen.
»Sehr möglich«, antwortete Raskolnikow kühl.
»Ich sage es,« fuhr Sossimow fort, der nun Appetit bekommen hatte, »weil Ihre rechtzeitige Genesung hauptsächlich von Ihnen selbst abhängt. Jetzt, wo man mit Ihnen schon sprechen kann, möchte ich Sie davon überzeugen, daß es notwendig ist, die ursprünglichen, sozusagen primären Ursachen zu beseitigen, die die Entstehung Ihres Krankheitszustandes beeinflußt haben, und dann werden Sie auch ganz gesund werden; sonst aber wird es sogar noch schlimmer werden. Diese ursprünglichen Ursachen kenne ich nicht, aber Ihnen müssen sie bekannt sein. Sie sind ein kluger Mensch und haben sich sicher selbst beobachtet. Mir scheint, daß der Anfang Ihrer Erkrankung teilweise mit Ihrem Austritt aus der Universität zusammenhängt. Sie dürfen nicht ohne eine Beschäftigung bleiben, und darum glaube ich, daß die Arbeit und ein fest vorgestecktes Ziel Ihnen viel helfen könnten.«
»Ja, ja, Sie haben vollkommen recht ... ich will sofort wieder in die Universität eintreten, und dann geht alles ... wie geschmiert ...«
Sossimow, der bei seinen klugen Ratschlägen teilweise auch an einen für die Damen berechneten Effekt dachte, war natürlich etwas verblüfft, da er, als er seine Rede beendete und seinen Zuhörer anblickte, auf dessen Gesicht einen ausgesprochen höhnischen Ausdruck wahrnahm. Dies dauerte übrigens nur einen Augenblick. Pulcheria Alexandrowna fing sofort an, sich bei Sossimow zu bedanken, besonders für den gestrigen nächtlichen Besuch im Gasthause.
»Wie, ist er nachts bei euch gewesen?« fragte Raskolnikow, anscheinend beunruhigt. »Also habt ihr auch nach der Reise nicht geschlafen?«
»Ach, Rodja, das war alles vor zwei Uhr. Dunja und ich haben uns auch zu Hause nie vor zwei Uhr schlafen gelegt.«
»Auch ich weiß nicht, wie ihm zu danken«, fuhr Raskolnikow fort, plötzlich wieder finster werdend und den Blick senkend. »Ganz abgesehen von der Geldfrage, – Sie entschuldigen schon, daß ich es erwähne (wandte er sich an Sossimow), – weiß ich wirklich nicht, wodurch ich eine solche Aufmerksamkeit verdient habe! Ich verstehe es einfach nicht ... und ... und sie fällt mir sogar zur Last, weil ich sie nicht begreifen kann: das sage ich Ihnen ganz offen.«
»Regen Sie sich nur nicht so auf«, antwortete Sossimow mit einem gezwungenen Lächeln. »Nehmen Sie an, daß Sie mein erster Patient sind; aber unsereiner, der eben zu praktizieren anfängt, liebt seine ersten Patienten wie eigene Kinder, manche verlieben sich sogar in sie. An Patienten bin ich aber nicht reich.«
»Von ihm spreche ich schon gar nicht«, fügte Raskolnikow hinzu, auf Rasumichin zeigend. »Auch er hat von mir außer Kränkungen und Sorgen nichts gehabt.«
»Wie er bloß lügen kann! Bist du heute in einer rührseligen Stimmung?« rief Rasumichin.
Wäre er scharfsichtiger gewesen, hätte er bemerkt, daß es gar keine rührselige Stimmung war, sondern das Gegenteil. Aber Awdotja Romanowna merkte es. Sie beobachtete den Bruder gespannt und voll Unruhe.
»Von Ihnen, Mamachen, wage ich gar nicht zu sprechen«, fuhr er fort, als sagte er eine am frühen Morgen auswendig gelernte Lektion auf. »Heute erst sah ich einigermaßen ein, wie Sie sich gestern in Erwartung meiner Rückkehr gequält haben müssen.«
Als er das gesagt hatte, reichte er plötzlich stumm und lächelnd der Schwester die Hand. Doch in diesem Lächeln kam diesmal ein echtes, unverfälschtes Gefühl zum Vorschein. Dunja ergriff sofort die ihr entgegengestreckte Hand und drückte sie erfreut und dankbar. Nach dem gestrigen Zerwürfnis wandte er sich zum ersten Male wieder an sie. Das Gesicht der Mutter erstrahlte vor Entzücken und Glück beim Anblick dieser endgültigen und wortlosen Aussöhnung zwischen Bruder und Schwester.
»Dafür liebe ich ihn so!« flüsterte Rasumichin, der alles gerne übertrieb, sich energisch auf seinem Stuhle umwendend. »Er hat solche Regungen! ...«
»Wie schön gerät ihm alles«, dachte sich die Mutter. »Was für edle Regungen hat er doch und wie einfach und feinfühlend hat er dem gestrigen Mißverständnis mit der Schwester ein Ende gemacht – bloß dadurch, daß er ihr in einem solchen Augenblick die Hand entgegenstreckte und sie so lieb ansah ... Was hat er doch für herrliche Augen und was für ein herrliches Gesicht! ... Er ist sogar hübscher als Dunjetschka ... Aber, mein Gott, was hat er für einen Anzug an, wie fürchterlich ist er gekleidet! Der Laufjunge Wassja im Laden Afanassij Iwanowitschs ist besser gekleidet als er! ... Ich würde ihm so gern um den Hals fallen und ihn umarmen und ... weinen, – aber ich habe solche Angst ... mein Gott, wie merkwürdig ist er doch! ... Da spricht er so freundlich, und doch habe ich Angst! Was fürchte ich bloß? ...«
»Ach, Rodja, du wirst es mir nicht glauben wollen«, beeilte sie sich plötzlich, seine Bemerkung zu beantworten, »wie ich und Dunjetschka gestern unglücklich waren! Jetzt, wo alles zu Ende und vorüber ist und wir alle wieder glücklich sind, kann man es erzählen. Denk dir nur, wir laufen her, um dich zu umarmen, fast direkt aus dem Zug, und diese Frau – da ist sie ja! Guten Tag, Nastasja! – sagt uns plötzlich, daß du das Delirium habest und eben ohne Wissen des Arztes im Fieber auf die Straße weggelaufen seist und daß man dich überall suche. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es uns zumute war! Ich mußte daran denken, wie tragisch der Leutnant Potantschikow, unser Bekannter, ein Freund deines Vaters, umgekommen ist –, du kannst dich seiner nicht erinnern, Rodja –, er ist auch im Delirium auf die gleiche Weise weggelaufen und auf dem Hofe in einen Brunnen gefallen; erst am anderen Tage konnte man ihn herausziehen. Wir sahen in unserer Angst die Dinge natürlich noch schrecklicher. Wir wollten schon auf die Suche nach Pjotr Petrowitsch laufen, um wenigstens mit seiner Hilfe ... denn wir waren beide ganz allein«, sagte sie mit klagender Stimme und verstummte plötzlich, da es ihr einfiel, daß es noch recht gefährlich sei, die Rede auf Pjotr Petrowitsch zu bringen, »obwohl wir alle schon vollkommen glücklich sind.«
»Ja, ja ... das ist natürlich alles sehr ärgerlich ...« murmelte Raskolnikow zur Antwort, doch mit einem so zerstreuten und geistesabwesenden Ausdruck, daß Dunjetschka ihn erstaunt ansah.
»Ja, was wollte ich noch sagen«, fuhr er fort und versuchte sich zu besinnen. »Ja: ich bitte euch, Mamachen und Dunja, glaubt nur nicht, daß ich nicht als erster zu euch heute kommen wollte und auf euren Besuch wartete.«
»Was fällt dir ein?« rief Pulcheria Alexandrowna ebenfalls erstaunt.
– Antwortet er uns nur aus Pflicht? – dachte Dunjetschka: – Er söhnt sich aus und bittet um Vergebung, als erfülle er eine Pflicht oder als sage er eine Lektion auf.
»Ich bin eben erst aufgewacht und wollte schon zu euch gehen, aber meine Kleider hielten mich auf; ich hatte gestern, vergessen ... Nastasja zu sagen ... dieses Blut abzuwaschen ... Eben erst habe ich mich angezogen.«
»Blut?! Was für ein Blut?« fragte Pulcheria Alexandrowna erschrocken.
»Es ist nichts ... regen Sie sich nicht auf, Mamachen. Das Blut kommt daher, weil ich gestern, als ich im Fieber herumlief, auf einen überfahrenen Menschen stieß ... auf einen Beamten ...«
»Im Fieber? Du erinnerst dich aber an alles!« unterbrach ihn Rasumichin.
»Das ist wahr«, antwortete ihm darauf Raskolnikow auffallend bedächtig. »Ich erinnere mich an alles bis in die letzte Kleinigkeit; aber wozu ich das tat, wozu ich hinging, und warum ich das oder jenes sagte, – das kann ich nicht mehr erklären.«
»Das ist ein sehr bekanntes Phänomen«, mischte sich Sossimow ein. »Die Ausführung ist manchmal meisterhaft und außerordentlich schlau, doch die Direktion der Handlungen, der Urbeginn der Handlungen, ist verworren und hängt von allerlei krankhaften Eindrücken ab. Es ist wie in einem Traume.«
– Das ist vielleicht sogar gut, daß er mich fast für verrückt hält – dachte Raskolnikow.
»Das kann aber vielleicht auch einem Gesunden passieren«, bemerkte Dunjetschka mit einem besorgten Blick auf Sossimow.
»Eine recht treffende Bemerkung«, antwortete jener. »In diesem Sinne gleichen wir wirklich fast alle den Verrückten, bloß mit dem kleinen Unterschied, daß die ›Kranken‹ etwas mehr verrückt sind als wir, denn man muß hier eine gewisse Grenze unterscheiden. Einen wirklich harmonischen Menschen gibt es tatsächlich fast nicht; unter zehn- und vielleicht auch hunderttausend Menschen findet man höchstens einen, und dann auch nur ein recht schwaches Exemplar ...«
Beim Worte »verrückt«, das dem auf sein Lieblingsthema geratenen Sossimow entschlüpft war, verzogen alle die Gesichter. Raskolnikow saß nachdenklich, mit einem seltsamen Lächeln auf den blassen Lippen da und schien dem keine Beachtung zu schenken. Er fuhr fort, über etwas nachzudenken.
»Nun, was ist mit jenem Überfahrenen? Ich habe dich eben unterbrochen«, beeilte sich Rasumichin zu sagen.
»Was?« rief jener, wie aus einem Traume erwachend. »Ja ... ich beschmierte mich also mit Blut, als ich half, ihn in seine Wohnung zu schaffen ... Übrigens, Mamachen, ich habe gestern etwas Unverzeihliches getan; ich war wirklich nicht bei Sinnen. Ich habe gestern das ganze Geld, das Sie mir geschickt haben, weggegeben ... seiner Frau ... für die Beerdigung. Jetzt ist sie Witwe, eine schwindsüchtige, unglückliche Frau ... drei kleine hungrige Waisenkinder ... im Hause ist es leer ... und es ist noch eine Tochter da ... Vielleicht hätten Sie selbst alles hergegeben, wenn Sie es gesehen hätten ... Ich hatte übrigens, ich gestehe es, gar kein Recht dazu, um so mehr, als ich wußte, wie schwer es Ihnen fiel, dieses Geld aufzutreiben. Um zu helfen, muß man erst ein Recht dazu haben, sonst: ›Crevez chiens, si vous n'êtes pas contents!‹« Er lachte. »Ist es nicht so, Dunja?«
»Nein, es ist nicht so«, antwortete Dunja fest.
»Bah! Auch du hast also ... Absichten! ...« murmelte er, sie beinahe gehässig ansehend und spöttisch lächelnd. »Das hätte ich bedenken sollen ... Nun, es ist sehr lobenswert und um so besser für dich ... und du wirst einen solchen Strich erreichen, daß du unglücklich sein wirst, wenn du ihn nicht überschreitest, und noch unglücklicher, wenn du ihn überschreitest ... Übrigens ist das alles Unsinn!« rief er gereizt und ärgerlich, daß er sich hatte hinreißen lassen. »Ich wollte nur sagen, daß ich Sie um Verzeihung bitte, Mamachen«, schloß er kurz und bündig.
»Hör schon auf, Rodja, ich bin überzeugt, daß alles, was du tust, gut ist!« rief die Mutter erfreut.
»Seien Sie nicht so überzeugt«, antwortete jener, den Mund zu einem Lächeln verziehend.
Nun folgte ein Schweigen. In diesem ganzen Gespräch, im Schweigen und in der Aussöhnung lag eine gewisse Spannung, und alle fühlten es.
– Es ist, als ob sie mich fürchteten! – dachte sich Raskolnikow, indem er seine Mutter und Schwester finster anblickte. Pulcheria Alexandrowna wurde in der Tat immer ängstlicher, je länger sie schwieg.
– Als sie noch nicht da waren, liebte ich sie doch so! – ging es ihm durch den Kopf.
»Weißt du, Rodja, Marfa Petrowna ist gestorben!« platzte plötzlich Pulcheria Alexandrowna heraus.
»Was für eine Marfa Petrowna?«
»Ach, Gott, Marfa Petrowna Swidrigailowa! Ich habe dir ja so viel über sie geschrieben!«
»Ach ja, ich erinnere mich ... Sie ist also gestorben? Wirklich?« fuhr er plötzlich auf. »Ist sie wirklich gestorben? Woran denn?«
»Denk dir nur: ganz plötzlich!« antwortete Pulcheria Alexandrowna mit großer Hast, durch sein Interesse ermutigt. »Und gerade in der Zeit, als ich dir den Brief schickte, sogar am gleichen Tage! Denk dir nur: dieser schreckliche Mensch war wahrscheinlich die Ursache ihres Todes. Man sagt, er hätte sie furchtbar verprügelt!«
»Haben sie denn so miteinander gelebt?« fragte er, sich an die Schwester wendend.
»Nein, sogar im Gegenteil. Er war gegen sie immer geduldig und sogar höflich. In vielen Fällen sogar allzu nachsichtig gegen ihren Charakter, ganze sieben Jahre lang ... Plötzlich riß ihm irgendwie die Geduld.«
»Er ist also wohl gar nicht so schrecklich, wenn er sich sieben Jahre beherrschen konnte! Ich glaube, du verteidigst ihn, Dunjetschka?«
»Nein, nein, er ist ein schrecklicher Mensch! Etwas Schrecklicheres kann ich mir gar nicht vorstellen!« antwortete Dunja fast erschauernd. Sie runzelte die Brauen und wurde nachdenklich.
»Es geschah am Morgen«, fuhr Pulcheria Alexandrowna eilig fort. »Sie ließ sofort die Pferde anspannen, um gleich nach dem Essen in die Stadt zu fahren: in solchen Fällen fuhr sie immer in die Stadt; zu Mittag aß sie, wie man sagt, mit großem Appetit ...«
»Verprügelt wie sie war?«
»Sie hatte übrigens immer diese Angewohnheit, und sobald sie gegessen hatte, ging sie, um keine Zeit zu verlieren, in die Badehütte ... Weißt du, sie kurierte sich mit kalten Bädern; sie haben dort eine kalte Quelle, und sie badete regelmäßig jeden Tag, und wie sie nur ins Wasser stieg, traf sie gleich der Schlag!«
»Das will ich glauben!« sagte Sossimow.
»Und hat er sie ordentlich verprügelt?«
»Es ist ja ganz gleich«, erwiderte Dunja.
»Hm! Wozu erzählen Sie mir übrigens solchen Unsinn, Mamachen?« sagte Raskolnikow plötzlich gereizt und unwillig.
»Ach, mein Freund, ich wußte schon gar nicht, worüber zu sprechen«, entfuhr es Pulcheria Alexandrowna.
»Was ist denn los? Habt ihr alle vor mir Angst, oder was?« sagte er mit einem schiefen Lächeln.
»Es ist wirklich so«, antwortete Dunja, den Bruder gerade und streng anblickend. »Mamachen hat sich sogar vor Angst bekreuzigt, als wir die Treppe hinaufgingen.«
Sein Gesicht verzerrte sich wie in einem Krampfe.
»Ach, was sagst du, Dunja! Sei, bitte, nicht böse, Rodja ... Warum sagst du so was, Dunja!« begann Pulcheria Alexandrowna verlegen. »Es ist wahr, als wir herfuhren, stellte ich mir die ganze Zeit während der Fahrt vor, wie wir uns wiedersehen und wie wir uns alles erzählen werden ... und ich war so glücklich, daß ich von der Reise nichts merkte! Aber was sage ich! Ich bin auch jetzt glücklich ... Das war dumm von dir, Dunja ... Ich bin schon darum glücklich, weil ich dich sehe, Rodja ...«
»Lassen Sie es, Mamachen«, murmelte er verwirrt, ohne sie anzublicken, und drückte ihre Hand. »Wir werden uns noch aussprechen können!«
Als er das gesagt hatte, wurde er plötzlich verlegen und bleich: wieder durchfuhr eine schon vor kurzem erlebte schreckliche Empfindung wie tote Kälte seine Seele; wieder wurde es ihm plötzlich vollkommen klar und verständlich, daß er soeben eine fürchterliche Lüge gesagt hatte, daß er sich nicht nur nie wieder aussprechen können würde, sondern auch niemals, über nichts und mit niemand sprechen dürfe. Der Eindruck dieses schmerzvollen Gedankens war so stark, daß er für einen Augenblick sich fast vergaß, von seinem Platze aufstand, und, ohne jemand anzublicken, aus dem Zimmer gehen wollte.
»Was hast du?« rief Rasumichin, ihn bei der Hand packend.
Er setzte sich wieder hin und fing an, sich schweigend umzusehen; alle blickten ihn verständnislos an.
»Was seid ihr so langweilig!« rief er plötzlich, ganz unvermittelt. »Sagt doch etwas! Was soll man denn wirklich so herumsitzen! Sprecht doch! Wollen wir uns unterhalten ... Wir haben uns versammelt und schweigen ... Nun, irgendwas!«
»Gott sei Dank! Ich glaubte schon, daß mit ihm wieder das Gestrige beginnt«, sagte Pulcheria Alexandrowna, sich bekreuzigend.
»Was hast du, Rodja?« fragte Awdotja Romanowna argwöhnisch.
»Nichts, mir ist gerade ein Ding eingefallen«, antwortete er und lachte plötzlich auf.
»Nun, wenn es ein Ding ist, so ist es gut! Ich habe schon selbst geglaubt ...« murmelte Sossimow, sich vom Sofa erhebend. »Es ist für mich aber Zeit; ich werde vielleicht noch vorbeikommen ... Wenn ich Sie noch antreffe ...«
Er verabschiedete sich und ging.
»Was für ein prächtiger Mensch!« bemerkte Pulcheria Alexandrowna.
»Ja, ein prächtiger, ausgezeichneter, gebildeter, kluger Mensch ...« begann plötzlich Raskolnikow mit einer unerwarteten Hast und einer bisher ungewohnten Lebhaftigkeit. »Ich weiß nicht mehr, wo ich ihn vor meiner Erkrankung getroffen habe ... Ich glaube, ich bin mit ihm schon irgendwo zusammengekommen ... Auch er ist ein guter Mensch!« sagte er, mit dem Kopfe auf Rasumichin weisend. »Gefällt er dir, Dunja?« fragte er und fing plötzlich aus unbekanntem Grunde zu lachen an.
»Sehr«, antwortete Dunja.
»Pfui, was bist du für ein ... Schwein!« sagte Rasumichin furchtbar verlegen und errötend und erhob sich von seinem Stuhl.
Pulcheria Alexandrowna lächelte leise, und Raskolnikow lachte laut auf.
»Wo willst du denn hin?«
»Auch ich ... muß gehen.«
»Du mußt gar nicht, bleib nur da! Da Sossimow fortgegangen ist, mußt du auch gehen. Geh nicht weg ... Wie spät ist es denn? Ist es schon zwölf? Was hast du für eine nette Uhr, Dunja! Was schweigt ihr schon wieder? Bloß ich allein rede immer! ...«
»Es ist ein Geschenk von Marfa Petrowna«, antwortete Dunja.
»Ein wertvolles Stück«, fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu.
»Aber so groß, fast keine Damenuhr.«
»Ich liebe gerade solche Uhren«, sagte Dunja.
– Es ist also kein Geschenk vom Bräutigam – dachte Rasumichin und wurde, er wußte selbst nicht warum, froh darüber.
»Und ich glaubte, es sei ein Geschenk von Luschin«, bemerkte Raskolnikow.
»Nein, der hat Dunjetschka noch nichts geschenkt.«
»So, so! Wissen Sie noch, Mamachen, wie ich mal verliebt war und heiraten wollte?« sagte er plötzlich mit einem Blick auf die Mutter, die über die unerwartete Wendung und den Ton, mit dem er das sagte, erstaunt war.
»Gewiß, mein Freund!«
Pulcheria Alexandrowna wechselte mit Dunjetschka und Rasumichin Blicke.
»Hm! Ja! Was soll ich euch erzählen? Ich erinnere mich kaum. Sie war ein kränkliches Mädchen,« fuhr er fort, nachdenklich und mit gesenkten Augen, »ganz krank; sie gab gern Almosen und sehnte sich nach einem Kloster. Einmal weinte sie furchtbar, als sie mir davon zu erzählen begann; ja, ja ... ich erinnere mich ... ich erinnere mich genau. Sie war ... so unschön. Ich weiß wirklich nicht, warum ich so an ihr hing ... ich glaube, weil sie immer krank war ... Wenn sie auch noch lahm oder buckelig gewesen wäre, so hätte ich sie, glaube ich, noch mehr lieb gewonnen ... (Er lächelte nachdenklich.) Es war so ... ein Frühlingstraum ...« ...«
»Nein, es war nicht bloß ein Frühlingstraum«, sagte Dunjetschka begeistert.
Er blickte die Schwester aufmerksam und gespannt an, aber er hörte sie nicht oder verstand sogar ihre Worte nicht. Dann stand er in tiefer Nachdenklichkeit auf, trat an die Mutter heran, küßte sie, kehrte auf seinen Platz zurück und setzte sich wieder hin.
»Du liebst sie auch noch jetzt!« sagte Pulcheria Alexandrowna gerührt.
»Sie? Jetzt? Ach ja ... Sie sprechen von ihr! Nein. Dies alles ist jetzt wie in einer anderen Welt ... und es ist auch so lange her. Und alles, was rings geschieht, ist, als geschähe es nicht hier ...«
Er blickte sie alle aufmerksam an.
»Auch ihr alle ... es ist, als sähe ich euch aus einer Entfernung von tausend Werst ... Weiß der Teufel, warum wir darüber sprechen! Warum soll man mich ausfragen?« fügte er ärgerlich hinzu und verstummte, an den Nägeln kauend und wieder in Nachdenklichkeit versinkend.
»Wie schlecht ist doch deine Wohnung, Rodja, sie ist wie ein Sarg«, sagte plötzlich Pulcheria Alexandrowna, das schwere Schweigen unterbrechend. »Ich bin überzeugt, daß diese Wohnung die halbe Schuld daran hat, daß du ein solcher Melancholiker geworden bist.«
»Die Wohnung? ...« antwortete er zerstreut. »Ja, die Wohnung hat viel dazu beigetragen ... ich habe auch schon selbst daran gedacht. Wenn Sie wüßten, was für einen sonderbaren Gedanken Sie eben ausgesprochen haben, Mamachen«, fügte er plötzlich mit einem seltsamen Lächeln hinzu.
Es hätte nicht viel gefehlt, und dieses Beisammensein, diese Verwandten nach dreijähriger Trennung, dieser verwandtschaftliche Ton des Gesprächs bei voller Unmöglichkeit, über etwas Bestimmtes zu sprechen, – dies alles wäre ihm schließlich ganz unerträglich geworden. Es gab jedoch eine unaufschiebbare Sache, die heute noch, so oder anders, unbedingt erledigt werden mußte, – das hatte er schon vorhin, als er erwachte, beschlossen. Jetzt freute er sich über diese Sache wie über einen Ausweg.
»Hör mal, Dunja,« begann er ernst und trocken, »ich bitte dich natürlich wegen des Gestrigen um Verzeihung, aber ich halte es für meine Pflicht, dich wieder daran zu erinnern, daß ich an der Hauptsache noch festhalte. Entweder ich oder Luschin. Mag ich ein Schurke sein, aber du darfst es nicht. Einer von beiden. Wenn du aber Luschin heiratest, höre ich gleich auf, dich als Schwester anzuerkennen.«
»Rodja, Rodja! Das ist doch dasselbe, was du gestern gesagt hast!« rief Pulcheria Alexandrowna bekümmert. »Und warum nennst du dich immer einen Schurken, ich kann es nicht ertragen! Und auch gestern schon ...«
»Bruder,« antwortete Dunja fest und gleichfalls trocken, »in allem liegt ein Irrtum deinerseits. Ich habe es mir in der Nacht überlegt und habe den Irrtum gefunden. Alles kommt daher, daß du anscheinend annimmst, ich bringe mich jemandem und für jemand zum Opfer. Es ist gar nicht so. Ich heirate einfach für mich selbst, denn ich habe es auch selbst schwer; es wird mich natürlich sehr freuen, wenn es mir gelingt, meinen Verwandten nützlich zu sein, aber das ist nicht der eigentliche Beweggrund zu meinem Entschlusse ...«
– Sie lügt! – dachte er und kaute vor Wut an seinen Nägeln. – Die Stolze! Sie will nicht eingestehen, daß sie Wohltaten erweisen will! Oh, diese niedrigen Charaktere! Auch wenn sie lieben, ist es, als ob sie haßten ... Oh, wie ich ... sie alle hasse! –
»Mit einem Worte, ich heirate Pjotr Petrowitsch,« fuhr Dunjetschka fort, »weil ich von zwei Übeln das kleinere wähle. Ich habe die Absicht, alles ehrlich zu erfüllen, was er von mir erwartet, folglich betrüge ich ihn nicht ... Warum hast du eben gelächelt?«
Sie errötete sogar, und ihre Augen blickten zornig.
»Wirst du alles erfüllen?« fragte er mit einem giftigen Lächeln.
»Bis zu einer gewissen Grenze. Die Manier und die Form des Antrages von Pjotr Petrowitsch zeigten mir sofort, was er braucht. Natürlich schätzt er sich selbst, vielleicht sogar allzu hoch, aber ich hoffe, daß er auch mich schätzt ... Was lachst du schon wieder?«
»Was errötest du aber wieder? Du lügst, Schwester, und du lügst mit Absicht, aus weiblichem Eigensinn, nur um deinen Willen durchzusetzen ... Du kannst Luschin nicht achten: ich habe ihn gesehen und gesprochen. Also verkaufst du dich für Geld und handelst in jedem Falle niedrig, und ich freue mich, daß du wenigstens noch erröten kannst!«
»Es ist nicht wahr, ich lüge nicht! ...« schrie Dunjetschka auf, ihre ganze Fassung verlierend. »Und ich würde ihn auch nicht heiraten, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß er mich schätzt und ich ihm teuer bin. Ich würde ihn auch nicht heiraten, wenn ich nicht fest überzeugt wäre, daß auch ich ihn achten kann. Zum Glück kann ich mich davon ganz sicher und sogar heute noch überzeugen. Eine solche Heirat ist aber keine Gemeinheit, wie du sie nennst! Und selbst wenn du recht hättest und wenn ich mich wirklich zu einer Gemeinheit entschlossen hätte, ist es dann nicht grausam von dir, so mit mir zu sprechen? Warum verlangst du von mir Heldentum, das du vielleicht auch selbst nicht hast? Es ist Despotismus, es ist eine Vergewaltigung! Wenn ich wen zugrunde richte, so doch nur mich allein. Ich habe noch niemand ermordet! ... Was siehst du mich so an? Was bist du blaß geworden? Rodja, was ist mit dir? Rodja, Liebster! ...«
»Mein Gott! Sie hat ihn zur Ohnmacht gebracht!« rief Pulcheria Alexandrowna.
»Nein, nein ... Unsinn ... es ist nichts! ... Ein leichter Schwindelanfall. Gar keine Ohnmacht ... Sie denken gleich immer an Ohnmacht! ... Hm, ja ... was wollte ich noch sagen? Ja: auf welche Weise willst du dich heute noch überzeugen, daß du ihn achten kannst und daß auch er dich ... schätzt, nicht wahr, das hast du doch gesagt? Du sprachst doch, glaube ich, von heute? Oder habe ich mich verhört?«
»Mamachen, zeigen Sie dem Bruder den Brief von Pjotr Petrowitsch«, sagte Dunjetschka.
Pulcheria Alexandrowna reichte ihm mit zitternder Hand den Brief. Er nahm ihn mit großer Neugier. Doch bevor er ihn öffnete, blickte er Dunjetschka plötzlich erstaunt an.
»Sonderbar«, sagte er langsam, wie von einem neuen Gedanken überrascht. »Warum rege ich mich so auf? Warum dieses ganze Geschrei? Heirate doch, wen du willst!«
Er sagte es anscheinend für sich selbst, sprach es aber laut aus und blickte seine Schwester eine Weile wie betroffen an.
Endlich entfaltete er den Brief, immer noch mit dem Ausdruck eines seltsamen Erstaunens; dann las er ihn langsam und aufmerksam zweimal durch. Pulcheria Alexandrowna war sichtbar unruhig; auch alle anderen erwarteten etwas Besonderes.
»Es wundert mich«, begann er nach einigem Nachdenken, den Brief der Mutter zurückgebend und sich an niemand Bestimmten wendend, »er führt doch Prozesse, ist Advokat und redet auch ... mit gewissen Ansprüchen, – aber wie ungebildet er schreibt.«
Alle rührten sich; sie hatten etwas ganz anderes erwartet.
»Sie schreiben doch alle so«, bemerkte Rasumichin kurz.
»Hast du es denn gelesen?«
»Ja.«
»Wir haben es ihm gezeigt, Rodja, wir ... haben uns früher beraten«, begann Pulcheria Alexandrowna verlegen.
»Es ist eigentlich der Gerichtsstil«, unterbrach sie Rasumichin. »Die Gerichtspapiere werden auch heute noch so geschrieben.«
»Der Gerichtsstil? Ja, wirklich der Gerichtsstil, ein geschäftlicher Stil. Es ist weder ganz ungebildet noch irgendwie literarisch; mit einem Worte: geschäftlich!«
»Pjotr Petrowitsch verheimlicht gar nicht, daß er nur eine ganz primitive Bildung genossen hat, und ist sogar stolz darauf, daß er sich selbst den Weg gebahnt hat«, bemerkte Awdotja Romanowna durch den neuen Ton des Bruders etwas gekränkt.
»Nun, wenn er stolz ist, so hat er auch Grund dazu, – ich widerspreche nicht. Mir scheint, Schwester, du fühlst dich beleidigt, weil ich aus diesem ganzen Brief einen so frivolen Schluß gezogen habe, und glaubst, daß ich die Rede mit Absicht auf solchen Unsinn brachte, um meinen Arger an dir auszulassen. Im Gegenteil, anläßlich dieses Stils fällt mir etwas ein, was in diesem Falle gar nicht unwesentlich ist. Es kommt darin der Ausdruck vor: ›die Folgen haben Sie sich dann selbst zuzuschreiben‹; dieser Ausdruck ist sehr bedeutungsvoll und klar hingesetzt, und außerdem ist eine Drohung dabei, daß er sofort fortgehen werde, wenn ich komme. Diese Drohung, fortzugehn, bedeutet die Drohung, euch beide sitzen zu lassen, wenn ihr ihm nicht gehorcht, und zwar jetzt, wo er euch nach Petersburg hat kommen lassen. Nun, wie glaubst du: kann man sich durch einen solchen Ausdruck von Luschin ebenso gekränkt fühlen, wie wenn er es geschrieben hätte (er zeigte auf Rasumichin) oder Sossimow oder sonst jemand von uns?«
»N-n-nein«, antwortete Dunjetschka, wieder lebhaft werdend. »Ich habe sehr gut verstanden, daß es zu naiv ausgesprochen ist und daß er vielleicht bloß kein Meister im Schreiben ist ... Das hast du richtig beurteilt, Bruder, ich hätte es sogar nicht erwartet ...«
»Es ist im Gerichtsstil geschrieben, und im Gerichtsstil kann man es gar nicht anders ausdrücken; darum ist es ihm gröber geraten, als er vielleicht wollte. Übrigens muß ich dich etwas enttäuschen: in diesem Briefe findet sich auch noch eine andere Wendung, eine gegen mich gerichtete Verleumdung, und zwar eine recht gemeine. Das Geld gab ich gestern der schwindsüchtigen und niedergeschmetterten Witwe, nicht unter dem ›Vorwande‹, daß es für die Beerdigung sei, sondern für die Beerdigung; auch nicht der Tochter, einem Mädchen, wie er schreibt, von verrufenem Lebenswandel (und die ich gestern zum erstenmal im Leben sah), sondern der Witwe. In diesem allem erblicke ich den voreiligen Wunsch, mich anzuschwärzen und mit euch zu verzanken. Ausgedrückt ist es wiederum im Gerichtsstil, das heißt mit allzu deutlich unterstrichenem Zweck und in einer höchst naiven Übereilung. Er ist ein kluger Mensch, aber um klug zu handeln, genügt die Klugheit allein noch nicht. Das alles zeigt mir den Menschen in seinem wahren Lichte, und ... ich glaube nicht, daß er dich sehr schätzt. Ich sage dir dies einzig zu deiner Belehrung, denn ich wünsche aufrichtig dein Bestes ...«
Dunjetschka antwortete nicht; sie hatte ihren Entschluß schon vorher gefaßt und wartete nur auf den Abend.
»Also wozu entschließt du dich, Rodja?« fragte Pulcheria Alexandrowna, durch den plötzlichen neuen geschäftlichen Ton seiner Rede noch mehr beunruhigt.
»Was heißt das: ›Wozu entschließt du dich‹?«
»Pjotr Petrowitsch schreibt ja, daß du heute abend bei uns nicht sein sollst und daß er fortgehen wird ... wenn du kommst. Also was denkst du ... wirst du kommen?«
»Darüber habe nicht ich zu beschließen, sondern erstens Sie, wenn diese Forderung Pjotr Petrowitschs Sie nicht kränkt, und zweitens Dunja, wenn auch sie sich nicht gekränkt fühlt. Ich aber will so handeln, wie es für Sie am besten ist«, fügte er trocken hinzu.
»Dunjetschka hat sich schon entschlossen, und ich bin mit ihr vollkommen einverstanden«, beeilte sich Pulcheria Alexandrowna zu erklären.
»Ich habe mich entschlossen, dich, Rodja, inständig zu bitten, unbedingt dieser Zusammenkunft beizuwohnen«, sagte Dunja. »Wirst du kommen?«
»Ich werde kommen.«
»Ich möchte auch Sie bitten, um acht Uhr bei uns zu sein«, wandte sie sich an Rasumichin. »Mamachen, ich lade auch ihn ein.«
»Sehr schön, Dunjetschka. Nun, wie ihr beschlossen habt,« fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu, »so soll es auch sein. Für mich ist es so leichter; ich liebe nicht, mich zu verstellen und zu lügen; wollen wir lieber die ganze Wahrheit sagen ... Mag Pjotr Petrowitsch jetzt böse werden oder nicht!«
In diesem Augenblick ging die Tür leise auf, und ins Zimmer trat, scheu um sich blickend, ein junges Mädchen. Alle wandten sich erstaunt und neugierig zu ihr um. Raskolnikow hatte sie auf den ersten Blick nicht erkannt. Es war Ssonja Ssemjonowna Marmeladowa. Gestern hatte er sie zum erstenmal gesehen, doch in einem solchen Augenblick, in solcher Umgebung und in einem solchen Aufzuge, daß in seiner Erinnerung ein ganz anderes Bild geblieben war. Jetzt war es ein bescheiden und sogar ärmlich gekleidetes Mädchen, noch sehr jung, fast einem Kinde ähnlich, mit bescheidenen, anständigen Manieren und mit einem heiteren, doch anscheinend verängstigten Gesicht. Sie trug ein sehr einfaches Hauskleidchen und einen alten, altmodischen Hut; nur in den Händen hatte sie noch den gestrigen Sonnenschirm. Als sie unerwartet ein Zimmer voller Menschen vor sich sah, wurde sie nicht nur verlegen, sondern verlor ganz die Fassung, wurde scheu wie ein kleines Kind und machte sogar eine Bewegung, um gleich wieder wegzugehen.
»Ach ... Sie sind es? ...« sagte Raskolnikow außerordentlich erstaunt und wurde auch selbst verlegen.
Er mußte sofort daran denken, daß seine Mutter und Schwester aus dem Briefe Luschins schon etwas von einem gewissen Mädchen mit einem »verrufenen« Lebenswandel wußten. Eben erst hatte er gegen die Verleumdung Luschins protestiert und erwähnt, daß er dieses Mädchen zum erstenmal in seinem Leben gesehen habe, und da kommt sie plötzlich selbst. Er erinnerte sich auch, daß er gegen den Ausdruck »mit einem verrufenen Lebenswandel« durchaus nicht protestiert hatte. Dies alles ging ihm plötzlich verworren und flüchtig durch den Kopf. Als er aber genauer hinsah, merkte er plötzlich, wie sehr dieses erniedrigte Geschöpf erniedrigt war, und er spürte Mitleid. Als sie aber die Bewegung machte, um vor Angst davonzulaufen, – drehte sich in ihm etwas um.
»Ich habe Sie gar nicht erwartet«, sagte er hastig und hielt sie mit einem Blicke zurück. »Ich bitte sehr, nehmen Sie Platz. Sie kommen wahrscheinlich von Katerina Iwanowna. Ich bitte, nicht hier, setzen Sie sich dorthin ...«
Bei Ssonjas Erscheinen erhob sich Rasumichin, der auf dem einen der drei Stühle Raskolnikows, dicht bei der Tür, gesessen hatte, um sie durchzulassen. Raskolnikow wies ihr erst den Platz in der Sofaecke an, wo Sossimow gesessen hatte, besann sich aber darauf, daß dieser Platz doch zu »familiär« war und ihm zum Schlafen diente, und beeilte sich darum, ihr den Stuhl neben Rasumichin anzubieten.
»Und du, setze dich hierher«, sagte er zu Rasumichin, ihm die Sofaecke zeigend, wo Sossimow gesessen hatte.
Ssonja setzte sich, vor Angst beinahe zitternd, und blickte die beiden Damen scheu an. Es war ihr anzusehen, daß sie es selbst nicht begreifen konnte, wie sie neben ihnen sitzen sollte. Als sie dies einsah, erschrak sie dermaßen, daß sie plötzlich aufstand und sich völlig verwirrt an Raskolnikow wandte.
»Ich ... ich ... ich bin nur für einen Augenblick gekommen, entschuldigen Sie die Störung«, begann sie stotternd. »Ich komme von Katerina Iwanowna, sie hatte sonst niemand zu schicken ... Katerina Iwanowna läßt Sie bitten, morgen zur Totenmesse zu kommen ... gleich nach dem Morgengottesdienst ... auf den Mitrofanjewschen Friedhof, und dann zu uns ... zu ihr ... zum Essen ... ihr die Ehre zu erweisen ... Sie läßt Sie bitten.«
Ssonja stockte und verstummte.
»Ich werde mir die Mühe geben ... unbedingt«, antwortete Raskolnikow, der aufgestanden war, gleich ihr stotternd und die Sätze nicht zu Ende sprechend. »Tun Sie mir den Gefallen, setzen Sie sich bitte,« sagte er plötzlich, »ich muß mit Ihnen sprechen. Ich bitte Sie, Sie haben vielleicht Eile, tun Sie mir den Gefallen, schenken Sie mir zwei Minuten ...«
Er schob ihr einen Stuhl hin. Ssonja setzte sich, streifte die beiden Damen mit einem schüchternen und fassungslosen Blick und schlug plötzlich die Augen nieder.
Das blasse Gesicht Raskolnikows erglühte; er fuhr zusammen, seine Augen funkelten.
»Mamachen,« sagte er fest und bestimmt, »das ist Ssofja Ssemjonowna Marmeladowa, die Tochter jenes unglücklichen Herrn Marmeladow, der gestern vor meinen Augen überfahren wurde und von dem ich schon erzählt habe ...«
Pulcheria Alexandrowna blickte Ssonja an und kniff ein wenig die Augen zusammen. Wie verlegen sie sich auch unter dem durchdringenden und herausfordernden Blicke Rodjas fühlte, konnte sie sich dieses Vergnügen doch nicht versagen. Dunjetschka blickte ernst und unverwandt dem armen Mädchen ins Gesicht und betrachtete es etwas verblüfft. Als Ssonja die Empfehlung hörte, hob sie die Augen wieder, wurde aber noch mehr verlegen.
»Ich wollte Sie fragen,« wandte sich Raskolnikow schnell an sie, »wie hat sich bei Ihnen heute alles gemacht? Hat man Sie nicht belästigt? ... Zum Beispiel seitens der Polizei?«
»Nein, es ist schon alles vorüber ... Die Todesursache ist doch allzu klar; man hat uns nicht belästigt; aber die anderen Mieter sind böse.«
»Warum denn?«
»Weil die Leiche so lange in der Wohnung liegt ... jetzt ist es ja heiß ... es riecht ... so wird man heute die Leiche um die Zeit der Abendmesse auf den Friedhof bringen, in die Kapelle, bis morgen. Katerina Iwanowna wollte es zuerst nicht, aber jetzt sieht sie selbst, daß es nicht anders geht ...«
»Also heute?«
»Sie bittet Sie, uns die Ehre zu erweisen und morgen zur Aussegnung in die Kirche zu kommen, und dann zu ihr zum Totenmahl.«
»Sie macht auch ein Totenmahl?«
»Ja, nur einen Imbiß; sie läßt Ihnen danken, daß Sie uns gestern geholfen haben ... ohne Sie hätten wir nichts, um ihn zu beerdigen ...«
Ihre Lippen und ihr Kinn begannen plötzlich zu zucken, sie beherrschte sich aber, nahm sich zusammen und schlug wieder die Augen nieder.
Während des Gesprächs hatte Raskolnikow sie unverwandt betrachtet. Es war ein mageres, auffallend mageres und bleiches Gesichtchen mit ziemlich unregelmäßigen zugespitzten Zügen, mit einer spitzen kleinen Nase und ebensolchem Kinn. Man konnte sie nicht mal niedlich nennen, dafür waren aber ihre blauen Augen so heiter, und der Gesichtsausdruck wurde, wenn sich diese Augen belebten, so gut und treuherzig, daß jeder sich von ihr unwillkürlich angezogen fühlte. In ihrem Gesicht und in ihrer ganzen Figur war außerdem noch ein besonders charakteristischer Zug: trotz ihrer achtzehn Jahre sah sie viel jünger aus, als sie war, fast wie ein kleines Mädchen, und dies zeigte sich zuweilen sogar recht komisch in einigen ihrer Bewegungen.
»Konnte sich denn Katerina Iwanowna mit so wenig Mitteln behelfen? Und sie hat auch noch die Absicht, einen Imbiß zu geben?« fragte Raskolnikow, das Gespräch hartnäckig fortsetzend.
»Der Sarg wird doch einfach sein ... und alles wird einfach sein, so daß es nicht teuer kommt ... Wir haben vorhin mit Katerina Iwanowna alles ausgerechnet, und es bleibt noch so viel übrig, um ein Totenmahl zu geben ... denn Katerina Iwanowna möchte es so gerne. Es geht wirklich nicht anders ... für sie ist es ein Trost ... sie ist so, Sie wissen ja ...«
»Ich verstehe, ich verstehe ... Gewiß ... Was betrachten Sie so mein Zimmer? Mamachen sagt auch, daß es wie ein Sarg aussieht.«
»Sie haben uns gestern alles hergegeben!« sagte Ssonjetschka darauf hastig, mit einer eigentümlich lauten Flüsterstimme und wurde wieder sehr verlegen.
Ihre Lippen und ihr Kinn zuckten wieder. Sie war schon längst über die ärmliche Wohnung Raskolnikows überrascht, und diese Worte entschlüpften ihr jetzt ganz von selbst. Es trat Schweigen ein. Die Augen Dunjetschkas erhellten sich, und Pulcheria Alexandrowna blickte Ssonja sogar freundlich an.
»Rodja,« sagte sie aufstehend, »wir essen selbstverständlich zusammen zu Mittag. Komm, Dunjetschka ... Und du, Rodja, solltest etwas spazieren gehen, dann dich ausruhen und etwas liegen, und dann komm schnell zu uns ... Ich fürchte, wir haben dich ermüdet ...«
»Ja, ja, ich werde kommen«, antwortete er eilig, sich erhebend. »Ich habe übrigens noch etwas zu erledigen ...«
»Werdet ihr denn auch getrennt essen?« rief Rasumichin und sah Raskolnikow erstaunt an. »Was fällt dir ein?«
»Ja, ja, ich werde natürlich kommen ... Du aber bleibst eine Weile hier. Sie brauchen ihn doch nicht, Mamachen? Oder nehme ich ihn Ihnen fort?«
»Ach, nein! Sie werden doch mit uns zu Mittag essen, Dmitrij Prokofjitsch? Sie werden so gut sein?«
»Bitte, kommen Sie«, bat Dunjetschka.
Rasumichin nahm Abschied und erstrahlte plötzlich. Einen Augenblick lang waren sie alle seltsam verlegen.
»Leb wohl, Rodja, das heißt: auf Wiedersehen; ich liebe nicht, ›leb wohl‹ zu sagen. Leb wohl, Nastasja ... ach, nun habe ich schon wieder ›leb wohl‹ gesagt! ...«
Pulcheria Alexandrowna wollte sich auch vor Ssonjetschka verbeugen, es gelang ihr aber nicht, und sie verließ eilig das Zimmer.
Aber Awdotja Romanowna schien zu warten, bis die Reihe an sie käme, und als sie mit der Mutter an Ssonja vorbeiging, verabschiedete sie sich von ihr mit einer aufmerksamen, höflichen und tiefen Verbeugung, Ssonjetschka wurde verlegen und verbeugte sich hastig und erschrocken, und auf ihren Zügen zeigte sich sogar ein schmerzvoller Ausdruck, als wären ihr die Höflichkeit und Aufmerksamkeit Awdotja Romanownas lästig und qualvoll.
»Dunja, so leb denn wohl!« rief Raskolnikow ihr nach. »Gib mir doch die Hand!«
»Ich hab sie dir schon gegeben, hast du es vergessen?« antwortete Dunja, sich freundlich und linkisch zu ihm umwendend.
»Nun, was macht's, gib sie mir noch einmal!«
Und er drückte ihre Finger stark zusammen. Dunjetschka lächelte ihm zu, wurde rot, entriß ihm schnell ihre Hand und folgte der Mutter; sie war, sie wußte selbst nicht warum, selig.
»Nun, das ist ja schön!« sagte er zu Ssonja, wieder in sein Zimmer zurückkehrend und sie heiter anblickend. »Gott gebe den Toten die Ruhe und den Lebenden das Leben! Nicht wahr? Nicht wahr? Es ist doch wahr?«
Ssonja sah ihm sehr verwundert in sein plötzlich erhelltes Gesicht; er blickte sie einige Sekunden stumm und unverwandt an; alles, was ihr verstorbener Vater von ihr erzählt hatte, ging ihm in diesem Augenblick wieder durch den Sinn ...
»Mein Gott, Dunjetschka!« sagte Pulcheria Alexandrowna, sobald sie wieder auf der Straße waren. »Jetzt bin ich selbst fast froh, daß wir weggegangen sind: es ist mir gleich irgendwie leichter zumute. Nun, habe ich gestern im Eisenbahnwagen denken können, daß ich mich sogar darüber freuen würde?«
»Ich sage Ihnen wieder, Mamachen, daß er noch sehr krank ist. Sehen Sie es denn nicht selbst? Vielleicht ist er darum so herunter, weil er so viel unsertwegen gelitten hat. Man muß nachsichtig sein, und dann kann man vieles, vieles verzeihen.«
»Du warst aber nicht nachsichtig!« unterbrach sie sofort hitzig und eifersüchtig Pulcheria Alexandrowna. »Weißt du, Dunja, ich habe euch beide angesehen: du bist sein Ebenbild, und zwar weniger was das Gesicht, als was die Seele betrifft: ihr seid beide Melancholiker, beide finster und hitzig; beide hochmütig und beide hochherzig ... Es kann doch nicht sein, daß er ein Egoist ist, Dunjetschka! Wie? ... Und wenn ich daran denke, was sich heute abend abspielen wird, so steht mir das Herz still!«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mamachen: es wird kommen, was kommen muß.«
»Dunjetschka, bedenke doch, in welcher Lage wir jetzt sind! Was, wenn Pjotr Petrowitsch seinen Antrag zurückzieht?« entschlüpfte es unbedachterweise der armen Pulcheria Alexandrowna.
»Was ist er dann wert, wenn er es tut?« antwortete Dunjetschka scharf und verächtlich.
»Das haben wir gut getan, daß wir jetzt weggegangen sind«, unterbrach sie Pulcheria Alexandrowna hastig. »Er hat etwas Eiliges vor und will weggehen; soll er nur ausgehen und wenigstens frische Luft atmen ... es ist bei ihm so furchtbar dumpf ... wo soll man hier aber frische Luft atmen? In den hiesigen Straßen ist es wie in einem ungelüfteten Zimmer. Mein Gott, was ist das für eine Stadt! ... Wart, geh zur Seite, man wird dich noch erdrücken, die Leute tragen etwas! Da haben sie eben ein Klavier vorbeigetragen ... wie sie nur stoßen ... Vor diesem Fräulein habe ich auch große Angst ...«
»Vor was für einem Fräulein, Mamachen?«
»Nun, vor dieser Ssofja Ssemjonowna, die eben da war ...«
»Warum denn?«
»Ich habe so eine Vorahnung, Dunja. Du magst mir glauben oder nicht, als sie aber hereinkam, dachte ich im gleichen Augenblick, daß die Hauptsache in ihr liegt ...«
»Nichts liegt in ihr!« rief ärgerlich Dunja. »Wie merkwürdig sind Sie doch mit Ihren Vorahnungen, Mama! Er kennt sie ja erst seit gestern und hat sie nicht einmal wiedererkannt, als sie eintrat.«
»Nun, du wirst sehen! ... Sie macht mir Angst, du wirst sehen, wirst sehen! Und wie ich erschrak: sie sieht mich an, sieht mich an, hat solche Augen, daß ich kaum sitzen bleiben konnte, weißt du noch, als er sie vorzustellen begann? Es kommt mir so sonderbar vor: Pjotr Petrowitsch schreibt über sie solche Dinge, und er stellt sie uns vor, sogar dir! Also muß sie ihm teuer sein!«
»Was er nicht alles schreibt! Man hat auch über uns manches geschrieben und gesprochen, haben Sie es schon vergessen? Ich aber bin überzeugt, ... daß sie ein herrliches Mädchen ist und daß alles ein Unsinn ist!«
»Gebe es Gott!«
»Und Pjotr Petrowitsch ist eine gemeine Klatschbase«, schnitt Dunjetschka plötzlich ab.
Pulcheria Alexandrowna knickte förmlich ein. Das Gespräch brach ab.
»Hör mal, was ich von dir will ...« sagte Raskolnikow, Rasumichin zum Fenster führend.
»Ich werde also Katerina Iwanowna sagen, daß Sie kommen werden ...« sagte Ssonja eilig und wollte sich schon verabschieden.
»Sofort, Ssofja Ssemjonowna, wir haben keine Geheimnisse, Sie stören nicht ... Ich möchte Ihnen noch ein paar Worte sagen ... Hör mal«, wandte er sich plötzlich wieder an Rasumichin: »Du kennst doch den ... Wie heißt er noch? ... Porfirij Petrowitsch?«
»Und ob! Er ist doch mein Verwandter. Was willst du denn von ihm?« fügte er mit plötzlich erwachter Neugierde hinzu.
»Er hat jetzt doch diesen Fall ... nun den Mord ... von dem ihr gestern gesprochen habt ... in Behandlung?«
»Ja ... und?« Rasumichin riß die Augen auf.
»Er hat die Pfandgeber vernommen, und ich habe dort auch Pfänder liegen, es ist nichts von Wert, aber es ist auch ein Ring von der Schwester dabei, den sie mir zum Andenken geschenkt hat, bevor ich herreiste, und die silberne Uhr von meinem Vater. Alles zusammen hat einen Wert von fünf oder sechs Rubeln, aber mir sind die Sachen ein teures Andenken. Was soll ich jetzt also anfangen? Ich will nicht, daß diese Sachen verlorengehen. Ich zitterte vorher, die Mutter könnte die Uhr sehen wollen, als wir von Dunjetschkas Uhr sprachen. Es ist der einzige Gegenstand, der vom Vater geblieben ist. Sie wird krank werden, wenn die Uhr verlorengeht! Ja, diese Frauen! Sage mir also, was ich tun soll! Ich weiß, daß man es auf dem Polizeibureau anmelden muß. Wäre es aber nicht besser, zu Porfirij selbst zu gehen? Was? Wie glaubst du? Ich möchte es so schnell als möglich erledigen. Du wirst sehen, Mamachen wird mich noch vor dem Essen danach fragen!«
»Keineswegs auf das Polizeibureau, sondern unbedingt zu Porfirij!« rief Rasumichin in ungewöhnlicher Erregung. »Nun, wie bin ich froh! Was sollen wir es noch aufschieben, komm gleich mit, es sind nur zwei Schritte, wir treffen ihn sicher an!«
»Meinetwegen ... wollen wir gehen ...«
»Er wird sich aber sehr, sehr, sehr, sehr freuen, dich kennenzulernen! Ich habe ihm viel von dir erzählt, bei verschiedenen Gelegenheiten ... Auch gestern habe ich von dir gesprochen. Also komm! ... Du hast also die Alte gekannt? Das ist gut! ... Aus-ge-zeichnet hat es sich gefügt! ... Ach, ja ... Ssofja Iwanowna ...«
»Ssofja Ssemjonowna,« korrigierte ihn Raskolnikow, »Ssofja Ssemjonowna, das ist mein Freund Rasumichin, ein vortrefflicher Mensch ...«
»Wenn Sie jetzt gehen müssen ...« fing Ssonja an, ohne Rasumichin anzusehen und darum noch verlegener werdend.
»Gehen wir!« beschloß Raskolnikow. »Ich will Sie heute noch besuchen, Ssofja Ssemjonowna, sagen Sie mir nur, wo Sie wohnen.«
Er schien weniger verlegen zu sein, als einfach Eile zu haben, und mied ihre Blicke. Ssonja gab ihm ihre Adresse und wurde dabei rot. Sie verließen zusammen das Zimmer.
»Schließt du denn gar nicht ab?« fragte Rasumichin, als letzter die Treppe hinabsteigend.
»Niemals! ... Übrigens will ich mir schon seit zwei Jahren ein Schloß kaufen«, fügte er nachlässig hinzu. »Es sind doch glückliche Menschen, die nicht abzuschließen brauchen?« wandte er sich lachend an Ssonja.
Vor dem Tore blieben sie stehen.
»Müssen Sie nach rechts, Ssofja Ssemjonowna? Übrigens: wie haben Sie mich gefunden?« fragte er sie. Er schien ihr aber etwas ganz anderes sagen zu wollen: er wollte ihr immer in ihre stillen, heiteren Augen blicken, aber es gelang ihm nicht ...
»Sie haben doch gestern Poljetschka Ihre Adresse gegeben?«
»Polja? Ach ja ... Poljetschka! Das ist ... die Kleine ... ist das Ihre Schwester? So, habe ich ihr die Adresse gegeben?«
»Haben Sie es denn schon vergessen?«
»Nein ... ich erinnere mich noch ...«
»Mir hat von Ihnen auch schon der Verstorbene erzählt ... Damals kannte ich aber noch Ihren Familiennamen nicht, und auch er selbst kannte ihn nicht ... Jetzt kam ich aber ... Und da ich gestern Ihren Namen erfuhr ... so fragte ich heute: Wohnt hier Herr Raskolnikow? Ich wußte gar nicht, daß auch Sie in Aftermiete wohnen ... Leben Sie wohl ... Ich muß zu Katerina Iwanowna ...«
Sie war furchtbar froh, daß sie endlich weggehen konnte; sie ging mit gesenktem Kopfe, eilig, um nur so schnell als möglich den beiden jungen Leuten aus den Augen zu kommen, um nur diese zwanzig Schritte bis zur Straßenbiegung nach rechts zurückzulegen und endlich allein zu bleiben, dann schnell, ohne jemand anzublicken und ohne etwas zu bemerken, nachzudenken, sich zu erinnern, sich auf jedes gesprochene Wort und auf jeden Nebenumstand zu besinnen. Noch niemals, niemals hatte sie Ahnliches empfunden. Eine ganze neue Welt hatte sich unbekannt und dunkel in ihre Seele gesenkt. Sie erinnerte sich plötzlich, daß Raskolnikow selbst zu ihr heute kommen wollte, daß er vielleicht noch am Vormittag, vielleicht gleich kommen würde!
»Bitte aber nicht heute, bitte, nicht heute!« murmelte sie mit bebendem Herzen, als flehe sie jemand wie ein erschrockenes Kind an. »Mein Gott! Zu mir ... in dieses Zimmer ... er wird sehen ... oh, mein Gott!«
Natürlich konnte sie in diesem Augenblick den ihr unbekannten Herrn nicht bemerken, der sie aufmerksam beobachtete und ihr auf den Fersen folgte. Er hatte sie schon von dem Tore an begleitet. In dem Augenblick, als alle drei, Rasumichin, Raskolnikow und sie auf dem Trottoir stehengeblieben waren, um noch ein paar Worte zu wechseln, hatte dieser Fremde, als er um sie herumging, zufällig die Worte Ssonjas: »und fragte: wohnt hier Herr Raskolnikow?« aufgefangen und war plötzlich zusammengefahren. Er musterte schnell, doch aufmerksam, alle drei, besonders Raskolnikow, an den sich Ssonja wandte, sah sich dann das Haus an und merkte es sich. Das alles machte der Fremde in einem Augenblick, im Gehen; er verriet dabei durch keine Miene, daß ihm etwas aufgefallen war, und ging weiter, aber etwas langsamer, als wartete er auf etwas. Er wartete auf Ssonja; er hatte gesehen, daß sie sich verabschiedeten: also mußte Ssonja wohl gleich zu sich nach Hause gehen.
»Aber wohin denn nach Hause? Ich habe dieses Gesicht schon irgendwo gesehen«, dachte er sich und versuchte, sich Ssonjas Gesicht zu vergegenwärtigen ... »Ich müßte es erfahren.«
Bei der Straßenbiegung ging er auf die andere Seite hinüber, wandte sich um und sah, daß Ssonja ihm auf dem gleichen Wege folgte, ohne etwas zu beachten. An der Biegung schwenkte sie in die gleiche Straße ab. Er ging ihr nach, sie unablässig mit den Augen verfolgend; nach etwa fünfzig Schritten ging er wieder auf die gleiche Straßenseite, auf der Ssonja ging, herüber und folgte ihr in einer Entfernung von etwa fünf Schritten.
Er war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, mehr als mittelgroß, wohlbeleibt, mit breiten, steil abfallenden Schultern, was ihm ein etwas gebücktes Aussehen verlieh. Seine Kleidung war elegant und bequem, und er sah wie ein solider vornehmer Herr aus. In den Händen trug er einen hübschen Stock, den er bei jedem Schritt aufs Trottoir stieß, und die Hände staken in neuen Handschuhen. Sein breites Gesicht mit den derben Backenknochen war recht angenehm, und seine Gesichtsfarbe frisch, gar nicht petersburgisch. Seine Haare waren noch sehr dicht, hellblond und kaum graumeliert, und der breite, üppige Vollbart war noch heller als das Kopfhaar. Seine blauen Augen blickten kalt, durchdringend und nachdenklich; die Lippen waren hellrot. Überhaupt war er ein wunderbar konservierter Mann und sah viel jünger aus, als er war.
Als Ssonja zum Kanal kam, waren sie beide allein auf dem Trottoir. Da er sie beobachtete, hatte er schon ihre Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemerkt. Vor ihrem Hause angelangt, schwenkte Ssonja ins Tor ab, und er folgte ihr, anscheinend etwas überrascht. Vom Hofe bog sie rechts in die Ecke ab, wo die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufführte. »Ach!« murmelte der fremde Herr und stieg hinter ihr die Stufen hinauf. Jetzt erst bemerkte ihn Ssonja. Sie stieg in den zweiten Stock hinauf, bog in den Gang ein und läutete auf Nr. 9, auf dessen Tür mit Kreide geschrieben stand: »Kapernaumow, Schneider.« – »Ach!« wiederholte der Unbekannte, über das seltsame Zusammentreffen erstaunt, und läutete nebenan auf Nr. 8. Beide Türen waren kaum sechs Schritte voneinander entfernt.
»Sie wohnen also bei Kapernaumow!« sagte er, Ssonja anblickend und lachend. »Er hat mir gestern eine Weste umgenäht. Ich wohne aber hier gleich neben Ihnen, bei Madame Gertrude Karlowna Rößlich. Wie sich das trifft!«
Ssonja sah ihn aufmerksam an.
»Wir sind also Nachbarn«, fuhr er auffallend lustig fort: »Ich bin ja erst seit drei Tagen in Petersburg. Nun, vorerst auf Wiedersehen!«
Ssonja gab keine Antwort; man machte ihr die Tür auf, und sie schlüpfte zu sich hinein. Sie fühlte sich irgendwie beschämt und hatte Angst ...
* * *
Rasumichin war auf dem Wege zu Porfirij besonders aufgeregt.
»Das ist ausgezeichnet, Bruder,« sagte er einigemal, »und ich freue mich! Ich freue mich!«
– Worüber freust du dich denn? – dachte Raskolnikow.
»Ich wußte ja gar nicht, daß auch du bei der Alten zu versetzen pflegtest. Und ... und ... ist es schon lange her? Das heißt, ist es lange her, daß du bei ihr warst?«
– Dieser naive Dummkopf! –
»Wann es war? ...« Raskolnikow blieb stehen, als besinne er sich. »Ja, ich glaube, ich war bei ihr drei Tage vor ihrem Tode. Übrigens will ich jetzt die Sachen gar nicht auslösen«, fügte er hinzu: plötzlich schien er wegen seiner Sachen sehr besorgt. »Ich habe ja nur noch einen Rubel Kleingeld ... wegen des gestrigen verfluchten Fiebers! ...«
Das Fieber erwähnte er mit besonderem Nachdruck.
»Na ja, na ja«, bestätigte Rasumichin eilig, man wußte nicht, was. »Darum hat dich das also damals so erschüttert ... weißt du, du hast auch während der Krankheit immer von irgendwelchen Ringen und Ketten phantasiert! ... Nun ja ... Es ist klar, jetzt ist alles klar.«
– So ist es also! Wie dieser Gedanke sie alle angesteckt hat! Dieser Mensch wird sich für mich kreuzigen lassen, und doch ist er so froh, daß es sich nun aufgeklärt hat, warum ich von den Ringen phantasiert habe! Wie sich das bei ihnen festgesetzt hat ... –
»Werden wir ihn auch antreffen?« fragte er laut.
»Ganz sicher!« antwortete Rasumichin eilig. »Er ist ein Prachtkerl, du wirst es sehen, Bruder! Etwas plump, das heißt, er ist sogar ein Gesellschaftsmensch, aber ich meine plump in einem anderen Sinne. Ein kluger, sehr kluger, sogar gar nicht dummer Bursche, hat aber eine eigene Art zu denken ... Mißtrauisch, skeptisch, zynisch ... betrügt gerne, das heißt er betrügt nicht, sondern hält einen zum Narren ... Nun, die alte materialistische Methode ... Seine Sache versteht er ausgezeichnet ... Er hat im vorigen Jahr einen Fall – es war auch ein Mord – aufgeklärt, wo fast alle Spuren verwischt waren. Er will dich sehr, sehr gerne kennen lernen!«
»Ja warum denn?«
»Das heißt, ich will nicht gesagt haben, daß ... Siehst du, in der letzten Zeit, als du erkranktest, hatte ich oft und viel Gelegenheit, von dir zu sprechen ... Nun, er hörte mir zu, und als er erfuhr, daß du Jurist bist und das Studium aus privaten Gründen nicht beenden kannst, sagte er: ›Wie schade!‹ Nun, und ich schloß daraus ... das heißt, alles zusammen, nicht bloß das ... auch Samjotow gestern ... Siehst du, Rodja, ich hab' dir gestern im Rausche, als wir nach Hause gingen, etwas vorgeschwatzt ... Nun fürchte ich, daß du es irgendwie übertreiben könntest, siehst du ...«
»Was denn? Daß man mich für verrückt hält? Vielleicht ist es auch wirklich wahr.«
Er lächelte gezwungen.
»Ja, ja ... das heißt, pfui, nein! ... Also alles, was ich sagte ... (und auch alles andere) ist dummes Geschwätz, und ich habe es nur im Rausche gesagt.«
»Was entschuldigst du dich! Wie mich das alles anödet!« schrie Raskolnikow übertrieben gereizt.
Übrigens war es zum Teil Verstellung.
»Ich weiß, ich weiß, ich verstehe. Du kannst überzeugt sein, daß ich es verstehe. Ich schäme mich, davon zu sprechen ...«
»Wenn du dich schämst, so sprich eben nicht!«
Beide verstummten. Rasumichin war mehr als entzückt, und Raskolnikow fühlte es mit Ekel. Auch das, was Rasumichin eben über Porfirij gesagt hatte, machte ihm Sorgen.
– Dem muß man auch etwas vorjammern – dachte er, erbleichend und klopfenden Herzens –, und zwar so natürlich als möglich. Das Natürlichste wäre, gar nicht zu jammern. Forciert nicht jammern. Nein, ›forciert‹ wäre wieder unnatürlich ... Nun, es wird sich schon irgendwie machen ... wir wollen sehen ... gleich ... Ist es gut oder nicht gut, daß ich hingehe? Der Falter fliegt selbst ins Licht. Das Herz klopft so, und das ist nicht gut! ... –
»In diesem grauen Hause«, sagte Rasumichin.
– Das Wichtigste ist, ob Porfirij weiß oder nicht weiß, daß ich gestern bei dieser Hexe in der Wohnung gewesen bin ... und nach dem Blut gefragt habe ... Das muß ich sofort feststellen, gleich beim ersten Schritt, wenn ich eintrete, ich muß es in seinem Gesichte lesen: sonst ... und wenn ich auch zugrundegehe, – ich muß es feststellen! –
»Weißt du was?« wandte er sich plötzlich an Rasumichin mit einem schalkhaften Lächeln. »Mir ist es schon heute früh aufgefallen, daß du in so ungewöhnlicher Erregung bist! Ist es so?«
»In was für einer Erregung? In gar keiner Erregung!« rief Rasumichin auffahrend.
»Nein, Bruder, es ist dir doch anzusehen. Vorhin hast du auf dem Stuhle so gesessen, wie du sonst nie zu sitzen pflegst: nur am äußersten Endchen, und zucktest, als ob du Krämpfe hättest. Ganz ohne jeden Grund sprangst du auf. Bald warst du böse und machtest bald wieder ein zuckersüßes Gesicht. Du wurdest sogar rot; besonders, als man dich zum Essen einlud, da wurdest du furchtbar rot.«
»Nichts dergleichen! Du lügst! ... Was meinst du eigentlich damit?«
»Du drehst und windest dich wie ein Schuljunge! Pfui Teufel, da ist er schon wieder rot geworden!«
»Was bist du eigentlich für ein Schwein!«
»Und warum bist du verlegen? Romeo! Wart nur, ich werde es heut irgendwem wiedererzählen, ha-ha-ha! Mein Mamachen wird darüber lachen ... und noch jemand ...«
»Hör, hör, hör, im Ernst, das ist doch ... Was soll es denn heißen, Teufel!« rief Rasumichin ganz verwirrt und kalt vor Schreck. »Was willst du ihnen erzählen? Ich werde, Bruder ... Pfui, was du für ein Schwein bist!«
»Du bist einfach eine Frühlingsrose! Und wie dir das steht, wenn du es bloß wüßtest! Ein baumlanger Romeo! Und wie du dich heute gewaschen hast, hast dir sogar die Nägel gereinigt, wie? Wann hat man das bei dir gesehen? Bei Gott, du hast dir sogar das Haar mit Pomade eingeschmiert! Bück dich mal!«
»Schwein!!!«
Raskolnikow lachte so, daß er sich anscheinend nicht mehr halten konnte. Mit diesem Lachen traten sie auch in die Wohnung Porfirij Petrowitschs. Das war alles, was Raskolnikow wollte: in der Wohnung konnte man natürlich hören, daß sie lachend eingetreten waren und im Vorzimmer noch immer lachten.
»Kein Wort hier, oder ich ... zermalme dich!« flüsterte Rasumichin wütend und packte Raskolnikow an der Schulter.
Jener trat aber schon in die Wohnung. Er sah dabei so aus, als nähme er sich mit aller Gewalt zusammen, um nicht wieder loszuplatzen. Ihm folgte mit gänzlich entstelltem, wütendem Gesicht, rot wie eine Pfingstrose und verlegen der lange und linkische Rasumichin. Sein Gesicht und seine ganze Figur waren in diesem Augenblick wirklich komisch und rechtfertigten Raskolnikows Lachen. Raskolnikow, der noch nicht vorgestellt war, verbeugte sich vor dem Hausherrn, der mitten im Zimmer stand und die beiden fragend ansah; dann reichte er ihm die Hand und drückte die seine, immer noch mit dem Ausdrucke der größten Anstrengung, seine Heiterkeit zu unterdrücken oder wenigstens einige Worte zu sagen, um sich vorzustellen. Kaum hatte er aber ein ernstes Gesicht gemacht und etwas gemurmelt, als er plötzlich wie unwillkürlich wieder Rasumichin anblickte und sich nicht mehr beherrschen konnte: das unterdrückte Lachen kam um so ungestümer zum Ausbruch, je stärker es bisher zurückgehalten worden war. Die ungewöhnliche Wut, mit der Rasumichin dieses »herzliche« Lachen aufnahm, verlieh dieser ganzen Szene den Anschein einer aufrichtigen Lustigkeit und, was die Hauptsache war, Natürlichkeit. Rasumichin half wie mit Absicht nach.
»Pfui Teufel!« brüllte er, schwang den Arm und traf ein kleines rundes Tischchen, auf dem ein leeres Teeglas stand.
Alles flog klirrend zu Boden.
»Warum soll man gleich die Möbel demolieren, meine Herren? Das ist bloß ein Schaden für den Staat!« rief Porfirij Petrowitsch lustig.
Die Szene stellte sich wie folgt dar: Raskolnikow beendete gerade seine Lachsalve, seine Hand in der des Hausherrn lassend, und wartete, doch mit Takt, auf den Augenblick, um schneller und natürlicher zu enden. Rasumichin, der durch den Fall des Tischchens und das Unglück mit dem Teeglase ganz verwirrt war, blickte düster auf die Scherben, spuckte aus und wandte sich jäh nach dem Fenster, wo er sich mit dem Rücken gegen das Publikum mit furchtbar finsterem Gesicht hinpflanzte und, ohne etwas zu sehen, zum Fenster hinausschaute. Porfirij Petrowitsch lachte und wollte noch mehr lachen, wartete aber offenbar auf eine Erklärung. Samjotow, der auf einem Stuhl in der Ecke gesessen und sich beim Erscheinen der Gäste erhoben hatte, stand erwartungsvoll da, den Mund zu einem Lächeln verzogen, und betrachtete diese ganze Szene verständnislos und sogar mißtrauisch, Raskolnikow sogar mit einer gewissen Bestürzung. Die unerwartete Anwesenheit Samjotows berührte Raskolnikow unangenehm.
– Das muß ich noch besonders in Betracht ziehen! – dachte er.
»Entschuldigen Sie, bitte,« begann er sehr verlegen, »Raskolnikow ...«
»Aber ich bitte Sie, sehr angenehm, Sie kamen ja so angenehm herein ... Was, er will mich nicht mal begrüßen?« sagte Porfirij Petrowitsch und wies mit dem Kopf auf Rasumichin.
»Bei Gott, ich weiß nicht, warum er auf mich so wütend ist. Ich habe ihm unterwegs nur gesagt, daß er einem Romeo ähnlich sieht, und ... ich bewies es ihm auch, und sonst gab's, glaube ich, nichts.«
»Schwein!« versetzte, ohne sich umzuwenden, Rasumichin.
»Also hatte er wohl triftige Gründe, um wegen eines einzigen Wörtchens so böse zu werden«, bemerkte Porfirij lachend.
»Du! Untersuchungsrichter! ... Hol euch alle der Teufel!« platzte Rasumichin heraus. Plötzlich fing er selbst zu lachen an und ging mit lustigem Gesicht, als ob nichts geschehen wäre, auf Porfirij Petrowitsch zu.
»Schluß! Ihr seid alle Dummköpfe! Zur Sache: Das ist mein Freund Rodion Romanowitsch Raskolnikow; erstens hat er von dir viel gehört und will dich kennenlernen, und zweitens hat er ein kleines Anliegen an dich. Bah! Samjotow! Wie kommst du her? Seid ihr denn bekannt? Kennt ihr euch schon lange?«
– Nanu, was ist das? – fragte sich Raskolnikow unruhig.
Samjotow schien verlegen, doch nicht allzusehr.
»Wir haben uns ja gestern bei dir kennengelernt«, sagte er ungezwungen.
»Also hat mir Gott den Schaden erspart; in der vorigen Woche hat er mich bestürmt, daß ich ihn irgendwie mit dir, Porfirij, bekannt mache, und nun habt ihr auch ohne meine Hilfe die Nasen zusammengesteckt ... Wo hast du deinen Tabak?«
Porfirij Petrowitsch war in seinem Hausanzug: in einem Schlafrock, sehr sauberer Wäsche und abgetretenen Morgenschuhen. Er war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, unter Mittelgröße, wohlbeleibt, sogar mit einem Bäuchlein, glattrasiert, ohne Schnurr- und Backenbart, mit kurzgeschorenem, großem, rundem Schädel, der hinten im Nacken besonders stark gewölbt war. Das etwas aufgedunsene, runde und stumpfnasige Gesicht war von einer ungesunden dunkelgelben Farbe, aber recht munter und sogar spöttisch. Es war sogar fast gutmütig, wäre nicht der Ausdruck der Augen mit dem wässerigen Glanz und den weißen, immer zuckenden, gleichsam jemand zuzwinkernden Wimpern gewesen. Der Blick dieser Augen harmonierte so gar nicht mit dieser ganzen Gestalt, die sogar etwas Weibisches an sich hatte, und verlieh ihr einen viel ernsteren Ausdruck, als man es von ihr beim ersten Anblick erwartete.
Als Porfirij Petrowitsch hörte, daß der Gast ein »kleines Anliegen« an ihn habe, forderte er ihn sofort auf, auf dem Sofa Platz zu nehmen, er setzte sich selbst in die andere Ecke des Sofas und blickte den Gast, in Erwartung, daß jener ihm die Angelegenheit sofort darlegen werde, mit jener gespannten und übertrieben ernsten Aufmerksamkeit an, die zum erstenmal unangenehm und verwirrend wirkt, besonders wenn man noch unbekannt ist, und noch mehr, wenn das, was man vorbringen möchte, nach eigener Ansicht des Gesuchstellers, in gar keinem Verhältnis zu der so großen Aufmerksamkeit steht, die man ihm erweist. Aber Raskolnikow erklärte seine Sache in wenigen zusammenhängenden Worten, klar und genau, und war auch mit sich selbst so zufrieden, daß er sogar Zeit fand, Porfirij genau zu mustern. Auch Porfirij Petrowitsch wandte seine Augen keinen Augenblick von ihm. Rasumichin, der sich ihnen gegenüber an denselben Tisch gesetzt hatte, verfolgte eifrig und ungeduldig die Darlegung der Sache und blickte abwechselnd bald den einen und bald den anderen an, was schon ein wenig zu viel war.
– Dummkopf! – schimpfte Raskolnikow bei sich.
»Sie müssen ein Gesuch an die Polizei einreichen,« antwortete Porfirij mit der ernstesten Miene, »daß Sie, nachdem Sie von diesem Fall, das heißt von diesem Morde gehört haben, die Polizei ersuchen, den Untersuchungsrichter, der mit dieser Sache betraut ist, zu benachrichtigen, daß die und die Gegenstände Ihnen gehören und daß Sie sie einlösen möchten ... oder ähnlich ... man wird es Ihnen übrigens aufsetzen.«
»Das ist es eben, daß ich augenblicklich«, begann Raskolnikow, indem er sich bemühte, verlegen zu erscheinen, »nicht bei Kassa bin ... und sogar so eine Kleinigkeit nicht habe ... Sehen Sie, ich möchte jetzt nur erklären, daß die Gegenstände mir gehören, und daß, wenn ich mal Geld habe ...«
»Das ist ganz gleich«, antwortete Porfirij Petrowitsch, der die Erklärung über die Finanzlage recht kühl aufnahm. »Übrigens können Sie auch, wenn Sie wollen, direkt an mich in demselben Sinne schreiben, nämlich: ich habe das und das erfahren, gebe die und die Gegenstände an und bitte ...«
»Schreibt man das auf einfachem Papier?« unterbrach ihn Raskolnikow eilig, der sich wieder für die finanzielle Seite der Sache interessierte.
»Ach, auf dem allereinfachsten!«
Plötzlich blickte ihn Porfirij Petrowitsch unverhohlen spöttisch an und zwinkerte ihm mit zusammengekniffenen Augen zu. Dies alles kam Raskolnikow vielleicht nur so vor, denn es dauerte nur einen Augenblick. Jedenfalls war etwas gewesen. Raskolnikow könnte schwören, daß jener ihm zugezwinkert habe, weiß der Teufel warum.
– Er weiß es! – durchzuckte es ihn wie ein Blitz.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit solchen Bagatellen belästige«, fuhr er etwas unsicher fort. »Alle meine Sachen sind nur fünf Rubel wert, aber sie sind mir besonders teuer als Andenken an die, von denen ich sie bekommen habe. Ich muß gestehen, als ich es erfuhr, erschrak ich sehr ...«
»Darum bist du also gestern so aufgefahren, als ich Sossimow sagte, daß Porfirij die Pfandgeber vernimmt!« mischte sich Rasumichin mit deutlicher Absicht ein.
Das war schon unerträglich. Raskolnikow konnte sich nicht länger beherrschen und blickte ihn gehässig mit zornentbrannten Augen an. Aber gleich kam er wieder zur Besinnung.
»Ich glaube, du machst dich über mich lustig, Bruder?« wandte er sich an ihn mit gut simulierter Gereiztheit. »Ich gebe es zu, daß ich mir wegen dieser Sachen, die du wohl für Schund hältst, zu viel Sorgen mache; du darfst mich aber deswegen weder für einen Egoisten noch für habgierig halten, und diese beiden kleinen Gegenstände können für mich auch kein Schund sein. Ich habe dir doch eben gesagt, daß diese silberne Uhr, die nur ein paar Groschen wert ist, der einzige Gegenstand ist, den mein Vater hinterlassen hat. Du kannst über mich lachen, aber zu mir ist meine Mutter gekommen«, wandte er sich plötzlich an Porfirij, »und wenn sie erfährt,« fuhr er fort, sich wieder an Rasumichin wendend und sich Mühe gebend, mit zitternder Stimme zu sprechen, »daß diese Uhr verloren ist, so wird sie, ich schwöre es, in Verzweiflung sein! Diese Frauen!«
»Keine Spur! Ich meine es gar nicht so! Ganz im Gegenteil!« rief Rasumichin gekränkt.
– Ist es gut so? Ist es natürlich? Habe ich auch nicht übertrieben? – fragte sich Raskolnikow zitternd. – Warum habe ich nur gesagt: ›Diese Frauen‹? –
»So, Ihre Frau Mutter ist zu Ihnen gekommen?« erkundigte sich aus irgendeinem Grunde Porfirij Petrowitsch.
»Ja.«
»Wann denn?«
»Gestern abend.«
Porfirij schwieg, als überlege er etwas.
»Ihre Sachen können in keinem Falle verlorengehen«, fuhr er ruhig und kalt fort. »Ich erwarte Sie ja schon längst.«
Und als wäre nichts vorgefallen, hielt er Rasumichin vorsorglich eine Aschenschale hin, da jener die Asche seiner Zigarette unbarmherzig auf den Teppich streute. Raskolnikow fuhr zusammen, aber Porfirij sah ihn anscheinend gar nicht an: so sehr war er um Rasumichins Zigarette besorgt.
»Wa-a-s? Du hast ihn erwartet? Hast du denn gewußt, daß auch er dort versetzt hat?« rief Rasumichin.
Porfirij Petrowitsch wandte sich direkt an Raskolnikow.
»Ihre beiden Gegenstände, der Ring und die Uhr, waren bei ihr in das gleiche Papier eingewickelt, und auf dem Papier war mit Bleistift deutlich Ihr Name angegeben, ebenso auch das Datum, wann sie die Sachen von Ihnen erhalten hat ...«
»Wie Sie das gleich bemerkt haben ...« sagte Raskolnikow mit einem ungeschickten Lächeln und bemühte sich, ihm gerade in die Augen zu sehen; er konnte sich aber nicht enthalten und fügte plötzlich hinzu:
»Ich sagte es eben, weil wohl sehr viele Pfandgeber waren ... so daß es für Sie wohl schwer sein muß, sich alle zu merken ... Sie aber erinnern sich an alle so deutlich und ... und ...«
– Dumm! Schwach! Wozu habe ich es bloß hinzugefügt! –
»Fast alle Pfandgeber sind jetzt schon bekannt, so daß Sie der einzige sind, der uns noch nicht aufgesucht hat«, antwortete Porfirij mit einem kaum wahrnehmbaren Anfluge von Spott.
»Ich war nicht ganz wohl.«
»Auch davon habe ich gehört. Ich habe sogar gehört, daß etwas Sie tief erschüttert hat. Sie scheinen mir auch jetzt etwas bleich!«
»Ich bin gar nicht bleich ... im Gegenteil, ich bin vollkommen gesund!« schnitt ihm Raskolnikow grob und gehässig ab, plötzlich den Ton ändernd.
Er schäumte vor Wut und konnte sie nicht unterdrücken.
– Und gerade in der Wut werde ich mich versprechen! – ging es ihm wieder durch den Sinn. – Warum quälen sie mich bloß so ... –
»Du bist vollkommen gesund?« fiel ihm Rasumichin ins Wort. »Was er da sagt! Bis gestern war er bewußtlos und phantasierte ... Wirst du es mir glauben, Porfirij: er konnte fast nicht auf den Beinen stehen, aber kaum waren wir, ich und Sossimow, für einen Augenblick weg, als er sich anzog, durchbrannte und sich irgendwo fast bis Mitternacht herumtrieb! Und das, sage ich dir, im höchsten Fieber, kannst du dir so was vorstellen?! Ein merkwürdiger Fall!«
»Wirklich im Fieber? Was Sie nicht sagen!« versetzte Porfirij und schüttelte mit weibischer Gebärde den Kopf.
»Ach, Unsinn! Glauben Sie es nicht! Sie glauben es übrigens auch so nicht!« entschlüpfte es Raskolnikow in übertriebener Wut.
Porfirij Petrowitsch schien aber diese merkwürdigen Worte überhört zu haben.
»Wie konntest du überhaupt weggehen, wenn du nicht im Fieber warst?« ereiferte sich plötzlich Rasumichin. »Wozu bist du weggegangen? Zu welchem Zweck? ... Und warum heimlich? Nun, warst du vielleicht bei klarem Verstand? Jetzt, wo die ganze Gefahr vorbei ist, sage ich es dir geradeaus!«
»Sie haben mir gestern so furchtbar zugesetzt«, wandte sich Raskolnikow plötzlich an Porfirij mit frech herausforderndem Lächeln, »und ich lief von ihnen weg, um mir eine Wohnung zu mieten, damit sie mich nicht wiederfinden; ich nahm auch einen Haufen Geld mit. Herr Samjotow hat das Geld gesehen. Nun, Herr Samjotow, war ich gestern vernünftig oder im Fieber, entscheiden Sie den Streit!«
Er wäre wohl in diesem Augenblick imstande gewesen, Samjotow zu erwürgen. Sein Blick und sein Schweigen mißfielen ihm schon sehr.
»Meiner Ansicht nach sprachen Sie sehr vernünftig und sogar schlau, aber Sie waren allzu reizbar«, erklärte Samjotow trocken.
»Heute erzählte mir Nikodim Fomitsch,« bemerkte Porfirij Petrowitsch, »er hätte Sie gestern spät am Abend in der Wohnung eines überfahrenen Beamten getroffen ...«
»Ach ja, das mit dem Beamten!« fiel ihm Rasumichin ins Wort. »Warst du vielleicht nicht verrückt bei diesem Beamten? Das letzte Geld gab er der Witwe für die Beerdigung her! Wenn du ihr helfen wolltest, konntest du ihr fünfzehn, auch zwanzig Rubel geben und wenigstens fünf Rubel für dich behalten, du gabst ihr aber die ganzen fünfundzwanzig!«
»Vielleicht habe ich irgendwo einen Schatz gefunden, und du weißt es noch nicht? ... Darum war ich gestern auch so freigebig ... Herr Samjotow weiß, daß ich einen Schatz gefunden habe! ... Entschuldigen Sie«, wandte er sich mit bebenden Lippen an Porfirij, »daß wir Sie mit solchen Dummheiten schon eine halbe Stunde belästigen! Sie haben uns doch schon sicher satt?«
»Aber ich bitte Sie, im Gegenteil, ganz im Gegenteil! Wenn Sie bloß wüßten, wie Sie mich interessieren! Es ist so interessant, zuzusehen und zuzuhören ... und ich bin, offen gestanden, so froh, daß Sie endlich gekommen sind ...«
»Gib uns doch wenigstens Tee! Die Kehle ist mir ganz eingetrocknet!« rief Rasumichin.
»Eine ausgezeichnete Idee! Vielleicht trinkt die ganze Gesellschaft mit? Willst du vielleicht ... etwas Wesentlicheres vor dem Tee zu dir nehmen?«
»Scher dich!«
Porfirij Petrowitsch ging hinaus, um den Tee zu bestellen.
Die Gedanken wirbelten im Kopfe Raskolnikows. Er war furchtbar gereizt.
– Das Auffallendste ist, daß sie es nicht mal verbergen und sich gar nicht genieren! Warum hast du aber, wenn du mich gar nicht kennst, über mich mit Nikodim Fomitsch gesprochen? Folglich wollen sie es nicht einmal verheimlichen, daß sie wie eine Koppel Hunde mir nachspüren! So offen spucken sie mir ins Gesicht! – Er zitterte vor Wut. – Nun, schlagt doch offen zu und spielt nicht mit mir wie die Katze mit der Maus. Es ist ja unhöflich, Porfirij Petrowitsch, das werde ich mir vielleicht gar nicht gefallen lassen! ... Ich werde gleich aufstehen und allen die ganze Wahrheit ins Gesicht schleudern; und ihr werdet sehen, wie ich euch verachte! ... – Er atmete schwer. – Wenn es mir aber nur so vorkommt? Wenn es nur eine Fata morgana ist, wenn ich mich in allem irre, aus Unerfahrenheit wüte und aus meiner gemeinen Rolle falle? Vielleicht ist das alles ohne Absicht? Alle ihre Worte sind gewöhnlich, aber es steckt etwas in ihnen ... Dies alles kann man stets sagen, aber es ist etwas dabei. Warum sagt er direkt: ›bei ihr?‹ Warum fügte Sossimow hinzu, daß ich ›schlau‹ gesprochen habe? Warum sprechen sie in solch einem Tone? Ja ... der Ton ... Auch Rasumichin saß doch dabei; warum fällt ihm nichts auf? Diesem unschuldigen Tölpel fällt wohl nie was auf! Ich habe wieder Fieber! Hat mir Porfirij vorhin zugezwinkert oder nicht? Wahrscheinlich nicht; warum sollte er es auch? Wollen sie vielleicht meine Nerven reizen oder mich bloß necken? Entweder ist alles Einbildung, oder sie wissen alles! Sogar Samjotow ist frech! ... Ist Samjotow wirklich frech? Samjotow hat es sich in der Nacht überlegt. Ich habe es doch gewußt, daß er es sich überlegen wird! Er benimmt sich hier wie zu Hause, ist aber zum erstenmal da. Porfirij behandelt ihn gar nicht als Gast, er sitzt mit dem Rücken zu ihm. Sie haben sich schon verständigt! Ganz gewiß haben sie sich meinetwegen verständigt. Sicher haben sie vor unserem Erscheinen über mich geredet! ... Ob sie das von der Wohnung wissen? Wenn das doch schneller herauskäme! ... Als ich sagte, ich sei gestern fortgelaufen, um mir eine Wohnung zu mieten, überhörte er es, nutzte die Gelegenheit nicht aus ... Das mit der Wohnung war aber geschickt von mir, es kann mir später einmal zustatten kommen. Ich bin natürlich im Fieber dort gewesen! ... Ha-ha-ha! Auch über den gestrigen Abend ist er schon unterrichtet! Doch von der Ankunft der Mutter wußte er nichts! ... Die Hexe hat auch das Datum mit Bleistift hingeschrieben! ... Ihr irrt, ich ergebe mich nicht! Das sind ja noch keine Tatsachen, es ist nur eine Fata Morgana! Nein, gebt mal Tatsachen her! Auch das mit der Wohnung ist keine Tatsache, sondern eine Fieberphantasie; ich weiß, was ich ihnen zu sagen habe ... Ob sie das von der Wohnung wissen? Ich gehe nicht von hier, ehe ich das erfahren habe! Warum bin ich überhaupt hergekommen? Jetzt bin ich so wütend, und das ist schon vielleicht eine Tatsache! Pfui, wie reizbar ich bin! Vielleicht ist es aber auch gut: ich spiele ja die Rolle eines Kranken ... Er betastet mich. Er wird mich aus dem Konzept bringen wollen. Wozu bin ich hergekommen? –
Das alles durchzuckte ihn wie ein Blitz.
Porfirij Petrowitsch kam im Nu zurück. Er war auf einmal lustig geworden.
»Von deinem gestrigen Abend tut mir der Kopf weh, Bruder ... Ich bin überhaupt ganz aus dem Leim gegangen«, wandte er sich lachend und in einem ganz anderen Tone an Rasumichin.
»Nun, war es interessant? Ich habe euch gestern im interessantesten Moment verlassen! Wer hat gesiegt?«
»Natürlich niemand. Man landete bei den ›ewigen Fragen‹ und schwebte in den Wolken.«
»Denk dir nur, Rodja, bei welcher Frage sie gestern gelandet sind: gibt es ein Verbrechen oder nicht? Ich sagte dir ja schon, daß sie bis zur Bewußtlosigkeit schwatzten!«
»Was ist denn Merkwürdiges dabei? Eine gewöhnliche soziale Frage«, antwortete Raskolnikow zerstreut.
»Die Frage war nicht so formuliert«, bemerkte Porfirij.
»Nicht ganz so, das stimmt«, gab Rasumichin sofort zu. Er sprach hastig und sich ereifernd wie immer. »Siehst du, Rodion: hör zu und sag deine Meinung. Ich will es so. Ich fuhr gestern schier aus der Haut, als ich mit ihnen redete, und wartete immer auf dich; ich hatte ihnen gesagt, daß du kommen wirst. Es fing an mit der Anschauung der Sozialisten. Diese Anschauung ist ja bekannt: das Verbrechen ist ein Protest gegen die anormale soziale Einrichtung – und sonst nichts, sonst gar nichts, andere Gründe gelten nichts, und fertig! ...«
»Da lügst du schon wieder!« rief Porfirij Petrowitsch. Er wurde sichtbar lebhafter und lachte jeden Augenblick beim Anblick Rasumichins, wodurch er ihn noch mehr aufstachelte.
»Andere Gründe gelten nichts!« unterbrach ihn Rasumichin hitzig. »Ich lüge gar nicht! ... Ich will dir ihre Bücher zeigen: alles geschieht bei ihnen darum, weil ›das Milieu einen hereingezogen hat‹ – und weiter nichts! Das ist ihre Lieblingsphrase! Daraus folgt direkt, daß, wenn man die Gesellschaft normal einrichtet, alle Verbrechen sofort aufhören, weil es dann nichts mehr geben wird, wogegen zu protestieren, und alle werden im Nu Gerechte sein. Die Natur ziehen sie nicht in Betracht, die Natur ist gestrichen, die Natur zählt nicht mit. Bei ihnen wird sich nicht die Menschheit, nachdem sie sich auf ihrem historischen, lebendigen Wege zu Ende entwickelt hat, schließlich in eine normale Gesellschaft verwandeln, sondern umgekehrt, ein irgendeinem mathematischen Kopfe entsprungenes soziales System wird sofort, die ganze Menschheit in Ordnung bringen und sie in einem Nu, ohne jeden lebendigen Prozeß, ohne jeden historischen und lebendigen Weg zu einer gerechten und sündlosen machen! Darum haben sie diesen instinktiven Haß gegen die Geschichte! Sie sagen: ›Sie handeln doch nur von Unfug und Dummheit‹ – und alles wird bloß durch Dummheit erklärt. Darum lieben sie auch nicht den lebendigen Lebensprozeß: sie brauchen keine lebendige Seele! Die lebendige Seele kann nach Leben verlangen, die lebendige Seele wird der Mechanik nicht folgen wollen, die lebendige Seele ist verdächtig, die lebendige Seele ist rückschrittlich! Sie können aber eine Seele aus Kautschuk machen; sie wird zwar einen Leichengeruch haben, dafür ist sie nicht lebendig, dafür ist sie ohne Willen, dafür ist sie sklavisch und wird sich nicht empören. Und das Resultat ist, daß alles auf die Zusammensetzung der Ziegelsteine und auf die Anlage der Korridore und Räume in der Phalanstere hinausläuft! Die Phalanstere mag wohl fertig sein, aber eure Natur ist für die Phalanstere noch nicht fertig, sie lechzt nach Leben, sie hat ihren Lebensprozeß noch nicht abgeschlossen, es ist zu früh für sie, auf den Friedhof zu kommen. Mit der Logik allein kann man nicht über die Natur springen! Die Logik kann mit drei Fällen rechnen, ihrer sind aber eine Million! Man streicht eine ganze Million und beschränkt sich auf eine einzige Sache – den Komfort! Das ist doch die leichteste Lösung der Aufgabe! Es ist so verführerisch klar, und man braucht gar nicht zu denken! Das ist auch die Hauptsache, daß man nicht zu denken braucht! Das ganze Geheimnis des Lebens findet auf zwei Druckbogen Platz!«
»Wie der in Schwung gekommen ist, er trommelt nur so! Man müßte ihn an den Händen festhalten!« bemerkte lachend Porfirij. »Denken Sie sich nur,« wandte er sich an Raskolnikow, »so ging es auch gestern abend zu, sechsstimmig, und vorher hat er noch alle mit Punsch betrunken gemacht! Können Sie sich das vorstellen? Nein, Bruder, du redest Unsinn: das ›Milieu‹ hat im Verbrechen viel zu sagen, das will ich dir beweisen.«
»Ich weiß auch selbst, daß es viel zu sagen hat, aber beantworte mir diese Frage: ein Vierzigjähriger schändet ein zehnjähriges Mädchen; hat ihn das Milieu dazu gezwungen?«
»Nun, im strengen Sinne vielleicht auch wirklich das Milieu!« antwortete Porfirij mit merkwürdigem Ernst. »Das am Mädchen verübte Verbrechen kann man sogar sehr gut mit dem ›Milieu‹ erklären.«
Rasumichin wurde fast rasend.
»Nun will ich dir gleich beweisen,« brüllte er, »daß du nur deshalb weiße Wimpern hast, weil der Glockenturm ›Iwan der Große‹ zu Moskau fünfunddreißig Klafter hoch ist; und ich beweise es dir klar, genau, fortschrittlich und sogar mit einem Stich ins Liberale! Ich übernehme es! Willst du wetten?«
»Ich nehme die Wette an! Wollen wir mal hören, wie er das beweisen wird!«
»Er verstellt sich ja bloß, zum Teufel!« rief Rasumichin. Er sprang auf und winkte abwehrend mit der Hand. »Lohnt es sich denn überhaupt davon zu sprechen? Er meint es ja gar nicht ernst, du kennst ihn noch nicht, Rodion! Auch gestern nahm er für die andern Partei, nur um sie zum Narren zu halten. Und was er gestern zusammengeredet hat – mein Gott! Und die freuten sich noch über ihn! ... Er kann zuweilen zwei Wochen lang so eine Rolle spielen. Im vorigen Jahre redete er uns aus irgendeinem Grunde ein, daß' er ins Kloster gehen wolle: zwei Monate hielt er daran fest! Neulich versicherte er uns, daß er heirate und daß schon alles für die Hochzeit bereit sei. Ließ sich sogar neue Kleider machen. Wir gratulierten ihm sogar schon. Es war aber weder eine Braut da noch sonst etwas – alles eine Fata Morgana!«
»Es ist nicht wahr! Die Kleider hatte ich mir schon vorher machen lassen. Die Kleider brachten mich eben auf den Gedanken, euch alle anzuführen.«
»Können Sie sich wirklich so gut verstellen?« fragte Raskolnikow wie nebenbei.
»Glaubten Sie vielleicht, nicht? Warten Sie, ich will auch Sie anführen, ha-ha-ha! Nein, sehen Sie, ich will Ihnen die ganze Wahrheit sagen. Anläßlich aller dieser Fragen, Verbrechen, kleiner Mädchen, des Milieus ist mir eben ein kleiner Aufsatz von Ihnen eingefallen – er hat mich übrigens immer interessiert. Er heißt ›Vom Verbrechen‹ oder so ähnlich, ich weiß nicht mehr genau. Vor zwei Monaten hatte ich das Vergnügen, ihn im ›Periodischen Wort‹ zu lesen.«
»Meinen Aufsatz? Im ›Periodischen Wort?‹« fragte Raskolnikow erstaunt. »Ich habe wohl vor einem halben Jahre, als ich die Universität verlassen hatte, anläßlich eines gewissen Buches einen Aufsatz geschrieben; ich habe ihn aber damals der Zeitung ›Wöchentliches Wort‹ und nicht ›Periodisches Wort‹ gegeben!«
»Und er erschien doch im ›Periodischen‹!«
»Das ›Wöchentliche Wort‹ ist ja eingegangen, darum ist mein Aufsatz auch nicht erschienen ...«
»Das stimmt; doch das eingegangene ›Wöchentliche Wort‹ hat sich mit dem ›Periodischen Wort‹ vereinigt. Darum erschien auch Ihr Aufsatz vor zwei Monaten im ›Periodischen Wort‹. Wußten Sie es denn nicht?«
Raskolnikow wußte wirklich nichts.
»Aber ich bitte Sie! Sie können für den Aufsatz sogar Geld verlangen! Was haben Sie aber für einen Charakter! Sie leben so zurückgezogen, daß Sie selbst von solchen Dingen, die Sie direkt angehen, nichts wissen. Das ist doch eine Tatsache.«
»Bravo, Rodja! Auch ich wußte es nicht!« rief Rasumichin. »Heute noch laufe ich in die Bibliothek und lasse mir diese Nummer geben. Vor zwei Monaten? Welche Nummer war es denn? Nun, es ist gleich, ich finde ihn auch so! So eine Sache! Und er sagt nichts davon!«
»Wie erfuhren Sie, daß der Aufsatz von mir ist? Er ist doch bloß mit einem Buchstaben gezeichnet.«
»Ich erfuhr es ganz zufällig, dieser Tage. Vom Redakteur, ich bin mit ihm bekannt ... Der Aufsatz hat mich sehr interessiert.«
»Ich untersuchte, wenn ich mich recht erinnere, den psychischen Zustand des Verbrechers während des ganzen Ganges des Verbrechens.«
»Jawohl. Und Sie behaupten, daß die Ausführung eines Verbrechens stets von einer Krankheit begleitet werde. Sehr, sehr originell, aber mich interessierte übrigens weniger dieser Teil Ihres Aufsatzes als ein gewisser Gedanke, der am Schlusse des Aufsatzes ausgesprochen wird, den Sie aber leider nur andeutungsweise und unklar behandeln ... Mit einem Worte, wenn Sie sich noch erinnern können, Sie deuten an, daß es in der Welt angeblich solche Menschen gibt, die tun können ... das heißt nicht können, sondern das volle Recht dazu haben, jede Gewalttat und jedes Verbrechen zu begehen, und daß für diese Menschen das Gesetz nicht existiert.«
Raskolnikow lächelte über die krasse und absichtliche Verdrehung seiner Idee.
»Wie? Was? Ein Recht auf Verbrechen? Aber doch nicht, weil das ›Milieu‹ schuld ist?« rief Rasumichin beinahe erschrocken.
»Nein, nein, nicht ganz aus dem Grunde«, antwortete Porfirij. »Es handelt sich darum, daß er in seinem Aufsatz die Menschen in ›gewöhnliche‹ und ›ungewöhnliche‹ einteilt. Die Gewöhnlichen müssen gehorsam sein und haben kein Recht, das Gesetz zu übertreten, weil sie eben gewöhnliche sind. Die Ungewöhnlichen haben aber das Recht, jedes Verbrechen zu begehen und jedes Gesetz zu übertreten gerade deshalb, weil sie ungewöhnlich sind. So haben Sie es doch gemeint, wenn ich nicht irre?«
»Wie ist denn das? Es kann nicht sein, daß er es so gemeint hat!« murmelte Rasumichin ganz verständnislos.
Raskolnikow lächelte wieder. Er hatte sofort begriffen, was los war und worauf man ihn bringen wollte; an seinen Aufsatz konnte er sich wohl erinnern. Er entschloß sich, die Herausforderung anzunehmen.
»Ich habe es nicht ganz so ausgesprochen«, begann er einfach und bescheiden. »Übrigens, ich muß gestehen, Sie haben ihn fast richtig wiedergegeben, wenn Sie wollen, sogar vollkommen richtig ... (Er tat so, als sei es ihm sehr angenehm, zuzugeben, daß man seinen Gedanken richtig wiedergegeben habe.) Der Unterschied liegt einzig darin, daß ich durchaus nicht behauptet habe, daß die ungewöhnlichen Menschen unbedingt müßten und verpflichtet seien, alle die Gewalttätigkeiten, wie Sie sie nennen, zu verüben. Mir scheint sogar, die Zensur würde einen solchen Aufsatz gar nicht durchlassen. Ich deutete ganz einfach an, daß der ›ungewöhnliche‹ Mensch das Recht habe ... das heißt nicht ein offizielles Recht, sondern ein in ihm selbst begründetes Recht, seinem Gewissen zu erlauben ... sich über gewisse Hindernisse hinwegzusetzen, und das einzig in dem Falle, wenn die Verwirklichung seiner Idee (die zuweilen vielleicht für die ganze Menschheit heilbringend ist) dieses verlangt. Sie belieben zu sagen, daß mein Aufsatz nicht ganz klar sei; ich bin bereit, ihn Ihnen nach Möglichkeit zu erklären. Vielleicht irre ich mich auch nicht, wenn ich annehme, daß Sie es wollen: ich tue es gern. Ich glaube, daß wenn die Entdeckungen Newtons und Keplers infolge irgendwelcher Kombinationen der Menschheit in keiner anderen Weise bekannt werden könnten, als durch die Opferung des Lebens von einem, zehn oder hundert Menschen, die diese Entdeckung störten oder ihr als Hindernis im Wege stünden, so hätte Newton das Recht und sogar die Pflicht gehabt, diese zehn oder hundert Menschen zu beseitigen, um seine Entdeckungen der ganzen Menschheit bekanntzumachen. Daraus folgt übrigens noch nicht, daß Newton das Recht hätte, jeden beliebigen Menschen zu ermorden oder jeden Tag auf dem Markte zu stehlen. Weiter entwickelte ich, wenn ich mich recht erinnere, den Gedanken, daß alle ... sagen wir Gesetzgeber und Aufbauer der Menschheit, angefangen von den allerältesten, dann Lykurg, Solon, Mohammed, Napoleon und so weiter, ausnahmslos Verbrecher gewesen seien, schon aus dem Grunde, weil sie, indem sie ein neues Gesetz aufstellten, ein altes, von der Gesellschaft heilig gehaltenes und von den Vätern übernommenes Gesetz verletzten und selbstverständlich auch vor dem Blutvergießen nicht haltmachten, wenn nur das Blut (das zuweilen ganz unschuldig war und für das alte Gesetz ruhmreich vergossen wurde) ihnen helfen konnte. Es ist sogar bemerkenswert, daß diese Wohltäter und Aufbauer der Menschheit zum größten Teil furchtbare Blutvergießer waren. Mit einem Worte, ich folgere, daß alle, nicht nur die großen, sondern auch die nur einigermaßen außerhalb des Geleises gehenden Menschen, die auch nur ein wenig befähigt sind, etwas Neues zu sagen, ihrer Natur nach unbedingt mehr oder weniger Verbrecher sein müssen. Sonst wäre es ihnen zu schwer, aus dem Geleise herauszukommen; aber im Geleise bleiben können sie auch nicht, wiederum ihrer Natur nach; meiner Ansicht nach dürfen sie es sogar nicht. Mit einem Worte, Sie sehen, es steht darin bisher eigentlich nichts Neues. Dies ist schon tausendmal gedruckt und gelesen worden. Und was meine Einteilung der Menschen in gewöhnliche und ungewöhnliche betrifft, so gebe ich zu, daß sie etwas willkürlich ist, aber ich bestehe auch nicht auf genauen Zahlen. Ich glaube nur an meinen leitenden Gedanken. Dieser besteht eben darin, daß die Menschen überhaupt nach dem Naturgesetz in zwei Kategorien zerfallen; in die Niederen (die Gewöhnlichen), das heißt, sozusagen, das Material, das einzig zur Fortpflanzung gleicher Individuen dient, und in eigentliche Menschen, das heißt solche, die das Talent oder die Gabe haben, der Gesellschaft ihr eigenes neues Wort zu verkünden. Es gibt natürlich zahllose Zwischenstufen, doch die Unterscheidungsmerkmale der beiden Kategorien sind ziemlich scharf. Die erste Kategorie, das heißt ganz allgemein gesagt das Material, die ihrer Natur nach konservativen, soliden Menschen, leben im Gehorsam und lieben es, gehorsam zu sein. Meiner Ansicht nach sind sie auch verpflichtet, gehorsam zu sein, und das ist in keiner Weise erniedrigend für sie. Die Vertreter der zweiten Kategorie übertreten sämtlich das Gesetz, sie sind Zerstörer oder neigen dazu, je nach ihren Anlagen. Die Verbrechen dieser Menschen sind natürlich relativ und verschiedenartig; meistens fordern sie in den verschiedensten Manifestationen die Zerstörung des Bestehenden im Namen eines Besseren. Wenn aber so einer zur Verwirklichung seiner Idee meinetwegen über eine Leiche oder über Blut hinwegschreiten maß, so darf er sich innerlich, vor seinem Gewissen, meiner Ansicht nach, die Erlaubnis geben, über das Blut hinwegzuschreiten – übrigens je nach der Idee und ihrer Größe –, was ich Sie zu beachten bitte. Nur in diesem Sinne spreche ich in meinem Aufsatz über das Recht solcher Menschen auf Verbrechen. (Entsinnen Sie sich, bitte, daß wir mit einer juristischen Frage angefangen haben.) Übrigens liegt keine Ursache zur Beunruhigung vor: die Menge erkennt ihnen dieses Recht fast nie zu, sie richtet sie hin und hängt sie (mehr oder weniger) und erfüllt dadurch vollkommen richtig ihre konservative Bestimmung, doch mit der Folge, daß die gleiche Menge in den folgenden Generationen die Hingerichteten auf ein Piedestal erhebt und anbetet (mehr oder weniger). Die erste Kategorie ist immer die Herrin der Gegenwart, die zweite – die Herrin der Zukunft. Die ersteren erhalten die Welt und vermehren sie quantitativ; die letzteren bewegen die Welt und führen sie ans Ziel. Die einen wie die anderen haben das vollkommen gleiche Recht zu existieren. Mit einem Worte, alle haben bei mir das gleiche Recht, und – vive la guerre éternelle – bis zum neuen Jerusalem natürlich!«
»Sie glauben also doch an das neue Jerusalem?«
»Ich glaube daran«, antwortete Raskolnikow sehr bestimmt. Als er das sagte, wie auch während seiner ganzen Tirade blickte er zu Boden, auf einen Punkt, den er sich auf dem Teppiche ausgesucht hatte.
»Und ... glauben Sie an Gott? Entschuldigen Sie meine Neugier.«
»Ich glaube an ihn«, wiederholte Raskolnikow, die Augen zu Porfirij emporhebend.
»Und ... glauben Sie auch an die Auferstehung des Lazarus?«
»Ich glaube. Was brauchen Sie das zu wissen?«
»Glauben Sie buchstäblich daran?«
»Ja, buchstäblich.«
»So, so ... Ich habe bloß gefragt. Entschuldigen Sie. Aber erlauben Sie – ich kehre wieder zum Alten zurück, – sie werden doch nicht immer hingerichtet; manche im Gegenteil ...«
»Triumphieren bei Lebzeiten? O ja, manche erreichen es auch bei Lebzeiten, und dann ...«
»Dann beginnen sie selbst hinzurichten?«
»Wenn es sein muß und, wissen Sie, sogar meistenteils. Ihre Bemerkung ist überhaupt geistreich.«
»Ich danke. Sagen Sie mir aber folgendes: Wie unterscheidet man bloß die Ungewöhnlichen von den Gewöhnlichen? Gibt es vielleicht solche angeborene Abzeichen? Ich meine es in dem Sinne, daß hier mehr Klarheit, mehr, sozusagen, äußerliche Präzision vonnöten ist: entschuldigen Sie mir die natürliche Besorgnis eines praktischen und rechtlich denkenden Menschen, aber könnte man für sie nicht zum Beispiel eine eigene Kleidung einführen, oder Stempel auf den Stirnen? ... Denn Sie werden doch zugeben: wenn ein Durcheinander entsteht, wenn ein Mensch von der einen Kategorie sich einbildet, zu der anderen Kategorie zu gehören, und anfängt, ›alle Hindernisse zu beseitigen‹, wie Sie sich so treffend ausgedrückt haben, so kann es ...«
»Oh, das kommt sehr oft vor! Diese Bemerkung von Ihnen ist sogar noch besser als die vorige ...«
»Ich danke ...«
»Keine Ursache; ziehen Sie aber, bitte, in Betracht, daß ein Irrtum nur seitens der ersten Kategorie möglich ist, das heißt seitens der ›gewöhnlichen‹ Menschen (wie ich sie vielleicht nicht ganz glücklich genannt habe). Trotz ihrer angeborenen Neigung zum Gehorsam, bilden sich sehr viele von ihnen, infolge eines besonders lebhaften Temperaments, der auch einer Kuh nicht versagt ist, gerne ein, fortschrittliche Menschen, ›Zerstörer‹ zu sein und mit einem ›neuen Worte‹ zu kommen, und das durchaus aufrichtig. Dabei sehen sie die tatsächlich Neuen zuweilen gar nicht; sie verachten sie sogar als zurückgebliebene und niedrig denkende Menschen. Meiner Ansicht nach ist hier eine große Gefahr nicht zu befürchten, und Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen, denn diese Menschen machen niemals große Sprünge. Wenn sie sich zu sehr hinreißen lassen, so kann man sie höchstens mit Ruten züchtigen, um sie an die ihnen gebührende Stellung zu erinnern; dazu braucht man nicht mal einen Vollstrecker: sie werden sich selbst züchtigen, denn sie sind sehr sittsam: manche von ihnen erweisen einander diesen Dienst, und die anderen besorgen es eigenhändig ... Dabei legen sie sich allerlei öffentliche Bußen auf, – es wirkt hübsch und belehrend; mit einem Worte, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen ... Es gibt so ein Gesetz.«
»Nun, Sie haben mich wenigstens in dieser Beziehung einigermaßen beruhigt; aber ich befürchte etwas anderes: sagen Sie, bitte, gibt es viele solche Menschen, die das Recht haben, die anderen zu morden, ich meine ›ungewöhnliche‹ Menschen? Ich bin natürlich bereit, mich vor ihnen zu beugen, aber Sie werden doch zugeben, daß es etwas unheimlich ist, wenn es ihrer gar zu viele gibt. Nicht wahr?«
»Oh, machen Sie sich, bitte, auch darüber keine Sorgen«, fuhr Raskolnikow im gleichen Tone fort. »Menschen mit neuen Gedanken, Menschen, die nur einigermaßen die Fähigkeit haben, etwas Neues zu sagen, kommen überhaupt ungewöhnlich wenig zur Welt, sogar erstaunlich wenig. Klar ist nur das eine, daß die Bedingungen für die Entstehung der Menschen aller dieser Kategorien und Zwischenstufen wahrscheinlich sehr genau und präzis durch irgendein Naturgesetz bestimmt sind. Dieses Gesetz ist jetzt selbstverständlich noch unbekannt, aber ich glaube, daß es existiert und in Zukunft bekannt werden kann. Die überwiegende Menge der Menschen, das Material, existiert in der Welt bloß dazu, um schließlich durch irgendeine Anstrengung, durch einen bisher noch unbekannten Prozeß, durch eine Kreuzung von Geschlechtern und Rassen sich zusammenzunehmen und endlich einen einzigen – meinetwegen einen auf tausend – einigermaßen selbständigen Menschen zu zeugen. Mit einer noch größeren Selbständigkeit wird vielleicht unter zehntausend Menschen ein einziger geboren (ich sage es nur zum Beispiel und bildlich); mit einer noch größeren – einer unter Hunderttausend. Ein genialer Mensch kommt auf Millionen, und ein großes Genie, ein Vollender der Menschheit, kommt vielleicht nach dem Vergehen von vielen tausend Millionen Menschen auf Erden. Mit einem Worte, in die Retorte, in der dies alles geschieht, habe ich nicht hineingeblickt. Aber ein bestimmtes Gesetz ist unbedingt vorhanden und muß vorhanden sein; bloße Zufälle kann es hier nicht geben.«
»Macht ihr etwa beide Spaß?« rief endlich Rasumichin. »Haltet ihr einander zum Narren oder nicht? Sie sitzen da und lachen einander aus! Ist das dein Ernst, Rodja?«
Raskolnikow hob stumm sein bleiches und fast trauriges Gesicht und antwortete nicht. So merkwürdig erschien dem Rasumichin neben diesem stillen und traurigen Gesichte die unverhohlene, zudringliche, gereizte und unhöfliche beißende Ironie Porfirijs.
»Nun, Bruder, wenn es wirklich dein Ernst ist, so ... Du hast natürlich recht, daß es nicht neu ist und allem, was wir tausendmal gelesen und gehört haben, ähnlich sieht; was aber daran wirklich originell ist und zu meinem Schrecken wirklich dir allein gehört, ist, daß du dennoch das Blutvergießen nach eigenem Gewissen gestattest und sogar, entschuldige mich, mit einem Fanatismus ... Darin liegt also der Hauptgedanke deines Aufsatzes. Diese Erlaubnis, Blut nach eigenem Gewissen zu vergießen, ist ... meiner Ansicht nach noch schrecklicher als eine offizielle, sozusagen gesetzliche Erlaubnis, Blut zu vergießen ...«
»Sehr richtig, viel schrecklicher«, bestätigte Porfirij.
»Nein, du hast dich sicher irgendwie vergaloppiert! Es liegt ein Irrtum darin. Ich will den Aufsatz lesen ... Du hast dich vergaloppiert! Du kannst unmöglich so denken ... Ich werde ihn lesen.«
»Im Aufsatz selbst steht dies alles nicht, es sind nur Andeutungen«, versetzte Raskolnikow.
»Ja so«, fing Porfirij wieder an, der noch immer keine Ruhe geben wollte. »Es ist mir jetzt beinahe klar, wie Sie das Verbrechen anzusehen belieben, aber ... entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit (ich setze Ihnen so zu, daß ich mich selbst schämen muß!) – sehen Sie: Sie haben mich eben über die Möglichkeit der Verwechslung der beiden Kategorien beruhigt, aber ... mir machen noch immer allerlei praktische Fälle Sorgen! Was, wenn sich irgendein Mann oder Jüngling einbildet, ein Lykurg oder Mohammed zu sein – selbstverständlich ein Zukünftiger –, und alle sich ihm bietenden Hindernisse zu beseitigen beginnt ... Es steht ihm, sagt er, ein langer Feldzug bevor, und für den Feldzug braucht er Geld ... also beginnt er sich das Geld für den Feldzug zu verschaffen ... wissen Sie?«
Samjotow lachte plötzlich in seiner Ecke auf. Raskolnikow sah ihn nicht mal an.
»Ich muß zugeben,« antwortete er ruhig, »daß solche Fälle wirklich vorkommen müssen. Die Dummen und die Ehrgeizigen fallen leicht darauf herein; ganz besonders die Jugend.«
»Nun sehen Sie es. Wie verhält es sich damit?«
»Genau so«, antwortete Raskolnikow lächelnd. »Es ist nicht meine Schuld. So ist es, und so wird es immer sein. Er sagte eben (er zeigte auf Rasumichin), daß ich Blutvergießen gestatte. Was ist denn dabei? Die Gesellschaft hat doch genügend Sicherungen; sie hat die Verbannung, Gefängnisse, Untersuchungsrichter, Zuchthäuser – was soll man sich noch Sorgen machen? Suchen Sie den Dieb! ...«
»Und wenn wir ihn finden?«
»So ist es ihm recht geschehen.«
»Sie sind wirklich logisch. Und wie ist es mit dem Gewissen?«
»Was geht uns das Gewissen an?«
»Nun, ich meine aus Humanität.«
»Wer ein Gewissen hat, soll nur leiden, wenn er seinen Irrtum einsieht. Das ist eine Strafe für ihn – neben dem Zuchthause.«
»Nun, und die wirklich Genialen,« fragte Rasumichin finster, »ich meine die, denen das Recht gegeben ist, zu morden, sollen die gar nicht leiden, auch wegen des vergossenen Blutes nicht?«
»Warum gebrauchst du das Wort ›sollen‹? Hier gibt es weder eine Erlaubnis noch ein Verbot. Soll er nur leiden, wenn ihm das Opfer leid tut ... Leid und Schmerz sind der weiten Erkenntnis und dem tiefen Herzen immer eigen. Die wahrhaft großen Menschen müssen, glaube ich, eine große Trauer auf Erden empfinden«, fügte er plötzlich nachdenklich hinzu, gar nicht im Tone des ganzen Gesprächs.
Er hob die Augen, blickte alle nachdenklich an, lächelte und griff nach seiner Mütze. Er war viel ruhiger als vorhin bei seinem Eintritt und fühlte es auch. Alle erhoben sich.
»Nun, Sie können auf mich schimpfen oder nicht, auf mich böse sein oder nicht, aber ich kann mich nicht bezwingen«, sagte wieder Porfirij Petrowitsch: »Gestatten Sie mir noch eine kleine Frage (ich belästige Sie wirklich furchtbar!), ich will nur noch eine einzige kleine Idee äußern, einzig um es nicht zu vergessen ...«
»Gut, sagen Sie mir Ihre Idee«, sagte Raskolnikow, der ernst und bleich in Erwartung vor ihm stand.
»Ich weiß wirklich nicht, wie ich es am besten ausdrücke ... die Idee ist allzu pikant ... und psychologisch ... Als Sie Ihren Aufsatz verfaßten, so ist es ausgeschlossen, he-he, daß Sie sich nicht selbst für einen, und wenn auch nur ein bißchen ›ungewöhnlichen‹ Menschen hielten, der ein neues Wort, natürlich in Ihrem Sinne, sagt ... Es ist doch so?«
»Sehr möglich«, antwortete Raskolnikow verächtlich.
Rasumichin machte eine Bewegung.
»Und wenn es sich so verhält, würden Sie sich denn auch entschließen, sagen wir angesichts irgendwelcher Mißerfolge und Bedrängnisse im Leben, oder um die ganze Menschheit irgendwie zu fördern, sich über ein Hindernis hinwegzusetzen? Nun, zum Beispiel, einen Mord oder Raub zu begehen? ...«
Und er zwinkerte ihm wieder eigentümlich mit dem linken Auge zu und lachte unhörbar, genau wie vorhin.
»Wenn ich mich auch hinwegsetzen würde, so würde ich es Ihnen ganz gewiß nicht sagen«, antwortete Raskolnikow mit herausfordernder, hochmütiger Verachtung.
»Aber nein, ich interessiere mich dafür nur, um Ihren Aufsatz besser zu verstehen, bloß in literarischer Hinsicht ...«
– Pfui, wie deutlich und frech! – dachte Raskolnikow angeekelt.
»Gestatten Sie mir, zu bemerken,« antwortete er trocken, »daß ich mich weder für einen Mohammed, noch für einen Napoleon, noch für eine ähnliche Person halte, und da ich keiner von ihnen bin, kann ich Ihnen keine befriedigende Erklärung abgeben, wie ich dann handeln würde.«
»Aber, ich bitte Sie, wer hält sich jetzt bei uns in Rußland nicht für einen Napoleon?« sagte Porfirij plötzlich furchtbar familiär.
Selbst im Tone seiner Stimme lag diesmal etwas besonders Deutliches.
»Hat nicht auch so ein zukünftiger Napoleon unsere Aljona Iwanowna in der vorigen Woche mit einem Beile umgebracht?« platzte Samjotow aus seiner Ecke heraus.
Raskolnikow schwieg und sah Porfirij unverwandt und fest an. Rasumichin blickte finster drein. Ihm war auch schon vorhin etwas aufgefallen. Er blickte zornig um sich. Eine Minute verging in düsterem Schweigen. Raskolnikow wandte sich, um wegzugehen.
»Sie gehen schon?!« sagte Porfirij freundlich und reichte ihm sehr liebenswürdig die Hand. »Es freut mich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Und was Ihre Bitte betrifft, so können Sie unbesorgt sein. Schreiben Sie es so, wie ich Ihnen gesagt habe. Das beste ist, daß Sie mal zu mir selbst hinkommen ... dieser Tage ... vielleicht morgen. Wir werden alles machen ... wir werden uns unterhalten ... Vielleicht werden Sie als einer von denen, die zuletzt dort waren, uns etwas erzählen können ...« fügte er mit dem gutmütigsten Ausdruck hinzu.
»Sie wollen mich offiziell vernehmen, mit allem, was drum und dran ist?« fragte Raskolnikow scharf.
»Aber warum denn? Vorläufig ist es gar nicht nötig. Sie haben mich falsch verstanden. Sehen Sie, ich lasse mir keine Gelegenheit entgehen und habe schon mit allen Pfandgebern gesprochen ... manche von ihnen habe ich auch vernommen ... und Sie, als der letzte ... A propos!« rief er plötzlich über etwas erfreut. »Es fällt mir eben ein, was habe ich bisher geschwiegen? ...« wandte er sich an Rasumichin. »Du hast mir damals mit diesem Nikolaschka die Ohren vollgeblasen ... nun, ich weiß auch selbst, ich weiß auch selbst,« wandte er sich wieder an Raskolnikow, »daß der Bursche unschuldig ist, aber was kann ich machen? Ich mußte auch den Mitjka belästigen ... Die Sache ist nämlich die: als Sie über die Treppe gingen ... erlauben Sie, Sie waren doch gegen acht Uhr dort?«
»Ja, gegen acht«, antwortete Raskolnikow mit dem unangenehmen Gefühl, daß er dies auch nicht zu sagen brauchte.
»Nun, als Sie gegen acht über die Treppe gingen, sahen Sie da nicht im ersten Stock, in einer offen stehenden Wohnung – Sie erinnern sich doch noch? – zwei Arbeiter oder wenigstens einen von ihnen? Die haben dort gestrichen, haben Sie es nicht bemerkt? Das ist für Sie sehr wichtig! ...«
»Anstreicher? Nein, ich habe keine gesehen ...« antwortete Raskolnikow langsam, wie in seiner Erinnerung wühlend und zugleich sein ganzes Wesen anspannend und vor Qual ersterbend, um zu erraten, wo ihm hier eine Falle gestellt sei, und um nichts zu übersehen. »Nein, ich habe sie nicht gesehen und kann mich auch an eine offenstehende Wohnung nicht erinnern ... aber im dritten Stock (er hatte schon die Falle erkannt und triumphierte), ich kann mich gut erinnern, da zog gerade irgendein Beamter aus ... gerade gegenüber Aljona Iwanowna ... daran kann ich mich gut erinnern ... Soldaten trugen ein Sofa heraus und drückten mich an die Wand ... aber Anstreicher, nein, ich kann mich nicht erinnern, daß Anstreicher dagewesen wären ... es stand auch, glaub ich, nirgends eine Wohnung offen. Nein, ganz gewiß nicht ...«
»Was fällt dir ein!« rief plötzlich Rasumichin, dem es erst eben eingefallen war. »Die Anstreicher haben ja erst am Tage des Mordes gearbeitet, er aber war drei Tage vorher dort! Warum fragst du ihn danach?«
»Teufel, ich hab es verwechselt!« sagte Porfirij und schlug sich vor die Stirn. »Hol der Teufel, dieser Fall hat mich ganz verrückt gemacht!« wandte er sich, sich gleichsam entschuldigend an Raskolnikow. »Es liegt uns doch so viel daran, zu erfahren, ob jemand Sie um die achte Stunde in der Wohnung gesehen hat. Darum bildete ich mir ein, daß auch Sie etwas darüber sagen könnten ... ich habe es wirklich verwechselt!«
»Man muß aufmerksamer sein«, bemerkte Rasumichin finster.
Die letzten Worte wurden schon im Vorzimmer gesagt. Porfirij Petrowitsch begleitete sie äußerst freundlich bis zur Tür. Die beiden traten düster und verstimmt auf die Straße und redeten bei den ersten Schritten kein Wort. Raskolnikow holte schwer Atem ...
»... Ich glaube es nicht! Ich kann es nicht glauben!« sagte der verblüffte Rasumichin immer wieder, indem er sich bemühte, die Einwände Raskolnikows zu widerlegen.
Sie näherten sich schon den möblierten Zimmern Bakalejews, wo Pulcheria Alexandrowna und Dunja sie schon längst erwarteten. Rasumichin blieb unterwegs in der Hitze des Gesprächs jeden Augenblick stehen, schon dadurch allein verwirrt und aufgeregt, daß sie zum erstenmal darüber sprachen.
»Glaub es ja nicht!« antwortete ihm Raskolnikow mit einem kalten und nachlässigen Lächeln. »Du hast wie immer nicht achtgegeben, ich aber wog jedes Wort ab.«
»Du bist argwöhnisch, und darum wogst du auch die Worte so ab ... Hm ... das stimmt, und ich gebe zu, daß Porfirijs Ton etwas merkwürdig war, und besonders dieser Schuft Samjotow! ... Du hast recht, es war schon etwas dabei; doch warum, warum?«
»Er hat es sich über Nacht überlegt.«
»Nein, im Gegenteil, ganz im Gegenteil! Wenn sie diesen blöden Gedanken hätten, so müßten sie ihn doch mit aller Kraft verbergen und ihre Karten verdeckt halten, um dich später zu ertappen ... Jetzt aber war es so frech und unvorsichtig!«
»Wenn sie Tatsachen hätten, das heißt wirkliche Tatsachen oder einigermaßen begründete Verdachtsmomente, so würden sie tatsächlich ihr Spiel verbergen, in der Hoffnung, noch mehr zu gewinnen (übrigens hätten sie auch längst eine Haussuchung abgehalten!). Aber sie haben gar keine Tatsachen, keine einzige, alles ist eine Fata Morgana, alles ist doppelsinnig, eine flüchtige Idee, darum bemühen sie sich, mich durch Frechheit wirr zu machen. Vielleicht ist er auch in Wut geraten, weil er keine Tatsachen hat, und hat sich in seinem Arger nicht beherrschen können. Vielleicht hat er aber auch irgendeine Absicht ... Er scheint ein kluger Mensch zu sein. Vielleicht wollte er mir nur damit Angst machen, daß er etwas wisse ... Es steckt eine eigene Psychologie darin, Bruder ... Übrigens ist es mir ekelhaft, dies alles zu erklären. Laß es!«
»Und beleidigend! beleidigend! Ich verstehe dich! Aber ... da wir schon einmal deutlich darüber sprechen (und das ist ausgezeichnet, daß wir darüber endlich deutlich reden, ich bin so froh darüber!), so gestehe ich dir gleich, daß ich diesen Gedanken bei ihnen schon lange gemerkt habe, diese ganze Zeit über, natürlich in einer winzigen, in einer schleichenden Form; aber warum selbst in einer schleichenden? Wie unterstehen sie sich bloß? Wo wurzeln ihre Gründe? Wenn du wüßtest, wie wütend ich war! Wie! – Nur weil ein armer Student, durch Armut und Hypochondrie verkrüppelt, am Vorabend einer schrecklichen Krankheit mit Fieberphantasien, die vielleicht schon längst in ihm angefangen hatte (merk dir das!), argwöhnisch und eitel, der viel von sich hält und in seinem Loch seit sechs Monaten niemand gesehen hat, – in Lumpen und Stiefeln ohne Sohlen vor diesen Polizeischnüfflern steht und sich von ihnen beschimpfen läßt; dazu noch die unerwartete Schuld vor der Nase, der fällige Wechsel mit dem Hofrat Tschebarow, die stinkende Ölfarbe, dreißig Grad Reaumur, stickige Luft, ein Haufen Menschen, der Bericht von der Ermordung einer Person, bei der er einen Tag vorher war, – und das alles auf den leeren Magen! Wie soll man da nicht in Ohnmacht fallen! Und darauf begründen sie alles! Hol's der Teufel! Ich verstehe wohl, daß es ärgerlich ist, doch an deiner Stelle, Rodjka, würde ich ihnen allen ins Gesicht lachen oder noch besser: in die Fratze spucken, und zwar ordentlich, und an die zwei Dutzend Ohrfeigen austeilen, natürlich mit Verständnis, wie man es immer tun muß, und damit wäre die Sache für mich erledigt. Spuck drauf! Sei fest! Eine Schande!«
– Er hat es recht gut dargelegt – dachte Raskolnikow.
»Ich soll drauf spucken? Und morgen ist wieder ein Verhör!« sagte er bitter. »Soll ich mich etwa auf Erklärungen einlassen? Ich ärgere mich auch so, daß ich mich gestern im Wirtshause vor einem Samjotow erniedrigt habe ...«
»Hol's der Teufel! Ich will mal selbst zu Porfirij gehen! Und ich werde ihn schon als Verwandter an die Wand drücken: soll er mir nur alle seine Karten aufdecken! Und was diesen Samjotow betrifft ...«
– Endlich ist er drauf gekommen! – dachte Raskolnikow.
»Halt!« rief Rasumichin und packte ihn plötzlich an der Schulter. »Halt! Du redest Unsinn! Jetzt bin ich drauf gekommen: es ist Unsinn! Wie soll das eine Falle sein? Du sagst, die Frage von den Arbeitern sei eine Falle gewesen? Begreife doch: wenn du es wirklich getan hättest, würdest du dich dann verplappern, daß du gesehen hättest, wie die Wohnung gestrichen wurde ... und die Arbeiter drin waren? Im Gegenteil: nichts habe ich gesehen, würdest du sagen, selbst wenn du sie gesehen hättest! Wer wird denn gegen sich selbst aussagen?«
»Hätte ich die Sache gemacht, so würde ich unbedingt sagen, ich hätte die Wohnung und die Arbeiter gesehen«, antwortete Raskolnikow unwillig und mit sichtbarem Ekel.
»Warum denn gegen sich selbst aussagen?«
»Weil nur dumme Bauern oder die unerfahrensten Neulinge beim Verhör alles und ausnahmslos leugnen. Aber ein einigermaßen intelligenter oder erfahrener Mensch bemüht sich, alle äußeren und unwiderlegbaren Tatsachen unbedingt zuzugeben; er schiebt ihnen nur andere Gründe unter und bringt hier und da eigene, unerwartete Details herein, die ihnen eine ganz andere Bedeutung verleihen und sie in einem anderen Lichte hinstellen. Porfirij konnte gerade darauf rechnen, ich würde unbedingt so antworten und unbedingt – der Glaubwürdigkeit wegen – sagen, daß ich sie gesehen hätte, und dem noch etwas zur Erklärung hinzufügen ...«
»Er hätte dir gleich gesagt, daß vor zwei Tagen keine Arbeiter dort gewesen sein konnten und daß du folglich am Tage des Mordes, gegen acht Uhr dagewesen seiest. Mit dieser Dummheit hätte er dich erwischt.«
»Darauf hat er eben gerechnet, daß ich es mir in der Eile nicht überlege und mich beeile, möglichst wahrheitsähnlich zu antworten, dabei aber vergesse, daß zwei Tage vorher keine Arbeiter da sein konnten.«
»Ja, wie kann man so was vergessen?«
»Das ist das leichteste! Auf solche Kleinigkeiten fallen die schlauen Leute am leichtesten herein. Je schlauer ein Mensch ist, um so weniger befürchtet er, auf dem Einfachsten ertappt zu werden. Den schlausten Menschen muß man gerade mit dem Einfachsten fangen. Porfirij ist gar nicht so dumm, wie du glaubst ...«
»Ein Schuft ist er nach alledem!«
Raskolnikow konnte sich des Lachens nicht enthalten. Im gleichen Augenblick kamen ihm aber seine Begeisterung und die Bereitwilligkeit, mit der er die letzte Erklärung vorgebracht hatte, sonderbar vor, um so mehr, als er sich am vorhergehenden Gespräch mit finsterem Widerwillen, nur eines bestimmten Zweckes wegen, aus Notwendigkeit beteiligt hatte.
– Ich bekomme noch Geschmack an manchen Punkten! – dachte er.
Aber im gleichen Augenblick wurde er wieder unruhig, als hätte ihn ein unerwarteter, beunruhigender Gedanke überrascht. Seine Unruhe wurde immer größer. Sie befanden sich schon vor dem Eingange zu den möblierten Zimmern Bakalejews.
»Geh allein hinauf«, sagte plötzlich Raskolnikow, »ich komme gleich zurück.«
»Wo willst du denn hin? Wir sind ja schon da!«
»Ich muß, ich muß; ich hab zu tun ... ich komme in einer halben Stunde ... Sag es ihnen dort.«
»Wie du willst, ich gehe aber mit dir.«
»Nun, auch du willst mich wohl totquälen!« rief er mit so bitterer Gereiztheit, mit solcher Verzweiflung im Blick, daß Rasumichin die Hände sinken ließ. Eine Weile stand er vor der Haustür und blickte finster dem anderen nach, der sich schnell in der Richtung nach seiner Gasse entfernte. Schließlich biß er die Zähne zusammen, ballte die Fäuste und ging, nachdem er sich das Gelübde geleistet hatte, den ganzen Porfirij heute noch wie eine Zitrone auszupressen, hinauf, um die wegen ihres langen Ausbleibens besorgte Pulcheria Alexandrowna zu beruhigen.
Als Raskolnikow sein Haus erreichte, waren seine Schläfen mit Schweiß bedeckt, und er atmete schwer. Er stieg schnell die Treppe hinauf, trat in seine unverschlossene Kammer und hakte sofort die Tür zu. Dann stürzte er sich in wahnsinniger Angst in die Ecke zum Loch unter der Tapete, wo die Sachen gelegen hatten, steckte die Hand hinein und wühlte einige Minuten sorgfältig herum, alle Winkel und Falten in der Tapete untersuchend. Nachdem er nichts gefunden hatte, stand er auf und holte tief Atem. Vorhin, vor dem Hause Bakalejews war es ihm plötzlich eingefallen, daß irgendein Gegenstand, ein Kettchen, ein Hemdknopf oder sogar ein Papierchen, in das sie eingewickelt waren, mit einem Vermerk von der Hand der Alten auf irgendeine Weise in eine Ritze hineingefallen und dort liegengeblieben sein könnte, um dann als ein unerwarteter und unwiderlegbarer Beweis vor ihm aufzutauchen.
Er stand wie nachdenklich da, und ein sonderbares, demütiges, halb sinnloses Lächeln irrte um seine Lippen. Er nahm schließlich die Mütze und verließ das Zimmer. Seine Gedanken waren verworren. Nachdenklich trat er in den Torweg.
»Das ist der Herr selbst!« rief eine laute Stimme.
Er hob den Kopf.
Der Hausknecht stand vor der Tür seiner Kammer und zeigte ihn einem nicht sehr großen Mann, der wie ein Kleinbürger aussah, mit einer Art Schlafrock und einer Weste bekleidet war und von weitem einem Weibe ähnelte. Sein Kopf, auf dem eine schmierige Mütze saß, hing nach vorn, und seine ganze Haltung war gekrümmt. Sein schlaffes, runzliges Gesicht deutete auf über fünfzig Jahre; die kleinen verschwommenen Augen blickten finster, streng und unzufrieden.
»Was ist los?« fragte Raskolnikow, auf den Hausknecht zugehend.
Der Kleinbürger schielte nach ihm unter der gerunzelten Stirn und musterte ihn durchdringend und aufmerksam; dann wandte er sich langsam um und trat, ohne ein Wort gesagt zu haben, aus dem Torweg auf die Straße.
»Was ist denn los?« rief Raskolnikow.
»Der Mann da hat gefragt, ob hier ein Student wohne, und nannte Ihren Namen und bei wem Sie wohnen. Sie kamen gerade herunter, und ich zeigte auf Sie, da ging er aber weg. Ja, so was!«
Auch der Hausknecht war etwas verblüfft, doch nicht zu sehr. Nachdem er noch ein Weilchen nachgedacht hatte, drehte er sich um und ging in seine Kammer.
Raskolnikow stürzte dem Kleinbürger nach und sah ihn sofort mit gleichmäßigen, nicht zu schnellen Schritten, die Augen zu Boden gesenkt, wie in sich etwas überlegend, auf der anderen Straßenseite gehen. Er holte ihn schnell ein, ging aber erst eine Weile hinter ihm her; schließlich erreichte er ihn und blickte ihm von der Seite ins Gesicht. Jener bemerkte ihn sofort, musterte ihn mit einem schnellen Blick, senkte aber gleich wieder die Augen; so gingen sie eine Weile nebeneinander her, ohne ein Wort zu sprechen.
»Sie haben nach mir gefragt ... beim Hausknecht?« sagte endlich Raskolnikow, aber mit eigentümlich leiser Stimme.
Der Kleinbürger gab keine Antwort und sah ihn nicht mal an. Sie schwiegen wieder.
»Ja, warum ... kommen Sie nachfragen ... und schweigen ... was ist denn das?«
Die Stimme Raskolnikows stockte, und die Worte kamen ihm undeutlich von den Lippen.
Der Kleinbürger erhob diesmal die Augen und sah Raskolnikow mit einem drohenden, finsteren Blicke an.
»Mörder!« sagte er plötzlich mit leiser, doch klarer und deutlicher Stimme.
Raskolnikow ging neben ihm her. Seine Füße waren plötzlich schrecklich schwach geworden, ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, und sein Herz stand einen Augenblick still; dann fing es plötzlich zu klopfen an, als hätte es sich losgerissen. So gingen sie an die hundert Schritte immer noch schweigend nebeneinander her.
Der Kleinbürger sah ihn nicht an.
»Was sagen Sie ... was ... wer ist der Mörder?« murmelte Raskolnikow kaum hörbar.
»Du bist der Mörder«, sagte jener noch deutlicher und eindringlicher mit dem Lächeln eines gehässigen Triumphes und blickte wieder Raskolnikow ins bleiche Gesicht und in seine gebrochenen Augen.
Sie erreichten die Straßenecke. Der Kleinbürger schwenkte nach links ab und ging weiter, ohne sich umzusehen. Raskolnikow blieb stehen und blickte ihm lange nach. Er sah, wie jener, nachdem er an die fünfzig Schritte gegangen war, sich umwandte und ihn, der noch immer unbeweglich auf dem gleichen Fleck stand, ansah. Er konnte ihn nicht mehr genau unterscheiden, doch Raskolnikow kam es vor, als hätte jener wieder kalt, gehässig und triumphierend gelächelt.
Mit langsamen, schwachen Schritten, mit schlotternden Knien, wie erfroren, kehrte Raskolnikow um und ging in seine Kammer hinauf. Er nahm seine Mütze ab, legte sie auf den Tisch und stand an die zehn Minuten unbeweglich daneben. Dann legte er sich entkräftet aufs Sofa und streckte sich krankhaft mit leisem Stöhnen darauf aus; seine Augen waren geschlossen. So lag er etwa eine halbe Stunde.
Er dachte an nichts. Er hatte wohl irgendwelche Gedanken oder Bruchstücke von Gedanken im Kopfe, irgendwelche Vorstellungen ohne Ordnung und ohne Zusammenhang –, es waren die Gesichter von Menschen, die er in seiner Kindheit gesehen hatte oder denen er nur einmal irgendwo begegnet war und die ihm sonst niemals eingefallen wären; der Glockenturm der W–schen Kirche; das Billard in einem gewissen Wirtshause und ein Offizier neben dem Billard; Zigarrengeruch in einem Tabakladen im Kellergeschoß; eine Schenke, eine ganz finstere, mit Schmutzwasser begossene und mit Eierschalen bedeckte Hintertreppe, und irgendwo tönte das sonntägliche Geläute von Kirchenglocken ... Die Gegenstände wechselten ab und drehten sich wie im Wirbel. Manche von ihnen gefielen ihm sogar, und er klammerte sich an sie fest, sie erloschen aber, und etwas bedrückte ihn innerlich, doch nicht allzu heftig. Zuweilen war es ihm sogar recht wohl ... Das leichte Frösteln wollte nicht vergehen, und auch diese Empfindung war fast angenehm.
Er hörte die schnellen Schritte Rasumichins und seine Stimme; er schloß die Augen und stellte sich schlafend. Rasumichin öffnete die Tür und stand eine Weile wie nachdenklich auf der Schwelle. Dann trat er leise ins Zimmer und ging vorsichtig zum Sofa. Nastasja flüsterte:
»Laß ihn; soll er nur ausschlafen; er wird später essen.«
»Hast recht«, antwortete Rasumichin.
Die beiden gingen hinaus und machten die Tür zu. Es verging noch etwa eine halbe Stunde. Raskolnikow schlug die Augen auf, warf sich wieder auf den Rücken und steckte die Hände unter den Kopf.
– Wer ist er? Wer ist dieser aus der Erde erschienene Mensch? Wo ist er gewesen, und was hat er gesehen? Er hat doch alles gesehen, das ist zweifellos. Wo hat er damals gestanden, und von wo aus hat er es gesehen? Warum kommt er erst jetzt aus der Erde gestiegen? Und wie konnte er es sehen –, ist es denn möglich? ... Hm! ... – fuhr Raskolnikow fort, am ganzen Leibe fröstelnd und zitternd. – Und das Etui, das Nikolai hinter der Tür gefunden hat: ist denn auch das möglich? Beweise? Man übersieht ein Hunderttausendstel, und daraus entsteht ein Beweis, so gewaltig wie eine ägyptische Pyramide! Eine Fliege ist vorbeigeflogen, und die hat es gesehen! Ist es denn möglich? ... –
Er fühlte mit Ekel, wie schwach er geworden war, physisch schwach.
– Nein, solche Menschen sind nicht so gemacht; ein wahrer Herrscher, dem alles erlaubt ist, bombardiert Toulon, veranstaltet ein Gemetzel in Paris, vergißt eine Armee in Ägypten, verliert eine halbe Million Menschen im Moskauer Feldzuge und zieht sich in Wilna durch ein Wortspiel aus der Affäre, und doch errichtet man ihm nach seinem Tode Denkmäler –, also ist alles erlaubt. Nein, solche Menschen sind offenbar nicht aus Fleisch, sondern aus Bronze gemacht! –
Ein plötzlicher, ganz abseits liegender Gedanke brachte ihn fast zum Lachen.
– Napoleon, die Pyramiden, Waterloo, und die magere alte Registratorswitwe, die Wucherin mit der roten Truhe unter dem Bette, wie soll das selbst ein Porfirij Petrowitsch verdauen können! ... Wie sollen sie es auch verdauen! ... Diese Ästhetik ist ihnen im Wege: »Wird so ein Napoleon«, werden sie sagen, »zu so einer Alten unters Bett kriechen! Ach, ekelhaft!«
Zeitweise schien es ihm, daß er phantasiere; er verfiel in eine fieberhafte Verzückung.
– Die Alte ist Unsinn! – sagte er sich erregt und stoßweise. – Die Alte ist vielleicht ein Irrtum, und es handelt sich gar nicht um sie! Die Alte war nur eine Krankheit ... ich wollte nur schnell hinüberschreiten ... ich habe nicht einen Menschen getötet, ich habe ein Prinzip getötet! Das Prinzip habe ich wohl getötet, bin aber nicht hinübergeschritten, ich bin diesseits geblieben ... Ich verstand nur zu töten! Und auch das habe ich nicht mal verstanden, wie es sich jetzt herausstellt ... Das Prinzip? Warum hat der einfältige Rasumichin vorhin so auf die Sozialisten geschimpft? Sie sind doch fleißige und betriebsame Leute; sie befassen sich mit dem ›allgemeinen Glück‹. Nein, das Leben ist mir nur einmal gegeben und wird sich nie wiederholen; ich will nicht auf das ›allgemeine Glück‹ warten. Ich will auch selbst leben, sonst lieber gar nicht leben. Nun, ich wollte nur nicht an einer hungrigen Mutter, meinen Rubel in der Tasche festhaltend, vorbeigehen in Erwartung des ›allgemeinen Glücks‹. ›Ich trage einen kleinen Baustein zum allgemeinen Glück bei mir und fühle darum Seelenruhe.‹ Hahaha! Warum seid ihr an mir vorbeigegangen? Ich lebe ja nur ein einziges Mal, ich will ja auch ... Ach, ich bin nur eine ästhetische Laus und mehr nicht – fügte er plötzlich hinzu, wie ein Irrsinniger lachend. – Ja, ich bin tatsächlich eine Laus – fuhr er fort, sich mit Schadenfreude an den Gedanken klammernd, in ihm wühlend, mit ihm spielend, sich über ihn freuend. – Und schon aus dem Grunde, weil ich, erstens, jetzt daran denke, daß ich eine Laus bin; zweitens, weil ich einen ganzen Monat lang die allgütige Vorsehung belästigte, indem ich sie zum Zeugen anrief, daß ich es nicht um meines Fleisches und meiner Lust willen unternehme, sondern ein großartiges und angenehmes Ziel vor mir habe – haha! Und drittens, weil ich mir vorgenommen hatte, die größtmöglichste Gerechtigkeit, Gewicht und Maß und die Arithmetik bei der Ausführung zu beobachten: unter allen Läusen hatte ich die nutzloseste gewählt und mir vorgenommen, nach ihrer Ermordung von ihr nur so viel zu nehmen, als ich für den ersten Schritt brauche, nicht mehr und nicht weniger (der Rest würde aber laut Testament dem Kloster zufallen –, ha ha! ...). Ich bin darum endgültig eine Laus – fügte er zähneknirschend hinzu –, weil ich vielleicht noch ekelhafter und schlimmer bin als die ermordete Laus und weil ich vorausahnte, daß ich mir dies alles nach dem Morde sagen würde! Läßt sich denn etwas mit diesem Entsetzen vergleichen?! Oh, diese Banalität! Oh, diese Gemeinheit! ... Oh, wie ich den ›Propheten‹ mit dem Säbel in der Hand, auf dem Pferde reitend, begreife: Allah befiehlt, und die ›zitternde‹ Kreatur muß gehorchen! Recht, tausendmal recht hat der Prophet, wenn er irgendwo quer über die Straße eine orrrdentliche Batterie aufstellt und den Unschuldigen und Schuldigen niederknallt, ohne sich sogar zu einer Erklärung herabzulassen! Gehorche, zitternde Kreatur, und wolle nichts, denn es ist nicht deine Sache! ... Oh, um nichts in der Welt werde ich es der gemeinen Alten verzeihen! –
Sein Haar war mit Schweiß bedeckt, die zitternden Lippen waren eingetrocknet und der starre Blick auf die Decke gerichtet.
– Mutter, Schwester, wie liebte ich sie! Warum hasse ich sie jetzt? Ja, ich hasse sie; ich hasse sie physisch, ich kann ihre Nähe nicht ertragen ... Vorhin ging ich auf die Mutter zu und küßte sie, ich erinnere mich noch ... Sie umarmen und dabei denken, daß, wenn sie es wüßte ... ich es ihr vielleicht sagen würde? Das sähe mir ähnlich ... Hm! sie muß ebenso sein wie ich – fügte er hinzu, seine Gedanken mühevoll fortspinnend, wie gegen einen Fieberanfall ankämpfend. – Oh, wie hasse ich jetzt die Alte! Ich glaube, ich würde sie noch einmal ermorden, wenn sie zu sich käme! Arme Lisaweta! Warum kam sie dazwischen! ... Es ist aber sonderbar, warum ich an sie fast gar nicht denke, als hätte ich sie gar nicht ermordet! ... Lisaweta! Ssonja! Ihr Armen, Sanften mit sanften Augen ... Ihr Lieben! Warum weinen sie nicht? Warum stöhnen sie nicht? ... Sie geben alles hin ... sie blicken sanft und still ... Ssonja, Ssonja! Stille Ssonja! ... –
Er verlor das Bewußtsein; so sonderbar erschien es ihm, daß er nicht mehr wußte, wie er auf die Straße geraten war. Es war schon später Abend. Die Dämmerung verdichtete sich, der Vollmond leuchtete immer greller und greller; aber die Luft war so furchtbar drückend. In den Straßen bewegten sich Mengen von Menschen; Handwerker und anderes Arbeitsvolk gingen heim, andere gingen spazieren; es roch nach Kalk, Staub und stehendem Wasser. Raskolnikow ging traurig und bekümmert dahin: er wußte noch sehr gut, daß er mit einer bestimmten Absicht das Haus verlassen hatte, daß er etwas tun sollte und sich beeilen mußte, doch was er zu tun hatte, das wußte er nicht mehr. Plötzlich sah er auf dem Trottoir, auf der anderen Straßenseite einen Mann stehen und ihm mit der Hand winken. Er ging über die Straße auf ihn zu, der Mann wandte sich aber um und ging, als wäre nichts geschehen, weiter, den Kopf gesenkt, ohne sich umzuwenden und ohne sich anmerken zu lassen, daß er ihm gewinkt habe. – Hat er mir denn auch wirklich gewinkt? – dachte Raskolnikow, ging ihm aber dennoch nach. Als ihn nur noch zehn Schritte von ihm trennten, erkannte er ihn plötzlich und erschrak; es war der Kleinbürger von vorhin, im gleichen Schlafrocke und in ebenso gekrümmter Haltung. Raskolnikow ging in einiger Entfernung hinter ihm, sein Herz klopfte; sie bogen in eine Quergasse ab, jener wandte sich noch immer nicht um. – Weiß er auch, daß ich ihm folge? – fragte sich Raskolnikow. Der Kleinbürger trat in das Tor eines großen Hauses. Raskolnikow ging schnell auf das Tor zu und sah hinein, ob jener sich nicht umschauen und ihm winken würde. Und in der Tat, nachdem er den ganzen Torweg durchschritten hatte und schon in den Hof trat, wandte er sich plötzlich um und winkte ihm scheinbar wieder zu. Raskolnikow trat sofort in das Tor, der Kleinbürger war aber nicht mehr auf dem Hofe. Also ist er soeben die erste Treppe hinaufgegangen. Raskolnikow stürzte ihm nach. Und in der Tat, ein paar Treppen höher ließen sich gleichmäßige, langsame Schritte vernehmen. Seltsam, die Treppe kam ihm so bekannt vor! Da ist auch das Fenster im Erdgeschoß; traurig und geheimnisvoll drang das Mondlicht durch die Fensterscheiben; da ist auch der erste Stock. Ach, das ist ja die gleiche Wohnung, in der die Anstreicher gearbeitet haben! ... Wie hat er es bloß nicht sofort erkannt? Die Schritte des vor ihm gehenden Mannes waren verhallt: – er ist also stehengeblieben oder hat sich irgendwo versteckt. – Da ist auch der zweite Stock; soll er noch weiter gehen? Und wie still es da ist, es ist sogar schrecklich ... Er ging aber weiter. Das Geräusch seiner eigenen Schritte erschreckte und beunruhigte ihn. Gott, wie dunkel! Der Kleinbürger lauert hier sicher irgendwo in einer Ecke. Ach! Die Wohnung steht weit offen; er überlegt und tritt ein. Im Vorzimmer ist es sehr dunkel und leer, keine Seele, als hätte man alles hinausgetragen. Ganz leise, auf den Fußspitzen trat er in die Stube: das ganze Zimmer war von grellem Mondlicht durchflutet; alles war noch beim alten: die Stühle, der Spiegel, das gelbe Sofa und die Bilder in den Rahmen. Der riesengroße, runde, kupferrote Mond blickte gerade zum Fenster herein. – Diese Stille kommt vom Mond – dachte Raskolnikow – er gibt wohl ein Rätsel zum Raten auf. – Er stand da und wartete, er wartete lange, und je stiller der Mond war, um so stärker klopfte sein Herz, es tat ihm sogar weh. Und immer diese Stille. Plötzlich hörte er ein trockenes kurzes Knacken, als hätte man einen Span gebrochen, und wieder war alles still. Eine erwachte Fliege schlug im Fluge gegen die Fensterscheibe und summte traurig. Im gleichen Augenblick sah er in der Ecke zwischen dem kleinen Schrank und dem Fenster etwas wie einen an der Wand hängenden Pelzmantel. – Wie kommt dieser Pelzmantel her? – fragte er sich. – Er war doch früher nicht da ... – Er kam leise näher und erriet, daß hinter dem Pelzmantel sich jemand versteckt hielt. Vorsichtig schob er mit der Hand den Pelzmantel zur Seite und sah einen Stuhl stehen; auf dem Stuhle aber in der Ecke saß die Alte, ganz zusammengekrümmt und den Kopf geneigt, so daß er ihr Gesicht nicht erkennen konnte, aber sie war es. Er stand eine Weile über sie gebeugt. – Sie fürchtet sich! – dachte er. Dann befreite er das Beil vorsichtig aus der Schlinge und schlug die Alte auf den Schädel, einmal und noch einmal. Aber seltsam: sie rührte sich nicht mal unter den Schlägen, als wäre sie aus Holz. Er erschrak, beugte sich tiefer und begann sie zu betrachten; sie aber senkte den Kopf noch tiefer. Nun beugte er sich ganz tief zu Boden und blickte ihr von unten ins Gesicht; er blickte sie an und erstarrte; die Alte saß da und lachte, sie schüttelte sich vor leisem, unhörbarem Lachen, das sie mit aller Kraft zurückhielt, damit er es nicht höre. Plötzlich schien es ihm, daß die Tür aus dem Schlafzimmer ein klein wenig aufginge und daß man auch dort lache und tuschele. Er wurde rasend; aus aller Kraft schlug er die Alte auf den Kopf, doch nach jedem Beilhieb klangen das Lachen und Tuscheln im Schlafzimmer lauter und vernehmlicher, und die Alte schüttelte sich vor Lachen. Er wollte weglaufen, doch das Vorzimmer war schon voller Menschen, die Tür zur Treppe stand offen, und auf dem Treppenaufsatz und auch auf der Treppe weiter unten stehen Menschen Kopf an Kopf, alle schauen, doch alle lauern und warten und schweigen ... Sein Herz krampfte sich zusammen, die Füße konnten sich nicht rühren, waren wie angewachsen ... Er wollte aufschreien und – erwachte.
Er holte schwer Atem –, aber seltsam, der Traum dauerte noch gleichsam fort: seine Tür stand weit offen, und auf der Schwelle stand ein ihm völlig unbekannter Mann, der ihn aufmerksam betrachtete.
Raskolnikow hatte die Augen noch nicht ganz geöffnet und schloß sie sofort wieder. Er lag auf dem Rücken und rührte sich nicht.
– Ist das eine Fortsetzung des Traumes oder nicht? – dachte er sich und hob ein wenig die Wimpern, um zu sehen: der Fremde stand noch auf dem gleichen Fleck und betrachtete ihn noch immer.
Plötzlich trat er vorsichtig über die Schwelle, schloß die Tür behutsam hinter sich, ging an den Tisch und wartete eine Weile – während dieser ganzen Zeit wandte er von ihm keinen Blick –, dann setzte er sich leise, geräuschlos auf den Stuhl neben das Sofa, stellte den Hut auf den Boden neben sich, stützte beide Hände auf den Stock und legte das Kinn auf die Hände. Offenbar schickte er sich an, lange zu warten. Soweit man durch die zuckenden Wimpern sehen konnte, war es ein nicht mehr junger, korpulenter Herr mit einem dichten, hellen, fast weißen Vollbart ...
Es vergingen an die zehn Minuten. Es war noch hell, aber der Abend brach schon an. Im Zimmer herrschte völlige Stille. Selbst von der Treppe drang kein Laut herein. Nur eine große Fliege summte und schlug im Fluge gegen die Scheibe. Endlich wurde dies unerträglich: Raskolnikow erhob sich plötzlich und setzte sich auf dem Sofa auf.
»Nun, sagen Sie, was wollen Sie?«
»Ich wußte ja, daß Sie nicht schlafen und sich nur so stellen«, antwortete der Fremde seltsam und lachte ruhig. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow ...«