Ist es wirklich eine Fortsetzung des Traumes? – dachte Raskolnikow noch einmal.
Vorsichtig und mißtrauisch betrachtete er den unerwarteten Gast.
»Swidrigailow? Welch ein Unsinn! Es kann nicht sein!« sagte er schließlich laut, ganz verständnislos.
Der Gast schien über diesen Ausruf gar nicht erstaunt.
»Ich bin aus zwei Gründen heraufgekommen; erstens wollte ich Sie persönlich kennenlernen, da ich schon längst viel Interessantes und Vorteilhaftes über Sie gehört habe, und zweitens bilde ich mir ein, daß Sie sich vielleicht nicht weigern werden, mir in meinem Unternehmen zu helfen, das direkt die Interessen Ihrer Schwester Awdotja Romanowna berührt. Mich selbst, ohne Empfehlung, wird sie vielleicht nicht über die Schwelle lassen, infolge eines Vorurteils, doch mit Ihrer Hilfe rechne ich.«
»Sie rechnen schlecht«, unterbrach ihn Raskolnikow.
»Die Damen sind doch erst gestern angekommen, wenn ich fragen darf?«
Raskolnikow gab keine Antwort.
»Gestern, ich weiß es. Ich bin ja selbst erst vorgestern angekommen. Nun will ich Ihnen folgendes darüber sagen, Rodion Romanowitsch; mich zu rechtfertigen, halte ich für überflüssig, gestatten Sie mir aber, eines zu bemerken: was habe ich in dieser ganzen Sache verbrochen, natürlich wenn man es ohne Vorurteile, sondern vernünftig betrachtet?«
Raskolnikow fuhr fort, ihn schweigend zu betrachten.
»Daß ich in meinem Hause ein wehrloses junges Mädchen verfolgt und ›mit meinen gemeinen Anträgen beleidigt‹ habe, nicht wahr? (Ich nehme es selbst vorweg!) – Denken Sie doch nur daran, daß auch ich Mensch bin, et nihil humanum ... mit einem Worte, daß auch ich imstande bin, einer Versuchung zu unterliegen und mich zu verlieben (was natürlich nicht nach unserem Wunsche geschieht), – und dann läßt sich alles auf die natürlichste Weise erklären. Dann ist es noch eine Frage: bin ich ein Scheusal oder selbst ein Opfer? Was, wenn ich ein Opfer bin? Indem ich dem Gegenstande meiner Leidenschaft den Vorschlag machte, mit mir nach Amerika oder in die Schweiz zu fliehen, hatte ich vielleicht die respektvollsten Gefühle und glaubte sogar unser gemeinsames Glück zu begründen! Die Vernunft dient doch der Leidenschaft; vielleicht richtete ich mich dabei selbst noch mehr zugrunde, ich bitte Sie! ...«
»Es handelt sich aber gar nicht darum«, unterbrach ihn Raskolnikow angeekelt. »Sie sind einfach widerlich, ob Sie recht haben oder nicht, man will mit Ihnen nichts zu tun haben und jagt Sie fort, also gehen Sie doch! ...«
Swidrigailow lachte plötzlich auf.
»Aber Sie ... Sie lassen sich nicht aus dem Konzept bringen!« sagte er und lachte auf die offenste Weise. »Ich wollte schon schwindeln, aber Sie haben gleich den richtigen Punkt getroffen!«
»Sie schwindeln auch jetzt.«
»Was ist denn dabei? Was ist denn dabei?« wiederholte Swidrigailow, aufrichtig lachend. »Es ist doch, was man so nennt, bonne guerre und eine durchaus erlaubte List! ... Sie haben mich aber unterbrochen; so oder anders, ich erkläre noch einmal: es hätte nicht die geringste Unannehmlichkeit gegeben, wenn nicht der Fall im Garten. Marfa Petrowna ...«
»Man sagt, Sie haben auch Marfa Petrowna umgebracht?« unterbrach ihn Raskolnikow grob.
»Sie haben auch davon schon gehört? Wie sollte man übrigens davon nicht hören ... Nun, was Ihre Frage betrifft, so weiß ich wirklich nicht, was ich Ihnen darauf sagen soll, obwohl mein eigenes Gewissen in dieser Beziehung äußerst ruhig ist. Glauben Sie aber nicht, daß ich etwas befürchte: alles ist in vollkommener Ordnung und mit peinlicher Genauigkeit erledigt: die ärztliche Untersuchung ergab einen Herzschlag, der infolge eines sofort nach einem reichlichen Mittagessen, bei dem fast eine ganze Flasche Wein getrunken wurde, genommenen Bades eingetreten ist, und sie konnte auch gar nichts anderes ergeben ... Nein, ich habe mir eine Zeitlang, besonders unterwegs, im Eisenbahnwagen, folgendes gedacht: ob ich zu diesem ... Unglück nicht irgendwie moralisch durch eine Reizung oder sonstwie beigetragen habe? Doch ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß dies ganz bestimmt nicht der Fall sein konnte.«
Raskolnikow lachte.
»Was machen Sie sich auch Sorgen darüber!«
»Warum lachen Sie denn! Bedenken Sie doch: ich habe sie nur zweimal mit der Gerte geschlagen, und man fand später auch gar keine Spuren ... Halten Sie mich bitte nicht für einen Zyniker; ich weiß doch sehr gut, wie gemein das von mir war, und so weiter; ich weiß aber auch ganz bestimmt, daß Marfa Petrowna vielleicht sogar froh war, daß ich, sagen wir, mich so hinreißen ließ. Die Geschichte mit Ihrer Schwester war bis auf den Rest erschöpft. Marfa Petrowna mußte schon den dritten Tag zu Hause sitzen; sie hatte nichts mehr in unserem Städtchen auszuposaunen, auch waren schon alle ihrer und dieses Briefes überdrüssig (über das Vorlesen des Briefes haben Sie wohl schon gehört?). Und plötzlich fallen ihr diese beiden Gertenschläge wie vom Himmel in den Schoß! Zu allererst läßt sie natürlich den Wagen anspannen! ... Ich spreche nicht mal davon, daß es bei Frauen Fälle gibt, wo es ihnen überaus angenehm ist, beleidigt worden zu sein, trotz der scheinbaren Entrüstung. Bei allen gibt es solche Fälle; der Mensch liebt es überhaupt sehr, beleidigt zu sein; haben Sie es schon bemerkt? Doch die Frauen ganz besonders. Man kann sogar sagen, daß sie nur davon leben.«
Raskolnikow hatte eine Zeitlang die Absicht, aufzustehen und fortzugehen und damit dem Gespräch ein Ende zu machen. Aber eine gewisse Neugier und sogar eine Berechnung hielten ihn für einen Augenblick zurück.
»Schlagen Sie gerne los?« fragte er zerstreut.
»Nein, nicht sehr«, antwortete Swidrigailow ruhig. »Marfa Petrowna habe ich fast nie geschlagen. Wir lebten in großer Eintracht, und sie war mit mir immer zufrieden. Die Gerte habe ich in den sieben Jahren unseres Zusammenlebens bloß zweimal gebraucht (wenn man von einem dritten Fall, der übrigens recht zweifelhaft ist, absieht). Das erstemal zwei Monate nach unserer Heirat, gleich nach unserer Ankunft auf dem Gut, und dann dieser letzte Fall. Sie glaubten wohl schon, ich sei so ein Scheusal, ein Rückschrittler und Verfechter der Leibeigenschaft? He-he ... A propos: können Sie sich vielleicht noch erinnern, Rodion Romanowitsch, wie man bei uns vor einigen Jahren, noch in der Zeit der segensreichen Pressefreiheit, einen gewissen Edelmann – ich habe seinen Namen vergessen – öffentlich und in der ganzen Presse gebrandmarkt hat, weil er irgendeine Deutsche im Eisenbahnwagen mit einer Peitsche geschlagen hat? Im gleichen Jahr hat sich auch, wenn ich nicht irre, der unerhörte Fall mit der Zeitung ›Zeit‹ abgespielt (nun, die öffentliche Vorlesung von Puschkins ›Agyptischen Nächten‹, können Sie sich daran erinnern? Die schwarzen Augen! Oh, wo bist du, goldene Zeit unserer Jugend!). Das ist also meine Ansicht: für den Herrn, der die Deutsche mit der Peitsche geschlagen hat, habe ich nicht die geringste Sympathie, denn in der Tat, warum soll man mit ihm ... Sympathie haben?! Bei dieser Gelegenheit kann ich aber nicht verschweigen, daß manche ›Deutsche‹ so aufreizend ist, daß wohl kein einziger Fortschrittler für sich selbst bürgen könnte. Von diesem Standpunkte aus hatte damals niemand die Sache betrachtet, und doch ist eben dieser Standpunkt der wahrhaft humane, es ist wirklich so!«
Nach diesen Worten begann Swidrigailow wieder zu lachen. Raskolnikow war es jetzt klar, daß dieser Mensch sich etwas fest vorgenommen hatte und etwas im Schilde führte.
»Sie haben wohl einige Tage nacheinander mit niemand gesprochen?« fragte er ihn.
»Es ist beinahe so. Warum? Sie staunen wohl, daß ich so vernünftig rede?«
»Nein, ich staune nur, daß Sie allzu vernünftig reden.«
»Weil ich mich durch Ihre groben Fragen nicht gekränkt fühle? Nicht wahr? Was soll ich mich auch gekränkt fühlen? Wie Sie mich fragen, so antworte ich Ihnen auch«, fügte er auffallend treuherzig hinzu. »Ich habe doch fast für nichts besonders Interesse, bei Gott«, fuhr er nachdenklich fort. »Besonders jetzt bin ich mit nichts beschäftigt ... Es ist übrigens verzeihlich, wenn Sie annehmen, daß ich mich bei Ihnen mit einem bestimmten Ziel einzuschmeicheln suche, um so mehr, als ich etwas von Ihrer Schwester will: ich habe es Ihnen ja selbst gesagt. Aber ich sage es Ihnen aufrichtig: es ist furchtbar langweilig ... Nehmen Sie mir es nicht übel, Rodion Romanowitsch, aber Sie selbst kommen mir so furchtbar merkwürdig vor. Sie können sagen, was Sie wollen, aber es ist etwas an Ihnen; und gerade jetzt, das heißt nicht nur in diesem Augenblick, sondern überhaupt jetzt ... Na, na, ich rede nicht mehr davon, machen Sie nicht gleich ein finsteres Gesicht! Ich bin doch nicht so ein Bär, wie Sie glauben.«
Raskolnikow blickte ihn finster an.
»Sie sind vielleicht gar kein Bär«, sagte er. »Mir scheint sogar, daß Sie zur guten Gesellschaft gehören oder wenigstens verstehen, bei Gelegenheit auch ein anständiger Mensch zu sein.«
»Ich interessiere mich auch nicht für irgend wessen Meinung«, antwortete Swidrigailow trocken, sogar mit einem Anfluge von Hochmut. »Warum soll ich auch nicht gemein sein, wenn dieses Kleid in unserem Klima so bequem ist und ... und besonders wenn man eine natürliche Neigung dazu hat«, fügte er hinzu und lachte wieder.
»Ich hörte aber, daß Sie viele Bekannte haben. Sie sind doch, was man so nennt, ›nicht ohne Verbindungen‹. Was brauchen Sie dann mich, wenn nicht zu einem bestimmten Zweck?«
»Das stimmt, daß ich Bekannte habe«, fiel ihm Swidrigailow ins Wort, ohne jedoch die Hauptfrage zu beantworten. »Einige habe ich auch schon getroffen; ich treibe mich ja schon den dritten Tag hier herum; ich erkenne die Leute wieder, und auch sie scheinen mich zu erkennen. Allerdings bin ich anständig gekleidet und gelte als vermögender Mann; uns hat auch die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht geschadet: wir haben Wälder und Flußwiesen, das Einkommen ist nicht geschmälert; aber ... ich will die Leute nicht aufsuchen; sie waren mir auch früher schon langweilig; den dritten Tag gehe ich herum und gebe mich niemand zu erkennen ... Und erst diese Stadt! Sagen Sie mir, bitte, wer hat sie erdacht? Es ist die Stadt von Kanzlisten und allen möglichen Seminaristen! Ich habe hier früher wirklich vieles nicht bemerkt, vor acht Jahren, als ich mich hier herumtrieb ... Jetzt setze ich alle meine Hoffnungen nur noch auf die Anatomie, bei Gott!«
»Auf was für eine Anatomie?«
»Was aber alle diese Klubs, die Restaurants von Dussot und die schönen Aussichtspunkte auf den Inseln, vielleicht auch den Fortschritt betrifft, so habe ich kein Interesse dafür«, fuhr er fort, wieder ohne die Frage zu beachten. »Was für ein Vergnügen ist es auch, Falschspieler zu sein!«
»Waren Sie denn auch Falschspieler?«
»Ja, natürlich! Wir waren eine ganze höchst anständige Gesellschaft, vor acht Jahren; wir vertrieben uns die Zeit; und, wissen Sie, lauter Menschen mit Manieren, Dichter waren dabei, auch Kapitalisten. Überhaupt haben bei uns, in der russischen Gesellschaft die besten Manieren gerade solche Menschen, die schon einmal Prügel bekommen haben –, wissen Sie es noch nicht? Ich bin nur auf dem Lande so verbauert. Und doch hatte mich damals ein Grieche aus Njeschin wegen Schulden ins Gefängnis gesperrt. Da kam gerade Marfa Petrowna dazwischen, sie handelte mit dem Mann und löste mich für dreißigtausend Silberlinge aus. (Im ganzen schuldete ich siebzigtausend.) Wir gingen eine legitime Ehe ein, und sie brachte mich sofort wie einen kostbaren Schatz zu sich aufs Gut. Sie war ja um fünf Jahre älter als ich. Liebte mich sehr. Sieben Jahre verließ ich das Gut nicht. Und beachten Sie, bitte: Ihr ganzes Leben hatte sie ein Dokument gegen mich, einen auf einen fremden Namen ausgestellten Wechsel über diese dreißigtausend Rubel in Händen, so daß, wenn ich nur wagte, mich gegen sie zu empören, sie mich sofort ins Loch bringen konnte! Und sie hätte es auch getan!«
»Und wenn sie den Wechsel nicht gehabt hätte, so wären Sie wohl durchgebrannt?«
»Ich weiß nicht, was ich Ihnen darauf sagen soll. Dieses Dokument genierte mich fast gar nicht. Ich hatte keine Lust, irgendwohin zu gehen, und Marfa Petrowna hat mir sogar selbst zweimal eine Auslandsreise angeboten, als sie sah, daß ich mich langweilte. Aber, was! Im Auslande war ich schon vorher gewesen und hatte mich da immer gelangweilt. Es war weniger Langweile, aber so ein Sonnenaufgang, der Golf von Neapel, das Meer –, wenn ich es sehe, so ist es mir so traurig zumute. Das Gemeinste ist, daß man tatsächlich Trauer empfindet! Nein, in der Heimat ist es doch besser: hier schiebt man wenigstens die Schuld den anderen zu und rechtfertigt sich selbst. Vielleicht würde ich noch an einer Nordpolexpedition teilnehmen, denn – j'ai le vin mauvais, das Trinken ist mir zuwider, aber außer dem Wein bleibt mir nichts übrig. Ich habe es schon versucht. Man sagt, daß Berg am Sonntag im Jussupowschen Garten mit einem großen Luftballon aufsteigen wird und Reisebegleiter gegen eine bestimmte Bezahlung sucht, ist das wahr?«
»Nun, würden Sie mitfliegen?«
»Ich? Nein ... ich frage nur so ...« murmelte Swidrigailow und schien wirklich nachdenklich zu werden.
– Ist es sein Ernst? – dachte Raskolnikow.
»Nein, das Dokument hat mich niemals geniert,« fuhr Swidrigailow nachdenklich fort, »ich wollte selbst nicht das Gut verlassen. Auch hat mir Marfa Petrowna vor einem Jahr zu meinem Namenstag das Dokument zurückerstattet und mir außerdem noch eine nennenswerte Summe geschenkt. Sie hatte ja Vermögen. – ›Sehen Sie, wie ich Ihnen vertraue, Arkadij Iwanowitsch‹ –, so drückte sie sich aus, wahrhaftig. Sie glauben wohl nicht, daß sie sich so ausdrückte? Wissen Sie: ich bin auf dem Lande ein tüchtiger Landwirt geworden, man kennt mich im ganzen Umkreis. Ich ließ mir auch Bücher kommen. Marfa Petrowna billigte es zuerst, fürchtete aber dann immer, ich könnte mich beim Studium überanstrengen.«
»Marfa Petrowna geht Ihnen wohl sehr ab?«
»Mir? Mag sein. Sogar sehr möglich. Übrigens, glauben Sie an Gespenster?«
»An was für Gespenster?«
»An ganz gewöhnliche Gespenster, was tragen Sie noch!«
»Und glauben Sie an Gespenster?«
»Vielleicht auch nicht, pour vous plaire ... Das heißt, eigentlich wohl ...«
»Erscheinen sie Ihnen?«
Swidrigailow sah ihn sonderbar an.
»Marfa Petrowna hat die Güte, mich zu besuchen«, sagte er, den Mund zu einem sonderbaren Lächeln verziehend.
»Was heißt, sie hat die Güte, Sie zu besuchen?«
»Sie ist schon dreimal dagewesen. Das erstemal sah ich sie am Tage der Beerdigung, eine Stunde nach der Beisetzung. Das war am Tage vor meiner Abreise hierher. Das zweite Mal war es vorgestern, in der Morgendämmerung, auf der Station Malaja Wischera; das dritte Mal aber vor zwei Stunden, in der Wohnung, wo ich abgestiegen bin, in meinem Zimmer; ich war allein.«
»Im Wachen?«
»Vollkommen! Alle dreimal sah ich sie im Wachen. Sie kommt, spricht mit mir eine Weile und geht dann durch die Tür hinaus: immer durch die Tür. Es ist sogar zu hören.«
»Warum habe ich mir nur gleich gedacht, daß Sie Erlebnisse dieser Art haben müssen!« sagte plötzlich Raskolnikow.
Schon im nächsten Augenblick staunte er, daß er das gesagt hatte. Er war sehr erregt.
»So? Sie haben es sich gedacht?« fragte Swidrigailow erstaunt. »Nein, wirklich? Hab ich denn nicht gesagt, daß es zwischen uns einen Berührungspunkt geben muß, wie?«
»Niemals haben Sie das gesagt!« antwortete Raskolnikow scharf und hitzig.
»Habe ich es nicht gesagt?«
»Nein!«
»Mir schien, ich hätte es gesagt. Vorhin, als ich eintrat und sah, daß Sie mit geschlossenen Augen lagen und sich schlafend stellten, sagte ich mir gleich: ›Es ist derselbe!‹«
»Was heißt das: derselbe? Was meinen Sie damit?« rief Raskolnikow.
»Was ich damit meine? Ich weiß wirklich nicht, was ...« murmelte Swidrigailow offenherzig und irgendwie selbst verwirrt.
Eine Minute schwiegen sie. Sie starrten einander unverwandt an.
»Das ist alles Unsinn!« rief Raskolnikow geärgert. »Was sagt denn Marfa Petrowna, wenn sie kommt?«
»Was sie sagt? Denken Sie sich nur, sie spricht nur von den nichtigsten Bagatellen. Sie werden über mich staunen: dies ärgert mich gerade. Das erste Mal kam sie (wissen Sie, ich war so müde: der Trauergottesdienst, die Totenmesse, das Totenmahl, endlich war ich allein in meinem Arbeitszimmer, steckte mir eine Zigarre an, wurde nachdenklich), sie trat durch die Tür ein und sagte: ›Arkadij Iwanowitsch, Sie haben im Tummel heute vergessen, die Uhr im Eßzimmer aufzuziehen.‹ Diese Uhr pflegte ich aber die ganzen sieben Jahre jede Woche selbst aufzuziehen, und wenn ich es vergaß, so erinnerte sie mich immer daran. Am nächsten Tag bin ich schon auf der Reise hierher. Ich trete beim Morgengrauen ins Stationsgebäude – in der Nacht hatte ich ein bißchen geschlafen, bin ganz zerschlagen, die Augen fallen mir zu –, ich lasse mir Kaffee geben; plötzlich sehe ich: Marfa Petrowna setzt sich neben mich, hat ein Spiel Karten in der Hand. ›Soll ich Ihnen die Karte schlagen, Arkadij Iwanowitsch, für die Reise?‹ Sie war aber eine große Meisterin im Kartenschlagen. Jetzt kann ich es mir nicht verzeihen, daß ich mir nicht die Karten schlagen ließ. Ich erschrak und lief davon, und da kam auch das Glockenzeichen. Heute sitze ich nach einem abscheulichen Essen in einer Garküche mit schwerem Magen; ich sitze, rauche, und plötzlich sehe ich wieder Marfa Petrowna; sie kommt schön geputzt in einem neuen grünseidenen Kleid mit langer Schleppe. ›Guten Tag, Arkadij Iwanowitsch! Wie gefällt Ihnen mein Kleid? Anißjka bringt so was nicht fertig.‹ (Anißjka hieß unsere Näherin auf dem Lande, eine frühere Leibeigene, war in Moskau in der Lehre gewesen, ein recht hübsches Mädel.) Sie steht da und dreht und wendet sich hin und her. Ich betrachtete ihr Kleid und sah ihr sehr aufmerksam ins Gesicht. ›Was ist's für ein Vergnügen, Marfa Petrowna,‹ sage ich ihr, ›sich diese Mühe zu machen und wegen eines solchen Unsinns zu mir zu kommen!‹ – ›Ach, mein Gott, Väterchen, darf man dich denn gar nicht aufsuchen?‹ Um sie zu necken, sage ich ihr: ›Marfa Petrowna, ich will wieder heiraten.‹ – ›Das sieht Ihnen ähnlich, Arkadij Iwanowitsch; es bringt Ihnen aber wenig Ehre ein, daß Sie, gleich nachdem Sie Ihre Frau beerdigt haben, schon wieder auf die Brautschau fahren. Und wenn Sie noch wenigstens was Rechtes wählten, aber ich weiß: es wird für beide Teile nichts Gescheites sein. Sie machen sich bloß lächerlich.‹ Sie ging hinaus und raschelte mit der Schleppe. Das ist doch Unsinn, wie?«
»Vielleicht ist das alles gelogen?« bemerkte Raskolnikow.
»Ich lüge selten«, antwortete Swidrigailow nachdenklich. Er schien die Grobheit der Frage gar nicht bemerkt zu haben.
»Und früher, vordem, haben Sie niemals Gespenster gesehen?«
»N-nein, nur ein einziges Mal im Leben, vor sechs Jahren. Ich hatte einen leibeigenen Diener Filjka; kaum hatte man ihn beerdigt, da rief ich in meiner Vergeßlichkeit: ›Filjka, die Pfeife!‹ Und er kam herein und ging zum Pfeifenständer. Ich sitze und denke mir: ›Das tut er, um sich an mir zu rächen‹; denn es hat zwischen uns vor seinem Tode einen heftigen Streit gegeben. ›Wie wagst du‹, sage ich ihm, ›mit einem zerrissenen Ellbogen zu mir zu kommen?! Marsch, hinaus, Taugenichts!‹ Er machte kehrt, ging hinaus und kam nie wieder. Ich habe es Marfa Petrowna nicht erzählt. Ich wollte eine Totenmesse lesen lassen, genierte mich aber.«
»Gehen Sie doch mal zu einem Arzt.«
»Das verstehe ich auch ohne Sie, daß ich nicht ganz gesund bin, obwohl ich auch nicht weiß, was mir fehlte; ich meine, ich bin fünfmal gesünder als Sie. Aber ich habe Sie nicht gefragt, ob Sie glauben, daß die Gespenster erscheinen, ich habe gefragt: Glauben Sie, daß es Gespenster gibt?«
»Nein, das glaube ich um nichts in der Welt!« rief Raskolnikow sogar wütend.
»Was sagt man gewöhnlich?« murmelte Swidrigailow wie vor sich hin, zur Seite blickend und den Kopf etwas geneigt. »Man sagt: ›Du bist krank, und darum ist alles, was du zu sehen glaubst, ein nichtexistierender Wahn.‹ Darin fehlt aber die strenge Logik. Ich gebe zu, daß die Gespenster nur Kranken erscheinen; das beweist aber doch nur, daß die Gespenster niemand anderem als Kranken erscheinen können, doch nicht, daß es sie an sich nicht gibt.«
»Natürlich gibt es sie nicht!« widersprach Raskolnikow gereizt.
»Nicht? Sie glauben es?« fuhr Swidrigailow fort, nachdem er ihn langsam angeblickt hatte. »Nun, und wie ist es, wenn man es so betrachtet (nun, helfen Sie mir mal): Die Gespenster sind sozusagen Fetzen und Bruchstücke anderer Welten, ihr Anfang. Ein gesunder Mensch braucht sie natürlich nicht zu sehen, denn der gesunde Mensch ist der am meisten irdische Mensch und muß also der Vollständigkeit und der Ordnung wegen nur das eine hiesige Leben leben; kaum ist er aber erkrankt, kaum ist die normale irdische Ordnung im Organismus gestört, als sich sofort die Möglichkeit einer anderen Welt zeigt, und je kränker er ist, um so mehr Berührungspunkte hat er mit den anderen Welten, so daß, wenn der Mensch ganz stirbt, er direkt in die andere Welt eingeht. Darüber habe ich schon seit langem nachgedacht. Wenn Sie an das zukünftige Leben glauben, so können Sie auch an diese meine Theorie glauben.«
»Ich glaube nicht an ein zukünftiges Leben«, sagte Raskolnikow.
Swidrigailow saß nachdenklich da.
»Und was, wenn dort nur Spinnen oder dergleichen sind?« sagte er plötzlich.
– Er ist verrückt – dachte Raskolnikow.
»Uns erscheint die Ewigkeit als eine Idee, die man nicht erfassen kann, als etwas furchtbar Großes! Aber warum muß sie unbedingt groß sein? Und denken Sie sich nur, wenn plötzlich statt alles dessen dort nur ein kleines Zimmer sein wird, so in der Art einer Badestube auf dem Lande, verräuchert, und in allen Ecken Spinnen, und das ist die ganze Ewigkeit. Wissen Sie, mir schwebt zuweilen so etwas vor.«
»Können Sie sich denn wirklich nichts Tröstlicheres und Gerechteres als dies vorstellen?!« rief Raskolnikow mit einem schmerzvollen Gefühl.
»Gerechteres? Wer kann das wissen, vielleicht ist das auch die Gerechtigkeit, und wissen Sie, ich würde es unbedingt absichtlich so einrichten«, antwortete Swidrigailow mit einem unbestimmten Lächeln.
Bei dieser häßlichen Antwort überlief es Raskolnikow plötzlich kalt. Swidrigailow hob den Kopf, sah ihn durchdringend an und lachte plötzlich auf.
»Nein, bedenken Sie doch nur,« rief er aus, »vor einer halben Stunde erst hatten wir einander noch nicht gesehen, wir hielten uns für Feinde; zwischen uns stand noch eine unerledigte Angelegenheit; und nun schoben wir diese Angelegenheit zur Seite und sind in diese literarische Diskussion geraten! Nun, hatte ich nicht recht, als ich sagte, daß wir beide vom gleichen Holze sind?«
»Tun Sie mir den Gefallen,« fuhr Raskolnikow gereizt fort, »gestatten Sie mir, Sie zu bitten, sich schneller zu erklären und mir mitzuteilen, weshalb Sie mir die Ehre Ihres Besuches erwiesen haben ... und ... und ... ich habe Eile, ich habe keine Zeit, ich will fortgehen ...«
»Ich bitte sehr. Ihre Schwester Awdotja Romanowna heiratet doch den Herrn Pjotr Petrowitsch Luschin?«
»Können Sie nicht irgendwie jede Frage über meine Schwester vermeiden und ihren Namen überhaupt nicht nennen? Ich verstehe wirklich nicht, wie Sie es wagen, ihren Namen in meiner Gegenwart auszusprechen, wenn Sie tatsächlich Swidrigailow sind!«
»Ich bin ja gekommen, um über sie zu sprechen; wie soll ich da ihren Namen nicht nennen?«
»Gut. Sprechen Sie, doch schneller!«
»Ich bin überzeugt, daß Sie sich über diesen Herrn Luschin, mit dem ich durch meine Frau verwandt bin, schon Ihre Meinung gebildet haben, wenn Sie ihn nur eine halbe Stunde lang gesehen oder etwas Sicheres und Genauers über ihn gehört haben. Für Awdotja Romanowna ist er nicht der richtige Mann. Meiner Ansicht nach bringt sich Awdotja Romanowna in diesem Falle höchst großmütig und selbstlos zum Opfer für ... für ihre Familie. Nach allem, was ich über Sie gehört habe, nahm ich an, daß Sie Ihrerseits sehr zufrieden sein würden, wenn diese Heirat ohne Verletzung der Interessen nicht zustande käme. Und jetzt, wo ich Sie persönlich kennengelernt habe, bin ich davon sogar überzeugt.«
»Ihrerseits ist das alles sehr naiv, entschuldigen Sie mich, ich wollte sagen: unverschämt«, sagte Raskolnikow.
»Das heißt, Sie wollen damit sagen, daß ich an meinen eigenen Nutzen denke. Seien Sie unbesorgt, Rodion Romanowitsch; wenn ich an meinen Nutzen dächte, so würde ich nicht so offen sprechen, ich bin doch nicht ganz dumm. In dieser Beziehung will ich Ihnen ein gewisses psychologisches Kuriosum mitteilen. Als ich vorhin meine Liebe zu Awdotja Romanowna rechtfertigte, sagte ich, daß ich selbst das Opfer gewesen sei. Nun sage ich Ihnen, daß ich jetzt gar keine Liebe empfinde, nicht die geringste, so daß ich mich sogar selbst darüber wundere, denn ich habe früher doch wirklich etwas empfunden ...«
»Das kommt von Müßiggang und Ausschweifung«, unterbrach ihn Raskolnikow.
»Das stimmt, ich bin ein liederlicher und ausschweifender Mensch. Ihre Schwester hat aber so viele Vorzüge, daß ich einem gewissen Eindruck unbedingt unterliegen mußte. Aber das alles ist Unsinn, wie ich es jetzt selbst einsehe.«
»Ist es lange her, daß Sie es eingesehen haben?«
»Ich fing schon früher an, es zu merken, aber die endgültige Überzeugung gewann ich erst vorgestern, fast im Augenblick meiner Ankunft in Petersburg. Übrigens hatte ich mir noch in Moskau eingebildet, daß ich herreise, um um die Hand Awdotja Romanownas zu werben und mit Herrn Luschin in Wettbewerb zu treten.«
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber tun Sie mir den Gefallen: können Sie sich nicht kürzer fassen und direkt auf den Zweck Ihres Besuches kommen? Ich habe Eile, ich muß fortgehen ...«
»Mit dem größten Vergnügen. Nachdem ich hier angekommen war und den Entschluß gefaßt hatte, einen gewissen ... Ausflug zu unternehmen, wollte ich vorher einige notwendige Anordnungen treffen. Meine Kinder sind bei der Tante geblieben; sie sind reich; mich persönlich brauchen sie nicht. Was bin ich auch für ein Vater! Für mich selbst habe ich nur das genommen, was Marfa Petrowna mir vor einem Jahre geschenkt hat. Für mich langt es. Entschuldigen Sie, gleich komme ich auf die Sache selbst. Vor dem Ausflug, der vielleicht wirklich zustande kommt, will ich auch mit dem Herrn Luschin ein Ende machen. Ich will nicht sagen, daß er mir unausstehlich wäre, doch seinetwegen war mein Streit mit Marfa Petrowna entstanden, als ich erfuhr, daß sie diese Heirat eingefädelt habe. Ich möchte jetzt durch Ihre Vermittlung mit Awdotja Romanowna zusammenkommen und ihr, vielleicht sogar in Ihrer Anwesenheit, vor allen Dingen erklären, daß sie von Herrn Luschin nicht nur nicht den geringsten Vorteil, sondern sogar einen sicheren Schaden zu erwarten hat. Dann würde ich sie um Entschuldigung wegen all der Unannehmlichkeiten, die ich ihr vor kurzem zugefügt habe, bitten und sie um Erlaubnis ersuchen, ihr zehntausend Rubel anzubieten, um ihr auf diese Weise den Bruch mit Herrn Luschin zu erleichtern, den Bruch, gegen den auch sie selbst, wie ich überzeugt bin, nichts einzuwenden hätte, wenn sie nur die geringste Möglichkeit sähe.«
»Sie sind doch wirklich, wirklich verrückt!« rief Raskolnikow, »weniger erbost als erstaunt. Wie wagen Sie nur, so zu sprechen!«
»Ich wußte es, daß Sie schreien werden. Ich bin zwar nicht reich, habe aber diese zehntausend Rubel gerade frei und brauche sie gar nicht. Wenn Awdotja Romanowna sie nicht annimmt, so werde ich sie vielleicht auf eine noch dümmere Weise ausgeben. Das ist das eine. Zweitens: mein Gewissen ist vollkommen rein; ich biete ihr das Geld ohne irgendwelche Nebenabsicht an. Sie mögen es mir glauben oder nicht, aber mit der Zeit werden Sie und Awdotja Romanowna es erfahren. Es handelt sich doch nur darum, daß ich Ihrer verehrten Schwester tatsächlich einige Mühe und Unannehmlichkeiten bereitet habe; indem ich also eine aufrichtige Reue empfinde, möchte ich von Herzen – nicht etwa mich loskaufen, nicht die Unannehmlichkeiten bezahlen, sondern ganz einfach ihr einen Vorteil erweisen, und zwar aus dem Grunde, weil ich doch schließlich und endlich kein Privilegium habe, nur Böses zu tun. Wäre in meinem Anerbieten auch nur ein Millionstel Berechnung, so würde ich das Geld nicht so offen hergeben: auch würde ich ihr nicht bloß zehntausend Rubel anbieten, wo ich ihr doch vor fünf Wochen viel mehr angeboten habe. Außerdem werde ich vielleicht sehr, sehr bald ein junges Mädchen heiraten, und folglich muß jeder Verdacht, daß ich gegen Awdotja Romanowna etwas vorhabe, in sich selbst zusammenstürzen. Schließlich möchte ich noch sagen, daß Awdotja Romanowna, wenn sie Herrn Luschin heiratet, doch dasselbe Geld nimmt, nur von einer anderen Seite ... Seien Sie, bitte, nicht böse, Rodion Romanowitsch, beurteilen Sie die Sache ruhig und kaltblütig.«
Als Swidrigailow das sagte, war er selbst äußerst kaltblütig und ruhig.
»Ich bitte Sie, zu Ende zu sprechen«, sagte Raskolnikow. »Jedenfalls ist es unverzeihlich frech.«
»Keineswegs. Dann kann der Mensch seinem Mitmenschen in dieser Welt nur Böses allein zufügen und hat dagegen kein Recht, ihm auch ein bißchen Gutes zu erweisen, wegen leerer konventioneller Formalitäten. Das wäre unsinnig. Wenn ich zum Beispiel gestorben wäre und diese Summe Ihrer Schwester testamentarisch vermacht hätte –, würde sie sich denn auch dann weigern, das Geld anzunehmen?«
»Sehr möglich.«
»Nein, ganz gewiß nicht! Übrigens – wenn nicht, dann nicht; aber zehntausend Rubel sind unter Umständen keine üble Sache. Jedenfalls bitte ich Sie, Awdotja Romanowna das Gesagte mitzuteilen.«
»Nein, ich werde es nicht mitteilen.«
»In diesem Falle, Rodion Romanowitsch, werde ich gezwungen sein, eine persönliche Zusammenkunft zu erzwingen, und das wurde eine Belästigung bedeuten.«
»Und wenn ich es ihr mitteile, werden Sie dann eine persönliche Zusammenkunft nicht zu erzwingen suchen?«
»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen darauf sagen soll. Einmal sehen möchte ich sie doch gerne.«
»Hoffen Sie nicht darauf.«
»Schade. Sie kennen mich übrigens nicht. Es ist möglich, daß wir uns noch näherkommen.«
»Sie glauben, daß wir uns noch näherkommen werden?«
»Warum auch nicht?« sagte Swidrigailow lächelnd, stand auf und nahm seinen Hut. »Ich wollte Sie gar nicht so belästigen und rechnete, als ich herging, sehr wenig darauf, obwohl mir übrigens Ihr Gesicht schon vorhin, heute früh auffiel ...«
»Wo haben Sie mich denn heute früh gesehen?« fragte Raskolnikow unruhig.
»Zufällig ... Mir scheint immer, als wäre in Ihnen etwas mit mir Verwandtes ... Beunruhigen Sie sich, bitte, nicht, ich bin nicht zudringlich; mit den Falschspielern kam ich gut aus, bin dem Fürsten Swirbej, meinem entfernten Verwandten und Würdenträger, nie zur Last gefallen; habe es verstanden, der Frau Prilukowa ins Album einige Zeilen über die Madonna Raffaels zu schreiben; habe mit Marfa Petrowna sieben Jahre ununterbrochen gelebt, ohne je das Gut zu verlassen, habe vor vielen Jahren im Asyl Wjasemskijs auf dem Heumarkte genächtigt und werde vielleicht mit Berg im Luftballon fliegen.«
»Schön. Gestatten Sie die Frage: werden Sie bald Ihre Reise unternehmen?«
»Was für eine Reise?«
»Nun, den ›Ausflug‹, von dem Sie sprachen ... Sie haben es doch selbst gesagt.«
»Den Ausflug? Ach, ja! ... in der Tat, ich habe vom Ausflug gesprochen ... Nun, das ist noch eine große Frage ... Wenn Sie aber nur wüßten, wonach Sie fragen!« fügte er hinzu und lachte laut und kurz auf. »Statt diesen Ausflug zu unternehmen, werde ich vielleicht heiraten; man bietet mir eine Partie an.«
»Hier?«
»Ja.«
»Wann haben Sie schon Zeit dazu gefunden?«
»Awdotja Romanowna will ich aber doch noch einmal sehen. Ich bitte Sie ernsthaft darum. Nun, auf Wiedersehen ... Ach ja! Ich hätte es beinahe vergessen! Rodion Romanowitsch, teilen Sie, bitte, Ihrer Schwester mit, daß Marfa Petrowna sie in ihrem Testamente mit dreitausend Rubeln bedacht hat. Das ist positiv wahr. Marfa Petrowna hat diese Anordnung eine Woche vor ihrem Tode getroffen, ich war dabei. Awdotja Romanowna kann das Geld nach zwei oder drei Wochen erhalten.«
»Sprechen Sie die Wahrheit?«
»Die Wahrheit. Teilen Sie es ihr mit. Ergebenster Diener. Ich wohne ja nicht weit von Ihnen.«
Beim Hinausgehen stieß Swidrigailow in der Tür mit Rasumichin zusammen.
Es war schon fast acht Uhr; beide eilten zu Bakalejew, um vor Luschin dort zu sein.
»Nun, wer war es eben?« fragte Rasumichin, sobald sie auf die Straße getreten waren.
»Es war Swidrigailow, derselbe Gutsbesitzer, in dessen Hause meine Schwester beleidigt wurde, als sie dort als Gouvernante diente. Infolge seiner leidenschaftlichen Nachstellungen mußte sie, von seiner Frau Marfa Petrowna hinausgejagt, das Haus verlassen. Diese Marfa Petrowna bat nachher Dunja um Verzeihung, und jetzt ist sie plötzlich gestorben. Es war ja auch schon vorhin von ihr die Rede. Ich weiß nicht warum, aber ich habe vor diesem Menschen große Angst. Er kam sofort nach der Beerdigung seiner Frau hergefahren. Er ist sehr sonderbar und hat sich für etwas entschlossen ... Er scheint etwas zu wissen. Man muß Dunja vor ihm beschützen ... das wollte ich dir sagen, hörst du?«
»Beschützen! Was kann er denn gegen Awdotja Romanowna unternehmen? Ich danke dir, Rodja, daß du so zu mir sprichst ... Gut, wir wollen sie schon schützen ... Wo wohnt er denn?«
»Ich weiß nicht.«
»Warum hast du nicht gefragt? Wie schade! Ich werde es übrigens erfahren!«
»Hast du ihn gesehen?« fragte Raskolnikow nach einer Pause.
»Nun ja, ich habe ihn mir gemerkt; ich habe ihn mir gut gemerkt.«
»Hast du ihn wirklich gesehen? Deutlich gesehen?« fragte Raskolnikow eindringlich.
»Gewiß, ich erinnere mich seiner ganz deutlich; unter tausend erkenne ich ihn wieder, ich habe ein gutes Personengedächtnis.«
Beide schwiegen.
»Hm! ... Ja, so ...« murmelte Raskolnikow. »Weißt du ... mir kam es vor ... mir scheint immer ... daß es vielleicht nur Einbildung ist.«
»Was meinst du denn? Ich verstehe dich nicht recht.«
»Ihr sagt ja alle,« fuhr Raskolnikow fort, den Mund zu einem Lächeln verziehend, »daß ich verrückt sei; und es kam mir eben vor, daß ich tatsächlich verrückt bin und nur ein Gespenst gesehen habe!«
»Was fällt dir ein?«
»Wer kann es wissen! Vielleicht bin ich wirklich verrückt, vielleicht besteht auch alles, was ich in diesen Tagen erlebt habe, nur in meiner Einbildung ...«
»Ach, Rodja! Man hat dich wieder ganz konfus gemacht! ... Was hat er gesagt, wozu ist er gekommen?«
Raskolnikow antwortete nicht. Rasumichin überlegte eine Weile.
»Höre also meinen Bericht«, begann er. »Ich war schon einmal bei dir, aber du schliefst. Dann aßen wir zu Mittag, und dann ging ich zu Porfirij. Samjotow sitzt noch immer bei ihm. Ich wollte schon anfangen, aber es wurde nichts daraus. Es gelang mir immer nicht, richtig zu beginnen. Sie scheinen nichts zu verstehen und können nichts verstehen, genieren sich aber gar nicht. Ich führte Porfirij zum Fenster und versuchte zu sprechen, aber es wurde wieder nichts daraus: er blickte zur Seite, und auch ich blickte zur Seite. Endlich zeigte ich ihm die Faust und sagte, daß ich ihn zermalmen werde, auf verwandtschaftliche Manier. Er sah mich bloß an. Ich spuckte aus und ging fort. Das ist alles. Es war furchtbar dumm. Mit Samjotow sprach ich kein Wort. Siehst du aber: Ich glaubte, ich hätte die Sache verdorben, als ich aber die Treppe hinunterging, erleuchtete mich plötzlich ein Gedanke: was regen wir uns beide eigentlich auf? Wenn dir noch eine Gefahr drohte oder ähnliches, dann natürlich. Aber was geht es dich an! Du hast mit dieser Sache nichts zu tun, also spucke auf sie; wir werden ja später über sie lachen, an deiner Stelle würde ich sie noch mystifizieren. Sie werden sich doch nachher schämen! Spucke drauf! Später werden wir sie auch noch verprügeln können, aber jetzt wollen wir lachen.«
»Natürlich!« antwortete Raskolnikow.
– Und was wirst du morgen sagen? – dachte er bei sich. Seltsam, bisher war ihm noch kein einziges Mal der Gedanke gekommen: Was wird Rasumichin sagen, wenn er es erfährt? Nachdem er sich dies gedacht hatte, blickte er Rasumichin durchdringend an. Der Bericht Rasumichins über seinen Besuch bei Porfirij interessierte ihn sehr wenig: so vieles war seit jener Zeit verschwunden, und so vieles war neu hinzugekommen! ... Im Korridor stießen sie mit Luschin zusammen: dieser war Punkt acht erschienen und suchte das Zimmer, und so traten sie alle drei zugleich ein, doch ohne einander anzusehen oder zu begrüßen. Die jungen Leute gingen zuerst hinein, Luschin blieb aber des Anstandes halber noch im Vorzimmer, wo er seinen Mantel auszog. Pulcheria Alexandrowna kam gleich heraus, um ihn auf der Schwelle zu empfangen. Dunja begrüßte ihren Bruder.
Pjotr Petrowitsch trat ein und verbeugte sich vor den Damen recht liebenswürdig, doch mit betonter Gesetztheit. Im übrigen sah er so aus, als wäre er noch ein wenig verwirrt und hätte die Fassung noch nicht ganz wiedererlangt. Pulcheria Alexandrowna, die gleichfalls etwas verlegen schien, beeilte sich, alle um den runden Tisch herum zu verteilen, auf dem schon der Samowar kochte. Dunja und Luschin setzten sich einander gegenüber. Rasumichin und Raskolnikow kamen gegenüber Pulcheria Alexandrowna zu sitzen –, Rasumichin neben Luschin und Raskolnikow neben seiner Schwester.
Es trat kurzes Schweigen ein. Pjotr Petrowitsch zog langsam ein Battisttaschentuch hervor, das einen Duft von Parfüm verbreitete, und schneuzte sich mit der Miene eines, wenn auch tugendhaften, doch in seiner Würde gekränkten Menschen, der dazu auch fest entschlossen ist, Erklärungen zu verlangen. Ihm war schon im Vorzimmer der Gedanke gekommen, den Mantel nicht abzulegen und fortzugehen und so die Damen streng und eindringlich zu bestrafen, damit sie gleich alles fühlten. Aber er konnte sich dazu nicht entschließen. Außerdem liebte dieser Mensch keine Ungewißheit, hier aber harrte alles der Aufklärung: wenn sein Befehl so offensichtlich verletzt worden war, so mußte sicher etwas Besonderes vorliegen; darum war es besser, alles gleich zu erfahren; zu bestrafen hatte er immer noch Zeit, und es lag ja auch in seiner Hand.
»Ich hoffe, die Reise ist glücklich verlaufen?« wandte er sich sehr offiziell an Pulcheria Alexandrowna.
»Gott sei Dank, Pjotr Petrowitsch.«
»Sehr angenehm. Auch Awdotja Romanowna sind nicht ermüdet?«
»Ich bin jung und kräftig und werde nicht müde, aber die Mama hatte es sehr schwer«, antwortete Dunjetschka.
»Was ist zu machen; unsere Nationalbahnen haben so lange Strecken. Groß ist das sogenannte ›Mütterchen Rußland‹ ... Ich konnte aber gestern beim besten Willen nicht auf den Bahnhof kommen. Ich hoffe, alles ist doch ohne besondere Ungelegenheiten abgelaufen?«
»Ach nein, Pjotr Petrowitsch, wir waren sehr entmutigt«, erklärte Pulcheria Alexandrowna schnell und mit besonderer Betonung, »und wenn uns gestern der liebe Gott selbst nicht den Dmitrij Pokrofjitsch geschickt hätte, so wären wir verloren. Das ist Herr Dmitrij Pokrofjitsch Rasumichin«, fügte sie hinzu, ihn Luschin vorstellend.
»Ich hatte schon das Vergnügen ... gestern«, murmelte Luschin und schielte feindselig nach Rasumichin. Dann machte er ein finsteres Gesicht und verstummte.
Pjotr Petrowitsch gehörte überhaupt zu den Leuten, die in der Gesellschaft außerordentlich liebenswürdig erscheinen und auch besonderen Anspruch auf liebenswürdige Behandlung erheben, die aber, wenn ihnen etwas nicht paßt, sofort alle ihre Vorzüge verlieren und eher Mehlsäcken gleichen, als gewandten und die Gesellschaft belebenden Kavalieren. Alle verstummten wieder: Raskolnikow schwieg hartnäckig, Awdotja Romanowna wollte das Schweigen zunächst nicht brechen, Rasumichin wußte nicht, was zu sagen, so daß Pulcheria Alexandrowna wieder unruhig wurde.
»Marfa Petrowna ist gestorben, haben Sie es schon gehört?« fing sie an, gleich zum Hauptthema greifend.
»Gewiß, ich habe es schon gehört. Mich erreichte gleich das erste Gerücht, und ich bin sogar jetzt hergekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow sich sofort nach der Beerdigung seiner Gattin nach Petersburg begeben hat. So lauten wenigstens die zuverlässigen Nachrichten, die ich erhalten habe.«
»Nach Petersburg? Hierher?« fragte Dunjetschka unruhig und wechselte mit der Mutter einen Blick.
»Jawohl, und natürlich nicht ohne Absichten, wenn man die Schnelligkeit seiner Abreise und überhaupt alle vorhergegangenen Umstände in Betracht zieht.«
»Mein Gott! Wird er denn auch hier Dunjetschka nicht in Ruhe lassen?« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
»Mir scheint, daß Sie und Awdotja Romanowna keinen besonderen Grund zur Aufregung haben, natürlich, wenn Sie nicht selbst in irgendwelche Beziehungen zu ihm treten wollen. Was mich betrifft, so forsche ich jetzt nach, wo er abgestiegen ist.«
»Ach, Pjotr Petrowitsch, Sie werden mir nicht glauben, wie Sie mich erschreckt haben!« fuhr Pulcheria Alexandrowna fort. »Ich habe ihn nur zweimal gesehen, und er erschien mir so schrecklich, so schrecklich! Ich bin überzeugt, daß er die Ursache von Marfa Petrownas Tode ist.«
»Darüber kann man nichts sagen. Ich habe die genauesten Berichte. Ich will nicht bestreiten, vielleicht hat er den Gang der Ereignisse sozusagen durch den moralischen Einfluß einer Kränkung beschleunigt; was aber das Benehmen und überhaupt die sittliche Charakteristik dieses Menschen betrifft, so bin ich mit Ihnen einverstanden. Ich weiß nicht, ob er jetzt reich ist und was ihm Marfa Petrowna vermacht hat; das werde ich in kürzester Zeit in Erfahrung bringen; doch hier in Petersburg wird er, wenn er nur irgendwelche Geldmittel hat, natürlich sofort seine alte Lebensweise wieder aufnehmen. Er ist der ausschweifendste und in alle Laster versunkenste Mensch von allen Menschen dieser Art! Ich habe einen triftigen Grund zur Annahme, daß Marfa Petrowna, die das Unglück hatte, sich in ihn zu verlieben und ihn aus dem Schuldgefängnis loszukaufen, ihm auch noch einen anderen Dienst erwiesen hat: ausschließlich dank ihren Bemühungen und Opfern wurde eine kriminelle Sache mit dem Beigeschmack einer tierischen und sozusagen phantastischen Mordtat, für die er höchstwahrscheinlich einen Ausflug nach Sibirien hätte machen müssen, gleich im Keime erstickt. So ein Mensch ist er, wenn Sie es wissen wollen.«
»Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
Raskolnikow hörte aufmerksam zu.
»Ist es wahr, daß Sie darüber sichere Nachrichten besitzen?« fragte Dunja streng und mit Nachdruck.
»Ich sage nur das, was ich selbst unter Diskretion von der seligen Marfa Petrowna gehört habe. Es ist zu bemerken, daß die Sache vom juristischen Standpunkte aus sehr dunkel ist. Hier lebte und lebt, glaube ich, auch jetzt noch eine gewisse Rößlich, eine Ausländerin, die nicht nur kleine Wuchergeschäfte betreibt, sondern sich auch noch mit anderen Diagen befaßt. Zu dieser Rößlich unterhielt Herr Swidrigailow seit langem gewisse, sehr intime und geheimnisvolle Beziehungen. Bei ihr wohnte eine entfernte Verwandte von ihr, ich glaube eine Art Nichte, ein taubstummes Mädchen von vierzehn oder fünfzehn Jahren, die diese Rößlich grenzenlos haßte und der sie jeden Bissen vorwarf; sie schlug sie auch unmenschlich. Eines Tages fand man das Kind erhängt auf dem Dachboden. Man stellte Selbstmord fest. Nach Erledigung der üblichen Formalitäten war die Sache begraben, aber später kam eine Denunziation, daß das Kind von Herrn Swidrigailow ... grausam mißhandelt worden sei. Die Sache war allerdings sehr dunkel, die Denunziation rührte von einer anderen Deutschen her, einer übelbeleumundeten und kein Vertrauen genießenden Person; schließlich wurde auch die Denunziation dank den Bemühungen und dem Gelde Marfa Petrownas zurückgezogen; alles beschränkte sich auf ein leeres Gerücht. Dieses Gerücht war aber sehr vielsagend. Sie haben wohl sicher von der Geschichte gehört, Awdotja Romanowna, die er mit seinem Diener Philipp hatte, der vor sechs Jahren, noch zur Zeit der Leibeigenschaft, infolge von Mißhandlungen gestorben ist.«
»Ich hörte im Gegenteil, daß dieser Philipp sich selbst erhängt habe.«
»Das stimmt, doch nur das ununterbrochene System von Verfolgungen und Strafen des Herrn Swidrigailow hat ihn zum Selbstmorde bewogen oder vielmehr gezwungen.«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Dunja trocken. »Ich habe nur eine sehr merkwürdige Geschichte gehört, daß dieser Philipp ein Hypochonder gewesen sei, ein hausbackener Philosoph; die Leute sagten, er hätte zu viel gelesen und habe sich eher wegen der Verhöhnung als wegen der Mißhandlung durch Herrn Swidrigailow erhängt. Als ich in seinem Hause war, behandelte er die Leute sehr gut, und die Leute liebten ihn, obwohl sie ihm die Schuld am Tode Philipps zuschrieben.«
»Ich sehe, Awdotja Romanowna, daß Sie plötzlich irgendwie geneigt sind, ihn zu verteidigen«, bemerkte Luschin, den Mund zu einem doppelsinnigen Lächeln verziehend. »Er ist in der Tat ein schlauer und für die Frauen verführerischer Mensch, wofür Marfa Petrowna, die auf eine so sonderbare Art gestorben ist, ein beklagenswertes Beispiel bietet. Ich wollte nur Ihnen und Ihrer Mama angesichts seiner neuen, von ihm zweifellos zu erwartenden Attentate mit meinem Ratschlage dienen. Was aber mich betrifft, so bin ich fest überzeugt, daß dieser Mensch ganz sicher wieder im Schuldgefängnis verschwinden wird. Marfa Petrowna hatte durchaus nicht die Absicht, ihr Vermögen ihm zu verschreiben, da sie ihre Kinder im Auge hatte, und wenn sie ihm überhaupt etwas vermacht hat, dann nur das Notwendigste, eine Kleinigkeit, etwas Ephemeres, was einem Menschen mit seinen Gewohnheiten auch nicht für ein Jahr langen wird.«
»Pjotr Petrowitsch, ich bitte Sie,« sagte Dunja, »sprechen wir nicht mehr von Herrn Swidrigailow. Das macht mich trübsinnig.«
»Er hat mich soeben besucht«, sagte plötzlich Raskolnikow, zum erstenmal das Schweigen brechend.
Von allen Seiten tönten Ausrufe, und alle wandten sich an ihn. Selbst Pjotr Petrowitsch wurde unruhig.
»Vor anderthalb Stunden, als ich schlief, trat er ein, weckte mich und stellte sich mir vor«, fuhr Raskolnikow fort. »Er war recht heiter und ungezwungen und hofft sicher darauf, daß wir uns noch näherkommen werden. Unter anderem bittet er sehr um eine Zusammenkunft mit dir, Dunja, und ersucht mich, der Vermittler bei dieser Zusammenkunft zu sein. Er will dir ein Anerbieten machen; worin dieses Anerbieten besteht, hat er mir mitgeteilt. Außerdem hat er mir positiv erklärt, daß Marfa Petrowna eine Woche vor ihrem Tode Zeit gefunden habe, dir, Dunja, dreitausend Rubel testamentarisch zu vermachen, und daß du dieses Geld in kürzester Zeit bekommen kannst.«
»Gott sei Dank!« rief Pulcheria Alexandrowna aus und bekreuzte sich. »Bete für sie, Dunja, bete für sie!«
»Es ist wirklich wahr«, entschlüpfte es Luschin.
»Nun, und was weiter?« drängte Dunjetschka.
»Dann sagte er mir, daß er selbst nicht reich sei und daß das ganze Gut seinen Kindern zufalle, die jetzt bei der Tante sind. Dann, daß er irgendwo nicht weit von mir abgestiegen sei, doch wo – weiß ich nicht, ich habe ihn nicht gefragt ...«
»Aber was, was will er Dunjetschka anbieten?« fragte Pulcheria Alexandrowna erschrocken. »Hat er es dir gesagt?«
»Ja, er hat es mir gesagt.«
»Was ist es denn?«
»Das werde ich später sagen.«
Raskolnikow verstummte und wandte sich seinem Tee zu.
Pjotr Petrowitsch holte seine Uhr hervor und sah nach der Zeit.
»Ich muß geschäftlich fortgehen, und so werde ich nicht länger stören«, fügte er etwas pikiert hinzu und erhob sich von seinem Stuhl.
»Bleiben Sie, Pjotr Petrowitsch«, sagte Dunja. »Sie hatten doch die Absicht, den ganzen Abend bei uns zu bleiben. Außerdem schrieben Sie doch selbst, daß Sie mit Mama etwas zu besprechen hätten.«
»Das stimmt, Awdotja Romanowna«, versetzte Pjotr Petrowitsch mit Nachdruck, indem er sich wieder auf den Stuhl setzte, aber den Hut in der Hand behielt. »Ich wollte mich wirklich mit Ihnen und Ihrer hochverehrten Frau Mama über einige sogar sehr wichtige Punkte aussprechen. Doch ebenso wie Ihr Bruder sich in meiner Anwesenheit nicht über einige Vorschläge des Herrn Swidrigailow äußern kann, so will auch ich mich nicht ... in Gegenwart anderer ... über gewisse außerordentlich wichtige Punkte aussprechen. Außerdem wurde meine wichtigste und eindringlichste Bitte nicht beachtet ...«
Luschin nahm eine bittere Miene an und verstummte würdevoll.
»Ihre Bitte, daß mein Bruder unserer Zusammenkunft nicht beiwohne, wurde einzig auf mein inständiges Verlangen nicht erfüllt«, sagte Dunja. »Sie schrieben, daß Sie von meinem Bruder beleidigt worden seien; ich glaubte, das sollte sofort aufgeklärt werden, und Sie müßten sich vertragen. Wenn Rodja Sie wirklich beleidigt hat, so muß und wird er Sie um Entschuldigung bitten.«
Pjotr Petrowitsch stieg sofort aufs hohe Roß.
»Es gibt gewisse Beleidigungen, Awdotja Romanowna, die man beim besten Willen nicht vergessen kann. Alles hat seine Grenze, die zu überschreiten gefährlich ist; denn hat man sie einmal überschritten, so kann man nicht mehr zurück.«
»Ich sprach eigentlich nicht davon, Pjotr Petrowitsch«, unterbrach ihn Dunja mit einiger Ungeduld. »Begreifen Sie doch, daß unsere ganze Zukunft nur davon abhängt, ob dies alles sich möglichst schnell aufklärt und in Ordnung kommt oder nicht. Ich sage Ihnen gleich, daß ich die Sache anders nicht ansehen kann, und wenn Sie mich auch nur ein wenig schätzen, so muß diese ganze Geschichte, und wenn es Ihnen auch noch so schwer fällt, erledigt werden. Ich wiederhole: wenn mein Bruder die Schuld hat, so wird er Sie um Verzeihung bitten.«
»Ich wundere mich, daß Sie die Frage so stellen, Awdotja Romanowna«, sagte Luschin, der immer gereizter wurde. »Wenn ich Sie schätze und sozusagen verehre, so kann ich doch zugleich auch jemand von Ihren Angehörigen gar nicht schätzen. Wenn ich mich um das Glück, Ihre Hand zu besitzen, bewerbe, brauche ich doch nicht Verpflichtungen auf mich zu nehmen, die unvereinbar sind mit – –«
»Ach, lassen Sie diese Empfindlichkeit, Pjotr Petrowitsch,« unterbrach ihn Dunja mit Gefühl, »und seien Sie jener kluge und edle Mensch, für den ich Sie immer hielt und immer halten will. Ich gab Ihnen ein großes Versprechen, ich bin Ihre Braut; vertrauen Sie sich mir in dieser Sache an und glauben Sie mir, daß ich die Kraft haben werde, unparteiisch zu richten. Daß ich das Richteramt übernehme, ist für meinen Bruder ebenso überraschend wie für Sie. Als ich ihn heute, nach Ihrem Brief, aufforderte, unbedingt zu dieser Zusammenkunft zu kommen, teilte ich ihm nichts von meinen Absichten mit. Begreifen Sie doch, daß, wenn Sie sich nicht vertragen, ich gezwungen sein werde, zwischen Ihnen beiden zu wählen! Entweder Sie oder er! So lautet nun die Frage wie von Ihrer so auch von meiner Seite. Ich will und darf mich nicht in der Wahl irren. Ihretwegen muß ich mit meinem Bruder brechen; und meines Bruders wegen muß ich mit Ihnen brechen. Ich will und kann jetzt sicher feststellen: ob er mir ein Bruder ist. Und von Ihnen: ob ich Ihnen teuer bin, ob Sie mich schätzen, ob Sie der passende Gatte für mich sind.«
»Awdotja Romanowna,« sagte Luschin peinlich berührt, »Ihre Worte sind für mich zu bedeutungsvoll, ich sage mehr: sie sind sogar kränkend in Anbetracht der Stellung, die ich Ihnen gegenüber einzunehmen die Ehre habe. Schon ganz abgesehen von der sonderbaren und für mich kränkenden Gegenüberstellung zwischen mir ... und einem anmaßenden Jüngling, lassen Sie in Ihren Worten auch die Möglichkeit zu, daß Sie das mir gegebene Versprechen brechen. Sie sagen: ›Entweder Sie oder er‹, – damit zeigen Sie mir, wie wenig ich für Sie bedeute ... Das kann ich nicht dulden bei den Beziehungen und ... Verpflichtungen, die zwischen uns bestehen.«
»Wie!« fuhr Dunja auf. »Ich setze Ihre Interessen auf eine Stufe mit allem, was mir bisher im Leben teuer war, was bisher mein ganzes Leben ausmachte, und plötzlich sind Sie gekränkt, daß ich Sie zu wenig schätze?!«
Raskolnikow lächelte schweigend und giftig, Rasumichin war ganz außer sich, aber Pjotr Petrowitsch nahm diese Entgegnung nicht an; im Gegenteil, er wurde mit jedem Worte zudringlicher und gereizter, als bekäme er allmählich Geschmack daran.
»Die Liebe zum künftigen Lebensgefährten, zum Gatten muß die Liebe zum Bruder überwiegen,« sagte er sentenziös, »aber ich kann in keinem Falle auf der gleichen Stufe mit ihm stehen ... Obwohl ich vorhin darauf bestand, daß ich in Gegenwart Ihres Bruders das, weswegen ich gekommen bin, zu erklären weder wünsche noch kann, habe ich dennoch die Absicht, mich jetzt gleich an Ihre hochverehrte Frau Mutter zu wenden, um eine notwendige Aufklärung über einen sehr wichtigen und für mich verletzenden Punkt herbeizuführen. Ihr Sohn«, wandte er sich an Pulcheria Alexandrowna, »hat mich gestern in Gegenwart des Herrn Rassudkin« (oder ... ich glaube, Sie heißen so? Entschuldigen Sie, ich habe Ihren Namen vergessen, wandte er sich mit einer höflichen Verbeugung an Rasumichin), »hat mich gestern durch die Verdrehung eines Gedankens von mir verletzt, den ich Ihnen damals in einem Privatgespräch am Kaffeetisch mitgeteilt habe, nämlich, daß die Heirat mit einem armen jungen Mädchen, das das Ungemach des Lebens schon gekostet hat, in ehelicher Beziehung meiner Ansicht nach viel vorteilhafter sei als die Verbindung mit einem Mädchen, das im Wohlstand aufgewachsen ist, denn das erstere ist für die Moral zuträglicher. Ihr Sohn hat die Bedeutung meiner Worte absichtlich ins Sinnlose übertrieben und mir die böswilligsten Absichten zugeschrieben, und dies, wie ich glaube, auf Grund Ihrer Korrespondenz. Ich werde mich glücklich schätzen, Pulcheria Alexandrowna, wenn es Ihnen gelingt, mich vom Gegenteil zu überzeugen und dadurch zu beruhigen. Sagen Sie mir nun, bitte: in welchen Ausdrücken haben Sie meine Worte in Ihrem Briefe an Rodion Romanowitsch wiedergegeben?«
»Ich erinnere mich nicht mehr,« antwortete Pulcheria Alexandrowna verwirrt, »ich habe sie ihm so wiedergegeben, wie ich sie selbst verstanden hatte. Ich weiß nicht, wie Rodja sie Ihnen wiedergegeben hat ... Vielleicht hat er einiges übertrieben.«
»Ohne Beeinflussung durch Sie konnte er doch nichts übertreiben.«
»Pjotr Petrowitsch,« sagte Pulcheria Alexandrowna mit Würde, »der Beweis dafür, daß Dunja und ich Ihre Worte nicht in einem sehr schlimmen Sinne aufgefaßt haben, ist, daß wir hier sind.«
»Sehr gut, Mamachen!« billigte Dunja ihre Worte.
»Also bin ich auch daran schuld!« versetzte Luschin gekränkt.
»Nun sehen Sie, Pjotr Petrowitsch, Sie beschuldigen immer Rodion, haben aber neulich selbst über ihn in Ihrem Briefe die Unwahrheit geschrieben«, fügte Pulcheria Alexandrowna ermutigt hinzu.
»Ich kann mich nicht erinnern, irgendeine Unwahrheit geschrieben zu haben.«
»Sie haben geschrieben,« sagte Raskolnikow scharf, ohne sich zu Luschin umzuwenden, »ich hätte gestern das Geld nicht der Witwe des Überfahrenen, wie es in Wirklichkeit war, gegeben, sondern seiner Tochter (die ich bis gestern nie gesehen habe). Sie schrieben es, um mich mit meinen Angehörigen zu entzweien, und äußerten sich zu diesem Zwecke in den gemeinsten Ausdrücken auch über den Lebenswandel des jungen Mädchens, das Sie nicht kennen. Das ist Klatsch und eine Gemeinheit.«
»Entschuldigen Sie, mein Herr«, antwortete Luschin, vor Wut zitternd. »In meinem Briefe äußerte ich mich über Ihre Eigenschaften und Handlungen, nur um die Bitte Ihrer Schwester und Mutter zu erfüllen, die mich baten, ihnen zu berichten, wie ich Sie gefunden hätte und welchen Eindruck Sie auf mich gemacht hätten. Was aber den Inhalt meines Briefs betrifft, so zeigen Sie mir wenigstens eine unwahre Zeile, das heißt, daß Sie das Geld nicht ausgegeben haben und daß in jener, wenn auch unglücklichen Familie, sich keine unwürdigen Personen befinden.«
»Meiner Ansicht nach sind Sie mit allen Ihren Vorzügen auch nicht den kleinen Finger des unglücklichen jungen Mädchens wert, auf das Sie einen Stein werfen.«
»Sie wären demnach bereit, sie in die Gesellschaft Ihrer Mutter und Schwester einzuführen?«
»Ich habe es schon getan, wenn Sie es wissen wollen. Ich habe sie heute neben meine Mama und Dunja gesetzt.«
»Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
Dunjetschka errötete; Rasumichin zog die Brauen zusammen; Luschin lächelte giftig und hochmütig.
»Nun belieben Sie es selbst zu sehen, Awdotja Romanowna,« sagte er, »ist hier eine Verständigung möglich? Ich hoffe jetzt, daß die Sache für immer aufgeklärt und erledigt ist. Ich aber ziehe mich jetzt zurück, um das weitere angenehme verwandtschaftliche Beisammensein und den Austausch von Geheimnissen nicht zu stören.« (Er erhob sich von seinem Stuhl und nahm den Hut.) »Bevor ich aber weggehe, erlaube ich mir die Hoffnung auszusprechen, in Zukunft von solchen Begegnungen und, sozusagen, Kompromissen befreit zu sein. Ganz besonders bitte ich Sie darum, hochverehrte Pulcheria Alexandrowna, um so mehr, als mein Brief an Sie und niemand anders adressiert war.«
Pulcheria Alexandrowna fühlte sich etwas verletzt.
»Sie wollen uns wohl ganz in Ihre Gewalt bekommen, Pjotr Petrowitsch. Dunja sagte Ihnen den Grund, warum Ihr Wunsch nicht erfüllt wurde. Sie hatte doch gute Absichten. Auch schreiben Sie mir so, als erteilten Sie mir Befehle. Müssen wir denn jeden Ihrer Wünsche als einen Befehl auffassen? Ich möchte Ihnen aber im Gegenteil sagen: Sie müssen jetzt gegen uns besonders feinfühlend und nachsichtig sein, weil wir alles im Stich gelassen haben und, im Vertrauen auf Sie, hergekommen sind, uns also schon ohnehin in Ihrer Gewalt befinden.«
»Das ist nicht ganz richtig, Pulcheria Alexandrowna, und am allerwenigsten in diesem Augenblick, wo Sie die Nachricht von den von Marfa Petrowna vermachten dreitausend Rubeln erhalten haben, die Ihnen anscheinend sehr zustatten kommen, wenigstens nach dem neuen Ton zu urteilen, in dem Sie mit mir sprechen«, fügte er bissig hinzu.
»Nach dieser Bemerkung könnte man wirklich annehmen, daß Sie auf unsere Hilflosigkeit gerechnet haben«, bemerkte Dunja gereizt.
»Jetzt wenigstens kann ich nicht mehr auf sie rechnen, am allerwenigsten möchte ich aber der Mitteilung der geheimen Anerbieten des Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow im Wege sein, mit denen er Ihren Bruder betraut hat und die, wie ich sehe, für Sie eine gewichtige und vielleicht auch höchst angenehme Bedeutung haben.«
»Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
Rasumichin konnte kaum stillsitzen.
»Schämst du dich jetzt nicht, Schwester?« fragte Raskolnikow.
»Ich schäme mich, Rodja«, sagte Dunja. »Pjotr Petrowitsch, gehen Sie hinaus!« wandte sie sich an ihn, ganz blaß vor Wut.
Pjotr Petrowitsch hatte mit einem solchen Ende wohl nicht gerechnet. Er hatte zu sehr auf sich selbst, auf seine Macht und auf die Hilflosigkeit seiner Opfer gebaut. Er konnte es auch jetzt noch nicht glauben. Er erbleichte, und seine Lippen zitterten.
»Awdotja Romanowna, wenn ich jetzt durch diese Tür, mit diesen Ihren Abschiedsworten das Zimmer verlasse, so – rechnen Sie darauf – komme ich nie wieder. Überlegen Sie es sich gut! Mein Wort ist unabänderlich!«
»Was für eine Frechheit!« rief Dunja und erhob sich schnell von ihrem Platz. »Ich will ja auch gar nicht, daß Sie wiederkommen!«
»Wie! So stehen also die Sachen!« rief Luschin, der bis zum letzten Augenblick an einen solchen Ausgang nicht geglaubt und daher nun den Faden vollkommen verloren hatte. »So stehen also die Sachen! Wissen Sie aber, Awdotja Romanowna, daß ich auch protestieren könnte?!«
»Welch ein Recht haben Sie, so mit ihr zusprechen?!« mischte sich Pulcheria Alexandrowna hitzig ein. »Womit können Sie protestieren? Und was haben Sie für Rechte? Werde ich denn meine Dunja einem solchen Menschen, wie Sie es sind, geben? Gehen Sie, verlassen Sie uns ganz! Wir sind selbst schuld, daß wir auf eine solche ungerechte Sache eingegangen sind, und am meisten ich ...«
»Pulcheria Alexandrowna,« ereiferte sich Luschin in seiner Wut, »Sie haben mich aber durch Ihr gegebenes Wort gebunden, von dem Sie sich jetzt lossagen ... ... und, und schließlich ... schließlich habe ich auch sozusagen Unkosten gehabt ...«
Dieser letzte Einwand entsprach dermaßen dem Charakter Pjotr Petrowitschs, daß Raskolnikow, der vor Wut und vor Anstrengung, die Wut zurückzuhalten, ganz blaß geworden war, sich plötzlich nicht mehr beherrschen konnte und laut auflachte. Aber Pulcheria Alexandrowna geriet ganz aus der Fassung.
»Unkosten? Was für Unkosten? Sprechen Sie vielleicht von unserem Koffer? Den hat ja ein Schaffner umsonst hergebracht! Mein Gott, jetzt sollen wir Sie auch noch gebunden haben! Bedenken Sie doch, Pjotr Petrowitsch, daß Sie uns an Händen und Füßen gebunden haben, und nicht wir Sie!«
»Genug, Mamachen, bitte, genug!« flehte Awdotja Romanowna. »Pjotr Petrowitsch, tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie weg!«
»Ich gehe schon weg, aber nur noch ein letztes Wort!« sagte er außer sich. »Ihre Frau Mama scheint ganz vergessen zu haben, daß ich mich entschlossen hatte, Sie zu nehmen, obwohl im ganzen Kreise Gerüchte über Ihren Ruf im Umlauf waren. Indem ich um Ihretwillen die öffentliche Meinung mißachtete und Ihren Ruf wiederherstellte, durfte ich natürlich durchaus auf eine Vergeltung hoffen und sogar Dankbarkeit von Ihnen verlangen ... Jetzt erst sind mir die Augen aufgegangen! Ich sehe selbst, daß ich vielleicht äußerst leichtsinnig gehandelt habe, als ich mich über die öffentliche Meinung hinwegsetzte ...«
»Hat er denn einen Kopf zuviel?!« rief Rasumichin, vom Stuhl aufspringend, bereit, mit Luschin abzurechnen.
»Sie sind ein gemeiner und böser Mensch!« sagte Dunja.
»Kein Wort! Keine Bewegung!« rief Raskolnikow, Rasumichin zurückhaltend. Dann trat er ganz dicht an Luschin heran und sagte leise und jedes Wort betonend: »Gehen Sie sofort hinaus! Und kein Wort mehr, oder ...«
Pjotr Petrowitsch sah ihn einige Sekunden mit bleichem, vor Wut verzerrtem Gesicht an, drehte sich um und ging hinaus, und sicher hat kaum je ein Mensch in seinem Herzen so viel Haß und Bosheit davongetragen wie dieser Luschin gegen Raskolnikow. Ihm und nur ihm allein schob er die ganze Schuld zu. Merkwürdig ist, daß er, als er die Treppe hinunterging, sich immer noch einbildete, daß die Sache vielleicht noch gar nicht verloren und, in bezug auf die Damen allein, sogar noch sehr reparabel sei.
Er hatte nämlich bis zuletzt einen solchen Ausgang nicht erwartet. Er benahm sich bis zum letzten Augenblick herausfordernd, ohne sogar die Möglichkeit anzunehmen, daß die beiden armen und schutzlosen Frauen sich seiner Macht entziehen könnten. Zu dieser Uberzeugung trugen sehr seine Eitelkeit und sein übertriebenes Selbstvertrauen bei, das am besten Selbstverliebtheit zu nennen wäre. Pjotr Petrowitsch, der sich seinen Weg aus kleinen Verhältnissen selbst gebahnt hatte, besaß die krankhafte Angewohnheit, sich selbst zu bewundern, schätzte seinen Verstand und seine Fähigkeiten hoch ein und betrachtete sogar zuweilen, wenn er allein war, sein Gesicht mit Wohlgefallen im Spiegel. Über alles in der Welt liebte und schätzte er aber sein durch Arbeit und alle möglichen Mittel erworbenes Geld: es stellte ihn auf die gleiche Stufe mit allem, was höher war als er.
Als er Dunja mit solcher Bitterkeit daran erinnerte, daß er sich entschlossen habe, sie trotz des schlechten Rufes zu nehmen, sprach Pjotr Petrowitsch vollkommen aufrichtig und empfand sogar eine tiefe Empörung über solchen »schwarzen Undank«. Und doch war er, als er um Dunja freite, vollkommen von der Haltlosigkeit aller Klatschgeschichten überzeugt, die schon von Marfa Petrowna öffentlich widerrufen und vom ganzen Städtchen, das warm für Dunja eintrat, vergessen worden waren. Er würde auch jetzt nicht bestreiten, daß er dies alles schon damals gewußt hatte. Und doch bildete er sich auf seinen Entschluß, Dunja zu sich emporzuheben, sehr viel ein und hielt ihn für eine Heldentat. Als er dies eben Dunja sagte, äußerte er nur seinen geheimen, längst gehegten Gedanken, der ihm schon mehr als einmal Freude gemacht hatte, und konnte nicht verstehen, wie die anderen seiner Tat ihre Bewunderung versagen konnten. Als er damals Raskolnikow besuchte, war er mit den Gefühlen eines Wohltäters gekommen, welcher bereit ist, die Früchte zu ernten und äußerst angenehme Komplimente zu hören. Natürlich hielt er sich jetzt, als er die Treppe hinunterging, für im höchsten Grade beleidigt und verkannt.
Dunja hatte er einfach notwendig; auf sie zu verzichten, erschien ihm undenkbar. Schon längst, seit mehreren Jahren spielte er mit dem Gedanken, sich zu verheiraten, sparte aber noch immer Geld und wartete. Er dachte im geheimen mit Wonne an ein wohlgesittetes und armes (unbedingt armes), sehr junges, sehr hübsches, edles und gebildetes, sehr eingeschüchtertes Mädchen, das viel Ungemach erfahren habe und sich vor ihm in Demut beuge, an eines, das ihn ihr ganzes Leben lang als ihren Retter ansehen, ihn anbeten, sich ihm unterwerfen und ihn bewundern würde, nur ihn allein. Wieviel Szenen, wieviel süßeste Episoden schuf er in seiner Phantasie über dieses verführerische und aufregende Thema, wenn er in der Stille von seinen Geschäften ausruhte! Und nun sollte der Traum so vieler Jahre bald in Erfüllung gehen: die Schönheit und die Bildung Awdotja Romanownas hatten ihn überrascht, und ihre hilflose Lage reizte ihn aufs äußerste. Hier lag sogar noch mehr vor, als er sich ausmalte: es war ein stolzes, charakterfestes, tugendhaftes junges Mädchen, das an Erziehung und Intelligenz viel höher stand als er (er fühlte das), und dieses Wesen würde ihm ihr ganzes Leben lang für seine Tat dankbar sein und sich demütig vor ihm beugen, er aber würde grenzenlos und unbeschränkt über sie herrschen! ... Zufällig hatte er kurz vorher nach vielen Überlegungen und langem Warten sich entschlossen, seine Karriere zu ändern und in einen größeren Wirkungskreis zu treten, zugleich aber allmählich in die höheren Gesellschaftskreise zu gelangen, an die er schon lange mit Wollust dachte ... Mit einem Worte, er hatte sich entschlossen, die Annehmlichkeiten Petersburgs zu kosten. Er wußte, daß man durch Frauen sehr viel erreichen kann. Der Zauber einer schönen, tugendhaften und gebildeten Frau würde seinen Weg außerordentlich verschönen, andere Leute an ihn heranziehen und ihm eine Glorie schaffen ... und dieses stürzte jetzt zusammen! Dieser plötzliche häßliche Bruch wirkte auf ihn wie ein Donnerschlag. Was war das doch für ein häßlicher Scherz, was für ein Unsinn! Er hatte doch nur ein bißchen wichtig getan, er hatte nicht mal Zeit gehabt, sich ganz auszusprechen, er hatte bloß gescherzt, hatte sich hinreißen lassen, und alles nahm plötzlich ein so ernstes Ende! Schließlich hatte er doch Dunja sogar auf seine Art geliebt, hatte schon über sie in seinen Träumen geherrscht, und plötzlich! ... Nein! Morgen, morgen schon muß er alles wiederherstellen, reparieren, in Ordnung bringen, vor allen Dingen aber diesen anmaßenden grünen Jungen, der an allem die Schuld hat, vernichten. Mit schmerzvollem Unbehagen erinnerte er sich plötzlich unwillkürlich Rasumichins ... aber in dieser Beziehung beruhigte er sich bald wieder: Es fehlte noch, daß man auch diesen Kerl auf eine Stufe mit ihm stellte! Wen er aber ernsthaft fürchtete, das war Swidrigailow ... Mit einem Wort: es standen ihm noch viele Scherereien bevor. –
»Nein, ich hin mehr als alle schuld!« sagte Dunjetschka, indem sie ihre Mutter umarmte und küßte. »Ich ließ mich von seinem Gelde verlocken, aber ich schwöre, Bruder, ich ahnte gar nicht, daß er ein so unwürdiger Mensch ist. Hätte ich ihn vorher durchschaut, so hätte ich mich um keinen Preis verlocken lassen! Klage mich nicht an, Bruder!«
»Gott hat uns errettet! Gott hat uns errettet!« murmelte Pulcheria Alexandrowna, doch irgendwie unbewußt, als hätte sie noch nicht ganz erfaßt, was sich eben zugetragen hatte.
Alle freuten sich, und nach fünf Minuten lachten sie sogar. Nur Dunjetschka erbleichte noch ab und zu und runzelte die Brauen, wenn sie sich des Vorgefallenen erinnerte. Pulcheria Alexandrowna hätte sich niemals gedacht, daß auch sie sich freuen würde: der Bruch mit Luschin war ihr noch heute früh als ein schreckliches Unglück erschienen, Rasumichin aber war entzückt. Er wagte noch nicht, es ganz zu äußern, zitterte aber am ganzen Leibe wie im Fieber, als wäre ihm eine fünf Zentner schwere Last vom Herzen gefallen. Nun hatte er das Recht, ihnen sein ganzes Leben hinzugeben, ihnen zu dienen ... Und überhaupt jetzt! ... Übrigens jagte er jetzt noch ängstlicher alle Zukunftsgedanken von sich und fürchtete sich vor seiner Phantasie. Nur Raskolnikow allein saß noch immer auf dem gleichen Fleck, fast düster und sogar zerstreut. Er, der auf die Entfernung Luschins mehr als alle bestanden hatte, schien sich jetzt weniger als alle für das Vorgefallene zu interessieren. Dunja mußte unwillkürlich denken, daß er ihr noch immer sehr zürne, und Pulcheria Alexandrowna beobachtete ihn ängstlich.
»Was hat dir denn Swidrigailow gesagt?« fragte Dunja, an ihn herantretend.
»Ach, ja, ja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.
Raskolnikow hob den Kopf.
»Er will dir unbedingt zehntausend Rubel schenken und äußert zugleich den Wunsch, dich einmal in meiner Gegenwart zu sprechen.«
»Sie sprechen! Um nichts in der Welt!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. »Und wie wagt er nur, ihr Geld anzubieten!«
Raskolnikow teilte darauf (ziemlich trocken) sein ganzes Gespräch mit Swidrigailow mit, verschwieg aber das von den Besuchen der verstorbenen Marfa Petrowna, um nicht auf ein abseits liegendes Thema abzuschweifen und da er einen Widerwillen empfand, über irgend etwas außer dem Notwendigsten zu sprechen.
»Was hast du ihm darauf geantwortet?« fragte Dunja.
»Zuerst sagte ich ihm, daß ich dir nichts mitteilen würde. Darauf erklärte er, daß er selbst mit allen Mitteln versuchen würde, eine Zusammenkunft herbeizuführen. Er behauptete, daß seine Leidenschaft zu dir eine Dummheit gewesen sei und daß er jetzt dir gegenüber nichts mehr empfinde ... Er will nicht, daß du Luschin heiratest ... Er sprach überhaupt sehr verworren.«
»Wie erklärst du es dir selbst, Rodja? Wie kam er dir vor?«
»Offen gestanden, verstehe ich ihn nicht recht. Er bietet dir zehntausend Rubel an, sagt aber dabei, daß er nicht reich sei. Er sagt, daß er eine Reise unternehmen möchte, und vergißt schon nach zehn Minuten, daß er das gesagt hat. Plötzlich sagt er auch, daß er heiraten wolle und daß man ihm schon eine Partie anbiete ... Sicherlich hat er seine Absichten und wahrscheinlich recht schlimme. Andererseits wäre es doch sonderbar, anzunehmen, daß er die Sache so dumm anfassen würde, wenn er schlimme Absichten dir gegenüber hätte ... Ich habe mich natürlich in deinem Namen ein für allemal geweigert, das Geld anzunehmen. Überhaupt kam er mir sehr merkwürdig vor und ... sogar ... mit Anzeichen von Geistesstörung. Ich kann mich aber auch geirrt haben; vielleicht ist das Ganze eine Art Schwindel. Der Tod Marfa Petrownas scheint aber einen Eindruck auf ihn gemacht zu haben ...«
»Gott schenke ihrer Seele die ewige Ruhe!« rief Pulcheria Alexandrowna aus. »Ewig, ewig werde ich für sie zu Gott beten! ... Was wäre jetzt mit uns ohne diese dreitausend Rubel, Dunja! Mein Gott, das Geld ist wie vom Himmel gefallen! Ach, Rodja, heute früh hatten wir nur noch drei Rubel und dachten beide daran, wie wir die Uhr irgendwo versetzen könnten, um nur kein Geld von ihm zu erbitten, bis es ihm selbst einfallen würde ...«
Dunja war vom Anerbieten Swidrigailows überrascht. Sie stand die ganze Zeit nachdenklich da.
»Er hat wieder etwas Schreckliches im Sinn!« sagte sie fast im Flüsterton zu sich selbst und fuhr zusammen.
Raskolnikow bemerkte diese übertriebene Furcht.
»Ich glaube, ich werde ihn noch mehr als einmal sehen«, sagte er zu Dunja.
»Wir wollen auf der Hut sein! Ich werde ihm schon auf die Spur kommen!« rief Rasumichin energisch. »Ich lasse ihn nicht aus den Augen! Rodja hat es erlaubt. Er hat mir vorhin selbst gesagt: ›Beschütze meine Schwester!‹ Und Sie, werden Sie es mir erlauben, Awdotja Romanowna?«
Dunja lächelte und reichte ihm die Hand, aber der besorgte Ausdruck wich nicht von ihrem Gesicht. Pulcheria Alexandrowna blickte sie ab und zu schüchtern an; die dreitausend Rubel hatten sie übrigens sichtlich beruhigt.
Nach einer Viertelstunde befanden sich alle in lebhaftester Unterhaltung. Sogar Raskolnikow beteiligte sich zwar nicht am Gespräch, hörte aber einige Zeit aufmerksam zu. Rasumichin führte das große Wort.
»Aber warum, warum sollen Sie fortreisen?« ergoß er sich berauscht in begeisterter Rede. »Und was werden Sie in Ihrem kleinen Nest treiben? Die Hauptsache ist doch, daß Sie hier alle zusammen sind und einander brauchen. – Sie brauchen einander so notwendig, begreifen Sie mich doch! Nun, wenigstens eine Zeitlang ... Mich aber nehmen Sie als einen Freund, als einen Kompagnon auf, und ich versichere Ihnen, wir gründen ein ausgezeichnetes Unternehmen. Hören Sie, ich will Ihnen alles ganz genau erklären, – das ganze Projekt! Es schwebte mir schon am Morgen, als noch nichts geschehen war, vor ... Es handelt sich um folgendes: Ich habe einen Onkel (ich will Sie mit ihm bekannt machen: ein sehr vernünftiger und sehr achtbarer alter Herr!), und dieser Onkel besitzt tausend Rubel Kapital; er selbst lebt von seiner Pension und braucht sonst nichts. Schon das zweite Jahr setzt er mir zu, daß ich mir diese tausend Rubel nehme und ihm sechs Prozent Zinsen dafür zahle. Ich weiß ja, was er sich dabei denkt: er will mir einfach helfen; im vorigen Jahre brauchte ich das Geld nicht, aber in diesem Jahre wartete ich nur auf seine Ankunft und entschloß mich, das Geld zu nehmen. Dann geben Sie das zweite Tausend von Ihrem Geld her, das genügt für den Anfang, und wir gründen ein Kompagniegeschäft. Was fangen wir nun an?«
Rasumichin begann sein Projekt zu entwickeln und redete viel davon, wie wenig fast alle unsere Buchhändler und Verleger von ihrer Ware verstünden und daß sie darum auch gewöhnlich schlechte Verleger seien, während gute Bücher sich im allgemeinen bezahlt machten und zuweilen einen nicht unbedeutenden Nutzen abwürfen. Rasumichin dachte an die Verlegertätigkeit, da er schon seit zwei Jahren für andere Verleger gearbeitet hatte und recht gut drei europäische Sprachen beherrschte, obwohl er Raskolnikow vor sechs Tagen erklärt hatte, daß er im Deutschen »schwach« sei; doch nur um ihn zu überreden, die Hälfte der Übersetzungsarbeit und die drei Rubel Vorschuß anzunehmen; er hatte damals gelogen, und Raskolnikow wußte es.
»Warum, warum sollen wir uns die Gelegenheit entgehen lassen, wenn wir eines der wichtigsten Mittel, nämlich Geld besitzen?« ereiferte sich Rasumichin. »Natürlich, man muß auch viel arbeiten, und wir werden auch viel arbeiten, Sie, Awdotja Romanowna, ich, Rodion ... manche Bücher werfen jetzt einen schönen Nutzen ab! Die Grundlage des Unternehmens aber ist, daß wir wissen werden, was zu übersetzen ist. Wir werden übersetzen und verlegen und studieren, alle zusammen. Jetzt kann ich nützlich sein, denn ich habe die Erfahrung. Seit zwei Jahren laufe ich von einem Verleger zum anderen und kenne ihr ganzes Geschäft: es sind keine Heiligen, die die Töpfe brennen, glauben Sie es mir! Und warum soll man auch den Bissen an seinem Munde vorbeigehen lassen? Ich selbst kenne zwei oder drei Werke, die ich geheim halte: für die Idee allein, sie zu übersetzen und herauszugeben, kann man hundert Rubel für jedes Buch bekommen; für die eine Idee würde ich nicht mal fünfhundert Rubel nehmen. Und was glauben Sie: wenn ich es jemand sage, so wird er vielleicht noch Zweifel haben, es sind doch solche Dummköpfe! Und was die eigentlichen geschäftlichen Scherereien betrifft mit der Druckerei, dem Papier und Verkauf, so überlassen Sie es mir! Ich kenne alle Schliche. Wir fangen mit Kleinem an und erreichen Großes, wir werden davon wenigstens leben können und unser Geld auf jeden Fall zurückerhalten.«
Dunjas Augen leuchteten.
»Was Sie da sagen, gefällt mir sehr, Dmitrij Pokrofjitsch!« sagte sie.
»Ich verstehe davon natürlich gar nichts,« versetzte Pulcheria Alexandrowna, »vielleicht ist es auch sehr schön, aber Gott allein weiß es. Die Sache ist neu und unbekannt. Natürlich müssen wir noch hier bleiben, wenigstens eine Zeitlang ...«
Sie blickte Rodja an.
»Was denkst du darüber, Bruder?« fragte Dunja.
»Ich denke, daß er einen sehr guten Gedanken hat«, antwortete er. »An eine Firma soll man natürlich vorher nicht denken, aber fünf oder sechs Bücher kann man wirklich mit sicherem Erfolg herausgeben. Ich kenne auch selbst ein Werk, das unbedingt gehen wird. Und was die Frage betrifft, ob er das Geschäft zu leiten versteht, so kann darüber kein Zweifel sein; er versteht die Sache ... Übrigens habt ihr noch Zeit, euch über alles zu einigen ...«
»Hurra!« rief Rasumichin. »Wartet nur, es gibt hier in diesem selben Hause bei denselben Wirtsleuten eine freie Wohnung. Es ist eine abgeschlossene Wohnung, die mit diesen möblierten Zimmern nicht zusammenhängt, drei Stuben mit Möbeln, der Preis ist mäßig. Für den Anfang nehmen Sie diese Wohnung. Die Uhr will ich morgen für Sie versetzen und Ihnen das Geld bringen, und das Weitere wird schon werden. Die Hauptsache aber ist, daß Sie jetzt alle drei zusammen wohnen können, und auch Rodja mit Ihnen. Wo willst du denn hin, Rodja?«
»Wie, Rodja, du gehst schon weg?« fragte Pulcheria Alexandrowna sogar erschrocken.
»In einem solchen Augenblick!« rief Rasumichin aus.
Dunja sah ihren Bruder mit mißtrauischem Erstaunen an. Er hatte die Mütze in der Hand und wollte fortgehen.
»Es ist, als ob ihr mich beerdigt oder euch von mir für alle Ewigkeit verabschiedet«, sagte er sonderbar.
Er schien zu lächeln, aber es war anscheinend gar kein Lächeln.
»Wer weiß, vielleicht sehen wir uns wirklich zum letztenmal«, entschlüpfte es ihm plötzlich.
Eigentlich dachte er es nur, aber die Worte kamen ihm ganz von selbst von den Lippen.
»Was ist mit dir?« rief die Mutter.
»Wo gehst du denn hin, Rodja?« fragte Dunja eigentümlich.
»So, ich muß dringend gehen«, sagte er verlegen, als schwankte er noch, was er zu sagen hätte; doch sein bleiches Gesicht drückte eine feste Entschlossenheit aus.
»Ich wollte sagen ... als ich herging ... ich wollte Ihnen sagen, Mamachen ... und auch dir, Dunja, daß es für uns das beste wäre, uns für eine Zeitlang zu trennen. Ich fühle mich nicht wohl und bin unruhig ... ich werde später wiederkommen, ich werde selbst kommen, wenn ... wenn ich es kann. Ich denke an euch und liebe euch ... Laßt mich! Laßt mich allein! So habe ich schon früher beschlossen ... Ich habe es fest beschlossen ... Was mit mir auch geschieht, ob ich zugrunde gehe oder nicht, jedenfalls will ich allein sein. Vergeßt mich ganz. So ist es besser ... Erkundigt euch nicht nach mir. Wenn es mal nötig ist, werde ich selbst kommen ... oder euch rufen. Vielleicht wird es noch eine Auferstehung geben! ... Jetzt aber, wenn ihr mich liebt, sagt euch von mir los ... Sonst werde ich euch hassen, ich fühle es ... Lebt wohl!«
»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna.
Mutter und Schwester waren furchtbar erschrocken; Rasumichin ebenfalls.
»Rodja, Rodja! Versöhne dich mit uns, wir wollen die Früheren sein!« rief die arme Mutter.
Er wandte sich langsam zur Tür und verließ langsam das Zimmer. Dunja holte ihn ein.
»Bruder! Was tust du unserer Mutter an!« flüsterte sie, und ihre Augen funkelten vor Empörung.
Er sah sie starr an.
»Macht nichts, ich werde kommen, ich werde euch besuchen!« murmelte er halblaut, als wäre er sich nicht ganz bewußt, was er sagen wolle, und verließ das Zimmer.
»Gefühlloser, böser Egoist!« rief Dunja aus.
»Er ist verrückt und nicht gefühllos! Er ist geisteskrank! Sehen Sie es denn nicht? Dann sind Sie selbst gefühllos!« flüsterte Rasumichin ihr erregt ins Ohr und druckte ihre Hand fest zusammen.
»Ich komme gleich!« rief er der vor Schreck erstarrten Pulcheria Alexandrowna zu und lief aus dem Zimmer.
Raskolnikow erwartete ihn am Ende des Korridors.
»Ich habe ja gewußt, daß du gleich herauslaufen wirst«, sagte er ihm. »Kehre zu ihnen zurück und bleibe bei ihnen ... Sei auch morgen mit ihnen ... und immer. Ich ... werde vielleicht kommen ... wenn es geht. Lebe wohl!«
Und er verließ ihn, ohne ihm die Hand zu reichen.
»Wo willst du denn hin? Was hast du? Was ist mit dir? Kann man denn so! ...« murmelte der ganz fassungslose Rasumichin.
Raskolnikow blieb noch einmal stehen.
»Ein für allemal: frage mich nicht und über nichts. Ich habe dir nichts zu antworten ... Komme auch nicht zu mir. Vielleicht werde ich herkommen ... Laß mich ... sie aber verlasse nicht! Verstehst du mich?«
Im Korridor war es dunkel; sie standen neben der Lampe. Eine Minute lang sahen sie einander stumm an. Rasumichin erinnerte sich später sein Leben lang dieses Augenblicks. Der brennende und unverwandte Blick Raskolnikows wurde jeden Moment gespannter und drang in seine Seele, in sein Bewußtsein ein. Plötzlich fuhr Rasumichin zusammen. Es war, als wäre zwischen ihnen etwas Seltsames vorbeigeschwebt ... Ein Gedanke, eine leise Ahnung; etwas Schreckliches und Häßliches, das von beiden Seiten plötzlich verstanden wurde ... Rasumichin wurde bleich wie ein Toter.
»Verstehst du jetzt!?« sagte plötzlich Raskolnikow mit krankhaft verzerrtem Gesicht. »Kehre zurück, gehe zu ihnen«, fügte er plötzlich hinzu. Dann drehte er sich schnell um und verließ das Haus.
Ich will nicht beschreiben, wie es an diesem Abend bei Pulcheria Alexandrowna zuging, wie Rasumichin zu ihnen zurückkehrte, wie er sie beruhigte, wie er ihnen schwur, daß man Rodja nach seiner Krankheit Ruhe gönnen müsse, wie er schwur, daß Rodja unbedingt wiederkommen, daß er jeden Tag herkommen würde, daß er sehr, sehr heruntergekommen sei und daß man ihn nicht reizen dürfe; daß er, Rasumichin, auf ihn aufpassen werde, daß er einen guten, den besten Arzt, ein ganzes Konsilium für ihn bringen werde ... Mit einem Wort: Rasumichin wurde von diesem Abend an ihr Sohn und Bruder.
Raskolnikow ging aber direkt zum Hause am Kanal, wo Ssonja wohnte. Es war ein altes, grüngestrichenes zweistöckiges Haus. Er fand nicht ohne Mühe den Hausknecht und bekam von ihm eine recht unbestimmte Auskunft, wo der Schneider Kapernaumow wohne. Er fand in einer Hofecke den Eingang zu einer engen und dunklen Treppe, stieg endlich in den ersten Stock hinauf und gelangte in eine Galerie, die das Stockwerk auf der Hofseite umgab. Während er im Dunkeln herumirrte und sich fragte, wo der Eingang zu Kapernaumow sein könne, ging plötzlich drei Schritte vor ihm eine Tür auf; er griff mechanisch nach ihr.
»Wer ist da?« fragte ängstlich eine weibliche Stimme.
»Das bin ich ... zu Ihnen«, antwortete Raskolnikow und trat in ein winziges Vorzimmer.
Hier stand auf einem durchgedrückten Stuhle ein verbogener Messingleuchter mit einer Kerze.
»Das sind Sie! Mein Gott!« rief Ssonja mit schwacher Stimme und blieb wie angewurzelt stehen.
»Wie kommt man in Ihr Zimmer? Hier?«
Raskolnikow bemühte sich, sie nicht anzusehen, und trat schnell in ihr Zimmer.
Nach einer Minute kam Ssonja mit der Kerze. Sie stellte die Kerze hin und blieb vor ihm stehen, ganz fassungslos, in unbeschreiblicher Erregung und durch seinen unerwarteten Besuch sichtbar erschreckt. Ihr bleiches Gesicht rötete sich plötzlich, und Tränen traten ihr sogar in die Augen ... Sie empfand peinliches Unbehagen, und Scham, und eine süße Wonne ... Raskolnikow wandte sich schnell weg und setzte sich auf den Stuhl vor dem Tisch. Mit einem flüchtigen Blick hatte er schon das ganze Zimmer gestreift.
Es war ein großes, doch außerordentlich niedriges Zimmer, das einzige, das die Kapernaumows vermieteten; die verschlossene Tür in der Wand links führte zu ihnen. An der gegenüberliegenden Wand rechts war noch eine andere Tür, die immer fest verschlossen war. Hinter dieser Tür befand sich die Nachbarwohnung mit einer anderen Nummer. Ssonjas Zimmer glich einer Scheune; es hatte die Form eines unregelmäßigen Vierecks, was ihm etwas Häßliches verlieh. Die Wand mit den auf den Kanal hinausgehenden drei Fenstern durchschnitt das Zimmer irgendwie schief, und eine Ecke war daher sehr spitz und verlief in die Tiefe, so daß man in sie bei der schwachen Beleuchtung nicht mal ordentlich hinausschauen konnte; die andere Ecke war dafür häßlich stumpf. In diesem ganzen großen Zimmer waren fast keine Möbel. In der Ecke rechts befand sich das Bett; neben ihm, näher zur Tür, stand ein Stuhl. An der gleichen Wand, wo das Bett war, standen dicht neben der Tür, die in die fremde Wohnung führte, ein einfacher ungestrichener Tisch mit einer blauen Decke und daneben zwei Rohrstühle. An der entgegengesetzten Wand, in der Nähe des spitzen Winkels, stand eine kleine Kommode aus einfachem Holz, die wie im Leeren verloren aussah. Das war alles, was sich im Zimmer befand. Die gelblichen, schmierigen und abgerissenen Tapeten waren in allen Ecken schwarz geworden; im Winter war es hier sicher feucht und dunstig. Die Armut war ganz offensichtlich, selbst vor dem Bett war kein Vorhang.
Ssonja blickte schweigend auf ihren Gast, der so aufmerksam und ungeniert ihr Zimmer betrachtete, und fing sogar schließlich an, vor Angst zu zittern, als stünde sie vor einem Richter, vor einem, der über ihr Schicksal zu entscheiden hatte.
»Ich komme spät ... Ist schon elf?« fragte er, sie noch immer nicht ansehend.
»Ja, es ist schon elf«, murmelte Ssonja. »Ach ja, gewiß!« beeilte sie sich zu sagen, als wäre es ein Ausweg für sie. »Die Uhr bei den Wirtsleuten hat eben geschlagen ... ich habe es selbst gehört ... Es ist schon elf.«
»Ich komme zu Ihnen zum letztenmal,« fuhr Raskolnikow fort, »und wenn es auch das erste Mal ist, – ich sehe Sie vielleicht nie wieder ...«
»Reisen Sie fort? ...«
»Ich weiß nicht ... es wird sich morgen zeigen ...«
»So kommen Sie morgen nicht zu Katerina Iwanowna?« fragte Ssonja mit bebender Stimme.
»Ich weiß es nicht. Es wird sich morgen früh zeigen ... Aber es handelt sich jetzt nicht darum: ich komme, um Ihnen ein Wort zu sagen ...«
Er richtete auf sie seinen nachdenklichen Blick und merkte plötzlich, daß er saß, während sie vor ihm stand.
»Warum stehen Sie? Setzen Sie sich!« sagte er plötzlich mit veränderter, stiller und freundlicher Stimme.
Sie setzte sich. Er sah sie eine Minute lang freundlich und fast mitleidvoll an.
»Wie mager Sie sind! Was haben Sie für eine Hand! Ganz durchsichtig ist sie. Die Finger wie bei einer Toten.«
Er ergriff ihre Hand. Ssonja lächelte schwach.
»Ich war immer so«, sagte sie.
»Auch als Sie zu Hause lebten?«
»Ja.«
»Nun, selbstverständlich!« sagte er kurz, und sein Gesichtsausdruck und der Ton seiner Stimme veränderten sich wieder.
Er sah sich noch einmal um.
»Sie mieten das Zimmer von Kapernaumow?«
»Ja ...«
»Wohnen die dort hinter der Tür?«
»Ja ... Sie haben das gleiche Zimmer.«
»Wohnen sie alle in einem Zimmer?«
»Ja, in einem.«
»In Ihrem Zimmer würde ich mich nachts fürchten«, bemerkte er düster.
»Die Wirtsleute sind sehr gut, sehr freundlich«, erwiderte Ssonja, die immer noch nicht zu sich gekommen war und die Situation noch nicht erfaßt hatte. »Auch die Möbel und alles ... alles gehört den Wirtsleuten. Und sie sind sehr gute Menschen, und ihre Kinder kommen oft zu mir her ...«
»Die stotternden?«
»Ja ... Er stottert und hinkt auch noch. Auch seine Frau ... Eigentlich stottert er nicht, sondern spricht bloß nicht alles aus. Sie ist aber sehr gut. Er ist ein früherer Leibeigener. Es sind sieben Kinder da ... bloß der älteste stottert, die anderen sind aber einfach krank ... und stottern nicht ... Woher wissen Sie das von ihnen?« fügte sie mit einigem Erstaunen hinzu.
»Mir hat das damals Ihr Vater erzählt. Er hat mir alles von Ihnen erzählt ... Auch, daß Sie um sechs Uhr fortgingen und um neun Uhr wiederkamen, und auch daß Katerina Iwanowna an Ihrem Bette auf den Knien lag.«
Ssonja wurde verlegen.
»Es schien mir heute, als hätte ich ihn gesehen«, flüsterte sie unentschlossen.
»Wen denn?«
»Den Vater. Ich ging über die Straße, dort, nebenan, an der Ecke, gegen zehn, und es war mir, als sähe ich ihn vor mir gehen. Er sah ganz so aus. Ich wollte schon zu Katerina Iwanowna hinaufgehen ...«
»Waren Sie spazieren gegangen?«
»Ja,« flüsterte Ssonja kurz, wieder verlegen und mit gesenkten Augen.
»Katerina Iwanowna hat Sie doch beinahe geschlagen, als Sie noch beim Vater lebten?«
»Ach nein, was fällt Ihnen ein, nein!« sagte Ssonja und blickte ihn erschrocken an.
»Sie lieben sie also?«
»Sie? Aber gewiß!« antwortete Ssonja gedehnt und klagend und faltete plötzlich mit schmerzlichem Ausdruck die Hände. »Ach, Sie kennen sie nicht ... Wenn Sie nur wüßten, sie ist doch ganz wie ein Kind ... Sie ist ja geistesgestört ... vor Kummer. Wie klug sie aber war ... und wie großmütig ... wie gut! Sie wissen nichts, nichts ... ach!«
Ssonja sagte dies wie in Verzweiflung, erregt, schmerzvoll und händeringend. Ihre bleichen Wangen glühten wieder, in ihren Augen drückte sich eine Qual aus. Es war ihr anzusehen, daß er in ihr vieles aufgewühlt hatte, daß sie furchtbar gern etwas aussprechen, sagen, für die Stiefmutter eintreten wollte. Ein unersättliches Mitleid, wenn man so sagen darf, drückte sich plötzlich in ihren Gesichtszügen aus.
»Die soll mich geschlagen haben! Was sagen Sie bloß! Mein Gott, sie soll mich schlagen! Und wenn sie mich auch geschlagen hätte, was wäre denn dabei? Sie wissen nichts, gar nichts ... Sie ist so unglücklich, ach, wie unglücklich! Und krank ... Sie sucht Gerechtigkeit ... Sie ist rein. Sie glaubt so fest, daß in allen Dingen Gerechtigkeit sein muß, und sie verlangt sie ... Man kann sie noch so quälen, sie wird nichts Ungerechtes tun. Sie merkt selbst nicht, daß im Leben nicht immer alles gerecht sein kann, und sie ist so gereizt ... Wie ein Kind, wie ein Kind! Sie ist gerecht, sie ist gerecht!«
»Und was wird mit Ihnen geschehen?«
Ssonja sah ihn fragend an.
»Sie haben sie jetzt nun ganz auf dem Halse. Allerdings war es auch früher so, und der Verstorbene kam sogar zu Ihnen, um Geld für einen Schnaps zu bitten. Nun, und was wird jetzt sein?«
»Ich weiß nicht«, versetzte Ssonja traurig.
»Bleiben die dort?«
»Ich weiß nicht, sie schulden noch für die Wohnung; aber ich habe gehört, die Wirtin hätte heute gesagt, daß sie ihr kündigen will, und Katerina Iwanowna sagt, daß sie selbst keinen Augenblick länger in der Wohnung bleiben will.«
»Warum tut sie so stolz? Baut sie auf Sie?«
»Ach, nein, sprechen Sie nicht so! ... Wir leben sowieso vom gleichen Geld.« Ssonja regte sich wieder auf und zürnte sogar; es war genau so, wie wenn ein Kanarienvogel oder ein anderes kleines Vögelchen in Wut gerät. »Was soll sie nun machen? Was, was soll sie tun?« fragte sie hitzig und erregt. »Und wieviel, wieviel hat sie heute geweint! Sie ist ganz verstört, haben Sie es noch nicht bemerkt? Sie ist ganz verstört; bald regt sie sich wie ein Kind darüber auf, daß morgen alles anständig sei, der Imbiß und das übrige ... bald ringt sie die Hände, spuckt Blut, weint, schlägt plötzlich die Stirne gegen die Wand wie in Verzweiflung. Dann tröstet sie sich wieder, sie hofft immer auf Sie: sie sagt, daß Sie jetzt ihr Helfer seien; daß sie sich irgendwo etwas Geld leihen und mit mir in ihre Heimatstadt reisen wird; dort will sie ein Pensionat für junge Mädchen aus guten Familien gründen und mich als Aufseherin anstellen; dann wird für uns ein neues schönes Leben beginnen. Und sie küßt, sie umarmt und tröstet mich –, und wie fest sie an alle diese Phantasien glaubt! Nun, kann man ihr denn widersprechen? Und heute wäscht, scheuert und flickt sie den ganzen Tag, hat den Waschtrog ganz allein mit ihrer schwachen Kraft ins Zimmer hereingeschleppt, da ging ihr aber der Atem aus, und sie fiel aufs Bett. Und morgens gingen wir zusammen in die Läden, um Poljetschka und Lena neue Schuhchen zu kaufen, denn die alten waren ganz auseinandergefallen; doch das Geld reichte uns nicht, um die Rechnung zu bezahlen, es fehlte uns noch sehr viel dazu; sie hat aber so hübsche kleine Schuhchen ausgesucht, denn sie hat Geschmack, Sie wissen es nicht ... Und sie fing im Laden, vor dem Kaufmann zu weinen an, weil das Geld ihr nicht gereicht hatte ... Es war ein Jammer, es zu sehen.«
»Nun, nach alledem ist es begreiflich, daß Sie ... so leben«, sagte Raskolnikow mit bitterem Lächeln.
»Und haben Sie denn kein Mitleid? Gar kein Mitleid?« fuhr Ssonja wieder auf. »Ich weiß ja, Sie haben selbst Ihr Letztes hergegeben, noch ehe Sie überhaupt etwas gesehen haben. Und wenn Sie es erst gesehen hätten, mein Gott! Und wie oft, wie oft habe ich sie zu Tränen gebracht! Erst in der vorigen Woche ... Ach, ich! ... Bloß eine Woche vor seinem Tode. Es war grausam von mir! Und wie oft, wie oft habe ich es schon getan. Ach, wie weh tat es mir, heute den ganzen Tag daran zu denken!«
Als Ssonja das sagte, rang sie in schmerzlicher Erinnerung die Hände.
»Sie wollen grausam sein?«
»Ja, ich, ich! Ich kam damals hin,« fuhr sie weinend fort, »und der Verstorbene sagte mir: ›Lies mir was vor, Ssonja, mein Kopf tut mir so weh ... hier ist ein Buch ...‹ Er hatte irgendein Buch von Andrej Ssemjonowitsch Lebesjatnikow; der wohnt hier und hat immer solch komische Bücher. Ich aber sagte: ›Ich muß gehen‹, und las ihm nichts vor; ich war aber hauptsächlich darum zu ihnen gekommen, um Katerina Iwanowna meine neuen Kragen zu zeigen; die Händlerin Lisaweta hatte mir Kragen und Manschetten zu billigem Preise gebracht, hübsche, ganz neue Sachen, mit einem Muster. Und Katerina Iwanowna gefielen sie sehr gut: sie legte einen an, besah sich im Spiegel, und er gefiel ihr sehr, sehr gut. ›Schenk mir so einen Kragen, Ssonja,‹ sagte sie, ›bitte!‹ Sie sagte sogar ›bitte‹ – so gut gefiel er ihr. Wann soll sie aber solche Kragen tragen? Sie erinnerte sich eben der alten, glücklichen Zeiten. Sie besieht sich im Spiegel und freut sich; sie hat aber gar keine Kleider, gar keine Sachen, so viele Jahre schon! Niemals bittet sie aber jemand um etwas; so stolz ist sie, eher gibt sie selbst ihr Letztes weg, aber diesmal bat sie mich: so sehr gefiel ihr der Kragen! Mir aber tat es leid, ihr den Kragen zu schenken. ›Was brauchen Sie ihn, Katerina Iwanowna?‹ Wörtlich so sagte ich ihr: ›Was brauchen Sie ihn?‹ Das hätte ich nicht sagen sollen! Sie sah mich so an und wurde so traurig, weil ich es ihr abgeschlagen hatte, und es war so ein Jammer, sie anzusehen ... ... Nicht des Kragens wegen war sie so traurig, sondern weil ich ihn ihr abgeschlagen hatte, das sah ich. Ach, wenn ich das alles ändern, wenn ich meine Worte zurücknehmen könnte ... Ach, ich ... Aber was soll ich davon sprechen? Ihnen ist es doch gleichgültig!«
»Haben Sie die Händlerin Lisaweta gekannt?«
»Ja ... Haben Sie sie denn auch gekannt?« fragte Ssonja mit einigem Erstaunen.
»Katerina Iwanowna hat die Schwindsucht, es steht sehr schlimm um sie, sie wird bald sterben«, sagte Raskolnikow nach einem Schweigen, ohne ihre Frage beantwortet zu haben.
»Ach, nein, nein, nein!«
Und Ssonja ergriff mit unbewußter Gebärde seine beiden Hände, als flehte sie ihn an, daß es nicht so schlimm sei.
»Es ist doch besser, wenn sie stirbt.«
»Nein, es ist nicht besser, nicht besser, gar nicht besser!« wiederholte sie erschrocken, halb unbewußt.
»Und die Kinder? Wo wollen Sie denn die hintun, wenn nicht zu sich nehmen?«
»Ach, ich weiß es nicht!« rief Ssonja fast in Verzweiflung und griff sich an den Kopf.
Es war ihr anzusehen, daß dieser Gedanke ihr schon oft gekommen war und daß er ihn in ihr wieder aufgewühlt hatte.
»Nun, und wenn Sie noch bei Katerina Iwanownas Lebzeiten krank werden und ins Krankenhaus kommen, was wird dann sein?« drang er erbarmungslos in sie ein.
»Ach was sagen Sie, was sagen Sie! Das kann nicht sein! ...«
Und Ssonjas Gesicht verzerrte sich vor furchtbarem Schrecken.
»Warum kann es nicht sein?« fuhr Raskolnikow mit trockenem Lächeln fort. »Sie sind doch nicht gefeit! Was wird dann mit ihnen geschehen? Sie werden alle zusammen auf die Straße gehen, sie wird husten und betteln und irgendwo mit dem Kopf an eine Mauer schlagen, wie heute, und die Kinder werden weinen ... Dann wird sie umfallen, man wird sie aufs Revier und dann ins Krankenhaus schaffen, sie wird sterben, und die Kinder ...«
»Ach, nein! ... Gott wird es nicht zulassen!« entrang es sich plötzlich der zusammengepreßten Brust Ssonjas.
Sie hörte zu, sah ihn dabei flehend an und faltete in stummem Gebet die Hände, als hinge alles von ihm ab.
Raskolnikow stand auf und begann auf und ab zu gehen. Es verging eine Minute. Ssonja stand mit gesenktem Kopf und herabhängenden Armen, in schrecklichem Grame da.
»Kann man denn nicht sparen? Etwas auf die Seite tun, um es in der Not zu haben?« fragte er, plötzlich vor ihr stehenbleibend.
»Nein«, flüsterte Ssonja.
»Natürlich, nein! Haben Sie es schon versucht?« fügte er beinahe spöttisch hinzu.
»Ich habe es versucht.«
»Und es gelang Ihnen nicht! Na, natürlich! Was ist da noch zu fragen?«
Und er ging wieder durchs Zimmer. Es verstrich noch eine Minute.
»Sie nehmen wohl nicht jeden Tag was ein?«
Ssonja wurde noch mehr verlegen, und ihr Gesicht rötete sich wieder.
»Nein«, flüsterte sie mit schmerzlicher Anstrengung.
»Poljetschka wird es sicher ebenso gehen«, sagte er plötzlich.
»Nein! Nein! Es kann nicht sein! Nein!« schrie Ssonja laut, ganz verzweifelt, als hätte man sie mit einem Messer verwundet. »Gott, Gott wird diesen Schrecken nicht zulassen! ...«
»Bei anderen läßt er es doch zu.«
»Nein, nein! Gott wird sie schützen, Gott! ...« wiederholte sie ganz außer sich.
»Ja, vielleicht gibt es gar keinen Gott«, antwortete Raskolnikow mit Schadenfreude und sah sie lachend an.
Ssonjas Gesicht veränderte sich furchtbar und verzerrte sich wie in einem Krampfe. Mit einem unsagbaren Vorwurf sah sie ihn an, wollte schon etwas sagen, konnte aber kein Wort herausbringen und begann nur bitterlich zu weinen, das Gesicht mit den Händen bedeckend.
»Sie sagen, Katerina Iwanowna werde verrückt; Sie werden selbst verrückt«, sagte er nach einem Schweigen.
Es vergingen fünf Minuten. Er ging immer schweigend auf und ab und sah sie nicht an. Endlich ging er auf sie zu, seine Augen funkelten. Er ergriff sie mit beiden Händen an den Schultern und sah ihr gerade ins weinende Gesicht. Sein Blick war trocken, fieberhaft, durchdringend, seine Lippen bebten ... Plötzlich beugte er sich ganz nieder, warf sich zu Boden und küßte ihren Fuß. Ssonja taumelte entsetzt vor ihm zurück, wie vor einem Verrückten. Er sah wirklich ganz wie ein Verrückter aus.
»Was tun Sie, was tun Sie? Vor mir!« murmelte sie erbleichend, und ihr Herz krampfte sich plötzlich schmerzhaft zusammen.
Er erhob sich bleich wie der Tod.
»Ich habe mich nicht vor dir verbeugt, ich habe mich vor dem ganzen menschlichen Leid verbeugt«, sagte er wie wahnsinnig und ging zum Fenster. »Hör mal,« fügte er hinzu, als er nach einem Augenblick zu ihr zurückkehrte, »ich habe vorhin einem Menschen, der mich beleidigt hat, gesagt, daß er deinen kleinen Finger nicht wert sei ... und daß ich meiner Schwester heute eine Ehre erwiesen habe, indem ich sie neben dich setzte!«
»Ach, wozu haben Sie das gesagt! Und war sie dabei?« rief Ssonja erschrocken. »Neben mir zu sitzen – eine Ehre! Ich bin doch ... ehrlos ... Ach, was haben Sie gesagt!«
»Ich habe das von dir nicht wegen der Ehrlosigkeit und der Sünde gesagt, sondern wegen deines großen Leides. Daß du aber eine große Sünderin bist, das stimmt«, fügte er begeistert hinzu. »Am meisten bist du aber darum Sünderin, weil du dich umsonst getötet und verkauft hast. Ob das entsetzlich ist! Ob das kein Grauen ist, daß du in diesem Schmutze lebst, den du so haßt, und zugleich weißt (man braucht nur die Augen zu öffnen), daß du damit niemand hilfst und niemand rettest! So sage mir doch endlich,« sagte er beinahe rasend, »wie bloß diese Schande und Gemeinheit neben den entgegengesetzten, heiligen Gefühlen in dir wohnen können?! ... Es wäre doch gerechter, tausendmal gerechter und vernünftiger, sich kopfüber ins Wasser zu stürzen und allem auf einmal ein Ende zu machen!«
»Und was wird mit ihnen geschehen?« fragte Ssonja mit schwacher Stimme und blickte ihn gequält an; zugleich schien sie aber über seinen Vorschlag gar nicht erstaunt.
Raskolnikow blickte sie eigentümlich an.
Er hatte in ihrem Blicke alles gelesen. Also hatte sie auch schon selbst diesen Gedanken gehabt. Vielleicht hatte sie in der Verzweiflung schon oft und ernsthaft überlegt, wie sie diesem Leben schnell ein Ende machen könnte, – so ernsthaft, daß sie jetzt über seinen Vorschlag fast gar nicht erstaunt war. Sie hatte sogar die Grausamkeit seiner Worte nicht bemerkt (den Sinn seiner Vorwürfe und seine eigentümliche Ansicht über ihre Schande hatte sie natürlich auch nicht begriffen, das konnte er sehen). Er aber begriff vollkommen, bis zu welchem grauenhaften Schmerz sie schon seit langem der Gedanke an ihre ehrlose und schmachvolle Lage gequält hatte. Was konnte aber, fragte er sich, sie in ihrem Entschluß, allem auf einmal ein Ende zu machen, aufhalten? Und jetzt erst begriff er vollkommen, was für sie diese kleinen armen Waisenkinder, diese unglückliche, halbverrückte Katerina Iwanowna mit ihrer Schwindsucht und mit ihrem Kopfandiewandschlagen bedeuteten.
Und doch war es ihm klar, daß Ssonja mit ihrem Charakter und der Bildung, die sie immerhin genossen hatte, unmöglich in dieser Lage bleiben durfte. Doch war es ihm noch immer unbegreiflich: Wie hatte sie so lange schon diese Lage ertragen können, ohne verrückt zu werden, wenn sie schon nicht die Kraft besaß, ins Wasser zu gehen? Er begriff natürlich, daß Ssonjas Lage in der Gesellschaft eine zufällige war, wenn auch leider bei weitem keine vereinzelte und ausschließliche. Doch diese Zufälligkeit, ihre Bildung und ihr ganzes vorheriges Leben hätten sie doch sofort beim ersten Schritt auf diesem häßlichen Wege töten müssen. Was stützte sie denn? Doch nicht das Laster? Diese ganze Schande hatte sie offenbar nur mechanisch berührt; die echte Verderbtheit war noch mit keinem Tropfen in ihr Herz gedrungen; das sah er; sie stand wie durchsichtig vor ihm ...
– Sie hat drei Wege vor sich – dachte er –, entweder in den Kanal zu springen, oder ins Irrenhaus zu kommen, oder ... oder sich schließlich ganz ins Laster, das den Verstand betäubt und das Herz versteinert, zu stürzen. –
Der letzte Gedanke war ihm am widerwärtigsten; er war aber schon skeptisch, er war jung, pflegte abstrakt zu denken und war folglich grausam; darum mußte er glauben, daß der letzte Ausweg, das heißt das Laster, der wahrscheinlichste sei.
– Aber ist es denn wirklich wahr?! – rief er innerlich aus, – wird auch dieses Geschöpf, das noch die Reinheit des Geistes bewahrt hat, sich bewußt in diese schreckliche, stinkende Kloake hineinziehen lassen?! Hat denn dieses Hineinziehen schon angefangen, hat sie es bisher vielleicht nur darum aushalten können, weil das Laster ihr nicht mehr so abscheulich schien? Nein, nein, es kann nicht sein! – wiederholte er vor sich hin, wie Ssonja früher. – Nein, vom Kanal hat sie bisher der Gedanke an die Sünde zurückgehalten und das Unglück jener... Und wenn sie bisher noch nicht verrückt geworden ist ... Wer sagt aber, daß sie es noch nicht ist? Ist sie denn bei klarem Verstand? Kann man denn so sprechen, wie sie spricht? Kann man denn bei klarem Verstand so urteilen, wie sie urteilt? Kann man denn so über dem Abgrund, über der stinkenden Kloake, in die man schon hineingezogen wird, sitzen, abwehrend mit den Händen winken und sich die Ohren zuhalten, wenn man zu ihr von der Gefahr spricht? Wartet sie vielleicht auf ein Wunder? Es ist sicher so. Sind das nicht schon Anzeichen von Wahnsinn? –
Er klammerte sich hartnäckig an diesen Gedanken. Dieser Ausweg erschien ihm sogar besser als jeder andere. Er fing an, sie aufmerksam zu betrachten.
»Also betest du viel zu Gott, Ssonja?« fragte er sie.
Ssonja schwieg. Er stand neben ihr und wartete auf Antwort.
»Was wäre ich denn ohne Gott?« flüsterte sie schnell und energisch, indem sie ihn flüchtig mit funkelnden Augen ansah und seine Hand fest drückte.
– Gewiß ist es so! – dachte er.
»Und was tut dir Gott dafür?« fragte er sie weiter aus.
Ssonja schwieg lange, als wüßte sie keine Antwort. Ihre schwache Brust hob und senkte sich vor Erregung.
»Schweigen Sie! Fragen Sie nicht! Sie sind es nicht wert ...« rief sie plötzlich und sah ihn streng und zornig an.
– Es ist sicher so! Es ist sicher so! – wiederholte er hartnäckig vor sich hin.
»Alles tut er!« flüsterte sie schnell und senkte wieder die Augen.
– Das ist der Ausweg! Das ist die Erklärung des Ausweges! – sagte er sich, indem er sie mit gierigem Interesse betrachtete.
Mit einem neuen, seltsamen, fast krankhaften Gefühl betrachtete er dieses bleiche, magere, unregelmäßige, eckige Gesichtchen, diese sanften blauen Augen, die in solchem Feuer, in so strengem, energischem Gefühl zu funkeln verstanden, diesen kleinen Körper, der noch immer vor Empörung und Zorn bebte, und dies alles erschien ihm immer sonderbarer, beinahe unmöglich. – Sie ist wahnsinnig, eine Närrin in Christo! – wiederholte er vor sich hin.
Auf der Kommode lag ein Buch. So oft er im Auf-und Abgehen vorbeikam, sah er es; jetzt nahm er es in die Hand. Es war ein Neues Testament in russischer Übersetzung. Das Buch war alt und gebraucht, in Leder gebunden.
»Wo hast du es her?« rief er ihr vom anderen Ende des Zimmers zu.
Sie stand noch immer auf dem gleichen Fleck, drei Schritte vom Tisch.
»Man hat es mir gebracht«, antwortete sie unwillig und ohne ihn anzublicken.
»Wer hat es gebracht?«
»Lisaweta hat es gebracht, ich habe sie darum gebeten.«
– Lisaweta! Seltsam! – dachte er.
Bei Ssonja erschien ihm alles von Augenblick zu Augenblick sonderbarer und wunderlicher. Er ging mit dem Buch zur Kerze und begann darin zu blättern.
»Wo steht hier die Geschichte von Lazarus?« fragte er.
Ssonja blickte starr zu Boden und antwortete nicht. Sie stand seitwärts vom Tisch.
»Wo steht es von der Auferstehung des Lazarus? Such es mir, Ssonja.«
Sie streifte ihn mit einem Blick.
»Sie suchen nicht an richtiger Stelle ... es steht im vierten Evangelium ...« flüsterte sie streng, ohne sich ihm zu nähern.
»Such es und lies mir vor«, sagte er. Er setzte sich, legte die Ellbogen auf den Tisch, stützte den Kopf in eine Hand, richtete den ernsten Blick zur Seite und schickte sich an, zuzuhören.
– Nach drei Wochen ist sie im Irrenhause! Ich glaube, ich komme auch selbst hin, wenn es nicht noch schlimmer wird – murmelte er vor sich hin.
Nachdem Ssonja den sonderbaren Wunsch Raskolnikows mißtrauisch angehört hatte, trat sie unentschlossen an den Tisch. Sie nahm aber das Buch in die Hand.
»Haben Sie es denn nicht gelesen?« fragte sie ihn, indem sie ihn über den Tisch finster ansah.
Ihre Stimme klang immer strenger und ernster.
»Vor langer Zeit ... Als ich noch lernte. Lies!«
»Haben Sie es denn nicht in der Kirche gehört?«
»Ich ... ich ging nie zur Kirche. Gehst du oft hin?«
»N-ein«, flüsterte Ssonja.
Raskolnikow lächelte.
»Ich verstehe ... Wirst also auch morgen zur Beerdigung des Vaters nicht hingehen?«
»Ich werde gehen. Ich war auch in der vorigen Woche da ... habe eine Totenmesse lesen lassen.«
»Für wen?«
»Für Lisaweta. Man hat sie mit einem Beil erschlagen.«
Seine Nerven wurden immer gereizter. Der Kopf begann ihm zu schwindeln.
»Warst du mit Lisaweta befreundet?«
»Ja ... Sie war gerecht ... sie besuchte mich ... selten ... es ging nicht gut ... Wir lasen zusammen und ... sprachen. Sie wird Gott schauen.«
So seltsam klangen diese aus den Büchern geschöpften Worte, und diese Neuigkeit: sie hatte mit Lisaweta irgendwelche geheimnisvolle Zusammenkünfte gehabt, und beide waren wahnsinnig, Närrinnen in Christo.
– Hier kann man selbst verrückt werden! Es ist ansteckend! – dachte er.
»Lies!« rief er plötzlich trotzig und gereizt.
Ssonja schwankte noch immer. Ihr Herz klopfte. Sie hatte keinen Mut, ihm vorzulesen. Fast mit Qual sah er die »unglückliche Verrückte« an.
»Warum wollen Sie es? Sie glauben doch nicht! ...« flüsterte sie leise und um Atem ringend.
»Lies! Ich will es so!« bestand er. »Du hast doch der Lisaweta vorgelesen.«
Ssonja schlug das Buch auf und fand die Stelle. Ihre Hände zitterten, ihre Stimme versagte. Zweimal fing sie an und stockte immer beim ersten Wort.
»Es lag aber einer krank mit Namen Lazarus von Bethanien ...« sagte sie endlich mit Anstrengung, doch beim dritten Wort erzitterte plötzlich ihre Stimme und riß wie eine überspannte Saite. Der Atem stockte, und die Brust schnürte sich zusammen.
Raskolnikow begriff zum Teil, warum Ssonja sich nicht entschließen konnte, ihm vorzulesen, und je mehr er es begriff, um so roher und gereizter bestand er darauf. Er begriff zu gut, wie schwer es ihr jetzt fiel, das Eigene zu verraten und zu enthüllen. Er begriff, daß diese Gefühle tatsächlich ihr wahres Geheimnis bildeten, daß sie vielleicht schon seit langem, seit der Kindheit, schon in der Familie neben dem unglücklichen Vater und der vor Kummer wahnsinnig gewordenen Stiefmutter, unter den hungrigen Kindern, den häßlichen Schreien und Vorwürfen gehegt hatte. Zugleich erfuhr er aber jetzt, erfuhr es ganz sicher, daß sie, so sehr sie sich auch grämte und etwas fürchtete, als sie jetzt zu lesen begann, dabei doch eine schmerzvolle Lust empfand, ihm vorzulesen, trotz ihres Grams und trotz aller Befürchtungen; und gerade ihm, damit er es höre, und unbedingt jetzt – was später auch kommen mochte! ... Er las es in ihren Augen, er erkannte es an ihrer verzückten Erregung! ... Sie überwand sich, überwand den Krampf im Halse, der am Anfang des Verses ihr die Stimme benommen hatte, und las weiter im elften Kapitel des Evangeliums Johannis. Und so kam sie bis zum 19. Vers:
»Und viel Juden waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder. Als Martha nun hörte, daß Jesus kommt, gehet sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesus: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben; aber ich weiß auch noch, das, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.«
Hier hielt sie wieder inne, da sie schamhaft ahnte, daß ihre Stimme wieder zittern und versagen würde ...
»Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder soll auferstehen. Martha spricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er aufstehen wird in der Auferstehung am Jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu ihm (Ssonja holte wie mit Schmerz Atem und las deutlich und mit Kraft, als verkündete sie es selbst allen Ohren): Herr, ja! Ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen ist.«
Sie hielt wieder inne, sah ihn schnell an, überwand sich aber und las weiter. Raskolnikow saß und hörte zu, ohne sich zu rühren, ohne sich umzuwenden, die Ellbogen auf dem Tisch, den Blick auf die Seite gerichtet. So kamen sie zum 32. Vers:
»Als nun Maria kam, da Jesus war, und sah ihn, fiel sie zu seinen Füßen und sprach zu ihm: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Als Jesus sie sah weinen und die Juden auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist und betrübte sich selbst und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und sieh es. Und Jesus gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er ihn so lieb gehabt! Etliche aber unter ihnen sprachen: Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, daß auch dieser nicht stürbe?«
Raskolnikow wandte sich zu ihr um und sah sie erregt an. Ja, so ist es! Sie zitterte schon ganz in wirklichem, echtem Fieber. Er hatte es erwartet. Sie näherte sich der Stelle vom wirklichen und unerhörten Wunder, und das Gefühl des größten Triumphes umfing sie ganz. Ihre Stimme klang hell wie Metall; Triumph und Freude klangen in ihr und machten sie stark. Die Zeilen vermischten sich vor ihr, denn es wurde ihr dunkel vor den Augen, aber sie kannte auswendig, was sie las. Bei dem letzten Vers: »Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat ...« dämpfte sie die Stimme und gab heiß und leidenschaftlich den Zweifel, Vorwurf und das Schmähen der ungläubigen, blinden Juden wieder, die gleich, wie vom Donner getroffen, niederfallen und schluchzen und glauben werden ... Auch er, er ist blind und ungläubig, auch er wird es gleich hören – und glauben – ja! jetzt gleich, jetzt gleich – sagte sie sich, und sie zitterte in freudiger Erregung.
»Da ergrimmte Jesus abermals in ihm selbst, und kam zum Grabe. Es war aber eine Kluft, und ein Stein darauf gelegt. Jesus sprach: Hebt den Stein ab! Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon, denn er ist vier Tage gelegen.«
Sie betonte energisch das Wort vier.
»Jesus spricht zu ihr: Hab ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen? Da huben sie den Stein ab, da der Verstorbene lag. Jesus aber hub seine Augen empor und sprach: Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast; doch ich weiß, daß du mich allezeit hörest; aber um des Volks willen, das umherstehet, sage ich's, daß sie glauben, du habest mich gesandt. Da er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus« (laut und begeistert las sie es, zitternd und erschauernd, als sähe sie es mit eigenen Augen), »gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Angesicht verhüllet mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löset ihn auf und lasset ihn gehen.«
»Viel nun der Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.«
Weiter las sie nicht und konnte auch nicht lesen. Sie schloß das Buch und stand schnell vom Stuhle auf.
»Das ist alles über die Auferstehung des Lazarus«, flüsterte sie kurz und streng und blieb unbeweglich stehen, zur Seite blickend, als wagte sie nicht oder schämte sich, die Augen zu ihm zu erheben. Sie zitterte noch immer wie im Fieber. Der Lichtstumpf im verbogenen Leuchter war schon längst heruntergebrannt und flackerte, sein trübes Licht über dieses armselige Zimmer und den Mörder und die Dirne ergießend, die sich so seltsam beim Lesen des ewigen Buches zusammengefunden hatten. Es vergingen noch fünf Minuten oder mehr.
»Ich bin gekommen, um über etwas Wichtiges zu sprechen«, sagte plötzlich Raskolnikow laut und düster. Er stand auf und ging auf Ssonja zu.
Sie erhob schweigend die Augen zu ihm. Sein Blick war besonders streng, und eine wilde Entschlossenheit drückte sich in seinen Augen aus.
»Ich habe heute die Meinigen verlassen,« sagte er, »Mutter und Schwester ... Ich gehe nicht mehr zu ihnen ... Ich habe alles zerrissen.«
»Warum?« fragte Ssonja ganz bestürzt.
Ihre Begegnung mit seiner Mutter und der Schwester am Morgen hatte auf sie einen ungewöhnlichen Eindruck gemacht, über den sie sich selbst nicht klar war. Die Nachricht vom Bruche mit ihnen hörte sie fast mit Entsetzen.
»Jetzt habe ich dich allein«, fügte er hinzu. »Laß uns zusammen gehen ... Ich bin zu dir gekommen. Wir sind zusammen verdammt und wollen nun auch zusammen gehen!«
Seine Augen funkelten. – Wie ein Verrückter! – dachte nun Ssonja ihrerseits.
»Wohin gehen?« fragte sie erschrocken und wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Woher soll ich's wissen? Ich weiß nur, daß wir den gleichen Weg haben, das weiß ich sicher, und sonst nichts. Das gleiche Ziel!«
Sie sah ihn an und verstand nicht. Sie begriff nur, daß er entsetzlich, grenzenlos unglücklich war.
»Keiner von ihnen wird etwas verstehen, wenn du zu ihnen sprichst,« fuhr er fort, »ich aber habe dich verstanden. Ich brauche dich, und darum bin ich zu dir gekommen.«
»Ich verstehe nicht ...« flüsterte Ssonja.
»Du wirst später verstehen. Hast du denn nicht dasselbe getan? Auch du hast es übertreten ... hast es übertreten können ... Du hast Hand an dich gelegt, du hast ein Leben zugrunde gerichtet ... dein Leben (es ist dasselbe!). Du hättest von Geist und Verstand leben können, du wirst aber auf dem Heumarkte enden ... Du wirst es aber nicht aushalten können, und wenn du allein bleibst, wirst du den Verstand verlieren wie ich auch. Du bist auch jetzt schon wie wahnsinnig: also müssen wir zusammen gehen, den gleichen Weg! Laß uns gehen!«
»Warum? Wozu das alles?« sagte Ssonja, durch seine Worte seltsam tief bewegt.
»Wozu? Weil es nicht so bleiben darf – dazu! Man muß doch endlich ernst und offen überlegen, statt wie ein Kind zu weinen und zu klagen, daß Gott es nicht zulassen werde! Nun, was wird sein, wenn man dich morgen tatsächlich ins Krankenhaus schleppt? Jene ist nicht bei Verstand und schwindsüchtig, sie wird bald sterben. Und die Kinder? Wird nicht auch Poljetschka zugrundegehen? Hast du denn hier an den Straßenecken nicht die Kinder gesehen, die von ihren Müttern zum Betteln geschickt werden? Ich habe mich erkundigt, wo diese Mütter wohnen und wie sie leben. Dort können die Kinder nicht Kinder bleiben. Dort ist der Siebenjährige verdorben und ein Dieb. Die Kinder sind aber Abbilder Christi: ›Ihrer ist das Himmelreich.‹ Er hat geboten, sie zu achten und zu lieben, sie sind die künftige Menschheit ...«
»Was, was soll man tun?« fragte Ssonja, indem sie hysterisch weinte und die Hände rang.
»Was man tun soll? Was nötig ist, ein für allemal brechen und sonst nichts: und das Leid auf sich nehmen! Was? Du verstehst es nicht? Wirst es später verstehen ... ... Die Freiheit und die Macht, vor allen Dingen die Macht! Die Macht über alle zitternde Kreatur und über den ganzen Ameisenhaufen ... Das ist das Ziel! Begreife das! Diese Worte gebe ich dir auf den Weg! Vielleicht spreche ich jetzt zum letztenmal mit dir. Wenn ich morgen nicht komme, wirst du selbst alles hören, und dann gedenke meiner heutigen Worte. Und irgendwann, später, nach Jahren, wenn du noch länger gelebt hast, wirst du vielleicht begreifen, was sie bedeuteten. Wenn ich aber morgen komme, so werde ich dir sagen, wer Lisaweta ermordet hat. Lebe wohl!«
Ssonja erbebte vor Schreck am ganzen Leibe.
»Wissen Sie denn, wer sie ermordet hat?« fragte sie, vor Entsetzen erschauernd und ihn wie wahnsinnig anblickend.
»Ich weiß es und werde es sagen ... Dir, nur dir allein. Ich habe dich auserwählt. Ich werde nicht zu dir kommen, um um Verzeihung zu bitten, sondern ich werde es einfach sagen. Ich habe dich schon längst auserwählt, um es dir zu sagen; damals noch, als dein Vater mir von dir erzählte und als Lisaweta noch lebte, dachte ich es mir. Lebe wohl! Gib mir nicht die Hand. Morgen!«
Er ging hinaus. Ssonja sah ihm wie einem Wahnsinnigen nach; sie war aber auch selbst wie wahnsinnig, und sie fühlte es. Der Kopf schwindelte ihr. – Mein Gott! Wie kann er wissen, wer Lisaweta ermordet hat? Was bedeuten diese Worte? Es ist so schrecklich! – Aber der Gedanke kam ihr nicht in den Sinn. Nein, er wollte nicht kommen! ... – Oh, er muß furchtbar unglücklich sein! ... Er hat Mutter und Schwester verlassen. Warum? Was ist geschehen? Und was hat er im Sinn? Was hat er ihr gesagt? Er hat ihr den Fuß geküßt und gesagt ... gesagt (ja, er hat es deutlich gesagt), daß er ... ohne sie nicht mehr leben kann ... O Gott! –
Ssonja verbrachte die ganze Nacht in Fieber und Fieberträumen. Sie sprang zuweilen auf, weinte, rang die Hände und verfiel dann wieder in fieberhafte Träume. Sie träumte von Poljetschka, Katerina Iwanowna, Lisaweta, von der Vorlesung aus dem Evangelium und von ihm ... von ihm mit dem bleichen Gesicht und den brennenden Augen ... Er küßt ihr die Füße, weint ... O Gott!
Hinter der Tür rechts, hinter derselben Tür, die Ssonjas Wohnung von der Wohnung der Gertrude Karlowna Rößlich trennte, befand sich ein seit langem leerstehendes Durchgangszimmer, das zur Wohnung der Frau Rößlich gehörte und das zu vermieten war, wie es auch die am Tore und an den Scheiben der auf den Kanal hinausgehenden Fenster angeklebten Zettel besagten. Ssonja war seit langem gewöhnt, dieses Zimmer für unbewohnt zu halten. Und doch hatte während der ganzen Zeit an der Tür des leeren Zimmers Herr Swidrigailow gestanden und heimlich zugehört. Als Raskolnikow fortgegangen war, stand er noch eine Weile sinnend da, ging dann auf den Fußspitzen in sein Zimmer, das neben dem leeren lag, holte einen Stuhl und brachte ihn leise zur Tür, die in Ssonjas Zimmer führte. Das Gespräch erschien ihm sehr unterhaltend und bedeutungsvoll, es gefiel ihm sehr gut –, es gefiel ihm so sehr, daß er den Stuhl hinbrachte, um in Zukunft, zum Beispiel morgen, sich nicht wieder der Unannehmlichkeit auszusetzen, eine ganze Stunde stehen zu müssen, sondern um sich komfortabler einzurichten, um in jeder Beziehung volle Befriedigung zu finden.
Als Raskolnikow am nächsten Morgen punkt elf Uhr in das Haus des -schen Polizeireviers, in die Abteilung des Untersuchungsrichters kam und sich bei Porfirij Petrowitsch anmelden ließ, war er sogar erstaunt, daß er so lange warten mußte: es vergingen mindestens zehn Minuten, ehe man ihn endlich eintreten ließ. Nach seiner Berechnung mußte man sich aber sofort auf ihn stürzen. Indessen stand er im Warteraum, und verschiedene Menschen, die sich um ihn gar nicht zu kümmern schienen, gingen an ihm vorbei, auf und ab. Im nächsten Zimmer, das wie eine Kanzleistube aussah, saßen einige Schreiber bei ihrer Arbeit, und es war ihnen anzusehen, daß keiner von ihnen auch nur eine Ahnung davon hatte, wer und was Raskolnikow sei. Mit unruhigen und argwöhnischen Blicken beobachtete er alles um sich her und spähte aus, ob nicht irgendwo ein Wachtposten stehe, ob ihn nicht irgendein geheimnisvoller Blick bewache, daß er nicht weggehe. Es war aber nichts dergleichen: er sah bloß beschäftigte Kanzleigesichter und auch andere Menschen, aber keiner kümmerte sich um ihn: er hätte leicht wieder weggehen können. Immer mehr befestigte sich in ihm der Gedanke, daß, wenn dieser geheimnisvolle Mensch von gestern, dieses aus der Erde hervorgestiegene Gespenst wirklich alles wußte und alles gesehen hatte, – man ihm, Raskolnikow, doch nicht gestatten würde, hier so zu stehen und zu warten. Und hätte man auch bis elf Uhr gewartet, bis es ihm selbst einfallen würde, herzukommen? Also hatte jener Mensch noch keine Anzeige erstattet, oder ... oder er wußte selbst nichts und hatte mit eigenen Augen gar nichts gesehen (wie hätte er auch etwas sehen können?); folglich war alles, was er gestern erlebt hatte, nur eine von seiner gereizten und kranken Phantasie übertriebene Vision. Nachdem er sich dies alles wieder überlegt hatte und sich auf einen neuen Kampf gefaßt machte, fühlte er plötzlich, daß er zitterte, und er empörte sich bei dem Gedanken, daß er aus Furcht vor dem verhaßten Porfirij Petrowitsch zittere. Das Schrecklichste für ihn war ein Wiedersehen mit diesem Menschen; er haßte ihn grenzenlos, maßlos und fürchtete sogar, sich durch diesen Haß irgendwie zu verraten. Und so groß war seine Empörung, daß sie das Zittern sofort unterdrückte; er schickte sich an, mit einer kalten und herausfordernden Miene einzutreten, und gab sich das Wort, möglichst viel zu schweigen, zu beobachten und zu horchen und, wenigstens dieses eine Mal, um jeden Preis, seine krankhaft gereizte Natur zu überwinden. In diesem Augenblick rief man ihn zu Porfirij Petrowitsch.
Es zeigte sich, daß Porfirij Petrowitsch gerade ganz allein in seinem Arbeitszimmer war. Das Arbeitszimmer war weder klein noch groß; es befanden sich darin ein großer Schreibtisch vor einem mit Wachstuch bezogenen Sofa, ein Pult, ein Eckschrank und mehrere Stühle – lauter Staatseigentum aus poliertem gelben Holze. In einer Ecke an der Hinterwand oder, besser gesagt, an einem Bretterverschlage war eine verschlossene Tür: also befanden sich wohl hinter diesem Verschlag noch andere Räume. Als Raskolnikow eintrat, schloß Porfirij Petrowitsch sofort die Tür, durch die er gekommen war, und sie blieben allein. Er empfing seinen Gast scheinbar außerordentlich lustig und freundlich, und Raskolnikow merkte erst nach einigen Minuten an einigen Anzeichen, daß er irgendwie verlegen war, als hätte man ihn plötzlich aus dem Konzept gebracht oder auf etwas Geheimem ertappt.
»Ah, Verehrtester! Da sind Sie ja ... in unserem Reiche ...« begann Porfirij, ihm beide Hände entgegenstreckend. »Nun, nehmen Sie Platz, Väterchen! Oder Sie haben es vielleicht nicht gern, daß man Sie Verehrtester und Väterchen nennt – so ›tout court‹? Halten Sie es, bitte, nicht für eine Familiarität! Hierher, auf das Sofa.«
Raskolnikow setzte sich, ohne die Augen von ihm zu wenden.
›In unserem Reiche‹, die Entschuldigung wegen der Familiarität, das französische »tout court« usw ... das waren lauter charakteristische Anzeichen. – Er hat mir beide Hände entgegengestreckt, doch keine einzige gegeben, hat sie rechtzeitig zurückgezogen, – ging es ihm mißtrauisch durch den Sinn. Sie beobachteten einander; kaum aber trafen sich ihre Blicke, als sie beide so schnell wie ein Blitz voneinander wegsahen.
»Ich bringe Ihnen das Papier ... wegen der Uhr ... hier ist es. Ist es richtig aufgesetzt, oder muß ich es umschreiben?«
»Was? Ein Papierchen? So, so, machen Sie sich keine Sorgen, es ist richtig,« sagte Porfirij Petrowitsch, als hätte er große Eile; erst nachdem er das gesagt hatte, nahm er das Papier in die Hand und sah es durch. »Ja, es ist richtig. Mehr ist nicht nötig«, bestätigte er, sich überstürzend, und legte das Papier auf den Tisch.
Später, nach einer Minute, als er schon von etwas ganz anderem sprach, nahm er es vom Tisch und legte es auf das Pult.
»Sie sagten, glaube ich, gestern, daß Sie mich fragen möchten ... in aller Form ... über meine Bekanntschaft mit dieser ... Ermordeten?« fing Raskolnikow von neuem an.
– Nun, wozu habe ich dieses ›glaube ich‹ eingefügt? – durchfuhr es ihn wie der Blitz. – Und warum mache ich mir solche Sorge darüber, daß ich dieses ›glaube ich‹ eingefügt habe? – durchzuckte ihn wie der Blitz ein zweiter Gedanke.
Und plötzlich fühlte er, wie sein Argwohn nur infolge der bloßen Berührung mit Porfirij, nur nach zwei Worten, nur nach zwei Blicken in einem Nu ins Ungeheure gewachsen war ... und daß dies gefährlich werden könne: die Nerven werden gereizt, die Erregung wächst an. – Schlecht! Schlecht! ... Ich werde mich wieder versprechen.
»Ja, ja, ja! Machen Sie sich keine Sorgen! Wir haben Zeit, wir haben Zeit«, murmelte Porfirij Petrowitsch, indem er vor dem Tische auf und ab ging, doch ohne jedes Ziel: bald wandte er sich zum Fenster, bald zum Pult, bald wieder zum Tisch; bald wich er den mißtrauischen Blicken Raskolnikows aus, bald blieb er unbeweglich stehen und sah ihn unverwandt an.
Einen seltsamen Eindruck machte dabei seine kleine, dicke, runde Figur, die wie ein Gummiball hin und her rollte und von allen Wänden und Ecken abprallte.
»Wir haben Zeit, wir haben Zeit! ... Rauchen Sie nicht? Haben Sie nichts bei sich? Hier haben Sie ein Zigarettchen«, fuhr er fort, indem er dem Gast eine Zigarette reichte. »Wissen Sie, ich empfange Sie hier, meine Wohnung ist aber gleich hier hinter dem Verschlag ... es ist eine Dienstwohnung, ich wohne jetzt aber vorläufig in der Stadt. Es sind hier einige Reparaturen nötig. Nun ist fast alles fertig ... so eine Dienstwohnung ist eine feine Sache, nicht wahr? Wie meinen Sie?«
»Ja, eine feine Sache«, antwortete Raskolnikow und sah ihn fast spöttisch an.
»Eine feine Sache, eine feine Sache ...« wiederholte Porfirij Petrowitsch, als dächte er dabei an etwas ganz anderes. »Ja, eine feine Sache!« schrie er schließlich fast auf, indem er plötzlich Raskolnikow anblickte und zwei Schritte vor ihm stehen blieb.
Diese häufige, dumme Wiederholung, daß die Dienstwohnung eine feine Sache sei, widersprach in ihrer Banalität zu sehr dem ernsten, sinnenden und rätselhaften Blicke, den er jetzt auf seinen Gast richtete.
Dies aber stachelte die Wut Raskolnikows noch mehr auf, und er konnte sich unmöglich einer höhnischen und recht unvorsichtigen Herausforderung enthalten:
»Wissen Sie was?« fragte er plötzlich, indem er ihn fast frech anblickte und sich seiner Frechheit gleichsam freute. »Es gibt, glaube ich, so eine juristische Regel, so einen juristischen Kunstgriff – für alle Untersuchungsrichter, – zuerst von weither, mit Bagatellen, oder sogar mit etwas Ernstem, doch ganz Abseitsliegendem zu beginnen, um den zu Verhörenden sozusagen zu ermutigen oder richtiger zu zerstreuen, um seine Vorsicht einzuschläfern und ihn dann plötzlich auf ganz unerwartete Weise mit einer verhängnisvollen und gefährlichen Frage zu überfallen; stimmt das? Ich glaube, das steht auch heute noch in allen Vorschriften und Instruktionen als ein heiliges Gebot?«
»Ja, gewiß ... Sie glauben also, ich hätte Sie mit der Dienstwohnung ... wie?«
Als Porfirij Petrowitsch das sagte, kniff er die Augen zusammen und zwinkerte ihm zu; ein lustiger und verschlagener Ausdruck huschte über sein Gesicht, die Runzeln auf seiner Stirn glätteten sich, die Auglein wurden schmäler, die Gesichtszüge dehnten sich, und er brach plötzlich in ein nervöses, langandauerndes Lachen aus, das seinen ganzen Körper erzittern ließ; dabei blickte er Raskolnikow gerade in die Augen. Jener fing mit einiger Selbstüberwindung auch zu lachen an; als aber Porfirij ihn lachen sah und in so schallendes Gelächter ausbrach, daß er beinahe blau wurde, ließ Raskolnikow in seinem Widerwillen alle Vorsicht außer acht: er hörte zu lachen auf, runzelte die Stirne und sah Porfirij lange und gehässig an, ohne ihn während seines ganzen langen, anscheinend mit Absicht in die Länge gezogenen Lachanfalls aus den Augen zu lassen. Die Unvorsichtigkeit war übrigens beiderseits offensichtlich: es sah so aus, als lache Porfirij Petrowitsch über seinen Gast, der dieses Lachen mit Haß aufnahm, kümmere sich aber wenig um diesen Umstand. Das letztere war aber für Raskolnikow sehr vielsagend: er begriff, daß Porfirij Petrowitsch sich wahrscheinlich auch vorhin gar nicht verlegen gefühlt habe und daß im Gegenteil er selbst, Raskolnikow, in eine Falle geraten sei, daß hier unbedingt etwas dabei sei, was er noch nicht wußte, irgendein Ziel; daß vielleicht schon alles vorbereitet sei und sich im nächsten Augenblick zeigen und über ihn hereinbrechen werde ...
Er ging nun sofort auf die Sache los, indem er sich von seinem Platz erhob und seine Mütze nahm.
»Porfirij Petrowitsch«, fing er an, entschlossen, doch ziemlich gereizt, »Sie äußerten gestern den Wunsch, daß ich zu Ihnen zu irgendeinem Verhör komme. (Er betonte besonders das Wort ›Verhör‹.) Ich bin gekommen, und wenn Sie von mir etwas wollen, so fragen Sie mich, und wenn nicht, so gestatten Sie, daß ich weggehe. Ich habe keine Zeit, ich habe zu tun ... Ich muß zur Beerdigung eines verunglückten Beamten, von dem ... Sie auch schon wissen ...« fügte er hinzu, ärgerte sich aber gleich über diesen Zusatz und wurde infolgedessen noch gereizter. »Mir ist die Sache zu dumm, hören Sie, und zwar seit langem ... ich bin zum Teil deswegen krank gewesen ... mit einem Worte«, schrie er beinahe auf, da er fühlte, daß die Bemerkung über seine Krankheit noch überflüssiger war, »mit einem Worte: wollen Sie mich entweder vernehmen oder entlassen, und zwar sofort ... und wenn Sie mich vernehmen wollen, so nicht anders als in aller Form! Anders erlaube ich es nicht; und darum verabschiede ich mich einstweilen von Ihnen, da wir jetzt beide miteinander nichts zu schaffen haben.«
»Mein Gott! Was fällt Ihnen ein?! Worüber soll ich denn Sie vernehmen?« gackerte auf einmal Porfirij Petrowitsch, der plötzlich seinen Ton und seine Miene änderte und zu lachen aufhörte. »Regen Sie sich, bitte, nicht auf«, rief er, indem er wieder bald im Zimmer auf und ab lief und bald Raskolnikow zum Sitzen nötigte. »Wir haben ja Zeit, wir haben Zeit, und alles ist Unsinn! Im Gegenteil, ich freue mich so, daß Sie endlich zu uns gekommen sind ... Ich empfange Sie als einen Gast. Und dieses verfluchte Lachen müssen Sie mir schon verzeihen, Väterchen, Rodion Romanowitsch. Rodion Romanowitsch – so heißen Sie doch mit Ihren Vatersnamen? ... Ich hin so nervös, Sie haben mich durch Ihre geistreiche Bemerkung zum Lachen gebracht; zuweilen schüttele ich mich vor Lachen wie ein Stück Gummi, und das dauert eine halbe Stunde ... Ich bin leicht zum Lachen zu bringen. Bei meiner Körperfülle fürchte ich sogar einen Schlaganfall. Setzen Sie sich doch, was haben Sie denn? Ich bitte Sie, Väterchen, sonst muß ich glauben, daß Sie mir böse sind ...«
Raskolnikow schwieg, hörte zu und beobachtete, immer noch mit vor Zorn finsterem Gesicht. Er setzte sich übrigens hin, behielt aber die Mütze in der Hand.
»Ich will Ihnen etwas über mich selbst mitteilen, Väterchen, Rodion Romanowitsch, sozusagen zu meiner Charakteristik«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort, indem er im Zimmer hin und her lief und wie früher den Blicken seines Gastes auszuweichen schien. »Wissen Sie, ich bin Junggeselle, ein ganz unbekannter Mensch, ohne gesellschaftlichen Schliff, ein abgeschlossener, reifer Charakter und ... und ... und haben Sie es schon bemerkt, Rodion Romanowitsch: wenn bei uns, das heißt in Rußland, und besonders in unseren Petersburger Kreisen, zwei kluge Menschen, die miteinander noch nicht gut bekannt sind, aber sich gegenseitig sozusagen achten, wie wir beide, zusammenkommen, so können sie eine geschlagene halbe Stunde kein Thema für ein Gespräch finden, – sie erstarren voreinander, sitzen da und genieren sich. Alle Menschen haben einen Gesprächsstoff, zum Beispiel die Damen ... auch die Salonmenschen aus den höheren Gesellschaftskreisen haben stets ein Gesprächsthema, c'est de rigueur; aber Menschen aus mittleren Schichten, wie wir beide – werden immer leicht verlegen und sind nicht gesprächig ... ich meine die denkenden Menschen. Woher kommt das nur, Väterchen? Haben wir keine gesellschaftlichen Interessen, oder sind wir so ehrlich, daß wir einander nicht betrügen wollen, – das weiß ich nicht. Nun, was glauben Sie? Legen Sie aber Ihre Mütze weg, es sieht so aus, als wollten Sie schon weggehen, ich muß mich genieren, wenn ich es sehe ... Ich bin im Gegenteil so froh ...«
Raskolnikow legte seine Mütze weg und hörte schweigend und ernst, mit finsterem Gesicht dem leeren und verworrenen Geschwätz Porfirijs zu. – Will er vielleicht wirklich meine Aufmerksamkeit mit seinem dummen Geschwätz ablenken? –
»Ich biete Ihnen keinen Kaffee an, denn es ist hier nicht der passende Ort dafür; aber so an die fünf Minuten kann ich doch mit einem guten Freunde sitzen, zum Zeitvertreib«, schwatzte Porfirij unermüdlich weiter. »Und wissen Sie, alle diese dienstlichen Pflichten ... aber nehmen Sie es mir, bitte, nicht übel, Väterchen, daß ich immer hin und her renne; entschuldigen Sie, Väterchen, ich fürchte sehr, Sie zu kränken; aber ich muß unbedingt Bewegung haben. Ich sitze immer auf einem Fleck und bin froh, wenn ich mal fünf Minuten herumgehen kann ... es sind die Hämorrhoiden ... ich habe immer die Absicht, mich mit Gymnastik zu behandeln; man sagt, daß in einer solchen Turnanstalt Staatsräte, Wirkliche Staatsräte und sogar Geheimräte gern über eine Schnur springen; so vorgeschritten ist die Wissenschaft in unserem Jahrhundert ... Was aber die hiesigen Pflichten betrifft, die Verhöre und alle Formalitäten ... Sie sprachen eben, Väterchen, von den Verhören ... so muß ich Ihnen sagen, Väterchen, Rodion Romanowitsch, daß so ein Verhör den Verhörer oft mehr verwirrt als den zu Verhörenden. Das haben Sie, Väterchen, eben sehr richtig und geistreich bemerkt. (Raskolnikow hatte nichts dergleichen bemerkt.) Man wird verwirrt, wirklich, man wird verwirrt! Und immer ein und dasselbe, ein und dasselbe, wie eine Trommel! Die Reform steht vor der Tür, wir werden wenigstens eine neue Benennung bekommen, he-he-he! Und was unsere juristischen Kunstgriffe betrifft – wie Sie es so geistreich genannt haben –, so bin ich vollkommen der gleichen Meinung. Aber wer von den Angeklagten, selbst von den dümmsten Bauern weiß nicht, daß man zunächst anfangen wird, ihn zum Beispiel mit abseitsliegenden Fragen einzuschläfern, wie Sie sich so glücklich ausgedrückt haben, um ihn dann plötzlich zu betäuben, wie mit einem Beilhieb auf den Scheitel, he-he-he! mit einem Beilhieb auf den Scheitel, wie Sie sich so treffend ausgedrückt haben! He-he! Sie haben also wirklich geglaubt, daß ich die Absicht hatte, Sie mit der Dienstwohnung ... he-he! Sie sind aber ein ironischer Mensch! Nun, ich rede nicht mehr davon! Ach ja, à propos, ein Wort ruft das andere herbei, ein Gedanke ruft den andern – Sie haben vorhin auch die Form erwähnt, wissen Sie? – die Form des Verhörs ... Ja, was ist die Form? Die Form ist, wissen Sie, in vielen Fällen ein Unsinn. Manchmal ist ein einfaches freundschaftliches Gespräch viel vorteilhafter. Die Form läuft nicht davon, in dieser Beziehung kann ich Sie beruhigen; und was ist auch im Grunde genommen die Form, ich bitte Sie? Man darf nicht den Untersuchungsrichter auf jedem Schritt an die Form binden. Die Tätigkeit des Untersuchungsrichters ist sozusagen eine freie Kunst ihrer Art, oder etwas von dieser Art. He-he-he! ...«
Porfirij Petrowitsch hielt inne und holte Atem. Er redete drauflos, unermüdlich; bald schüttete er sinnlose, leere Phrasen hin, bald ließ er rätselhafte Anspielungen fallen, um dann wieder mit albernem Geschwätz zu beginnen. Er lief schon fast hin und her, bewegte seine dicken Beinchen immer schneller und blickte fortwährend zu Boden; die rechte Hand hielt er im Rücken und machte mit der linken Bewegungen, die immer auffallend wenig zu seinen Worten paßten. Raskolnikow merkte plötzlich, daß er bei seinem Hin-und Herlaufen einigemal für einen Augenblick an der Tür stehen blieb und hinauszuhorchen schien ...
– Wartet er vielleicht auf etwas? –
»In dieser Beziehung hatten Sie vollkommen recht«, fing Porfirij wieder an, wobei er Raskolnikow lustig und ungewöhnlich treuherzig anblickte (so daß jener zusammenfuhr und sich sofort auf alles gefaßt machte) – »vollkommen recht, als Sie über die juristischen Formen so witzig spotteten, he-he! Diese tiefsinnig psychologischen Kunstgriffe – natürlich nur manche von ihnen – sind furchtbar komisch und vielleicht auch nutzlos, wenn sie durch die Form zu sehr beschränkt werden. Jawohl ... ich komme wieder auf die Form: wenn ich also in irgendeiner Sache, mit der ich betraut bin, den einen oder den anderen sozusagen für den Verbrecher halte, oder besser gesagt, des Verbrechens verdächtige ... Sie wollen doch Jurist werden, Rodion Romanowitsch ...?«
»Ja, ich hatte die Absicht ...«
»Da haben Sie also ein kleines Beispiel für die Zukunft, das heißt, glauben Sie nur nicht, daß ich es wage, Sie zu belehren: Sie schreiben doch selbst so fabelhafte Aufsätze über das Verbrechen! Nein, ich erlaube mir nur, Ihnen als Tatsache, als Beispiel, anzuführen ... Wenn ich also den einen oder anderen für den Verbrecher halte – warum soll ich ihn, frage ich Sie, vor der Zeit beunruhigen, wenn ich auch Beweise gegen ihn habe? Den einen muß ich zum Beispiel so schnell als möglich verhaften lassen, ein anderer ist aber ganz anders geartet, warum soll er nicht noch etwas in der Stadt herumspazieren, he-he-he! Nein, ich sehe, Sie verstehen es gar nicht, darum will ich es Ihnen klarer darstellen: wenn ich ihn zum Beispiel zu früh einsperre, so gebe ich ihm damit vielleicht eine moralische Stütze, he-he! Sie lachen? (Raskolnikow dachte gar nicht daran, zu lachen: er saß mit zusammengebissenen Zähnen da und wandte seinen fieberhaften Blick nicht von den Augen Porfirij Petrowitschs.) Und doch ist es so, bei manchen Subjekten ganz besonders, denn die Menschen sind verschieden, über alles geht aber die Praxis. Sie werden jetzt sagen: Indizien; ja, nehmen wir sogar an, daß Indizien vorliegen, aber die Indizien, Väterchen, haben in den meisten Fällen zwei Enden, ich aber bin Untersuchungsrichter, also ein schwacher Mensch und muß gestehen: wie gern möchte ich meine Untersuchung mathematisch klar darstellen, einen Beweis erbringen, daß alles so klar sei, wie zweimal zwei vier ist! Daß es einer direkten und unbestreitbaren Deduktion gleiche! Wenn ich ihn aber vor der Zeit einsperre – und wenn ich auch noch so überzeugt bin, daß er es ist –, so kann ich mich vielleicht auch selbst der Mittel zur weiteren Überführung berauben, und warum? Weil ich ihm sozusagen eine bestimmte Position gebe, ihn sozusagen psychologisch bestimme und beruhige, und er sich dann vor mir in seine Schale verkriecht: er begreift schließlich, daß er ein Gefangener ist. Man sagt, daß in Sebastopol, gleich nach der Schlacht bei Alma, die klugen Leute furchtbare Angst gehabt hätten, daß der Feind die Stadt in offenem Sturm attackieren und nehmen würde; als sie aber sahen, daß der Feind eine regelrechte Belagerung vorzog und die erste Parallele aufstellte, so hatten sich die klugen Leute, wie man sagt, so furchtbar gefreut und vollkommen beruhigt; die Sache zieht sich also wenigstens noch zwei Monate hin, denn es dauert noch eine Weile, bis sie die Stadt durch eine regelrechte Belagerung nehmen. Sie lachen wieder, Sie glauben wieder nicht? Sie haben natürlich recht. Tausendmal recht! Das sind lauter Einzelfälle, ich bin mit Ihnen einverstanden; der von mir angeführte Fall ist tatsächlich ein Einzelfall! Es ist aber dabei folgendes zu beachten, mein bester Rodion Romanowitsch: den allgemeinen Fall, auf den alle juristischen Formen und Vorschriften passen, für den sie, wie sie in den Büchern stehen, berechnet sind, gibt es in Wirklichkeit gar nicht, denn jede Sache, ohne Ausnahme, sogar zum Beispiel das Verbrechen, wird, sobald es in Wirklichkeit geschieht, zu einem ausgesprochenen Einzelfall; zuweilen sogar zu einem solchen, der unter den vorhergehenden nicht seinesgleichen hat. In dieser Beziehung gibt es zuweilen sehr komische Fälle. Wenn ich manchen Herrn vollkommen in Ruhe lasse, ihn nicht verhafte und nicht belästige, aber dafür sorge, daß er jede Stunde und jede Minute wisse oder wenigstens vermute, daß ich alles weiß, daß ich alle Fäden aufgedeckt habe, ihn Tag und Nacht beobachte und bewache, und wenn er sich bewußt unter ewigem Verdachte und in ständiger Angst fühlt, so wird er, bei Gott, ganz verrückt; dann kann er auch selbst zu mir kommen und vielleicht noch etwas anstellen, was dem Zweimalzwei ähnlich sieht, was sozusagen ein mathematisches Aussehen hat – und das ist höchst angenehm. Das kann auch mit einem dummen Bauern geschehen, mit unsereinem aber, einem modern gebildeten und in einer bestimmten Richtung entwickelten Menschen erst recht! Darum ist es, mein Lieber, so wichtig, festzustellen, in welcher Richtung der Mensch entwickelt ist. Und erst die Nerven, die Nerven, die haben Sie ganz vergessen! Alle diese Menschen sind heutzutage krank, heruntergekommen und gereizt! ... Und wieviel Galle sie alle haben! Das ist doch, sage ich Ihnen, eine Goldgrube ihrer Art! Und was soll ich mich beunruhigen, wenn er ungefesselt in der Stadt herumspaziert!? Soll er nur vorläufig spazierengehen, soll er nur; ich weiß auch ohnehin, daß er mein Opferchen ist und nirgends durchbrennt! Wohin soll er auch durchbrennen? He-he! Vielleicht ins Ausland? Ins Ausland wird der Pole durchbrennen, doch nicht er, um so mehr, als ich ihn beobachte und auch Maßregeln ergriffen habe. Wird er vielleicht in die Tiefe des Vaterlandes fliehen? Dort leben aber die Bauern, die echten, einfachen, russischen Bauern; so ein modern gebildeter Mensch wird eher das Zuchthaus vorziehen, als mit solchen Ausländern, wie es unsere Bauern sind, zu leben, he-he! Dies alles ist aber Unsinn und nur äußerlich. Was heißt das: er wird durchbrennen? Das ist ja nur Form, und nicht Hauptsache; er wird mir nicht nur deshalb nicht durchbrennen, weil er nirgendhin durchbrennen kann, – er wird mir psychologisch nicht durchbrennen, he-he! Das ist doch ein netter Ausdruck! Er wird mir schon nach dem Naturgesetz nicht durchbrennen, selbst wenn er wüßte, wohin. Haben Sie mal einen Schmetterling vor einer Kerze gesehen? So wird auch er immer um mich wie um eine Kerze herumschwirren; seine Freiheit wird ihn nicht mehr freuen, er wird nachdenklich werden, sich verwirren, wird sich selbst wie in ein Netz verstricken und Todesangst leiden! ... Und noch mehr als das: er wird mir selbst eine mathematische Überraschung, wie zweimal zwei liefern, wenn ich ihm nur eine möglichst lange Spanne Zeit dazu lasse ... Und er wird immer, immer seine Kreise um mich ziehen, mit immer kleinerem Radius, und – hat ihn schon! Er wird mir direkt in den Mund fliegen, und ich werde ihn verschlucken, das ist schon sehr angenehm, he-he-he! Sie glauben es nicht?«
Raskolnikow gab keine Antwort. Er saß bleich und unbeweglich da und blickte Porfirij mit der gleichen Spannung ins Gesicht.
– Das ist eine gute Lehre! – dachte er erschauernd. – Das ist nicht mehr das Spiel der Katze mit der Maus, wie gestern. Er wird mir doch nicht nutzlos seine Kraft zeigen und ... mir etwas suggerieren; er ist viel zu klug dazu ... Er hat ein anderes Ziel, doch was für eins? Ach, Unsinn, Bruder, du schwindelst und willst mir nur Angst machen: Du hast gar keine Beweise, und der gestrige Mann existiert nicht! Du willst mich einfach aus dem Konzept bringen, mich vorzeitig reizen und in diesem Zustande einfangen; aber du irrst, es wird dir nicht gelingen! Aber warum suggeriert er mir alles mit solcher Energie? ... Er spekuliert auf meine kranken Nerven! ... Nein, Bruder, du irrst, es wird dir nicht gelingen, und wenn du auch etwas vorbereitet hast ... Nun, wollen wir sehen, was du vorbereitet hast.
Und er nahm alle seine Kräfte zusammen, um auf eine schreckliche und unbekannte Katastrophe bereit zu sein. Zuweilen spürte er Lust, sich auf Porfirij zu stürzen und ihn auf der Stelle zu erwürgen. Er hatte schon beim Eintreten diese Wut gefürchtet. Er fühlte, daß seine Lippen ausgetrocknet waren, daß sein Herz klopfte und daß an seinen Lippen der Schaum trocknete. Und doch entschloß er sich, zu schweigen und kein Wort vor der Zeit zu sprechen. Er begriff, daß dies die beste Taktik in seiner Lage sei, weil er sich auf diese Weise nicht bloß nicht versprechen könne, sondern im Gegenteil den Gegner durch sein Schweigen reizen könnte, so daß vielleicht jener sich versprechen würde. Jedenfalls hoffte er darauf.
»Nein, ich sehe, Sie glauben mir nicht, Sie denken, daß ich Ihnen harmlose Späße auftische«, fuhr Porfirij fort, immer lustiger werdend, vor Vergnügen ununterbrochen kichernd und dann wieder im Zimmer kreisend. »Sie haben natürlich recht; meine Gestalt ist schon von Gott selbst so geschaffen, daß sie nur komische Gedanken beim andern weckt; ein Hanswurst bin ich! Aber ich sage Ihnen noch einmal, entschuldigen Sie mich alten Mann, Väterchen, Rodion Romanowitsch; Sie sind noch ein junger Mensch, stehen sozusagen in der Blüte des Lebens, und darum schätzen Sie, wie unsere ganze Jugend, den menschlichen Verstand über alles. Die pikante Schärfe des Geistes und die abstrakten Vernunftschlüsse reizen Sie. Es ist genau so wie zum Beispiel mit dem früheren österreichischen Hofkriegsrat, soweit ich über die kriegerischen Ereignisse zu urteilen vermag: auf dem Papier hatten sie Napoleon geschlagen und gefangengenommen, in ihrem Schreibzimmer hatten sie alles auf die geistreichste Weise berechnet und ausgetüftelt – aber, sieh mal an: der General Mack ergibt sich mit seiner ganzen Armee, he-he-he! Ich sehe, ich sehe, Väterchen, Rodion Romanowitsch, Sie lachen über mich, daß ich, der ich Zivilist bin, lauter Beispiele aus der Kriegsgeschichte anführe. Aber was soll ich machen, es ist eine Schwäche von mir, ich liebe die Kriegswissenschaft und lese leidenschaftlich gern alle die Kriegsberichte ... ich habe entschieden meinen eigentlichen Beruf verfehlt. Ich hätte doch wirklich im Militärressort dienen sollen. Zu einem Napoleon hätte ich es vielleicht nicht gebracht, aber zu einem Major ganz sicher, he-he-he! Nun will ich Ihnen, mein Bester, die ganze Wahrheit vom Einzelfall enthüllen; die Wirklichkeit und die Natur sind wichtige Dinge, verehrter Herr, und schmeißen zuweilen die scharfsinnigste Berechnung um! Hören Sie nur auf mich alten Mann, ich meine es ernst, Rodion Romanowitsch (der kaum fünfunddreißigjährige Porfirij Petrowitsch schien bei diesen Worten tatsächlich gealtert zu sein: selbst seine Stimme hatte sich verändert, und er selbst war wie eingeschrumpft); außerdem bin ich ein aufrichtiger Mensch ... Bin ich aufrichtig oder nicht? Wie glauben Sie? Ich meine doch, ich bin durchaus aufrichtig, wenn ich Ihnen solche Dinge umsonst mitteile und dafür sogar keine Belohnung verlange, he-he! Ich fahre also fort: Scharfsinn ist meines Erachtens eine ausgezeichnete Sache; er ist sozusagen eine Zierde der Natur, ein Trost des Lebens; er kann zuweilen solche Rätsel aufgeben, daß so ein armer Untersuchungsrichter unmöglich dahinter kommen kann; der wird ja außerdem auch von seiner eigenen Phantasie hingerissen, was doch immer der Fall ist, denn er ist doch auch nur ein Mensch! Aber die Natur hilft dem armen Untersuchungsrichter, das ist das Unglück! Daran denkt aber nie die vom Scharfsinn hingerissene Jugend, ›die sich über alle Hindernisse hinwegsetzt‹ (wie Sie sich gestern so geistreich und scharfsinnig auszudrücken beliebten). Er wird vielleicht auch lügen, das heißt: der Mensch, der Einzelfall, das Inkognito wird lügen und wird es sogar ausgezeichnet und sehr schlau machen; nun sollte man meinen, er triumphiert und kann die Früchte seines Scharfsinns genießen, aber gefehlt! – an der interessantesten und skandalösesten Stelle fällt er in Ohnmacht. Allerdings ist er krank, in seinem Zimmer ist es wohl so dumpf, aber immerhin! Immerhin hat er einen Gedanken gegeben! Gelogen hat er unvergleichlich, hat aber nicht verstanden, die Natur mit in Betracht zu ziehen. Darin liegt eben die Tücke! Ein andermal läßt er sich von den Launen seines Scharfsinns hinreißen und beginnt, einen, der ihn verdächtigt, zum Narren zu halten: er erbleicht wie absichtlich, wie im Spiel, erbleicht aber gar zu natürlich, zu wahrheitsgetreu, und damit gibt er wieder einen Gedanken! Wenn es ihm zum erstenmal auch glückt, den andern zu betrügen, so kann sich der andere über Nacht die Sache überlegen, wenn er nicht zu dumm ist. Und so ist es auf Schritt und Tritt! Und noch mehr als das: Er fängt an, vorauszueilen, steckt überall seine Nase hinein, redet ununterbrochen davon, wovon er eigentlich schweigen müßte, läßt allerlei Andeutungen los, he-he! – kommt auch selbst und fragt: Warum nimmt man mich so lange nicht fest? He-he-he! Und das kann auch dem geistreichsten Menschen passieren, einem Psychologen und Literaten! Die Natur ist ein Spiegel, der beste Spiegel! Sieh nur hinein und erfreue dich, ja, so ist es! Warum sind Sie aber so blaß geworden, Rodion Romanowitsch? Ist es hier nicht zu dumpf, soll ich nicht das Fensterchen aufmachen?«
»Oh, bemühen Sie sich, bitte, nicht!« rief Raskolnikow und lachte plötzlich auf. »Bemühen Sie sich, bitte, nicht!«
Porfirij blieb vor ihm stehen, wartete eine Weile und fing selbst zu lachen an; Raskolnikow erhob sich vom Sofa und brach plötzlich seinen krampfartigen Lachanfall ab.
»Porfirij Petrowitsch!« sagte er laut und deutlich, obwohl er sich auf den zitternden Füßen kaum halten konnte. »Ich sehe endlich klar, daß Sie mich des Mordes an dieser Alten und ihrer Schwester Lisaweta verdächtigen. Meinerseits erkläre ich Ihnen, daß mir das alles schon längst zu dumm ist. Wenn Sie glauben, daß Sie ein Recht haben, mich gesetzlich zu verfolgen, so verfolgen Sie mich, – zu verhaften, so verhaften Sie mich. Aber daß man mir ins Gesicht lacht und mich quält, das erlaube ich nicht ...«
Plötzlich zitterten seine Lippen, seine Augen funkelten vor Wut, und die bisher zurückgehaltene Stimme klang hell und laut.
»Das erlaube ich nicht!« schrie er plötzlich auf und schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch. »Hören Sie es, Porfirij Petrowitsch? Ich erlaube es nicht!«
»Ach, mein Gott, was haben Sie wieder!« rief Porfirij Petrowitsch, der wirklich erschreckt schien. »Väterchen, Rodion Romanowitsch! Liebster! Väterchen! Was haben Sie nur?«
»Ich erlaube es nicht!« rief Raskolnikow noch einmal.
»Väterchen, seien Sie still! Man wird es ja hören und herkommen! Was sollen wir dann sagen, bedenken Sie es doch!« flüsterte Porfirij Petrowitsch ganz entsetzt, indem er sein Gesicht dem Raskolnikows näherte.
»Ich erlaube es nicht, ich erlaube es nicht!« wiederholte Raskolnikow mechanisch, aber plötzlich im Flüsterton.
Porfirij wandte sich schnell um und lief zum Fenster, um es zu öffnen.
»Frische Luft! Sie müßten auch etwas Wasser trinken, mein Liebster, es ist ja ein Anfall!«
Er stürzte schon zur Tür, um Wasser bringen zu lassen, aber in der Ecke fand sich zum Glück eine Wasserkaraffe.
»Väterchen, trinken Sie doch,« flüsterte er, mit der Karaffe zu ihm stürzend, »vielleicht wird es Ihnen helfen ...«
Der Schreck und selbst die Teilnahme Porfirij Petrowitschs waren so natürlich, daß Raskolnikow verstummte und ihn mit wahnsinniger Neugier zu betrachten begann. Das Wasser nahm er jedoch nicht an.
»Rodion Romanowitsch! Liebster! So können Sie noch den Verstand verlieren! Ach! Trinken Sie doch, trinken Sie doch wenigstens etwas!«
Er zwang ihn dabei, das Glas Wasser in die Hand zu nehmen. Jener führte es mechanisch an die Lippen, besann sich aber und stellte es angeekelt auf den Tisch.
»Ja, Sie haben einen kleinen Anfall gehabt. So werden Sie, mein Lieber, wieder die alte Krankheit kriegen!« gackerte mit freundschaftlicher Teilnahme Porfirij Petrowitsch, der übrigens noch immer fassungslos schien. »Mein Gott, wie kann man sich nur so gar nicht schonen? Auch Dmitrij Prokofjitsch war gestern bei mir – ich gebe zu, ich gebe zu, daß ich einen unangenehmen, schlechten Charakter habe, aber was Sie daraus für Schlüsse gezogen haben! ... Mein Gott! Er kam gestern zu mir, gleich als Sie gegangen waren, wir aßen zu Mittag, er redete und redete, ich starrte ihn bloß an; und ich denke mir ... du lieber Gott! War er etwa in Ihrem Auftrage gekommen? Setzen Sie sich doch, Väterchen, setzen Sie sich um Christi willen!«
»Nein, nicht in meinem Auftrage! Aber ich wußte, daß er zu Ihnen gegangen war und warum er gegangen war«, antwortete Raskolnikow scharf.
»Sie wußten es?«
»Ich wußte es. Was ist denn dabei?«
»Ja, Väterchen, Rodion Romanowitsch, ich weiß noch ganz andere Dinge von Ihnen; alles ist mir bekannt! Ich weiß ja, wie Sie eine Wohnung mieten gingen, spät am Abend, als es schon dunkelte; wie Sie klingelten und nach dem Blute fragten und die Arbeiter und Hausknechte ganz konfus machten. Ich verstehe ja vollkommen Ihren Seelenzustand, das heißt den damaligen ... So werden Sie sich aber einfach um den Verstand bringen, bei Gott! Der Kopf wird Ihnen schwindeln! Eine Empörung kocht in Ihnen, eine edle Empörung über die Beleidigungen, die Sie zuerst vom Schicksal und dann von den Beamten auf dem Polizeirevier erlitten haben; und darum werfen Sie sich hin und her, um alle sozusagen schneller zum Sprechen zu zwingen und damit allem ein Ende zu machen, denn Sie sind schon aller dieser Dummheiten und Verdächtigungen überdrüssig geworden. Es ist doch so? Ich habe doch die Stimmung erraten? ... Sie werden aber so nicht nur sich selbst, sondern auch den Rasumichin verrückt machen; er ist doch ein viel zu guter Mensch dazu, das wissen Sie selbst. Sie haben die Krankheit, er aber hat die Tugend, darum ist die Krankheit für ihn ansteckend ... Ich werde Ihnen, Väterchen, wenn Sie sich beruhigt haben, etwas erzählen ... Setzen Sie sich doch, Väterchen, um Christi willen! Bitte, ruhen Sie aus, Sie sind blaß wie ein Toter. Setzen Sie sich doch!«
Raskolnikow setzte sich; das Zittern hörte auf, und er fühlte am ganzen Körper Fieberhitze. Mit tiefem Erstaunen hörte er gespannt dem erschrockenen Porfirij Petrowitsch zu, der sich so freundschaftlich um ihn bemühte. Er glaubte aber keinem seiner Worte, obwohl er auch eine seltsame Versuchung empfand, ihm zu glauben. Die unerwarteten Worte Porfirijs über die Wohnung machten ihn ganz bestürzt: – Wie ist es nun, er weiß es also, das von der Wohnung? – dachte er plötzlich: – und erzählt es mir selbst! –
»Ja, wir hatten einen fast ebensolchen psychologischen Fall in unserer Gerichtspraxis, einen krankhaften Fall«, fuhr Porfirij sich überstürzend fort. »Da hat sich auch einer eines Mordes bezichtigt, und wie: eine ganze Halluzination tischte er auf, brachte Tatsachen, erzählte alle Umstände, machte alle und jeden ganz konfus, und was stellte sich heraus? Er selbst war ganz ohne Absicht und nur zum Teil mit die Ursache des Mordes gewesen; als er aber erfuhr, daß er den Mördern die Gelegenheit zum Morde gegeben hatte, wurde er schwermütig und melancholisch, bekam Halluzinationen, wurde ganz verrückt und redete sich ein, daß er der Mörder sei! Aber der Regierende Senat klärte schließlich die Sache ganz auf, und der Unglückliche wurde freigesprochen und in ärztliche Pflege gegeben. Dank dem Regierenden Senate! Ach ja, wie ist es nun, Väterchen? So kann man leicht ein Nervenfieber kriegen, wenn man schon solche Anwandlungen hat, seine Nerven zu reizen, nachts auszugehen, um die Klingel zu ziehen und nach dem Blut zu fragen! Die psychischen Zustände habe ich ja in der Praxis gut studiert. So hat der Mensch manchmal auch eine Anwandlung, aus einem Fenster oder von einem Glockenturme zu springen, es ist eine so verführerische Empfindung. Auch das mit der Klingel ... Es ist eine Krankheit, Rodion Romanowitsch, eine Krankheit! Sie haben angefangen, Ihre Krankheit allzusehr zu vernachlässigen. Sie hätten doch einen ordentlichen Medikus zu Rate ziehen sollen, was ist denn dieser Dicke wert! ... Sie phantasieren! Alles tun Sie im Fieber! ...«
Einen Augenblick lang drehte sich alles vor Raskolnikows Augen wie im Wirbel.
– Lügt er denn auch jetzt? – ging es ihm durch den Sinn, – auch jetzt? Es ist unmöglich, unmöglich! – Er stieß den Gedanken von sich, da er im voraus wußte, bis zu welchem Grade von Raserei und Wut ihn dieser Gedanke bringen könnte, und da er fühlte, daß er nahe daran sei, vor Wut verrückt zu werden.
»Es war nicht im Fieber, es war bei vollem Bewußtsein!« schrie er, indem er alle Kräfte seines Verstandes anspannte, um in das Spiel Porfirijs einzudringen. »Bei vollem Bewußtsein! Hören Sie es?!«
»Ja, ich verstehe und höre es! Sie haben auch gestern gesagt, daß es nicht im Fieber gewesen sei! Sie haben sogar besonders betont, daß es nicht im Fieber gewesen sei! Ich verstehe alles, was Sie nur sagen können! Ach ja! ... Hören Sie mal, Rodion Romanowitsch, mein Wohltäter, nehmen Sie zum Beispiel diesen Umstand. Wenn Sie in der Tat der Verbrecher oder in diese verfluchte Sache irgendwie verwickelt wären, würden Sie dann, ich bitte Sie, selbst betonen, daß Sie es nicht im Fieber, sondern bei vollem Bewußtsein getan hätten? Und dazu noch so trotzig mit solcher Hartnäckigkeit betonen, ich bitte Sie! Ich meine, Sie würden sich ganz anders verhalten. Wenn Sie sich irgendeiner Schuld bewußt wären, so müßten Sie unbedingt betonen, daß alles im Fieber gewesen sei! Nicht wahr? Es ist doch so?«
In dieser Frage glaubte Raskolnikow etwas Heimtückisches zu hören. Er rückte von Porfirij, der ihn schweigend, unverwandt und fragend beobachtete, zur Sofalehne zurück.
»Oder zum Beispiel das mit Herrn Rasumichin, das heißt, ob er gestern ganz von selbst kam oder auf Ihre Veranlassung? Sie müßten doch unbedingt sagen, daß er von selbst gekommen wäre, und verheimlichen, daß er es auf Ihre Veranlassung getan hätte! Sie verheimlichen es aber nicht! Sie betonen doch, daß er auf Ihre Veranlassung gekommen war!«
Raskolnikow hatte dies niemals betont. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
»Sie lügen immerfort!« sagte er langsam und mit schwacher Stimme, während sich seine Lippen zu einem krankhaften Lächeln verzerrten. »Sie wollen mir wieder zeigen, daß Sie mein ganzes Spiel durchschauen und alle meine Antworten im voraus wissen«, sagte er und fühlte selbst fast nicht, daß er seine Worte nicht mehr ordentlich abwog. »Sie wollen mich einschüchtern ... oder Sie lachen einfach über mich ...«
Er fuhr fort, ihn unverwandt anzusehen, als er das sagte, und plötzlich leuchtete grenzenloser Haß wieder in seinen Augen auf.
»Sie lügen immer!« rief er aus. »Sie wissen doch selbst sehr gut, daß es der beste Ausweg für den Verbrecher ist, nach Möglichkeit die Wahrheit zu sprechen ... nach Möglichkeit nicht zu verheimlichen, was man nicht verheimlichen kann! Ich glaube Ihnen nicht!«
»Wie Sie sich aber hin und her winden!« kicherte Porfirij. »Mit Ihnen kann man gar nicht fertig werden, Väterchen: eine Monomanie hat sich in Ihnen festgesetzt. Sie glauben mir also nicht? Ich aber will Ihnen sagen, daß Sie mir schon glauben, daß Sie mir schon einen Viertel Arschin glauben, und ich werde es bald erreichen, daß Sie mir einen ganzen Arschin glauben, denn ich habe Sie aufrichtig gern und wünsche Ihnen von Herzen alles Gute.«
Raskolnikows Lippen zitterten.
»Jawohl, das wünsche ich Ihnen, und ich will Ihnen endgültig sagen«, fuhr er fort, indem er Raskolnikows Arm leicht und freundschaftlich oberhalb des Ellbogens ergriff. »Ich will Ihnen endgültig sagen: geben Sie doch auf Ihre Krankheit acht. Außerdem haben Sie ja Besuch von Ihren Angehörigen; denken Sie doch auch an sie. Sie sollten sie beruhigen und zartfühlend behandeln, Sie machen ihnen aber nur Angst ...«
»Was geht Sie das an? Wie können Sie das wissen? Warum interessieren Sie sich so dafür? Folglich beobachten Sie mich und wollen es mir zeigen?«
»Väterchen! Das habe ich doch von Ihnen selbst erfahren, von Ihnen selbst! Sie merken ja gar nicht, daß Sie das alles in Ihrer Erregung mir und auch den anderen erzählen. Auch von Herrn Dmitrij Prokofjitsch Rasumichin habe ich gestern viele interessante Einzelheiten erfahren. Nein, Sie haben mich unterbrochen, ich aber will Ihnen sagen, daß Sie durch Ihren Argwohn bei all Ihrem Scharfblick selbst das gesunde Verhältnis zu den Dingen verloren haben. Nehmen wir als Beispiel wieder das mit der Klingel: so einen wertvollen Schatz, eine solche Tatsache (es ist doch eine ganze Tatsache!) habe ich, der Untersuchungsrichter, Ihnen mit Haut und Haaren ausgeliefert! Sehen Sie denn nichts darin? Wenn ich Sie doch nur ein wenig verdächtigte, dürfte ich so handeln? Im Gegenteil, ich müßte zuerst Ihren Argwohn einschläfern und durch keine Miene verraten, daß ich über diese Tat schon unterrichtet bin. Ich müßte Sie in eine entgegengesetzte Richtung ablenken und dann plötzlich wie mit einem Beilhieb auf den Scheitel (wie Sie sich selbst ausdrückten) betäuben: ›Was haben Sie, verehrter Herr, gestern in der Wohnung der Ermordeten gemacht, um zehn Uhr abends, oder vielleicht gar um elf? Und warum haben Sie an der Klingel gezogen? Und warum haben Sie nach dem Blute gefragt? Und warum haben Sie die Hausknechte konfus gemacht und aufgefordert, aufs Revier zum Polizeileutnant zu gehen?‹ So hätte ich vorgehen müssen, wenn ich auch den geringsten Verdacht gegen Sie hätte! Ich müßte Sie in aller Form vernehmen, eine Haussuchung bei Ihnen abhalten und Sie vielleicht auch verhaften ... Folglich hege ich doch nicht den Verdacht gegen Sie, wenn ich anders vorgehe! Sie aber haben jedes gesunde Verhältnis zu den Dingen verloren und sehen nichts, wiederhole ich!«
Raskolnikow fuhr am ganzen Körper zusammen, so daß Porfirij Petrowitsch es allzu deutlich merkte.
»Sie lügen immer!« rief er aus. »Ich kenne Ihre Absichten nicht, aber Sie lügen ... Vorhin haben Sie nicht in diesem Sinne gesprochen, und ich kann mich nicht irren ... Sie lügen!«
»Ich lüge?« fiel ihm Porfirij ins Wort, scheinbar erregt, doch mit der gleichen lustigen und spöttischen Miene; er schien sich nicht im geringsten darum zu kümmern, welche Ansicht über ihn Herr Raskolnikow hatte. »Ich lüge? ... Wie habe ich mich aber vorhin Ihnen gegenüber benommen (ich, der Untersuchungsrichter), – indem ich Ihnen selbst alles suggerierte, alle Mittel zur Verteidigung lieferte und Ihnen selbst die ganze Psychologie erklärte: ›Es war die Krankheit, ein Fieberwahn, ich war beleidigt; die Melancholie und die Beamten auf dem Polizeirevier‹, und dergleichen! Wie? He-he-he! Obwohl ich Ihnen bei dieser Gelegenheit sagen möchte, daß alle diese psychologischen Mittel zur Verteidigung, alle diese Ausflüchte und Finten wenig nützen und zwei Enden haben: ›Es war die Krankheit, das Delirium, Träume, es kam mir nur so vor, ich weiß nichts mehr,‹ – das stimmt alles, aber warum sind Ihnen, Väterchen, in der Krankheit, im Fieber gerade solche Träume gekommen und keine anderen? Es hätten ja auch andere kommen können? Nicht wahr? He-he-he!«
Raskolnikow blickte ihn stolz und mit Verachtung an.
»Mit einem Worte,« sagte er eindringlich und laut, indem er aufstand und Porfirij dabei ein wenig zur Seite stieß, »ich möchte wissen: halten Sie mich für endgültig frei von jedem Verdacht – oder nicht? Sagen Sie es, Porfirij Petrowitsch, sagen Sie es positiv und endgültig, und schnell, sofort!«
»Ist das ein Kreuz! Was Sie einem für Schwierigkeiten machen!« rief Porfirij mit vollkommen lustiger, verschlagener und durchaus nicht besorgter Miene. »Ja, was brauchen Sie das zu wissen, warum wollen Sie so vieles wissen, wenn man noch nicht mal angefangen hat, Sie irgendwie zu belästigen? Sie sind doch wie ein Kind: Sie wollen unbedingt, daß man Ihnen das Feuer in die Hand gibt! Und warum regen Sie sich so auf? Warum drängen Sie sich uns so auf, aus welchem Grunde? Wie? He-he-he!«
»Ich sage Ihnen noch einmal,« rief Raskolnikow, außer sich vor Wut, »daß ich es nicht länger ertragen kann!«
»Was denn? Die Ungewißheit?« unterbrach ihn Porfirij.
»Verhöhnen Sie mich nicht! Ich will es nicht! ... Ich sage Ihnen ja, daß ich es nicht will! ... Ich kann und will es nicht! ... Hören Sie! Hören Sie!« schrie er und schlug wieder mit der Faust auf den Tisch.
»Stiller doch, stiller! Man wird Sie hören! Ich warne Sie ernsthaft: Schonen Sie sich. Ich spaße nicht!« flüsterte Porfirij Petrowitsch; diesmal war aber in seinem Gesicht nicht mehr der frühere weibisch-gutmütige und erschrockene Ausdruck, im Gegenteil, jetzt befahl er streng, mit gerunzelten Brauen, als ließe er alle Geheimnisse und Zweideutigkeiten auf einmal fallen.
Das dauerte aber nur einen Augenblick. Der anfangs bestürzte Raskolnikow geriet plötzlich in echte Wut; aber seltsam: er folgte wieder dem Befehl, leiser zu sprechen, obwohl er auch in höchster Raserei war.
»Ich lasse mich nicht quälen!« flüsterte er wie vorhin und merkte zugleich mit Schmerz und Haß, daß er nicht umhin konnte, dem Befehle zu folgen, und dieser Gedanke versetzte ihn in eine noch größere Raserei. »Verhaften Sie mich, durchsuchen Sie mich, aber behandeln Sie mich nach der gesetzlichen Form, und spielen Sie nicht mit mir! Unterstehen Sie sich nicht ...«
»Kümmern Sie sich doch nicht um die Form«, unterbrach ihn Porfirij mit dem früheren verschlagenen Lächeln, indem er Raskolnikow mit scheinbarem Vergnügen betrachtete. »Ich habe Sie, Väterchen, ganz privat und freundschaftlich eingeladen!«
»Ich will Ihre Freundschaft nicht, und ich spucke auf sie! Hören Sie es? Und sehen Sie; ich nehme meine Mütze und gehe fort. Nun, was wirst du jetzt sagen, wenn du mich verhaften willst?«
Er ergriff seine Mütze und ging zur Tür.
»Wollen Sie denn nicht die kleine Überraschung sehen?« kicherte wieder Porfirij, indem er ihn wieder am Arm oberhalb des Ellbogens nahm und an der Tür festhielt.
Er wurde sichtlich lustiger und vergnügter, was Raskolnikow endgültig aus der Fassung brachte.
»Was für eine Überraschung? Was ist los?« fragte er plötzlich, stehen bleibend und Porfirij erschrocken anblickend.
»Die kleine Überraschung habe ich hier hinter der Tür sitzen, he-he-he! (Er zeigte mit dem Finger auf die verschlossene Tür in der rückwärtigen Wand, die in seine Dienstwohnung führte.) Ich habe Sie eingeschlossen, damit Sie nicht davonlaufen.«
»Was ist? Wo? Was? ...«
Raskolnikow ging zu der Tür und wollte sie öffnen, sie war aber verschlossen.
»Sie ist verschlossen, hier ist der Schlüssel!«
Und er holte in der Tat aus der Tasche einen Schlüssel hervor und zeigte ihn ihm.
»Du lügst immer!« schrie Raskolnikow, der sich nicht länger beherrschte. »Du lügst, verfluchter Hanswurst!« Und mit diesen Worten stürzte er sich auf Porfirij, der sich zur Tür retiriert hatte, aber gar nicht erschrocken schien.
»Ich verstehe alles, alles!« rief er, indem er auf ihn zusprang. »Du lügst und reizt mich, damit ich mich selbst verrate ...«
»Sie können sich doch nicht mehr verraten, Väterchen, Rodion Romanowitsch! Sie rasen ja schon. Schreien Sie nicht, sonst rufe ich Leute herbei.«
»Du lügst, nichts wird geschehen! Rufe nur deine Leute! Du wußtest, daß ich krank bin, und wolltest mich rasend machen, damit ich mich verrate, das ist deine Absicht! Nein, zeige mir Tatsachen! Ich habe alles verstanden! Du hast keine Tatsachen, du hast nur elende, wertlose Hypothesen im Samjotowschen Stile! ... Du kanntest meinen Charakter, du wolltest mich in Raserei versetzen, um mich dann plötzlich mit Popen und Delegierten zu überfallen ... Du wartest doch auf sie? Wie? Was wartest du? Wo? Zeig sie mir doch!«
»Was für Delegierte meinen Sie denn, Väterchen? Was so ein Mensch sich nicht alles einbildet! Nach den Vorschriften darf man gar nicht so vorgehen, wie Sie sagen, Sie verstehen überhaupt nichts von der Sache ... Und die Form wird uns nicht davonlaufen, Sie werden es selbst sehen! ...« murmelte Porfirij, an der Tür lauschend.
In diesem Augenblick ließ sich wirklich im anderen Zimmer dicht hinter der Tür etwas wie ein Geräusch vernehmen.
»Ah, sie kommen!« schrie Raskolnikow. »Du hast nach ihnen geschickt! ... Du hast sie erwartet! Du hast es berechnet ... Nun, zeig sie her alle: die Delegierten, die Zeugen, wenn du willst ... Zeig sie her! Ich bin bereit! Bereit!«
Hier trat aber ein sonderbares Ereignis ein, etwas beim normalen Gang der Dinge so Unerwartetes, daß weder Raskolnikow noch Porfirij Petrowisch auf einen solchen Ausgang hatten rechnen können.
Raskolnikows Erinnerung an diesen Moment stellte sich später wie folgt dar:
Das Geräusch hinter der Tür nahm schnell zu, und die Tür wurde ein wenig geöffnet.
»Was ist los?!« schrie Porfirij Petrowitsch ärgerlich. »Ich habe doch gesagt ...«
Es erfolgte keine sofortige Antwort, man merkte aber, daß hinter der Tür sich mehrere Menschen befanden und jemand fortzuziehen suchten.
»Was ist denn los?« fragte Porfirij Petrowitsch beunruhigt.
»Wir haben den Arrestanten gebracht, den Nikolai«, antwortete eine Stimme.
»Nicht nötig! Fort! Warten! ... Was will er hier! Was ist das für eine Wirtschaft!« rief Porfirij, zur Tür stürzend.
»Ja, er ...« begann wieder dieselbe Stimme und brach plötzlich ab.
Zwei Sekunden, nicht länger dauerte ein richtiger Kampf; dann schien jemand einen anderen aus aller Kraft zurückgestoßen zu haben, und gleich darauf trat ein sehr bleicher Mann direkt ins Arbeitszimmer Porfirij Petrowitschs.
Das Aussehen dieses Menschen war auf den ersten Blick sehr sonderbar. Er sah gerade vor sich hin, schien aber niemand zu sehen. In seinen Augen leuchtete Entschlossenheit, zugleich aber bedeckte eine Totenblässe sein Gesicht, als hätte man ihn zur Richtstätte gebracht. Seine blutleeren Lippen zuckten leicht.
Er war noch sehr jung, gekleidet wie ein Mann aus dem Volke, von mittlerem Wuchse, hager, mit auf Bauernart rund beschnittenen Haaren und feinen, trockenen Gesichtszügen. Der Mann, den er so plötzlich zurückgestoßen hatte, stürzte als erster ihm ins Zimmer nach und packte ihn an der Schulter; es war ein Wachsoldat; Nikolai zog den Arm zurück und riß sich wieder los.
In der Tür drängten sich mehrere Neugierige. Einige von ihnen wollten hereinkommen. Das alles spielte sich in einem Augenblick ab.
»Fort, es ist noch zu früh! Wart', bis man dich ruft! ... Warum hat man ihn so früh hergebracht?« murmelte höchst ärgerlich und scheinbar verlegen Porfirij Petrowitsch.
Nikolai kniete aber plötzlich nieder.
»Was hast du?« rief Porfirij erstaunt.
»Ich bin schuldig! Die Sünde ist mein! Ich bin der Mörder!« sagte plötzlich Nikolai, um Atem ringend, doch mit ziemlich lauter Stimme.
An die zehn Sekunden schwiegen alle wie erstarrt; selbst der Wachsoldat taumelte zurück und trat nicht mehr an Nikolai heran; er retirierte mechanisch zur Tür und blieb unbeweglich stehen.
»Was ist los?« schrie Porfirij Petrowitsch, aus der Erstarrung erwachend.
»Ich bin ... der Mörder ...« wiederholte Nikolai nach kurzem Schweigen.
»Wie ... du ... Wie ... Wen hast du ermordet?«
Porfirij Petrowitsch verlor sichtlich die Fassung. Nikolai schwieg wieder eine Weile.
»Aljona Iwanowna und ihre Schwester, Lisaweta Iwanowna habe ich ... mit einem Beil ... ermordet. Es war eine Verblendung«, fügte er plötzlich hinzu und schwieg wieder.
Er lag noch immer auf den Knien.
Porfirij Petrowitsch stand noch einige Augenblicke wie sinnend da, dann fuhr er plötzlich auf und winkte den ungebetenen Zeugen zu, fortzugehen. Jene verschwanden sofort, und die Tür wurde zugemacht. Dann blickte er Raskolnikow an, der in der Ecke stand und Nikolai mit wahnsinnigen Augen ansah, und ging auf ihn zu; plötzlich blieb er aber stehen, sah ihn an, richtete den Blick wieder auf Nikolai, dann wieder auf Raskolnikow, dann wieder auf Nikolai und stürzte plötzlich, wie von einem neuen Gedanken erleuchtet, auf Nikolai.
»Was drängst du dich nur mit deiner Verblendung auf!« rief er ihm beinahe gehässig zu. »Ich habe dich noch nicht gefragt, ob es eine Verblendung war oder nicht! Sag: hast du gemordet?«
»Ich bin der Mörder ... ich gestehe ...« sagte Nikolai.
»Ah! Womit hast du gemordet?«
»Mit einem Beil. Ich hatte mir eines vorbereitet.«
»Ach, wie der eilt! Du allein?«
Nikolai verstand die Frage nicht.
»Hast du allein gemordet?«
»Allein. Mitjka ist aber unschuldig und hat damit nichts zu tun.«
»Komm mir noch nicht mit dem Mitjka! Ach! ...«
»Wie bist du aber, nun, wie bist du damals die Treppe hinuntergelaufen? Die Hausknechte haben doch euch beide gesehen?«
»Das war, um den Verdacht abzulenken ... damals ... als ich mit dem Mitjka lief ...« antwortete Nikolai hastig, als hätte er diese Antwort schon vorher vorbereitet.
»Da haben wir es!« rief Porfirij böse. »Es sind nicht seine eigenen Worte, die er spricht!« murmelte er wie vor sich hin und sah im selben Augenblick wieder Raskolnikow an.
Er hatte sich so ganz dem Nikolai gewidmet, daß er für einen Augenblick sogar Raskolnikow vergaß. Jetzt kam er zu sich und wurde sogar verlegen ...
»Rodion Romanowitsch, Väterchen! Entschuldigen Sie!« rief er, zu ihm stürzend. »So geht es nicht; ich bitte Sie ... hier haben Sie nichts zu suchen ... ich bin auch selbst ... sehen Sie, was für Überraschungen! ... Ich bitte Sie! ...«
Und er nahm ihn bei der Hand und zeigte auf die Tür.
»Es scheint, Sie haben es nicht erwartet?« sagte Raskolnikow, der natürlich noch nichts klar begriff, aber schon neuen Mut gefaßt hatte.
»Aber auch Sie, Väterchen, haben es nicht erwartet. Wie nur Ihr Händchen zittert! He-he-he!«
»Aber auch Sie zittern, Porfirij Petrowitsch.«
»Auch ich zittere; ich habe es nicht erwartet! ...«
Sie standen schon in der Tür. Porfirij wartete ungeduldig, daß Raskolnikow hinausgehe.
»Und Ihre Überraschung werden Sie mir gar nicht zeigen?« fragte plötzlich Raskolnikow höhnisch.
»Er spricht, und die Zähnchen im Munde klappern ihm nur so, he-he! Sie sind ein ironischer Mensch! Also auf Wiedersehen!«
»Oder besser: leben Sie wohl!«
»So Gott will, so Gott will«, murmelte Porfirij Petrowitsch mit einem schiefen Lächeln.
Beim Passieren der Kanzlei merkte Raskolnikow, daß viele ihn aufmerksam ansahen. In der Menge im Vorzimmer bemerkte er auch die beiden Hausknechte aus jenem Hause, die er damals am Abend zum Revieraufseher schicken wollte. Sie standen da und warteten auf etwas. Kaum war er aber auf die Treppe getreten, als er hinter sich wieder die Stimme Porfirij Petrowitschs hörte. Er wandte sich um und sah, daß dieser ihm ganz außer Atem nachlief.
»Nur ein Wort, Rodion Romanowitsch; alles weitere hängt von Gott ab, aber ich werde Sie auch ein wenig in aller Form vernehmen müssen ... Wir sehen uns also noch, nicht wahr?«
Und Porfirij blieb vor ihm lächelnd stehen.
»Nicht wahr?« fügte er noch einmal hinzu.
Man konnte annehmen, daß er noch etwas sagen wollte, es aber nicht über die Lippen bringen konnte.
»Sie müssen mich wegen des Früheren entschuldigen, Porfirij Petrowitsch ... ich ließ mich hinreißen«, begann Raskolnikow, der die Fassung schon so weit gewonnen hatte, daß er den unüberwindlichen Wunsch empfand, seine Unbefangenheit zur Schau zu stellen.
»Macht nichts, macht nichts«, erwiderte Porfirij fast freudig. »Auch ich selbst ... Einen giftigen Charakter habe ich, ich gestehe es, ich gestehe es! Wir sehen uns aber noch. So Gott will, sogar sehr! ...«
»Und werden einander endgültig erkennen?« fiel Raskolnikow ein.
»Und werden einander endgültig erkennen«, bestätigte Porfirij Petrowitsch, die Augen zusammenkneifend und ihn sehr ernst anblickend. »Und jetzt zum Namenstag?«
»Zu einer Beerdigung.«
»Ja, richtig, zur Beerdigung! Schonen Sie aber Ihre Gesundheit, Ihre Gesundheit ...«
»Ich aber weiß gar nicht, was ich Ihnen meinerseits wünschen soll!« entgegnete Raskolnikow, der schon die Treppe hinunterging, sich aber plötzlich wieder zu Porfirij Petrowitsch umwandte. »Ich würde Ihnen mehr Erfolg wünschen, aber Ihr Amt ist doch gar zu komisch!«
»Warum ist es denn komisch?« fragte Porfirij Petrowitsch, der sich schon auch umgewandt hatte, sofort die Ohren spitzend.
»Aber gewiß! Diesen armen Mikolka haben Sie doch sicher ordentlich gequält, auf Ihre psychologische Manier gepeinigt, bis er mit dem Geständnis kam! Tag und Nacht haben Sie ihm wohl zugeredet: ›Du bist der Mörder, du bist der Mörder! ...‹ Und jetzt, wo er es gestanden hat, werden Sie ihn wohl wieder auf die Folter spannen: ›Du lügst, du bist nicht der Mörder! Kannst nicht der Mörder sein! Es sind nicht deine eigenen Worte, die du sprichst!‹ Ist denn nach alledem Ihr Amt nicht komisch?«
»He-he-he! Und Sie haben es schon bemerkt, wie ich eben sagte: ›Es sind nicht seine eigenen Worte, die er spricht‹?«
»Warum soll man es nicht merken?«
»He-he! Sie sind scharfsinnig, sehr scharfsinnig! Ein lebhafter Geist! Und Sie treffen immer die komischste Seite ... he-he! ... Man sagt doch, daß unter den Schriftstellern diese Eigenschaft bei Gogol am stärksten ausgeprägt war?«
»Ja, bei Gogol.«
»Richtig, bei Gogol ... auf angenehmes Wiedersehen.«
»Auf angenehmes Wiedersehen ...«
Raskolnikow ging direkt nach Hause. Er war dermaßen konfus und verwirrt, daß er, als er schon zu Hause war und sich aufs Sofa warf, eine Viertelstunde sitzen mußte, um auszuruhen und seine Gedanken zu sammeln. An Nikolai versuchte er nicht mal zu denken: er fühlte sich wie niedergeschmettert: er fühlte, daß im Geständnis Nikolais etwas Unbegreifliches lag, etwas Erstaunliches, das er jetzt unmöglich erfassen konnte. Doch das Geständnis Nikolais war eine unumstößliche Tatsache. Die Folgen dieser Tatsache wurden ihm auch sofort klar: die Lüge mußte unbedingt mal ans Licht kommen, und dann würde man wieder ihn vornehmen. Aber bis dahin war er wenigstens frei und mußte unbedingt etwas für sich unternehmen, denn die Gefahr war unvermeidlich.
Doch in welchem Maße? Die Lage begann sich zu klären. Als er sich der ganzen Szene bei Porfirij, die er vorhin erlebt hatte, im Rohen, im allgemeinen Zusammenhange erinnerte, mußte er noch einmal erschauern. Natürlich kannte er noch nicht alle Absichten Porfirijs und konnte nicht alle seine Berechnungen von vorhin durchschauen. Doch ein Teil des Spiels war nun aufgedeckt, und gewiß konnte niemand besser als er verstehen, wie gefährlich für ihn dieser »Zug« im Spiele Porfirijs war. Noch ein wenig, und er hätte sich vollkommen verraten können. Da Porfirij seinen krankhaften Charakter kannte und ihn auf den ersten Blick richtig eingeschätzt und durchschaut hatte, ging er vielleicht allzu entschlossen, doch mit fast unfehlbarer Sicherheit vor. Allerdings hatte sich Raskolnikow schon früher stark kompromittiert, aber zu Tatsachen war es doch nicht gekommen; alles war nur noch relativ. Faßt er aber jetzt alles wirklich richtig auf? Irrt er auch nicht? Auf welche Resultate ging Porfirij heute aus? Hatte er für heute wirklich etwas vorbereitet? Was denn? Hatte er heute wirklich auf etwas gewartet, und worauf? Wie würden sie sich heute getrennt haben, wenn nicht die unerwartete Katastrophe mit Nikolai dazwischengekommen wäre?
Porfirij hatte fast sein ganzes Spiel aufgedeckt, wenn auch mit einem gewissen Risiko, aber er hatte es aufgedeckt: wenn er noch mehr gehabt hätte (glaubte Raskolnikow), so würde er auch das aufgedeckt haben. Was war das für eine »Überraschung«? War es nur eine Verhöhnung? Hatte das etwas zu bedeuten oder nicht? Konnte etwas dahinter stecken, was auch nur irgendwie einer Tatsache, einer positiven Anklage ähnlich sähe? Der Mann von gestern? Ist der wieder in die Erde versunken? Wo war er heute? Wenn Porfirij überhaupt etwas Positives in Händen hat, so kann es nur mit dem Mann von gestern zusammenhängen ...
Er saß auf dem Sofa, den Kopf tief gesenkt, die Ellbogen in die Knie gestemmt, das Gesicht in die Hände vergraben. Das nervöse Zittern am ganzen Körper dauerte an. Schließlich stand er auf, nahm die Mütze, dachte eine Weile nach und ging zur Tür.
Er hatte ein Vorgefühl, daß er wenigstens diesen ganzen Tag fast ganz sicher sein durfte. Plötzlich erfüllte ein beinahe freudiges Gefühl sein Herz. Er wollte so schnell als möglich zu Katerina Iwanowna. Zur Beerdigung kam er selbstverständlich zu spät, doch zum Totenmahl konnte er noch zurechtkommen, und dort würde er sofort Ssonja wiedersehen.
Er blieb stehen, dachte nach, und ein schmerzvolles Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.
»Heute! Heute!« wiederholte er vor sich hin. »Ja, heute! So muß es ...«
Kaum wollte er die Tür öffnen, als sie plötzlich von selbst aufging. Er fuhr zusammen und prallte zurück. Die Tür ging langsam und allmählich auf, und plötzlich zeigte sich eine Gestalt: es war der gestrige Mann von unter der Erde.
Der Mann blieb an der Schwelle stehen, blickte Raskolnikow schweigend an und trat einen Schritt ins Zimmer. Er sah genau so aus wie gestern, hatte die gleiche Figur und die gleiche Kleidung, aber in seinem Gesicht und Blick war eine große Veränderung vorgegangen: er blickte jetzt traurig drein und seufzte, nachdem er eine Weile dagestanden hatte, schwer auf. Es fehlte nur, daß er eine Wange auf eine Hand stützte und den Kopf zur Seite neigte, um ganz wie ein altes Weib auszusehen.
»Was wollen Sie?« fragte Raskolnikow, mehr tot als lebendig.
Der Mann schwieg und verneigte sich plötzlich tief, fast bis zur Erde. Jedenfalls berührte er die Erde mit einem Finger der rechten Hand.
»Was wollen Sie?« rief Raskolnikow aus.
»Ich habe mich an Ihnen vergangen«, sagte leise der Mann.
»Womit?«
»Mit bösen Gedanken.«
Beide sahen einander an.
»Es ärgerte mich. Als Sie damals hinkamen, vielleicht im Rausche, und die Hausknechte aufs Revier schickten und nach dem Blute fragten, ärgerte es mich, daß man Sie gehen ließ und für einen Betrunkenen hielt. Ich ärgerte mich so, daß ich den Schlaf verlor. Und da ich mir Ihre Adresse merkte, kam ich gestern her und fragte nach ...«
»Wer kam her«, unterbrach ihn Raskolnikow, dem nun ein Licht aufging.
»Ich, das heißt, ich habe Sie gekränkt.«
»Wohnen Sie in jenem Hause?«
»Ja, im selben Hause, und ich stand damals im Tore mit den andern, haben Sie es vergessen? Ich betreibe auch mein Handwerk dort. Ich bin Kürschner und Kleinbürger, nehme die Arbeit ins Haus ... und noch mehr ärgerte ich mich ...«
Und Raskolnikow erinnerte sich plötzlich der ganzen Szene von vorgestern im Tore; er erinnerte sich, daß außer den Hausknechten dort damals noch einige Menschen gestanden hatten, auch Frauen. Er entsann sich einer Stimme, die vorschlug, ihn gleich aufs Revier zu führen. Auf das Gesicht desjenigen, der das gesagt hatte, konnte er sich nicht besinnen und erkannte es auch jetzt nicht wieder, aber er erinnerte sich noch, daß er ihm sogar etwas geantwortet und sich nach ihm umgewandt hatte ...
So fand also der ganze Schrecken von gestern seine Lösung. Am entsetzlichsten war der Gedanke, daß er wegen eines so nichtigen Umstandes beinahe zugrundegegangen wäre, sich beinahe zugrundegerichtet hätte. Folglich wußte dieser Mensch außer des Versuches, die Wohnung zu mieten, und des Gesprächs über das Blut nichts zu erzählen. Folglich wußte auch Porfirij nichts außer diesem Fieberwahn und der Psychologie, die zwei Enden hat, nichts Positives, keine Tatsachen. Wenn folglich keine Tatsachen mehr auftauchen (und es dürfen keine auftauchen, sie dürfen nicht, sie dürfen nicht!), so ... was kann man ihm dann anhaben? Womit kann man ihn endgültig überführen, selbst wenn man ihn verhaftet? Folglich hat Porfirij das von der Wohnung erst jetzt, soeben erfahren und hat bisher nichts gewußt.
»Haben Sie es heute dem Porfirij gesagt ... daß ich in die Wohnung kam?« rief er aus, durch den plötzlichen Einfall überrascht.
»Was für einem Porfirij?«
»Dem Untersuchungsrichter.«
»Ich hab' es ihm gesagt. Die Hausknechte wollten damals nicht hingehen, darum ging ich selbst hin.«
»Heute?«
»Ein Weilchen vor Ihnen war ich dort. Und ich hörte alles, wie er Sie quälte.«
»Wo? Was? Wann?«
»Gleich nebenan, hinter dem Verschlag habe ich die ganze Zeit gesessen.«
»Wie? Also waren Sie die Überraschung? Wie ist es nur möglich? Ich bitte Sie!«
»Als ich sah,« begann der Kleinbürger, »daß die Hausknechte auf meine Worte hin nicht hingehen wollten, weil es, wie sie sagten, spät sei und er vielleicht auch böse werden könnte, daß sie um eine solche Stunde gekommen sind, ärgerte ich mich und konnte nicht mehr schlafen und begann mich zu erkundigen. Und nachdem ich mich gestern erkundigt hatte, ging ich heute hin. Wie ich zum erstenmal kam, war er nicht da; eine Stunde später – ließ man mich nicht vor, und wie ich zum drittenmal kam, da empfing er mich. Ich fing an, ihm alles zu erzählen, und er fing an, im Zimmer hin und her zu rennen und sich mit der Faust vor die Brust zu schlagen. ›Was macht ihr mit mir,‹ sagte er, ›ihr Räuber? Hätte ich das gewußt, so würde ich ihn durch die Polizei geholt haben!‹ Dann lief er hinaus, rief einen anderen herbei und redete mit ihm in einer Ecke, und dann wandte er sich wieder an mich, und fing an, mich auszufragen und zu schimpfen. Er machte mir viele Vorwürfe; ich aber berichtete ihm alles und sagte, daß Sie mir auf meine gestrigen Worte nichts zu antworten wagten und daß Sie mich nicht wiedererkannt hätten. Und er fing wieder an, hin und her zu laufen und sich mit der Faust vor die Brust zu schlagen und zu wüten; als man aber Sie anmeldete, sagte er mir: ›Geh hinter den Verschlag, sitze da und rühr dich nicht, was du auch hörst!‹ Und er brachte mir auch einen Stuhl hin und schloß mich ein; ›vielleicht werde ich dich noch brauchen‹, sagte er mir. Als man aber den Nikolai brachte, ließ er mich gleich nach Ihnen heraus und sagte: ›Ich werde dich noch mal vorladen und werde dich noch verhören ...‹«
»Hat er den Nikolai in deinem Beisein verhört?«
»Gleich nachdem er Sie herausließ, ließ er auch mich heraus und fing den Nikolai zu verhören an.«
Der Kleinbürger hielt inne und verbeugte sich plötzlich wieder, wobei er mit dem Finger den Boden berührte.
»Verzeihen Sie mir die Verleumdung und die Bosheit.«
»Gott wird's verzeihen.«
Kaum hatte er das gesagt, verneigte sich der Kleinbürger wieder tief, doch diesmal nicht bis zur Erde; dann wandte er sich langsam um und verließ das Zimmer.
– Alles hat zwei Enden, jetzt hat alles zwei Enden! – wiederholte Raskolnikow vor sich hin und ging aus dem Zimmer, rüstiger denn je. – Jetzt wollen wir noch kämpfen! – sagte er sich mit boshaftem Lächeln, als er die Treppe hinunterging. Sein Ärger richtete sich gegen ihn selbst; mit Verachtung und Beschämung erinnerte er sich seiner »Kleinmütigkeit«.
Der Morgen, der auf die für Pjotr Petrowitsch verhängnisvolle Aussprache mit Dunjetschka und Pulcheria Alexandrowna folgte, wirkte auch auf ihn erschütternd. Zu seinem größten Leidwesen war er gezwungen, das, was ihm noch gestern als ein, wenn auch sich tatsächlich abgespielt habendes, doch beinahe phantastisches und unmögliches Ereignis erschienen war, als eine vollzogene und unwiderrufliche Tatsache anzusehen. Die schwarze Schlange der gekränkten Eitelkeit nagte die ganze Nacht an seinem Herzen. Gleich nachdem er aufgestanden war, blickte er in den Spiegel. Er fürchtete, daß ihm in der Nacht die Galle übergelaufen sei. Aber in dieser Hinsicht war vorläufig alles in Ordnung, und nachdem Pjotr Petrowitsch sein edles, weißes, in der letzten Zeit etwas verfettetes Antlitz betrachtet hatte, fand er für einen Augenblick Trost in der vollen Überzeugung, irgendwo eine andere Braut, vielleicht sogar eine bessere, finden zu können; aber er ließ diesen Gedanken sofort fallen und spuckte energisch auf die Seite, wodurch er ein stummes, doch sarkastisches Lächeln bei seinem jungen Freunde und Zimmergenossen Andrej Ssemjonowitsch Lebesjatnikow weckte. Pjotr Petrowitsch bemerkte dieses Lächeln und kreidete es sofort seinem jungen Freunde an. In der letzten Zeit hatte er ihm schon recht viel angekreidet. Seine Wut verdoppelte sich, als er plötzlich einsah, daß er Andrej Ssemjonowitsch eigentlich nichts über seine gestrigen Erfolge hätte mitzuteilen brauchen. Das war der zweite Fehler, den er gestern in der Erregung und Gereiztheit, aus übermäßiger Expansivität begangen hatte. Diesen ganzen Morgen folgte wie absichtlich eine Unannehmlichkeit auf die andere. Selbst im Senat erwartete ihn ein Mißerfolg in einer Sache, um die er sich bemühte. Besonders hatte ihn der Wirt der Wohnung gereizt, die er angesichts der baldigen Heirat gemietet hatte und auf eigene Rechnung instandsetzen ließ. Dieser Wirt, ein reichgewordener deutscher Handwerker, wollte um keinen Preis von dem soeben abgeschlossenen Vertrag zurücktreten und verlangte die Bezahlung der im Vertrage vorgesehenen Entschädigung, obwohl Pjotr Petrowitsch ihm die Wohnung beinahe ganz neu instandgesetzt zurückgab. Ebenso wollte man auch im Möbelgeschäft keinen einzigen Rubel von der Anzahlung für die bereits gekauften, aber noch nicht in die Wohnung geschafften Möbel zurückzahlen.
– Ich werde doch nicht der Möbel wegen heiraten! – sagte sich Pjotr Petrowitsch, mit den Zähnen knirschend; zugleich erwachte in ihm eine neue verzweifelte Hoffnung: – Ist denn alles in der Tat so unwiderruflich verloren und erledigt? Soll ich nicht noch einmal versuchen? – Der Gedanke an Dunjetschka saß ihm wie ein Splitter im Herzen. Mit Qual ertrug er diesen Augenblick, und wenn er jetzt Raskolnikow durch einen bloßen Wunsch hätte töten können, so hätte Pjotr Petrowitsch diesen Wunsch unverzüglich ausgesprochen.
– Es war auch ein Fehler, daß ich ihnen gar kein Geld gab – dachte er, als er nun traurig in das kleine Zimmer Lebesjatnikows zurückkehrte: – Und warum bin ich, zum Teufel, so ein Jude geworden?! Es war sogar gar keine Berechnung dabei! Ich hatte die Absicht, sie in Armut zu halten und sie so weit zu bringen, daß sie mich für ihre Vorsehung halten, sie aber stellen so was an! ... Pfui! ... Nein, hätte ich während dieser ganzen Zeit beispielsweise fünfzehnhundert Rubel für die Mitgift, für Geschenke, für allerlei Schächtelchen, Necessaires, Anhängsel, Stoffe und sonstigen Kram aus dem Geschäft von Knoop oder aus dem Englischen Magazin ausgegeben, so stünde die Sache besser und ... sicherer! Dann hätten sie mir nicht so leicht absagen können! Diese Leute sind doch so, daß sie es unbedingt für ihre Pflicht gehalten hätten, mir im Falle einer Absage die Geschenke und das Geld zurückzugeben; die Rückgabe würde ihnen aber schwer fallen und leid tun! Auch das Gewissen würde ihnen zugesetzt haben: wie kann man bloß einen Menschen davonjagen, der bisher so freigebig und feinfühlend war? ... Hm! Das war ein Fehler von mir! –
Pjotr Petrowitsch knirschte noch einmal mit den Zähnen und nannte sich auf der Stelle einen Dummkopf – natürlich nur bei sich.
Nachdem er zu diesem Schlusse gekommen war, kehrte er noch doppelt so wütend und gereizt nach Hause zurück, als er fortgegangen war. Die Vorbereitungen zum Totenmahl im Zimmer Katerina Iwanownas erregten zum Teil seine Neugier. Von diesem Totenmahl hatte er schon gestern manches gehört; er glaubte sich sogar erinnern zu können, daß man auch ihn eingeladen hatte, aber bei seinen anderen Sorgen hatte er das alles überhört. Er erkundigte sich schnell bei der Frau Lippewechsel, die in Abwesenheit Katerina Iwanownas (die auf dem Friedhof war) das Tischdecken besorgte, und erfuhr, daß das Totenmahl sehr feierlich sein würde, daß fast alle Mieter, darunter auch solche, die den Verstorbenen gar nicht gekannt hatten, eingeladen seien, daß sogar Andrej Ssemjonowitsch Lebesjatnikow, trotz seines kürzlichen Streites mit Katerina Iwanowna, eingeladen sei, und schließlich, daß auch er selbst, Pjotr Petrowitsch, nicht nur eingeladen sei, sondern als der beinahe vornehmste Gast unter allen Mietern sogar mit großer Ungeduld erwartet werde. Auch Amalia Iwanowna selbst war trotz aller vorgefallenen Unannehmlichkeiten mit großer Ehre eingeladen worden, und darum wirtschaftete und bemühte sie sich jetzt fast mit Genuß: außerdem war sie festlich geputzt, obwohl in Trauer, und hatte lauter neue und seidene Sachen an, worauf sie sehr stolz war. Alle diese Tatsachen und Nachrichten brachten Pjotr Petrowitsch auf einen gewissen Gedanken, und er kehrte etwas nachdenklich in sein, das heißt Andrej Ssemjonowitsch Lebesjatnikows Zimmer zurück. Er hatte nämlich erfahren, daß unter den Eingeladenen sich auch Raskolnikow befand.
Andrej Ssemjonowitsch war diesen ganzen Morgen aus irgendeinem Grunde zu Hause. Zwischen diesem Herrn und Pjotr Petrowitsch hatten sich eigentümliche, übrigens auch natürliche Beziehungen gebildet: Pjotr Petrowitsch verachtete und haßte ihn sogar grenzenlos, fast von dem Tage an, an dem er sich bei ihm einlogiert hatte, empfand vor ihm aber zugleich eine gewisse Angst. Er war bei ihm nach seiner Ankunft in Petersburg nicht bloß aus kleinlicher Sparsamkeit abgestiegen: obwohl dies fast der wichtigste Grund war, hatte er auch noch andere Gründe. Schon in der Provinz hatte er über Andrej Ssemjonowitsch, seinen früheren Mündel, als über einen der hervorragendsten jungen Progressisten gehört, der sogar eine bedeutende Rolle in gewissen interessanten und legendären Kreisen spiele. Dies überraschte Pjotr Petrowitsch. Alle diese mächtigen, allwissenden, alles verachtenden und alles entlarvenden Kreise flößten Pjotr Petrowitsch schon längst eine eigentümliche, wenn auch unbestimmte Angst ein. Er selbst konnte sich, besonders da er in der Provinz lebte, über diese Dinge keinerlei einigermaßen genauen Begriff machen. Er hatte wie die anderen gehört, daß es besonders in Petersburg allerlei Progressisten, Nihilisten, Entlarver und dergleichen gäbe, aber er übertrieb und verdrehte gleich vielen anderen den Sinn und die Bedeutung dieser Benennungen ins Unsinnige. Am meisten fürchtete er seit einigen Jahren Entlarvungen, und dies war der Hauptgrund seiner ständigen, übertriebenen Unruhe, die er besonders bei dem Gedanken, seine Tätigkeit nach Petersburg zu verlegen, empfand. In dieser Beziehung war er sozusagen eingeschüchtert, wie es zuweilen kleine Kinder sind. Vor einigen Jahren, in der Provinz, als er eben seine Karriere begann, erlebte er zwei Fälle, wo die Tätigkeit sehr hochstehender Gouvernementsbeamten, an die er sich bis dahin geklammert hatte und die ihn protegierten, aufs grausamste entlarvt wurde. Der eine Fall endete für den Entlarvten mit einem besonderen Skandal, und auch der zweite hätte beinahe ein recht schlimmes Ende genommen. Aus diesem Grunde hatte sich Pjotr Petrowitsch vorgenommen, gleich nach seiner Ankunft in Petersburg festzustellen, was an den Gerüchten eigentlich sei, und nötigenfalls den Ereignissen zuvorzukommen und sich bei »unserer jungen Generation« einzuschmeicheln. In dieser Beziehung setzte er seine Hoffnungen auf Andrej Ssemjonowitsch und hatte schon gelernt, wie beim Besuche bei Raskolnikow, gewisse, anderen entlehnte Phrasen in vollendeter Form vom Stapel zu lassen ...
Selbstverständlich hatte er in Andrej Ssemjonowitsch sehr bald einen hohlen und einfältigen unbedeutenden Menschen erkannt. Dies hatte aber ihm weder seinen Glauben genommen noch ihn ermutigt. Selbst wenn er die Überzeugung gewonnen hätte, daß alle Progressisten die gleichen Narren seien, auch dann würde er sich nicht beruhigt haben. Für alle die Lehren, Ideen und Systeme (mit denen Andrej Ssemjonowitsch sofort über ihn herfiel) hatte er eigentlich nicht das geringste Interesse. Er hatte sein eigenes Ziel. Er wollte nur so schnell wie möglich feststellen: Was hier eigentlich los sei? Ob diese Menschen einen Einfluß haben oder nicht? Ob Grund zu Befürchtungen vorliege oder nicht? Ob man ihn entlarven werde, wenn er dies oder jenes unternehmen würde, oder nicht? Und wenn man ihn entlarven würde, so, in welcher Beziehung? und was für Dinge dabei besonders kompromittierend seien? Und noch mehr als das: kann man sich nicht irgendwie an sie heranmachen und sie bei dieser Gelegenheit anführen, wenn sie in der Tat irgendeine Macht besitzen? Soll man es, oder soll man es nicht? Ob es nicht ginge, durch ihre Vermittlung etwas in seiner Karriere zu erreichen? Mit einem Wort, er hatte Hunderte von Fragen vor sich.
Dieser Andrej Ssemjonowitsch war ein kachektischer und skrofulöser kleiner Mann, der irgendwo diente, lächerlich blond war und einen Kotelettenbart hatte, auf den er sehr stolz war. Außerdem hatte er immer Augenschmerzen. Er war ziemlich weichherzig, redete aber sehr selbstbewußt, manchmal sogar außerordentlich herausfordernd, was bei seiner kleinen Figur fast immer komisch wirkte. Bei Amalia Iwanowna zählte er zu den angesehensten Mietern, das heißt, er trank nicht und bezahlte die Miete pünktlich. Trotz dieser Eigenschaften war Andrej Ssemjonowitsch wirklich etwas dumm. Am Progreß und an »unserer jungen Generation« hing er aus bloßer Leidenschaft. Er war einer von der großen vielgestaltigen Legion hohler, kraftloser, unfertiger, doch eingebildeter Menschen, die nichts gelernt haben, sich aber an jede gangbare Modeidee hängen, um sie sofort zu banalisieren und alles, was sie in der aufrichtigsten Weise zu fördern glauben, in eine Karikatur zu verwandeln.
Übrigens konnte Lebesjatnikow trotz seiner eigentlich gutmütigen Natur seinen Zimmergenossen und einstigen Vormund Pjotr Petrowitsch wenig leiden. Dieses Verhältnis stellte sich von ungefähr ein und beruhte auf Gegenseitigkeit. Wie einfältig Andrej Ssemjonowitsch auch war, begann er allmählich einzusehen, daß Pjotr Petrowitsch ihn an der Nase herumführte und im geheimen verachtete, daß er »nicht der richtige Mensch« sei. Er versuchte, ihm das System Fouriers und die Theorie Darwins zu entwickeln, aber Pjotr Petrowitsch hörte ihm, besonders in der letzten Zeit, allzu sarkastisch zu, in der allerletzten Zeit schimpfte er sogar auf ihn. Er war nämlich instinktiv dahinter gekommen, daß Lebesjatnikow nicht bloß ein hohler und dummer Mensch, sondern auch ein Lügner war, daß er keinerlei irgendwie bedeutende Verbindungen, selbst in seinem eigenen Kreise, hatte und lauter Gerüchte aus dritter Hand wiedergab; daß er auch seine eigene Sache, die Propaganda vielleicht gar nicht verstand, da er schon gar zu verworren redete, also wohl kaum ein »Entlarvter« sein konnte! Wir wollen nebenbei noch bemerken, daß Pjotr Petrowitsch in diesen anderthalb Wochen (besonders im Anfange) die seltsamsten lobenden Außerungen von Andrej Ssemjonowitsch hinnahm, das heißt, daß er ihm nicht widersprach und schwieg, wenn Andrej Ssemjonowitsch ihm die Absicht zuschrieb, bei der Gründung einer neuen »Kommune« irgendwo in der Mjestschanskaja-Straße behilflich zu sein; oder zum Beispiel Dunjetschka nicht zu stören, wenn es ihr einfiele, gleich im ersten Monat nach der Hochzeit sich einen Geliebten anzuschaffen; oder seine künftigen Kinder nicht taufen zu lassen und dergleichen mehr. Pjotr Petrowitsch hatte, seiner Gewohnheit gemäß, gegen diese ihm zugeschriebenen Eigenschaften nichts einzuwenden, und nahm sogar alle die Lobsprüche hin – so angenehm war ihm jedes Lob.
Pjotr Petrowitsch, der an diesem Morgen zu irgendeinem Zweck einige fünfprozentige Staatspapiere eingewechselt hatte, saß am Tisch und zählte die Banknoten und Schatzscheine nach. Andrej Ssemjonowitsch, der fast nie Geld hatte, ging im Zimmer auf und ab und tat so, als sähe er dieses Geld gleichgültig und sogar mit Verachtung an. Pjotr Petrowitsch konnte zum Beispiel um nichts in der Welt glauben, daß Andrej Ssemjonowitsch tatsächlich imstande sei, so viel Geld gleichgültig anzusehen; Andrej Ssemjonowitsch seinerseits dachte voll Bitterkeit, daß Pjotr Petrowitsch vielleicht wirklich imstande sei, so von ihm zu denken und sich vielleicht sogar über die Gelegenheit freue, seinen jungen Freund mit den aufgestapelten Banknotenpäckchen zu necken und zu reizen, indem er ihn an seine eigene Nichtigkeit und die Distanz zwischen ihnen erinnerte.
Er fand ihn diesmal ungewöhnlich gereizt und unaufmerksam, obwohl Andrej Ssemjonowitsch soeben versucht hatte, ihm sein Lieblingsthema von der Errichtung einer ganz neuen, besonderen »Kommune« zu erklären. Und die kurzen Einwendungen und Bemerkungen, die Pjotr Petrowitsch unter dem Klappern der Beinkugeln des Rechenbretts entschlüpften, atmeten eine ganz offene und absichtlich unhöfliche Verhöhnung. Aber der »humane« Andrej Ssemjonowitsch schrieb diese Stimmung Pjotr Petrowitschs dem Eindrucke des gestrigen Bruches mit Dunjetschka zu und brannte vor Ungeduld, schneller auf dieses Thema zu kommen: darüber hätte er manches Progressive und Propagandistische zu sagen, was seinen verehrten Freund trösten und »zweifellos« von Nutzen für seine weitere Entwicklung sein könnte.
»Was für ein Totenmahl veranstaltet jene ... Witwe?« fragte plötzlich Pjotr Petrowitsch, Andrej Ssemjonowitsch an der interessantesten Stelle unterbrechend.
»Als ob Sie es nicht wüßten! Ich habe ja mit Ihnen gestern darüber gesprochen und meine Gedanken über alle diese Gebräuche entwickelt ... Sie hat auch Sie eingeladen; ich habe es gehört. Sie haben mit ihr gestern selbst gesprochen ...«
»Ich hätte niemals erwartet, daß diese bettelarme Närrin das ganze Geld, das sie vom anderen Narren ... Raskolnikow bekommen hat, für das Totenmahl verschwenden wird. Ich habe mich sogar eben gewundert, als ich vorüberging: was für Vorbereitungen, was für Weine! ... Mehrere Menschen sind eingeladen, es ist weiß der Teufel was!« fuhr Pjotr Petrowitsch fort. Als er sich erkundigte und das Gespräch auf dieses Thema brachte, verfolgte er offenbar ein bestimmtes Ziel. »Was? Sie sagen, daß sie auch mich eingeladen hat?« fügte er plötzlich hinzu und hob den Kopf. »Wann war das? Ich erinnere mich gar nicht. Ich werde übrigens nicht hingehen. Was habe ich dort zu suchen? Ich habe ihr erst gestern im Vorbeigehen gesagt, daß sie, als arme Beamtenwitwe, die Möglichkeit hat, das Jahresgehalt als einmalige Unterstützung zu bekommen. Hat sie mich vielleicht deswegen eingeladen? He-he-he!«
»Auch ich habe nicht die Absicht, hinzugehen«, sagte Lebesjatnikow.
»Das will ich meinen! Nachdem Sie sie eigenhändig verprügelt haben. Sie müssen sich selbstverständlich genieren, he-he!«
»Wer hat verprügelt? Wen?« Lebesjatnikow fuhr auf und errötete sogar.
»Sie haben doch, ich glaube vor einem Monat, Katerina Iwanowna verprügelt! Ich habe es gestern gehört ... ... So sehen also die Überzeugungen aus! Mit der Frauenfrage hapert es. He-he-he!«
Und Pjotr Petrowitsch fing an, wie getröstet, mit dem Rechenbrett zu klappern.
»Das ist alles Unsinn und Verleumdung!« fuhr Lebesjatnikow auf, der immer fürchtete, an diese Geschichte erinnert zu werden. »Und es war gar nicht so! Es war anders! Sie haben es falsch gehört; es ist Klatsch! Ich habe mich einfach gewehrt. Sie stürzte sich zuerst auf mich mit ihren Krallen ... Den ganzen Backenbart hat sie mir ausgerauft ... Es ist doch hoffentlich einem jeden Menschen erlaubt, seine Persönlichkeit zu verteidigen. Außerdem werde ich es niemand erlauben, mir Gewalt anzutun ... Aus Prinzip. Denn das ist schon fast Despotismus. Was hätte ich denn tun sollen: ruhig vor ihr stehen? Ich stieß sie nur zurück.«
»He-he-he!« höhnte Luschin boshaft weiter.
»Sie sind heute so streitsüchtig, weil Sie selbst erbost sind und sich ärgern ... Das alles ist aber Unsinn und hat mit der Frauenfrage gar nichts zu tun! Sie haben es nicht richtig verstanden; auch ich hatte geglaubt, daß, wenn man annimmt, die Frau sei dem Manne in allen Dingen, selbst in der Körperkraft (was bereits behauptet wird) gleich, auch darin Gleichheit herrschen müsse. Natürlich sagte ich mir nachher, daß es eine solche Frage eigentlich gar nicht geben darf, weil es auch keine Prügeleien geben darf, weil in der zukünftigen Gesellschaft Prügeleien undenkbar sind ... und weil es natürlich sonderbar wäre, die Gleichheit in der Prügelei zu suchen. Ich bin nicht so dumm ... obwohl das Prügeln vorläufig besteht ... das heißt, in Zukunft nicht mehr existieren wird ... aber jetzt noch vorkommt ... pfui Teufel! Wenn man mit Ihnen spricht, wird man ganz konfus! Ich gehe nicht zum Totenmahl, nicht weil es diese Unannehmlichkeit gegeben hat. Ich gehe einfach aus Prinzip nicht hin, um mich nicht an einem so gemeinen, abergläubischen Brauch wie ein Totenmahl zu beteiligen, das ist der Grund! Übrigens hätte ich auch hingehen können, um darüber zu lachen ... Leider werden aber keine Popen dabei sein. Sonst würde ich unbedingt hingehen.«
»Mit anderen Worten, Sie wollen fremdes Brot und Salz essen und gleich darauf spucken, ebenso auf die, die Sie eingeladen haben. Das wollten Sie doch sagen?«
»Durchaus nicht spucken, sondern protestieren. Ich verfolge einen guten Zweck. Ich kann dabei indirekt der Aufklärung und der Propaganda dienen. Jeder Mensch ist verpflichtet, der Aufklärung der anderen durch Propaganda zu dienen, und je schroffer er es tut, um so besser ist es vielleicht. Ich kann den Samen einer Idee in sie ausstreuen ... Aus diesem Samen kann eine Tatsache entstehen. Worin sollte da eine Beleidigung liegen? Zuerst werden sie sich beleidigt fühlen, später aber einsehen, daß ich ihnen nur Nutzen gebracht habe. Da hat man bei uns die Terebjewa beschuldigt (die jetzt in der Kommune ist), daß sie, als sie ihre Familie verließ und ... sich einem Mann hingab, ihren Eltern schrieb, daß sie nicht mehr unter Vorurteilen leben wolle und eine ›bürgerliche‹ Ehe eingehe; man sagte, es sei viel zu grob, seine Eltern so zu behandeln, sie hätte sie schonen und den Brief etwas milder abfassen können. Meiner Ansicht nach ist das alles Unsinn, und man soll gar nicht mild sein, im Gegenteil, gerade hier muß man protestieren. Die Warenz hat zum Beispiel sieben Jahre mit ihrem Manne gelebt, hat dann ihre zwei Kinder verlassen und ihrem Manne in einem Briefe ganz unzweideutig gesagt: ›Ich habe eingesehen, daß ich mit Ihnen nicht glücklich sein kann. Ich werde Ihnen nie verzeihen, daß Sie mich betrogen, indem Sie mir verheimlicht haben, daß es eine andere Gesellschaftsordnung in den Kommunen gibt. Ich habe es vor kurzem von einem großmütigen Mann erfahren, dem ich mich auch hingegeben habe und mit dem ich jetzt eine Kommune gründe. Ich spreche das offen aus, weil ich es für ehrlos halte, Sie zu betrügen. Bleiben Sie, wo Sie wollen. Hoffen Sie nicht, mich wiederzugewinnen; Sie kommen viel zu spät. Ich wünsche Ihnen Glück.‹ So soll man derartige Briefe schreiben!«
»Ist es dieselbe Terebjewa, von der Sie damals erzählten, daß sie in der dritten ›bürgerlichen‹ Ehe lebe?«
»Eigentlich erst in der zweiten! Und wenn es auch die vierte und sogar die fünfzehnte wäre, so macht das doch nichts! Wenn ich jemals bedauerte, daß meine Eltern gestorben sind, so sicher jetzt. Einigemal habe ich schon daran gedacht, wie ich sie mit einem Protest geohrfeigt haben würde, wenn sie noch am Leben wären! Ich hätte es absichtlich so eingerichtet ... Was ist so ein ›verlorener Sohn‹ dagegen, pfui Teufel! Ich hätte es ihnen schon gezeigt. Ich hätte sie in Erstaunen versetzt! Wirklich schade, daß ich niemand mehr habe!«
»Um ihn in Erstaunen zu versetzen? He-he! Nun, ganz wie Sie wünschen«, unterbrach ihn Pjotr Petrowitsch. »Sagen Sie mir aber folgendes: Sie kennen doch diese Tochter des Verstorbenen, die magere Kleine? Ist das wirklich wahr, was man von ihr erzählt, wie?«
»Was ist denn dabei? Meiner persönlichen Überzeugung nach ist es auch der normale Zustand der Frau. Warum auch nicht? Das heißt, distinguons. In der jetzigen Gesellschaft ist es natürlich nicht ganz normal, weil dieser Zustand ein erzwungener ist, aber in der zukünftigen Gesellschaft wird er freiwillig und folglich normal sein. Sie hätte auch jetzt schon das Recht dazu: sie hat gelitten, und das war ihr Fonds, sozusagen ihr Kapital, über das sie mit vollem Rechte verfügen darf. In der zukünftigen Gesellschaft werden solche Fonds natürlich nicht mehr nötig sein; doch ihre Rolle wird in einer anderen Hinsicht bestimmt und logisch und rationell bedingt sein. Was aber Ssofja Ssemjonowna persönlich betrifft, so betrachte ich für meine Person ihre gegenwärtigen Handlungen als einen energischen und personifizierten Protest gegen die Gesellschaftsordnung und habe vor ihr deswegen großen Respekt; ich freue mich sogar, wenn ich sie ansehe!«
»Man hat mir aber erzählt, daß Sie sie aus dieser Wohnung hinausgeekelt haben!«
Lebesjatnikow wurde sogar wütend.
»Das ist auch so eine Klatschgeschichte!« schrie er. »Die Sache war ganz anders! Es war gar nicht so! Katerina Iwanowna hat diese ganze Lügengeschichte erfunden, weil sie nichts verstanden hat! Und ich hatte mich an Ssofja Ssemjonowna gar nicht herangemacht! Ich hatte mich bloß bemüht, sie aufzuklären, durchaus uneigennützig, um in ihr den Protest zu wecken ... Mir war es nur um den Protest zu tun, auch konnte Ssofja Ssemjonowna sowieso nicht mehr in dieser Wohnung bleiben!«
»Sie forderten sie also auf, in eine Kommune einzutreten?«
»Sie machen immer Witze, und zwar schlechte Witze, erlauben Sie mir zu bemerken. Sie verstehen nichts! In der Kommune gibt es solche Rollen nicht. Die Kommune wird ja gerade darum gegründet, damit es solche Rollen nicht gebe. In der Kommune wird diese Rolle ihren jetzigen Charakter verändern, und was hier dumm ist, wird dort klug sein, und was unter den jetzigen Verhältnissen unnatürlich, wird dort durchaus natürlich sein. Alles hängt vom Milieu und von der Umgebung des Menschen ab. Das Milieu ist alles, der Mensch selbst ist nichts. Mit Ssofja Ssemjonowna vertrage ich mich auch jetzt gut, was Ihnen als Beweis dienen kann, daß sie mich nie für ihren Feind und Beleidiger gehalten hat. Ich überrede sie jetzt, in eine Kommune einzutreten, doch auf einer ganz anderen Grundlage! Was lachen Sie darüber? Wir wollen unsere eigene besondere Kommune gründen, doch auf viel breiterer Grundlage als die bisherigen. Wir sind in unseren Überzeugungen weiter gegangen. Wir verneinen mehr! Wenn Dobroljubow aus dem Grabe auferstünde, würde ich mit ihm schon streiten! Den Belinskij würde ich schon ganz unterkriegen! Indessen fahre ich fort, die Aufklärung Ssofja Ssemjonownas zu fördern. Sie ist eine prächtige Natur!«
»Und diese prächtige Natur nutzen Sie auch aus, wie? He-he!«
»Nein, nein! Oh, nein! Im Gegenteil!«
»Sogar im Gegenteil! He-he-he! Das ist gut!«
»Glauben Sie mir doch! Aus welchem Grunde sollte ich es vor Ihnen verheimlichen, ich bitte Sie? Im Gegenteil, es kommt mir selbst merkwürdig vor: mir gegenüber ist sie ganz besonders scheu, keusch und schamhaft!«
»Und Sie klären sie natürlich auf, he-he-he! Sie beweisen ihr, daß jede Schamhaftigkeit Unsinn ist? ...«
»Durchaus nicht! Durchaus nicht! Oh, wie roh, wie dumm sogar – verzeihen Sie mir – fassen Sie das Wort Aufklärung auf! Sie verstehen gar nichts! O mein Gott, wie ... unfertig Sie noch sind! Wir streben nach der Befreiung der Frau, und Sie haben bloß das eine im Sinn ... Indem ich die Frage von der Keuschheit und Schamhaftigkeit der Frau als von Dingen, die an und für sich nutzlos und auf Vorurteilen begründet sind, übergehe, lasse ich ihre Keuschheit im Verkehr mit mir gelten, denn darin liegt doch ihr Wille, ihr ganzes Recht. Natürlich, wenn sie mir selbst sagte: ›Ich will dich haben‹, so würde ich es für ein großes Glück halten, denn das junge Mädchen gefällt mir sehr gut; aber jetzt, jetzt wird sie wohl von niemand höflicher, respektvoller und mit größerer Achtung vor ihrer Würde behandelt als von mir ... ich warte und hoffe, und das ist alles.«
»Schenken Sie ihr doch lieber etwas. Ich wette, daß Sie daran noch gar nicht gedacht haben.«
»Nichts verstehen Sie, gar nichts, das habe ich Ihnen schon gesagt! Ihre Lage ist natürlich derart, aber hier ist auch eine andere Frage! Eine ganz andere! Sie verachten sie einfach. Indem Sie eine Tatsache sehen, die Sie fälschlicherweise für verachtungswürdig halten, versagen Sie einem menschlichen Wesen ein humanes Verhältnis zu ihm. Sie wissen noch nicht, was das für eine Natur ist! Ich ärgere mich nur sehr, daß sie in der letzten Zeit fast ganz aufgehört hat, zu lesen, und sich von mir keine Bücher mehr holt. Früher hat sie es getan. Es ist auch schade, daß sie bei all ihrer Energie und Entschlossenheit zu protestieren – die sie schon einmal bewiesen hat –, noch immer wenig Selbständigkeit und sozusagen Unabhängigkeit besitzt, wenig Verneinungsgeist, um sich von manchen Vorurteilen und ... Dummheiten ganz loszureißen. Obwohl sie manche Fragen sehr gut begreift. So hat sie zum Beispiel ausgezeichnet die Frage vom Handküssen erfaßt, das heißt, daß der Mann die Frau beleidigt, wenn er ihr die Hand küßt, da er damit auf die Ungleichheit der Geschlechter hinweist. Über diese Frage wurde bei uns debattiert, und ich teilte es ihr sofort mit. Auch meine Ausführungen über die Assoziationen der Arbeiter in Frankreich hörte sie mit großem Interesse an. Jetzt erörterte ich vor ihr die Frage vom freien Eintritt in jedes Zimmer in der künftigen Gesellschaft.«
»Was ist denn das?«
»In der letzten Zeit wurde über die Frage debattiert: ob ein Mitglied der Kommune das Recht habe, zu jeder Zeit in das Zimmer eines anderen Mitglieds, ganz gleich, ob eines Mannes oder einer Frau, einzutreten ... und es wurde beschlossen, daß es dieses Recht habe ...«
»Und wenn der oder die Betreffende in diesem Augenblick mit einer natürlichen Verrichtung beschäftigt ist He-he!«
Andrej Ssemjonowitsch wurde fast böse.
»Sie haben immer das eine im Sinn! Sie denken nur an diese verfluchten Verrichtungen!« schrie er gehässig. »Pfui, wie ärgere ich mich, daß ich, als ich Ihnen das System erklärte, so vorzeitig auf diese verfluchten Verrichtungen zu sprechen kam! Zum Teufel! Das ist immer der Stein des Anstoßes für alle Ihresgleichen! Das gemeinste ist, daß Sie darüber lachen, ehe Sie erfahren haben, worum es sich hier handelt. Als hätten Sie recht! Als wären Sie auf etwas stolz! Pfui! Ich habe schon einigemal behauptet, daß man diese ganzen Fragen den Neulingen erst am Schluß vorbringen darf, wenn sie von der Richtigkeit des Systems schon überzeugt sind, wenn der Mensch schon aufgeklärt ist und die richtige Tendenz hat. Sagen Sie mir, bitte, was finden Sie auch Beschämendes und Verachtungswürdiges zum Beispiel an einer Mistgrube? Ich bin als erster bereit, jede beliebige Mistgrube zu reinigen! Es ist auch nicht die geringste Selbstaufopferung dabei! Es ist einfach eine Arbeit, eine edle, für die Gesellschaft nützliche Tätigkeit, die jeder anderen Tätigkeit ebenbürtig ist und natürlich viel höher steht, als beispielsweise die Tätigkeit eines Raffael oder Puschkin, weil sie nützlicher ist.«
»Und edler, edler, he-he-he!«
»Was heißt edler? Ich verstehe solche Ausdrücke als Bewertung menschlicher Tätigkeit nicht. ›Edler‹, ›großmütiger‹ – das alles ist Unsinn, Dummheit, alte Vorurteile, die ich verneine! Alles, was der Menschheit nützlich ist, ist auch edel. Ich verstehe nur das eine Wort: nützlich! Sie können kichern, soviel Sie wollen, aber es ist doch so!«
Pjotr Petrowitsch lachte auf. Er hatte sein Geld schon nachgezählt und steckte es eben ein. Ein Teil davon blieb aber aus unbekannten Gründen noch immer auf dem Tische liegen. Diese »Frage von den Mistgruben« hatte schon einigemal, trotz ihrer ganzen Abgeschmacktheit, Mißverständnisse und Entzweiungen zwischen Pjotr Petrowitsch und seinem jungen Freund zur Folge gehabt. Die ganze Dummheit lag darin, daß Andrej Ssemjonowitsch ernsthaft böse wurde, Luschin aber sich dessen freute; diesmal wollte er aber Lebesjatnikow ganz besonders ärgern.
»Sie sind nur infolge Ihres gestrigen Mißerfolgs so böse und herausfordernd«, platzte endlich Lebesjatnikow heraus, der im allgemeinen trotz seiner ganzen »Unabhängigkeit« und aller seiner »Proteste« nicht wagte, Pjotr Petrowitsch zu opponieren, und ihm gegenüber den aus früheren Jahren angewöhnten Respekt beobachtete.
»Sagen Sie mir besser,« unterbrach ihn Pjotr Petrowitsch hochmütig und ärgerlich, »können Sie ... oder, besser gesagt, sind Sie mit der erwähnten jungen Person tatsächlich so intim bekannt, um sie sofort, für einen Augenblick zu mir in dieses Zimmer zu bitten? Mir scheint, sie sind schon alle vom Friedhof heimgekommen ... Ich höre sie dort herumgehen ... Ich muß sie sehen, ich meine diese junge Person.«
»Was brauchen Sie sie?« fragte Lebesjatnikow erstaunt.
»Ich muß sie sprechen. Heute oder morgen ziehe ich von hier aus und möchte ihr darum mitteilen ... Übrigens bitte ich Sie, während unserer Unterredung hierzubleiben. Es ist sogar besser so. Sonst wird man sich noch Gott weiß was denken.«
»Ich werde mir absolut nichts denken ... Ich habe nur so gefragt, und wenn Sie von ihr was wollen, so gibt es nichts Leichteres, als sie herkommen zu lassen. Ich gehe gleich hin, und Sie können überzeugt sein, daß ich nicht stören werde.«
Nach fünf Minuten kam Lebesjatnikow wirklich mit Ssonjetschka zurück. Sie trat äußerst erstaunt und wie immer sehr schüchtern ein. Sie war in solchen Fällen immer scheu und fürchtete alle neuen Menschen und neue Bekanntschaften; sie hatte sie schon als Kind gefürchtet, jetzt aber fürchtete sie sie mehr als je ... Pjotr Petrowitsch empfing sie »freundlich und höflich«, doch mit einem Anflug von einer lustigen Vertraulichkeit, die übrigens, seiner Meinung nach, einem so ehrenwerten und soliden Menschen im Verkehr mit einem so jungen und in gewisser Beziehung interessanten Wesen wie sie durchaus ziemte. Er beeilte sich, sie zu »ermutigen«, und bot ihr einen Stuhl am Tische ihm gegenüber an. Ssonja setzte sich, sah sich um, – sah auf Lebesjatnikow, auf das Geld, das auf dem Tische lag, und dann plötzlich wieder auf Pjotr Petrowitsch, von dem sie ihren Blick wie festgebannt nicht mehr wandte. Lebesjatnikow ging schon zur Tür, aber Pjotr Petrowitsch stand auf, forderte Ssonja durch einen Wink auf, sitzen zu bleiben, und hielt Lebesjatnikow an der Tür zurück.
»Ist Raskolnikow dort? Ist er schon gekommen?« fragte er ihn leise.
»Raskolnikow? Er ist schon dort. Warum fragen Sie? Ja, er ist schon dort. Soeben sah ich ihn kommen ... Warum?«
»Nun, dann bitte ich Sie ganz besonders, hier mit uns zu bleiben und mich mit diesem ... Fräulein nicht allein zu lassen. Die Sache ist ganz unbedeutend, aber man wird Gott weiß was sagen. Ich will nicht, daß Raskolnikow es dort erzählt ... Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich verstehe, ich verstehe!« rief Lebesjatnikow, dem plötzlich ein Licht aufging. »Ja, Sie haben recht ... Allerdings, Sie gehen nach meiner persönlichen Überzeugung in Ihren Befürchtungen viel zu weit, aber ... aber Sie haben doch ein Recht darauf. Ich bleibe gern hier. Ich will hier am Fenster stehen und werde nicht stören ... Meiner Ansicht nach haben Sie recht ...«
Pjotr Petrowitsch kehrte zum Sofa zurück, nahm Ssonja gegenüber Platz, sah sie aufmerksam an und setzte sich plötzlich eine außerordentlich solide und sogar etwas strenge Miene auf, als wollte er sagen: Bilde dir nur nichts ein, meine Liebe! – Ssonja verlor endgültig die Fassung.
»Erstens bitte ich Sie, Ssofja Ssemjonowna, mich bei Ihrer hochverehrten Frau Mama zu entschuldigen ... Es stimmt doch? Katerina Iwanowna vertritt doch bei Ihnen die Mutter?« begann Pjotr Petrowitsch sehr solid, aber doch recht freundlich.
Er hatte sichtlich die freundschaftlichsten Absichten.
»Jawohl, die Stelle der Mutter«, antwortete Ssonja hastig und scheu.
»Nun, wollen Sie mich also bei ihr entschuldigen, daß ich infolge unvorhergesehener Umstände gezwungen bin, der Einladung keine Folge zu leisten, und zu den Pfannkuchen, das heißt zum Totenmahl, nicht kommen werde, trotz der liebenswürdigen Aufforderung Ihrer Frau Mama.«
»Gut ... ich will es ihr sagen ... sofort.«
Und Ssonjetschka sprang hastig vom Stuhle auf.
»Es ist noch nicht alles«, hielt sie Pjotr Petrowitsch zurück, über ihre Einfalt und Unkenntnis der Anstandsregeln lächelnd. »Sie kennen mich zu wenig, liebste Ssofja Ssemjonowna, wenn Sie glauben, daß ich wegen dieser unbedeutenden und nur mich allein angehenden Angelegenheit eine Person wie Sie bemüht und zu mir gerufen hätte. Ich habe ganz andere Absichten.«
Ssonja setzte sich eilig hin. Die grauen und regenbogenfarbigen Banknoten, die noch auf dem Tische lagen, flimmerten wieder vor ihren Augen, sie wandte aber schnell ihr Gesicht von ihnen ab und richtete ihren Blick auf Pjotr Petrowitsch; es kam ihr plötzlich furchtbar unanständig vor, fremdes Geld anzusehen, besonders wenn sie es tat. Sie heftete ihren Blick auf das goldene Lorgnon Pjotr Petrowitschs, das er in der Linken hielt, und zugleich auf den außerordentlich hübschen, großen, schweren Ring mit gelbem Stein, den er auf dem Mittelfinger dieser Hand trug; doch sie wandte die Augen auch davon ab und richtete den Blick wieder auf Pjotr Petrowitsch, da sie nicht wußte, wohin sie sehen sollte. Nachdem er eine Weile noch solider als früher geschwiegen hatte, fuhr er fort:
»Ich hatte gestern Gelegenheit, im Vorbeigehen einige Worte mit der unglücklichen Katerina Iwanowna zu wechseln. Es genügten zwei Worte, um zu erfahren, daß sie sich in einem – widernatürlichen Zustande befindet, wenn man so sagen darf.«
»Jawohl ... in einem widernatürlichen«, bestätigte Ssonja hastig.
»Oder einfacher und verständlicher – in einem kranken.«
»Ja, einfacher und verständl ... jawohl, sie ist krank.«
»Nun also. Aus dem Gefühle der Humanität und ... sozusagen des Mitleides, möchte ich ihr nun meinerseits irgendwie behilflich sein, da ich ihr unvermeidlich trauriges Los voraussehe. Ich glaube, die ganze arme Familie lastet jetzt ganz auf Ihnen?«
»Gestatten Sie die Frage«, sagte Ssonja, indem sie sich plötzlich erhob: »Was haben Sie ihr gestern von der Möglichkeit einer Pension gesagt? Denn sie sagte mir schon gestern, Sie hätten es übernommen, ihr eine Pension zu erwirken. Ist es wahr?«
»Durchaus nicht, in gewisser Beziehung ein Unsinn. Ich habe nur auf einen einmaligen Unterstützungsbeitrag für die Witwe eines Beamten hingedeutet – natürlich, nur wenn eine Protektion vorhanden ist –, aber Ihr verstorbener Vater hat, soviel ich weiß, nicht nur die vorgeschriebene Frist nicht ausgedient, sondern in der letzten Zeit überhaupt nicht gedient. Mit einem Wort: es könnte wohl eine Hoffnung vorhanden sein, doch nur eine recht schwache, denn in diesem Falle liegen keinerlei Rechte auf die Unterstützung vor, sogar im Gegenteil. Sie aber denkt schon an eine Pension, he-he-he! Eine fixe Dame!«
»Jawohl, an eine Pension ... Denn sie ist leichtgläubig und gut und glaubt aus Güte alles und ... und ... sie hat mal einen solchen Verstand ... Jawohl, entschuldigen Sie ...« sagte Ssonja und erhob sich wieder zum Fortgehen.
»Entschuldigen Sie, Sie haben mich noch nicht zu Ende gehört.«
»Jawohl, ich habe noch nicht zu Ende gehört«, murmelte Ssonja.
»Also setzen Sie sich.«
Ssonja wurde entsetzlich verlegen und setzte sich zum drittenmal.
»Da ich Ihre Lage mit den unglücklichen kleinen Kindern sehe, möchte ich, wie gesagt, ihr nach Kräften behilflich sein, das heißt, wie man so sagt, nach Kräften und nicht mehr. Man könnte zum Beispiel zu ihren Gunsten eine Kollekte veranstalten, oder eine Lotterie ... oder etwas in dieser Art, wie es auch immer von Nahestehenden und sogar auch von fremden Menschen gemacht wird, die helfen möchten. Ich hatte eben die Absicht, Ihnen das mitzuteilen. Das ginge zu machen.«
»Jawohl, sehr gut ... Gott wird es Ihnen ...« stammelte Ssonja, Pjotr Petrowitsch unverwandt anblickend.
»Das ginge zu machen, aber ... davon reden wir später ... das heißt, man könnte auch heute anfangen, davon zu reden. Wir werden uns am Abend wiedersehen, uns einigen und sozusagen den Grund dazu legen. Kommen Sie zu mir so gegen sieben her. Andrej Ssemjonowitsch wird, hoffe ich, sich daran auch beteiligen ... Aber ... es gibt hier noch einen Umstand, den man vorher genau besprechen muß. Darum habe ich Sie auch, Ssofja Ssemjonowna, bemüht und herkommen lassen. Es ist nämlich meine Ansicht, daß man Katerina Iwanowna kein Geld in die Hand geben darf und daß es sogar gefährlich wäre; ein Beweis dafür ist das heutige Totenmahl. Obwohl sie keine Brotrinde für morgen hat und ... auch kein Schuhwerk und überhaupt nichts, kauft sie heute Jamaika-Rum und sogar, glaube ich, Madeira ... und Kaffee. Ich sah es im Vorbeigehen. Morgen werden Sie es alles bis zum letzten Bissen Brot wieder büßen müssen; das ist schon ganz dumm. Darum muß die Kollekte, meiner Ansicht nach, so gemacht werden, daß die unglückliche Witwe vom Gelde sozusagen nichts erfährt und nur Sie zum Beispiel allein davon wissen. Habe ich recht?«
»Ich weiß es nicht. Sie ist nur heute so ... ein einziges Mal im Leben ... sie wollte so gerne das Totenmahl machen, dem Toten die Ehre erweisen, sein Andenken ehren ... sie ist aber sehr klug. Übrigens, ganz wie Sie wollen, ich werde Ihnen sehr ... auch die anderen ... und Gott wird es Ihnen ... auch die Waisenkinder ...«
Ssonja kam nicht weiter und fing zu weinen an.
»So. Nun denken Sie daran; jetzt aber wollen Sie von mir für Ihre Verwandte fürs erste eine meinen Verhältnissen entsprechende Summe annehmen. Es wäre mir außerordentlich erwünscht, daß mein Name dabei nicht erwähnt werde. Hier ... da ich sozusagen eigene Sorgen habe, bin ich nicht imstande, mehr zu geben ...«
Und Pjotr Petrowitsch reichte Ssonja einen sorgfältig entfalteten Zehnrubelschein. Ssonja nahm das Geld, errötete, murmelte etwas und begann sich eilig zu verabschieden. Pjotr Petrowitsch begleitete sie schnell zur Tür. Sie sprang schließlich aus dem Zimmer, aufs tiefste erregt und abgequält, und kehrte in größter Verlegenheit zu Katerina Iwanowna zurück.
Während dieser ganzen Szene stand Andrej Ssemjonowitsch bald am Fenster und ging bald im Zimmer auf und ab. Als aber Ssonja fort war, ging er auf Pjotr Petrowitsch zu und reichte ihm feierlich die Hand.
»Ich habe alles gehört und gesehen«, sagte er, das letzte Wort besonders betonend. »Es ist edel, das heißt, ich wollte sagen, human! Sie wollten ihrem Dank ausweichen, ich sah es! Und obwohl ich, offen gestanden, für die private Wohltätigkeit nichts übrig haben kann, weil sie das Übel nicht radikal ausrottet, sondern noch mehr nährt, muß ich doch gestehen, daß ich Ihr Benehmen mit Vergnügen gesehen habe, ja, es gefiel mir sehr gut.«
»Ach, das ist alles Unsinn!« murmelte Pjotr Petrowitsch, ein wenig erregt und Lebesjatnikow etwas eigentümlich ansehend.
»Nein, es ist kein Unsinn! Ein Mensch, der wie Sie durch den gestrigen Vorfall beleidigt und gereizt ist und zugleich fähig ist, an das Unglück anderer zu denken, so ein Mensch ... begeht durch seine Handlungen einen sozialen Fehler, verdient aber jede Achtung! Ich hatte es von Ihnen gar nicht erwartet, Pjotr Petrowitsch, um so mehr, als nach Ihren Begriffen – oh, wie Ihre Begriffe für Sie störend sind! Wie regt Sie zum Beispiel der gestrige Mißerfolg auf!« rief der gutmütige Andrej Ssemjonowitsch, der wieder Sympathie für Pjotr Petrowitsch fühlte. »Und warum, warum wollen Sie unbedingt diese legitime Ehe, edler, lieber Pjotr Petrowitsch? Was brauchen Sie unbedingt diese Gesetzlichkeit in der Ehe? Nun, schlagen Sie mich, wenn Sie wollen, aber ich freue mich, freue mich, daß sie nicht zustande gekommen ist, daß Sie frei sind, daß Sie für die Menschheit noch nicht verloren sind, ich freue mich! ... Sehen Sie, nun habe ich mich ausgesprochen!«
»Weil ich in Ihrer illegitimen Ehe keine Hörner tragen und keine fremden Kinder züchten will – dazu brauche ich die legitime Ehe«, antwortete Luschin, nur um etwas zu sagen.
Er war mit irgendeinem Gedanken beschäftigt und nachdenklich.
»Kinder? Sie berühren die Kinderfrage?« fuhr Andrej Ssemjonowitsch auf wie ein Schlachtroß beim Klange der Kriegstrompete. »Diese Frage ist eine soziale und von höchster Bedeutung, das gebe ich zu; aber sie wird anders gelöst werden. Viele negieren vollkommen die Kinder, als etwas, was auf die Familie hindeutet. Von den Kindern wollen wir später reden und uns jetzt den Hörnern zuwenden. Ich muß gestehen, diese Frage ist meine Schwäche. Dieser abscheuliche, eines Husaren oder eines Puschkin würdige Ausdruck ist im künftigen Lexikon undenkbar. Was sind Hörner? Oh, diese Verirrung! Was für Hörner? Warum Hörner?,.. Welch ein Unsinn! Im Gegenteil, in der ›bürgerlichen‹ Ehe wird es sie gar nicht geben! Die Hörner sind nur eine natürliche Folge der legitimen Ehe, sozusagen eine Korrektur dieser Ehe, ein Protest, so daß sie in diesem Sinne gar nicht erniedrigend sind ... Und wenn ich einmal – nehmen wir mal diesen Unsinn an – eine legitime Ehe eingehe, so werde ich mich über Ihre dreimal verfluchten Hörner sogar freuen; ich werde dann meiner Frau sagen: ›Mein Freund, bisher habe ich dich bloß geliebt, jetzt achte ich dich aber auch, weil du es verstanden hast, zu protestieren!‹ Sie lachen! Das kommt, weil Sie sich von den Vorurteilen noch nicht losreißen können! Der Teufel noch einmal; ich verstehe ja sehr gut, warum es so unangenehm ist, in der legitimen Ehe betrogen zu werden: es ist aber nur die schändliche Folge der schändlichen Tatsache, wo beide Teile gleich erniedrigt sind. Wenn aber die Hörner ganz offen aufgesetzt werden, wie zum Beispiel in der bürgerlichen Ehe, so existieren sie nicht mehr, sind undenkbar und verlieren sogar die Benennung ›Hörner‹. Im Gegenteil, Ihre Frau zeigt Ihnen nur, wie sehr sie Sie achtet, indem sie Sie für unfähig hält, ihrem Glücke im Wege zu stehen, und für aufgeklärt genug, um an ihr wegen des neuen Gatten keine Rache zu nehmen. Hol's der Teufel – zuweilen denke ich mir, daß, wenn ich verheiratet wäre (ganz gleich, ob bürgerlich oder legitim), ich meiner Frau wohl selbst einen Geliebten zuführen würde, falls sie sich selbst lange keinen anschaffte. ›Mein Freund,‹ würde ich ihr sagen, ›ich liebe dich, will aber obendrein, daß du mich auch achtest, – hier!‹ Habe ich nicht recht?« ...
Pjotr Petrowitsch hörte zu und kicherte, doch ohne besondere Begeisterung. Er hörte sogar wenig zu. Er war wirklich mit anderen Gedanken beschäftigt, was auch Lebesjatnikow schließlich merkte. Pjotr Petrowitsch war nachdenklich, sogar aufgeregt, und rieb sich die Hände. Andrej Ssemjonowitsch erinnerte sich später dieses Benehmens und fand dafür auch eine Erklärung ...
Es wäre schwer, genau die Gründe anzugeben, die im verstörten Gehirn Katerina Iwanownas die Idee dieses sinnlosen Totenmahles gezeitigt hatten. Von den zwanzig Rubeln, die sie von Raskolnikow eigentlich zur Beerdigung Marmeladows bekommen hatte, waren wirklich nahezu zehn Rubel draufgegangen. Vielleicht hielt es Katerina Iwanowna für eine Pflicht gegen den Verstorbenen, sein Gedächtnis »so wie es sich gehört« zu ehren, damit alle Mieter und insbesondere Amalia Iwanowna wissen, daß er »nicht nur gar nicht ärger als sie, vielleicht sogar viel besser« gewesen sei und daß niemand von ihnen das Recht habe, über ihn »die Nase zu rümpfen«. Vielleicht spielte hier am meisten jener besondere »Stolz der Armen« mit, der manchen Bettler bei gewissen öffentlichen Gebräuchen bewegt, die letzten Kräfte anzuspannen und die letzten Spargroschen auszugeben, nur um »nicht ärger als die anderen« zu sein, damit jene anderen nichts auszusetzen haben. Sehr wahrscheinlich war auch, daß Katerina Iwanowna den Wunsch hatte, gerade bei dieser Gelegenheit, gerade in diesem Augenblick, wo sie von der ganzen Welt verlassen schien, allen diesen »elenden und gemeinen Mietern« zu zeigen, daß sie nicht nur »zu leben und Gäste zu empfangen« verstehe, sondern auch, daß sie nicht zu einem solchen Lose erzogen worden sei, daß sie ihre Erziehung »in einer vornehmen, man kann wohl sagen, aristokratischen Oberstenfamilie« genossen habe und durchaus nicht bestimmt gewesen sei, selbst die Böden zu kehren und nachts die Kinderlumpen zu waschen. Diese Anfälle von Stolz und Eitelkeit kommen zuweilen bei den ärmsten und niedergedrücktesten Menschen vor und werden ihnen manchmal zu einem unaufhaltsamen und brennenden Bedürfnis. Katerina Iwanowna fühlte sich aber dabei gar nicht niedergedrückt: man konnte sie wohl durch Umstände ganz erdrücken, doch nicht moralisch niederdrücken, das heißt, einschüchtern und ihren Willen dem seinen unterwerfen. Außerdem hatte Ssonjetschka recht, wenn sie sagte, daß ihr Verstand verstört sei. Positiv und endgültig konnte man das allerdings noch nicht behaupten, aber ihr armer Kopf hatte in der letzten Zeit, im letzten Jahre viel zu viel Qualen erduldet, als daß er nicht zum Teil gelitten hätte. Auch die stark fortgeschrittene Schwindsucht trägt, wie die Mediziner sagen, zur Störung der geistigen Funktionen bei.
»Weine« in Mehrzahl und von verschiedenen Sorten gab es nicht, es gab auch keinen Madeira: das war übertrieben, aber Wein1 war vorhanden. Es gab: Branntwein, Rum und Lissaboner, alles von der geringsten Sorte, doch in genügender Menge. An Speisen gab es außer dem obligaten Totenmahlgericht aus Reis mit Honig noch drei oder vier Gerichte (darunter auch Pfannkuchen), alles aus der Küche Amalia Iwanownas; dazu wurden zugleich auch zwei Samowars bereitet, für Tee und Punsch, der nach dem Essen getrunken werden sollte. Die Einkäufe hatte Katerina Iwanowna selbst besorgt mit Hilfe eines der Mieter, eines armen, kleinen Polen, der Gott weiß warum bei Frau Lippewechsel wohnte und der sich sofort an Katerina Iwanowna zu Botengängen attachierte und den ganzen gestrigen Tag und heutigen Morgen Hals über Kopf mit herausgestreckter Zunge herumgelaufen war, anscheinend besonders darum bemüht, daß der letztere Umstand auch bemerkt werde. Wegen jedes Unsinns kam er jeden Augenblick zu Katerina Iwanowna selbst gelaufen, war sogar einmal ins Große Kaufhaus gegangen, um sie zu suchen, und nannte sie ununterbrochen »Frau Oberst«, so daß sie seiner schließlich bis zur Übelkeit überdrüssig wurde, obwohl sie anfangs auch sagte, daß sie ohne diesen »dienstfertigen und großmütigen« Menschen wohl ganz verloren wäre. Es war eine Eigentümlichkeit ihres Charakters, daß sie jeden ersten besten mit den schönsten und grellsten Farben schmückte, ihn so lobte, daß er sich selbst genierte, zu seinem Ruhme verschiedene Umstände erfand, die gar nicht existierten, selbst vollkommen aufrichtig und treuherzig an die Wirklichkeit dieser Umstände glaubte, dann sich aber plötzlich enttäuscht sah und den Menschen, den sie noch vor einigen Stunden buchstäblich vergöttert hatte, anschrie, anspuckte und mit den Fäusten hinausjagte. Von Natur aus hatte sie einen lustigen, friedlichen Charakter und war leicht zum Lachen zu bringen, aber infolge der ununterbrochenen Schicksalsschläge und Mißerfolge wollte sie und forderte sie so wütend, daß alle in Frieden und Freude leben und sich nicht unterstehen, anders zu leben, daß der leiseste Mißton im Leben, der geringste Mißerfolg sie sofort beinahe in Raserei versetzte und sie gleich nach den leuchtendsten Hoffnungen und Phantasien anfing, ihr Schicksal zu verfluchen, alles, was ihr in die Hände fiel, zu zerreißen und zu vernichten und mit dem Kopfe gegen die Wand zu schlagen. Auch Amalia Iwanowna hatte bei ihr plötzlich eine außergewöhnliche Bedeutung und außergewöhnliche Achtung gewonnen, vielleicht bloß aus dem Grunde, weil das Totenmahl stattfinden sollte und Amalia Iwanowna mit ganzem Herzen bereit war, an allen Mühen teilzunehmen: sie übernahm es, den Tisch zu decken, die Tischwäsche, das Geschirr und dergleichen zu besorgen und in ihrer Küche die Speisen zu bereiten. Katerina Iwanowna hatte sie, vor dem Gange auf den Friedhof, mit allen Vollmachten ausgestattet und als ihre Vertreterin zurückgelassen. Alles war tatsächlich aufs beste vorbereitet: der Tisch war sogar ziemlich reinlich gedeckt, das Geschirr, die Gabeln und Messer, Schnapsgläser, Weingläser und Tassen waren zwar von verschiedener Form und von verschiedener Größe, weil von verschiedenen Mietern zusammengeborgt, aber alles stand zur bestimmten Stunde auf seinem Platz, und Amalia Iwanowna, vom Gefühl durchdrungen, ihr Werk gut getan zu haben, empfing die vom Friedhofe Zurückkehrenden sogar mit einem gewissen Stolze, fein geputzt, mit neuen Trauerbändern an der Haube und im schwarzen Kleide. Dieser, wenn auch berechtigte Stolz, mißfiel aus irgendeinem Grunde Katerina Iwanowna: »Als ob wir es ohne Amalia Iwanowna nicht verstanden hätten, den Tisch zu decken!« Auch die Haube mit den neuen Bändern mißfiel ihr: »Diese dumme Deutsche ist vielleicht noch stolz, daß sie die Wirtin ist und sich aus Gnade herabgelassen hat, den armen Mietern zu helfen? Aus Gnade! Ich bitte sehr! Bei Katerina Iwanownas Papa, der Oberst und beinahe Gouverneur gewesen war, pflegte man den Tisch zuweilen für vierzig Personen zu decken, so daß man irgendeine Amalia Iwanowna, oder besser gesagt Ludwigowna, nicht mal in die Küche hereingelassen hätte ...« Katerina Iwanowna entschloß sich jedoch, ihre Gefühle vorerst nicht zu äußern, obwohl sie sich in ihrem Herzen fest vorgenommen hatte, Amalia Iwanowna heute noch zurechtzuweisen und an den ihr gebührenden Platz zu erinnern, sonst würde sie sich Gott weiß was einbilden; zunächst beschränkte sie sich darauf, sie einfach kühl zu behandeln. Auch eine andere Unannehmlichkeit hatte zur Gereiztheit Katerina Iwanownas beigetragen: zur Beerdigung war von den eingeladenen Mietern, außer dem Polen, der immerhin noch Zeit gefunden hatte, auf den Friedhof zu laufen, fast niemand erschienen; aber zum Totenmahle kamen nur die unbedeutendsten und ärmsten von ihnen; viele waren sogar etwas angetrunken, mit einem Worte ein Gesindel. Aber die Alteren und die Solideren waren alle, als hätten sie sich verabredet, nicht erschienen. So fehlte zum Beispiel auch Pjotr Petrowitsch Luschin, wohl der solideste von allen Mietern, während Katerina Iwanowna schon gestern abend aller Welt, das heißt Amalia Iwanowna, Poljetschka, Ssonja und dem kleinen Polen erzählt hatte, daß er der edelste und großmütigste Mensch mit den besten Verbindungen und einem bedeutenden Vermögen sei, ehemaliger Freund ihres ersten Mannes, der im Hause ihres Vaters gern gesehen worden sei und ihr versprochen habe, alle Mittel anzuwenden, um ihr eine beträchtliche Pension zu erwirken. Wir wollen hier bemerken, daß, wenn Katerina Iwanowna auch mit jemandes Verbindungen und Vermögen prahlte, sie es ohne persönliches Interesse und vollkommen uneigennützig tat, sozusagen aus übervollem Herzen, nur um des Vergnügens willen, den Betreffenden zu loben und dem Gelobten ein größeres Gewicht zu verleihen. Gleich Luschin war auch, vermutlich »seinem Beispiel folgend«, »dieser gemeine Schuft Lebesjatnikow« nicht erschienen. »Was bildet sich wohl dieser ein? Man hat ihn doch bloß aus Gnade eingeladen, und auch das nur, weil er mit Pjotr Petrowitsch in einem Zimmer wohnt und sein Bekannter ist, so daß es nicht gut ging, ihn nicht einzuladen.« Nicht erschienen waren ferner die feine Dame mit ihrer Tochter, »der überreifen alten Jungfer«, die zwar erst seit zwei Wochen bei Amalia Iwanowna wohnten, aber sich schon einige Male über den Lärm und das Geschrei bei den Marmeladows beschwert hatten, besonders wenn der Verstorbene betrunken nach Hause kam; das hatte Katerina Iwanowna von Amalia Iwanowna erfahren, als diese, wenn sie sich mit Katerina Iwanowna zankte und ihr drohte, sie mit ihrer ganzen Familie hinauszuwerfen, aus vollem Halse schrie, daß sie »vornehme Mieter, deren Fuß Sie nicht mal wert sind, belästigen!« – Katerina Iwanowna nahm sich absichtlich vor, diese Dame mit ihrer Tochter, deren »Fuß sie nicht mal wert sei«, einzuladen, um so mehr als jene bei zufälligen Begegnungen sich hochmütig wegwandte; – nun soll sie wissen, daß man hier »edler fühlt und denkt und, ohne Böses nachzutragen, zu Gast bittet«; – nun sollen beide, Mutter und Tochter, sehen, daß Katerina Iwanowna an ganz andere Verhältnisse gewöhnt ist! Sie hatte fest beschlossen, ihnen dies alles bei Tisch zu erklären und auch den Gouverneursrang des verstorbenen Papas zu erwähnen, zugleich aber auch indirekt zu bemerken, daß sie keinen Grund hätten, sich bei den Begegnungen wegzuwenden, und daß dies außerordentlich dumm sei! Es fehlte auch der dicke Oberstleutnant (eigentlich Hauptmann a.D.); es stellte sich aber heraus, daß er seit gestern früh vor Trunkenheit seine Beine nicht bewegen konnte. Mit einem Wort, es erschienen nur: der Pole, ein unansehnlicher Kanzlist, der kein Wort sprach, in fettigem Frack, mit Finnen im Gesicht und einem ekelhaften Geruch; dann ein tauber und fast blinder Greis, der einst bei einem Postamt angestellt gewesen war und dessen Unterhalt bei Amalia Iwanowna seit undenkbaren Zeiten und aus unbekannten Gründen jemand bezahlte. Es kam auch ein betrunkner Leutnant a.D., im Grunde genommen nur ein Proviantbeamter, der höchst unanständig und laut lachte und sogar, »denken Sie sich nur«, keine Weste anhatte! Ein Unbekannter setzte sich direkt an den Tisch, sogar ohne Katerina Iwanowna begrüßt zu haben, und schließlich tauchte auch noch eine Person auf, die aus Ermangelung eines Anzuges mit einem Schlafrocke bekleidet war; dies war aber schon so unanständig, daß dieser Gast durch die Bemühungen Amalia Iwanownas und des Polen abgeschoben wurde. Der Pole hatte übrigens noch zwei andere Polen mitgebracht, die bei Amalia Iwanowna niemals gewohnt hatten und bisher von niemand in dieser Wohnung gesehen worden waren. Dies alles reizte Katerina Iwanowna in der unangenehmsten Weise. »Für wen waren denn alle die Vorbereitungen gemacht?« Man hatte sogar die Kinder, um Platz zu gewinnen, nicht an den Tisch gesetzt, der ohnehin das ganze Zimmer einnahm, sondern für sie in einer hinteren Ecke auf einem Koffer gedeckt; die beiden Kleineren saßen auf einer Bank, und Poljetschka, als die Erwachsene, mußte auf sie aufpassen, sie füttern und ihnen »wie Kindern aus vornehmem Hause« die Näschen putzen. Mit einem Wort, Katerina Iwanowna konnte nicht umhin, alle mit verdoppelter Würde und sogar mit Hochmut zu empfangen. Einige Gäste musterte sie besonders streng und forderte von oben herab auf, sich an den Tisch zu setzen. Da sie aus irgendeinem Grunde für alle Nichterschienenen Amalia Iwanowna verantwortlich machte, fing sie plötzlich an, diese äußerst nachlässig zu behandeln, was die Wirtin sofort merkte und wodurch sie sehr pikiert wurde. Ein solcher Anfang verhieß kein gutes Ende. Endlich saßen alle bei Tisch. Raskolnikow war fast in demselben Augenblick gekommen, als alle vom Friedhof zurückkehrten. Katerina Iwanowna freute sich sehr über sein Erscheinen, erstens, weil er der einzige »gebildete« Gast sei und »bekanntlich in zwei Jahren einen Lehrstuhl an der hiesigen Universität bekommen würde«, und zweitens, weil er sich bei ihr unverzüglich und respektvoll entschuldigte, daß er trotz seines guten Willens zur Beerdigung nicht hatte kommen können. Sie fiel förmlich über ihn her, setzte ihn bei Tisch links neben sich (zu ihrer Rechten saß Amalia Iwanowna) und wandte sich, trotz der ununterbrochenen Sorgen, daß die Speisen richtig herumgereicht würden und daß alle etwas bekämen, trotz des qualvollen Hustens, der sie jeden Augenblick unterbrach und würgte und in den letzten zwei Tagen eine besonders hartnäckige Form angenommen zu haben schien, immerfort an Raskolnikow; sie beeilte sich, vor ihm halb flüsternd alle Gefühle, die sich in ihr angesammelt hatten, und ihre ganze gerechte Entrüstung über das mißlungene Totenmahl zu ergießen, wobei die Entrüstung oft von einem sehr lustigen und ausgelassenen Lachen über die versammelten Gäste, hauptsächlich aber über die Wirtin, unterbrochen wurde.
»An allem ist dieser Kuckuck schuld. Sie verstehen doch, wen ich meine: jene dort!« Und Katerina Iwanowna zeigte mit dem Kopf auf die Wirtin. »Schauen Sie sie an: sie glotzt mit den Augen und ahnt, daß wir von ihr sprechen, kann aber kein Wort verstehen und schaut darum so dumm. Pfui, wie eine Eule! Ha-ha-ha! ... Kchi-kchi-kchi! Und was will sie bloß mit ihrer Haube beweisen? Kchi-kchi-kchi! Haben Sie es schon bemerkt, sie will immer, daß alle glauben, sie protegiere mich und erweise mir durch ihre Anwesenheit eine Ehre. Ich hatte sie als eine anständige Person gebeten, bessere Leute einzuladen, und zwar die Bekannten des Verstorbenen; schauen Sie aber, wen sie hergebracht hat: lauter Hanswürste und Schmutzfinken! Sehen Sie nur diesen da mit dem Ausschlag im Gesicht an: der sieht doch genau aus wie Rotz auf zwei Beinen! Und diese Polen ... Ha-ha-ha! Kchi-kchi-kchi! Niemand, niemand hat sie hier je gesehen, auch ich habe sie nie gesehen; warum sind sie bloß gekommen, frage ich Sie? Sie sitzen so manierlich nebeneinander. – Panje, he!« schrie sie plötzlich einem von ihnen zu: »Haben Sie schon Pfannkuchen gehabt? Nehmen Sie noch! Trinken Sie Bier! Wollen Sie keinen Schnaps? – Schauen Sie nur: er ist aufgesprungen, er verbeugt sich, sehen Sie nur, sehen Sie nur: die Ärmsten sind wohl ganz ausgehungert! Macht nichts, sollen sie nur essen. Sie machen wenigstens keinen Lärm, aber ... aber ich fürchte wirklich für die silbernen Löffel der Wirtin! – Amalia Iwanowna!« wandte sie sich plötzlich fast laut an diese: »Wenn man Ihre Löffel stiehlt, so übernehme ich keine Verantwortung, das sage ich Ihnen im voraus! – Ha-ha-ha!« lachte sie, sich wieder an Raskolnikow wendend, wieder auf die Wirtin weisend und sich über den Witz freuend: »Sie hat es nicht verstanden, hat mich wieder nicht verstanden! Sie sitzt mit offenem Maul, schauen Sie nur: eine Eule, eine echte Eule, eine Eule mit neuen Bändern, ha-ha-ha!«
Ihr Lachen ging wieder in einen qualvollen Hustenanfall über, der an die fünf Minuten dauerte. Auf dem Taschentuche blieb etwas Blut zurück, Schweißtropfen traten ihr auf die Stirn. Sie zeigte das Blut schweigend Raskolnikow, holte kaum etwas Atem und fing sofort wieder an, ihm mit außerordentlicher Begeisterung zuzuflüstern, während sich an ihren Wangen rote Flecke zeigten:
»Sehen Sie, ich hatte ihr den, man kann wohl sagen, schwierigen Auftrag gegeben, jene Dame und ihre Tochter einzuladen, Sie verstehen doch, wen ich meine? Hier hätte sie in der delikatesten Weise, auf eine diplomatische Manier vorgehen müssen; sie machte es aber so, daß diese zugereiste dumme Gans, diese aufgeblasene Kreatur, diese Null aus der Provinz nur aus dem Grunde, weil sie eine Majorswitwe ist und hergekommen ist, um sich um eine Pension zu bemühen und sich bei den Behörden die Stiefel abläuft, weil sie sich mit ihren fünfundfünfzig Jahren schminkt und färbt (das weiß man ja) ... und eine solche Kreatur hat es nicht nur nicht für nötig befunden, zu erscheinen, sondern sich nicht einmal entschuldigen lassen, daß sie nicht kommen konnte, wie es in solchen Fällen die gewöhnlichste Höflichkeit verlangt! Ich kann gar nicht verstehen, warum auch Pjotr Petrowitsch nicht gekommen ist! Wo ist aber Ssonja? Wo ist sie hingegangen? Ah, da ist sie endlich! Ssonja, wo bist du gewesen? Es ist doch sonderbar, daß du selbst bei der Leichenfeier deines Vaters so unpünktlich bist. Rodion Romanowitsch, lassen Sie sie sich neben Sie setzen. Da ist ein Platz, Ssonjetschka ... nimm dir, was du willst. Nimm dir von der Fischsülze, die ist besser. Gleich bringt man Pfannkuchen. Hat man den Kindern etwas gegeben? Poljetschka, habt ihr dort von allem? Kchi-kchi-kchi! Nun, gut. Sei ein braves Kind, Lenja, und du, Kolja, strampele nicht mit den Beinen; sitz so, wie ein vornehmes Kind sitzen muß. Was sagst du, Ssonjetschka?«
Ssonja beeilte sich, ihr sofort die Entschuldigung Pjotr Petrowitschs zu übermitteln, und bemühte sich, recht laut zu sprechen, damit es alle hörten; dabei gebrauchte sie ausgewählt ehrerbietige Ausdrücke, die sie absichtlich Pjotr Petrowitsch zuschrieb und ausschmückte. Sie fügte hinzu, daß Pjotr Petrowitsch sie ganz besonders gebeten habe, mitzuteilen, daß er, sobald es ihm nur möglich sei, sofort herkommen werde, um mit ihr unter vier Augen von Geschäften zu sprechen und zu vereinbaren, was sich in der Zukunft tun und unternehmen ließe, und dergleichen.
Ssonja wußte, daß dies Katerina Iwanowna versöhnlicher stimmen und beruhigen würde, daß es ihr schmeicheln und vor allem ihren Stolz befriedigen würde. Sie setzte sich neben Raskolnikow, den sie hastig begrüßte und flüchtig, mit Interesse ansah. Später aber vermied sie es, ihn anzusehen und mit ihm zu sprechen. Sie schien sogar etwas zerstreut, obwohl sie die ganze Zeit keinen Blick von Katerina Iwanowna wandte, um ihr jeden Wunsch vom Gesicht abzulesen. Aus Ermangelung anderer Kleider war weder sie noch Katerina Iwanowna in Trauer; Ssonja hatte ein dunkelbraunes Kleid an und Katerina Iwanowna ihr einziges dunkles Kattunkleid mit Streifen. Die Mitteilung über Pjotr Petrowitsch machte den beabsichtigten Effekt. Katerina Iwanowna hörte Ssonja mit Würde an und erkundigte sich dann mit der gleichen Würde, wie das Befinden Pjotr Petrowitschs sei. Dann flüsterte sie Raskolnikow recht laut zu, daß es für einen so angesehenen und soliden Menschen wie Pjotr Petrowitsch doch sonderbar wäre, in eine so »ungewöhnliche Gesellschaft« zu geraten, wie groß auch seine Anhänglichkeit an ihre Familie und die alte Freundschaft mit ihrem Papa auch seien.
»Darum bin ich Ihnen, Rodion Romanowitsch, so verbunden, daß Sie auch in dieser Umgebung mein Salz und Brot nicht verschmäht haben«, fügte sie fast laut hinzu. »Ich bin übrigens überzeugt, daß nur Ihre besondere Freundschaft zu meinem armen Verstorbenen Sie dazu bewogen hat, Ihr Wort zu halten.«
Dann musterte sie noch einmal stolz und selbstbewußt alle ihre Gäste und erkundigte sich plötzlich sehr laut und mit besonderem Interesse beim tauben Greis, »ob er keinen Braten wünsche und ob er schon Lissaboner bekommen hätte«. Der Greis antwortete nicht und konnte lange nicht verstehen, was man ihn fragte, obwohl seine Nachbarn ihn spaßhalber aufzurütteln begannen. Er blickte nur mit offenem Munde um sich, wodurch er die allgemeine Heiterkeit noch vergrößerte.
»Ist das ein Esel! Sehen Sie nur, sehen Sie nur! Wozu hat man ihn hergebracht? Was aber Pjotr Petrowitsch betrifft, so war ich seiner stets sicher«, fuhr Katerina Iwanowna fort, sich an Raskolnikow wendend. »Natürlich gleicht er gar nicht,« wandte sie sich scharf und laut, mit äußerst strenger Miene zu Amalia Iwanowna, so daß jene sogar erschrak, »gleicht er gar nicht Ihren aufgedonnerten Damen mit den langen Schleppen, die man bei meinem Papa nicht mal als Köchinnen aufgenommen hätte und denen mein verstorbener Mann, wenn er sie bei sich empfinge, nur aus seiner unerschöpflichen Güte diese Ehre erwiesen hätte.«
»Jawohl, der trank gern; ja, er liebte es, es kam vor«, rief plötzlich der verabschiedete Proviantbeamte, das zwölfte Glas Schnaps hinunterstürzend.
»Mein verstorbener Mann hatte allerdings diese Schwäche, und das ist allen bekannt«, fiel Katerina Iwanowna plötzlich über ihn her. »Aber er war ein guter und edler Mensch und liebte und achtete seine Familie; leider vertraute er sich in seiner Güte allerlei verdorbenen Menschen zu sehr an, und Gott allein weiß, mit wem er nicht alles getrunken hat; auch mit solchen, die seine Schuhsohle nicht wert waren! Denken Sie sich nur, Rodion Romanowitsch, in seiner Tasche fand man einen Hahn aus Pfefferkuchenteig; er geht bewußtlos betrunken nach Hause, denkt aber an seine Kinder.«
»Einen Ha-hn? Sie geruhten zu sagen: einen Ha-hn?« rief der Proviantbeamte.
Katerina Iwanowna würdigte ihn keiner Antwort. Sie dachte über etwas nach und seufzte.
»Sie glauben wohl sicher wie alle, daß ich zu streng zu ihm war«, fuhr sie fort, sich an Raskolnikow wendend. »Es ist aber nicht richtig! Er achtete mich, er achtete mich sehr! Ein gutes Herz hat er gehabt! Und manchmal tat er mir so leid. Manchmal sitzt er da, sieht mich aus der Ecke an, und er dauert mich so, daß ich lieb zu ihm sein möchte; dann muß ich mir aber sagen: ›Ich bin lieb zu ihm, und er betrinkt sich gleich wieder‹. Nur durch Strenge konnte man ihn im Zaume halten.«
»Jawohl, es kam auch vor, daß er an den Haaren herumgezerrt wurde, das kam öfters vor«, brüllte der Proviantbeamte wieder und stürzte noch ein Glas Schnaps hinunter.
»Es wäre nützlich, manche Dummköpfe nicht nur an den Haaren herumzuzerren, sondern auch mit einem Besen zu behandeln. Ich spreche jetzt nicht von Verstorbenen!« fertigte Katerina Iwanowna den Proviantbeamten ab.
Die roten Flecke auf ihren Wangen glühten immer stärker, und ihre Brust hob und senkte sich. Sie war bereit, eine große Geschichte zu beginnen. Viele kicherten, vielen war es offenbar angenehm. Den Proviantbeamten reizte man auf und flüsterte ihm etwas zu. Offenbar wollte man sie aufeinander hetzen.
»Gestatten Sie die Frage, was Sie damit sagen wollten«, begann der Proviantbeamte. »Das heißt, auf wessen vornehmes Konto Sie eben ... Übrigens will ich nichts mehr sagen! Unsinn! Eine Witwe, eine arme Witwe! Ich verzeihe ... Ich passe!«
Und er trank wieder einen Schnaps.
Raskolnikow saß da und hörte schweigend und angewidert zu. Er berührte bloß aus Höflichkeit die Stücke, die ihm Katerina Iwanowna jeden Augenblick auf den Teller legte, und aß nur, um sie nicht zu kränken. Er beobachtete aufmerksam Ssonja. Ssonja wurde aber immer unruhiger und besorgter; auch sie ahnte, daß das Totenmahl kein gutes Ende nehmen werde, und verfolgte mit Angst die steigende Gereiztheit Katerina Iwanownas. Es war ihr unter anderem bekannt, daß der Hauptgrund, warum die beiden zugereisten Damen die Einladung Katerina Iwanownas so verachtungsvoll verschmäht hatten, an ihr selbst lag. Sie hatte von Amalia Iwanowna gehört, daß die Mutter die Einladung als Beleidigung aufgefaßt und die Frage gestellt hatte: »Wie könnte ich meine Tochter neben dieses Mädchen setzen?« Ssonja hatte das Gefühl, daß Katerina Iwanowna davon schon etwas wußte, aber eine Kränkung Ssonjas war für sie mehr als eine Kränkung ihrer selbst, ihrer Kinder, ihres Papas, mit einem Worte, es war für sie eine tödliche Kränkung, und Ssonja wußte, daß Katerina Iwanowna sich nicht eher beruhigen würde, als »bis sie diesen beiden langschleppigen Weibern bewiesen hätte, daß sie beide usw.« Wie absichtlich schickte in diesem Augenblick jemand vom anderen Ende des Tisches Ssonja einen Teller mit zwei aus Schwarzbrot gekneteten, von einem Pfeil durchbohrten Herzen. Katerina Iwanowna fuhr auf und bemerkte sofort laut, daß der Absender natürlich ein »betrunkener Esel« sei. Auch Amalia Iwanowna ahnte etwas Schlimmes; durch den Hochmut Katerina Iwanownas aufs tiefste gekränkt, begann sie ganz unvermittelt, um die unangenehme Stimmung der Gesellschaft abzulenken und zugleich auch ihr eigenes Ansehen zu heben, zu erzählen, wie ein Bekannter von ihr, ein »Karl aus der Apotheke« nachts in einer Droschke nach Hause fuhr: »der Kutscher wollte ihn töten, aber Karl tat ihn sehr, sehr bitten, daß er ihn nicht töte, und er weinte, und faltete die Hände, und erschrak, und die Angst durchbohrte ihm sein Herz«. Katerina Iwanowna lächelte zwar, bemerkte aber, daß Amalia Iwanowna keine russischen Anekdoten erzählen sollte. Jene fühlte sich dadurch noch mehr beleidigt und entgegnete, daß »ihr Vater aus Berlin ein sehr, sehr vornehmer Mann gewesen sei und die Hände immer in die Taschen steckte«. Die lachlustige Katerina Iwanowna hielt es nicht aus und fing laut zu lachen an, so daß Amalia Iwanowna ihre letzte Geduld verlor und sich nur mit äußerster Mühe beherrschte.
»Ist das eine Eule!« flüsterte Katerina Iwanowna fast heiter wieder Raskolnikow zu. »Sie wollte sagen, daß er die Hände in seinen eigenen Taschen hatte, aber es klingt, als ob er ein Taschendieb gewesen wäre, kchi-kchi-kchi! Haben Sie bemerkt, Rodion Romanowitsch, daß alle diese Petersburger Ausländer, das heißt hauptsächlich die Deutschen, die irgendwoher zu uns kommen, sämtlich dümmer sind als wir?! Sie werden doch zugeben, daß man nicht erzählen darf, daß ›die Angst Karls Herz durchbohrt‹ hat und daß er (dieser Waschlappen!), statt den Kutscher zu knebeln, ›die Hände gefaltet, und geweint und sehr, sehr gebeten hat‹. Ach, die dumme Gans! Sie glaubt dabei, daß alles sehr rührend sei, und ahnt gar nicht, wie dumm sie ist! Meiner Ansicht nach ist dieser betrunkene Proviantbeamte viel klüger als sie; dem sieht man wenigstens an, daß er ein Säufer ist und das letzte bißchen Verstand vertrunken hat; diese aber sitzen so aufgeblasen und ernst da ... Wie sie dasitzt und glotzt. Sie zürnt! Sie zürnt! Ha-ha-ha! Kchi-kchi-kchi!«
Katerina Iwanowna war lustig geworden und begann plötzlich mit allen Einzelheiten zu erzählen, wie sie mit der Pension, die man für sie erwirken würde, in ihrer Heimatstadt T. ein Pensionat für junge Mädchen aus vornehmen Familien gründen werde. Katerina Iwanowna hatte dies Raskolnikow noch nicht mitgeteilt, und sie ließ sich von verlockenden Einzelheiten hinreißen. Plötzlich erschien in ihren Händen, kein Mensch wußte auf welche Weise, jenes »lobende Attest«, von dem der verstorbene Marmeladow Raskolnikow damals in der Schenke erzählt hatte, als er ihm mitteilte, daß seine Gattin Katerina Iwanowna bei der Abschiedsfeier im Institut mit einem Schal »vor dem Gouverneur und den anderen Persönlichkeiten« getanzt habe. Dieses Attest sollte jetzt wohl Katerina Iwanowna als Zeugnis dienen, daß sie ein Recht habe, ein Pensionat zu gründen; vor allen Dingen hatte sie es aber bereitgelegt, um die beiden »aufgedonnerten langschleppigen Weiber«, wenn sie zum Totenmahl gekommen wären, zu vernichten und ihnen klar zu beweisen, daß Katerina Iwanowna aus einem vornehmen, »man darf wohl sagen, aristokratischen Hause sei, eine Oberstentochter und sicher tausendmal besser als manche Abenteurerinnen, die sich in der letzten Zeit so breitmachen«. Das Attest ging sofort unter den betrunkenen Gästen von Hand zu Hand, was Katerina Iwanowna gar nicht hinderte, da darin tatsächlich en toutes lettres geschrieben stand, daß sie die Tochter eines Hofrats und Ritters, also in der Tat beinahe eine Oberstentochter sei. Katerina Iwanowna hatte Feuer gefangen und verbreitete sich sofort über alle Einzelheiten des ihr bevorstehenden schönen und ruhigen Lebens in T.: über die Gymnasiallehrer, die sie an ihrem Pensionat anstellen würde, über einen ehrwürdigen alten Mann, den Franzosen Mangot, der ihr selbst am Institut französischen Unterricht erteilt hatte und der noch immer in T. lebte und sicher unter sehr günstigen Bedingungen bei ihr eintreten würde. Die Rede kam schließlich auch auf Ssonja, »die nach T. mitkommen und Katerina Iwanowna helfen werde«. Plötzlich lachte jemand am anderen Ende des Tisches laut auf. Katerina Iwanowna bemühte sich zwar, sich den Anschein zu geben, als hätte sie das Lachen am anderen Ende des Tisches nicht bemerkt, erhob aber absichtlich die Stimme und begann mit Begeisterung über die unzweifelhaften Talente Ssofja Ssemjonownas zu sprechen, die sie befähigten, sie in diesem Werke zu unterstützen, über ihre »Milde, Geduld, Selbstaufopferung, Großmütigkeit und Bildung«, wobei sie Ssonjas Wange tätschelte und sie einigemal begeistert küßte. Ssonja errötete, und Katerina Iwanowna brach plötzlich in Tränen aus und sagte über sich selbst, daß sie »eine nervenschwache Närrin und viel zu aufgeregt sei, daß es Zeit sei, ein Ende zu machen, da man mit dem Imbiß fertig sei und nun den Tee trinken könnte«. In diesem Augenblick riskierte Amalia Iwanowna, die nun endgültig beleidigt war, da sie am ganzen Gespräch nicht den geringsten Anteil genommen hatte und man ihr gar nicht zuhörte, plötzlich den letzten Versuch und erkühnte sich mit unterdrückter Sehnsucht, Katerina Iwanowna eine äußerst vernünftige und tiefsinnige Bemerkung zu machen, daß man im künftigen Pensionat besonders auf die Reinheit der Wäsche der jungen Mädchen sehen müsse, und daß man »unbedingt eine ordentliche Dame haben müsse, die gut auf die Wäsche aufpaßte«; und zweitens, »daß die jungen Mädchen nicht in der Nacht heimlich Romane lesen«. Katerina Iwanowna, die tatsächlich abgespannt und sehr müde war und das Totenmahl ordentlich satt hatte, unterbrach Amalia Iwanowna sofort mit der Bemerkung, daß sie »Unsinn rede« und nichts verstünde; daß die Sorge um die Wäsche Sache der Wäschebeschließerin sei und nicht der Direktrice eines vornehmen Pensionats; was aber das Lesen von Romanen betreffe, so finde sie diese Bemerkung unanständig und müsse sie bitten, zu schweigen. Amalia Iwanowna fuhr auf und antwortete erbost, daß sie ihr »nur Gutes wünsche«, daß sie ihr »sehr viel Gutes wünsche«, von ihr aber schon lange kein Geld für die Wohnung bekommen habe. Katerina Iwanowna wies sie sofort zurecht und sagte ihr, daß sie lüge, wenn sie sage, daß sie ihr Gutes wünsche, denn sie habe sie gestern, als der Verstorbene noch auf dem Tische lag, mit der Wohnungsmiete gequält. Amalia Iwanowna entgegnete darauf mit wunderbarer Logik, daß sie »jene Damen wohl eingeladen habe, die Damen aber nicht gekommen seien, weil jene Damen feine Damen seien und zu einer unfeinen Dame nicht kommen könnten«. Katerina Iwanowna »rieb ihr unter die Nase«, daß sie als schmutziges Frauenzimmer gar nicht darüber urteilen könne, was wahre Vornehmheit sei. Amalia Iwanowna ließ sich das nicht bieten und erklärte sofort, daß ihr »Vater aus Berlin ein sehr vornehmer Mann gewesen sei, beide Hände in die Taschen gesteckt und immer so gemacht habe: puff! puff!«. Und Amalia Iwanowna sprang, um ihren Vater darzustellen, vom Stuhle auf, steckte beide Hände in die Taschen, blähte die Wangen auf und fing an, mit dem Munde unbestimmte Töne wie puff! puff! zu produzieren, unter dem lauten Lachen aller Mieter, die, im Vorgefühl einer Prügelei, Amalia Iwanowna absichtlich durch ihren Beifall ermunterten. Dies konnte aber Katerina Iwanowna nicht vertragen, und sie erklärte unverzüglich und so laut, daß alle es hörten, Amalia Iwanowna hätte vielleicht nie einen »Vater« gehabt, Amalia Iwanowna sei einfach eine betrunkene Finnin aus Petersburg und hätte sicher früher irgendwo als Köchin, vielleicht auch als etwas Schlimmeres gedient. Amalia Iwanowna wurde krebsrot und kreischte, daß Katerina Iwanowna vielleicht »gar keinen Vater gehabt habe; sie hätte aber einen Vater aus Berlin gehabt, und dieser habe einen langen Rock getragen und immer puff, puff, puff! gemacht«. Katerina Iwanowna entgegnete mit Verachtung, daß ihre Abstammung doch allen bekannt sei und daß es in ihrem Attest mit gedruckten Buchstaben stehe, daß ihr Vater Oberst gewesen sei; der Vater Amalia Iwanownas (wenn sie überhaupt einen Vater gehabt habe), sei sicher ein Petersburger Finne gewesen und habe mit Milch hausiert; wahrscheinlich hätte sie aber überhaupt keinen Vater gehabt, da es noch immer nicht feststehe, wie Amalia Iwanowna mit ihrem Vatersnamen heiße: Iwanowna oder Ludwigowna? Amalia Iwanowna geriet nun in höchste Wut, schlug mit der Faust auf den Tisch und begann zu kreischen, daß ihr Vater »Johann geheißen habe und Bürgermeister gewesen sei«, der Vater Katerina Iwanownas aber »niemals Bürgermeister gewesen sei«. Katerina Iwanowna erhob sich von ihrem Stuhl und bemerkte ernst und mit scheinbar ruhiger Stimme (obwohl sie ganz bleich war und ihre Brust sich mächtig hob und senkte), daß, wenn sie sich noch einmal unterstehen werde, »ihren lumpigen Vater mit ihrem Papa auf die gleiche Stufe zu stellen, sie ihr die Haube vom Kopfe herunterreißen und mit den Füßen zertreten werde«. Als Amalia Iwanowna es hörte, begann sie hin und her zu laufen und aus allen Kräften zu schreien, daß sie hier die Wirtin sei und daß Katerina Iwanowna »augenblicklich die Wohnung räumen solle«; dann stürzte sie zum Tisch und raffte aus irgendeinem Grunde die silbernen Löffel zusammen. Es erhob sich ein Lärm und Geschrei, die Kinder weinten. Ssonja stürzte sich zu Katerina Iwanowna, um sie zurückzuhalten; aber Amalia Iwanowna schrie plötzlich etwas von einem gelben Paß, Katerina Iwanowna stieß Ssonja zurück und eilte auf Amalia Iwanowna zu, um ihre Drohung wegen der Haube zu verwirklichen. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und an der Schwelle des Zimmers erschien Pjotr Petrowitsch Luschin. Er stand da und musterte streng und aufmerksam die ganze Gesellschaft. Katerina Iwanowna stürzte auf ihn zu.
Fußnoten
1 Unter »Wein« in der Einzahl versteht der Russe oft Branntwein und andere Spirituosen.
Anm. d.Ü.
»Pjotr Petrowitsch,« schrie sie, »schützen Sie wenigstens mich! Sagen Sie doch dieser dummen Kreatur, daß sie kein Recht hat, eine adlige Dame, die im Unglück ist, so zu behandeln, daß es Gerichte gibt ... ich gehe auch zum Generalgouverneur ... Sie wird es büßen müssen ... Gedenken Sie der Gastfreundschaft meines Vaters, schützen Sie die Waisen.«
»Gestatten Sie, meine Dame ... Gestatten Sie«, wehrte Pjotr Petrowitsch ab: »Ihren Herrn Papa hatte ich, wie es auch Ihnen bekannt ist, gar nicht die Ehre, gekannt zu haben ... erlauben Sie, meine Dame! (Jemand lachte laut auf.) Aber in Ihre ewigen Streitigkeiten mit Amalia Iwanowna möchte ich mich gar nicht hineinmischen ... Ich komme in eigener Angelegenheit ... ich möchte mich sofort mit Ihrer Stieftochter Ssofja ... Iwanowna ... sie heißt doch so? – auseinandersetzen. Gestatten Sie, daß ich eintrete ...«
Und Pjotr Petrowitsch machte einen Bogen um Katerina Iwanowna und begab sich in die entgegengesetzte Ecke, wo sich Ssonja befand.
Katerina Iwanowna stand auf dem gleichen Fleck wie vom Blitze getroffen da. Sie konnte nicht begreifen, wie Pjotr Petrowitsch die Gastfreundschaft ihres Papas leugnen konnte. Nachdem sie diese Gastfreundschaft einmal erfunden hatte, glaubte sie fest an sie. Der geschäftliche, trockene und sogar verächtliche und drohende Ton Pjotr Petrowitschs überraschte sie. Auch alle anderen waren bei seinem Erscheinen allmählich verstummt. Abgesehen davon, daß dieser »geschäftige und solide« Mensch mit der ganzen Gesellschaft so gar nicht harmonierte, konnte man ihm ansehen, daß er wohl aus einem wichtigen Grunde hergekommen war, daß wohl nur eine ungewöhnliche Ursache ihn bewegen konnte, in eine solche Gesellschaft zu kommen, und daß folglich etwas im Anzuge war. Raskolnikow, der neben Ssonja stand, wich zur Seite, um ihn vorbeizulassen; Pjotr Petrowitsch schien ihn gar nicht bemerkt zu haben. Eine Minute später zeigte sich auf der Schwelle auch Lebesjatnikow; er trat nicht ins Zimmer, blieb aber interessiert, beinahe verblüfft draußen stehen; er hörte zu, schien aber lange nichts zu verstehen.
»Entschuldigen Sie, wenn ich vielleicht störe, aber die Angelegenheit ist sehr wichtig«, bemerkte Pjotr Petrowitsch im allgemeinen, ohne sich an jemand bestimmten zu wenden. »Ich freue mich sogar, daß es öffentlich geschieht. Amalia Iwanowna, ich bitte Sie ergebenst, als Wirtin dieser Wohnung, Ihre Aufmerksamkeit meinem folgenden Gespräch mit Ssofja Iwanowna zuzuwenden. Ssofja Iwanowna«, fuhr er fort, sich direkt an die außerordentlich bestürzte und schon im voraus erschrockene Ssonja wendend: »Von meinem Tisch im Zimmer meines Freundes Andrej Ssemjonowitsch Lebesjatnikow ist sofort nach Ihrem Besuche eine mir gehörende Reichsbanknote im Werte von hundert Rubel verschwunden. Wenn Sie es auf irgendeine Weise wissen und uns sagen können, wo sie sich jetzt befindet, so gebe ich Ihnen mein Ehrenwort und rufe alle als Zeugen an, daß die Sache damit erledigt sein wird. Im anderen Falle werde ich gezwungen sein, sehr ernste Maßregeln zu ergreifen, und dann ... können Sie sich die Folgen selbst zuschreiben.«
Im Zimmer trat vollkommenes Schweigen ein. Selbst die Kinder hörten zu weinen auf. Ssonja stand totenblaß da, sah Luschin an und konnte nichts antworten. Sie schien noch nichts zu verstehen. So vergingen einige Sekunden.
»Nun, wie ist es?« fragte Luschin, sie durchdringend anblickend.
»Ich weiß nicht ... Ich weiß von nichts ...« sagte endlich Ssonja mit schwacher Stimme.
»Nicht? Sie wissen von nichts?« wiederholte Luschin ihre Worte und schwieg noch einige Sekunden. »Überlegen Sie sich's, Mademoiselle«, begann er streng, aber noch immer so, als wollte er ihr ins Gewissen reden. »Überlegen Sie sich's, ich bin bereit, Ihnen einige Bedenkzeit zu geben. Sehen Sie, bitte: wenn ich nicht so fest überzeugt wäre, so würde ich bei meiner großen Erfahrung doch nicht riskiert haben, Sie so direkt anzuklagen; denn für eine solche direkte und öffentliche Anklage, wenn sie falsch oder bloß irrtümlich wäre, könnte ich gewissermaßen gerichtlich belangt werden. Das weiß ich. Zu meinem eigenen Gebrauch hatte ich heute früh mehrere fünfprozentige Staatsscheine im Nennwerte von dreitausend Rubeln eingewechselt. Die Berechnung ist in meinem Notizbuche eingetragen. Nach Hause zurückgekehrt, begann ich – Andrej Ssemjonowitsch kann es bezeugen – das Geld zu zählen, und nachdem ich zweitausenddreihundert Rubel abgezählt hatte, steckte ich sie in meine Brieftasche und die Brieftasche in die Seitentasche meines Rockes. Auf dem Tische blieben noch die fünfhundert Rubel in Banknoten und darunter drei Scheine zu hundert Rubel liegen. In diesem Augenblick kamen Sie, von mir aufgefordert, ins Zimmer, zeigten dann die ganze Zeit bei mir die äußerste Verlegenheit, so daß Sie sogar dreimal mitten im Gespräch aufstanden und aus irgendeinem Grunde weggehen wollten, obwohl unser Gespräch noch nicht zu Ende war. Andrej Ssemjonowitsch kann es bezeugen. Wahrscheinlich werden auch Sie selbst, Mademoiselle, sich nicht weigern, dies alles zu bestätigen und zu erklären, daß ich Sie durch Andrej Ssemjonowitsch einzig aus dem Grunde einladen ließ, um mit Ihnen über die unglückliche und hilflose Lage Ihrer Verwandten, Katerina Iwanowna, zu sprechen (zu der ich zum Totenmahle nicht kommen konnte), und wie gut es wäre, zu ihren Gunsten eine Kollekte, eine Lotterie oder dergleichen zu veranstalten. Sie dankten mir und vergossen sogar einige Tränen (ich erzähle alles, so wie es war, erstens, um Sie an alles zu erinnern, und zweitens, um Ihnen zu zeigen, daß aus meinem Gedächtnisse auch nicht das geringste Detail entschwunden ist). Dann nahm ich vom Tische einen Zehnrubelschein und gab ihn Ihnen in meinem Namen für Ihre Verwandte, als erste Hilfeleistung. Andrej Ssemjonowitsch hat das alles gesehen. Dann begleitete ich Sie zur Tür – während Sie noch immer äußerste Verlegenheit zeigten; nachdem ich nun mit Andrej Ssemjonowitsch allein geblieben war und mit ihm an die zehn Minuten gesprochen hatte, ging Andrej Ssemjonowitsch hinaus; ich aber wandte mich wieder dem auf dem Tische liegenden Gelde zu, um es nachzuzählen und, wie ich mir schon früher vorgenommen hatte, gesondert zu verwahren. Zu meinem Erstaunen fehlte nun ein Hundertrubelschein. Wollen Sie nun selbst überlegen: Andrej Ssemjonowitsch kann ich doch unmöglich verdächtigen, und ich müßte mich schämen, daran auch nur zu denken. Ein Irrtum bei der Berechnung ist ebenfalls ausgeschlossen, weil ich eine Minute vor Ihrem Erscheinen alle Rechnungen abgeschlossen und die Endsumme richtig gefunden hatte. Sie werden doch selbst zugeben, daß ich in Anbetracht Ihrer Verlegenheit, Ihrer Eile, fortzugehen, und des Umstandes, daß Sie die ganze Zeit die Hände auf dem Tische hatten, und auch in Berücksichtigung Ihrer gesellschaftlichen Position und der mit derselben verbundenen Angewohnheiten, sozusagen mit Entsetzen und sogar gegen meinen Willen gezwungen war, bei diesem Verdachte zu bleiben, der natürlich grausam, aber begründet ist! Ich füge noch hinzu und wiederhole es: trotz meiner augenscheinlichen Überzeugung, sehe ich doch ein, daß diese meine Anklage auch ein gewisses Risiko für mich selbst enthält. Aber wie Sie sehen, habe ich die Sache nicht auf sich beruhen lassen; ich habe mich empört, und ich will Ihnen sogar sagen, warum: einzig infolge Ihres schwärzesten Undankes, meine Dame! Wie? Ich lade Sie im Interesse Ihrer armen Verwandten ein, ich reiche Ihnen eine meinem Vermögen entsprechende Spende von zehn Rubeln, und Sie vergelten es mir auf der Stelle mit einer solchen Handlung! Nein, das ist gar nicht schön! Ich muß Ihnen eine Lehre erteilen. Urteilen Sie doch selbst; und noch mehr als das: als Ihr aufrichtiger Freund (einen besseren Freund können Sie augenblicklich gar nicht haben) bitte ich Sie, besinnen Sie sich doch! Sonst werde ich unerbittlich sein. Nun, was werden Sie mir darauf sagen?«
»Ich habe von Ihnen nichts genommen«, flüsterte Ssonja entsetzt. »Sie gaben mir zehn Rubel, hier haben Sie sie wieder.«
Ssonja nahm aus der Tasche ihr Taschentuch, suchte den Knoten, knüpfte ihn auf, holte einen Zehnrubelschein heraus und reichte ihn Luschin.
»Und die hundert Rubel? Wollen Sie nicht gestehen?« fragte er vorwurfsvoll und eindringlich, ohne den Schein anzunehmen.
Ssonja sah sich um. Alle blickten sie mit schrecklichen, strengen, höhnischen, verhaßten Gesichtern an. Sie sah Raskolnikow an ... Er stand an der Wand mit gekreuzten Armen und beobachtete sie mit brennenden Augen.
»O mein Gott!« stieß Ssonja hervor.
»Amalia Iwanowna, man müßte es der Polizei melden, und ich bitte Sie daher ergebenst, vorläufig den Hausknecht kommen zu lassen«, sagte Luschin leise und sogar freundlich.
»Gott der Barmherzige! Ich habe ja gewußt, daß sie gestohlen hat!« rief Amalia Iwanowna und schlug die Hände zusammen.
»Sie haben es gewußt?« fiel ihr Luschin ins Wort. »Folglich hatten Sie auch schon früher einige Ursachen, es anzunehmen? Ich bitte Sie, verehrteste Amalia Iwanowna, sich diese Ihre Worte zu merken, die Sie übrigens vor Zeugen gesprochen haben.«
Von allen Seiten begann man plötzlich zu reden. Alle rührten sich.
»Wie!« schrie plötzlich Katerina Iwanowna auf, die zu sich gekommen war und zu Luschin stürzte. »Wie! Sie beschuldigen sie des Diebstahls? Ssonja? Ach, diese Schufte, diese Schufte!«
Und sie stürzte zu Ssonja und preßte sie mit ihren hageren Armen wie in einem Schraubstock zusammen.
»Ssonja! Wie wagtest du es, von ihm die zehn Rubel zu nehmen! Du Dumme! Gib sie her! Gib mir sofort diese zehn Rubel her, – hier ist das Geld!«
Sie entriß Ssonja die Banknote, knüllte sie in der Hand zusammen und schleuderte sie Luschin gerade ins Gesicht. Die Papierkugel traf ihn ins Auge und prallte auf dem Fußboden zurück. Amalia Iwanowna stürzte hin, um das Geld aufzuheben. Pjotr Petrowitsch wurde böse.
»Halten Sie diese Verrückte fest!« schrie er.
In der Tür erschienen in diesem Augenblick neben Lebesjatnikow noch einige Personen, zwischen denen auch die beiden zugereisten Damen hervorguckten.
»Wie! Die Verrückte? Ich bin die Verrückte? Dummkopf!« kreischte Katerina Iwanowna. »Du bist selbst ein Dummkopf, du Rechtsverdreher, gemeiner Mensch! Ssonja, Ssonja wird sein Geld nehmen! Ssonja soll eine Diebin sein! Sie wird dir selbst welches geben, Dummkopf!« Katerina Iwanowna lachte hysterisch auf. »Habt ihr je einen solchen Dummkopf gesehen?« wandte sie sich nach allen Seiten und zeigte dabei auf Luschin. »Wie, auch du bist dabei?« rief sie der Wirtin zu, die sie plötzlich bemerkte. »Auch du, Wurstmacherin, bestätigst, daß sie gestohlen hat, du gemeines preußisches Hühnerbein in Krinoline! Ach, ihr! Ach, ihr! Sie hat ja das Zimmer noch gar nicht verlassen, und als sie von dir, du Schuft, zurückkam, setzte sie sich gleich neben mich; alle haben es gesehen. Hier neben Rodion Romanowitsch hat sie sich gesetzt! ... Durchsucht sie! Wenn sie noch nicht hinausgegangen war, muß sie doch das Geld bei sich haben! Such, such, such! Doch wenn du nichts findest, so nimm es mir nicht übel, mein Lieber, wirst du es mir büßen! Zum Kaiser, zum Kaiser, zum Zaren selbst laufe ich hin, zum Barmherzigen, ich werfe mich ihm zu Füßen, heute noch, heute noch! ... Ich bin eine Waise! Mich wird man vorlassen! Du glaubst wohl, daß man mich nicht vorlassen wird? Du irrst, ich finde schon Einlaß! Du hast wohl darauf spekuliert, daß sie so sanft ist? Du hast darauf gerechnet? Dafür bin ich aber fixer, mein Bester! Du fällst schon herein! Such nur! Such, such, such!«
Katerina Iwanowna zerrte Luschin wütend am Ärmel und schleppte ihn zu Ssonja.
»Ich bin bereit und ich verantworte es ... aber beruhigen Sie sich bloß, meine Gnädige, beruhigen Sie sich. Ich sehe es zu gut, daß Sie fix sind! ... Das ist ... das ist ... wie ist es nun?« murmelte Luschin. »Man müßte es in Gegenwart der Polizei machen ... obwohl übrigens auch jetzt genügend Zeugen dabei sind ... Ich bin bereit ... Jedenfalls kann es ein Mann nicht gut machen ... in Anbetracht des Geschlechts ... Vielleicht mit Hilfe Amalia Iwanownas ... Obwohl es eigentlich gar nicht so gemacht wird ... Wie ist es nun?«
»Nehmen Sie, wen Sie wollen! Wer da will, soll sie durchsuchen!« schrie Katerina Iwanowna. »Ssonja komm, kehre deine Taschen heraus! Hier, hier! Schau du, Verbrecher, diese Tasche ist leer, das Taschentuch lag hier, jetzt ist sie leer, siehst du! Hier ist die andere Tasche! Siehst du, siehst du!«
Katerina Iwanowna kehrte oder riß vielmehr beide Taschen eine nach der anderen heraus. Aber aus der zweiten rechten Tasche fiel ein Papier heraus, das eine Parabel in der Luft beschrieb und zu Luschins Füßen niederfiel. Alle sahen es; viele schrien auf. Pjotr Petrowitsch bückte sich, hob das Papier mit zwei Fingern vom Boden auf, zeigte es allen und entfaltete es. Es war ein zusammengefalteter Hundertrubelschein. Pjotr Petrowitsch fuhr mit der Hand durch die Luft, damit alle den Schein sähen.
»Diebin! Hinaus aus der Wohnung! Polizei, Polizei!« schrie Amalia Iwanowna. »Man muß sie nach Sibirien schicken! Hinaus!«
Von allen Seiten tönten Schreie. Raskolnikow schwieg und ließ Ssonja nicht aus den Augen, mit denen er nur ab und zu Luschin streifte. Ssonja stand wie bewußtlos immer auf demselben Fleck, sie war sogar fast gar nicht erstaunt. Plötzlich schoß ihr das ganze Blut ins Gesicht; sie schrie auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Nein, ich war es nicht! Ich hab es nicht genommen! Ich weiß nichts!« schrie sie mit herzzerreißender Stimme und stürzte zu Katerina Iwanowna.
Jene umfaßte sie und drückte sie fest an sich, als wollte sie sie mit eigener Brust vor allen schützen.
»Ssonja! Ssonja! Ich glaube es nicht. Siehst du, ich glaube es nicht!« schrie (trotz aller Augenscheinlichkeit) Katerina Iwanowna, indem sie sie wie ein Kind in ihren Händen schüttelte, mit unzähligen Küssen bedeckte, nach ihren Händen haschte und sich an sie mit ihren Küssen festsog. »Du sollst etwas genommen haben! Was sind das für dumme Menschen! O Gott! Dumm, dumm seid ihr alle!« schrie sie, sich an alle wendend. »Ihr wißt ja noch gar nicht, was sie für ein Herz hat, was sie für ein Mädchen ist! Sie wird etwas nehmen, sie! Sie wird ja ihr letztes Kleid von sich werfen und verkaufen und barfuß gehen und alles hergeben, wenn ihr es braucht, ja, so ist sie! Sie hat ja auch den gelben Schein nur darum bekommen, weil meine Kinder vor Hunger zugrunde gingen: sie hat sich für uns verkauft ... Ach, du Verstorbener, Verstorbener! Ach, du Verstorbener, Verstorbener! Siehst du? Siehst du? Das ist dein Totenmahl! Gott! Schützt sie doch! Was steht ihr so da? Rodion Romanowitsch! Warum treten Sie nicht für sie ein? Glauben Sie es vielleicht auch? Ihren kleinen Finger seid ihr nicht wert, alle, alle! Mein Gott, so schütze du sie doch!«
Das Weinen der armen, schwindsüchtigen, verwaisten Katerina Iwanowna schien endlich einen starken Eindruck auf das Publikum zu machen. In diesem von Schmerz verzerrten, ausgemergelten, schwindsüchtigen Gesicht, in diesen trockenen Lippen, an denen Blut klebte, in dieser heiser schreienden Stimme, in diesem Weinen, das wie Kinderweinen klang, in diesem vertrauensvollen, kindlichen und zugleich verzweifelten Flehen um Schutz lag so viel Klägliches und Leidendes, daß alle diese Unglückliche zu bedauern schienen. Selbst Pjotr Petrowitsch zeigte sein »Bedauern«:
»Meine Gnädige! Meine Gnädige!« rief er eindringlich, »Sie berührt diese Sache gar nicht! Niemand wird sich erlauben, Sie einer Absicht oder des Mitwissens zu beschuldigen, um so mehr, als Sie selbst den Diebstahl aufdeckten, indem Sie die Tasche herauskehrten: also haben Sie gar nichts geahnt. Ich bin sogar sehr bereit, es zu bedauern, wenn sozusagen die Armut Ssofja Ssemjonowna dazu bewogen hat! Warum wollten Sie aber, Mademoiselle, nicht gestehen? Fürchteten Sie die Schande? Ist es der erste Schritt? Vielleicht waren Sie nur so bestürzt? Es ist ja begreiflich, sehr begreiflich ... Warum haben Sie sich aber auf so was eingelassen? Meine Herren!« wandte er sich an alle Anwesenden: »Meine Herren, indem ich es bedaure und sozusagen beklage, will ich es verzeihen, sogar jetzt, trotz der persönlichen Beleidigungen, die ich empfangen habe. Die heutige Schande möge Ihnen, Mademoiselle, als Lehre für die Zukunft dienen,« wandte er sich an Ssonja, »ich aber lasse die Sache auf sich beruhen und betrachte sie als erledigt. Schluß!«
Pjotr Petrowitsch schielte zu Raskolnikow hinüber. Ihre Blicke trafen sich. Der funkelnde Blick Raskolnikows wollte ihn zu Asche verbrennen. Katerina Iwanowna schien indessen nichts mehr gehört zu haben. Sie umarmte und küßte Ssonja wie wahnsinnig. Auch die Kinder hatten Ssonja von allen Seiten mit ihren Händchen umklammert, und Poljetschka – die übrigens gar nicht verstand, was los war, – schien vollkommen in Tränen zu ertrinken; sie zitterte vor Schluchzen und verbarg ihr vom Weinen geschwollenes hübsches Gesichtchen an Ssonjas Schulter.
»Wie gemein!« ertönte plötzlich eine laute Stimme in der Tür.
Pjotr Petrowitsch sah sich schnell um.
»Welch eine Gemeinheit!« wiederholte Lebesjatnikow, ihm durchdringend in die Augen blickend.
Pjotr Petrowitsch fuhr sogar sichtlich zusammen. Das merkten alle. (Später erinnerten sie sich dessen.) Lebesjatnikow machte einen Schritt ins Zimmer.
»Und Sie wagten es, mich als Zeugen zu nennen?« sagte er, indem er an Pjotr Petrowitsch herantrat.
»Was soll das heißen, Andrej Ssemjonowitsch? Was meinen Sie eigentlich?« murmelte Luschin.
»Das heißt, daß Sie ... ein Verleumder sind, das bedeuten meine Worte!« sagte Lebesjatnikow erregt und sah ihn streng mit seinen kurzsichtigen Auglein an.
Er war furchtbar erbost. Raskolnikow bohrte in ihn seinen Blick, als wollte er jedes seiner Worte auffangen und abwägen. Wieder trat Schweigen ein. Pjotr Petrowitsch verlor ganz die Selbstbeherrschung, besonders im ersten Moment.
»Wenn Sie mich meinen ...« begann er stotternd. »Was haben Sie nur? Sind Sie bei Trost?«
»Ich bin wohl bei Trost, aber Sie sind ein ... Gauner! Ach, wie gemein es ist! Ich habe die ganze Zeit zugehört, ich habe absichtlich gewartet, um alles zu begreifen, denn es erscheint mir, offen gestanden, auch jetzt noch nicht ganz logisch ... Warum Sie das alles getan haben, ist mir nicht klar.«
»Was habe ich denn getan? Werden Sie vielleicht aufhören, in Ihren dummen Rätseln zu sprechen?! Oder sind Sie betrunken?«
»Sie trinken vielleicht, gemeiner Mensch, aber nicht ich! Ich trinke sogar niemals Schnaps, weil es gegen meine Überzeugung ist. Denken Sie sich nur: er hat selbst mit eigenen Händen den Hundertrubelschein Ssofja Ssemjonowna gegeben, ich sah es, ich bin Zeuge, ich will es beschwören! Er, er!« wiederholte Lebesjatnikow, sich an jeden und alle wendend.
»Sind Sie verrückt, Sie Milchbart?« kreischte Luschin. »Sie hat soeben selbst hier, vor allen bestätigt, daß sie außer den zehn Rubeln von mir nichts bekommen hat. Wie soll ich ihr dann die hundert Rubel gegeben haben?«
»Ich hab es gesehen, ich hab es gesehen!« rief eindringlich Lebesjatnikow. »Obwohl es auch gegen meine Überzeugung ist, bin ich bereit, jetzt gleich vor Gericht jeden Eid zu schwören, denn ich hab es gesehen, wie Sie ihr das Geld heimlich zugesteckt haben! Ich Dummkopf glaubte, daß Sie es ihr zusteckten, um ihr eine Wohltat zu erweisen! In der Tür, als Sie sich von ihr verabschiedeten, als sie sich wegwandte und Sie ihre Hand drückten, steckten Sie ihr mit der anderen Hand den Schein heimlich in die Tasche! Ich hab es gesehen! Ich hab es gesehen!«
Luschin erbleichte.
»Was lügen Sie!« rief er frech. »Wie konnten Sie auch, am Fenster stehend, die Banknote unterscheiden! Es ist Ihnen nur so vorgekommen ... mit Ihren blinden Augen. Sie phantasieren!«
»Nein, es ist mir nicht vorgekommen! Obwohl ich auch wirklich weit stand und obwohl man vom Fenster aus die Banknote tatsächlich schwer unterscheiden kann – da haben Sie recht, – wußte ich doch aus einem gewissen Grunde ganz sicher, daß es ein Hundertrubelschein war; denn als Sie Ssofja Ssemjonowna den Zehnrubelschein gaben, sah ich mit eigenen Augen, daß Sie gleichzeitig einen Hundertrubelschein vom Tische nahmen (das sah ich, weil ich damals in der Nähe stand; und da mir in diesem Augenblick ein gewisser Gedanke kam, vergaß ich nicht, daß Sie in der Hand eine Banknote hielten). Sie hatten sie zusammengefaltet und die ganze Zeit in der Faust gehalten. Ich vergaß es später; als Sie aber aufstanden, legten Sie die Banknote aus der rechten Hand in die linke und ließen sie dabei beinahe fallen; dies fiel mir wieder auf, weil mir wieder der gleiche Gedanke kam, nämlich, daß Sie ihr heimlich, ohne mein Wissen, eine Wohltat erweisen wollten. Sie können sich vorstellen, wie aufmerksam ich nun beobachtete, und ich sah, wie es Ihnen gelang, ihr die Banknote in die Tasche zu stecken. Ich sah es, ich sah es und will es beschwören!«
Pjotr Petrowitsch erstickte fast vor Wut. Von allen Seiten ertönten verschiedene Ausrufe, die zum größten Teil Erstaunen ausdrückten. Es wurden auch Ausrufe laut, die einen drohenden Ton hatten. Alle drängten sich um Pjotr Petrowitsch.
Katerina Iwanowna stürzte sich zu Lebesjatnikow.
»Andrej Ssemjonowitsch! Ich habe mich in Ihnen getäuscht! Sie allein treten für sie ein! Gott selbst hat Sie uns gesandt, Andrej Ssemjonowitsch, Liebster, Väterchen!«
Und Katerina Iwanowna sank, fast ohne zu wissen, was sie tat, vor ihm in die Knie.
»Unsinn!« brüllte Luschin, rasend vor Wut. »Sie reden Unsinn, mein Herr ... ›Ich habe es vergessen, habe mich daran erinnert, habe es wieder vergessen‹ – was soll das heißen? Ich habe ihr also den Schein absichtlich zugesteckt? Warum? Zu welchem Zweck? Was habe ich gemein mit dieser ...«
»Warum? Das verstehe ich auch selbst nicht, aber daß ich nur Tatsachen erzähle, das ist wahr! Ich irre mich so wenig, Sie gemeiner, verbrecherischer Mensch, daß ich mich noch gut erinnere, wie mir damals diese Frage sofort in den Sinn kam, gerade in dem Moment, als ich Ihnen dankte und die Hand drückte. Warum Sie ihr das Geld heimlich in die Tasche gesteckt haben? Warum gerade heimlich? Vielleicht nur aus dem Grunde, weil Sie es vor mir verheimlichen wollten, da Sie wußten, daß ich entgegengesetzter Überzeugung bin und die private Wohltätigkeit, die nichts radikal heilt, ablehne! Ja, ich dachte mir, daß Sie sich vielleicht vor mir wirklich genierten, eine so große Summe zu schenken; außerdem dachte ich mir, daß Sie ihr eine freudige Überraschung bereiten, sie in Erstaunen setzen wollten, wenn sie in ihrer Tasche die hundert Rubel findet. (Denn manche Wohltäter lieben es sehr, ihre Wohltaten auf diese Weise auszuschmücken, ich weiß es.) Dann kam es mir auch vor, als wollten Sie sie prüfen, das heißt, ob sie, wenn sie das Geld findet, zu Ihnen kommt, um sich zu bedanken! Dann dachte ich mir auch, daß Sie keinen Dank wünschten, daß, wie man sagt, die rechte Hand nicht wisse ... mit einem Wort, irgendwie so ... Nun, es kamen mir nicht wenig Gedanken in den Sinn, so daß ich mir vornahm, mir später alles zu überlegen; aber ich hielt es doch für unpassend, Ihnen zu zeigen, daß ich das Geheimnis kenne. Doch kam mir gleich auch diese Frage in den Sinn: Ssofja Ssemjonowna könnte das Geld verlieren, noch ehe sie es bemerkt hätte; darum entschloß ich mich, herzukommen, sie herauszurufen und ihr mitzuteilen, daß man ihr hundert Rubel in die Tasche gesteckt habe. Unterwegs ging ich noch ins Zimmer der Damen Kobyljatnikow, um ihnen die ›Allgemeine Deduktion der positiven Methode‹ zu bringen und besonders den Aufsatz von Piderit (übrigens auch den von Wagner) zu empfehlen; dann kam ich her und erlebte hier diese Geschichte! Konnte ich denn alle diese Gedanken gehabt und alle diese Erwägungen angestellt haben, wenn ich nicht tatsächlich gesehen hätte, daß Sie ihr hundert Rubel in die Tasche gesteckt haben?«
Als Andrej Ssemjonowitsch mit seinem wortreichen Vortrag, der zu einem so logischen Schlusse führte, fertig war, war er furchtbar ermüdet, und der Schweiß rann ihm von der Stirn. Ach, er konnte nicht einmal ordentlich Russisch sprechen (obwohl er auch keine andere Sprache kannte), so daß er mit einem Male vollständig erschöpft war und nach dieser Advokatentat sogar magerer geworden zu sein schien. Nichtsdestoweniger hatte seine Rede einen außerordentlichen Eindruck gemacht. Er sprach mit solchem Feuer, mit solcher Überzeugung, daß ihm anscheinend alle glaubten. Pjotr Petrowitsch fühlte, daß seine Sache schlecht stand.
»Was geht es mich an, daß Ihnen diese dummen Fragen in den Sinn gekommen sind!« rief er aus. »Das ist kein Beweis! Sie konnten dies alles im Traume zusammenphantasiert haben, das ist alles! Ich sage Ihnen aber, daß Sie lügen, mein Herr! Sie lügen und verleumden mich aus Bosheit, und zwar aus Arger, daß ich auf Ihre freigeistigen und gottlosen sozialen Vorschläge nicht eingehen wollte, das ist es!«
Diese Ausrede half aber Pjotr Petrowitsch nichts. Im Gegenteil, von allen Seiten ertönte ein Murren.
»Ach so, du kommst jetzt damit!« rief Lebesjatnikow. »Du lügst! Ruf die Polizei her, ich aber werde es beschwören! Nur das eine verstehe ich nicht: warum hat er eine solche Gemeinheit riskiert! Oh, elender, gemeiner Mensch!«
»Ich kann erklären, warum er es riskiert hat, und will, wenn es nötig ist, selbst einen Eid schwören!« sagte endlich Raskolnikow mit fester Stimme und trat vor.
Er schien fest und ruhig. Allen wurde es bei seinem Anblicke irgendwie klar, daß er wirklich wußte, um was es sich handelte, und daß eine Lösung bevorstand.
»Jetzt ist mir alles vollkommen klar«, fuhr Raskolnikow fort, sich direkt an Lebesjatnikow wendend. »Gleich zu Beginn dieser Geschichte schöpfte ich Verdacht, daß irgendeine Gemeinheit dahinter stecke; ich schöpfte diesen Verdacht infolge gewisser besonderer Umstände, die nur mir allein bekannt sind und die ich sofort allen erklären werde: um sie dreht sich alles. Und Sie, Andrej Ssemjonowitsch, haben mir durch Ihre wertvolle Aussage alles endgültig erklärt. Ich bitte alle, alle, zuzuhören. Dieser Herr (er zeigte auf Luschin) hat vor kurzem um die Hand eines jungen Mädchens angehalten, nämlich meiner Schwester Awdotja Romanowna Raskolnikowa. Aber nach seiner Ankunft in Petersburg hat er sich vorgestern, bei unserer ersten Zusammenkunft, mit mir gezankt, und ich warf ihn hinaus, wofür ich zwei Zeugen habe. Dieser Mensch ist sehr boshaft ... Vorgestern wußte ich noch nicht, daß er hier bei Ihnen, Andrej Ssemjonowitsch, wohnt und daß er folglich am gleichen Tage, an dem wir uns gezankt haben, das heißt vorgestern, Zeuge davon war, wie ich als Freund des verstorbenen Herrn Marmeladow, seiner Gattin Katerina Iwanowna etwas Geld für die Beerdigung gab. Er schrieb sofort meiner Mutter einen Brief und teilte ihr mit, daß ich das ganze Geld nicht Katerina Iwanowna, sondern Ssofja Ssemjonowna gegeben hätte, wobei er in den gemeinsten Ausdrücken über ... über den Charakter Ssofja Ssemjonownas sprach, das heißt auf die Art meiner Beziehungen zu Ssofja Ssemjonowna anspielte. Dies machte er alles, wie Sie sich wohl denken können, in der Absicht, mich mit meiner Mutter und Schwester zu entzweien, indem er ihnen einredete, daß ich das letzte Geld, mit dem sie mich unterstützten, zu gemeinen Zwecken verschwendete. Gestern abend hatte ich in Gegenwart meiner Mutter und Schwester und in seinem Beisein die Wahrheit festgestellt und bewiesen, daß ich das Geld Katerina Iwanowna für die Beerdigung und nicht Ssofja Ssemjonowna eingehändigt hatte, daß ich mit Ssofja Ssemjonowna vorgestern noch gar nicht bekannt war und sie noch nie gesehen hatte. Bei dieser Gelegenheit fügte ich hinzu, daß Pjotr Petrowitsch Luschin mit allen seinen Vorzügen nicht den kleinen Finger Ssofja Ssemjonownas, über die er sich so schlecht geäußert hatte, wert sei. Auf seine Frage, ob ich Ssofja Ssemjonowna neben meine Schwester hinsetzen würde, antwortete ich, daß ich dies am gleichen Tage schon getan hätte. Er wurde böse, weil meine Mutter und Schwester trotz seiner Verleumdungen sich mit mir nicht entzweien wollten, und fing an, ihnen unverzeihliche Grobheiten zu sagen. Es kam zu einem endgültigen Bruch, und man jagte ihn aus dem Hause. Dies alles hat sich gestern abend abgespielt. Jetzt bitte ich Sie um besondere Aufmerksamkeit: Denken Sie sich den Fall, es wäre ihm wirklich gelungen, zu beweisen, daß Ssofja Ssemjonowna eine Diebin sei; damit hätte er meiner Mutter und Schwester gezeigt, daß er mit seinen Verdächtigungen recht gehabt habe; daß er mit Recht böse geworden sei, als ich meine Schwester und Ssofja Ssemjonowna auf die gleiche Stufe stellte; daß er also, indem er mich angriff, die Ehre meiner Schwester und seiner Braut verteidigte und schützte. Mit einem Wort, auf diese Weise konnte er mich mit meinen Angehörigen entzweien und durfte hoffen, dadurch wieder zu Gnaden zu kommen. Ich spreche schon gar nicht davon, daß er auch an mir persönlich Rache nahm, da er Grund zur Annahme hat, daß die Ehre und das Glück Ssofja Ssemjonownas mir sehr teuer sind. Das ist seine ganze Berechnung. So fasse ich die Sache auf. Das ist der ganze Grund, einen anderen kann es gar nicht geben!«
So oder ähnlich schloß Raskolnikow seine Rede, oft durch die Zwischenrufe der Anwesenden unterbrochen, welche übrigens recht aufmerksam zuhörten. Trotz dieser Unterbrechungen sprach er aber scharf, ruhig, genau, klar und fest. Seine scharfe Stimme, sein überzeugter Ton und sein strenges Gesicht machten auf alle einen außerordentlichen Eindruck.
»Ja, so, so ist es!« bestätigte Lebesjatnikow begeistert. »So muß es gewesen sein, denn er fragte mich, sobald Ssofja Ssemjonowna zu uns ins Zimmer getreten war, ob Sie da seien und ob ich Sie unter den Gästen Katerina Iwanownas gesehen hätte. Er rief mich zu diesem Zweck zum Fenster und fragte mich leise. Also legte er wohl Wert darauf, daß Sie da seien! Es ist so, es ist so, alles ist so!«
Luschin schwieg und lächelte verächtlich. Übrigens war er sehr blaß. Er schien zu überlegen, wie er sich aus der Klemme ziehen könnte. Vielleicht hätte er gern alles im Stich gelassen und wäre weggegangen, aber in diesem Moment war es fast unmöglich; dies hieße, die Richtigkeit der gegen ihn vorgebrachten Beschuldigungen anzuerkennen und zu gestehen, daß er Ssofja Ssemjonowna wirklich verleumdet hatte. Außerdem war das Publikum, das schon ohnehin etwas angetrunken war, allzu aufgeregt. Der Proviantbeamte, der übrigens nicht alles verstand, schrie mehr als alle und schlug gewisse für Luschin recht unangenehme Maßregeln vor. Manche waren aber nicht betrunken; aus allen Zimmern kamen Leute herbei. Alle drei Polen regten sich furchtbar auf, schrien in einem fort: »Der Pan ist ein Schuft!« und murmelten noch allerlei Drohungen auf polnisch. Ssonja hörte gespannt zu, schien aber nicht alles zu verstehen, als erwache sie aus einer Ohnmacht. Sie wandte nur ihre Augen nicht von Raskolnikow, da sie fühlte, daß er ihr einziger Schutz war. Katerina Iwanowna atmete schwer und heiser und schien furchtbar erschöpft. Am dümmsten stand Amalia Iwanowna da, mit offenem Munde, ohne etwas zu verstehen. Sie sah nur, daß Pjotr Petrowitsch irgendwie hereingefallen war. Raskolnikow bat wieder ums Wort, man ließ ihn aber nicht zu Ende sprechen: alle schrien und drängten sich um Luschin mit Schimpfworten und Drohungen. Aber Pjotr Petrowitsch wurde nicht bange. Als er sah, daß die Sache mit der Beschuldigung Ssonjas unrettbar verloren war, wurde er einfach frech:
»Erlauben Sie, meine Herrschaften, erlauben Sie, drängen Sie sich nicht, lassen Sie mich durchgehen!« sagte er, indem er sich einen Weg durch die Menge bahnte. »Und tun Sie mir den Gefallen, drohen Sie nicht. Ich versichere Ihnen, daraus wird nichts, Sie werden nichts erreichen, ich gehöre nicht zu den Feigen, im Gegenteil, meine Herrschaften, Sie werden es noch zu verantworten haben, daß Sie eine Kriminalsache gewaltsam vertuscht haben. Die Diebin ist mehr als überführt, und ich werde sie belangen. Und vor Gericht ist man nicht so blind und ... nicht betrunken, und wird nicht zwei abgefeimten Atheisten, Aufrührern und Freigeistern glauben, die mich aus persönlicher Rachsucht beschuldigen, was sie in ihrer Dummheit auch selbst zugeben ... Ja, erlauben Sie doch!«
»Räumen Sie sofort mein Zimmer! Wollen Sie sofort ausziehen, und zwischen uns ist alles aus! Wenn ich bloß bedenke, wie ich mich bemühte, wie ich ihm alles erklärte ... ganze zwei Wochen! ...«
»Ich habe Ihnen auch selbst vorhin gesagt, Andrej Ssemjonowitsch, als Sie mich zurückzuhalten versuchten, daß ich ausziehe; jetzt füge ich dem noch hinzu, daß Sie ein Dummkopf sind. Ich wünsche Ihnen eine Gesundung Ihres Verstandes und Ihrer blinden Augen. Erlauben Sie doch, meine Herrschaften!«
Er drängte sich durch; aber der Proviantbeamte wollte ihn nicht so einfach, bloß mit Schimpfworten beladen, abziehen lassen; er nahm ein Glas vom Tisch, holte aus und schleuderte es gegen Pjotr Petrowitsch; aber das Glas flog direkt auf Amalia Iwanowna. Sie kreischte auf, aber der Proviantbeamte verlor, als er zum Wurfe ausholte, das Gleichgewicht und fiel schwer unter den Tisch. Pjotr Petrowitsch begab sich auf sein Zimmer, und nach einer halben Stunde war er nicht mehr im Hause. Sjonja, die von Natur schüchtern war, wußte es schon früher, daß man sie leichter als jeden anderen Menschen zugrunderichten konnte und daß sie jeder fast straflos beleidigen durfte. Und doch hatte sie bis zu diesem Augenblick geglaubt, daß sie jedem Unheil durch Vorsicht, Sanftmut und Demut vor jedem Menschen entgehen könnte. Ihre Enttäuschung war darum allzu schwer. Sie konnte natürlich mit Geduld und fast ohne zu murren alles, selbst dieses ertragen. Aber im ersten Augenblick war es ihr doch zu schwer. Trotz ihres Triumphes und ihrer Rechtfertigung, – als der erste Schreck und die erste Erstarrung vorüber waren, als sie alles klar erkannt und begriffen hatte, krampfte sich ihr Herz vor Hilflosigkeit und Kränkung schmerzhaft zusammen. Sie bekam einen hysterischen Anfall. Schließlich hielt sie es nicht aus, stürzte aus dem Zimmer und rannte nach Hause. Dies geschah, gleich nachdem Luschin fortgegangen war. Als das Glas unter dem lauten Lachen der Anwesenden Amalia Iwanowna traf, wurde es ihr doch zu bunt. Wie wahnsinnig kreischend, stürzte sie auf Katerina Iwanowna zu, der sie die Schuld an allem zuschob.
»Hinaus aus der Wohnung! Sofort! Marsch!«
Mit diesen Worten fing sie an, alle Sachen Katerina Iwanownas, die ihr unter die Hände kamen, auf den Boden zu werfen. Katerina Iwanowna, schon ohnehin halbtot, beinahe ohnmächtig und blaß, sprang vom Bette auf (auf das sie in ihrer Erschöpfung hingesunken war) und fiel über Amalia Iwanowna her. Der Kampf war aber zu ungleich; jene stieß sie wie eine leichte Feder von sich.
»Wie! Nicht genug, daß man uns gottlos verleumdet hat, geht diese Kreatur auch noch gegen mich los! Wie! Am Tage der Beerdigung meines Mannes jagt man mich zum Dank für die genossene Gastfreundschaft mit den Waisen aus dem Hause! Wo soll ich denn hingehen?!« schrie keuchend und schluchzend die arme Frau. »Gott!« schrie sie plötzlich mit brennenden Augen: »Gibt es denn keine Gerechtigkeit? Wen willst du denn schützen, wenn nicht uns Waisen? Nun, wir wollen es sehen! Es gibt Recht und Wahrheit in der Welt, ich werde sie finden! Gleich, wart, du gottlose Kreatur! Poljetschka, bleib du bei den Kindern, ich komme gleich zurück. Wartet auf mich, meinetwegen auf der Straße! Wir wollen sehen, ob es Gerechtigkeit in der Welt gibt! ...«
Und Katerina Iwanowna warf sich dasselbe grüne Tuch, das der verstorbene Marmeladow in seiner Erzählung erwähnt hatte, über den Kopf, drängte sich durch den unordentlichen Haufen betrunkener Mieter, die noch immer im Zimmer herumstanden, und lief weinend und schluchzend auf die Straße – mit der unbestimmten Absicht, gleich, auf der Stelle irgendwo Gerechtigkeit zu finden. Poljetschka drückte sich voller Angst mit den Kindern in die Ecke, setzte sich, die beiden Kleinsten umschlingend, auf den Koffer und fing an, am ganzen Leibe zitternd, auf die Rückkehr der Mutter zu warten. Amalia Iwanowna rannte hin und her, kreischte, lamentierte, warf alles, was ihr unter die Hände kam, auf den Boden und gebärdete sich wie rasend. Die Mieter schrien durcheinander – die einen besprachen noch, soweit sie es noch konnten, das Geschehene, die anderen zankten sich und fluchten, andere wieder stimmten Lieder an ...
– Jetzt ist auch für mich Zeit! – dachte Raskolnikow. – Nun, Ssofja Ssemjonowna, wir wollen mal sehen, was Sie jetzt sagen werden! –
Und er ging zu Ssonja in die Wohnung.
Raskolnikow war ein mutiger und eifriger Advokat Ssonjas gegen Luschin, obwohl er selbst so viel eigenes Leid und Grauen in der Seele trug. Da er aber am Morgen so viel gelitten hatte, war er beinahe froh, seine Eindrücke, die ihm unerträglich geworden waren, zu ändern, schon ganz abgesehen davon, wie viel Persönliches und Herzliches in seinem Streben, für Ssonja einzutreten, lag. Außerdem stand ihm noch die Zusammenkunft mit Ssonja bevor, und dieser Gedanke beunruhigte ihn in manchen Augenblicken schwer: er mußte ihr sagen, wer Lisaweta ermordet hatte, er sah die schreckliche Qual voraus und wehrte sie von sich gleichsam mit beiden Händen ab. Als er beim Verlassen der Wohnung Katerina Iwanownas ausrief: »Nun, was werden Sie jetzt sagen, Ssofja Ssemjonowna?«, befand er sich noch in einem äußerlich erregten Zustande von Mut, Kampflust, unter dem Eindrucke des eben über Luschin errungenen Sieges. Aber es kam so seltsam. Als er die Wohnung Kapernaumows erreichte, fühlte er plötzlich Ohnmacht und Angst. Nachdenklich blieb er vor der Tür stehen: »Soll ich sagen, wer Lisaweta ermordet hat?« Die Frage war sonderbar, weil er im gleichen Augenblick plötzlich fühlte, daß es ihm unmöglich war, nicht nur zu schweigen, sondern auch diesen Augenblick noch für eine kurze Weile hinauszuschieben. Er wußte noch nicht, warum es unmöglich war: er fühlte es nur, und dieses qualvolle Bewußtsein seiner Ohnmacht der Notwendigkeit gegenüber erdrückte ihn fast. Um nicht länger zu denken und sich zu quälen, machte er die Tür schnell auf und blickte von der Schwelle auf Ssonja. Sie saß, auf das Tischchen gestützt, und hielt das Gesicht mit den Händen bedeckt; als sie aber Raskolnikow sah, stand sie schnell auf und ging ihm entgegen, als hätte sie ihn erwartet.
»Wie wäre es mir wohl ohne Sie ergangen!« sagte sie schnell, als sie ihm in der Mitte des Zimmers begegnete.
Offenbar hatte sie ihm nur das so schnell wie möglich sagen wollen und ihn nur darum erwartet.
Raskolnikow ging zum Tisch und setzte sich auf den Stuhl, von dem sie soeben aufgestanden war. Sie blieb zwei Schritte vor ihm stehen, genau wie gestern.
»Nun, Ssonja?« sagte er und fühlte plötzlich, daß seine Stimme zitterte. »Das Ganze lief doch auf die ›soziale Position und die mit derselben verbundenen Angewohnheiten‹ hinaus? Haben Sie es vorhin verstanden?«
Ihr Gesicht zeigte einen schmerzvollen Ausdruck.
»Sprechen Sie nur mit mir nicht so wie gestern!« unterbrach sie ihn. »Bitte, fangen Sie gar nicht an. Ich hab' auch so genügend Qual ...«
Sie beeilte sich zu lächeln, da sie fürchtete, daß der Vorwurf ihm vielleicht mißfallen würde.
»Ich bin dummerweise weggegangen. Was ist jetzt dort los? Ich wollte eben wieder hingehen, dachte aber immer, daß ... Sie kommen würden.«
Er erzählte ihr, daß Amalia Iwanowna die Ihrigen aus der Wohnung jage und daß Katerina Iwanowna irgendwohin gelaufen sei, »um die Gerechtigkeit zu suchen«.
»Ach, mein Gott!« fuhr Ssonja auf. »Kommen Sie schnell ...«
Und sie ergriff ihre Mantille.
»Ewig dasselbe!« rief Raskolnikow gereizt. »Sie haben nur sie im Sinn! Bleiben Sie mit mir.«
»Und ... Katerina Iwanowna?«
»Katerina Iwanowna wird Ihnen nicht entgehen, sie wird schon selbst zu Ihnen kommen, wenn sie schon aus dem Hause gelaufen ist«, fügte er mürrisch hinzu. »Wenn sie Sie nicht antrifft, werden Sie doch schuld sein ...«
Ssonja setzte sich in qualvoller Unentschlossenheit auf einen Stuhl. Raskolnikow schwieg, blickte zu Boden und überlegte sich etwas.
»Nehmen wir an, Luschin wollte es jetzt nicht«, begann er, ohne Ssonja anzusehen. »Wenn er es aber wollte oder wenn es in seinem Interesse wäre, hätte er Sie doch ins Zuchthaus gebracht – wenn ich und Lebesjatnikow nicht dabei gewesen wären! Wie?«
»Ja«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Ja!« wiederholte sie zerstreut und unruhig.
»Ich hätte ja wirklich auch nicht dabei sein können! Lebesjatnikow kam aber schon ganz zufällig dazwischen.«
Ssonja schwieg.
»Nun, und wenn Sie ins Zuchthaus kämen, was dann? Erinnern Sie sich noch, was ich Ihnen gestern gesagt habe?«
Sie antwortete wieder nicht. Er wartete eine Weile.
»Und ich dachte, Sie würden wieder schreien: ›Ach, sprechen Sie nicht davon, hören Sie auf!‹« sagte Raskolnikow und lachte, doch irgendwie unnatürlich. »Nun, Sie schweigen wieder?« fragte er nach einer Weile. »Man muß doch über etwas reden? Nun wäre es mir sehr interessant zu hören, wie Sie jetzt eine gewisse ›Frage‹, wie es Lebesjatnikow nennt, lösen würden. (Er schien etwas aus dem Konzept zu kommen.) Nein, wirklich, ich meine es ernst. Stellen Sie sich vor, Ssonja, daß Sie alle Absichten Luschins im voraus wüßten, daß Sie wüßten (das heißt ganz sicher wüßten), daß dadurch Katerina Iwanowna und die Kinder ganz zugrundegehen würden; auch Sie selbst als Draufgabe (da Sie sich selbst für nichts achten, sage ich: als Draufgabe). Poljetschka ebenfalls ... ... weil ihr der gleiche Weg bevorsteht. Nun also: Wenn es jetzt nur von Ihrer Entscheidung abhinge, ob er oder Sie leben sollen, das heißt, ob Luschin leben und seine Gemeinheiten weiter begehen soll, oder Katerina Iwanowna sterben soll – wie würden Sie entscheiden: wer von ihnen soll sterben? Ich frage Sie!«
Ssonja sah ihn unruhig an. Sie glaubte in seiner unsicheren, weit ausholenden Rede etwas zu hören.
»Ich wußte schon vorher, daß Sie mich etwas Ähnliches fragen würden«, sagte sie und sah ihn forschend an.
»Gut, meinetwegen. Aber wie soll man diese Frage entscheiden?«
»Warum fragen Sie etwas, was unmöglich zu beantworten ist?« sagte Ssonja mit Widerwillen.
»Es ist also besser, wenn Luschin am Leben bleibt und seine Gemeinheiten weiter treibt! Sie wagen nicht mal, dieses zu entscheiden!«
»Ich kann ja nicht Gottes Vorsehung kennen ... Und warum fragen Sie mich, was man nicht fragen darf? Wozu solche dummen Fragen? Wie wäre es möglich, daß dies von meiner Entscheidung abhinge? Und wer hat mich zum Richter bestellt, um zu entscheiden, wer leben und wer sterben soll?«
»Sobald die Vorsehung Gottes mit im Spiele ist, ist nichts zu machen«, brummte Raskolnikow mürrisch.
»Sagen Sie lieber einfach, was Sie wollen!« rief Ssonja gequält. »Sie haben wieder etwas im Sinn ... Sind Sie denn nur dazu gekommen, um mich zu quälen?«
Sie hielt es nicht aus und fing plötzlich zu weinen an. Finster und schwermütig sah er sie an. So vergingen an die zehn Minuten.
»Du hast ja recht, Ssonja«, sagte er schließlich leise.
Er war plötzlich wie verändert. Der gekünstelte freche und kraftlos herausfordernde Ton war verschwunden. Selbst seine Stimme wurde auf einmal schwach.
»Ich habe dir gestern doch selbst gesagt, daß ich nicht dazu kommen werde, um Verzeihung zu bitten, und doch hätte ich beinahe damit angefangen ... Das über Luschin und die Vorsehung sagte ich nur für mich selbst ... Ich bat damit um Verzeihung, Ssonja ...«
Er wollte schon lächeln, aber das blasse Lächeln blieb kraftlos und unfertig. Er neigte den Kopf und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Plötzlich durchzuckte das unerwartete Gefühl eines giftigen Hasses gegen Ssonja sein Herz. Über dieses Gefühl gleichsam selbst erstaunt und erschrocken, hob er plötzlich den Kopf und sah sie aufmerksam an; er begegnete aber ihrem unruhigen und schmerzvoll besorgten Blick; es war Liebe darin: und sein Haß verschwand wie ein Gespenst. Es war etwas anderes; er hatte sein Gefühl für ein anderes gehalten. Es bedeutete nur, daß jener Augenblick gekommen war.
Er bedeckte wieder das Gesicht mit den Händen und beugte den Kopf. Plötzlich erbleichte er, erhob sich vom Stuhl, sah Ssonja an und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, mechanisch auf ihr Bett hinüber.
Dieser Moment glich für seine Empfindung so furchtbar jenem, als er schon hinter der Alten stand, das Beil aus der Schlinge herausgeholt hatte und fühlte, daß er keinen Augenblick länger verlieren dürfe.
»Was ist mit Ihnen?« fragte Ssonja, furchtbar erschrocken.
Er konnte kein Wort hervorbringen. Er hatte sich das Geständnis ganz anders vorgestellt und verstand gar nicht, was jetzt mit ihm vorging. Sie ging leise auf ihn zu, setzte sich neben ihn aufs Bett und wartete, ohne den Blick von ihm zu wenden. Ihr Herz klopfte und stockte. Es wurde unerträglich; er wandte ihr sein totenblasses Gesicht zu; seine Lippen zuckten ohnmächtig und bemühten sich, etwas zu sagen. Ein Grauen durchfuhr Ssonjas Herz.
»Was ist mit Ihnen?« wiederholte sie, vor ihm etwas zurückweichend.
»Nichts, Ssonja. Fürchte dich nicht ... Unsinn! Wirklich, wenn ich es so überlege, so ist es Unsinn«, murmelte er wie ein Besinnungsloser im Fieber. »Warum bin ich bloß hergekommen, um dich zu quälen?« fügte er plötzlich hinzu und sah sie an. »Wirklich, wozu? Ich lege mir immer diese Frage vor, Ssonja ...«
Vielleicht hatte er sich diese Frage wirklich vor einer Viertelstunde vorgelegt, jetzt sagte er es aber in voller Ohnmacht, kaum sich selber bewußt und am ganzen Körper zitternd.
»Ach, wie Sie sich quälen!« sagte sie mit Schmerz und sah ihn aufmerksam an.
»Alles ist Unsinn! ... Hör mal, Ssonja (er lächelte plötzlich aus unbekanntem Grunde bleich und kraftlos, es dauerte an die zwei Sekunden), – weißt du noch, was ich dir gestern sagen wollte?«
Ssonja wartete voll Unruhe.
»Ich sagte beim Weggehen, daß ich mich von dir vielleicht für immer verabschiede, aber wenn ich heute käme, so würde ich dir sagen ... wer Lisaweta ermordet hat.«
Sie erbebte plötzlich am ganzen Körper.
»Nun bin ich gekommen, um es dir zu sagen.«
»Sie haben es also gestern im Ernst ...« flüsterte sie mühevoll. – »Woher wissen Sie es denn?« fragte sie plötzlich scheu, als wäre sie zur Besinnung gekommen.
Ssonja fing an, schwer zu atmen. Ihr Gesicht wurde immer blasser und blasser.
»Ich weiß es.«
Sie schwieg eine Weile.
»Hat man ihn vielleicht gefunden?« fragte sie scheu.
»Nein, man hat ihn nicht gefunden.«
»Woher wissen Sie es dann?« fragte sie wieder kaum hörbar und wieder nach einem längeren Schweigen.
Er wandte sich zu ihr um und sah sie sehr aufmerksam an.
»Rate einmal«, sagte er mit seinem früheren verzerrten und ohnmächtigen Lächeln.
Ihr ganzer Körper erzitterte wie im Krampf.
»Sie ... machen ... was machen Sie mir solche Angst?« sagte sie und lächelte wie ein Kind.
»Also bin ich wohl mit ihm gut befreundet ... wenn ich es weiß«, fuhr Raskolnikow fort, ihr immer unverwandt ins Gesicht blickend, als hätte er nicht die Kraft, die Augen von ihr zu wenden. »Er hat diese Lisaweta ... nicht ermorden wollen ... Er hat sie ... zufällig ermordet ... Er wollte die Alte ermorden ... als sie allein war ... und war gekommen ... Da trat aber Lisaweta ein ... Und da ermordete er sie.«
Es verging wieder eine schreckliche Minute. Sie sahen einander noch immer an.
»Du kannst es also nicht erraten?« fragte er plötzlich mit einem Gefühl, als stürzte er sich von einem Glockenturm hinab.
»N-nein«, flüsterte Ssonja kaum hörbar.
»Sieh mal mich ordentlich an.«
Und kaum hatte er das gesagt, als eine ihm schon bekannte frühere Empfindung sein Herz erstarren ließ: er sah sie an und glaubte plötzlich in ihrem Gesicht das Gesicht Lisawetas zu erkennen. Er hatte sich Lisawetas Gesichtsausdruck so grell eingeprägt, als er damals mit dem Beil auf sie losging und sie vor ihm zur Wand zurückwich, die Hand vorgestreckt, mit einer völlig kindlichen Angst im Gesicht, ganz wie ein kleines Kind, das plötzlich vor etwas erschrickt, unbeweglich und unruhig den ihn erschreckenden Gegenstand anstarrt, dann zurückweicht, das Händchen vorstreckt und sich anschickt, zu weinen. Fast dasselbe war jetzt mit Ssonja; ebenso kraftlos, mit dem gleichen Schrecken sah sie ihn eine Weile an, streckte plötzlich die linke Hand vor, stieß ihn ganz leicht mit den Fingern vor die Brust und fing an, sich langsam vom Bette zu erheben, immer mehr und mehr zurückweichend, während ihr Blick immer starrer wurde. Ihr Entsetzen teilte sich gleichsam auch ihm mit: auch sein Gesicht zeigte die gleiche Angst, er begann sie ebenso anzusehen, fast mit demselben kindlichen Lächeln.
»Hast du es erraten?« flüsterte er plötzlich.
»O Gott!« entrang sich ein furchtbarer Schrei ihrer Brust.
Kraftlos fiel sie aufs Bett, mit dem Gesicht auf das Kissen. Doch nach einem Augenblick erhob sie sich wieder, rückte schnell zu ihm heran, ergriff seine beiden Hände, preßte sie wie in einem Schraubstock mit ihren feinen Fingern zusammen und begann ihm wieder unbeweglich und unverwandt ins Gesicht zu schauen. Mit diesem letzten verzweifelten Blick wollte sie die leiseste, letzte Hoffnung für sich entdecken und erspähen. Aber es war keine Hoffnung; es blieb auch kein Zweifel: alles war so! Sogar viel später, wenn sie sich auf diesen Augenblick besann, kam es ihr so seltsam und sonderbar vor: warum hatte sie damals sofort erkannt, daß es keine Zweifel mehr gab? Sie konnte doch nicht sagen, daß sie etwas dergleichen zum Beispiel vorausgeahnt hätte! Und doch kam es ihr jetzt, wo er es ihr gesagt hatte, vor, als hätte sie gerade das vorausgeahnt.
»Genug, Ssonja, genug! Quäle mich nicht!« bat er mit schmerzlichem Ausdruck.
Er hatte es ihr ganz, ganz anders enthüllen wollen, aber es war doch so gekommen.
Wie außer sich, sprang sie auf und ging händeringend bis zur Mitte des Zimmers; doch sie kam schnell zurück und setzte sich wieder neben ihn, so daß sie mit ihrer Schulter beinahe die seinige berührte. Plötzlich fuhr sie, wie von einem Pfeile durchbohrt, zusammen und stürzte, ohne selbst zu wissen, warum, vor ihm in die Knie.
»Was, was haben Sie mit sich getan!« sagte sie verzweifelt.
Sie stand von den Knien auf, fiel ihm um den Hals, umschlang ihn und preßte ihn fest zusammen.
Raskolnikow rückte weg und sah sie mit traurigem Lächeln an.
»Wie sonderbar bist du, Ssonja – du umarmst und küßt mich, nachdem ich dir das gesagt habe! Du weißt selbst nicht, was du tust.«
»Niemand, niemand ist jetzt unglücklicher als du in der ganzen Welt!« rief sie wie rasend aus, ohne seine Bemerkung gehört zu haben, und brach plötzlich in lautes, hysterisches Weinen aus.
Ein ihm schon seit langem unbekanntes Gefühl überströmte mit einem Male seine Seele und machte sie erweichen. Er widerstrebte ihm nicht: zwei Tränen rollten ihm aus den Augen und blieben an seinen Wimpern hängen.
»So wirst du mich nicht verlassen, Ssonja?« fragte er, sie fast mit Hoffnung anblickend.
»Nein, nein! Niemals und nirgends!« rief Ssonja aus. »Ich gehe mit dir, ich folge dir überallhin! O Gott! ... Ach, ich Unglückliche! Warum, warum habe ich dich bisher nicht gekannt! Warum bist du nicht früher gekommen? O Gott!«
»Nun bin ich gekommen.«
»Jetzt erst! Ach, was soll man jetzt tun! ... Zusammen, zusammen!« wiederholte sie wie bewußtlos und umarmte ihn von neuem. »Ich gehe mit dir nach Sibirien!«
Er zuckte plötzlich zusammen, sein früheres gehässiges und fast hochmütiges Lächeln zeigte sich wieder auf seinen Lippen.
»Vielleicht will ich noch gar nicht nach Sibirien, Ssonja!« sagte er.
Ssonja warf ihm einen schnellen Blick zu.
Nach dem ersten leidenschaftlichen und qualvollen Ausbruch von Mitgefühl für den Unglücklichen wurde sie wieder von dem schrecklichen Gedanken an den Mord erschüttert. Im veränderten Ton seiner Worte erkannte sie den Mörder. Sie sah ihn mit Erstaunen an. Es war ihr noch nichts bekannt: weder warum, noch wie, noch wozu er es getan hatte. Alle diese Fragen tauchten mit einemmal in ihrem Bewußtsein auf. Und sie glaubte es wieder nicht. – Er, er soll ein Mörder sein? Ist es denn möglich?
»Was ist denn das? Wo bin ich denn?« sagte sie in tiefem Erstaunen, als wäre sie noch nicht zu sich gekommen. »Wie konnten Sie, Sie, solch ein Mensch, sich zu so was entschließen?!«
»Na ja, um zu rauben. Hör auf, Ssonja!« antwortete er müde und fast ärgerlich.
Ssonja stand wie niedergeschmettert da, rief aber plötzlich aus:
»Du warst hungrig! Du ... um deiner Mutter zu helfen? Ja? ...«
»Nein, Ssonja, nein«, stammelte er abgewandt und mit gesenktem Kopf. »Ich war gar nicht so hungrig ... ich wollte wirklich der Mutter helfen, aber ... auch das ist nicht ganz richtig ... quäle mich nicht, Ssonja.«
Ssonja schlug die Hände zusammen.
»Ist es denn wirklich, wirklich wahr? Mein Gott, was ist das für eine Wahrheit? Wer kann es glauben? ... Wie können Sie selbst das Letzte hergeben, wo Sie gemordet und geraubt haben! Ah! ...« schrie sie plötzlich. »Das Geld, das Sie Katerina Iwanowna gegeben haben ... dieses Geld ... Mein Gott, ist denn auch dieses Geld ...«
»Nein, Ssonja«, unterbrach er sie hastig, »es war anderes Geld, beruhige dich! Dieses Geld hat mir meine Mutter geschickt durch einen Kaufmann; ich erhielt es, als ich krank war, am gleichen Tage, an dem ich es hergab ... Rasumichin hat es gesehen ... er hat auch das Geld für mich übernommen ... dieses Geld war wirklich mein eigenes.«
Ssonja hörte verständnislos zu und bemühte sich mit aller Kraft, etwas zu verstehen.
»Und jenes Geld ... ich weiß übrigens gar nicht, ob dort überhaupt Geld war«, fügte er leise und nachdenklich hinzu. »Ich habe ihr damals einen Beutel vom Halse genommen, einen wildledernen ... einen vollgestopften dicken Beutel ... und habe gar nicht hineingeschaut; hatte wahrscheinlich keine Zeit dazu ... Nun, und die Sachen, irgendwelche Hemdknöpfe und Kettchen – alle diese Sachen habe ich am nächsten Morgen auf einem fremden Hofe, auf dem W–schen Prospekt unter einem Stein versteckt ... Alles liegt jetzt noch dort ...«
Ssonja hörte gespannt zu.
»Nun, warum denn ... warum sagten Sie: um zu rauben, haben aber nichts genommen?« fragte sie schnell, wie nach einem Strohhalme greifend.
»Ich weiß nicht ... ich habe es mir noch nicht überlegt, ob ich das Geld nehmen werde oder nicht«, sagte er wieder nachdenklich; plötzlich kam er zu sich und lachte schnell und kurz auf. »Ach, was für eine Dummheit habe ich eben gesagt, wie?!«
Ssonja kam schon der Gedanke: – Ist er nicht wahnsinnig? – Aber sie gab ihn gleich wieder auf: – Nein, hier ist etwas anderes! – Sie verstand davon nichts, gar nichts.
»Weißt du, Ssonja«, sagte er plötzlich, wie einer Eingebung folgend. »Weißt du, was ich dir sagen werde: Wenn ich nur darum gemordet hätte, weil ich hungrig war«, fuhr er fort, jedes Wort betonend und sie rätselhaft, aber aufrichtig anblickend, »so wäre ich jetzt glücklich! Merke dir das! Und was hättest du davon«, rief er nach einem Augenblick in Verzweiflung, »was hättest du davon, wenn ich dir gleich gestanden hätte, daß ich schlecht gehandelt habe? Was hättest du von diesem dummen Triumphe über mich? Ach, Ssonja, bin ich denn deswegen jetzt zu dir gekommen?«
Ssonja wollte wieder etwas sagen, sagte aber nichts.
»Darum habe ich dich auch gestern gerufen, mit mir zu kommen, weil nur du allein mir geblieben bist.«
»Wohin gerufen?« fragte Ssonja.
»Nicht um zu stehlen und nicht um zu morden, beruhige dich! ... nicht dazu«, sagte er mit spöttischem Lächeln. »Wir sind zu verschiedene Menschen ... Weißt du, Ssonja, ich habe erst jetzt, erst eben begriffen, wohin ich dich gestern rief! Als ich dich gestern rief, wußte ich selbst noch nicht, wohin. Nur das eine wollte ich, als ich dich rief, als ich zu dir kam: daß du mich nicht verlassest. Wirst du mich nicht verlassen, Ssonja?«
Sie drückte ihm die Hand.
»Und warum, warum habe ich es ihr gesagt, warum habe ich es ihr enthüllt?!« rief er voll Verzweiflung nach einer Minute aus und sah sie mit unendlicher Qual an. »Da erwartest du von mir Erklärungen, sitzt und wartest, ich sehe es; was kann ich dir aber sagen? Du wirst doch nichts davon verstehen, wirst dich bloß quälen ... um meinetwillen! Nun, du weinst und umarmst mich wieder – warum umarmst du mich? Weil ich es selbst nicht tragen konnte und zum andern kam, um es auf ihn abzuwälzen: ›Leide auch du, damit ich es leichter habe!‹? – Kannst du denn einen solchen Schurken lieben?«
»Quälst du dich denn nicht auch?« rief Ssonja aus.
Wieder überströmte das gleiche Gefühl seine Seele und machte sie für einen Augenblick erweichen.
»Ssonja, ich habe ein böses Herz, merk dir das: damit kannst du vieles erklären. Ich bin auch darum gekommen, weil ich böse bin. Es gibt solche, die nicht gekommen wären. Ich bin aber ein Feigling und ... ein Schuft! Aber ... es sei! Das ist alles nicht das Richtige ... Man muß jetzt sprechen, ich verstehe aber nicht anzufangen ...«
Er hielt inne und wurde nachdenklich.
»Ach, ja, wir sind verschiedene Menschen!« rief er wieder aus. »Wir passen nicht zueinander. Warum bin ich nur hergekommen?! Nie, nie werde ich es mir verzeihen!«
»Nein, nein, es ist gut, daß du gekommen bist!« rief Ssonja. »Es ist besser, daß ich es weiß! Viel besser!«
Er sah sie voller Schmerz an.
»Ach, in der Tat!« sagte er, als hätte er es jetzt begriffen. »So war es ja auch! Also hör: ich wollte ein Napoleon werden, darum habe ich sie ermordet ... Nun, ist es dir jetzt verständlich?«
»N-nein«, flüsterte Ssonja naiv und scheu. »Aber ... sprich, sprich! Ich werde es verstehen, ich werde für mich alles verstehen!« flehte sie ihn an.
»Du wirst es verstehen? Nun, gut, wir wollen sehen!«
Er schwieg und dachte lange nach.
»Die Sache ist die: Einmal habe ich mir folgende Frage gestellt: Wenn zum Beispiel an meiner Stelle Napoleon wäre und er, um seine Laufbahn zu beginnen, weder Toulon, noch Ägypten, noch den Übergang über den Mont-Blanc gehabt hätte, wenn an Stelle dieser schönen und monumentalen Dinge ganz einfach eine lächerliche Alte, eine Registratorswitwe gewesen wäre, die man auch noch ermorden mußte, um aus ihrem Koffer Geld zu stehlen (für die Karriere, verstehst du?) – nun, würde er sich dazu entschließen, wenn er keinen anderen Ausweg gehabt hätte? Wäre er davor zurückgeschreckt, daß er schon gar zu unmonumental und ... und sündhaft gewesen wäre? Nun, ich sage dir also, daß ich mich mit dieser Frage furchtbar lange gequält habe, so daß ich mich furchtbar schämte, als ich schließlich dahinter kam (so ganz plötzlich), daß er davor nicht nur nicht zurückgeschreckt wäre, sondern es ihm nicht mal in den Sinn gekommen wäre, daß es nicht monumental sei ... und er nicht mal begriffen hätte, wovor er hier eigentlich hätte zurückschrecken sollen! Und wenn er keinen anderen Ausweg gehabt hätte, so würde er sie erwürgt haben, so daß sie nicht mal gemuckst hätte, ganz ohne Nachdenken! Nun, und ich ... ließ alles Nachdenken ... und tötete sie ... nach dem Beispiele der Autorität. Und es spielte sich auch genau so ab! Das kommt dir lächerlich vor? Ja, Ssonja, das ist wirklich das Lächerlichste dabei, daß es sich wirklich so abgespielt hat ...«
Ssonja kam es gar nicht lächerlich vor.
»Sagen Sie mir lieber offen ... ohne Beispiele«, bat sie kaum hörbar und noch scheuer.
Er wandte sich zu ihr um, sah sie traurig an und ergriff ihre Hände.
»Du hast wieder recht, Ssonja. Das ist alles Unsinn, fast leeres Geschwätz! Siehst du: du weißt ja, daß meine Mutter fast nichts hat. Meine Schwester hat zufällig Bildung genossen und ist verurteilt, als Gouvernante von Haus zu Haus zu ziehen. Alle ihre Hoffnungen ruhten auf mir allein. Ich studierte, konnte aber meinen Unterhalt nicht bezahlen und mußte zeitweise die Universität verlassen. Und selbst, wenn es sich noch weiter hingeschleppt hätte, könnte ich nach zehn oder zwölf Jahren (wenn die Umstände mir günstig wären) immerhin ein Lehrer oder Beamter mit tausend Rubel Gehalt werden ... (Er sagte das wie eine auswendig gelernte Lektion.) Bis dahin wäre meine Mutter vor Sorgen und Kummer zugrundegegangen, und so wäre es mir doch nicht gelungen, ihr endlich zu einem ruhigen Leben zu verhelfen ... Nun, und der Schwester könnte es noch viel schlimmer ergehen! ... Und was für ein Vergnügen ist es auch, sein Leben lang an allem vorbeizugehen und sich von allem abzuwenden, die Mutter zu vergessen und die Schmach der Schwester mit Ehrfurcht zu ertragen? Wozu? Um sie zu begraben und sich andere – eine Frau und Kinder anzuschaffen und dann auch sie ohne einen Pfennig Geld und ohne einen Bissen Brot zurückzulassen? Nun ... so entschloß ich mich, mir das Geld der Alten anzueignen und es, ohne meine Mutter zu quälen, für den Unterhalt während der ersten Universitätsjahre und für die ersten Schritte nach der Universität zu verwenden, und dies alles auf breiter Grundlage und radikal zu machen, um mir eine vollkommen neue Karriere einzurichten und auf einen neuen, unabhängigen Weg zu kommen ... Nun ... das ist alles ... Daß ich die Alte ermordet habe, war natürlich schlecht von mir ... nun ist's genug!«
In völliger Erschöpfung hatte er das Ende seiner Rede erreicht und ließ den Kopf sinken.
»Ach, das ist nicht das, das ist nicht das!« rief Ssonja voll Gram. »Kann man denn so ... nein, es ist nicht so, nicht so!«
»Du siehst doch selbst, daß es nicht so ist! ... Und doch habe ich aufrichtig gesprochen, habe die reine Wahrheit gesagt! ...«
»Was ist es denn für eine Wahrheit! O Gott!«
»Ich habe doch nur eine Laus getötet, Ssonja, eine unnütze, häßliche, schädliche Laus.«
»Was, ein Mensch ist eine Laus?«
»Das weiß ich auch selbst, daß er keine Laus ist«, antwortete er und sah sie sonderbar an. »Aber ich rede Unsinn, Ssonja,« fügte er hinzu, »ich rede schon lange Unsinn ... Das ist alles nicht das Richtige; du hast recht. Es sind ganz, ganz andere Gründe dabei! ... Ich habe schon lange mit niemand gesprochen, Ssonja ... Mein Kopf tut mir jetzt so weh.«
Seine Augen brannten wie im Fieber. Er begann fast zu phantasieren; ein unruhiges Lächeln irrte um seine Lippen. Durch die große seelische Erregung ließ sich schon eine furchtbare Ohnmacht erkennen. Ssonja begriff, wie er sich quälte. Auch ihr schwindelte schon der Kopf. Auch sprach er so merkwürdig: es kam ihr zwar verständlich vor, und doch ... »Aber wie! Aber wie! O Gott!« Und sie rang in Verzweiflung die Hände.
»Nein, Ssonja, das ist nicht das Richtige!« begann er wieder und hob plötzlich den Kopf, als hätte ihn eine jähe Wendung der Gedanken überrascht und von neuem erregt. »Das ist nicht das Richtige! Besser ... nimm an (ja, so ist es wirklich besser!), nimm an, ich sei egoistisch, neidisch, böse, gemein, rachsüchtig und ... neige vielleicht auch zum Irrsinn. (Besser schon alles auf einmal! Daß ich irrsinnig sei, davon hat man schon früher gesprochen, ich habe es gemerkt!) Ich habe dir vorhin gesagt, daß ich auf der Universität meinen Unterhalt nicht bezahlen konnte. Weißt du aber, daß es vielleicht auch ginge? Die Mutter hätte mir das Lehrgeld geschickt, und für Stiefel, Kleider und Brot hätte ich selbst verdienen können, sogar ganz gewiß! Ich hätte auch Stunden erteilen können: fünfzig Kopeken bot man mir für die Stunde. Rasumichin arbeitet doch! Ich wurde böse und wollte nicht. Ja, ich wurde böse (das ist ein guter Ausdruck!). Und ich verkroch mich wie eine Spinne in meinen Winkel. Du warst doch in meinem Loch, hast es gesehen ... Weißt du aber auch, Ssonja, daß die niedrigen Decken und enge Zimmer Seele und Herz erdrücken! O, wie hasse ich dieses Loch! Und doch wollte ich es nicht verlassen. Wollte es absichtlich nicht! Tagelang kam ich nicht heraus und wollte nicht arbeiten, wollte auch nicht essen, lag immer da. Wenn Nastasja mir was bringt, so esse ich es; bringt sie nichts, so vergeht der Tag auch so; absichtlich, zum Trotz verlangte ich kein Essen! Abends habe ich kein Licht und liege im Finstern, aber arbeiten, um mir eine Kerze kaufen zu können, will ich nicht. Ich müßte studieren, hatte aber die Bücher verkauft; in meinem Zimmer liegt auf den Heften und Notizen fingerdick der Staub. Ich zog es vor, zu liegen und zu denken. Ich dachte immer nach ... Und ich hatte immer Träume, so verschiedene merkwürdige Träume, ich will gar nicht sagen, was für welche! Aber auch dann kam es mir zuweilen vor, daß ... Nein, es ist nicht so! Ich erzähle wieder falsch! Siehst du: ich fragte mich damals immer: warum bin ich so dumm, daß ich, wenn die anderen dumm sind und ich weiß, daß sie dumm sind, gar nicht klüger sein will als sie? Dann erfuhr ich, Ssonja, daß man lange warten müßte, bis alle Menschen klug werden. Und dann erfuhr ich auch, daß das niemals eintreten wird, daß die Menschen sich nicht verändern werden und daß niemand sie ändern kann, – es ist nicht der Mühe wert! Ja, so ist es! ... Das ist ihr Gesetz, ihr Gesetz, Ssonja! So ist es! ... Und ich weiß jetzt, Ssonja, daß, wer an Geist und Verstand stark und rüstig ist, auch ein Herrscher über sie ist! Wer vieles wagt, der hat bei ihnen recht. Wer auf das meiste spuckt, der ist für sie der Gesetzgeber, und wer am meisten von allen wagen kann, der hat auch mehr Recht als alle! So war es immer, und so wird es immer bleiben! Nur ein Blinder sieht es nicht!«
Als Raskolnikow das sagte, sah er Ssonja zwar an, kümmerte sich aber nicht mehr darum, ob sie ihn verstehen würde oder nicht. Das Fieber hatte ihn ganz ergriffen. Er war in eine Art finstere Verzückung geraten. (Er hatte wirklich viel zu lange mit niemand gesprochen!) Ssonja verstand, daß dieser düstere Katechismus zu seinem Glauben und Gesetz geworden war.
»Ich kam damals dahinter, Ssonja,« fuhr er begeistert fort, »daß die Macht bloß dem zufällt, der es wagt, sich zu bücken und sie aufzuheben. Es handelt sich nur um das eine: man muß es nur wagen! Mir kam damals ein Gedanke – zum erstenmal im Leben –, den vor mir noch niemand jemals gehabt hat! Niemand! Klar wie die Sonne stand plötzlich vor mir die Frage: Wie kommt es, daß noch niemand es gewagt hat und wagt, angesichts dieses ganzen Unsinns, alles am Schwanze zu packen und zum Teufel zu schmeißen? Ich ... wollte einfach wagen und tötete ... ich wollte nur wagen, Ssonja, das ist der ganze Grund!«
»Oh, schweigen Sie, schweigen Sie!« rief Ssonja aus und schlug die Hände zusammen. »Sie haben Gott verlassen, und Gott hat Sie geschlagen, hat Sie dem Teufel überliefert!« ...
»Ubrigens, Ssonja: als ich im Finstern lag und mir allerlei vorschwebte, das war doch eine Versuchung des Teufels, wie?«
»Schweigen Sie! Spotten Sie nicht, Sie Gotteslästerer, nichts, gar nichts verstehen Sie! O Gott! Er wird doch nichts, gar nichts begreifen!«
»Schweig, Ssonja, ich spotte gar nicht, ich weiß ja selbst, daß mich der Teufel stieß. Schweig, Ssonja, schweig!« wiederholte er finster und eindringlich. »Ich weiß alles. Ich habe mir schon alles überlegt und vorgeflüstert, als ich damals im Finstern lag ... Ich habe alles bis zum letzten Punkt mit mir selbst diskutiert und weiß alles, alles! Und so satt habe ich dieses ganze Geschwätz! Ich wollte alles vergessen und von neuem beginnen, Ssonja, und aufhören zu schwatzen! Glaubst du denn wirklich, daß ich wie ein Narr blindlings hingegangen bin? Ich ging wie ein Kluger hin, und das hat mich eben zugrundegerichtet! Glaubst du vielleicht, ich hätte zum Beispiel nicht gewußt, daß, wenn ich schon anfange, mich zu fragen und auszuforschen, ob ich das Recht habe, die Macht zu haben, ich schon darum dieses Recht nicht hatte? Oder daß, wenn ich die Frage stelle, ob der Mensch eine Laus sei, der Mensch für mich keine Laus ist, sondern nur für einen, dem diese Frage gar nicht in den Sinn kommt, der einfach, ohne zu fragen, hingeht ... Wenn ich mich schon so viele Tage mit der Frage abgequält habe, ob Napoleon hingegangen wäre, so fühlte ich doch vollkommen klar, daß ich kein Napoleon bin ... Die ganze Qual dieses Geschwätzes habe ich ertragen, Ssonja, und ich wollte sie von mir werfen; ich wollte ohne Kasuistik töten, Ssonja, für mich töten, für mich allein! Darin wollte ich nicht mal mich selbst belügen! Ich habe nicht getötet, um meiner Mutter zu helfen, – das ist Unsinn! Ich habe nicht getötet, um Mittel und Macht zu erhalten und dann ein Wohltäter der Menschheit zu werden. Unsinn! Ich habe einfach getötet; ich habe für mich getötet, für mich allein; ob ich aber irgendwessen Wohltäter geworden wäre oder wie eine Spinne mein Leben lang alle in mein Spinnennetz eingefangen und aus ihnen die Lebenssäfte ausgesogen hätte, das sollte mir ganz gleichgültig sein! ... Und es war mir nicht ums Geld zu tun, Ssonja, als ich tötete; es war weniger das Geld, als etwas anderes ... Jetzt weiß ich das alles ... Versteh mich doch: Vielleicht hätte ich, wenn ich den gleichen Weg weiterging, den Mord gar nicht wiederholt. Ich mußte etwas ganz anderes erfahren, etwas anderes stieß mich hin; ich mußte damals erfahren und so schnell als möglich erfahren, ob ich eine Laus bin wie alle, oder ein Mensch? Ob ich die Kraft habe, hinüberzuschreiten, oder nicht? Ob ich es wage, mich zu bücken und es aufzuheben, oder nicht? Ob ich eine zitternde Kreatur bin, oder ob ich das Recht habe ...«
»Zu morden? Ein Recht zu morden wollen Sie haben?!« rief Ssonja und schlug die Hände zusammen.
»Ach, Ssonja! rief er gereizt; er wollte ihr etwas erwidern, schwieg aber verächtlich. Unterbrich mich nicht, Ssonja! Ich wollte dir nur das eine beweisen: der Teufel stieß mich damals hin, und erst nachher erklärte er mir, daß ich gar nicht das Recht hätte, hinzugehen, weil ich die gleiche Laus sei wie alle. Er hat Spott mit mir getrieben, und nun komme ich zu dir. Nimm den Gast auf! Wäre ich denn zu dir gekommen, wenn ich keine Laus wäre? Höre: Als ich damals zu der Alten ging, so ging ich nur, um es zu probieren... Merke es dir!«
»Und Sie haben gemordet, gemordet!«
»Aber wie habe ich gemordet? Mordet man denn so? Geht man so hin, um zu morden, wie ich damals hinging? Ich werde dir einmal erzählen, wie ich hinging! Habe ich denn die Alte ermordet? Mich habe ich ermordet und nicht die Alte! Mit einem Schlage habe ich mich umgebracht, für alle Ewigkeit! ... Die Alte aber hat der Teufel ermordet, und nicht ich ... Genug, genug, Ssonja, es ist genug! Laß mich!« rief er plötzlich mit krampfhaftem Schmerz. »Laß mich!«
Er stützte sich auf seine Knie und preßte den Kopf mit den Händen wie mit Schraubzwingen zusammen.
»Diese Qual!« entrang es sich Ssonja als jammervoller Schrei.
»Nun, was ist jetzt zu tun? Sprich!« sagte er, indem er plötzlich den Kopf hob und sie mit vor Verzweiflung schrecklich entstelltem Gesicht ansah.
»Was tun?!« rief Ssonja aus, jäh von ihrem Platz aufspringend, und ihre Augen, die bisher voller Tränen waren, begannen zu funkeln. »Steh auf! (Sie packte ihn an der Schulter; er stand auf und sah sie fast erstaunt an.) Geh gleich hin, sofort, stell dich auf einen Kreuzweg, küsse zuerst die Erde, die du geschändest hast, und dann verbeuge dich vor der ganzen Welt, nach allen vier Seiten und sage allen laut: ›Ich habe getötet!‹ Dann wird dir Gott wieder Leben senden. Wirst du hingehen? Wirst du hingehen?« fragte sie ihn, am ganzen Leibe wie im Krampfe zitternd, indem sie seine beiden Hände festhielt und ihn mit brennenden Augen ansah.
Er war erstaunt und durch ihre plötzliche Verzückung sogar bestürzt.
»Meinst du Sibirien, Ssonja? Daß ich mich selbst anzeigen soll?« fragte er finster.
»Das Leid auf dich nehmen und dich damit erlösen, das mußt du!«
»Nein! Ich gehe nicht zu ihnen, Ssonja.«
»Wie willst du aber leben, wie leben? Womit wirst du leben?« rief Ssonja. »Kannst du es jetzt noch? Nun, wie wirst du mit der Mutter sprechen? (Ach, und was wird jetzt mit ihnen geschehen?!) Aber was sage ich! Du hast ja Mutter und Schwester schon verlassen. Du hast sie verlassen, verlassen! O Gott!« rief sie aus. »Er weiß ja alles schon selbst! Nun, wie kann man denn nur ohne einen Menschen sein Leben leben! Was wird jetzt mit dir sein?!«
»Sei kein Kind, Ssonja«, sagte er leise. »Was habe ich an ihnen verbrochen? Warum soll ich hingehen? Was soll ich ihnen sagen? Das ist ja nur ein Gespenst ... Sie selbst richten Millionen von Menschen zugrunde und halten es noch für eine Tugend. Sie sind Gauner und Schurken, Ssonja! ... Ich geh nicht hin. Und was soll ich sagen: daß ich getötet, aber nicht gewagt habe, das Geld zu nehmen und es unter einem Stein versteckt habe?« fügte er mit bitterem Lächeln hinzu. »Sie werden mich ja noch auslachen und sagen: Ein Dummkopf bist du, daß du es nicht genommen hast! Ein Feigling und ein Dummkopf! Nichts, gar nichts werden sie verstehen, Ssonja, und sind auch nicht fähig, es zu verstehen. Wozu soll ich hingehen? Ich gehe nicht hin. Sei kein Kind, Ssonja ...«
»Du wirst dich zu Tode quälen, zu Tode quälen«, wiederholte sie mit verzweifeltem Flehen, ihm die Hände entgegenstreckend.
»Vielleicht habe ich mich auch verleumdet«, bemerkte er finster, wie nachdenklich, »vielleicht bin ich noch ein Mensch und keine Laus und habe mich voreilig verurteilt. Ich werde noch kämpfen!«
Ein hochmütiges Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.
»Eine solche Qual ertragen! Und das ganze Leben, das ganze Leben! ...«
»Ich werde mich gewöhnen ...« sagte er finster und nachdenklich. »Hör auf zu weinen«, fing er nach einer Weile wieder an, »es ist Zeit, von der Sache zu sprechen: ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß man mich sucht, daß man mir auf der Spur ist.«
»Ach!« rief Ssonja erschrocken aus.
»Nun, was schreist du so? Du willst doch selbst, daß ich nach Sibirien gehe, und jetzt erschrickst du? Aber hör: Ich ergebe mich ihnen nicht! Ich will mit ihnen kämpfen, und sie werden mir nichts antun. Sie haben keine wirklichen Beweise. Gestern war ich in großer Gefahr und glaubte schon, daß ich verloren sei; heute hat sich die Sache gebessert. Alle ihre Beweise haben zwei Enden, das heißt, ich kann ihre Beschuldigungen auch zu meinen Gunsten wenden, verstehst du? Und ich werde sie auch so wenden, denn ich habe es gelernt ... Aber ins Zuchthaus sperren sie mich ganz gewiß. Wenn nicht ein Zufall dazwischengekommen wäre, so hätten sie mich vielleicht schon heute eingesperrt; sie werden mich vielleicht noch heute einsperren ... Das macht aber nichts, Ssonja! Ich werde eine Zeitlang sitzen, und sie werden mich wieder herauslassen ... denn sie haben keinen einzigen wirklichen Beweis und werden auch keinen haben, mein Wort darauf. Aber mit den Beweisen, die sie haben, kann man einen Menschen nicht verurteilen. Nun ist's genug ... Ich sage es nur, damit du es weißt ... Meiner Mutter und meiner Schwester werde ich es auszureden versuchen, damit sie nicht erschrecken ... Meine Schwester scheint jetzt übrigens versorgt zu sein ... also auch die Mutter ... Nun, das ist alles. Sei übrigens vorsichtig. Wirst du zu mir ins Zuchthaus kommen, wenn ich sitzen werde?«
»O, ich werde kommen, ich werde kommen!«
Sie saßen beide nebeneinander, traurig und erdrückt, als wären sie nach einem Sturme allein an einen öden Strand gespült worden. Er sah Ssonja an und fühlte ihre Liebe auf sich ruhen, und seltsam: so schwer und schmerzvoll war ihm plötzlich das Gefühl, daß er so geliebt wurde. Ja, es war ein sonderbares, schreckliches Gefühl! Als er zu Ssonja ging, ahnte er, daß in ihr seine ganze Hoffnung und sein einziger Ausweg sei; er hoffte wenigstens einen Teil seiner Qual abzuwälzen; aber jetzt, als ihr Herz sich ihm ganz zugewandt hatte, fühlte und erkannte er plötzlich, daß er unvergleichlich unglücklicher geworden war.
»Ssonja,« sagte er, »komm lieber nicht zu mir, wenn ich im Zuchthaus sitzen werde.«
Ssonja antwortete nicht; sie weinte. Es vergingen einige Minuten.
»Hast du ein Kreuz an der Brust?« fragte sie ihn plötzlich ganz unvermittelt, als sei es ihr so eingefallen ... »Nein, du hast doch keins? Hier, nimm dieses aus Zypressenholz. Ich habe noch ein anderes, aus Messing, von Lisaweta. Wir hatten getauscht: Lisaweta gab mir ihr Kreuz, und ich gab ihr mein Heiligenbildchen. Jetzt will ich das von Lisaweta tragen, und dieses gebe ich dir. Nimm's ... es ist doch von mir. Doch von mir!« bat sie ihn. »Wir gehen doch zusammen, um zu leiden, werden auch zusammen das Kreuz tragen!«
»Gib's her!« sagte Raskolnikow.
Er wollte sie nicht kränken. Doch er zog sofort die Hand, die er nach dem Kreuz ausgestreckt hatte, wieder zurück.
»Nicht jetzt, Ssonja. Lieber später«, fügte er hinzu, um sie zu beruhigen.
»Ja, lieber später, lieber später«, fiel sie ihm begeistert ins Wort: »Wenn du gehst, um das Leid auf dich zu nehmen, dann wirst du es nehmen. Du wirst zu mir kommen, ich werde es dir umhängen, wir werden beten und gehen.«
In diesem Augenblick klopfte jemand dreimal an die Tür.
»Ssofja Ssemjonowna, darf ich zu Ihnen?« fragte eine bekannte höfliche Stimme.
Ssonja stürzte erschrocken zur Tür. Der blonde Kopf des Herrn Lebesjatnikow blickte ins Zimmer hinein.
Lebesjatnikow sah sehr erregt aus.
»Ich komme zu Ihnen, Ssofja Ssemjonowna. Entschuldigen Sie ... Das dachte ich mir, daß ich Sie hier treffe«, wandte er sich plötzlich an Raskolnikow. »Das heißt, ich dachte mir eigentlich nichts ... Derartiges ... aber ich glaubte gerade ... Dort bei uns ist Katerina Iwanowna verrückt geworden«, wandte er sich unvermittelt wieder an Ssonja, ohne den an Raskolnikow gerichteten Satz zu beenden.
Ssonja schrie auf.
»Das heißt, es kommt mir wenigstens so vor. Übrigens ... Wir wissen gar nicht, was wir tun sollen, das ist es! Sie kam zurück – man hat sie, scheint es, irgendwo hinausgeworfen, vielleicht auch geschlagen ... es scheint wenigstens so ... Sie war zum Vorgesetzten Ssemjon Sacharowitschs gelaufen und hatte ihn nicht zu Hause getroffen; er war bei einem anderen Geheimrat zu Mittag geladen ... Und denken Sie sich nur: sie lief dann dorthin, wo er geladen war ... zu jenem anderen Geheimrat, und, denken Sie sich nur, sie setzte es durch, daß der Vorgesetzte Ssemjon Sacharowitschs zu ihr herauskam, ich glaube sogar von der Tafel ... Sie können sich denken, was da kam. Man warf sie natürlich hinaus; und sie erzählt, daß sie ihn selbst beschimpft und ihm sogar etwas ins Gesicht geworfen habe. Das klingt sehr wahrscheinlich ... Daß man sie nicht festgenommen hat, verstehe ich einfach nicht! Jetzt erzählt sie es allen, auch der Amalia Iwanowna, man kann aber schwer etwas verstehen: sie schreit und tobt ... Ach, ja: sie schreit und sagt, daß sie, da alle sie verlassen haben, mit den Kindern und einem Leierkasten auf die Straße ziehen wird: die Kinder werden singen und tanzen, und sie auch, und Geld sammeln und jeden Tag vors Fenster des Geheimrats gehen ... ›Sollen nur alle sehen,‹ sagt sie, ›wie die adligen Kinder eines beamteten Vaters als Bettler durch die Straße ziehen!‹ Sie schlägt alle Kinder, und die Kinder weinen. Die Lenja lehrt sie singen, den Jungen tanzen, Polina Michailowna ebenfalls; sie zerreißt alle Kleider und näht ihnen Mützchen, wie sie die Komödianten haben; und sie selbst will ein Becken tragen und darauf schlagen, statt Musik ... Sie will auf nichts hören ... Denken Sie sich nur, was soll daraus werden? Es geht doch einfach nicht!«
Lebesjatnikow hätte noch mehr gesprochen, aber Ssonja, die ihm, kaum noch atmend, zugehört hatte, ergriff plötzlich ihre Mantille, den Hut und lief aus dem Zimmer, sich im Laufen ankleidend. Raskolnikow folgte ihr, Lebesjatnikow verließ zugleich mit ihm das Zimmer.
»Sie ist ganz gewiß verrückt geworden!« sagte er zu Raskolnikow, mit ihm auf die Straße tretend. »Ich wollte bloß Ssofja Ssemjonowna nicht erschrecken und sagte darum, ›es kommt mir so vor‹; aber es ist gar kein Zweifel möglich. Man sagt, daß bei der Schwindsucht im Gehirn solche Bläschen entstehen. Schade, daß ich nichts von Medizin verstehe. Ich versuchte sie übrigens zu überreden, aber sie will nichts hören.«
»Haben Sie ihr von diesen Bläschen erzählt?«
»Das heißt, eigentlich nicht von den Bläschen. Auch würde sie nichts verstanden haben! Ich meine aber: Wenn man einen Menschen mit logischen Gründen davon überzeugt, daß er eigentlich keinen Grund zum Weinen hat, so hört er zu weinen auf. Das ist klar. Und Sie sind der Ansicht, daß er nicht aufhören wird?«
»Dann wäre das Leben viel zu leicht«, antwortete Raskolnikow.
»Erlauben Sie, erlauben Sie! Katerina Iwanowna könnte es natürlich schwer verstehen. Aber ist Ihnen bekannt, daß man in Paris schon ernsthaft versucht hat, Verrückte durch bloße logische Überredung zu heilen? Ein dortiger Professor, der vor kurzem gestorben ist, ein bekannter Gelehrter, ist zur Überzeugung gelangt, daß man sie auf diese Weise heilen kann. Seine Grundidee ist, daß bei Verrückten eine besondere Störung im Organismus nicht vorliegt und daß der Wahnsinn sozusagen ein logischer Irrtum ist, ein Denkfehler, eine falsche Anschauung von den Dingen. Er hat so einen Patienten allmählich widerlegt, und denken Sie sich, er soll Erfolge erzielt haben!! Da er aber dabei auch noch Duschen anwandte, so werden die Erfolge dieses Heilverfahrens natürlich noch angezweifelt ... So glaube ich wenigstens ...«
Raskolnikow hörte ihm schon lange nicht mehr zu. Als er sein Haus erreicht hatte, nickte er Lebesjatnikow zu und trat ins Tor. Lebesjatnikow kam zur Besinnung, sah sich um und lief weiter.
Raskolnikow trat in seine Kammer und blieb mitten in ihr stehen. – Warum bin ich nur hierher zurückgekehrt? – Er betrachtete die gelbe abgewetzte Tapete, den Staub, sein Sofa ... Vom Hofe her klang ein ununterbrochenes metallisches Klopfen, als ob man irgendwo einen Nagel hineinjagte ... Er trat ans Fenster, reckte sich auf den Zehen und blickte lange mit dem Ausdrucke außerordentlicher Aufmerksamkeit in den Hof hinaus. Der Hof war aber leer, und man sah die Klopfenden nicht. Im Seitengebäude links war hier und da ein Fenster offen; auf den Fensterbrettern standen Töpfe mit verkümmerten Geranien, und vor den Fenstern hing Wäsche ... Dies alles kannte er auswendig. Er wandte sich weg und setzte sich aufs Sofa.
Noch nie, noch nie hatte er sich so furchtbar einsam gefühlt!
Ja, er fühlte wieder, daß er Ssonja vielleicht wirklich hassen werde, und zwar gerade jetzt, wo er sie unglücklicher gemacht hatte.
Warum war er zu ihr gegangen? Um um ihre Tränen zu betteln? Warum muß er unbedingt ihr Leben vergiften?! Ach, diese Gemeinheit!
»Ich bleibe allein,« sagte er plötzlich, »und sie wird nicht zu mir ins Zuchthaus kommen!«
Nach fünf Minuten hob er den Kopf und lächelte eigentümlich. Ein sonderbarer Gedanke war ihm gekommen.
– Vielleicht ist es in Sibirien wirklich besser – kam es ihm plötzlich in den Sinn.
Er wußte nicht mehr, wie lange er in seinem Zimmer mit den unklaren Gedanken, die sich in seinem Kopfe drängten, dagesessen hatte. Plötzlich ging die Tür auf, und herein trat Awdotja Romanowna. Sie blieb zaudernd stehen und sah ihn aufmerksam von der Schwelle her an, so wie er vorhin Ssonja angesehen hatte; erst dann kam sie näher und setzte sich auf ihren gestrigen Stuhl ihm gegenüber. Er sah sie stumm und ganz gedankenlos an.
»Sei nicht böse, Bruder, ich komme nur auf einen Augenblick«, sagte Dunja.
Ihr Gesichtsausdruck war nachdenklich, aber nicht streng. Sie blickte heiter und still. Er sah, daß auch sie mit ihrer Liebe zu ihm gekommen war.
»Bruder, ich weiß jetzt alles, alles. Dmitrij Prokofjewitsch hat mir alles erklärt und erzählt. Man verfolgt und quält dich auf Grund eines dummen, gemeinen Verdachts ... Dmitrij Prokofjewitsch sagte mir, daß gar keine Gefahr vorliegt und daß du dies alles unnütz mit solcher Angst hinnimmst. Ich denke es mir anders und begreife vollkommen, wie tief dein ganzes Wesen empört sein muß und daß diese Empörung in dir für immer ihre Spuren hinterlassen kann. Dies fürchte ich eben. Dafür, daß du uns verlassen hast, verurteile ich dich nicht und wage nicht, dich zu verurteilen; verzeihe mir, daß ich dir dies vorgeworfen habe. Ich fühle auch selbst, daß, wenn ich so ein Leid hätte, auch ich von allen fortgehen würde. Der Mutter werde ich davon nichts erzählen, werde aber ununterbrochen von dir sprechen und ihr in deinem Namen sagen, daß du sehr bald kommen wirst. Quäle dich nicht ihretwegen, ich werde sie beruhigen; aber quäle auch sie nicht und komme wenigstens einmal zu ihr: vergiß nicht, daß sie die Mutter ist! Jetzt komme ich aber nur, um dir zu sagen (Dunja schickte sich an, aufzustehen), daß, im Falle du mich irgendwie brauchst oder ... mein Leben brauchen kannst, oder sonst etwas ... so rufe mich, ich werde kommen. Leb wohl!«
Sie wandte sich schnell und ging zur Tür.
»Dunja!« hielt Raskolnikow sie zurück. Er stand auf und ging auf sie zu. »Dieser Dmitrij Prokofjewitsch Rasumichin ist ein sehr guter Mensch.«
Dunja errötete leicht.
»Nun?« fragte sie nach einer Minute.
»Er ist ein tüchtiger, fleißiger und ehrlicher Mensch und einer großen Liebe fähig ... Leb wohl, Dunja.«
Dunja wurde ganz rot und fuhr dann auf:
»Was fällt dir ein, Bruder! Trennen wir uns denn wirklich für alle Ewigkeit, daß du mir ... solche Vermächtnisse hinterläßt?«
»Ist ganz gleich ... leb wohl ...«
Er wandte sich von ihr weg und ging zum Fenster. Sie stand noch eine Weile da, sah ihn besorgt an und ging tief erregt hinaus.
Nein, er war nicht kalt zu ihr. Es war ein Augenblick (der allerletzte), wo er furchtbare Lust hatte, sie zu umarmen, sich von ihr zu verabschieden und ihr es sogar zu sagen: er konnte sich aber nicht mal entschließen, ihr die Hand zu reichen.
– Sie wird vielleicht später noch erschauern beim Gedanken, daß ich sie jetzt umarmt habe; sie wird sagen, ich hätte ihr den Kuß gestohlen! –
– Und wird sie es aushalten oder nicht aushalten? – fügte er nach einer Weile hinzu. – Nein, sie wird es nicht aushalten; eine solche kann so was nicht aushalten! Solche halten es niemals aus ... –
Und er dachte an Ssonja.
Vom Fenster wehte Kühle herein. Draußen war es nicht mehr so hell. Er nahm plötzlich die Mütze und ging hinaus.
Er konnte sich um seinen krankhaften Zustand natürlich nicht kümmern und wollte es auch nicht. Doch diese ganze ununterbrochene Unruhe und seelische Angst konnten an ihm nicht spurlos vorübergehen. Und wenn er auch noch nicht in einem wirklichen Fieber daniederlag, so vielleicht nur darum, weil diese ununterbrochene innere Unruhe ihn noch auf den Beinen und bei Bewußtsein erhielt, wenn auch künstlich und vorübergehend.
Er irrte planlos umher. Die Sonne ging unter. In der letzten Zeit überkam ihn oft ein ganz besonderes Unlustgefühl. Es war darin nichts Scharfes oder Brennendes; aber ihm entströmte etwas Ewiges und Bleibendes, die Vorahnung endloser Jahre mit diesem kalten, tötenden Gram, die Vorahnung einer Ewigkeit auf einem »arschinbreiten Raume«. In den Abendstunden quälte ihn dieses Gefühl gewöhnlich besonders stark.
»Und mit diesen dummen, rein physischen Beschwerden, die von irgendeinem Sonnenuntergang abhängen, soll einer keine Dummheiten begehen! Da möchte man nicht bloß zu Ssonja, – auch zu Dunja hingehen!« murmelte er gehässig.
Jemand rief seinen Namen. Er sah sich um, Lebesjatnikow stürzte auf ihn zu.
»Denken Sie sich nur, ich war eben bei Ihnen, ich suche Sie. Denken Sie sich nur: sie hat ihre Absicht verwirklicht und ist mit den Kindern weggelaufen. Ssofja Ssemjonowna und ich haben sie nur mit Mühe gefunden. Sie selbst schlägt auf eine Pfanne und läßt die Kinder tanzen. Die Kinder weinen. Sie bleiben an den Straßenecken und vor den Läden stehen. Das dumme Volk rennt hinter ihnen her. Kommen Sie.«
»Und Ssonja?« fragte Raskolnikow besorgt, Lebesjatnikow nacheilend.
»Sie ist rasend. Das heißt, Katerina Iwanowna ist rasend und nicht Ssofja Ssemjonowna; übrigens ist auch Ssofja Ssemjonowna außer sich. Katerina Iwanowna ist aber ganz rasend. Ich sage Ihnen ja, sie ist endgültig verrückt geworden. Man wird sie alle auf die Polizei abführen. Sie können sich wohl denken, wie das auf sie wirken wird ... Sie sind jetzt am Kanal bei der *schen Brücke, gar nicht weit von Ssofja Ssemjonowna. Es ist ganz nahe.«
Am Kanal, in der Nähe der Brücke und zwei Häuser von der Wohnung Ssonjas entfernt, drängte sich ein Haufe Menschen. Es waren besonders viel Jungen und Mädchen zusammengelaufen. Die heisere, gleichsam gesprungene Stimme Katerina Iwanownas konnte man schon von der Brücke aus hören. Es war ein seltsames Schauspiel, wirklich geeignet, das Straßenpublikum zu interessieren. Katerina Iwanowna in ihrem alten Kleid mit dem grünen Schal und zerbeulten Strohhut, der auf die Seite gerutscht war, befand sich tatsächlich in einem Zustande von Raserei. Sie war müde und keuchte schwer. Das erschöpfte schwindsüchtige Gesicht sah leidender als je aus (außerdem erscheint ein Schwindsüchtiger im Freien, in der Sonne immer leidender und entstellter als im Hause): aber ihr erregter Zustand dauerte an, und sie wurde von Minute zu Minute gereizter. Sie stürzte sich auf die Kinder, schrie sie an, redete ihnen zu, lehrte in Gegenwart des Publikums, wie sie tanzen und was sie singen sollten, versuchte ihnen klarzumachen, warum das nötig sei, geriet in Verzweiflung wegen ihrer Ungelehrigkeit und schlug sie ... Dann brach sie plötzlich ab und stürzte sich gegen das Publikum; sobald sie einen einigermaßen anständig gekleideten Menschen erblickte, der stehen geblieben war, um zuzusehen, begann sie ihm sofort zu erklären, wieso es mit diesen Kindern »aus einem vornehmen, man kann wohl sagen aristokratischen Hause« so weit gekommen sei. Wenn sie in der Menge Lachen oder ein kränkendes Wort hörte, so fiel sie sofort über den Frechen her und begann zu schimpfen. Die einen lachten wirklich, die anderen schüttelten die Köpfe; allen war es interessant, die Verrückte mit den erschrockenen Kindern zu sehen. Die Pfanne, von der Lebesjatnikow erzählt hatte, fehlte; Raskolnikow sah wenigstens keine; doch statt auf einer Pfanne zu trommeln, schlug Katerina Iwanowna den Takt mit ihren ausgemergelten Händen, während Poljetschka singen und Kolja und Lenja tanzen mußten; sie versuchte auch selbst mitzusingen, wurde aber jedesmal bei der zweiten Note von einem heftigen Hustenanfall unterbrochen – dann geriet sie in Verzweiflung, verfluchte ihren Husten und weinte sogar. Am meisten brachten sie das Weinen und die Angst Koljas und Lenjas aus der Fassung. Sie hatte wirklich versucht, die Kinder wie Straßensänger und Sängerinnen auszuputzen. Der Junge hatte einen Turban aus roten und weißen Fetzen auf und sollte einen Türken darstellen. Für Lenja reichte es zu einem Kostüm nicht aus; sie hatte nur eine rote gestrickte Mütze (eigentlich die Schlafmütze) des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch auf, an der eine abgebrochene weiße Straußfeder festgesteckt war; diese hatte noch der Großmutter Katerina Iwanownas gehört und war bisher im Koffer als eine Familienrarität verwahrt worden. Poljetschka hatte ihr gewöhnliches Kleid an. Sie sah ihre Mutter scheu und bestürzt an, wich nicht von ihrer Seite, verbarg ihre Tränen, ahnte, daß die Mutter verrückt geworden sei, und blickte unruhig um sich. Die Straße und die Menge machten ihr furchtbar Angst. Ssonja folgte unablässig Katerina Iwanowna, weinte und flehte sie an, nach Hause zurückzukehren. Katerina Iwanowna war aber unerbittlich.
»Hör auf, Ssonja, hör auf!« schrie sie, sich überstürzend, keuchend und hustend. »Du weißt selbst nicht, um was du bittest, du bist wie ein Kind! Ich sagte dir schon, daß ich zu der betrunkenen Deutschen nicht zurückkehre. Sollen alle, soll ganz Petersburg sehen, wie die Kinder eines adligen Vaters, der sein Leben lang treu und redlich gedient hat und sozusagen im Dienste gestorben ist, betteln. (Katerina Iwanowna hatte sich schon diese Phantasie zurechtgelegt und glaubte blind an sie.) Soll es nur dieser gemeine Geheimrat sehen. Wie dumm bist du doch, Ssonja, was sollen wir jetzt essen, sag mal selbst? Wir haben dich genug gequält, ich will nicht mehr! Ach, Rodion Iwanowitsch, Sie sind es!« rief sie plötzlich, als sie Raskolnikow gewahrte, und stürzte auf ihn zu. »Erklären Sie doch, bitte, diesem Närrchen, daß ich nichts Klügeres tun konnte! Sogar die Leierkastenmänner verdienen sich ihren Unterhalt; uns wird man aber sofort bemerken, man wird erkennen, daß wir eine arme, adlige, verwaiste, an den Bettelstab gebrachte Familie sind; der Geheimrat wird aber seine Stelle verlieren, Sie werden es sehen! Wir werden jeden Tag vor seine Fenster kommen, und wenn der Kaiser vorüberfährt, werde ich niederknien, diese alle vor mir hinstellen und auf sie zeigen: ›Schütze sie, Vater!‹ Er ist ja der Vater der Waisen, er ist barmherzig, er wird uns in Schutz nehmen, Sie werden sehen, den Geheimrat aber ... Lenja! Tenez vous droite! Kolja, gleich wirst du tanzen! Was heulst du? Er heult schon wieder! Nun, was fürchtest du, Närrchen? Mein Gott, was soll ich mit ihnen machen, Rodion Romanowitsch? Wenn Sie nur wüßten, wie dumm sie sind! Nun, was soll ich mit ihnen anfangen?!«
Sie weinte fast selbst (was sie aber gar nicht hinderte, ununterbrochen und sich überstürzend zu reden) und zeigte auf die weinenden Kinder. Raskolnikow versuchte sie zu überreden, nach Hause zurückzukehren, und sagte sogar, in der Absicht, ihre Eitelkeit zu wecken, daß es für sie unpassend sei, wie ein Leierkastenmann durch die Straßen zu ziehen, da sie doch die Absicht habe, Direktrice eines Pensionats für adlige Töchter zu werden ...
»Eines Pensionats, ha-ha-ha! Warum nicht gar!« rief Katerina Iwanowna aus, die nach dem Lachanfall wieder einen Hustenanfall bekam. »Nein, Rodion Romanowitsch, dieser Traum ist vorüber! Alle haben uns verlassen! ... Und jener elende Geheimrat ... Wissen Sie, Rodion Romanowitsch, ich habe ihm ein Tintenfaß an den Kopf geschmissen – im Vorzimmer stand auf dem Tisch neben dem Bogen, in den die Besucher ihre Namen eintragen, ein Tintenfaß – das nahm ich, schmiß es ihm an den Kopf und lief weg. Oh, diese Schurken, diese Schurken! Aber ich spucke drauf, jetzt werde ich sie selbst ernähren, werde mich vor niemand mehr erniedrigen! Lange genug haben wir sie gequält! (Sie zeigte auf Ssonja.) – Poljetschka, wieviel haben wir eingesammelt, zeig's her! Wie? Bloß zwei Kopeken? Oh, diese Niederträchtigen! Nichts geben sie her, sie laufen uns nur mit ausgestreckten Zungen nach! Nun, warum lacht dieser Holzklotz? (Sie zeigte auf jemand in der Menge.) Das kommt alles, weil Kolja so ungelehrig ist! Ist das eine Plage mit ihm! Was willst du, Poljetschka? Sprich mit mir Französisch, parlez moi français. Ich habe dich doch unterrichtet, du kennst einige Sätze! ... Wie soll man denn sonst erkennen, daß ihr wohlerzogene Kinder aus adliger Familie seid und keine gewöhnlichen Leierkastenmänner. Wir sind doch keine Hanswürste, wir wollen eine vornehme Romanze singen ... Ach, ja! Was wollen wir denn singen? Ihr unterbrecht mich immer, wir sind aber ... sehen Sie, Rodion Romanowitsch, wir sind hier stehengeblieben, um auszuwählen, was wir singen sollen, damit Kolja dazu tanzen kann ... denn wir machen alles, denken Sie sich nur, ganz ohne Vorbereitung; wir müssen es besprechen und zuerst proben, und dann gehen wir auf den Newskij, wo viele Menschen aus der höchsten Gesellschaft sind, dort wird man uns sofort bemerken. Lenja kennt nur das eine Lied ›Das Landhäuschen‹ ... Aber immer das ›Landhäuschen‹ und immer wieder das ›Landhäuschen‹ – alle singen das! Wir müssen etwas viel Vornehmeres singen ... Nun, was ist dir eingefallen, Poljetschka? Wenn du doch der Mutter helfen wolltest! Ich habe gar kein Gedächtnis mehr, sonst wäre mir schon was eingefallen! Wir wollen doch nicht das Lied ›Auf seinen Säbel stützt sich der Husar‹ singen! ... Ach, singen wir doch Französisch: ›Cinq sous‹! Ich habe es euch gelehrt! Vor allem aber: da es Französisch ist, so werden alle gleich sehen, daß ihr adlige Kinder seid, und das wird rührender wirken ... Man könnte auch ›Marlborough s'en va-t-en guerre‹ singen: das ist ein wirkliches Kinderlied und wird in aristokratischen Häusern gesungen, wenn man die Kinder in den Schlaf wiegt:
Marlborough s'en va-t-en guerre,
Ne sait quand reviendra ...«
begann sie zu singen. »Nein, lieber schon ›Cinq sous‹! Nun, Kolja, die Händchen in die Seiten, und schneller, und du, Lenja, dreh dich in der entgegengesetzten Richtung, und ich und Poljetschka werden mitsingen und in die Hände klatschen!
Cinq sous, cinq sous
Pour monter notre ménage!
Kchi-kchi-kchi! (Sie bekam wieder einen Hustenanfall.) Bring dein Kleidchen in Ordnung, Poljetschka, es ist an der Schulter heruntergerutscht«, bemerkte sie, Atem holend. »Ihr müßt euch jetzt besonders vornehm und fein benehmen, damit alle sehen, daß ihr adlige Kinder seid. Ich habe doch damals gesagt, daß man die Taille länger und aus zwei Stücken zuschneiden muß. Da kamst du aber mit deinen Ratschlägen, Ssonja: ›Kürzer, noch kürzer‹, und so hat man das Kind ganz verunstaltet ... Nun weint ihr schon wieder alle! Was habt ihr, ihr Dummen? Nun, Kolja, fang an, schneller, schneller, schneller! Ach, dieses unerträgliche Kind ...
Cinq sous, cinq sous –
Wieder der Soldat! Nun, was willst du?«
Durch die Menge drängte sich wirklich ein Schutzmann. Doch im gleichen Augenblick näherte sich auch ein Herr in Uniformrock und Mantel, ein etwa fünfzigjähriger, solider Beamter mit einem Orden am Halse (das letztere war Katerina Iwanowna besonders angenehm und machte auch auf den Schutzmann Eindruck); er reichte Katerina Iwanowna einen grünen Dreirubelschein. Sein Gesicht drückte aufrichtiges Mitleid aus. Katerina Iwanowna nahm das Geld und verbeugte sich höflich, fast zeremoniös.
»Ich danke Ihnen, mein Herr«, begann sie stolz. »Die Gründe, die uns bewogen haben ... nimm das Geld, Poljetschka. Siehst du, es gibt noch edle und großmütige Menschen, die sofort bereit sind, einer armen adligen Dame im Unglück zu helfen. Sie sehen hier mein Herr, adlige Waisen, man kann wohl sagen, mit den aristokratischsten Verbindungen ... Jener gemeine Geheimrat saß aber da und aß Haselhühner! ... er stampfte mit den Füßen, weil ich ihn gestört hatte ... ›Eure Exzellenz‹, sage ich ihm, ›schützen Sie die Waisen, da Sie den verstorbenen Ssemjon Sacharytsch‹, sage ich, ›so gut kannten und da der gemeinste aller Schurken seine leibliche Tochter am Tage seiner Beerdigung verleumdet hat ...‹ Wieder dieser Soldat! Schützen Sie uns!« schrie sie dem Beamten zu. »Was will dieser Soldat von mir? Wir sind schon vor einem solchen aus der Mjeschtschanskaja-Straße hergelaufen ... Nun, was geht es dich an, Dummkopf?«
»Weil es in den Straßen verboten ist. Machen Sie keinen Skandal.«
»Du bist selbst ein Skandalmacher! Ich gehe doch wie mit einem Leierkasten herum, was geht es dich an?«
»Was einen Leierkasten betrifft, so muß man dazu eine Erlaubnis haben, Sie sammeln aber auf diese Weise das Volk an. Wo belieben Sie zu wohnen?«
»Wie, eine Erlaubnis?!« schrie Katerina Iwanowna. »Ich habe heute meinen Mann beerdigt, was redest du da von einer Erlaubnis?«
»Meine Dame, meine Dame, beruhigen Sie sich doch«, fing der Beamte an. »Kommen Sie, ich will Sie nach Hause begleiten. Hier in der Menge ist es unanständig ... Sie sind nicht ganz wohl!«
»Mein Herr, mein Herr, Sie wissen nichts!« schrie Katerina Iwanowna. »Wir wollen auf den Newskij gehen ... Ssonja, Ssonja! Wo ist sie denn? Sie weint auch! Was habt ihr denn alle? Kolja, Lenja, wo wollt ihr hin?« rief sie plötzlich erschrocken. »Oh, die dummen Kinder! Kolja, Lenja, wo sind sie hingelaufen? ...«
Es war nämlich folgendes passiert: Als Kolja und Lenja, von der Straßenmenge und von der wahnsinnigen Mutter aufs äußerste erschrocken, den Soldaten sahen, der sie irgendwohin abführen wollte, faßten sie einander wie auf Verabredung an den Händchen und rannten davon. Die arme Katerina Iwanowna stürzte weinend und schreiend ihnen nach, um sie einzuholen. Wie sie ihnen weinend und außer Atem nachlief, bot sie einen häßlichen und jammervollen Anblick, Ssonja und Poljetschka eilten ihr nach.
»Bring sie zurück, bring sie zurück, Ssonja! Oh, die dummen, undankbaren Kinder! ... Polja! Fang sie ... Ich tu es ja für euch selbst ...«
Sie stolperte im Laufen und fiel hin.
»Sie hat sich blutiggeschlagen! O Gott!« rief Ssonja aus, sich über sie beugend.
Alle liefen zusammen und drängten sich um sie. Raskolnikow und Lebesjatnikow waren als die ersten herbeigestürzt; auch der Beamte eilte hin und nach ihm der Schutzmann, der »Ach ja!« murmelte und ärgerlich mit der Hand durch die Luft fuhr, in der Vorahnung, daß die Sache noch große Scherereien machen werde.
»Geht weiter, marsch!« jagte er die sich drängenden Leute auseinander.
»Sie stirbt!« rief jemand.
»Sie ist von Sinnen!« sagte ein anderer.
»Gott, steh ihr bei!« sagte eine Frau und bekreuzigte sich. »Hat man den Jungen und das Mädel eingefangen? Da führt man sie ja, die Alteste hat sie erwischt ... Diese Dummen!«
Als man Katerina Iwanowna genauer ansah, merkte man, daß sie sich gar nicht an den Steinen blutig geschlagen hatte, wie Ssonja es glaubte, sondern daß das Blut, das den Fahrdamm rötete, ihr aus der Brust durch den Mund gestürzt war.
»Ich kenne das, hab es schon gesehen«, murmelte der Beamte zu Raskolnikow und Lebesjatnikow. »Das ist die Schwindsucht; das Blut stürzt aus dem Hals, und man erstickt daran. So war es neulich auch mit einer Verwandten von mir, ich war Zeuge, an die anderthalb Glas Blut ... plötzlich ... Was soll man aber tun, sie wird gleich sterben.«
»Hierher, hierher, zu mir!« flehte Ssonja. »Hier wohne ich! ... Hier in diesem Hause, es ist das zweite von hier ... Schnell zu mir, schnell, schnell! ...« wiederholte sie, sich bald an den einen, bald an den anderen wendend. »Schickt nach einem Arzt ... O Gott!«
Dank den Bemühungen des Beamten wurde alles nach Wunsch besorgt; selbst der Schutzmann half Katerina Iwanowna hinübertragen. Man brachte sie halbtot zu Ssonja und legte sie dort aufs Bett. Der Blutsturz dauerte noch an, aber sie kam allmählich zu sich. Ins Zimmer kamen außer Ssonja auch noch Raskolnikow, Lebesjatnikow, der Beamte und der Schutzmann, der vorher die Menge, die bis zur Wohnungstür vorgedrungen war, auseinandergejagt hatte. Polja führte bei den Händchen Kolja und Lenja herein, welche zitterten und weinten. Auch die Kapernaumows kamen herbei; er selbst ein lahmer und schielender Mann von sonderbarem Aussehen, mit borstigen Haaren und Backenbart; seine Frau, die so aussah, als wäre sie ein für allemal erschrocken, und einige von den Kindern mit vor ständigem Erstaunen zu Holz erstarrten Gesichtern und offenen Mündern. Unter diesem ganzen Publikum erschien plötzlich Swidrigailow. Raskolnikow sah ihn erstaunt an und konnte nicht begreifen, woher der plötzlich erschienen war; draußen in der Menge hatte er ihn gar nicht gesehen.
Man sprach von einem Arzt und einem Geistlichen. Der Beamte flüsterte zwar Raskolnikow zu, daß der Arzt jetzt wohl schon unnötig sei, ließ aber dennoch nach einem schicken. Kapernaumow lief selbst hin.
Katerina Iwanowna war indessen zu sich gekommen, und der Blutsturz hörte für eine Zeitlang auf. Sie sah mit schmerzvollen, doch aufmerksamen und durchdringenden Blicken Ssonja an, die ihr mit einem Tuch die Schweißtropfen von der Stirn wischte, und bat, daß man sie ein wenig hebe. Man setzte sie im Bette auf und stützte sie von beiden Seiten.
»Wo sind die Kinder?« fragte sie mit schwacher Stimme. »Hast du sie hergebracht, Polja? Oh, diese Dummen! ... Was seid ihr davongelaufen? ... Ach!«
Ihre ausgetrockneten Lippen waren noch voller Blut. Sie ließ die Augen im Kreise schweifen und sah sich um.
»So wohnst du also, Ssonja! Ich bin ja noch nie bei dir gewesen ... nun hat es sich doch so gefügt ...«
Sie blickte sie schmerzvoll an.
»Ausgesogen haben wir dich, Ssonja ... Polja, Lenja, Kolja, kommt her ... Hier sind sie, Ssonja, nimm sie ... ich gebe sie dir in die Hand ... ich habe genug! ... Aus ist es! Ha! ... Legt mich wieder hin, laßt mich wenigstens ruhig sterben ...«
Mau ließ sie wieder in die Kissen sinken.
»Was? Ein Geistlicher? ... Nicht nötig ... Wo habt ihr denn einen überflüssigen Rubel!? ... Ich habe keine Sünden auf mir! ... Gott muß mir auch so verzeihen ... Er weiß selbst, wie ich gelitten habe! ... Und verzeiht er nicht, so ist es mir auch so recht! ...«
Ein unruhiges Phantasieren bemächtigte sich ihrer immer mehr. Ab und zu fuhr sie zusammen, blickte um sich, erkannte auf einen Augenblick alle, und das Bewußtsein wurde wieder vom Fieber getrübt. Sie atmete heiser und schwer; in ihrer Kehle röchelte es.
»Ich sage ihm: ›Eure Exzellenz! ...‹« schrie sie, nach jedem Worte Atem holend. »Diese Amalia Ludwigowna ... ach! Lenja, Kolja! Die Händchen in die Seiten, schneller, glissez, glissez, pas de basque! Klopf mit den Füßchen ... Sei ein graziöses Kind! ...
Du hast Diamanten und Perlen ...
Wie geht es weiter? Wenn wir das singen könnten! ...
Du hast die schönsten Augen ...
Mädchen, was willst du mehr? ...
Ja, Schnecken! ›Was willst du mehr!‹ – was sich so ein Narr nicht alles ausdenkt! ... Ja, dann noch dieses:
In Mittagsglut im Dagestanschen Tale ...
Ach, wie ich es liebte! Ich vergötterte dieses Lied, Poljetschka! ... Weißt du, dein Vater ... pflegte es als Bräutigam zu singen ... Oh, diese Tage! ... Ach, wenn wir es jetzt singen könnten! Aber wie geht es noch, wie geht es noch? ... ich hab es ganz vergessen ... helft mir nach, wie geht es noch?«
Sie war in außerordentlicher Erregung und bemühte sich, aufzustehen. Endlich begann sie mit schrecklicher, heiserer, überspannter Stimme zu singen, bei jedem Worte aufschreiend und um Atem ringend, mit dem Ausdruck eines immer anwachsenden Entsetzens:
In Mittagsglut! ... im Dagestanschen! ... Tale! ...
Vom Blei getroffen! ...
»Eure Exzellenz!« schrie sie plötzlich mit herzzerreißender Stimme, in Tränen ausbrechend. »Schützen Sie die Waisen! Gedenken Sie der Gastfreundschaft des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch! ... Man kann sogar sagen, eines aristokratischen! ... Ha! ...« fuhr sie auf, plötzlich zur Besinnung kommend und alle entsetzt betrachtend; doch sie erkannte sofort Ssonja. »Ssonja, Ssonja!« sagte sie mild und freundlich, gleichsam erstaunt, sie vor sich zu sehen. »Ssonja, Liebste, bist du auch hier?«
Man hob sie wieder auf.
»Genug! Es ist Zeit! ... Leb wohl, Armste! ... Man hat die Mähre zu Tode geritten! ... Sie kann nicht mehr!« schrie sie verzweifelt und voller Haß auf und fiel mit dem Kopf auf das Kissen.
Sie wurde wieder bewußtlos, doch diese letzte Bewußtlosigkeit dauerte nur kurz. Das blaßgelbe, ausgemergelte Gesicht fiel nach hinten, der Mund öffnete sich, die Füße streckten sich krampfhaft aus. Sie stöhnte sehr tief auf und starb.
Ssonja fiel über ihre Leiche her, umschlang sie mit den Armen und erstarrte, den Kopf an die eingefallene Brust der Toten geschmiegt. Poljetschka sank zu Füßen der Mutter nieder und küßte sie laut weinend. Kolja und Lenja, die noch nicht erfaßt hatten, was geschehen war, aber etwas Schreckliches ahnten, faßten einander mit den Händen bei den Schultern, sahen sich in die Augen, öffneten plötzlich gleichzeitig die Münder und begannen zu schreien. Beide hatten noch ihre Kostüme an: der eine den Turban, die andere das Mützchen mit der Straußfeder.
Wie kam aber das lobende Attest plötzlich auf das Bett neben Katerina Iwanowna? Es lag dicht neben dem Kissen, Raskolnikow sah es.
Er ging zum Fenster, Lebesjatnikow eilte zu ihm.
»Sie ist gestorben!« sagte Lebesjatnikow.
»Rodion Romanowitsch, ich muß Ihnen ein paar wichtige Worte sagen«, wandte sich an ihn Swidrigailow.
Lebesjatnikow trat ihm sofort den Platz ab und ging diskret zur Seite. Swidrigailow führte den erstaunten Raskolnikow noch weiter in die Ecke.
»Diese ganze Schererei, das heißt die Beerdigung und das übrige nehme ich auf mich. Wissen Sie, es kommt bloß auf das Geld an, und ich sagte Ihnen doch, daß ich überflüssiges habe. Diese beiden Kücken und Poljetschka will ich in besseren Waisenanstalten unterbringen und für jedes bis zur Volljährigkeit ein Kapital von fünfzehnhundert Rubeln einzahlen, so daß Ssofja Ssemjonowna sich ihretwegen keine Sorgen zu machen braucht. Und auch sie will ich aus dem Sumpfe herausziehen, denn sie ist ein gutes Mädchen, nicht wahr? Richten Sie also, bitte, Awdotja Romanowna aus, daß ich ihre zehntausend Rubel auf diese Weise verwendet habe.«
»Was für Absichten verfolgen Sie mit diesem Wohltun?« fragte Raskolnikow.
»Ach, Sie mißtrauischer Mensch!« antwortete Swidrigailow lachend. »Ich sagte Ihnen doch, daß dieses Geld bei mir überflüssig ist. Können Sie denn gar nicht annehmen, daß ich es einfach aus Menschlichkeit tue? Sie ist doch keine ›Laus‹ gewesen (er deutete mit dem Finger auf die Ecke, wo die Verstorbene lag), wie jene alte Wucherin! Nun, geben Sie es selbst zu – ›soll Luschin wirklich weiterleben und seine Gemeinheiten begehen, und sie soll sterben?‹ Und wenn ich nicht helfe, so wird Poljetschka vielleicht – ›denselben Weg gehen‹ ...«
Er sagte dies irgendwie besonders anzüglich, mit listigem Ausdruck, ohne Raskolnikow aus den Augen zu lassen. Dieser erbleichte und erschauerte, als er seine eigenen, an Ssonja gerichteten Worte hörte. Er taumelte zurück und sah Swidrigailow wild an.
»Woher ... woher wissen Sie ... das?!« flüsterte er, kaum noch atmend.
»Ich wohnte ja gleich hier hinter der Wand, bei der Madame Rößlich. Hier wohnt Kapernaumow und dort Madame Rößlich, meine alte, ergebene Freundin ... Ich bin der Nachbar.«
»Sie?!«
»Ja, ich«, fuhr Swidrigailow fort, sich vor Lachen schüttelnd. »Und ich kann Ihnen auf Ehre versichern, liebster Rodion Romanowitsch, Sie haben mich außerordentlich interessiert. Ich sagte Ihnen doch, daß wir einander noch – näherkommen würden, ich hab's Ihnen vorausgesagt, – nun haben wir uns wirklich näher kennengelernt! Und Sie werden sehen, was für ein vernünftiger Mensch ich bin. Sie werden sehen, daß es sich mit mir leben läßt ...«
Für Raskolnikow hatte eine merkwürdige Zeit begonnen. Vor ihm war gleichsam ein Nebelschleier herabgesunken, der ihn in eine ausweglose und schwere Vereinsamung einschloß. Als er sich dieser Zeit später, lange nachher erinnerte, kam er dahinter, daß sein Bewußtsein sich zeitweise getrübt und daß dieser Zustand mit einigen Unterbrechungen bis zur endgültigen Katastrophe angehalten hatte. Er war fest davon überzeugt, daß er sich damals in vielen Dingen geirrt hatte, zum Beispiel in den Zeitpunkten und der Dauer verschiedener Ereignisse. Wenigstens, als er sich später dessen entsann, erfuhr er vieles über sich selbst nur aus Mitteilungen, die er von anderen erhielt. Er verwechselte zum Beispiel ein Ereignis mit einem anderen und hielt ein anderes für die Folge eines dritten, das nur in seiner Einbildung existierte. Zeitweise bemächtigte sich seiner eine schmerzvolle und quälende Unruhe, die sogar in eine panische Angst überging. Er entsann sich aber auch, daß es Minuten, Stunden und vielleicht auch Tage vollständiger Apathie gegeben hatte, die sich seiner, im Gegensatz zu der früheren Angst, bemächtigte, – eine Apathie, die dem krankhaft-gleichgültigen Zustand mancher Sterbenden glich. Überhaupt bemühte er sich in diesen letzten Tagen, der klaren und vollständigen Erkenntnis seines Zustandes aus dem Wege zu gehen; manche wichtigen Tatsachen, die einer sofortigen Aufklärung bedurften, bedrückten ihn besonders schwer; wie froh wäre er gewesen, sich von manchen Sorgen befreien zu können, deren Außerachtlassung ihn unvermeidlich und endgültig ins Verderben gestürzt hätte.
Die größte Sorge machte ihm Swidrigailow: man könnte sogar sagen, daß Swidrigailow ihm zu einer fixen Idee geworden war. Seit der Zeit, als er die allzu klar ausgesprochenen und für ihn so drohenden Worte von Swidrigailow in Ssonjas Wohnung, in der Todesstunde Katerina Iwanownas gehört hatte, war der gewöhnliche Fluß seiner Gedanken gleichsam gestört. Obwohl aber diese neue Tatsache ihn außerordentlich beunruhigte, beeilte sich Raskolnikow gar nicht, die Sache irgendwie aufzuklären. Zuweilen überraschte er sich selbst, wie er in irgendeinem entlegenen und einsamen Stadtteile, in irgendeinem elenden Wirtshause nachdenklich allein am Tische saß, ohne an wissen, wie er hingeraten war, und dann fiel ihm plötzlich Swidrigailow ein: er sah allzu klar und unruhig ein, daß er mit diesem Menschen so schnell als möglich sprechen und sich mit ihm, so weit es ging, einigen müßte. Als er sich einmal hinter die Stadtgrenze verirrte, bildete er sich ein, daß er Swidrigailow erwartete und daß sie hier eine Zusammenkunft verabredet hätten. Ein anderes Mal erwachte er bei Tagesgrauen irgendwo im Gesträuch, auf der nackten Erde, und konnte fast nicht begreifen, wie er hierhergekommen war. Übrigens hatte er in diesen zwei oder drei Tagen nach dem Tode Katerina Iwanownas den Swidrigailow schon an die zweimal getroffen, fast immer in Ssonjas Wohnung, wohin er ohne jede Absicht, stets nur auf einen Sprung kam. Sie wechselten miteinander einige wenige Worte und berührten niemals den Hauptpunkt, als bestünde zwischen ihnen eine Verabredung, darüber vorläufig zu schweigen. Die Leiche Katerina Iwanownas lag noch immer in der Wohnung. Swidrigailow traf Anordnungen für die Beerdigung und sorgte für alles. Auch Ssonja war sehr beschäftigt. Bei ihrer letzten Zusammenkunft erklärte Swidrigailow Raskolnikow, daß er die Kinder Katerina Iwanownas schon irgendwie versorgt habe, daß es ihm dank seinen Verbindungen gelungen sei, Personen zu finden, mit deren Hilfe man die drei Waisenkinder sofort in sehr anständigen Anstalten unterbringen könnte; daß das Geld, das er für sie deponiert habe, dabei sehr nützlich gewesen sei, da es viel leichter wäre, Waisen mit Kapital unterzubringen als solche, die gar nichts haben. Er sagte auch etwas über Ssonja, versprach Raskolnikow, ihn dieser Tage selbst aufzusuchen, und erwähnte nebenbei, daß er sich mit ihm beraten und ihn dringend sprechen müßte, da es sich um eine wichtige Angelegenheit handle ... Das Gespräch fand auf dem Flur an der Treppe statt. Swidrigailow blickte Raskolnikow unverwandt in die Augen und fragte ihn nach kurzem Schweigen mit gedämpfter Stimme:
»Was ist denn mit Ihnen, Rodion Romanowitsch? Man kann Sie ja kaum wiedererkennen! Wirklich! Sie schauen einen an und hören zu und scheinen nichts zu verstehen. Nehmen Sie sich zusammen. Wir müssen doch wirklich miteinander sprechen; es ist nur schade, daß ich so viel zu tun habe, für mich selbst und für andere ... Ach, Rodion Romanowitsch«, fügte er plötzlich hinzu, »alle Menschen brauchen Luft, Luft, Luft ... Vor allen Diagen Luft!«
Er trat plötzlich zur Seite, um den Geistlichen, der mit dem Küster die Treppe heraufkam, vorbeizulassen. Sie kamen, um die Totenmesse zu lesen. Auf Anordnung Swidrigailows wurden die Messen zweimal am Tage mit großer Pünktlichkeit abgehalten. Swidrigailow ging seiner Wege. Raskolnikow stand eine Weile da und folgte dann dem Geistlichen in Ssonjas Wohnung.
Er blieb in der Tür stehen. Der Gottesdienst begann leise, andächtig, traurig. Im Gedanken an den Tod und im Gefühl der Gegenwart des Todes lag für ihn stets, von früher Kindheit an, etwas Schweres und Mystisch-Schreckliches; auch hatte er schon lange keine Totenmesse mehr gehört. Es war auch etwas anderes, allzu Schreckliches und Unruhiges dabei. Er sah die Kinder an: sie lagen alle vor dem Sarg auf den Knien; Poljetschka weinte. Hinter ihnen betete Ssonja leise weinend. – In diesen Tagen hat sie mich aber kein einziges Mal angeschaut und kein Wort zu mir gesagt! – fiel es Raskolnikow plötzlich ein. Die Sonne erleuchtete hell das Zimmer; der Weihrauch stieg in leichten Wolken empor; der Geistliche las: »Schenke, Herr, die ewige Ruhe.« Raskolnikow blieb während der ganzen Messe da. Als der Geistliche den Segen erteilte und sich verabschiedete, sah er sich etwas eigentümlich um. Nach dem Gottesdienste ging Raskolnikow auf Ssonja zu. Sie ergriff plötzlich seine beiden Hände und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. Diese kurze freundschaftliche Regung überraschte ihn; es kam ihm sogar seltsam vor: Wie? Nicht der geringste Widerwille, nicht der geringste Ekel vor ihm, nicht das leiseste Zucken ihrer Hand! Es war die tiefste Stufe der Selbsterniedrigung. So faßte er es wenigstens auf. Ssonja sagte nichts. Raskolnikow drückte ihr die Hand und ging hinaus. Es wurde ihm so furchtbar schwer zumute. Wäre es ihm in diesem Augenblick möglich gewesen, fortzugehen und ganz allein zu bleiben, und wenn auch fürs ganze Leben, so würde er sich glücklich gefühlt haben. Die Sache war aber die, daß er in der letzten Zeit zwar fast immer allein war, aber sein Alleinsein unmöglich empfinden konnte. Oft ging er vor die Stadt, kam auf eine Landstraße und verirrte sich einmal sogar in ein Gehölz; doch je einsamer die Gegend war, um so stärker empfand er die nahe und beunruhigende Gegenwart von etwas, das wohl nicht grauenhaft war, aber ihn schon gar zu sehr belästigte, so daß er schleunigst in die Stadt zurückkehrte, sich unter die Menge mischte, in Wirtshäuser und Schenken einkehrte und auf den Trödelmarkt und Heumarkt ging. Hier war es ihm sogar leichter ums Herz, und erfühlte sich viel einsamer. In einem Wirtshause wurde den ganzen Spätnachmittag gesungen; hier blieb er eine ganze Stunde sitzen, hörte zu und erinnerte sich später, daß es ihm sehr angenehm gewesen war. Schließlich wurde er aber wieder unruhig, als ob ihn Gewissensbisse plagten. – Hier sitze ich höre dem Gesang zu, habe aber was ganz anderes zu tun! – ging es ihm durch den Sinn. Übrigens wurde es ihm sofort klar, daß dies nicht das einzige war, was ihn beunruhigte, daß noch etwas anderes da war, das eine unverzügliche Lösung erheischte, das er aber weder völlig erfassen noch in Worte kleiden konnte. Alles verwickelte sich zu einem Knäuel. – Nein, dann schon lieber den Kampf! Dann ziehe ich schon den Porfirij oder Swidrigailow vor ... Wenn doch schneller eine Herausforderung oder ein Überfall käme ... – Ja! Ja! – dachte er. Er verließ das Wirtshaus und lief fast fort. Der Gedanke an Dunja und an die Mutter machte ihm plötzlich panische Angst. In der folgenden Nacht erwachte er vor Tagesanbruch im Gebüsch auf der Krestowskij-Insel, ganz durchfroren und im Fieber; er ging nach Hause, wo er erst am Morgen anlangte. Nach einigen Stunden Schlaf war das Fieber vergangen, er erwachte aber sehr spät, um zwei Uhr nachmittags.
Er erinnerte sich, daß für diesen Tag die Beerdigung Katerina Iwanownas angesetzt war, und freute sich, daß er ihr nicht beigewohnt hatte. Nastasja brachte ihm sein Essen; er aß und trank mit großem Appetit, fast mit Gier. Sein Kopf war frischer und er selbst ruhiger als in den letzten drei Tagen. Er wunderte sich sogar flüchtig über die früheren Anfälle der panischen Angst. Die Tür ging auf, und herein trat Rasumichin.
»Aha! Er ißt, also ist er nicht krank!« sagte Rasumichin, nahm einen Stuhl und setzte sich an den Tisch, Raskolnikow gegenüber.
Er war aufgeregt und bemühte sich nicht, es zu verbergen. Er sprach mit sichtbarem Arger, doch ohne Übereilung und ohne die Stimme besonders zu erheben. Man könnte meinen, daß er von einer besonderen und ausschließlichen Ansicht besessen sei.
»Hör!« begann er entschlossen. »Ich kümmere mich den Teufel um euch alle, doch aus dem, was ich jetzt sehe, schließe ich, daß ich gar nichts verstehen kann; glaube, bitte, nicht, daß ich hergekommen bin, um dich auszufragen. Ich spucke darauf! Ich will es selbst nicht! Wenn du sogar selbst alles, alle eure Geheimnisse auskramen wolltest, würde ich vielleicht gar nicht zuhören, würde ausspucken und fortgehen. Ich bin gekommen, nur um persönlich und endgültig festzustellen, ob es wahr ist, daß du verrückt bist. Es besteht nämlich über dich die Meinung (irgendwo, bei irgend jemand), daß du vielleicht verrückt bist oder eine Anlage dazu hast. Offen gestanden, war ich auch selbst sehr geneigt, diese Ansicht zu verteidigen, erstens wegen deiner dummen und zum Teil gemeinen Handlungen (die durch nichts zu erklären sind), und zweitens wegen deines kürzlichen Benehmens gegen deine Mutter und Schwester. Nur ein Verbrecher und Schurke, wenn nicht ein Verrückter, hätte sie so behandeln können, wie du sie behandelt hast; folglich bist du verrückt ...«
»Ist es lange her, daß du sie gesehen hast?«
»Ich komme von ihnen. Und du hast sie seitdem nicht mehr gesehen? Wo treibst du dich herum? Sage es mir, bitte, ich war schon dreimal bei dir. Deine Mutter ist seit gestern ernstlich krank. Sie wollte unbedingt zu dir kommen; Awdotja Romanowna versuchte sie davon abzuhalten; sie wollte aber auf nichts hören. ›Wenn er krank ist,‹ sagte sie, ›wenn ihm der Wahnsinn droht, wer kann ihm dann helfen, wenn nicht seine Mutter?‹ So kamen wir alle her, denn wir konnten sie doch nicht allein gehen lassen. Bis zu deiner Tür flehten wir sie an, sich zu beruhigen. Wie wir hereinkamen, warst du nicht da; hier auf diesem Platz hat sie gesessen. Zehn Minuten saß sie da, und wir standen schweigend vor ihr. Endlich stand sie auf und sagte: ›Wenn er ausgehen kann, so ist er gesund und hat seine Mutter vergessen; es ist beschämend für die Mutter, vor seiner Schwelle zu stehen und um ein freundliches Wort wie um Almosen zu betteln.‹ Sie kam nach Hause und legte sich hin: jetzt liegt sie im Fieber. Sie sagt: ›Ich sehe jetzt, daß er für die Seine Zeit hat.‹ Mit ›Seine‹ meint sie – Ssofja Ssemjonowna, deine Braut oder Geliebte, – ich weiß es nicht. Ich ging sofort zu Ssofja Ssemjonowna, denn ich wollte alles erfahren, Bruder; – ich komme hin und sehe: ein Sarg steht da, die Kinder weinen. Ssofja Ssemjonowna probiert ihnen Trauerkleidchen an. Du bist nicht da. Ich sah mich um, entschuldigte mich und ging fort, und so berichtete ich es auch Awdotja Romanowna. Alles ist also Unsinn, es gibt gar keine ›Seine‹, es ist also am ehesten Wahnsinn. Da sitzt du aber da und frißt gekochtes Fleisch, als hättest du drei Tage nichts gegessen. Die Verrückten essen allerdings auch; du hast mir zwar noch kein einziges Wort gesagt, aber du bist ... verrückt. Also hol euch alle der Teufel, denn es steckt irgendein Geheimnis, ein Rätsel dahinter, und ich bin nicht geneigt, mir über eure Rätsel den Kopf zu zerbrechen. Ich bin nur so heraufgekommen, um zu schimpfen«, schloß er und stand auf. »Um mir das Herz zu erleichtern; ich weiß aber, was ich jetzt tun soll!«
»Was willst du denn jetzt tun?«
»Was geht es dich an, was ich jetzt tun will?«
»Paß auf, da fängst noch zu trinken an!«
»Woher ... woher weißt du das?«
»Auch eine Frage!«
Rasumichin schwieg eine Weile.
»Da warst immer ein sehr vernünftiger Mensch und bist niemals, niemals verrückt gewesen«, bemerkte er plötzlich erregt. »Das stimmt: ich fange zu trinken an! Leb wohl!«
Und er schickte sich an, zu gehen.
»Ich habe über dich, glaube ich, vorgestern mit meiner Schwester gesprochen, Rasumichin.«
»Über mich?! Ja ... wo hast du sie denn vorgestern sehen können?« fragte plötzlich Rasumichin erstaunt und wurde sogar etwas blaß.
Man konnte ihm ansehen, daß sein Herz langsam und schwer klopfte.
»Sie war hergekommen, allein, hat hier gesessen und mit mir gesprochen.«
»Sie?!«
»Ja, sie!«
»Was hast du ihr denn gesagt ... ich meine – von mir?«
»Ich sagte ihr, daß du ein sehr guter, ehrlicher und arbeitsamer Mensch seist. Daß du sie liebst, habe ich ihr nicht gesagt, denn sie weiß es selbst.«
»Sie weiß es selbst?«
»Na, und ob! Wohin ich auch fortgehen würde, was mir auch zustieße, du bleibst ihnen immer eine Vorsehung. Ich übergebe sie dir, sozusagen, Rasumichin. Ich sage das, weil ich sicher weiß, wie du sie liebst, und weil ich von der Reinheit deines Herzens überzeugt bin. Ich weiß auch, daß auch sie dich lieben kann und vielleicht sogar auch schon liebt. Beschließe jetzt selbst, was du für das Beste hältst: – ob du zu trinken anfangen sollst oder nicht!?«
»Rodja ... Siehst du ... Nun ... Ach, Teufel! Wo willst du aber hin? Siehst du: wenn es ein Geheimnis ist, so laß es sein! Aber ich ... werde das Geheimnis erfahren ... Ich bin überzeugt, daß es unbedingt eine Dummheit und ein furchtbarer Unsinn ist und daß du alles allein ausgedacht hast. Ubrigens bist du ein prachtvoller Mensch! Ein prachtvoller Mensch! ...«
»Ich wollte dir vorhin noch sagen, du hast mich aber unterbrochen, daß es sehr klug von dir ist, wenn du alle diese Geheimnisse und Rätsel gar nicht erforschen willst. Laß sie vorläufig sein und mach dir keine Sorgen. Mit der Zeit wirst du alles erfahren, und zwar gerade dann, wenn es nötig sein wird. Gestern hat mir ein Mann gesagt, daß der Mensch Luft, Luft und noch einmal Luft braucht! Ich will gerade zu ihm gehen, um zu erfahren, was er damit meint.«
Rasumichin stand nachdenklich und erregt da und schien sich etwas zu überlegen.
– Er ist ein politischer Verschwörer! Ganz bestimmt! Und zwar unmittelbar vor einem entscheidenden Schritt, – ganz sicher! Anders kann es gar nicht sein und ... Dunja weiß davon ... – dachte er bei sich.
»Awdotja Romanowna kommt also zu dir«, sagte er, jedes Wort betonend, »und du selbst willst zu einem Menschen gehen, welcher sagt, daß man mehr Luft braucht und ... und folglich hat auch dieser Brief ... etwas damit zu tun«, schloß er wie vor sich hin.
»Was für ein Brief?«
»Sie hat heute einen Brief bekommen, der sie sehr aufgeregt hat. Sehr. Sogar furchtbar. Ich brachte die Rede auf dich, sie bat mich aber, zu schweigen. Dann ... dann sagte sie, daß wir uns vielleicht bald trennen werden, dann fing sie an, mir für etwas heiß zu danken ... dann ging sie auf ihr Zimmer und schloß sich ein.«
»Sie hat einen Brief bekommen?« fragte Raskolnikow wieder.
»Ja, einen Brief; hast du es nicht gewußt? Hm! ...«
Beide schwiegen eine Weile.
»Leb wohl, Rodion. Es gab eine Zeit ... wo ich, Bruder ... übrigens leb wohl; nun, es gab eine Zeit ... Leb wohl! Ich muß auch gehen. Trinken werde ich nicht. Jetzt brauche ich es nicht ... Unsinn!«
Er schien große Eile zu haben; als er aber schon hinausgegangen war und die Tür fast geschlossen hatte, machte er sie plötzlich wieder auf und sagte, irgendwo zur Seite blickend:
»Apropos! Kannst du dich noch an den Mord erinnern, mit dem sich Porfirij zu schaffen macht: an die Ermordung der Alten? Also wollte ich dir sagen, daß man den Mörder gefunden hat, er hat selbst alles eingestanden und alle Beweise geliefert. Er ist einer von jenen Arbeitern, den Anstreichern, denk dir nur! Kannst du dich noch erinnern, wie ich sie hier verteidigt habe? Wirst du es glauben: die ganze Szene, wo er sich mit seinem Kameraden auf der Treppe herumschlug und lachte, als der Hausknecht und die beiden Zeugen hinaufgingen, hat er absichtlich aufgeführt, um den Verdacht von sich abzulenken. Wie schlau, welch eine Geistesgegenwart bei so einem jungen Hunde! Es ist kaum zu glauben; er hat aber alles aufgeklärt und alles eingestanden! Wie bin ich doch hereingefallen! Nun, meiner Ansicht nach ist er bloß ein Genie der Verstellungskunst und der Findigkeit, ein Genie des juristischen Alibi – folglich ist hier nichts Bewundernswertes! Warum soll es auch nicht solche Leute geben? Daß er aber aus seiner Rolle gefallen ist und alles eingestanden hat, macht mir die Sache erst recht glaubhaft. So ist es wahrscheinlicher! ... Aber wie ich damals hereingefallen bin! Ich fuhr aus der Haut, um ihn zu verteidigen!«
»Sag, bitte, woher hast du das erfahren und warum interessiert dich das so sehr?« fragte Raskolnikow mit sichtlicher Unruhe.
»Auch eine Frage! Warum mich das interessiert! Wie du manchmal fragen kannst! ... Erfahren habe ich es unter anderem von Porfirij. Übrigens habe ich fast alles von ihm erfahren.«
»Von Porfirij?«
»Ja, von Porfirij.«
»Nun, und was ... was denkt er?« fragte Raskolnikow erschrocken.
»Er hat mir alles ausgezeichnet erklärt. Er hat es mir psychologisch erklärt, auf seine Weise.«
»Er hat es selbst erklärt? Er selbst?«
»Ja, er selbst. Leb wohl! Später einmal will ich dir noch mehr davon erzählen, jetzt habe ich keine Zeit. Es gab nämlich ... eine Zeit, wo ich glaubte ... Aber was soll ich jetzt davon reden, ein anderes Mal! ... Warum sollte ich mich jetzt betrinken? Du hast mich auch ohne Wein berauscht gemacht. Ich bin ganz betrunken, Rodja! Ohne Wein bin ich betrunken, leb wohl! Ich komme noch einmal vorbei, sehr bald.«
Er ging hinaus.
– Er ist ein politischer Verschwörer, ganz gewiß, ganz gewiß! – sagte sich Rasumichin endgültig, indem er die Treppe hinunterging. – Er hat auch seine Schwester hineingezogen; das ist beim Charakter Awdotja Romanownas sehr leicht möglich. Sie haben Zusammenkünfte miteinander! ... Sie hat mir aber auch schon Andeutungen gemacht ... Aus vielen ihrer Worte ... und Bemerkungen ... und Andeutungen kann man alles schließen! Wie sollte man sich diesen ganzen Wirrwarr auch anders erklären? Hm! Ich glaubte aber schon ... O Gott, was war mir nur eingefallen?! Es war eine Geistesverwirrung, und ich stehe vor ihm schuldig da! Er selbst hat mich so verwirrt, damals im Korridor vor der Lampe. Pfui! Was war es doch für ein häßlicher, roher, gemeiner Gedanke von mir! Mikolka ist ein braver Kerl, daß er alles eingestanden hat ... Und wie gut läßt sich jetzt alles Frühere erklären! Seine damalige Krankheit, alle seine sonderbaren Handlungen, sogar viel früher auf der Universität, als er immer so finster und verschlossen war ... Was hat aber jetzt jener Brief zu bedeuten? Es wird vielleicht doch etwas dahinterstecken. Von wem mag dieser Brief sein? Ich habe einen Verdacht ... Hm! Nein, ich werde alles erfahren. –
Alles, was mit Dunjetschka zusammenhing, ging ihm wieder durch den Sinn, und sein Herz stand still. Und er rannte davon, als hätte er sich von einer Kette losgerissen.
Sobald Rasumichin fortgegangen war, stand Raskolnikow auf, wandte sich zum Fenster, ging erst in eine Ecke, dann in eine andere, als hätte er die Enge seiner Kammer vergessen, und ... setzte sich wieder aufs Sofa. Er fühlte sich wie neugeboren; es stand ihm wieder ein Kampf bevor, also hatte sich ein Ausweg gefunden!
Ja, es hat sich ein Ausweg gefunden! Alles war so luftdicht abgeschlossen, hatte angefangen, so qualvoll zu drücken, es war wie ein Alp. Seit dem Auftritt mit Mikolka bei Porfirij glaubte er in der Enge ohne Ausweg ersticken zu müssen. Am gleichen Tage hatte er nach Mikolka die Szene mit Ssonja gehabt; er hatte diese Szene ganz anders durchgeführt und abgeschlossen, als er es sich früher hätte vorstellen können ... also war er plötzlich und radikal schwach geworden! Mit einem Male! Er hatte sich doch damals mit Ssonja geeinigt, hatte sich mit ganzem Herzen geeinigt, daß er mit einer solchen Last auf dem Herzen allein nicht leben könne! Und Swidrigailow? Swidrigailow ist ein Rätsel ... Swidrigailow beunruhigt ihn, das ist wahr, aber nicht in dieser Richtung. Vielleicht steht ihm auch noch ein Kampf mit Swidrigailow bevor. Vielleicht bedeutet auch Swidrigailow einen Ausweg; aber Porfirij ist eine andere Sache.
Porfirij hat also Rasumichin alles selbst erklärt, hat es ihm psychologisch erklärt! Hat also wieder seine verfluchte Psychologie aufs Tapet gebracht! Porfirij? Kann denn Porfirij auch nur einen Augenblick lang glauben, daß Mikolka schuldig sei, nach allem, was sich zwischen ihm und Raskolnikow abgespielt hat, nach jener Szene unter vier Augen vor Mikolkas Erscheinen, für die es bloß eine einzige richtige Erklärung gibt?! (In diesen Tagen war ihm einigemal diese ganze Szene mit Porfirij bruchstückweise in Erinnerung gekommen; aber sich ihrer ganz und zusammenhängend zu erinnern, wäre ihm unerträglich gewesen.) Es waren zwischen ihnen damals solche Worte gefallen, es hatte solche Bewegungen und Gebärden gegeben, es waren solche Blicke getauscht, es war manches mit einer solchen Stimme gesagt worden und alles hatte bereits solche Grenzen erreicht, daß nach alledem ein Mikolka, welchen Porfirij auf den ersten Blick durchschaut hatte, die Grundlage seiner Überzeugungen niemals hätte erschüttern können!
Wie ist es nun gekommen?! Sogar Rasumichin hatte angefangen, ihn zu verdächtigen! Die Szene im Korridor bei der Lampe war also nicht spurlos vorübergegangen. Darum war er gleich zu Porfirij gelaufen ... warum hat aber jener angefangen, ihn irrezuführen? Was für eine Absicht verfolgt er, wenn er Rasumichins Verdacht auf Mikolka lenkt? Er führt gewiß etwas im Schilde, er hat Absichten, aber was für welche? Allerdings war seit jenem Morgen viel Zeit vergangen, viel zu viel Zeit, und Porfirij hat von sich bisher nichts hören lassen. Nun, das ist natürlich schlimm ... – Raskolnikow nahm nachdenklich seine Mütze und wollte das Zimmer verlassen. Es war der erste Tag seit dieser ganzen Zeit, daß er sich wenigstens bei klarem Verstand fühlte. – Ich muß erst mit Swidrigailow fertigwerden – dachte er, – und zwar unbedingt so schnell als möglich; auch der scheint zu warten, daß ich zu ihm komme. – In diesem Augenblick erhob sich in seinem müden Herzen solch ein Haß, daß er imstande gewesen wäre, einen von den beiden zu ermorden: Swidrigailow oder Porfirij. Er fühlte wenigstens, daß er imstande sei, es wenn nicht jetzt so später zu tun. – Wir wollen sehen, wir wollen sehen! – wiederholte er vor sich hin.
Kaum hatte er aber die Tür zum Flur geöffnet, als er plötzlich mit Porfirij selbst zusammenstieß. Jener kam eben zu ihm. Raskolnikow erstarrte für einen Augenblick, aber nur für einen Augenblick. Seltsamerweise war er über Porfirijs Besuch nicht sehr erstaunt und fast nicht erschrocken. Er zuckte nur zusammen, machte sich aber schon im nächsten Augenblick auf alles bereit. – Vielleicht ist das die Lösung! Wie leise ist er aber gekommen, wie eine Katze, und ich habe nichts gehört! Hat er vielleicht an der Tür gehorcht? –
»Sie haben wohl den Gast nicht erwartet, Rodion Romanowitsch?« rief Porfirij lachend. »Ich hatte schon längst die Absicht, Sie mal zu besuchen. Wie ich eben vorbeiging, dachte ich mir: Warum soll ich nicht für fünf Minuten hinaufgehen? Sie wollen ausgehen? Ich werde Sie nicht aufhalten. Bloß eine Zigarette will ich bei Ihnen rauchen, wenn Sie gestatten.«
»Setzen Sie sich doch, Porfirij Petrowitsch. Setzen Sie sich, bitte«, begrüßte Raskolnikow seinen Gast mit einem scheinbar so zufriedenen und freundlichen Ausdruck, daß er wohl selbst über sich erstaunt wäre, wenn er sich hätte sehen können.
Nun galt es den letzten Rest seiner Kraft zusammenzunehmen! So zittert ein Mensch zuweilen eine halbe Stunde vor Todesangst vor einem Räuber; wenn ihm aber jener endgültig das Messer an die Gurgel setzt, so verschwindet die ganze Angst. Er setzte sich Porfirij gegenüber und sah ihn ohne zu zwinkern an. Porfirij kniff die Augen zusammen und begann sich eine Zigarette anzustecken.
– Sprich doch, sprich doch – drängte es sich aus dem Herzen Raskolnikows: – Nun, warum sagst du nichts? –
»Ja, auch diese Zigaretten!« begann endlich Porfirij Petrowitsch, nachdem er die Zigarette angesteckt und Atem geholt hatte. »Sie sind schädlich, furchtbar schädlich, und doch kann ich das Rauchen nicht aufgeben! Ich huste, im Halse kratzt es, und ich leide Atemnot. Wissen Sie, ich bin ängstlich und ging darum neulich zu B. – er untersucht jeden Patienten mindestens eine halbe Stunde lang; als er mich sah, lachte er sogar; er klopfte und horchte an mir herum und sagte schließlich: ›Das Rauchen ist für Sie nichts, Ihre Lunge ist erweitert.‹ Wie soll ich aber das Rauchen aufgeben? Wodurch soll ich es ersetzen? Ich trinke doch nicht, das ist mein ganzes Unglück! He-he-he, es ist ein Unglück, daß ich nicht trinke! Alles ist doch relativ, Rodion Romanowitsch, alles ist relativ!«
– Fängt er schon wieder mit seinen alten Kunststücken an? – dachte Raskolnikow angeekelt. Die ganze letzte Szene zwischen ihnen kam ihm plötzlich in den Sinn, und dasselbe Gefühl wie damals erfüllte seine Seele.
»Ich war schon einmal bei Ihnen, vorgestern abend; Sie wissen es gar nicht?« fuhr Porfirij Petrowitsch fort, sich im Zimmer umsehend. »Ich bin hier in diesem Zimmer gewesen. Ebenso heute; ich gehe gerade vorbei und denke mir: Ich will ihn mal besuchen. Ich komme herauf, die Tür steht weit offen; ich sah mich um, wartete und meldete mich nicht mal bei ihrer Dienstmagd, und dann ging ich wieder fort. Sie pflegen Ihr Zimmer nicht abzuschließen?«
Raskolnikows Gesicht verfinsterte sich immer mehr. Porfirij hatte seine Gedanken gleichsam erraten.
»Ich komme her, liebster Rodion Romanowitsch, um mich mit Ihnen auszusprechen! Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig«, fuhr er mit einem Lächeln fort und klopfte ihn sogar leicht mit der Hand aufs Knie.
Aber sein Gesicht nahm fast im gleichen Augenblick einen ernsten und bekümmerten Ausdruck an; Raskolnikow sah darin zu seinem Erstaunen sogar einen Auflug von Trauer. Einen solchen Ausdruck hatte er an ihm noch niemals wahrgenommen und nicht einmal vermutet.
»Eine sonderbare Szene hat sich das letztemal zwischen uns abgespielt, Rodion Romanowitsch. Allerdings war auch unsere erste Begegnung sehr sonderbar, aber damals ... Jetzt ist es aber gleich! Nun, hören Sie: ich stehe vielleicht schuldig vor Ihnen da; ich fühle es. Erinnern Sie sich noch, wie wir uns trennten: Ihnen zittern die Nerven und schlottern die Knie, und auch mir zittern die Nerven und schlottern die Knie. Und wissen Sie, es ging damals zwischen uns so gar nicht anständig zu, nicht wie unter Ehrenmännern. Wir sind aber Ehrenmänner, das heißt in jedem Falle und unter allen Umständen Ehrenmänner, das soll man nicht vergessen. Sie erinnern sich noch, was weiter kam: es war einfach unanständig.«
– Was hat er denn, für was hält er mich? – fragte sich Raskolnikow erstaunt, Porfirij mit erhobenem Kopf anschauend.
»Ich bin zur Einsicht gekommen, daß es für uns jetzt das beste ist, aufrichtig vorzugehen«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort, den Kopf etwas zur Seite gewandt und die Augen gesenkt, als wollte er sein früheres Opfer nicht mehr mit seinen Blicken irritieren und als hätte er seine früheren Kunstgriffe und Methoden verworfen. »Jawohl, solche Verdächtigungen und solche Szenen gehen auf die Dauer nicht. Mikolka war für uns damals eine Erlösung, sonst weiß ich gar nicht, wozu es noch alles gekommen wäre. Jener verfluchte Kleinbürger saß bei mir die ganze Zeit hinter dem Verschlag – können Sie es sich vorstellen? Sie wissen es natürlich schon; es ist mir auch bekannt, daß er nachher bei Ihnen war; aber was Sie damals angenommen hatten, war gar nicht der Fall: ich hatte nach niemand geschickt und noch keinerlei Anordnungen getroffen. Sie werden mich fragen, warum ich keine Anordnungen getroffen hatte? Wie soll ich es Ihnen sagen: Das Ganze war auch für mich ganz unerwartet gekommen. Es war mir sogar kaum eingefallen, die Hausknechte kommen zu lassen. (Die Hausknechte haben Sie doch sicher im Vorbeigehen bemerkt.) Ein Gedanke hat mich damals durchzuckt, so schnell wie ein Blitz; denn ich war damals gar zu fest überzeugt, Rodion Romanowitsch. Ich will mal – sagte ich mir – zunächst das eine aufgeben, dafür aber etwas anderes am Schwanze packen; so entgeht mir wenigstens das meinige nicht. Sie sind sehr reizbar von Natur, Rodion Romanowitsch, sogar viel zu reizbar, bei allen anderen Grundzügen Ihres Charakters, die ich, wenigstens zum Teil, erfaßt zu haben hoffe. Aber ich konnte mir natürlich damals auch sagen, daß es nicht immer so kommt, daß der Mensch einfach aufsteht und einem die ganze Wahrheit gesteht. Das kommt zwar vor, besonders wenn man einen Menschen ganz aus der Fassung bringt, aber in jedem Falle selten. Das habe ich mir auch damals sagen können. Ich dachte mir: Wenn ich doch bloß ein Endchen erwische! Wenn auch nur ein ganz winziges, doch ein solches, daß ich es mit den Händen packen kann, daß es eine greifbare Sache ist und keine Psychologie. Denn ich dachte mir: Wenn ein Mensch schuldig ist, so kann man von ihm jedenfalls etwas Wesentliches erwarten; es ist sogar erlaubt, auf ein ganz unerwartetes Resultat zu rechnen. Ich hatte damals auf Ihren Charakter gerechnet, Rodion Romanowitsch, vor allem – auf den Charakter! Große Hoffnungen hatte ich damals auf Sie gesetzt!«
»Ja, aber ... aber warum reden Sie jetzt immer so?« murmelte Raskolnikow, der selbst seine eigene Frage kaum verstand.
– Wovon redet er eigentlich? – fragte er sich ganz fassungslos: – Hält er mich denn wirklich für unschuldig? –
»Warum ich so rede? Nun, ich bin ja hergekommen, um mich mit Ihnen auszusprechen, ich halte es sozusagen für meine heilige Pflicht. Ich möchte Ihnen restlos darlegen, wie sich alles zugetragen hat, die ganze Geschichte der damaligen – sagen wir Verblendung. Ich habe Sie viel gequält, Rodion Romanowitsch. Ich bin kein Unmensch. Ich begreife es doch auch, wie schwer es für einen niedergedrückten, doch stolzen, herrschsüchtigen und ungeduldigen – in erster Linie ungeduldigen Menschen ist, dies alles zu tragen! Ich halte Sie in jedem Falle für einen höchst edlen Menschen, sogar mit Anlagen zu Großmut, obwohl ich mit Ihnen in Ihren Überzeugungen nicht einverstanden bin, und ich halte es auch für meine Pflicht, es Ihnen im voraus ganz offen und aufrichtig zu sagen, denn ich will Sie vor allen Dingen nicht betrügen. Nachdem ich Sie kennengelernt hatte, fühlte ich eine Neigung für Sie. Sie werden vielleicht über diese meine Worte lachen? Das Recht dazu haben Sie ja. Ich weiß, daß Sie mich gleich auf den ersten Blick nicht mochten, denn im Grunde genommen ist nichts an mir, wofür man mich hätte lieben können. Sie können davon halten, was Sie wollen, aber ich will jetzt meinerseits mit allen Mitteln den Eindruck, den ich auf Sie machte, verwischen und Ihnen beweisen, daß ich ein Mensch mit Herz und Gewissen bin. Ich sage das ganz aufrichtig.«
Porfirij Petrowitsch hielt selbstbewußt inne. Raskolnikow fühlte sich von einem neuen Schrecken ergriffen. Der Gedanke, daß Porfirij ihn für unschuldig halte, machte ihm plötzlich Angst.
»Alles der Reihe nach zu erzählen, wie es angefangen hat, ist wohl kaum nötig«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort. »Ich werde es auch kaum fertigbringen können. Denn wie kann ich es umständlich erklären? Zuerst kamen Gerüchte auf. Ihnen zu erzählen, was es für Gerüchte waren, wann und woher sie kamen und aus welchem Anlaß die Rede auch auf Sie kam, halte ich gleichfalls für überflüssig. Bei mir persönlich fing es mit einer Zufälligkeit an, mit einer ganz zufälligen Zufälligkeit, die ebenso sein, wie auch nicht sein konnte. Was es für eine Zufälligkeit war? Hm! ... auch davon, glaube ich, lohnt es sich nicht zu reden. Dies alles, diese Gerüchte und Zufälligkeiten vereinigten sich bei mir zu einem Gedanken. Ich gestehe es offen – denn wenn man schon offen spricht, so soll man alles gestehen –, ich war der erste, der damals auf Sie kam. Alle die Vermerke der Alten auf den Sachen usw. – all das ist Unsinn. Solche Dinge kann man hundertweise aufzählen. Ich hatte damals auch Gelegenheit, Genaues über die Szene im Polizeibureau zu hören, auch ganz zufällig, und zwar nicht flüchtig, sondern von einem ganz hervorragenden Erzähler, der, ohne es selbst zu ahnen, diese Szene ganz wunderbar bewältigt hat. Eines griff immer ins andere hinein, eines ins andere, liebster Rodion Romanowitsch! Nun, wie sollte ich mich da nicht nach einer bestimmten Richtung wenden!? Aus hundert Kaninchen wird nie ein Pferd, aus hundert Verdachtsgründen nie ein Beweis, wie ein englisches Sprichwort sagt. Aber das bezieht sich doch nur auf die Vernunft; doch wenn die Leidenschaften hinzukommen – versuchen Sie nur mit der Leidenschaft fertigzuwerden, denn auch der Untersuchungsrichter ist ein Mensch! Ich erinnerte mich auch Ihres Artikels in der Zeitschrift; wissen Sie noch, bei Ihrem ersten Besuch haben wir ausführlich davon gesprochen. Ich hatte mich dann über Sie lustiggemacht, doch nur, um Sie zu weiteren Äußerungen zu verleiten. Ich wiederhole, Sie waren sehr ungeduldig und krank, Rodion Romanowitsch. Daß Sie kühn, herausfordernd und ernst sind, daß Sie innerlich viel erlebt hatten, das wußte ich schon längst. Mir sind diese Empfindungen bekannt, und Ihren Artikel las ich wie etwas mir Bekanntes. In schlaflosen Nächten und im Zustande von Raserei ist dieser Artikel in Ihrem Kopfe entstanden, unter Herzklopfen mit unterdrücktem Enthusiasmus. Dieser unterdrückte, stolze Enthusiasmus ist in der Jugend gefährlich! Damals hatte ich mich darüber lustiggemacht, jetzt will ich Ihnen aber sagen, daß ich diese erste jugendliche, leidenschaftliche Federprobe als Amateur über alles liebe. Ein Rauch, ein Nebel, und im Nebel klingt eine Saite. Ihr Artikel ist absurd und phantastisch, aber es leuchtet darin eine Aufrichtigkeit, ein jugendlicher und unbestechlicher Stolz, die Kühnheit der Verzweiflung; er ist so düster, dieser Artikel, aber das ist auch gut. Ich las Ihren Artikel damals durch, legte ihn dann beiseite und dachte mir dabei: ›Mit diesem Menschen wird es nicht so glatt ablaufen?‹ Nun, sagen Sie mir selbst: Wie sollte ich mich nach all dem Vorangegangenen nicht von dem Folgenden hinreißen lassen? Ach, mein Gott, sage ich denn überhaupt was? Behaupte ich denn was? Ich hatte es mir damals nur gemerkt. Was ist denn dabei? – fragte ich mich. Es ist nichts dabei, aber gar nichts, vielleicht sogar absolut nichts. Für mich, einen Untersuchungsrichter, ziemt es sich gar nicht, sich so hinreißen zu lassen: ich habe ja den Mikolka in Händen, und zwar mit Tatsachen, – wie Sie wollen: es sind Tatsachen! auch er kommt mit seiner Psychologie; ihm muß ich mich noch ordentlich widmen, denn bei ihm handelt es sich um Leben und Tod. Wozu ich Ihnen jetzt das alles erkläre? Damit Sie es wissen und mich nicht im Geist und im Herzen für mein damaliges boshaftes Benehmen verurteilen. Es war aber gar nicht boshaft. Ich versichere es aufrichtig, he-he! Sie glauben, ich hätte bei Ihnen keine Haussuchung abgehalten? Natürlich habe ich eine abgehalten, he-he! Es war, als Sie krank im Bettchen lagen. Nicht offiziell und nicht in eigener Person, aber ich habe eine gemacht. Bis aufs letzte Härchen wurde in Ihrer Wohnung alles durchsucht, sogar gleich nach der frischen Spur, aber – umsonst! Ich denke mir: Jetzt wird dieser Mensch kommen, wird selbst kommen, sogar sehr bald; wenn er schuldig ist, so wird er sicher kommen. Ein anderer wird nicht kommen, aber dieser wird kommen. Erinnern Sie sich noch, wie Herr Rasumichin anfing, sich zu verschnappen? Das haben wir absichtlich so gemacht, um Sie aufzuregen, darum haben wir auch das Gerücht losgelassen, damit er sich Ihnen gegenüber verschnappt, denn Herr Rasumichin ist ein Mensch, der seine Entrüstung nicht bei sich behalten kann. Dem Herrn Samjotow waren zuerst Ihr Zorn und Ihre offene Kühnheit aufgefallen; wie kann man auch so im Gasthause herausplatzen: ›Ich habe gemordet!‹ Viel zu kühn, viel zu frech, und wenn er schuldig ist, dachte ich mir, so ist er ein furchtbarer Kämpfer! Wirklich, so dachte ich mir damals. Und ich warte! Ich warte auf Sie gespannt, aber den Samjotow haben Sie damals ganz erdrückt, und ... das ist eben der Witz, daß diese ganze Psychologie zwei Enden hat! So warte ich auf Sie und sehe – Gott schickt Sie mir zu! Da stand mir das Herz still. Ach, was mußten Sie damals kommen? Ihr Lachen, Ihr Lachen, als Sie hereinkamen – können Sie sich noch erinnern? – Alles sah ich damals so klar wie durch Glas; hätte ich Sie damals nicht so besonders erwartet, so wäre mir auch in Ihrem Lachen nichts aufgefallen. Da sehn wir, was es heißt, in der rechten Stimmung zu sein. Auch Herr Rasumichin damals – ach! und der Stein, der Stein, unter dem die Sachen versteckt liegen? Mir ist es, als sehe ich ihn irgendwo in einem Gemüsefeld liegen. Sie sprachen doch zu Samjotow von einem Gemüsefeld, und dann zum zweitenmal sprachen Sie davon bei mir. Und als wir damals begannen, Ihren Aufsatz durchzunehmen, als Sie ihn zu erklären anfingen, da faßte ich jedes Ihrer Worte doppelt auf, als säße unter jedem Worte ein anderes! So kam ich, Rodion Romanowitsch, bis zur letzten Grenze, und als ich mich mit der Stirn anstieß, kam ich zum Bewußtsein. Nein, sagte ich mir, was fällt mir ein? Wenn man will, sagte ich mir, kann man das alles bis zum letzten Endchen auch im entgegengesetzten Sinne auslegen, und dann wird es sogar noch natürlicher klingen. Ich gestand mir selbst, daß es natürlicher klingen wird. Das war eine Plage! Nein, dachte ich mir, dann will ich doch lieber wenigstens ein Endchen von einer Tatsache haben! ... Als ich damals von diesem Klingeln hörte, erstarrte ich beinahe, es überlief mich kalt. Nun, denke ich mir, da hab ich so ein Endchen! Das ist es! Ich überlegte nicht mehr, ich wollte es einfach nicht. Tausend Rubel hätte ich in jedem Augenblick aus eigener Tasche hergegeben, nur um mit meinen eigenen Augen zu sehen, wie Sie an die hundert Schritte neben dem Kleinbürger hergingen, nachdem er Ihnen ›Mörder‹ ins Gesicht gesagt hatte und Sie ganze hundert Schritt lang nicht wagten, ihn etwas zu fragen! ... Nun, und das Frösteln im Rückenmark? Und dieses Klingeln im Fieber, während Ihrer Krankheit? Warum wundern Sie sich, Rodion Romanowitsch, nach alledem, daß ich mit Ihnen damals solche Scherze getrieben habe? Und warum waren Sie gerade in jenem Augenblick gekommen? Niemand hat Sie doch dazu getrieben, bei Gott, und wenn Mikolka uns damals nicht auseinandergebracht hätte, so ... und erinnern Sie sich noch an Mikolka damals? Haben Sie ihn sich gut gemerkt? Es war doch wie ein Donnerschlag! Wie ein Blitz aus einer Gewitterwolke, wie ein Donnerpfeil! Nun, und wie nahm ich ihn auf? Dem Donnerpfeil glaubte ich kein einziges Wort, wie Sie selbst zu sehen beliebten! Und noch mehr als das! Als Sie schon weggegangen waren und er anfing, außerordentlich vernünftig manche Punkte zu beantworten, so daß ich selbst darüber staunte, – auch dann glaubte ich ihm kein Wort! Sehen Sie, was es heißt, eine felsenfeste Grundlage zu haben! Nein, denke ich mir, Schnecken! Was hat Mikolka mit der Sache zu tun?«
»Rasumichin hat mir soeben gesagt, daß Sie auch jetzt noch den Nikolai beschuldigen, und Sie hätten ihn selbst davon überzeugt ...«
Sein Atem stockte, und er sprach den Satz nicht zu Ende. Er hörte in unbeschreiblicher Erregung zu, wie der Mensch, der ihn ganz durchschaut hatte, seine eigenen Worte verleugnete. Er fürchtete, daran zu glauben, und glaubte es auch nicht. In den noch doppelsinnigen Worten suchte er gierig nach etwas Bestimmterem und Endgültigem.
»Ja, der Herr Rasumichin!« rief Porfirij Petrowitsch, als freute er sich über die Frage Raskolnikows, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. »He-he-he! Herrn Rasumichin mußte man ausschalten: wo zwei miteinander einig sind, soll der Dritte seine Nase nicht hineinstecken. Herr Rasumichin ist nicht der richtige Mensch, auch ist er ein Außenstehender, ganz bleich kam er zu mir gelaufen ... Nun, Gott sei mit ihm, was soll ich ihn in die Sache verwickeln! Und was den Mikolka betrifft, so wissen Sie doch, was er für ein Subjekt ist, das heißt, wie ich ihn auffasse? Erstens ist er noch ein unmündiges Kind, eigentlich kein Feigling, hat aber doch etwas von einem Künstler. Wirklich, lachen Sie, bitte, nicht, daß ich ihn so darstelle. Er ist unschuldig und für alles empfänglich. Er hat ein Herz, ist ein Phantast. Er versteht zu singen und zu tanzen und soll so vorzüglich Märchen erzählen können, daß die Leute sich versammeln, um ihm zuzuhören. Er ist imstande, eine Sonntagsschule zu besuchen, zu lachen, bis er umfällt, wenn man ihm bloß den kleinen Finger zeigt, und bis zur Bewußtlosigkeit zu trinken, doch nicht aus Verdorbenheit, sondern periodisch, wenn man ihn betrunken macht, ganz wie ein Kind. Er hat ja doch gestohlen, kann es aber selbst nicht einsehen, denn er sagt: ›Wenn ich's auf der Erde gefunden habe, so ist es doch kein Diebstahl!‹ Ist Ihnen auch bekannt, daß er ein Altgläubiger ist, das heißt weniger ein Altgläubiger als ein Sektierer? Einige von seiner Familie waren bei der ›Bjeguny‹-Sekte gewesen, und er selbst hat erst vor kurzem ganze zwei Jahre auf dem Lande bei einem frommen Greis als Jünger gelebt. Das alles erfuhr ich von Mikolka selbst und auch von seinen Landsleuten aus Saraisk. Und noch mehr: er wollte sogar in die Wüste fliehen! Großen Eifer hatte er in Glaubenssachen, betete nachts zu Gott und las fortwährend in den alten ›wahren‹ Büchern, bis er fast um den Verstand kam. Petersburg hatte auf ihn einen mächtigen Eindruck gemacht, besonders das weibliche Geschlecht, auch der Schnaps. Er ist so empfänglich und hat seinen frommen Greis und alles vergessen. Es ist mir bekannt, daß ihn ein hiesiger Maler liebgewonnen hat; er besuchte ihn auch, da kam aber diese Geschichte dazwischen. Er bekam Angst und wollte sich erhängen! Durchbrennen! Was soll man tun, wenn das Volk solche Begriffe von unserer Rechtspflege hat! Gar mancher fürchtet die ›Verurteilung‹. Wer ist schuld? Wie werden sich die neuen reformierten Gerichte einführen? Ach, möge Gott das Beste geben! Nun, im Zuchthause erinnerte er sich wohl wieder des frommen Greises; auch fing er wieder an, in der Bibel zu lesen. Wissen Sie, Rodion Romanowitsch, was bei manchen dieser Leute bedeutet, ›das Leiden auf sich zu nehmen?‹ Das heißt nicht, für jemand bestimmten zu leiden; nein, man muß einfach ein Leiden auf sich nehmen, und wenn es von der Obrigkeit kommt, so ist es noch besser. Da hatte ich seinerzeit im Zuchthause ein ganzes Jahr einen sehr stillen und braven Arrestanten sitzen. Nächte lang hockte er auf dem Ofen und las die Bibel; vor lauter Lesen wurde er ganz verrückt und packte eines Tages so mir nichts dir nichts einen Ziegelstein und schmiß ihn auf den Gefängnisdirektor, ohne daß dieser ihm irgendwas getan hätte. Und wie er den Stein schleuderte: er zielte absichtlich einen ganzen Arschin vorbei, um den Mann ja nicht zu verletzen! Nun, man weiß ja, was mit einem Arrestanten geschieht, der einen Vorgesetzten mit bewaffneter Hand überfällt; so ›nahm er das Leiden auf sich‹. Nun habe ich auch den Mikolka in Verdacht, daß er ›das Leiden auf sich nehmen‹ will, oder etwas Ähnliches. Es ist ganz gewiß so, ich habe sogar Beweise dafür. Er selbst weiß nur nicht, daß ich es weiß. Was, Sie werden wohl nicht zugeben, daß aus solch einem Volke so phantastische Menschen hervorgehen können? Das sehen wir aber auf Schritt und Tritt. Der fromme Greis hat jetzt wieder Einfluß auf ihn: besonders nach dem Selbstmordversuch muß er wohl immer wieder an ihn denken. Übrigens wird er mir das alles selbst erzählen, er wird schon kommen. Sie glauben, er wird es aushalten können? Warten Sie nur, er wird schon widerrufen! Von Stunde zu Stunde warte ich, daß er seine Aussage zurücknimmt. Diesen Mikolka habe ich liebgewonnen und will ihn genau erforschen. Und was glauben Sie! He-he! Auf manche Punkte gibt er mir recht vernünftige Antworten. Offenbar hat er die nötigen Mitteilungen bekommen und hat sich geschickt auf alles vorbereitet; bei anderen Punkten blamiert er sich aber furchtbar, weiß gar nichts, hat keinen blauen Dunst und ahnt nicht mal, daß er keinen blauen Dunst hat! Nein, Väterchen Rodion Romanowitsch, Mikolka war es nicht! Es ist eine phantastische, finstere Sache, eine moderne, zeitgemäße Sache, ein Fall, wo das menschliche Herz sich getrübt hat; wo die Phrase zitiert wird, daß das vergossene Blut ›erfrischt‹. Wo gepredigt wird, daß das Wichtigste im Leben der Komfort sei. Hier sind aus Büchern geschöpfte Gedanken, hier ist ein von Theorien gereiztes Herz; hier sieht man die Entschlossenheit zum ersten Schritt, aber eine Entschlossenheit besondrer Art, der Mensch faßt den Entschluß genau so, wie er von einem Berge herunterspringt oder sich von einem Glockenturme stürzt; er ist auch nicht mit eigenen Beinen zum Verbrechen gekommen. Er vergaß, die Tür hinter sich zu schließen, hat aber einen Mord begangen, hat zwei Menschen ermordet, nach der Theorie. Er hat gemordet, hat aber nicht verstanden, das Geld zu nehmen, und was er in der Eile erwischt hat, das hat er unter den Stein getan. Es genügte ihm wohl nicht, daß er die Qual durchgemacht hat, als er hinter der Tür stand und man die Tür aufzubrechen versuchte und an der Klingel riß, – nein, er kam dann noch einmal in die leere Wohnung, halb bewußtlos, um die Klingel noch einmal zu hören; er hatte das Bedürfnis, wieder die Kälte im Rücken zu fühlen ... Nun, nehmen wir an, daß er das alles im krankhaften Zustande gemacht hat; aber noch eins: er hat den Mord begangen, hält sich aber für einen anständigen Menschen, verachtet alle, schwebt als bleicher Engel daher, – nein, es ist nicht Mikolka, liebster Rodion Romanowitsch, es ist nicht Mikolka!«
Diese letzten Worte waren nach allem, was er früher gesagt und was wie eine Verleugnung des ursprünglichen Verdachts geklungen hatte, gar zu unerwartet. Raskolnikow erzitterte am ganzen Körper, wie von einem Pfeil getroffen.
»Also ... wer hat dann ... gemordet? ...« fragte er mit erstickender Stimme, da er sich nicht länger beherrschen konnte.
Porfirij Petrowitsch warf sich in die Stuhllehne zurück, als wären ihm diese Worte unerwartet gekommen und als hätte ihn die Frage überrascht.
»Wer gemordet hat? ...« wiederholte er, als traue er seinen Ohren nicht. »Sie haben doch gemordet, Rodion Romanowitsch! Sie haben gemordet ...« fügte er fast im Flüstertone, vollkommen überzeugt hinzu.
Raskolnikow sprang vom Sofa auf, stand einige Sekunden da – und setzte sich wieder, ohne ein Wort zu sagen. Sein ganzes Gesicht zuckte wie im Krampfe.
»Die Lippe zuckt ganz wie damals«, murmelte Porfirij Petrowitsch, scheinbar mit Teilnahme. »Sie haben mich, scheint es, nicht richtig verstanden, Rodion Romanowitsch«, fügte er nach einer Weile hinzu, »und darum sind Sie so erstaunt. Ich bin ja gerade darum gekommen, um alles auszusprechen und die Sache ganz offen zu behandeln«.
»Ich habe nicht gemordet«, flüsterte Raskolnikow wie ein erschrockenes kleines Kind, das man auf frischer Tat ertappt hat.
»Doch, Sie waren es, Rodion Romanowitsch, nur Sie und niemand anders«, flüsterte Porfirij streng und überzeugt.
Beide schwiegen, und das Schweigen dauerte erstaunlich lange, fast zehn Minuten. Raskolnikow hatte sich auf den Tisch gestützt und zerzauste sich schweigend mit den Fingern das Haar. Porfirij Petrowitsch saß ruhig da und wartete. Raskolnikow blickte ihn plötzlich verächtlich an.
»Sie kommen wieder mit Ihren alten Geschichten, Porfirij Petrowitsch! Immer die gleichen Kunststücke! Wird Ihnen das nicht zu dumm?«
»Ach, hören Sie auf, was brauche ich jetzt Kunststücke? Etwas anderes wäre, wenn Zeugen dabei wären; wir sitzen aber unter vier Augen da und flüstern. Sie sehen doch selbst, daß ich nicht gekommen bin, um Sie zu hetzen und zu jagen wie einen Hasen. Ob Sie gestehen oder nicht, ist mir augenblicklich einerlei. Ich persönlich bin auch ohne Ihr Geständnis überzeugt.«
»Wenn dem so ist, warum sind Sie dann hergekommen?« fragte Raskolnikow gereizt. »Ich richte an Sie die frühere Frage: Wenn Sie mich für schuldig halten, warum sperren Sie mich dann nicht ein?«
»Nun, das ist mal eine vernünftige Frage! Die will ich Ihnen auch Punkt für Punkt beantworten. Erstens ist es für mich nicht vorteilhaft, Sie sofort zu verhaften.«
»Warum ist es nicht vorteilhaft? Wenn Sie überzeugt sind, so müssen Sie doch ...«
»Ach, was macht es, daß ich überzeugt bin? Das ist ja vorläufig nur eine Phantasie von mir. Und was soll ich Sie auch einsperren, damit Sie dort Ruhe haben? Das wissen Sie doch selbst, wenn Sie darauf so bestehen. Wenn ich zum Beispiel den Kleinbürger herbringe, damit er Sie überführt, und Sie ihm sagen: ›Bist du betrunken oder was? Wer hat mich mit dir gesehen? Ich habe dich einfach für betrunken gehalten, und du warst auch betrunken‹ – nun, was soll ich Ihnen darauf antworten, um so mehr, als Ihre Aussage viel wahrscheinlicher klingt als die seinige; denn seine Aussage beruht nur auf Psychologie, was zu seiner Fratze nicht mal paßt, während Sie das Richtige treffen: der Kerl ist ja wirklich ein Säufer und als solcher bekannt. Ich habe ja auch selbst einigemal zugegeben, daß die Psychologie zwei Enden hat und daß das zweite Ende das dickere ist und viel mehr Wahrscheinlichkeit für sich hat und daß ich sonst vorläufig keine anderen Beweise gegen Sie habe. Obwohl ich Sie einmal wirklich einsperren werde und sogar selbst hergekommen bin, um Ihnen das mitzuteilen (was sonst doch gar nicht üblich ist), sage ich Ihnen ganz offen (was ja gleichfalls nicht üblich ist), daß es für mich unvorteilhaft ist. Und zweitens, bin ich darum zu Ihnen gekommen ...«
»Ja, und zweitens?« (Raskolnikow rang noch immer um Atem.)
»Zweitens, weil ich Ihnen, wie ich schon vorher gesagt habe, eine Erklärung schulde. Ich will nicht, daß Sie mich für einen Unmenschen halten, um so mehr als ich Ihnen aufrichtig gewogen bin, ob Sie es glauben oder nicht. Infolgedessen bin ich, drittens, mit einem offenen und direkten Vorschlag gekommen, daß Sie sich selbst anzeigen und ein Geständnis ablegen. Dies wird für Sie unendlich vorteilhafter sein, ebenso auch für mich, denn dann bin ich die Sache los. Nun, habe ich aufrichtig gesprochen oder nicht?«
Raskolnikow dachte eine Weile nach.
»Hören Sie mal, Porfirij Petrowitsch, Sie sagen ja selbst, daß Sie alles auf Psychologie begründen; da sind Sie aber schon bei der Mathematik angelangt. Was, wenn Sie sich irren?«
»Nein, Rodion Romanowitsch, ich irre mich nicht. Ich habe so ein Endchen in der Hand. Dieses Endchen habe ich schon damals gefunden, Gott selbst hat es mir geschickt!«
»Was für ein Endchen?«
»Das will ich Ihnen nicht sagen, Rodion Romanowitsch. Auch habe ich jetzt in keinem Falle das Recht, die Sache noch hinauszuschieben; ich werde Sie einsperren. Überlegen Sie es sich selbst: mir ist es jetzt doch ganz einerlei, folglich tue ich es nur für Sie. Bei Gott, so wird es besser für Sie sein, Rodion Romanowitsch!«
Raskolnikow lächelte gehässig.
»Es ist doch nicht bloß lächerlich, es ist auch unverschämt. Selbst wenn ich wirklich schuldig wäre (was ich aber gar nicht sage), warum sollte ich dann Ihnen ein Geständnis ablegen, wenn Sie selbst sagen, daß ich sowieso im Zuchthause zur Ruhe komme?«
»Ach, Rodion Romanowitsch, trauen Sie doch nicht jedem Worte; vielleicht wird es auch gar keine Ruhe sein! Das ist ja bloß eine Theorie, und dazu nur eine von mir; was bin ich aber für eine Autorität für Sie? Vielleicht verheimliche ich auch jetzt noch etwas vor Ihnen? Ich kann doch wirklich nicht alles vor Ihnen auskramen, he-he! Die zweite Frage ist: Welchen Vorteil werden Sie davon haben? Wissen Sie denn auch, was für eine Strafermäßigung Ihnen gewährt werden kann? Bedenken Sie doch, in was für einem Augenblick Sie mit Ihrem Geständnis kommen! Ich bitte Sie! In einem Augenblick, wo schon ein anderer das Verbrechen auf sich genommen und die ganze Sache verwirrt hat! Ich schwöre Ihnen aber bei Gott, daß ich ›dort‹ alles so einrichten und arrangieren werde, daß Ihr Geständnis ganz unerwartet erscheinen wird. Diese ganze Psychologie wollen wir ganz streichen, alle gegen Sie vorliegenden Verdachtsmomente werde ich vernichten, so daß Ihr Verbrechen wie eine Verblendung erscheinen wird, denn, die Wahrheit zu sagen: es war wirklich eine Verblendung. Ich bin ein ehrlicher Mensch, Rodion Romanowitsch, und werde mein Wort halten.«
Raskolnikow schwieg traurig und ließ den Kopf sinken; er dachte lange nach und lächelte wieder; sein Lächeln war aber jetzt ganz sanft und traurig.
»Ach, das ist nicht nötig!« sagte er, als ob er vor Porfirij nichts mehr verheimlichen wollte. »Es lohnt sich nicht, ich will Ihre Strafermäßigung nicht!«
»Das fürchte ich eben!« rief Porfirij erregt, wie unwillkürlich. »Das fürchte ich eben, daß Sie unsere Strafermäßigung nicht wollen.«
Raskolnikow sah ihn traurig und durchdringend an.
»Ach, verschmähen Sie das Leben nicht!« fuhr Porfirij fort. »Es steht Ihnen noch viel davon bevor. Warum wollen Sie keine Strafermäßigung, warum nicht? Was sind Sie für ein ungeduldiger Mensch!«
»Wovon steht mir viel bevor?«
»Vom Leben! Sind Sie denn ein Prophet, wissen Sie denn viel? Suchet und ihr werdet finden. Vielleicht hat Sie Gott gerade hier erwartet. Sie werden ja auch nicht ewig an der Kette sitzen.«
»Ich bekomme ja eine Ermäßigung ...« bemerkte Raskolnikow lachend.
»Fürchten Sie vielleicht die bürgerliche Schande? Es ist möglich, daß Sie sie fürchten und es selbst nicht wissen, denn Sie sind noch jung! Und doch sind Sie nicht der Mensch, der es fürchten oder sich schämen sollte, mit einem Geständnis zu kommen.«
»Ach, ich spucke drauf!« flüsterte Raskolnikow verächtlich und angeekelt, als wollte er nicht mehr sprechen.
Er war schon aufgestanden, als ob er irgendwohin gehen wollte, setzte sich aber in sichtlicher Verzweiflung wieder hin ...
»Ja, Sie spucken drauf! Sie haben jeden Glauben verloren und meinen, daß ich Ihnen roh schmeichele. Haben Sie denn schon lange gelebt? Verstehen Sie viel? Er hat sich eine Theorie zurechtgelegt und schämt sich plötzlich, daß sie zusammengestürzt ist und daß es so gar nicht originell herauskam! Es kam wirklich gemein heraus, das ist wahr, aber Sie sind trotzdem kein hoffnungsloser Schuft. Sie sind gar nicht solch ein Schuft! Sie haben sich wenigstens nicht lange an der Nase herumgeführt, sind gleich bis zu der letzten Grenze gegangen. Für was halte ich Sie denn? Ich halte Sie für einen Menschen, dem man die Gedärme herausschneiden kann, der aber ruhig dastehen und seine Peiniger lächelnd ansehen wird – wenn er nur einen Glauben oder einen Gott findet. Nun, finden Sie ihn auch, und Sie werden leben. Vor allen Dingen brauchen Sie schon längst eine Luftveränderung. Nun, das Leiden ist eine gute Sache. Nehmen Sie doch auch ein Leiden auf sich. Mikolka hat vielleicht recht, daß er nach Leiden strebt. Ich weiß, daß Sie nicht glauben können; philosophieren Sie aber nicht; geben Sie sich dem Leben einfach, ohne zu grübeln hin; Sie können unbesorgt sein, es wird Sie schon an irgendein Ufer bringen und auf die Beine stellen. An was für ein Ufer? Wie soll ich das wissen? Ich glaube nur, daß Sie noch lange zu leben haben. Ich weiß, Sie nehmen jetzt alle meine Worte als eine auswendig gelernte Moralpredigt hin; vielleicht werden Sie sich ihrer aber erinnern und aus ihnen Nutzen ziehen; darum spreche ich auch. Es ist noch gut, daß Sie nur so eine elende Alte ermordet haben. Hätten Sie sich eine andere Theorie erdacht, so wären Sie imstande, etwas hundertmillionenmal Schlimmeres zu begehen! Man muß vielleicht noch Gott danken; woher wissen Sie es: vielleicht hebt Sie Gott für etwas auf. Seien Sie doch großherziger und fürchten Sie weniger. Fürchten Sie vielleicht die Größe der kommenden Erfüllungen? Nein, in diesem Falle sollten Sie sich schämen, zu fürchten. Wenn Sie diesen Schritt schon einmal gemacht haben, so müssen Sie sich zusammennehmen. Das verlangt die Gerechtigkeit. Erfüllen Sie mal das, was die Gerechtigkeit verlangt. Ich weiß, daß Sie nicht glauben, aber bei Gott, das Leben wird Sie schon an ein Ufer bringen. Sie werden daran später auch selbst Gefallen haben. Jetzt brauchen Sie bloß Luft, Luft, Luft!«
Raskolnikow fuhr sogar zusammen.
»Ja, wer sind Sie denn?« rief er aus. »Was sind Sie für ein Prophet? Was ist das für eine majestätische Ruhe, von deren Höhe herab Sie mir Ihre weisen Prophezeiungen verkünden?«
»Wer ich bin? Ein erledigter Mensch und sonst nichts. Ein Mensch, der vielleicht fühlt und mitfühlt, der vielleicht auch manches weiß, aber schon vollkommen erledigt ist. Sie sind aber eine ganz andere Nummer; Gott hat für Sie ein Leben vorbereitet (wer weiß, vielleicht wird sich bei Ihnen alles auch nur in Rauch auflösen). Nun, was macht's, daß Sie in eine andere Klasse von Menschen übergehen werden? Sie werden doch nicht den Komfort beweinen, Sie, mit Ihrem Herzen! Was macht's, daß man Sie vielleicht lange nicht mehr sehen wird? Es handelt sieh doch nicht um die Zeit, sondern um Sie selbst. Werden Sie zu einer Sonne, dann werden alle Sie sehen. Die Sonne muß vor allen Dingen eine Sonne sein! Was lächeln Sie schon wieder: daß ich wie ein Schiller rede? Ich wette, Sie glauben, daß ich Ihnen wieder schmeichle! Nun, vielleicht will ich Ihnen wirklich bloß schmeicheln, he-he-he! Sie dürfen mir, Rodion Romanowitsch, vielleicht auch nicht aufs Wort glauben, Sie dürfen mir auch überhaupt nicht glauben, so ist schon mal meine Art, ich gebe es zu; aber eines will ich nur noch sagen: ob ich ein gemeiner oder ein anständiger Mensch bin, das können Sie, glaube ich, selbst entscheiden!«
»Wann gedenken Sie mich zu verhaften?«
»Ja, so an die anderthalb oder zwei Tage lasse ich Sie noch frei herumlaufen. Denken Sie nach, mein Liebster, beten Sie zu Gott. So ist es auch vorteilhafter, bei Gott, vorteilhafter.«
»Wenn ich aber davonlaufe?« fragte Raskolnikow mit einem eigentümlichen Lächeln.
»Nein, Sie werden nicht davonlaufen. Ein Bauer wird davonlaufen, ein moderner Sektierer wird davonlaufen, ein Lakai fremder Gedanken, dem man nur ein Endchen von einem Finger zu zeigen braucht, damit er alles glaubt. Sie aber glauben auch an Ihre eigene Theorie nicht mehr – womit wollen Sie dann davonlaufen? Und was sollen Sie auch auf der Flucht tun? Auf der Flucht ist das Leben widerwärtig und schwer. Sie aber brauchen Leben, Sie brauchen eine bestimmte Lage, eine entsprechende Luft; ist aber die Luft auf der Flucht was für Sie? Sie werden entlaufen und dann selbst zurückkommen. Ohne uns können Sie nicht auskommen. Wenn ich Sie aber ins Gefängnis sperre, so werden Sie einen Monat, meinetwegen auch zwei oder drei Monate sitzen und dann plötzlich – denken Sie an meine Worte – selbst mit Ihrem Geständnis kommen, vielleicht sogar für Sie selbst unerwartet. Eine Stunde vorher werden Sie vielleicht noch selbst nicht wissen, daß Sie mit dem Geständnis kommen werden. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie sich entschließen werden, ›das Leiden auf sich zu nehmen‹; jetzt glauben Sie mir nicht, und doch werden Sie selbst darauf kommen. Denn das Leiden ist eine große Sache, Rodion Romanowitsch; schauen Sie jetzt nicht darauf, daß ich so verfettet bin, das macht nichts, dafür weiß ich manches; lachen Sie nicht darüber, auch im Leiden steckt eine Idee. Mikolka hat recht. Nein, Sie werden nicht davonlaufen, Rodion Romanowitsch.«
Raskolnikow erhob sich von seinem Platz und nahm die Mütze. Auch Porfirij Petrowitsch stand auf.
»Sie wollen etwas spazieren gehen? Der Abend wird schön werden; daß nur kein Gewitter kommt! Übrigens wäre es sogar besser, wenn es die Luft etwas abkühlte ...«
Auch er griff nach seiner Mütze.
»Porfirij Petrowitsch, bilden Sie sich, bitte, ja nicht ein, daß ich Ihnen heute ein Geständnis abgelegt habe«, sagte Raskolnikow mit strenger Hartnäckigkeit. »Sie sind ein sonderbarer Mensch, und ich habe Ihnen bloß aus Neugierde zugehört. Doch ich habe Ihnen nichts gestanden ... Merken Sie sich das.«
»Gut, ich weiß es schon, ich werde es mir merken – sieh ihn nur einer an, wie er zittert. Seien Sie unbesorgt, mein Lieber, Ihr Wille geschehe. Spazieren Sie noch etwas frei herum, aber zu viel dürfen Sie nicht herumlaufen. Für jeden Fall habe ich noch eine Bitte an Sie,« fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu, eine peinliche, aber wichtige Bitte: »für den Fall (an dessen Möglichkeit ich übrigens nicht glaube und dessen ich Sie nicht für fähig halte), für den Fall – nun für jeden Fall –, wenn es Ihnen im Laufe dieser vierzig oder fünfzig Stunden einfiele, der Sache irgendwie anders, auf eine phantastische Weise ein Ende zu machen – zum Beispiel das Händchen an sich zu legen (eine ganz unsinnige Annahme, aber Sie müssen mir schon verzeihen), so hinterlassen Sie, bitte, einen kurzen, aber ausführlichen Bericht, so an die zwei Zeilen, bloß zwei Zeilen, und erwähnen Sie auch das vom Stein; so wird es anständiger sein. Nun, auf Wiedersehen ... Ich wünsche Ihnen gute Gedanken und segensreiches Beginnen!«
Porfirij ging seltsam geduckt hinaus und vermied scheinbar, Raskolnikow anzublicken. Raskolnikow trat ans Fenster und wartete gereizt und ungeduldig, bis jener auf die Straße kam und sich vom Hause entfernt hatte. Dann verließ auch er schnell das Zimmer.
Er eilte zu Swidrigailow. Was er sich von diesem Menschen erhoffen konnte, das wußte er selbst nicht. Doch in diesem Menschen lag irgendeine Gewalt über ihn. Als er das einmal erkannt hatte, konnte er sich nicht mehr beruhigen; nun war auch dazu die Zeit gekommen.
Unterwegs quälte ihn besonders eine Frage: ob Swidrigailow bei Porfirij gewesen war?
Soweit er es beurteilen konnte, und das hätte er auch beschwören können – war er bei ihm noch nicht gewesen! Er überlegte es sich noch einmal, ließ sich die ganze Szene mit Porfirij wieder durch den Kopf gehen und kam zur Einsicht: nein, er war nicht bei ihm gewesen, ganz gewiß nicht!
Aber wenn er noch nicht gewesen ist, wird er noch zu Porfirij hingehen oder nicht?
Vorläufig schien es ihm, daß er nicht hingehen würde. Warum? Er hätte sich auch dies nicht erklären können, aber selbst wenn er es sich erklären könnte, wollte er sich jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Dies alles quälte ihn, und doch kümmerte er sich darum nicht. Es war so seltsam, und niemand würde es vielleicht glauben können, aber für sein jetziges, unmittelbar bevorstehendes Schicksal hatte er nur ein zerstreutes, schwaches Interesse. Ihn quälte etwas anderes, etwas viel Wichtigeres, etwas Außerordentliches, etwas, was ebenfalls nur ihn allein und niemand anders anging, aber etwas ganz anderes, etwas Entscheidendes. Außerdem spürte er eine grenzenlose seelische Ermattung, obwohl sein Verstand an diesem Morgen besser arbeitete als in allen diesen letzten Tagen.
Lohnte es sich aber auch jetzt, nach allem, was vorgefallen war, alle diese neuen lächerlichen Schwierigkeiten zu besiegen? Lohnte es sich zum Beispiel zu intrigieren, damit Swidrigailow nicht zu Porfirij gehe? zu studieren, auszukundschaften, seine Zeit zu verlieren für einen Swidrigailow?
Oh, wie er dieser Dinge schon überdrüssig war!
Und doch eilte er zu Swidrigailow; erwartete er von ihm vielleicht etwas Neues, einen Fingerzeig, einen Ausweg? Der Mensch greift aber manchmal auch nach einem Strohhalm! War es vielleicht das Schicksal oder irgendein Instinkt, was sie jetzt zusammenführte? Vielleicht war es nur eine Ermattung, eine Verzweiflung; vielleicht brauchte er jetzt gar nicht Swidrigailow, sondern einen andern Menschen, und Swidrigailow war ihm nur zufällig in den Weg gekommen? Ssonja? Ja, was hätte er jetzt zu Ssonja gehen sollen? Um sie wieder um ihre Tränen zu bitten? Ssonja war ihm auch schrecklich. Ssonja war für ihn ein unerbittlicher Urteilsspruch, ein unabänderlicher Entschluß. Es galt die Wahl zwischen ihrem und seinem Weg. Besonders in diesem Augenblick wäre er nicht imstande, sie zu sehen. Nein, wäre es nicht besser, Swidrigailow auf die Probe zu stellen: was an ihm sei? Und er konnte nicht umhin, sich innerlich einzugestehen, daß er Swidrigailow schon längst zu etwas brauchte.
Aber was konnte zwischen ihnen Gemeinsames sein? Selbst ihre Verbrechen konnten einander nicht gleichen. Dieser Mensch war ihm außerdem unangenehm, offenbar äußerst verdorben, ganz gewiß schlau und verlogen, vielleicht auch sehr bösartig. Von ihm wurde doch manches erzählt. Allerdings hatte er sich der Kinder Katerina Iwanownas angenommen; aber wer weiß, was er damit bezweckte und was es zu bedeuten hatte? Dieser Mensch hatte immer irgendwelche Absichten und Projekte.
In allen diesen Tagen ging Raskolnikow unablässig ein gewisser Gedanke durch den Kopf, der ihn furchtbar beunruhigte, obwohl er sich sogar bemühte, ihn von sich zu verscheuchen – so schwer war ihm dieser Gedanke! Er dachte sich zuweilen: Swidrigailow bemühte und bemüht sich auch jetzt noch, ständig in seiner Nähe zu sein; Swidrigailow hat sein Geheimnis erfahren; Swidrigailow hat irgendwelche Absichten gegen Dunja gehabt. Und was, wenn er sie auch jetzt noch hat? Man kann doch fast mit Bestimmtheit sagen, daß er sie hat? Und was, wenn er jetzt, wo er sein Geheimnis erfahren und auf diese Weise eine Macht über ihn erhalten hat, diese Macht als eine Waffe gegen Dunja gebrauchen wird?
Dieser Gedanke quälte ihn zuweilen sogar im Traume, doch nie war er ihm so deutlich zum Bewußtsein gekommen wie jetzt, wo er auf dem Wege zu Swidrigailow war. Schon dieser Gedanke allein versetzte ihn in düstere Wut. Erstens würde sich dann alles sofort verändern, sogar seine eigene Lage; darum muß er das Geheimnis sofort Dunja mitteilen. Vielleicht muß er sich auch selbst ausliefern, um Dunja von irgendeinem unbedachten Schritte zurückzuhalten. Der Brief? Dunja hat heute früh irgendeinen Brief erhalten! Von wem in Petersburg kann sie Briefe erhalten? (Vielleicht von Luschin?) Allerdings paßt da Rasumichin auf, aber Rasumichin weiß nichts. Vielleicht sollte er alles auch Rasumichin enthüllen? Dieser Gedanke war ihm widerwärtig.
Jedenfalls mußte er Swidrigailow so schnell als möglich sehen, – das war sein endgültiger Entschluß. Gott sei Dank, es war hier weniger um die Einzelheiten als um den Kern der Sache zu tun; aber wenn er schon fähig ist, wenn Swidrigailow etwas gegen Dunja im Schilde führt, so ...
Raskolnikow war während dieser Zeit, während des letzten Monats so müde geworden, daß er ähnliche Fragen nicht mehr anders lösen konnte als auf die eine Weise: »Dann töte ich ihn!« Das sagte er sich auch jetzt in kalter Verzweiflung, Ein unerträgliches Gefühl preßte ihm das Herz zusammen; er blieb mitten auf der Straße stehen und begann sich umzusehen: welchen Weg er eingeschlagen hat und wohin er geraten ist? Er befand sich auf dem *schen Prospekt, an die dreißig oder vierzig Schritte vom Heumarkt entfernt, den er schon passiert hatte. Der ganze erste Stock des Hauses links von ihm war von einer Gastwirtschaft eingenommen. Alle Fenster standen weit offen; nach den vielen Gestalten zu urteilen, die an den Fenstern vorbeihuschten, war das Wirtshaus gesteckt voll. Im Saale sang ein Chor, klangen eine Klarinette, eine Geige und dröhnte eine türkische Trommel. Man hörte auch Weibergekreisch. Er wollte schon umkehren und begriff nicht, wie er auf den *schen Prospekt geraten war, als er plötzlich in einem der letzten offenen Fenster des Wirtshauses Swidrigailow erblickte, der mit einer Pfeife im Munde hinter einem Teetischchen saß. Dies verblüffte ihn, er spürte beinahe Entsetzen. Swidrigailow beobachtete und musterte ihn schweigend und wollte, was Raskolnikow gleichfalls in Erstaunen versetzte, wie es schien, aufstehen, um sich leise und unbemerkt aus dem Staube zu machen. Raskolnikow stellte sich sofort so, als hätte er ihn gar nicht bemerkt, und blickte nachdenklich zur Seite, fuhr aber fort, ihn mit einem Augenwinkel zu beobachten. Sein Herz klopfte unruhig. Es stimmte: Swidrigailow wollte offenbar nicht gesehen werden. Er nahm die Pfeife aus dem Munde und schickte sich schon an, zu verschwinden; als er aber aufgestanden war und den Stuhl zur Seite geschoben hatte, merkte er wohl plötzlich, daß Raskolnikow ihn sah und beobachtete. Es war wieder so wie bei ihrer ersten Begegnung bei Raskolnikow, als er schlief. Ein schelmisches Lächeln zeigte sich auf Swidrigailows Gesicht, und es wurde immer breiter. Beide wußten, daß sie einander gesehen und beobachtet hatten. Schließlich lachte Swidrigailow laut auf.
»Nun! Kommen Sie doch herauf, wenn Sie wollen; ich bin hier!« rief er ihm aus dem Fenster zu.
Raskolnikow ging in das Wirtshaus hinauf.
Er fand ihn in einem sehr kleinen einfenstrigen Hinterzimmer, das an den großen Saal anstieß, in dem an etwa zwanzig kleinen Tischen beim verzweifelten Geschrei eines Sängerchors Kaufleute, Beamte und allerlei Leute Tee tranken. Irgendwo klapperten Billardkugeln. Auf dem Tischchen vor Swidrigailow standen eine angefangene Flasche Champagner und ein halbgefülltes Glas. In dem kleinen Zimmer befanden sich noch ein Junge mit einer kleinen Drehorgel und ein kräftiges rotbackiges Mädel mit aufgestecktem Rock und einem Tiroler Hütchen mit Bändern auf dem Kopfe, eine etwa achtzehnjährige Sängerin, die, trotz des Chorgesanges im anderen Zimmer, zur Begleitung der Drehorgel mit einer ziemlich heiseren Kontraaltstimme irgendein Lakaienlied sang ...
»Nun, genug!« unterbrach Swidrigailow sie bei Raskolnikows Erscheinen.
Das Mädchen brach sofort ab und blieb in respektvoller Erwartung stehen. Auch ihr Lakaienlied hatte sie mit einer ernsten und respektvollen Miene gesungen.
»He, Philipp, noch ein Glas!« rief Swidrigailow.
»Ich werde nicht trinken«, sagte Raskolnikow.
»Wie Sie wollen, es ist nicht für Sie. Trink, Katja! Heute brauche ich von dir nichts mehr, geh!«
Er schenkte ihr ein volles Glas ein und legte einen gelben Rubelschein auf den Tisch. Katja trank das Glas auf einmal aus, wie Frauen immer zu trinken pflegen, das heißt, ohne es abzusetzen und zwanzigmal schluckend, nahm das Geld, küßte Swidrigailow die Hand, was er ihr mit höchst ernstem Gesicht gewährte, und ging aus dem Zimmer; ihr folgte auch der Junge mit der Drehorgel. Beide waren von der Straße heraufgeholt worden. Swidrigailow befand sich noch nicht mal eine Woche in Petersburg, aber um ihn herum herrschte schon eine patriarchalische Stimmung. Auch der Wirtshauskellner Philipp war schon sein »Bekannter« und bediente ihn höchst unterwürfig. Die Tür zum großen Saal wurde geschlossen, Swidrigailow benahm sich in diesem Zimmer wie zu Hause und verbrachte hier vielleicht ganze Tage. Das Wirtshaus war schmutzig, gemein und nicht mal zweiklassig.
»Ich ging zu Ihnen und suchte Sie«, begann Raskolnikow. »Warum bin ich aber jetzt vom Heumarkt in den *schen Prospekt abgebogen? Ich biege hier nie ein und komme nie her. Ich pflege vom Heumarkt immer nach rechts abzubiegen. Der Weg zu Ihnen führt hier auch gar nicht vorbei. Kaum bog ich ein, als ich Sie sofort erblickte! Das ist doch seltsam!«
»Warum sagen Sie nicht gleich: es ist ein Wunder?«
»Weil es vielleicht nur ein Zufall ist.«
»Was für eine merkwürdige Art haben all diese Leute!« sagte Swidrigailow, laut auflachend. »Er will nicht zugeben, selbst wenn er innerlich an ein Wunder glaubt! Sie sagen ja selbst, daß es ›vielleicht‹ nur ein Zufall sei. Wie sie hier alle fürchten, ihre eigene Meinung zu haben, das können Sie sich gar nicht vorstellen, Rodion Romanowitsch! Ich meine nicht Sie. Sie haben wohl eine eigene Meinung und fürchten nicht, sie zu haben. Dadurch haben Sie auch mein Interesse geweckt.«
»Sonst durch nichts?«
»Das genügt doch schon allein.«
Swidrigailow war offenbar in erregtem Zustande, doch nur ein klein wenig. Vom Champagner hatte er nur ein halbes Glas getrunken.
»Mir scheint, Sie kamen zu mir das erste Mal, noch ehe Sie erfahren hatten, ob ich fähig sei, das, was Sie eine eigene Meinung nennen, zu haben«, bemerkte Raskolnikow.
»Nun, damals war es eine andere Sache. Jeder hat seine eigenen Wege. Und was das Wunder betrifft, so will ich Ihnen sagen, daß Sie die letzten zwei oder drei Tage wohl verschlafen haben. Ich habe Ihnen selbst dieses Wirtshaus genannt, und es ist also gar kein Wunder dabei, daß Sie hergekommen sind: ich habe Ihnen selbst den Weg erklärt, die Stelle angegeben, wo es sich befindet, und die Stunden, wo ich hier zu treffen bin. Wissen Sie es noch?«
»Ich habe es vergessen«, sagte Raskolnikow erstaunt.
»Das glaube ich. Zweimal habe ich es Ihnen gesagt. Die Adresse hat sich Ihrem Gedächtnis rein mechanisch eingeprägt. Sie haben diesen Weg mechanisch eingeschlagen, streng nach der Adresse, ohne es selbst zu wissen. Als ich es Ihnen damals sagte, hoffte ich gar nicht, daß Sie mich verstehen würden. Sie verraten sich allzusehr, Rodion Romanowitsch. Und dann noch eins: ich bin überzeugt, daß es in Petersburg viele Menschen gibt, die im Gehen mit sich selbst sprechen. Es ist eine Stadt von Halbverrückten. Wenn es bei uns Wissenschaften gäbe, so hätten die Mediziner, Juristen und Philosophen die wertvollsten Untersuchungen über Petersburg anstellen können, ein jeder in seinem Fache. Selten wo gibt es so viel düstere, scharfe und sonderbare Einflüsse auf die Menschenseele wie in Petersburg. Was sind schon die klimatischen Einflüsse allein wert! Dabei ist Petersburg das administrative Zentrum Rußlands, und sein Charakter muß überall zum Ausdruck kommen. Es handelt sich aber nicht darum, sondern, daß ich Sie schon einigemal von der Seite beobachtet habe. Wenn Sie aus dem Hause treten, halten Sie den Kopf noch gerade. Aber nach zwanzig Schritten lassen Sie ihn sinken und verschränken die Hände im Rücken. Sie schauen vor sich und scheinen doch weder vor sich noch neben sich etwas zu sehen. Zuletzt fangen Sie an, die Lippen zu bewegen und mit sich selbst zu sprechen, wobei Sie eine Hand freimachen und deklamieren; endlich bleiben Sie auch lange mitten auf der Straße stehen. Das ist sehr übel. Vielleicht beobachtet Sie auch jemand außer mir, und das wäre sehr unvorteilhaft. Mir ist es im Grunde genommen ganz gleich, und ich werde Sie nicht kurieren, aber Sie verstehen mich natürlich.«
»Und Sie wissen, daß man mich beobachtet?« fragte Raskolnikow und sah ihn prüfend an.
»Nein, ich weiß nichts«, antwortete Swidrigailow wie erstaunt.
»Nun, dann wollen wir mich aus dem Spiele lassen«, murmelte Raskolnikow düster.
»Gut, lassen wir Sie aus dem Spiele.«
»Sagen Sie mir lieber folgendes: Wenn Sie herkommen, um zu trinken und mich selbst zweimal herbestellt haben, warum versuchten Sie dann jetzt, als ich von der Straße durchs Fenster hereinsah, sich zu verstecken, und wollten weggehen? Ich habe es sehr gut bemerkt.«
»He-he! Und warum lagen Sie, als ich auf der Schwelle stand, mit geschlossenen Augen auf Ihrem Sofa und stellten sich schlafend, während Sie gar nicht schliefen? Ich habe es sehr gut bemerkt.«
»Ich konnte ... Gründe haben ... Sie wissen es selbst.«
»Auch ich konnte meine Gründe haben, obwohl Sie sie nicht wissen.«
Raskolnikow stemmte den rechten Ellenbogen gegen den Tisch, stützte mit den Fingern der rechten Hand sein Kinn und sah Swidrigailow unverwandt an. Eine Minute lang betrachtete er dieses Gesicht, das ihn auch früher schon in Staunen gesetzt hatte. Dieses merkwürdige Gesicht erinnerte irgendwie an eine Maske: weiß, rotwangig mit hellroten Lippen, mit hellblondem Vollbart und noch ziemlich dichten hellblonden Haaren. Die Augen waren zu blau und ihr Blick zu schwer und unbeweglich. Etwas furchtbar Unangenehmes lag in diesem hübschen und für sein Alter auffallend jugendlichen Gesicht. Swidrigailows Kleidung war elegant, sommerlich und leicht, besonders viel schien er auf elegante Wäsche zu geben. An einem Finger trug er einen großen Ring mit wertvollem Stein.
»Soll ich mich denn auch noch mit Ihnen plagen?« sagte plötzlich Raskolnikow, mit krampfhafter Ungeduld den geraden Weg einschlagend. »Sie sind vielleicht auch der gefährlichste Mensch, wenn es Ihnen einfällt, mir zu schaden, aber ich möchte nicht noch länger Komödie spielen. Ich will Ihnen gleich zeigen, daß ich um mich selbst gar nicht so besorgt bin, wie Sie wohl annehmen. Hören Sie also: Ich bin gekommen, um Ihnen offen zu erklären, daß, wenn Sie Ihre früheren Absichten gegenüber meiner Schwester noch verfolgen und dabei etwas von dem, was Sie in der jüngsten Zeit erfahren haben, auszunützen gedenken, ich Sie töten werde, bevor Sie mich ins Zuchthaus bringen. Mein Wort ist zuverlässig, Sie wissen, daß ich es wirklich halten werde. Und zweitens, wenn Sie mir irgend etwas erklären wollen – mir schien die ganze Zeit, daß Sie mir etwas sagen möchten –, so erklären Sie es mir schnell, denn die Zeit ist kostbar, und vielleicht wird es sehr bald zu spät sein.«
»Wohin eilen Sie denn so?« fragte Swidrigailow, ihn neugierig betrachtend.
»Ein jeder hat seine Wege«, versetzte Raskolnikow düster und ungeduldig.
»Sie haben mich doch eben selbst zu Offenherzigkeit herausgefordert und wollen schon meine erste Frage nicht beantworten«, bemerkte Swidrigailow mit einem Lächeln. »Sie glauben immer, daß ich irgendwelche Ziele verfolge, und betrachten mich darum argwöhnisch. Nun, in Ihrer Lage ist es ja vollkommen begreiflich. Aber wie sehr ich auch wünschte, Ihnen näherzukommen, werde ich mich doch nicht der Mühe unterziehen, Sie vom Gegenteil zu überzeugen. Bei Gott, das Spiel ist nicht die Kerzen wert, und ich hatte auch nicht die Absicht, mich mit Ihnen über etwas Besonderes zu unterhalten.«
»Wozu brauchen Sie mich dann? Sie scherwenzeln doch die ganze Zeit um mich herum!«
»Sie interessierten mich einfach als ein Beobachtungsobjekt. Sie gefielen mir durch das Phantastische Ihrer Lage, das ist es! Außerdem sind Sie der Bruder der Person, die mich sehr interessierte, und schließlich habe ich von derselben Person seinerzeit sehr viel und oft über Sie gehört, woraus ich schloß, daß Sie auf sie einen großen Einfluß haben; genügt denn das noch nicht? He-he-he! Übrigens muß ich gestehen, daß Ihre Frage für mich sehr kompliziert ist und es mir schwer fällt, sie Ihnen zu beantworten. Zum Beispiel: Sie sind doch jetzt zu mir nicht bloß in der gewissen Angelegenheit gekommen, sondern Sie wollen auch etwas Neues hören. Nicht wahr? Nicht wahr?« sagte Swidrigailow eindringlich, mit einem listigen Lächeln. »Nun, denken Sie sich: ich selbst rechnete während meiner Reise hierher im Eisenbahnwagen darauf, daß auch Sie mir etwas Neues sagen werden und daß es mir gelingen wird, von Ihnen etwas zu profitieren! Sehen Sie, so reich sind wir beide!«
»Was denn profitieren?«
»Was soll ich darauf sagen? Weiß ich denn, was? Sehen Sie doch, in was für einer Spelunke ich die ganze Zeit sitze, und das ist mir ein Genuß, das heißt: weniger ein Genuß, aber der Mensch muß doch irgendwo sitzen. Nehmen wir zum Beispiel diese arme Katja, Sie haben sie doch gesehen? ... Wäre ich doch wenigstens ein Vielfraß, ein Klubmensch und Feinschmecker, aber ich bin imstande, auch solche Sachen zu essen! (Er zeigte mit dem Finger in die Ecke, wo auf einem kleinen Tischchen ein Blechteller mit den Resten eines entsetzlichen Beefsteaks mit Kartoffeln stand.) Übrigens, haben Sie schon zu Mittag gegessen? Ich habe schon einige Bissen heruntergeschluckt und will nicht mehr. Wein zum Beispiel trinke ich gar nicht. Außer Champagner gar keinen, und auch davon trinke ich im Laufe eines ganzen Abends nur ein einziges Glas, und das macht mir Kopfweh. Jetzt ließ ich mir die Flasche bringen, nur um mich etwas zu stärken, denn ich muß irgendwohin gehen, und Sie sehen mich in einer ganz besonderen Geistesverfassung. Darum versteckte ich mich vorhin wie ein Schuljunge, weil ich glaubte, Sie würden mich stören; aber ich denke (er holte seine Uhr hervor), daß ich mit Ihnen noch eine Stunde bleiben kann, jetzt ist es halb fünf. Glauben Sie mir, wenn ich doch irgendwas wäre, ein Gutsbesitzer, meinetwegen ein Familienvater, ein Ulan, ein Photograph, ein Journalist ... aber ich bin nichts, habe gar keine Spezialität! Manchmal langweilt mich das. Wirklich, ich glaubte, Sie würden mir etwas Neues erzählen.«
»Wer sind Sie denn und warum sind Sie nach Petersburg gekommen?«
»Wer ich bin? Sie wissen doch: ich bin adlig, habe zwei Jahre in der Kavallerie gedient, mich dann hier in Petersburg herumgetrieben, habe dann Marfa Petrowna geheiratet und mit ihr auf dem Lande gelebt. Das ist meine Biographie!«
»Ich glaube, Sie sind ein Spieler?«
»Nein, was bin ich für ein Spieler! Ein Falschspieler ist doch kein Spieler.«
»Waren Sie denn Falschspieler?«
»Ja, ich war auch Falschspieler.«
»Nun, haben Sie auch Prügel bekommen?«
»Es kam wohl vor. Warum?«
»Nun, man hätte Sie also auch zum Duell fordern können ... und überhaupt macht es das Leben bewegter.«
»Ich widerspreche Ihnen nicht und bin auch kein Meister im Philosophieren. Ich will Ihnen gestehen, ich bin hauptsächlich wegen der Weiber hergekommen.«
»Gleich nachdem Sie Marfa Petrowna beerdigt haben?«
»Nun ja«, antwortete Swidrigailow und lächelte mit einer Offenheit, die einen entwaffnete. »Was ist denn dabei? Mir scheint, Sie halten es für schlecht, daß ich von den Weibern so rede?«
»Das heißt, ob ich die Ausschweifung für gut oder schlecht halte?«
»Die Ausschweifung! So beurteilen Sie es also! Übrigens will ich Ihnen alles der Reihe nach beantworten, zuerst also über die Frauen im allgemeinen; wissen Sie, ich habe gerade Lust, zu plaudern. Sagen Sie mir, bitte, wozu soll ich mich beherrschen? Warum soll ich die Weiber aufgeben, wenn ich großer Liebhaber von ihnen bin? Es ist doch jedenfalls eine Beschäftigung.«
»Also setzen Sie alle Ihre Hoffnungen auf die Ausschweifung?«
»Nun, warum nicht –, meinetwegen auf die Ausschweifung! Wie Sie sich auf dieses Wort versessen haben! Ja, ich liebe jedenfalls eine offene Frage. In dieser Ausschweifung ist wenigstens etwas Beständiges, das in der Natur begründet und der Phantasie nicht unterworfen ist, etwas, was im Blute ständig wie Kohlenglut glimmt, was ewig anfeuert und sich vielleicht auch mit den Jahren nicht so schnell auslöschen läßt. Sie werden doch zugeben, daß es eine Art Beschäftigung ist?«
»Was freuen Sie sich darüber? Es ist eine Krankheit, und zwar eine gefährliche.«
»Ah, da wollen Sie hinaus! Ich gebe zu, daß es eine Krankheit ist, ebenso wie alles, was über das Maß hinausgeht; darin muß man aber unbedingt über das Maß hinausgehen. Aber das ist, erstens, bei dem einen so und bei dem anderen anders und, zweitens, muß man in allen Dingen Maß halten, und wenn es auch gemein ist, aber was soll man machen? Wäre das nicht, so müßte man sich vielleicht gar erschießen. Ich gebe zu, daß ein anständiger Mensch die Pflicht hat, sich zu langweilen, aber immerhin ...«
»Wären Sie imstande, sich zu erschießen?«
»Ach, warum nicht gar!« erwiderte Swidrigailow wie angeekelt. »Tun Sie mir den Gefallen und sprechen Sie nicht davon«, fügte er hastig und sogar ohne jede Großtuerei hinzu, die sich in allen seinen früheren Worten zeigte. Sogar sein Gesicht schien verändert. »Ich will die unverzeihliche Schwäche eingestehen, aber was soll ich tun; ich fürchte den Tod und liebe es nicht, wenn man von ihm spricht. Wissen Sie, daß ich zum Teil auch Mystiker bin?«
»Aha! Die Erscheinungen Marfa Petrownas! Nun, besucht sie Sie immer noch?«
»Ach, reden Sie lieber nicht davon; in Petersburg habe ich noch keine Erscheinungen gehabt, hol sie der Teufel!« rief er eigentümlich gereizt. »Nein, wollen wir lieber davon ... ja, übrigens ... Hm! Schade, daß ich so wenig Zeit habe und mit Ihnen nicht lange bleiben kann, schade! Ich hätte Ihnen schon manches mitzuteilen.«
»Was ist es denn, eine Weibergeschichte?«
»Ja, eine Weibergeschichte, eine ganz zufällige Sache ... nein, ich meine nicht das.«
»Nun, und das Abstoßende dieser ganzen Umgebung wirkt auf Sie schon gar nicht mehr? Haben Sie schon die ganze Kraft verloren, sich Halt zu gebieten?«
»Und Sie glauben wohl, daß Sie die Kraft haben? He-he! Ich mußte mich über Sie eben wundern, Rodion Romanowitsch, obwohl ich schon vorher wußte, daß es so kommen wird. Sie reden noch von der Ausschweifung und von der Ästhetik! Sie sind ein Schiller, Sie sind ein Idealist! Natürlich muß das alles so sein, und man sollte sich wundern, wenn es anders wäre; und doch ist es in Wirklichkeit so seltsam ... Ach, schade, daß ich so wenig Zeit habe, denn Sie sind ein höchst interessantes Subjekt! Übrigens, lieben Sie Schiller? Ich liebe ihn schrecklich.«
»Was sind Sie doch für ein Großtuer!« sagte Raskolnikow mit einigem Widerwillen.
»Bei Gott, ich bin es nicht!« antwortete Swidrigailow mit lautem Lachen. »Ich will nicht streiten, mag ich ein Großtuer sein; warum soll man es auch nicht sein, wenn es so harmlos ist? Ich habe sieben Jahre bei Marfa Petrowna auf dem Lande gelebt und bin darum froh, etwas plaudern zu können, da ich auf einen so klugen Menschen wie Sie gestoßen bin, auf einen klugen und im höchsten Grade interessanten Menschen; außerdem habe ich dieses halbe Glas Champagner getrunken, und es ist mir ein wenig zu Kopfe gestiegen. Vor allen Dingen gibt es einen Umstand, der mich sehr erregt hat, den ich aber ... verschweigen werde. Wo wollen Sie denn hin?« fragte Swidrigailow plötzlich erschrocken.
Raskolnikow schickte sich an, aufzustehen. Es war ihm so schwül und schwer und peinlich zumute, daß er hergekommen war. Von Swidrigailow hatte er die Überzeugung gewonnen, daß er der hohlste und flachste Schurke in der ganzen Welt sei.
»Ach! Bleiben Sie noch da«, bat ihn Swidrigailow. »Und lassen Sie sich wenigstens Tee bringen. Nun, bleiben Sie da, ich werde keinen Unsinn mehr schwatzen, das heißt: über mich. Ich will Ihnen etwas erzählen. Nun, wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen, wie mich eine Frau, wie Sie es so nennen, ›retten‹ wolltet Das wird eine Antwort auf Ihre erste Frage sein, denn diese Person ist Ihre Schwester. Darf ich es erzählen? So schlagen wir auch die Zeit tot.«
»Erzählen Sie; aber ich hoffe, daß Sie ...«
»Oh, machen Sie sich keine Sorgen! Außerdem kann Awdotja Romanowna sogar in einem so schlechten und hohlen Menschen, wie ich, bloß die tiefste Achtung wecken.«
»Sie wissen vielleicht (ich habe es Ihnen übrigens selbst erzählt),« begann Swidrigailow, »daß ich hier wegen einer ungeheuren Schuld im Gefängnis saß und nicht die geringsten Aussichten hatte, sie zu bezahlen. Es lohnt sich nicht, mit allen Einzelheiten zu erzählen, wie mich damals Marfa Petrowna loskaufte; wissen Sie, bis zu welchem Grade von Bewußtlosigkeit eine Frau zuweilen lieben kann? Sie war eine ehrliche, gar nicht dumme, wenn auch vollkommen ungebildete Frau. Stellen Sie sich nur vor: Diese selbe eifersüchtige und ehrliche Frau hatte sich nach vielen schrecklichen Wutausbrüchen und Vorwürfen entschlossen, mit mir eine Art Vertrag zu schließen, den sie während unserer ganzen Ehe einhielt. Sie war nämlich bedeutend älter als ich und trug außerdem immer eine Gewürznelke im Munde. Ich hatte in meiner Seele so viel Gemeinheit und zugleich Ehrlichkeit, daß ich ihr geradeaus erklärte, ich würde ihr unmöglich ganz treu bleiben können. Dieses Geständnis machte sie rasend, aber meine rohe Offenheit schien ihr gefallen zu haben. – ›Also will er mich nicht betrügen,‹ dachte sie sich wohl, ›wenn er es mir selbst im voraus erklärt‹; für eine eifersüchtige Frau ist es aber das Wichtigste. Nach vielen Tränen wurde dann zwischen uns folgender mündliche Vertrag geschlossen: Erstens werde ich Marfa Petrowna nie verlassen und immer ihr Mann bleiben; zweitens werde ich ohne ihre Erlaubnis niemals verreisen; drittens werde ich mir nie eine ständige Geliebte halten; viertens erlaubt mir Marfa Petrowna dafür zuweilen, mich an einem Dienstmädchen zu vergreifen, doch nicht anders, als mit ihrem geheimen Wissen; fünftens soll mich Gott behüten, mich in eine Frau von unserem Stande zu verlieben; sechstens muß ich, wenn ich, Gott behüte, in einer großen und ernsten Leidenschaft entbrenne, es sofort Marfa Petrowna eröffnen. In bezug auf diesen letzten Punkt war Marfa Petrowna übrigens die ganze Zeit ziemlich ruhig; sie war eine kluge Frau und konnte mich daher für nichts anderes als für einen verdorbenen und leichtsinnigen Menschen halten, der gar nicht imstande ist, sich ernstlich zu verlieben. Aber eine kluge Frau und eine eifersüchtige Frau sind zwei verschiedene Dinge, und das ist eben das ganze Unglück. Übrigens, um über manche Menschen vorurteilslos urteilen zu können, muß man vorher manche voreingenommenen Ansichten und die alltägliche Gewöhnung an die uns vertrauten Menschen und Gewohnheiten aufgeben. Ich habe wohl recht, von Ihrem Urteil mehr zu erhoffen als von dem irgendeines anderen Menschen. Vielleicht haben Sie über Marfa Petrowna schon sehr viel Lächerliches und Unsinniges gehört. Sie hatte in der Tat manche komischen Angewohnheiten; aber ich will Ihnen offen sagen, daß ich den vielen Kummer, den ich ihr zugefügt habe, aufrichtig bedaure. Nun, das genügt wohl für eine sehr anständige oraison funebre auf die zärtlichste Frau vom zärtlichsten Manne. Wenn es zu Streitigkeiten zwischen uns kam, schwieg ich meistenteils und kam nicht aus der Fassung, und dieses ritterliche Benehmen führte meistens zum Ziel; es machte Eindruck auf sie und gefiel ihr gut; es gab sogar Fälle, wo sie auf mich stolz war. Aber das mit Ihrer Schwester konnte sie dennoch nicht ertragen. Wie war es nur möglich, daß sie es riskierte, solch, eine Schönheit als Gouvernante zu sich ins Haus zu nehmen! Das erkläre ich damit, daß Marfa Petrowna eine feurige und begeisterungsfähige Frau war und sich in Ihre Schwester selbst verliebt hatte – buchstäblich verliebt. Aber auch Awdotja Romanowna war gut! Ich verstand es sehr gut auf den ersten Blick, daß die Sache gefährlich ist und ... – was glauben Sie? – ich entschloß mich selbst, sie gar nicht anzusehen. Aber Awdotja Romanowna machte selbst den ersten Schritt, ob Sie es mir glauben oder nicht. Werden Sie mir glauben, daß Marfa Petrowna mir anfangs sogar zürnte, weil ich mich über Ihre Schwester immer ausschwieg und die ständigen verliebten Urteile meiner Frau über Awdotja Romanowna so gleichgültig hinnahm? Ich verstehe gar nicht, was sie wollte. Selbstverständlich erzählte Marfa Petrowna Ihrer Schwester mein ganzes Vorleben mit allen Einzelheiten. Sie hatte diese unglückliche Angewohnheit, alle Menschen in unsere Familiengeheimnisse einzuweihen und sich bei allen über mich zu beklagen; wie sollte sie da auch nicht die neue schöne Freundin in alles einweihen? Ich nehme an, daß sie überhaupt von nichts anderem sprachen als von mir, und Awdotja Romanowna erfuhr wohl zweifellos alle jene finsteren, geheimnisvollen Märchen, die man mir zuschreibt ... Ich wette, daß Sie schon etwas Derartiges gehört haben?«
»Ich habe gehört. Luschin beschuldigte Sie sogar, daß Sie den Tod eines Kindes verursacht hätten. Ist es wahr?«
»Tun Sie mir den Gefallen und kommen Sie mir nicht mit diesen Dummheiten«, entgegnete Swidrigailow widerwillig und angeekelt. »Wenn Sie unbedingt etwas über diesen ganzen Unsinn hören wollen, so werde ich es Ihnen einmal erzählen, aber jetzt ...«
»Man erzählte sich auch von einem Diener, den Sie auf dem Lande hatten und bei dem Sie gleichfalls etwas verschuldet haben.«
»Tun Sie mir den Gefallen – genug davon!« unterbrach ihn Swidrigailow wieder mit sichtbarer Ungeduld.
»Ist es nicht derselbe Diener, der zu Ihnen nach seinem Tode kam, um die Pfeife zu stopfen? ... Sie haben mir sogar selbst schon davon erzählt!« fuhr Raskolnikow immer gereizter fort.
Swidrigailow sah Raskolnikow aufmerksam an, und jenem kam es vor, als ob in diesem Blicke blitzschnell ein boshaftes Lächeln aufzuckte; aber Swidrigailow beherrschte sich und antwortete sehr höflich:
»Ja, es ist derselbe. Ich sehe, daß auch dies alles Sie außerordentlich interessiert, und darum werde ich es für meine Pflicht halten, Ihre Neugier bei der ersten passenden Gelegenheit in allen Punkten zu befriedigen. Zum Teufel! Ich sehe, daß ich manchem Menschen tatsächlich als eine Romanfigur erscheinen kann. Nun können Sie sich nach alledem selbst denken, wie ich der verstorbenen Marfa Petrowna dankbar sein muß, daß sie Ihrer Schwester so viel Geheimnisvolles und Interessantes über mich erzählt hat. Ich wage nicht, über den Eindruck zu urteilen, aber es war für mich jedenfalls sehr vorteilhaft. Bei der natürlichen Abscheu Awdotja Romanownas gegen mich und trotz meines immer finsteren und abstoßenden Aussehens tat ich ihr schließlich leid; ich tat ihr leid als ein verlorener Mensch. Und wenn ein junges Mädchen in ihrem Herzen Mitleid hat, so ist es für sie am gefährlichsten. Dann will sie unbedingt ›retten‹ und überzeugen und zum neuen Leben auferwecken und zu edleren Zielen anspornen, zu einer neuen Tätigkeit rufen – nun, man weiß ja, was man sich in dieser Art alles einbilden kann. Ich merkte sofort, daß das Vöglein selbst ins Netz fliegt, und machte mich auch meinerseits bereit. Mir scheint, Sie ziehen Ihre Stirn kraus, Rodion Romanowitsch? Tut nichts, wie Sie wissen, hatte die Sache keine ernsten Folgen. (Zum Teufel, wieviel Wein ich jetzt trinke!) Wissen Sie, ich bedauerte immer, von Anfang an, daß das Schicksal es Ihrer Schwester versagt hat, im zweiten oder dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung irgendwo als die Tochter eines kleinen Fürsten oder Regenten oder Prokonsuls in Kleinasien zur Welt zu kommen. Sie wäre zweifellos eine von jenen, die das Martyrium erduldeten, und hätte natürlich gelächelt, wenn man ihr die Brust mit glühenden Zangen gebrannt hätte. Sie hätte dieses Los selbst erwählt, aber im vierten oder fünften Jahrhundert wäre sie in die Ägyptische Wüste gegangen und hätte dort dreißig Jahre lang von Wurzeln, Verzückungen und Visionen gelebt. Sie lechzt und verlangt bloß danach, für irgend jemand ein Martyrium auf sich zu nehmen, und wenn man ihr dieses Martyrium nicht gibt, so ist sie imstande, aus dem Fenster zu springen. Ich habe etwas von irgendeinem Herrn Rasumichin gehört. Man sagt, er sei ein vernünftiger Bursche (worauf auch sein Familienname hindeutet, wahrscheinlich kommt er aus einem geistlichen Seminar); soll er nur Ihre Schwester beschützen. Mit einem Wort, ich glaube sie durchschaut zu haben und rechne es mir auch als Ehre an. Aber damals, das heißt zu Beginn einer Bekanntschaft ist man immer, wie Sie wohl wissen, leichtsinniger und dümmer; man hat eine falsche Vorstellung von den Dingen und sieht nicht das Richtige. Zum Teufel, warum ist sie auch so schön? Das ist nicht meine Schuld! Mit einem Wort, es fing bei mir mit einer sehr starken wollüstigen Erregung an. Awdotja Romanowna ist furchtbar keusch, sie ist es in einem unerhörten und noch nie dagewesenen Maße. (Beachten Sie, bitte, ich teile Ihnen dies über Ihre Schwester als eine Tatsache mit. Sie ist vielleicht krankhaft keusch, trotz ihres ganzen großen Verstandes, und das kann ihr schaden.) Da tauchte bei uns ein Mädchen auf, eine gewisse Parascha, die schwarzäugige Parascha, die man erst eben aus einem anderen Dorfe zu uns gebracht hatte, ein Dienstmädchen, das ich bisher noch nie gesehen hatte, sehr hübsch, aber unglaublich dumm: sie fing gleich zu weinen an, heulte, daß man es im Hofe hörte, und so kam es zu einem Skandal. Awdotja Romanowna suchte mich eines Tages nach dem Essen absichtlich allein in einer Allee im Garten auf und forderte von mir mit brennenden Augen, daß ich die arme Parascha in Ruhe lasse. Das war, glaube ich, unser erstes Gespräch unter vier Augen. Ich hielt es natürlich für eine Ehre, ihrem Wunsche nachzukommen, gab mir Mühe, mich überrascht und verlegen zu stellen, und spielte, mit einem Wort, meine Rolle gar nicht schlecht. Nun begannen Beziehungen, geheimnisvolle Unterredungen, Moralpredigten, Belehrungen, Bitten, Flehen und sogar Tränen, glauben Sie mir, sogar Tränen! Solche Ausmaße kann bei manchem jungen Mädchen die Leidenschaft zur Propaganda annehmen! Ich schob selbstverständlich die ganze Schuld auf mein Schicksal, stellte mich als nach Erleuchtung lechzend und dürstend und wandte schließlich das sicherste und erfolgreichste Mittel, Frauenherzen zu erobern, an, ein Mittel, das niemals und bei niemand versagt und auf jede Frau ohne Ausnahme wirkt. Es ist ein bekanntes Mittel: die Schmeichelei. Es gibt in der Welt nichts Schwierigeres als Offenheit und nichts Leichteres als Schmeichelei. Wenn in der Offenheit auch nur ein Hundertstel Lüge steckt, so entsteht sofort eine Dissonanz, und die führt zu einem Skandal. Wenn aber in der Schmeichelei sogar alles Lüge ist, selbst dann ist sie angenehm und wird mit Vergnügen angehört; und wenn es auch ein rohes Vergnügen ist, ein Vergnügen bleibt es doch. Wie roh die Schmeichelei auch ist, sie wird doch immer mindestens zur Hälfte als Wahrheit hingenommen. Das gilt für alle Bildungsstufen und für alle Gesellschaftsklassen. Selbst eine Vestalin kann man durch Schmeichelei verführen. Von gewöhnlichen Menschen rede ich schon gar nicht. Ich kann mich nicht ohne Lachen daran erinnern, wie ich mal eine ihrem Manne, ihren Kindern und ihren Tugenden ergebene Dame verführte. Wie lustig es war, und wie wenig Arbeit es mich kostete! Die Dame war aber wirklich tugendhaft, wenigstens in ihrer Art. Meine ganze Taktik bestand darin, daß ich jeden Augenblick den Erdrückten markierte und vor ihrer Keuschheit in den Staub fiel. Ich schmeichelte ihr gottlos, und so oft ich von ihr einen Händedruck oder sogar nur einen Blick errang, machte ich mir Verwürfe, daß ich ihn ihr mit Gewalt geraubt habe, daß sie mir Widerstand geleistet hätte; daß ich sicher nichts bekommen hätte, wenn ich nicht selbst so lasterhaft wäre; daß sie in ihrer Unschuld meine Tücke nicht durchschaut habe und unabsichtlich, ohne es zu wissen und zu ahnen, nachgegeben hätte, und dergleichen mehr. Mit einem Wort, ich erreichte bei ihr alles, aber meine Dame blieb im höchsten Maße davon überzeugt, daß sie unschuldig und keusch sei, daß sie alle Pflichten und Gebote erfülle und nur ganz zufällig gestrauchelt sei. Und wie wütend wurde sie, als ich ihr zuguterletzt erklärte, daß sie meiner aufrichtigen Überzeugung nach gleich mir nur einen Genuß gesucht habe. Auch die arme Marfa Petrowna fiel furchtbar leicht auf Schmeichelei herein, und wenn ich es nur wollte, hätte ich sicher ihr ganzes Vermögen noch bei ihren Lebzeiten auf meinen Namen umschreiben können. (Aber ich trinke so viel und schwatze.) Ich hoffe, Sie werden mir nicht böse werden, wenn ich jetzt erwähne, daß der gleiche Effekt sich auch bei Awdotja Romanowna zu zeigen begann. Aber ich war dumm und verdarb die ganze Sache. Awdotja Romanowna hatte schon einigemal früher (und einmal ganz besonders) eine furchtbare Abneigung gegen den Ausdruck meiner Augen gezeigt; können Sie es glauben? Mit einem Wort, in meinen Augen leuchtete immer stärker und unvorsichtiger ein gewisses Feuer auf, das ihr Angst machte und das sie schließlich zu hassen anfing. Es lohnt sich nicht, alle Einzelheiten zu erzählen, aber kurz und gut, wir gingen auseinander. Da machte ich wieder eine Dummheit. Ich fing nämlich an, mich in der rohesten Weise über ihre Propaganda und Bekehrungsversuche lustigzumachen: Parascha kam wieder auf die Bildfläche, und nicht allein sie; mit einem Wort, es begann ein wahres Sodom. Ach, Rodion Romanowitsch, wenn Sie doch nur einmal im Leben die Augen Ihrer Schwester gesehen hätten, wie sie zuweilen brennen können! Es macht doch nichts, daß ich jetzt betrunken bin und schon ein ganzes Glas geleert habe: ich spreche die Wahrheit; ich versichere Ihnen, daß ich von diesen Blicken träumte und das Rascheln ihres Kleides schließlich gar nicht mehr ertragen konnte. Wirklich, ich glaubte, daß ich die Fallsucht bekäme; nie hatte ich mir vorgestellt, daß ich in eine solche Raserei geraten könnte. Mit einem Wort, ich mußte mich mit ihr aussöhnen; das war aber nicht mehr möglich. Denken Sie sich nur, was ich dann tat! Wie stumpfsinnig kann doch die Raserei den Menschen machen! Unternehmen Sie nichts im Zustande von Raserei, Rodion Romanowitsch. Ich ging davon aus, daß Awdotja Romanowna im Grunde genommen eine Bettlerin ist (ach, entschuldigen Sie, ich wollte etwas anderes sagen ... aber ist es nicht ganz gleich, wenn es den gleichen Begriff wiedergibt?), mit einem Wort, daß sie von ihrer Hände Arbeit lebt, daß sie ihre Mutter und auch Sie zu erhalten hat (ach, zum Teufel, Sie verziehen wieder das Gesicht ...) – und entschloß mich, ihr mein ganzes Geld anzubieten (ich konnte damals etwa dreißigtausend Rubel flüssig machen), damit sie mit mir meinetwegen hierher nach Petersburg flieht. Natürlich würde ich ihr ewige Liebe, Seligkeit und dergleichen geschworen haben. Glauben Sie es mir: ich war damals so vernarrt, daß, wenn sie mir gesagt hätte: ›Ermorde oder vergifte Marfa Petrowna und heirate mich‹, ich es sofort getan hätte! Alles endete aber mit der Ihnen schon bekannten Katastrophe, und Sie werden nun selbst beurteilen können, wie wütend ich wurde, als ich erfuhr, daß Marfa Petrowna diesen gemeinen Federfuchser Luschin aufgegabelt und beinahe eine Heirat gedeichselt hatte, was im Grunde genommen dasselbe gewesen wäre, was ich ihr anbot. Ist es nicht so? Es stimmt doch? Ich sehe, daß Sie angefangen haben, mir sehr aufmerksam zuzuhören ... Sie interessanter junger Mann ...«
Swidrigailow schlug ungeduldig mit der Faust auf den Tisch. Er war ganz rot geworden. Raskolnikow sah deutlich, daß das eine oder die anderthalb Glas Champagner, die er unmerklich in kleinen Schlucken getrunken, auf ihn krankhaft gewirkt hatten, und er beschloß, diese Gelegenheit auszunützen. Swidrigailow kam ihm sehr verdächtig vor.
»Nun, nach alledem bin ich vollkommen überzeugt, daß Sie meiner Schwester wegen hergekommen sind«, sagte er Swidrigailow geradeaus und ohne sich zu verstellen, um ihn noch mehr zu reizen.
»Ach, hören Sie auf!« sagte Swidrigailow, gleichsam zur Besinnung kommend. »Ich sagte Ihnen ja schon ... und außerdem kann mich Ihre Schwester nicht leiden.«
»Ja, davon bin auch ich überzeugt, daß sie Sie nicht leiden kann; es handelt sich jetzt aber nicht darum.«
»Sind Sie denn wirklich überzeugt, daß sie mich nicht leiden kann?« (Swidrigailow kniff die Augen zusammen und lächelte spöttisch.) »Sie haben recht, sie liebt mich nicht; aber übernehmen Sie niemals eine Garantie in Dingen, die zwischen einem Gatten und einer Gattin oder zwischen einem Liebhaber und einer Geliebten passiert sind. Es gibt darin immer einen Winkel, der der ganzen Welt unbekannt bleibt und den nur die beiden allein kennen. Bürgen Sie dafür, daß Awdotja Romanowna mich wirklich mit Abscheu angesehen hat?«
»Aus einigen Worten und Redensarten in Ihrer Erzählung schließe ich, daß Sie auch jetzt noch Absichten, die Sie unverzüglich verwirklichen wollen, gegen Dunja haben, und zwar höchst gemeine Absichten.«
»Wie? Mir sind solche Worte und Redensarten entschlüpft?« rief Swidrigailow mit höchst naivem Erstaunen, ohne dem seinen Absichten zugeschriebenen Epitheton irgendeine Beachtung zu schenken.
»Sie entschlüpfen Ihnen auch jetzt. Was fürchten Sie denn so? Worüber sind Sie plötzlich so erschrocken?«
»Ich fürchte mich und bin erschrocken? Vielleicht vor Ihnen? Viel eher haben Sie Grund, mich zu fürchten, cher ami! Was für ein Unsinn! ... Ich bin übrigens betrunken, ich sehe es; um ein Haar hätte ich mich wieder versprochen. Zum Teufel den Champagner! He, Wasser!«
Er ergriff die Flasche und schmiß sie ohne jede Rücksicht zum Fenster hinaus. Philipp brachte Wasser.
»Das ist alles Unsinn«, sagte Swidrigailow, indem er ein Handtuch naß machte und es sich an den Kopf drückte. »Ich kann Sie mit einem einzigen Worte umwerfen und Ihren ganzen Verdacht zu Staub machen. Wissen Sie zum Beispiel, daß ich heirate?«
»Das haben Sie mir auch schon früher gesagt.«
»Ich habe es gesagt? Dann habe ich es vergessen. Damals aber konnte ich noch nichts Positives sagen, denn ich hatte die Braut noch gar nicht gesehen; ich trug mich bloß mit der Absieht herum. Nun, und jetzt habe ich schon eine Braut, und die ganze Sache ist abgeschlossen; hätte ich jetzt nicht andere dringende Geschäfte vor, so würde ich Sie unbedingt sofort mitnehmen und zu meiner Braut bringen – denn ich möchte Sie um Ihren Rat fragen. Ach, zum Teufel! Es bleiben mir nur noch zehn Minuten. Sehen Sie, hier ist die Uhr; übrigens will ich es Ihnen erzählen, denn meine Heirat ist eine interessante Sache, ich meine, in ihrer Art, – wo wollen Sie hin? Wollen Sie wieder gehen?«
»Nein, jetzt gehe ich nicht mehr fort.«
»Sie wollen gar nicht mehr fort? Wir wollen sehen! Ich werde Sie hinbringen und Ihnen die Braut zeigen, doch nicht jetzt, denn Sie müssen bald gehen. Sie gehen nach rechts und ich nach links. Kennen Sie diese Rößlich? Dieselbe Rößlich, bei der ich jetzt wohne? Hören Sie es? Nein, was denken Sie sich bloß, es ist dieselbe, von der man sich erzählt, daß das kleine Mädchen, im Wasser, zur Winterszeit ... nun, hören Sie es? Hören Sie es? Sie hat mir auch diese ganze Sache gedeichselt. Sie sagte mir: Du langweilst dich, zerstreue dich ein wenig. Ich bin aber ein finsterer und langweiliger Mensch. Sie glauben wohl, ich sei lustig? Nein, ich bin finster; ich tue niemand was zu leide, sitze aber in einer Ecke und bin zuweilen drei Tage nicht zum Sprechen zu bringen. Diese Rößlich ist aber eine geriebene Bestie, sage ich Ihnen; sie denkt sich wohl, ich fange mich wieder zu langweilen an, lasse die Frau sitzen und fahre fort, die Frau wird aber dann ihr zufallen, und sie wird sie in Verkehr bringen, das heißt, in unseren Kreisen und noch höher hinauf. Es gibt, sagte sie mir, einen gelähmten Vater, einen ehemaligen Beamten, der in einem Sessel sitzt und das dritte Jahr die Beine nicht bewegen kann. Es gibt, sagt sie mir, auch eine Mama, eine höchst vernünftige Dame. Der Sohn sitzt irgendwo in der Provinz und hilft ihnen nicht. Eine Tochter ist verheiratet und kommt nie zu den Eltern; dafür sitzen ihnen zwei kleine Neffen auf dem Halse (als ob sie nicht genug an den eigenen Kindern hätten), und sie haben ihre jüngste Tochter aus der Töchterschule genommen, die sie noch gar nicht absolviert hat; die wird in einem Monat erst sechzehn Jahre alt, also kann man sie in einem Monat verheiraten. Das heißt, mit mir. Wir gingen einmal hin; so komisch geht es bei solchen Leuten zu; ich stelle mich vor: Gutsbesitzer, Witwer, von guter Familie, mit den und den Verbindungen und einem Vermögen; was macht's, daß ich Fünfziger bin und sie nicht mal sechzehn ist? Wer sieht auf so was? Das ist doch verlockend, ha-ha! Sie hätten sehen sollen, wie ich mich mit dem Papa und der Mama unterhielt. Sie erscheint, macht einen Knicks; nun, Sie können sich denken, noch in kurzem Kleidchen, eine noch unaufgebrochene Knospe; sie errötet wie das Morgenrot (man hatte sie natürlich über meinen Besuch unterrichtet). Ich weiß nicht, was Sie für einen Geschmack in bezug auf Frauengesichter haben, ich bin aber der Ansicht, daß diese sechzehn Jahre, diese noch kindlichen Augen, diese Schüchternheit und diese Tränen der Scham schöner sind als die Schönheit selbst; zudem ist sie auch bildhübsch. Hellblonde Haare, zu Locken gekräuselt, wie ein Lämmchen, volle, rote Lippen, die Füßchen – ein Entzücken! ... Nun, wir lernten uns kennen, ich erklärte, daß ich infolge häuslicher Angelegenheiten Eile habe, und schon am nächsten Tage, das heißt vorgestern, gab man uns den Segen. Von nun an, wenn ich hinkomme, nehme ich sie sofort zu mir auf den Schoß und lasse sie nicht mehr herunter ... ... Nun, sie erglüht wie das Morgenrot, ich aber küsse sie jeden Augenblick; die Mama sagt ihr natürlich, daß ich ihr Gatte sei und daß es so sein müsse, mit einem Wort, ein Genuß! Mein jetziger Bräutigamstand ist vielleicht noch besser als der eines Gatten. Hier ist das, was man la nature et la vérité nennt! Ha-ha! An die zweimal habe ich mich mit ihr sogar unterhalten, das Mädel ist gar nicht dumm; manchmal sieht sie mich so verstohlen an, daß es durch Mark und Bein geht. Wissen Sie, sie hat das Gesicht wie die Madonna von Raffael. Die Sixtinische Madonna hat doch ein ganz phantastisches Gesicht, das Gesicht einer Trauernden und Wahnsinnigen, ist Ihnen das aufgefallen? Nun, auch ihr Gesicht ist in dieser Art. Kaum hatte man uns den Segen erteilt, als ich schon am nächsten Tage für fünfzehnhundert Rubel Geschenke mitbrachte: einen Brillantenschmuck, einen Perlenschmuck und einen silbernen Toilettenkasten, von dieser Größe, mit allen möglichen Dingen drin, und da errötete sogar ihr Madonnengesicht. Wie ich sie gestern zu mir auf den Schoß setzte, wahrscheinlich machte ich es schon gar zu ungeniert, da wurde sie über und über rot, die Tränen kamen ihr in die Augen; sie wollte es aber nicht zeigen und glühte nur wie im Fieber. Alle gingen für einen Augenblick hinaus, und als wir beide allein blieben, fiel sie mir plötzlich um den Hals (zum erstenmal), umarmte mich mit beiden Händchen, küßte mich und schwur, daß sie mir eine gehorsame, treue und gute Frau sein werde, daß sie mich glücklich machen werde, daß sie ihr ganzes Leben, jeden Augenblick ihres Lebens, alles, alles opfern wolle, nur um meine Achtung allein zu erlangen; ›sonst‹, sagt sie, ›brauche ich nichts, nichts, keine Geschenke!‹ Sie werden doch zugeben, daß ein solches Geständnis unter vier Augen von einem solchen sechzehnjährigen kleinen Engel in Tüllkleidchen, mit blonden Locken, mit jungfräulicher Schamröte im Gesicht und den Tränen des Enthusiasmus in den Augen, anzuhören, – Sie werden doch zugeben, daß es recht verlockend ist! Es ist doch verlockend! Es ist doch was wert, nicht? Es ist was wert! Nun ... nun, hören Sie ... nun, wollen wir doch zu meiner Braut fahren ... aber nicht jetzt gleich!«
»Mit einem Wort, dieser ungeheuerliche Unterschied im Alter und in der Entwicklung weckt in Ihnen die Wollust! Werden Sie auch wirklich heiraten?«
»Warum denn nicht? Unbedingt. Ein jeder denkt nur an sich selbst, und am lustigsten lebt einer, der es am besten versteht, sich selbst zu betrügen. Ha-ha! Sind Sie denn wirklich so auf die Tugend versessen? Haben Sie doch Erbarmen, Väterchen, ich bin ein sündiger Mensch. He-he-he!«
»Aber Sie haben die Kinder Katerina Iwanownas untergebracht. Übrigens ... übrigens hatten Sie doch Ihre Gründe dazu ... jetzt verstehe ich alles.«
»Die Kinder habe ich überhaupt gern«, entgegnete Swidrigailow lachend. »In diesem Sinne kann ich Ihnen eine sehr interessante Episode erzählen, die noch nicht zu Ende ist. Gleich am ersten Tage nach meiner Ankunft machte ich einen Rundgang durch alle die Kloaken; nun nach den sieben Jahren stürzte ich mich auf alle diese Sachen. Es ist Ihnen wohl aufgefallen, daß ich mich gar nicht beeile, meine frühere Gesellschaft wieder aufzusuchen, alle die Freunde und Bekannten von einst. Nun, ich will mich auch möglichst lange ohne sie behelfen. Sie wissen: bei Marfa Petrowna auf dem Lande haben mich die Erinnerungen an alle die geheimnisvollen Orte und Örtchen, in denen der Wissende so vieles finden kann, halb zu Tode gequält. Hol der Teufel! Das Volk trinkt, die gebildete Jugend verglüht in unerfüllbaren Träumen und Phantasien zu Asche, wird von den Theorien verkrüppelt; irgendwoher sind zahllose Juden zusammengefahren, die das Geld auf die Seite bringen, und alles übrige lebt in Unzucht. So hauchte mich diese Stadt gleich in den ersten Stunden mit ihrem vertrauten Geruch an. Ich geriet auf einen sogenannten Tanzabend – eine schreckliche Kloake (ich aber liebe gerade solche schmutzigen Kloaken); natürlich gibt es da einen Kankan, wie man ihn sonst nirgends sieht und wie es ihn zu meiner Zeit nicht gab. Ja, in diesen Dingen sieht man einen Fortschritt. Plötzlich sehe ich ein etwa dreizehnjähriges Mädchen, reizend angezogen, tanzt mit einem ›Kavalier‹; ein anderer Kerl tanzt ihr vis-à-vis. Auf dem Stuhl an der Wand sitzt die Mutter. Nun, Sie können sich vorstellen, was das für ein Kankan war! Das Mädchen ist verlegen, errötet, fühlt sich schließlich gekränkt und fängt zu weinen an. Der Kerl packt sie, dreht sie um und produziert sich vor ihr; alle ringsum lachen – ich liebe in solchen Augenblicken unser Publikum, selbst beim Kankan; die Leute lachen und schreien: ›Geschieht schon recht! Man soll keine Kinder herbringen!‹ Nun, mich ging ja die Sache nichts an, ob die Menschen sich da logisch oder unlogisch trösteten! Ich faßte sofort meinen Plan, setzte mich neben die Mutter und begann ihr zu erzählen, daß auch ich hier fremd sei, daß alle Menschen hier so ungehobelt wären und es nicht verstünden, wahre Vorzüge zu unterscheiden und den gebührenden Respekt zu empfinden; ich gab ihr zu verstehen, daß ich viel Geld habe; dann schlug ich ihnen vor, sie in meinem Wagen nach Hause zu bringen; ich begleitete sie nach Hause, lernte sie kennen (sie wohnen irgendwo in einer Kammer in Aftermiete, sind soeben angekommen). Sie erklärten mir, wie die Mutter so auch die Tochter, daß sie meine Bekanntschaft nur als eine große Ehre auffassen könnten; ich erfuhr, daß sie keinen Pfennig haben und nach Petersburg gekommen sind, um sich bei irgendeiner Behörde um irgend etwas zu bemühen; ich bot ihnen meine Dienste und Geld an und hörte, daß sie zu diesem Tanzabend aus Versehen hingekommen waren, in der Meinung, daß dort in Wirklichkeit Tanzunterricht stattfinde; ich machte mich meinerseits erbötig, die Erziehung des jungen Mädchens und den Unterricht in Französisch und Tanzen zu fördern. Sie nahmen meinen Vorschlag mit Begeisterung an, hielten es für eine Ehre, und ich bin mit ihnen auch heute noch bekannt ... Wollen Sie, wir fahren hin, aber nicht jetzt gleich.«
»Lassen Sie, lassen Sie Ihre gemeinen, niederträchtigen Anekdoten, Sie verdorbener, gemeiner, wollüstiger Mensch!«
»Ja, der Schiller, da sieht man wieder unsern Schiller! Où va-t-elle la vertu se nicher? Wissen Sie, ich werde Ihnen mit Absicht solche Dinge erzählen, um Ihre Aufschreie zu hören. Es ist ein Genuß!«
»Das will ich meinen; bin ich mir denn jetzt auch selbst nicht lächerlich?« murmelte Raskolnikow voller Haß.
Swidrigailow lachte aus vollem Halse; schließlich rief er den Philipp, bezahlte die Zeche und machte sich zum Fortgehen bereit.
»Nun bin ich aber tüchtig betrunken, assez causé!« sagte er. »Es ist ein Genuß!«
»Wie sollten Sie auch keinen Genuß empfinden!« rief Raskolnikow, sich gleichfalls erhebend. »Ist es denn für einen solchen geriebenen Wollüstling kein Genuß, von solchen Abenteuern zu erzählen – wenn er dabei auch noch irgendeine ungeheuerliche Absicht in derselben Art hat, und obendrein unter solchen Umständen und solch einem Menschen, wie ich es bin ... Das bringt doch das Blut in Wallung!«
»Wenn Sie so reden«, antwortete Swidrigailow mit einigem Erstaunen, Raskolnikow musternd – »wenn Sie so reden, so sind Sie auch selbst ein ordentlicher Zyniker. Jedenfalls steckt in Ihnen ein ungeheures Material dazu. Sie können wohl vieles begreifen ... können aber auch vieles tun. Aber genug. Ich bedaure es aufrichtig, daß unsere Unterhaltung so kurz war, Sie entgehen mir aber nicht ... warten Sie nur ...«
Swidrigailow verließ das Wirtshaus. Raskolnikow folgte ihm. Swidrigailow war aber gar nicht so berauscht; der Wein war ihm bloß für einen Augenblick zu Kopfe gestiegen, der Rausch verflüchtete sich von Augenblick zu Augenblick. Er war um etwas besorgt, wohl um etwas sehr Wichtiges, und runzelte die Stirn. Irgendeine Erwartung regte ihn anscheinend auf und beunruhigte ihn. In seinem Benehmen gegen Raskolnikow war er in den letzten Minuten plötzlich ganz anders geworden und wurde von Augenblick zu Augenblick gröber und spöttischer. Raskolnikow merkte sich das alles und wurde auch unruhig. Swidrigailow kam ihm sehr verdächtig vor; er entschloß sich, ihm zu folgen.
Sie traten auf das Trottoir.
»Sie gehen nach rechts und ich nach links. Oder vielleicht auch umgekehrt. Aber, adieu mon plaisir, auf freudiges Wiedersehen!«
Und er ging nach rechts, in der Richtung zum Heumarkt.
Raskolnikow ging ihm nach.
»Was soll das bedeuten?!« rief Swidrigailow, sich umwendend. »Ich hab Ihnen doch, glaube ich, gesagt ...«
»Das bedeutet, daß ich Sie jetzt nicht mehr loslasse.«
»Wa-as?«
Beide blieben stehen und sahen einander eine Minute lang an, als wollten sie sich messen.
»Aus allen Ihren halbbetrunkenen Erzählungen«, sagte Raskolnikow schroff, »habe ich positiv erfahren, daß Sie Ihre gemeinen Absichten gegen meine Schwester nicht nur nicht aufgegeben haben, sondern mit ihnen mehr als je beschäftigt sind. Mir ist es bekannt, daß meine Schwester heute früh irgendeinen Brief bekommen hat. Sie konnten die ganze Zeit nicht ruhig sitzen ... allerdings konnten Sie unterwegs irgendeine Braut aufgegabelt haben, aber das hat nichts zu sagen. Ich möchte mich persönlich überzeugen ...«
Raskolnikow hätte wohl kaum angeben können, was er jetzt vorhatte und wovon er sich persönlich überzeugen wollte.
»So! Wollen Sie, daß ich sofort die Polizei rufe?«
»Ruf nur!«
Sie standen wieder eine Minute einander gegenüber. Swidrigailows Gesicht veränderte sich plötzlich. Als er sich überzeugt hatte, daß Raskolnikow vor seiner Drohung nicht erschrak, nahm er plötzlich eine sehr heitere und freundschaftliche Miene an.
»Was sind Sie für ein Mensch! Ich hatte absichtlich mit Ihnen kein Wort von Ihrer Sache gesprochen, obwohl mich selbstverständlich die Neugierde plagt. Es ist ja eine ganz phantastische Sache. Ich hatte es auf ein anderes Mal verschoben, aber Sie können auch einen Toten reizen ... Gut, kommen Sie mit, ich sage Ihnen aber im voraus: Ich gehe jetzt bloß auf einen Sprung nach Hause, um Geld zu holen; dann sperre ich meine Wohnung ab, miete mir eine Droschke und fahre für den ganzen Abend auf die Inseln hinaus. Sie werden doch nicht mitkommen.«
»Ich aber gehe in die Wohnung mit, doch nicht zu Ihnen, sondern zu Ssofja Ssemjonowna, um mich zu entschuldigen, daß ich nicht bei der Beerdigung war.«
»Wie Sie wünschen, Ssofja Ssemjonowna ist jetzt aber nicht zu Hause. Sie ist mit allen Kindern zu einer Dame gegangen, zu einer vornehmen alten Dame, einer früheren alten Bekannten von mir, die Vorsteherin von Waisenanstalten ist. Ich bezauberte diese Dame, indem ich für alle drei Kinder Katerina Iwanownas Geld einzahlte und außerdem noch einen Betrag für die Anstalten spendete. Zuletzt erzählte ich die ganze Geschichte Ssofja Ssemjonownas, sogar mit allen Einzelheiten, ohne etwas zu verschweigen. Der Effekt war unbeschreiblich. Darum wurde Ssofja Ssemjonowna für heute ins Hotel bestellt, wo sich meine Dame, die von der Sommerfrische kommt, vorübergehend aufhält.«
»Macht nichts, ich werde doch zu ihr hinaufgehen.«
»Wie Sie wollen, wir sind aber doch keine Weggenossen! Nun, gleich sind wir da. Sagen Sie, ich bin überzeugt, daß Sie mich darum so argwöhnisch ansehen, weil ich bisher selbst so diskret war und Sie mit meinen Fragen nicht behelligte ... Sie verstehen doch? Das kam Ihnen ungewöhnlich vor; ich wette, daß es so ist! Nun, da soll man noch diskret sein!«
»Und an der Türe horchen!«
»Ah, Sie meinen das!« sagte Swidrigailow lachend. »Ja, ich müßte mich wundern, wenn Sie nach alledem diese Bemerkung nicht gemacht hätten. Ha-ha! Ich habe zwar manches davon verstanden, was Sie damals ... dort ... angestellt und Ssofja Ssemjonowna selbst erzählt haben, aber was ist das eigentlich? Ich bin vielleicht ein sehr zurückgebliebener Mensch und kann nichts mehr verstehen. Erklären Sie es mir um Gotteswillen, mein Liebster! Erleuchten Sie mich mit Ihren allerneuesten Prinzipien.«
»Sie können gar nichts gehört haben, Sie lügen!«
»Aber ich meine gar nicht das (obwohl ich wirklich manches gehört habe), nein, ich meine nur das, daß Sie fortwährend stöhnen und seufzen. Der Schiller in Ihnen wird jeden Augenblick verlegen. Und jetzt erklären Sie auch noch, man dürfe nicht an fremden Türen horchen. Wenn dem so ist, so gehen Sie hin und sagen Sie den Behörden, daß mit Ihnen so ein Zufall passiert ist: In der Theorie ist ein kleiner Fehler unterlaufen. Wenn Sie aber überzeugt sind, daß man an fremden Türen nicht horchen darf, aber das Recht hat, alte Weiber zu seinem eigenen Vergnügen mit beliebigen Gegenständen zu erschlagen, so fahren Sie doch schnell irgendwohin nach Amerika! Fliehen Sie, junger Mann! Vielleicht ist noch Zeit. Ich spreche jetzt aufrichtig. Haben Sie vielleicht kein Geld? Ich will Ihnen welches für die Reise geben.«
»Ich denke gar nicht daran«, unterbrach ihn Raskolnikow angeekelt.
»Ich verstehe (machen Sie sich übrigens keine Mühe: Wenn Sie nicht wollen, so brauchen Sie nicht viel zu sprechen); ich verstehe, was für Fragen Sie jetzt beschäftigen: Vielleicht moralische? Die Fragen des Bürgers und Menschen? Lassen Sie sie lieber beiseite; was brauchen Sie jetzt diese Fragen? He-he! Weil Sie noch immer Bürger und Mensch sind? Wenn Sie es sind, so hätten Sie sich auch nicht hineinmischen sollen; Sie hätten nicht eine Sache unternehmen sollen, der Sie nicht gewachsen sind. Nun, erschießen Sie sich; oder haben Sie keine Lust dazu?«
»Mir scheint, Sie wollen mich jetzt absichtlich reizen, damit ich Sie gehen lasse ...«
»Was sind Sie für ein Kauz! Nun sind wir aber schon da, gehen Sie, bitte, die Treppe hinauf. Sehen Sie, hier ist der Eingang zu Ssofja Ssemjonowna. Sie sehen doch, es ist niemand da! Sie glauben es nicht? Fragen Sie dann die Kapernaumows; ihnen pflegt sie ihren Schlüssel abzugeben. Da ist auch Madame de Kapernaumow selbst. Was? (Sie ist ein wenig taub.) Ist sie fort? Wohin? Nun, haben Sie es gehört? Sie ist nicht zu Hause und kommt vielleicht erst spät am Abend heim. Nun, kommen Sie jetzt zu mir. Sie wollten doch auch zu mir? So, jetzt sind Sie bei mir. Madame Rößlich ist nicht zu Hause. Diese Dame ist ewig beschäftigt, aber ich versichere Ihnen, sie ist eine gute Frau, vielleicht könnte sie auch Ihnen nützlich sein, wenn Sie vernünftiger wären. Nun, sehen Sie, hier nehme ich aus dem Schreibtisch dieses fünfprozentige Staatspapier (sehen Sie, wieviel ich davon noch habe!), dieses aber wird heute noch umgewechselt. Nun, haben Sie es gesehen? Jetzt habe ich keine Zeit mehr zu verlieren. Der Schreibtisch wird abgeschlossen, die Wohnung wird abgeschlossen, und wir sind wieder auf der Treppe. Nun, wollen Sie, daß ich eine Droschke miete? Ich fahre ja auf die Inseln hinaus. Wollen Sie nicht mitkommen? Ich nehme diesen Wagen zur Jelagin-Insel; was? Sie weigern sich? Sie halten es nicht mehr aus? Wollen wir doch etwas spazieren fahren, macht nichts. Ich glaube, ein Regen zieht auf, macht nichts, wir stellen das Verdeck auf ...«
Swidrigailow saß schon im Wagen. Raskolnikow sagte sich, daß sein Verdacht wenigstens in diesem Augenblick unbegründet sei. Ohne ein Wort zu antworten, drehte er sich um und ging zurück in der Richtung zum Heumarkt. Hätte er sich unterwegs auch nur einmal umgewandt, so würde er gesehen haben, daß Swidrigailow, nachdem er kaum mehr als hundert Schritte gefahren war, den Kutscher bezahlte und wieder aufs Trottoir trat. Er konnte aber nichts mehr sehen und war um die Ecke gebogen. Ein tiefer Ekel trieb ihn von Swidrigailow fort. »Wie konnte ich nur, auch nur einen Augenblick, etwas von diesem rohen Bösewicht, von diesem Wollüstling und Schurken erwarten!« rief er unwillkürlich aus. Raskolnikow hatte dieses Urteil allerdings allzu voreilig und leichtsinnig gefällt. Im ganzen Gebaren Swidrigailows lag etwas, was ihm wenigstens eine gewisse Originalität, wenn nicht etwas Geheimnisvolles verlieh. Was aber seine Schwester betraf, so war Raskolnikow dennoch fest überzeugt, daß Swidrigailow sie nicht in Ruhe lassen würde. Aber es war ihm schon allzu schwer und unerträglich, an all das zu denken!
Seiner Gewohnheit gemäß war er schon nach den ersten zwanzig Schritten, als er allein geblieben war, in tiefe Nachdenklichkeit versunken. Er ging auf die Brücke, blieb am Geländer stehen und begann in das Wasser zu starren. Indessen stand hinter ihm Awdotja Romanowna.
Er war ihr am Anfange der Brücke begegnet, war aber an ihr vorbeigegangen, ohne sie bemerkt zu haben. Dunjetschka hatte ihn noch nie in dieser Verfassung auf der Straße gesehen und war beinahe erschrocken. Sie blieb stehen und wußte nicht, ob sie ihn anrufen solle oder nicht? Plötzlich sah sie Swidrigailow, der sich schnell vom Heumarkt her näherte.
Jener schien aber geheimnisvoll und vorsichtig näher zu kommen. Er ging nicht auf die Brücke, sondern blieb abseits auf dem Trottoir stehen, wobei er sich die größte Mühe gab, von Raskolnikow nicht gesehen zu werden. Dunja hatte er schon längst bemerkt und machte ihr Zeichen. Ihr schien es, daß er sie mit seinen Zeichen bat, den Bruder nicht anzurufen und in Ruhe zu lassen, und sie zu sich heranwinkte.
Dunja tat auch so. Sie ging leise um den Bruder herum und näherte sich Swidrigailow.
»Gehen wir schneller«, flüsterte ihr Swidrigailow zu. »Ich möchte nicht, daß Rodion Romanowitsch von unserer Zusammenkunft erfährt. Ich sage Ihnen gleich, daß ich soeben mit ihm hier in der Nähe in einer Wirtschaft gesessen habe, wo er mich selbst aufgesucht hatte, und ich wurde ihn nur mit Mühe los. Er weiß irgendwie von meinem Briefe an Sie und hat einen Verdacht. Sie haben es ihm natürlich nicht erzählt? Und wenn Sie es nicht waren, wer dann?«
»Nun sind wir schon um die Ecke gekommen,« unterbrach ihn Dunja, »mein Bruder wird uns nicht mehr sehen. Ich erkläre Ihnen, daß ich mit Ihnen nicht weiter gehen will. Sagen Sie mir alles hier; Sie können ja alles auf der Straße sagen.«
»Erstens kann man das alles unmöglich auf der Straße sagen; zweitens müssen Sie auch Ssofja Ssemjonowna anhören; drittens werde ich Ihnen einige Dokumente zeigen ... Und schließlich, wenn Sie sich weigern, zu mir zu kommen, verzichte ich auf alle Erklärungen und gehe sofort weg. Dabei bitte ich Sie nicht zu vergessen, daß ein außerordentlich interessantes Geheimnis Ihres geliebten Bruders sich vollkommen in meinen Händen befindet.«
Dunja blieb unentschlossen stehen und blickte Swidrigailow durchdringend an.
»Was fürchten Sie?« versetzte er ruhig. »Die Stadt ist doch kein Dorf. Und im Dorfe haben Sie mir mehr Schaden zugefügt als ich Ihnen; hier aber ...«
»Ist Ssofja Ssemjonowna vorbereitet?«
»Nein, ich habe ihr kein Wort gesagt und bin auch nicht ganz sicher, ob sie zu Hause ist. Übrigens ist sie wahrscheinlich zu Hause. Sie hat heute ihre Verwandte beerdigt – das ist kein Tag, um Besuche zu machen. Vorläufig will ich mit niemand davon reden und bereue sogar teilweise, daß ich es Ihnen mitgeteilt habe. Die geringste Unvorsichtigkeit kommt in diesem Falle einer Denunziation gleich. Ich wohne hier in diesem Hause, nun sind wir gleich da. Das ist der Hausknecht von meinem Hause; der Hausknecht kennt mich sehr gut; da grüßt er mich; er sieht, daß ich mit einer Dame gehe, und hat sich schon natürlich ihr Gesicht gemerkt; daß kann Ihnen aber von Nutzen sein, wenn Sie sich sehr fürchten und mir nicht trauen. Entschuldigen Sie, daß ich so offen spreche. Ich selbst wohne in Aftermiete. Ssofja Ssemjonowna wohnt neben mir Wand an Wand, auch in Aftermiete. Das ganze Stockwerk ist voller Mieter. Was fürchten Sie denn wie ein Kind? Oder komme ich Ihnen so schrecklich vor?«
Swidrigailows Gesicht verzerrte sich zu einem herablassenden Lächeln; aber er wollte gar nicht lächeln. Sein Herz klopfte, und sein Atem stockte. Er sprach absichtlich laut, um seine immer anwachsende Erregung zu verbergen; aber Dunja hatte diese eigentümliche Erregung gar nicht bemerkt; die Frage, ob sie ihn wie ein Kind fürchte und ob er ihr so schrecklich sei, hatte sie zu sehr gereizt.
»Ich weiß zwar, daß Sie ein Mensch ... ohne Ehre sind, aber ich fürchte Sie nicht im geringsten. Gehen Sie voraus«, sagte sie mit scheinbarer Ruhe, aber ihr Gesicht war sehr blaß.
Swidrigailow blieb vor Ssonjas Wohnung stehen.
»Erlauben Sie, daß ich mich erkundige, ob sie zu Hause ist ... Nein, sie ist nicht da, dieses Pech! Aber ich weiß, daß sie sehr bald kommen kann. Wenn sie ausgegangen ist, so doch nur zu einer Dame wegen der Waisen, deren Mutter gestorben ist. Ich habe mich hineingemischt und manches besorgt. Wenn Ssofja Ssemjonowna nach zehn Minuten noch nicht zurück ist, so schicke ich sie selbst zu Ihnen; wenn Sie wollen, heute noch. Nun, hier ist meine Wohnung, da sind meine beiden Zimmer. Hinter der Tür wohnt meine Wirtin, Frau Rößlich. Nun schauen Sie her, ich will Ihnen meine Hauptdokumente zeigen: diese Tür führt aus meinem Schlafzimmer in zwei vollkommen leere Zimmer, die zu vermieten sind. Hier sind sie ... das müssen Sie sich etwas aufmerksamer ansehen ...«
Swidrigailow bewohnte zwei recht geräumige möblierte Zimmer. Dunjetschka sah sich mißtrauisch um, merkte aber weder in der Ausstattung, noch in der Lage der Zimmer etwas Besonderes, obwohl ihr einiges doch hätte auffallen müssen; zum Beispiel, daß Swidrigailows Wohnung zwischen zwei anderen leeren Wohnungen lag. Der Eingang zu ihm war nicht direkt vom Korridor aus, sondern durch zwei Zimmer der Wirtin, die fast leer waren. Swidrigailow sperrte die verschlossene Tür im Schlafzimmer auf und zeigte Dunja eine leere Wohnung, die gleichfalls zu vermieten war. Dunjetschka blieb an der Schwelle stehen, ohne zu begreifen, warum man sie aufforderte, es zu sehen, aber Swidrigailow beeilte ich, es ihr zu erklären.
»Schauen Sie, bitte, hier hinein, in dieses zweite große Zimmer. Beachten Sie diese Tür, sie ist abgeschlossen. Neben der Tür steht ein Stuhl, der einzige Stuhl in beiden Zimmern. Ich brachte ihn aus meiner Wohnung, um bequemer horchen zu können. Dort, gleich hinter der Tür, steht der Tisch Ssofja Ssemjonownas: dort saß sie und sprach mit Rodion Romanowitsch. Und ich horchte hier, auf diesem Stuhle sitzend, zwei Abende hintereinander, beide. Male je zwei Stunden – und konnte natürlich manches erfahren, – wie glauben Sie?«
»Haben Sie gehorcht?«
»Ja, ich habe gehorcht. Jetzt wollen wir aber zu mir gehen, hier kann man nicht mal sitzen.«
Er führte Awdotja Romanowna in sein erstes Zimmer zurück, das ihm als Empfangszimmer diente, und bot ihr einen Stuhl an. Er selbst setzte sich ans andere Ende des Tisches, mindestens einen Klafter von ihr entfernt, aber in seinen Augen brannte wohl wieder das gleiche Feuer, das Dunjetschka schon einmal erschreckt hatte. Sie fuhr zusammen und sah sich noch einmal argwöhnisch um. Diese Bewegung war unwillkürlich, sie wollte ihren Argwohn offenbar nicht zeigen. Aber die isolierte Lage der Wohnung Swidrigailows fiel ihr doch auf. Sie wollte schon fragen, ob wenigstens seine Wirtin zu Hause sei, fragte aber nicht ... aus Stolz. Zudem war in ihrem Herzen auch noch ein anderer Schmerz, viel größer als die Angst für sich selbst. Die Qual war unerträglich.
»Hier ist Ihr Brief«, begann sie, indem sie denselben auf den Tisch legte. »Ist es denn möglich, was Sie da schreiben? Sie machen Anspielungen auf ein Verbrechen, das mein Bruder verübt haben soll. Die Anspielung ist viel zu deutlich, Sie dürfen jetzt nicht mit Ausflüchten kommen. Nun sage ich Ihnen, daß ich dieses dumme Märchen schon vor Ihnen gehört habe und keinem Wort davon glaube. Es ist ein gemeiner und lächerlicher Verdacht. Ich kenne die Geschichte und weiß, wie und warum man sie erfunden hat. Sie können keinerlei Beweise haben, Sie haben aber versprochen, alles zu beweisen: sprechen Sie doch! Aber ich sage Ihnen gleich, daß ich Ihnen nicht glaube! Ich glaube es nicht!«
Dunjetschka sagte dies, sich überstürzend, mit großer Hast, und das Blut stieg ihr für einen Augenblick in den Kopf.
»Wenn Sie mir nicht glaubten, wäre es dann möglich, daß Sie riskiert hätten, allein zu mir zu kommen? Warum sind Sie dann hergekommen? Aus bloßer Neugier?«
»Quälen Sie mich nicht, sprechen Sie, sprechen Sie!«
»Es ist nicht zu leugnen, daß Sie ein tapferes Mädchen sind. Bei Gott, ich glaubte, Sie würden Herrn Rasumichin bitten, Sie hierher zu begleiten. Aber er war weder mit Ihnen noch in Ihrer Nähe; ich habe mich davon überzeugt. Das ist kühn, folglich wollten Sie Rodion Romanowitsch schonen. Bei Ihnen ist übrigens alles göttlich ... Was aber Ihren Bruder betrifft, – was kann ich Ihnen da sagen? Sie haben ihn doch eben selbst gesehen. Nun, wie sieht er aus?«
»Sie begründen doch alles nicht darauf!«
»Nein, nicht darauf, sondern auf seinen eigenen Worten. Zwei Abende hintereinander hat er hier Ssofja Ssemjonowna besucht. Ich zeigte Ihnen, wo sie gesessen haben. Er hat ihr alles gebeichtet. Er ist der Mörder. Er hat die alte Beamtenwitwe, die Wucherin, ermordet, bei der er auch selbst zu versetzen pflegte; er hat auch ihre Schwester, die Händlerin Lisaweta, ermordet, die zufällig während der Ermordung der Schwester gekommen war. Er hat sie beide mit einem Beil ermordet, das er mitgebracht hatte. Er ermordete die beiden, um sie zu berauben, und hat sie auch beraubt; er hat Geld und noch irgendwelche Gegenstände mitgenommen ... Das alles hat er selbst Wort für Wort Ssofja Ssemjonowna erzählt, die allein das Geheimnis weiß, aber am Morde weder durch Wort noch durch Tat teilgenommen hat; sie hat sich davor vielmehr ebenso entsetzt wie Sie jetzt. Sie können ruhig sein: sie wird ihn nicht verraten.«
»Das kann nicht sein!« stotterte Dunjetschka mit totenblassen Lippen; sie rang um Atem. »Es kann nicht sein, es gibt keine, nicht die geringste Ursache, gar keinen Grund ... Es ist eine Lüge, eine Lüge! ...«
»Er hat geraubt, das ist der ganze Grund. Er hat sich das Geld und die Sachen angeeignet. Allerdings hat er, nach seinem eigenen Geständnis, weder aus dem Geld noch aus den Sachen Nutzen gezogen, sondern hat sie irgendwo unter einem Stein versteckt, wo sie auch heute noch liegen. Aber nur deshalb, weil er nicht wagte, daraus Nutzen zu ziehen.«
»Ist es denn möglich, daß er imstande wäre, zu stehlen, zu rauben? Daß er daran auch nur denken konnte?« rief Dunja und sprang vom Stuhle auf. »Sie kennen ihn doch, Sie haben ihn gesehen? Kann er denn ein Dieb sein?«
Sie flehte Swidrigailow gleichsam an; sie hatte ihre ganze Angst vergessen.
»Es sind darin Tausende, Millionen von Kombinationen und Kategorien möglich, Awdotja Romanowna. Der Dieb stiehlt, dafür weiß er auch selbst, daß er ein Schuft ist; aber ich hörte, daß ein anständiger Mensch die Post beraubt hat; wer kann es wissen, vielleicht glaubt er wirklich, daß er eine brave Tat vollbracht hat! Natürlich würde ich es nicht geglaubt haben, ebensowenig wie Sie, wenn ich es aus zweiter Hand erfahren hätte. Aber meinen eigenen Ohren mußte ich glauben. Er hat Ssofja Ssemjonowna auch alle Gründe erklärt; sie aber glaubte zuerst auch den eigenen Ohren nicht, endlich glaubte sie es den eigenen Augen. Er hat ihr doch alles persönlich mitgeteilt.«
»Was waren es denn für Gründe?«
»Es ist eine lange Geschichte, Awdotja Romanowna. Es ist hier, wie soll ich es Ihnen sagen, eine eigene Theorie dabei, dasselbe, warum ich finde, daß zum Beispiel ein einzelnes Verbrechen erlaubt ist, wenn sein Hauptziel gut ist! Es ist natürlich für einen jungen Mann mit Vorzügen und maßlosem Ehrgeiz auch kränkend, zu wissen, daß, wenn er zum Beispiel nur dreitausend Rubel hätte, seine ganze Karriere, die Zukunft seiner Lebensziele sich anders gestaltet haben würden; aber er hat diese dreitausend Rubel nicht. Fügen Sie hinzu die Reizbarkeit und die Erbitterung infolge des Hungers, der engen Wohnung, der abgerissenen Kleidung, infolge der klaren Einsicht seiner häßlichen sozialen Lage, zugleich aber auch der Lage seiner Mutter und Schwester. Am meisten aber der Ehrgeiz, Stolz und Ehrgeiz – aber Gott weiß, vielleicht hat er dabei auch gute Eigenschaften ... Ich klage ihn ja nicht an, glauben Sie es nur nicht. Es ist auch nicht meine Sache. Er hatte auch eine eigene kleine Theorie, eine gar nicht so üble Theorie, daß die Menschen, sehen Sie, in ›Material‹ und in ›besondere Menschen‹ eingeteilt werden, das heißt in solche, für die, infolge ihrer hohen Stellung, das Gesetz nicht gilt, die vielmehr selbst die Gesetze für die übrigen Menschen, für das Material, für den Kehricht aufstellen. Die Theorie ist gar nicht übel, une théorie comme une autre. Napoleon hat ihn furchtbar begeistert, oder vielmehr die Überzeugung, daß sehr viele geniale Menschen das einzelne Verbrechen nicht als Übel ansahen, sondern sich darüber hinwegsetzten. Ich glaube, er hat sich eingebildet, daß auch er ein genialer Mensch ist, das heißt, er war wohl eine Zeitlang davon überzeugt. Er litt sehr und leidet auch jetzt noch unter dem Gedanken, daß er es fertiggebracht habe, eine Theorie aufzustellen, aber nicht imstande gewesen sei, sich, ohne nachzudenken, darüber hinwegzusetzen, daß er also kein genialer Mensch sei. Und das ist für einen ehrgeizigen jungen Mann erniedrigend, und in unserer Zeit ganz besonders ...«
»Und die Gewissensbisse? Sie sprechen ihm jedes sittliche Gefühl ab? Ist er denn so?«
»Ach, Awdotja Romanowna, jetzt hat sich alles getrübt, das heißt, es war wohl nie in besonderer Ordnung gewesen. Die russischen Menschen sind überhaupt ›breite‹ Menschen, Awdotja Romanowna, so breit wie die Erde, und außerordentlich geneigt zum Phantastischen und Unordentlichen, es ist aber ein Unglück, ›breit‹ zu sein, ohne wirkliche Genialität zu besitzen. Erinnern Sie sich noch, wieviel wir beide in dieser Art und über das gleiche Thema gesprochen haben, so oft wir nach dem Abendessen auf der Gartenterrasse saßen? Sie haben mir damals diese ›Breite‹ vorgeworfen. Wer weiß, vielleicht sagten Sie das gerade in derselben Zeit, als er hier lag und das seinige dachte. Unsere gebildete Gesellschaft hat ja keine besonders heiligen Überlieferungen, Awdotja Romanowna; höchstens stellt sich jemand solche aus Büchern zusammen ... oder konstruiert sie aus alten Chroniken. Das sind aber doch meistenteils Gelehrte und, wissen Sie, in ihrer Art Schlafmützen, so daß es für einen Mann der Gesellschaft sogar unpassend ist. Übrigens sind Ihnen meine Ansichten überhaupt bekannt; ich klage absolut niemand an. Ich selbst bin ein Zärtling und Nichtstuer und halte mich daran. Wir haben ja mehr als einmal darüber gesprochen. Ich hatte sogar das Glück, daß Sie sich für meine Ansichten interessierten ... Sie sind sehr blaß, Awdotja Romanowna!«
»Ich kenne diese seine Theorie. Ich habe seinen Artikel in der Zeitschrift gelesen, über die Menschen, denen alles erlaubt ist ... Rasumichin hat mir den Artikel gebracht.«
»Herr Rasumichin? Einen Artikel Ihres Bruders? In einer Zeitschrift? Es gibt einen solchen Artikel? Ich wußte es gar nicht. Das muß aber interessant sein! Wo wollen Sie denn hin, Awdotja Romanowna?«
»Ich will Ssofja Ssemjonowna sehen«, sagte Dunjetschka mit schwacher Stimme. »Wie komme ich zu ihr? Vielleicht ist sie schon heimgekommen; ich will sie unbedingt sofort sehen, Sie soll ...«
Awdotja Romanowna konnte nicht weitersprechen; ihr Atem stockte buchstäblich.
»Ssofja Ssemjonowna wird vor Anbruch der Nacht nicht heimkommen. So glaube ich wenigstens. Sie mußte sehr bald zurückkommen, und wenn sie noch nicht da ist, wird sie erst sehr spät kommen ...«
»Ah, du lügst also! Ich sehe ... du hast gelogen ... du hast alles gelogen! Ich glaube dir nicht! Ich glaube nicht! Ich glaube nicht!« schrie Dunjetschka, die den Kopf verloren hatte, in einem echten Anfall von Raserei.
Fast ohnmächtig fiel sie auf einen Stuhl, den ihr Swidrigailow eilig hinschob.
»Awdotja Romanowna, was haben Sie, kommen Sie zu sich! Hier ist Wasser! Nehmen Sie einen Schluck.«
Er spritzte sie mit Wasser an. Dunjetschka fuhr zusammen und kam zum Bewußtsein.
»Die Wirkung war zu stark!« murmelte Swidrigailow vor sich hin mit finsterer Miene. »Awdotja Romanowna, beruhigen Sie sich! Vergessen Sie nicht, daß er Freunde hat. Wir wollen ihn retten, wir wollen ihm helfen. Wollen Sie, daß ich ihn ins Ausland bringe? Ich habe Geld, in drei Tagen verschaffe ich einen Paß. Und was den Mord betrifft, so wird er noch so viele gute Werke tun, daß alles vergessen sein wird, beruhigen Sie sich. Er kann auch noch ein großer Mann werden. Nun, was haben Sie? Wie fühlen Sie sich?«
»Böser Mensch! Er spottet auch noch. Lassen Sie mich ...«
»Wohin denn? Wo wollen Sie hin?«
»Zu ihm. Wo ist er? Wissen Sie das? Warum ist diese Tür verschlossen? Wir sind durch diese Tür hereingekommen, und jetzt ist sie verschlossen. Wann haben Sie Zeit gehabt, sie abzuschließen?«
»Man konnte doch nicht durchs ganze Haus schreien, was wir hier eben sprachen. Ich spotte gar nicht; es ist mir nur zu dumm geworden, diese Sprache zu führen. Wo wollen Sie denn in dieser Verfassung hingehen? Oder wollen Sie ihn verraten? Sie machen ihn noch rasend, und dann wird er sich selbst anzeigen. Vergessen Sie nicht, daß man ihn schon verfolgt, daß man ihm auf der Spur ist. Sie werden ihn nur verraten. Warten Sie: Ich habe ihn eben gesehen und gesprochen; man kann ihn noch retten. Warten Sie, setzen Sie sich, wollen wir es uns zusammen überlegen. Darum habe ich Sie auch herbestellt, um alles unter vier Augen zu besprechen und gut zu überlegen. Setzen Sie sich doch!«
»Auf welche Weise können Sie ihn retten? Kann man ihn denn retten?«
Dunja setzte sich. Swidrigailow nahm an ihrer Seite Platz.
»Das alles hängt von Ihnen ab, von Ihnen allein«, begann er mit funkelnden Augen, fast flüsternd, stotternd und manche Worte nicht zu Ende sprechend.
Dunja wich erschrocken vor ihm zurück. Auch er zitterte am ganzen Leibe.
»Sie ... ein einziges Wort von Ihnen, und er ist gerettet; ich ... ich werde ihn retten. Ich habe Geld und Freunde. Ich will ihn sofort fortschicken, ich werde selbst einen Paß besorgen, zwei Pässe. Einen für ihn und einen für mich. Ich habe Freunde, ich kenne Geschäftsleute ... Wollen Sie? Ich nehme auch für Sie einen Paß ... für Ihre Mutter ... was brauchen Sie Rasumichin! Ich liebe Sie ebenso ... Ich liebe Sie grenzenlos. Lassen Sie mich den Saum Ihres Kleides küssen, lassen Sie mich! Lassen Sie mich! Ich kann nicht hören, wie es raschelt. Sagen Sie zu mir: Tue das – und ich werde es tun! Ich werde alles tun. Ich werde das Unmögliche tun. Woran Sie glauben, werde auch ich glauben. Ich will alles, alles tun! Sehen Sie mich nicht so an, nein, nicht so! Wissen Sie auch, daß Sie mich morden? ...«
Er fing sogar an, irre zu reden. Mit ihm war plötzlich etwas geschehen, als wäre ihm etwas zu Kopf gestiegen. Dunja sprang auf und stürzte zur Tür.
»Öffnet! Öffnet!« schrie sie, um jemand herbeizurufen, und rüttelte die Tür mit den Händen. »Öffnet doch! Ist denn niemand da?!«
Swidrigailow stand auf und kam zur Besinnung. Ein böses und spöttisches Lächeln zeigte sich langsam auf seinen noch zitternden Lippen.
»Dort ist niemand zu Hause«, sagte er langsam, jedes Wort betonend. »Die Wirtin ist fort, und es ist vergebliche Mühe, so zu schreien. Sie regen sich bloß unnütz auf.«
»Wo ist der Schlüssel? Öffne sofort die Tür, sofort, du gemeiner Mensch!«
»Ich habe den Schlüssel verloren und kann ihn nicht finden.«
»Ah! Also ist es eine Vergewaltigung!« schrie Dunja auf. Totenblaß stürzte sie in eine Ecke, wo sie sich schleunigst mit einem Tischchen schützte, das zufällig in der Nähe stand.
Sie schrie nicht; aber sie bohrte ihren Blick in ihren Peiniger und verfolgte scharf jede seiner Bewegungen. Auch Swidrigailow rührte sich nicht vom Fleck und stand ihr gegenüber am andern Ende des Zimmers. Er hatte sogar die Herrschaft über sich wiedererlangt, wenigstens äußerlich. Aber sein Gesicht war so bleich wie früher. Das spöttische Lächeln wich nicht von seinen Lippen.
»Sie sprachen eben von ›Vergewaltigung‹, Awdotja Romanowna. Wenn es eine Vergewaltigung ist, so können Sie sich denken, daß ich die nötigen Maßnahmen ergriffen habe. Ssofja Ssemjonowna ist nicht zu Hause, zu den Kapernaumows ist es weit: Fünf verschlossene Zimmer liegen dazwischen. Schließlich bin ich mindestens zweimal so stark als Sie; außerdem habe ich nichts zu befürchten, denn Sie dürfen sich auch nachher nicht beklagen: Sie werden doch Ihren Bruder nicht verraten wollen? Auch wird es Ihnen niemand glauben: Warum ist ein junges Mädchen allein zu einem alleinstehenden Herrn in die Wohnung gekommen? Also selbst wenn Sie Ihren Bruder opfern, beweisen Sie nichts: Eine Vergewaltigung läßt sich sehr schwer nachweisen, Awdotja Romanowna!«
»Schuft!« flüsterte Dunja entrüstet.
»Wie Sie wollen, aber beachten Sie, bitte, daß ich es nur als bloße Annahme ausgesprochen habe. Nach meiner persönlichen Meinung haben Sie vollkommen recht: Vergewaltigung ist eine Gemeinheit. Ich sagte es nur, damit auf Ihrem Gewissen nicht die geringste Last bleibt, selbst wenn ... selbst wenn Sie sich entschließen, Ihren Bruder freiwillig zu retten, so wie ich es Ihnen vorschlage. Dann haben Sie sich bloß den Umständen gefügt, nun, meinetwegen der Gewalt, wenn Sie sich ohne dieses Wort nicht behelfen können. Denken Sie doch daran: das Schicksal Ihres Bruders und Ihrer Mutter ist in Ihrer Hand. Ich aber werde Ihr Sklave sein mein Leben lang ... hier will ich auf Sie warten ...«
Swidrigailow setzte sich aufs Sofa, acht Schritte von Dunja entfernt. Sie zweifelte nicht mehr an der Unerschütterlichkeit seines Entschlusses. Außerdem kannte sie ihn ja.
Plötzlich holte sie aus der Tasche einen Revolver, spannte den Hahn und stützte die Hand mit dem Revolver auf das Tischchen. Swidrigailow sprang von seinem Platze auf.
»Aha! So ist die Sache!« rief er erstaunt, doch mit einem gehässigen Lächeln. »Das ändert vollkommen den Gang der Ereignisse! Sie erleichtern mir selbst die Sache ganz außerordentlich, Awdotja Romanowna! Wo haben Sie nur den Revolver her? Vielleicht von Herrn Rasumichin? Bah! der Revolver ist doch von mir! Ein alter Bekannter! Und ich habe ihn damals so gesucht! ... Der ländliche Schießunterricht, den ich Ihnen zu erteilen die Ehre hatte, ist also doch nicht unnütz gewesen!«
»Es ist nicht dein Revolver, er gehörte Marfa Petrowna, die du ermordet hast, Bösewicht! In ihrem Hause gehörte dir nichts! Ich nahm ihn mir, als ich zu ahnen begann, wozu du fähig bist. Untersteh dich nur, einen Schritt zu machen, und ich schwöre, daß ich dich töten werde!«
Dunja war ganz außer sich. Sie hielt den Revolver schußbereit.
»Nun, und der Bruder? Ich frage aus bloßer Neugier!« fragte Swidrigailow, noch immer am gleichen Fleck stehend.
»Zeig ihn an, wenn du willst! Nicht von der Stelle! Rühr dich nicht! Ich werde schießen! Du hast deine Frau vergiftet, ich weiß, daß du selbst ein Mörder bist! ...«
»Sind Sie denn fest davon überzeugt, daß ich Marfa Petrowna vergiftet habe?«
»Ja, du! Du hast es mir selbst angedeutet; du hast von Gift gesprochen ... Ich weiß, du bist einmal eigens dazu verreist, um dir Gift zu besorgen ... Du hattest alles vorbereitet ... Das warst du ... Das warst du ganz gewiß ... Schuft!«
»Wenn das auch wahr wäre, so hätte ich es doch nur deinetwegen getan ... du wärest immerhin die Ursache.«
»Du lügst! Ich habe dich immer, immer gehaßt ...«
»Aha, Awdotja Romanowna! Sie haben offenbar vergessen, wie Sie sich im Eifer der Propaganda schon beinahe vergeben hatten und ganz weich geworden waren ... Ich sah es Ihren Äuglein an; erinnern Sie sich noch, abends beim Mondschein, als die Nachtigall schmetterte? ...«
»Du lügst! (Dunjas Augen funkelten vor Wut.) Du lügst, Verleumder!«
»Ich lüge? Gut, mag sein. Ich habe gelogen. Frauen soll man an solche Dinge nicht erinnern. (Er lächelte.) Ich weiß, daß du schießen wirst, du niedliches Tierchen! Nun, schieß doch!«
Dunja hob den Revolver und sah ihn totenblaß, mit erbleichter, zitternder Unterlippe und wie Feuer leuchtenden großen schwarzen Augen an; sie war entschlossen und wartete nur die erste Bewegung von ihm ab. Noch nie hatte er sie so schön gesehen. Das Feuer, das in ihren Augen in dem Augenblick aufleuchtete, als sie den Revolver hob, versengte ihn, und sein Herz krampfte sich zusammen. Er trat einen Schritt vor, und da krachte schon ein Schuß. Die Kugel streifte seine Haare und schlug gegen die Wand hinter ihm. Er blieb stehen und fing leise zu lachen an.
»Die Wespe hat mich gestochen! Sie zielte gerade auf den Kopf ... Was ist das? Blut?«
Er nahm ein Tuch aus der Tasche, um das Blut abzuwischen, das in feinem Strome seine rechte Schläfe hinunterrieselte; die Kugel hatte wohl ganz leicht die Kopfhaut gestreift. Dunja ließ den Revolver sinken und sah Swidrigailow halb erschrocken, halb verblüfft an. Sie schien selbst nicht mehr zu begreifen, was sie tat und was da geschah.
»Nun, ein Fehlschuß! Schießen Sie noch einmal, ich will warten«, sagte Swidrigailow leise, noch immer lächelnd, aber sein Lächeln war jetzt finster. »So kann ich Sie packen, noch ehe Sie den Hahn gespannt haben!«
Dunjetschka fuhr zusammen, spannte schnell den Hahn und hob wieder den Revolver.
»Lassen Sie mich!« sagte sie verzweifelnd. »Ich schwöre Ihnen, ich werde wieder schießen ... Ich werde ... töten ...«
»Nun, warum auch nicht ... auf drei Schritte Distanz ist es schwer, nicht zu töten. Nun, und wenn Sie mich nicht töten ... dann ...«
Seine Augen funkelten, er kam zwei Schritte näher.
Dunjetschka drückte ab, – der Revolver versagte!
»Sie haben nicht sorgfältig genug geladen. Macht nichts! Sie haben noch ein Zündhütchen. Bringen Sie es in Ordnung, ich will warten.«
Er stand zwei Schritte vor ihr, wartete und sah sie mit wilder Entschlossenheit, mit einem glühend leidenschaftlichen, schweren Blicke an. Dunja begriff, daß er eher sterben als sie loslassen würde. – Jetzt wird sie ihn sicher töten – auf zwei Schritte Distanz! –
Plötzlich warf sie den Revolver weg.
»Weggeworfen!« sagte Swidrigailow erstaunt und holte tief Atem.
Eine Last fiel ihm plötzlich vom Herzen; vielleicht war es auch nicht die bedrückende Todesangst allein; in diesem Augenblick empfand er wohl kaum etwas. Es war die Erlösung von einem anderen, viel schmerzvolleren und finsteren Gefühl, das er in seiner ganzen Kraft wohl auch selbst nicht hätte bestimmen können.
Er ging auf Dunja zu und nahm sie leicht mit der Hand um die Taille. Sie widersetzte sich ihm nicht, zitterte aber am ganzen Leibe wie ein Espenblatt und sah ihn mit flehenden Augen an. Er wollte ihr etwas sagen, aber seine Lippen verzogen sich nur, und er konnte keinen Ton hervorbringen.
»Laß mich!« sagte Dunja flehend.
Swidrigailow fuhr zusammen: dieses »du« klang schon ganz anders als das von vorhin.
»Du liebst mich also nicht?« fragte er leise.
Dunja schüttelte verneinend den Kopf.
»Und ... kannst nicht? ... Niemals?« flüsterte er voll Verzweiflung.
»Niemals!« flüsterte Dunja.
Es verging ein Augenblick eines schrecklichen stummen Kampfes in Swidrigailows Seele. Mit einem unaussprechlichen Blicke sah er sie an. Plötzlich zog er seine Hand zurück, wandte sich weg, trat schnell ans Fenster und blieb vor ihr stehen.
Es verging noch ein Augenblick.
»Hier ist der Schlüssel! (Er holte ihn aus der linken Manteltasche und legte ihn hinter sich auf den Tisch, ohne sich umzuwenden und ohne Dunja anzusehen.) – Nehmen Sie ihn und gehen Sie schnell fort! ...«
Er starrte unverwandt zum Fenster hinaus.
Dunja trat an den Tisch, um den Schlüssel zu nehmen.
»Schneller! Schneller!« wiederholte Swidrigailow, immer noch ohne sich zu rühren und umzudrehen.
Aber in diesem »Schneller« lag wohl ein schrecklicher Ton.
Dunja verstand diesen Ton, ergriff den Schlüssel, eilte zur Tür, schloß sie schnell auf und stürzte aus dem Zimmer. Nach einer Minute war sie wie wahnsinnig, halb bewußtlos zum Kanal gekommen und lief in der Richtung zur *schen Brücke.
Swidrigailow blieb noch an die drei Minuten am Fenster stehen, endlich wandte er sich langsam um, blickte um sich und fuhr sich leise mit der Hand über die Stirn. Ein eigentümliches Lächeln verzerrte sein Gesicht; ein trauriges, klägliches, schwaches Lächeln, das Lächeln der Verzweiflung. Das Blut, das schon eintrocknete, hatte seine Hand beschmiert; er sah das Blut mit Haß an; dann feuchtete er ein Handtuch an und wusch sich die Schläfe ab. Plötzlich fiel ihm der von Dunja fortgeschleuderte Revolver, der zur Tür geflogen war, in die Augen. Er hob ihn auf und sah ihn sich an. Es war ein kleiner altmodischer Taschenrevolver für drei Schuß; es waren darin noch zwei Kugeln und ein Zündhütchen. Einmal konnte man noch schießen. Er dachte eine Weile nach, steckte sich den Revolver in die Tasche, nahm den Hut und verließ das Zimmer.
Diesen ganzen Abend bis zehn Uhr verbrachte er in allerlei Wirtschaften und Kloaken, immer von der einen in die andere ziehend. Irgendwo fand er auch die Katja wieder, die ein anderes Lakaienlied sang, in dem davon die Rede war, daß irgendein »Schuft und Tyrann« –
»Fing mich süß zu küssen an.«
Swidrigailow traktierte Katja und den Orgeldreher, die Chorsänger, die Lakaien und zwei Schreiber mit Wein. Mit diesen Schreibern hatte er sich eigentlich bloß darum eingelassen, weil sie beide schiefe Nasen hatten: Bei dem einen war die Nase nach rechts gerichtet und bei dem andern nach links. Das kam Swidrigailow wunderlich vor. Sie schleppten Swidrigailow zuletzt in irgendeinen Vergnügungsgarten, wo er für sie das Eintrittsgeld bezahlte. In diesem Garten gab es eine schmächtige dreijährige Tanne und drei Büsche. Außerdem befand sich darin ein »Kursaal«, eigentlich eine Schenke, in der man aber auch Tee bekommen konnte; außerdem standen darin einige grüne Tische und Stühle. Ein Chor schlechter Sänger und ein betrunkener Deutscher aus München, eine Art Hanswurst, mit roter Nase, doch aus irgendeinem Grunde außerordentlich melancholisch, unterhielten das Publikum. Die beiden Schreiber gerieten mit anderen Schreibern in Streit und waren schon dabei, sich mit ihnen zu prügeln. Swidrigailow wurde von ihnen zum Schiedsrichter gewählt. Er saß schon eine Viertelstunde zu Gericht, sie schrien aber so, daß man unmöglich etwas verstehen konnte. Am wahrscheinlichsten war es, daß einer von ihnen etwas gestohlen und es sogar schon einem zufällig hinzugekommenen Juden verkauft hatte, aber das Geld mit seinem Freunde nicht teilen wollte. Zuletzt stellte es sich heraus, daß der verkaufte Gegenstand ein dem »Kursaal« gehöriger Teelöffel war. Man hatte ihn im »Kursaal« vermißt, und die Sache drohte eine schwierige Wendung zu nehmen. Swidrigailow bezahlte den Löffel, stand auf und verließ den Garten. Es war gegen zehn Uhr. Er selbst hatte während der ganzen Zeit keinen Tropfen Wein getrunken und sich im »Kursaal« nur Tee geben lassen, und auch das nur des Anstands halber. Der Abend war indessen schwül und düster. Gegen zehn Uhr waren von allen Seiten schwere Gewitterwolken aufgezogen; es donnerte, und der Regen strömte hernieder wie ein Wasserfall. Das Wasser fiel nicht tropfenweise, sondern stürzte in ganzen Bächen zur Erde. Jeden Augenblick blitzte es, und während eines jeden Aufleuchtens konnte man bis fünf zählen. Bis auf den letzten Faden durchnäßt, erreichte Swidrigailow seine Wohnung, schloß sich ein, öffnete seinen Schreibtisch, holte das ganze Geld heraus und zerriß zwei oder drei Papiere. Dann steckte er das Geld in die Tasche, wollte sich schon umziehen, blickte aber zum Fenster hinaus, hörte das Gewitter und den Regen und gab die Absicht auf. Dann nahm er den Hut und ging hinaus, ohne seine Wohnung abgeschlossen zu haben. Er ging direkt zu Ssonja. Sie war zu Hause.
Sie war nicht allein: Um sie herum waren die vier Kinder Kapernaumows versammelt. Ssofja Ssemjonowna bewirtete sie mit Tee. Sie begrüßte Swidrigailow schweigend und respektvoll, sah seine durchnäßte Kleidung und sagte kein Wort. Die Kinder liefen sofort alle in unbeschreiblicher Angst davon.
Swidrigailow setzte sich an den Tisch und bat Ssonja, neben ihm Platz zu nehmen. Sie machte sich schüchtern bereit, zuzuhören.
»Ich verreise vielleicht nach Amerika, Ssofja Ssemjonowna,« sagte Swidrigailow, »und da wir uns wahrscheinlich zum letztenmal sehen, bin ich hergekommen, um einige Anordnungen zu treffen. Nun haben Sie jene Dame heute gesehen! Ich weiß, was Sie Ihnen gesagt hat, Sie brauchen es nicht wiederzuerzählen. (Ssonja machte eine Bewegung und errötete.) Diese Menschen haben ihre besondere Art. Was aber Ihre beiden Schwesterchen und das Brüderchen betrifft, so sind sie tatsächlich untergebracht, und das Geld, das ihnen zukommt, habe ich für jeden von ihnen in sichere Hände gegen Quittung eingezahlt. Nehmen Sie übrigens diese Quittungen zu sich, für jeden Fall. Hier, nehmen Sie sie! Nun, das ist erledigt! Hier sind drei fünfprozentige Staatsschuldscheine, im ganzen dreitausend Rubel. Dieses Geld nehmen Sie, bitte, für sich persönlich, und das soll zwischen uns bleiben und niemand soll es erfahren, was Sie auch zu hören bekommen. Sie werden das Geld brauchen, denn das Leben, das Sie bisher führten, ist schlecht, und Sie haben es auch nicht mehr nötig.«
»Sie haben mir so große Wohltaten erwiesen, auch den Waisen und der Verstorbenen,« begann Ssonja hastig, »und wenn ich bis jetzt nur so wenig gedankt habe, so halten Sie es nicht ...«
»Ach, hören Sie auf, hören Sie auf.«
»Für das Geld bin ich Ihnen sehr dankbar, Arkadij Iwanowitsch, aber ich brauche es jetzt nicht mehr. Mich selbst kann ich ja immer ernähren, halten Sie es, bitte, nicht für Undank! Wenn Sie schon so gütig sind, so soll dieses Geld ...«
»Es gehört Ihnen, Ihnen, Ssofja Ssemjonowna, und reden Sie, bitte, nicht mehr davon, denn ich habe so gar keine Zeit. Sie aber können es brauchen. Rodion Romanowitsch hat nur zwei Wege vor sich: entweder eine Kugel durch den Kopf oder den Weg nach Sibirien. (Ssonja sah ihn wie wahnsinnig an und erzitterte.) Sie können ruhig sein, ich weiß alles von ihm selbst, und ich bin kein Schwätzer; ich werde es niemand sagen. Es war sehr gut, daß Sie ihm zuredeten, er solle sich selbst anzeigen. Das wird für ihn selbst viel vorteilhafter sein. Nun, und wenn er nach Sibirien muß, werden Sie ihm doch dorthin folgen – nicht wahr? Nicht wahr? Nun, in diesem Falle werden Sie das Geld brauchen können. Sie werden es doch für ihn selbst brauchen, verstehen Sie? Wenn ich es Ihnen gebe, so ist es das gleiche, als wie wenn ich es ihm gäbe. Außerdem haben Sie doch Amalia Iwanowna versprochen, die Schuld zu bezahlen, ich habe es selbst gehört. Was nehmen Sie auch, Ssofja Ssemjonowna, so unüberlegt solche Verträge und Verpflichtungen auf sich? Katerina Iwanowna schuldete dieser Deutschen das Geld, und nicht Sie, spucken Sie doch auf die Deutsche! So kann man auf der Welt nicht fortkommen! Nun, und wenn Sie jemand nach mir oder über mich befragt, – morgen, übermorgen, – man wird Sie sicher fragen –, so sagen Sie nicht, daß ich heute bei Ihnen war, zeigen Sie auch das Geld nicht und erzählen Sie davon niemand. Nun, und jetzt – auf Wiedersehen! (Er erhob sich vom Stuhl.) Einen Gruß an Rodion Romanowitsch! Übrigens: Halten Sie vorläufig dieses Geld meinetwegen bei Herrn Rasumichin. Kennen Sie Herrn Rasumichin? Natürlich kennen Sie ihn. Ein ganz braver Bursche. Bringen Sie ihm das Geld morgen oder ... wenn die Zeit kommt. Vorläufig verstecken Sie es, so gut Sie können.«
Ssonja sprang plötzlich vom Stuhl auf und sah ihn erschrocken an. Sie wollte ihm unbedingt etwas sagen, ihn etwas fragen, aber im ersten Augenblick wagte sie es nicht und wußte auch nicht, wie zu beginnen.
»Sie wollen ... Sie wollen ... jetzt bei diesem Regen fortgehen?«
»Nun, nach Amerika gehen und den Regen fürchten? ... He-he! Leben Sie wohl, liebe Ssofja Ssemjonowna! Leben Sie, und leben Sie lange, Sie werden anderen nützlich sein. Übrigens ... sagen Sie Herrn Rasumichin, daß ich ihn grüßen lasse. Sagen Sie es ihm wörtlich: ›Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow läßt grüßen!‹ Unbedingt.«
Er ging hinaus und ließ Ssonja erstaunt, erschrocken und mit einem unklaren, schweren Verdacht zurück.
Wie es sich später herausstellte, hatte er am gleichen Abend in der zwölften Stunde noch einen anderen höchst exzentrischen und unerwarteten Besuch abgestattet. Der Regen wollte noch immer nicht aufhören. Ganz durchnäßt kam er um zwanzig Minuten auf Zwölf in die kleine Wohnung der Eltern seiner Braut auf dem Wassiljewskij-Ostrow, in der Dritten Linie des Kleinen Prospekts. Mit Mühe weckte er die Leute und versetzte zuerst alle in große Aufregung; aber Arkadij Iwanowitsch war, wenn er wollte, ein Mann von bezaubernden Manieren, so daß die ursprüngliche (übrigens gar nicht so dumme) Vermutung der klugen Brauteltern, daß Arkadij Iwanowitsch sich irgendwo bis zur Bewußtlosigkeit besoffen habe, in sich selbst zusammenstürzte. Die weichherzige und kluge Mutter der Braut rollte den gelähmten Vater im Krankensessel zu Arkadij Iwanowitsch heraus und begann sofort, ihrer Gewohnheit gemäß, mit gewissen weitausholenden Fragen. (Diese Frau stellte niemals direkte Fragen, sondern begann immer erst zu lächeln und sich die Hände zu reiben; und dann kam sie, wenn sie zum Beispiel unbedingt und sicher erfahren wollte, wann Arkadij Iwanowitsch die Hochzeit zu bestimmen gedenke, mit höchst interessierten und fast gierigen Fragen über Paris und das dortige Hofleben, um dann allmählich und der Reihe nach auf die Dritte Linie auf der Wassiljewskij-Insel zu kommen.) Zu einer anderen Zeit flößte dies alles großen Respekt ein; aber diesmal war Arkadij Iwanowitsch besonders ungeduldig und äußerte den dringenden Wunsch, sofort seine Braut zu sehen, obwohl man ihm gleich am Anfang erzählt hatte, daß die Braut schon zu Bette sei. Die Braut erschien selbstverständlich. Arkadij Iwanowitsch teilte ihr sofort mit, daß er in einer sehr wichtigen Angelegenheit vorübergehend aus Petersburg verreisen müsse und ihr darum fünfzehntausend Rubel in verschiedenen Scheinen gebracht habe, mit der Bitte, das Geld als Geschenk anzunehmen, da er schon längst die Absicht gehabt habe, ihr diese Bagatelle vor der Hochzeit zu schenken. Ein besonderer logischer Zusammenhang zwischen dem Geschenk und der sofortigen Abreise und der Notwendigkeit, deswegen bei Regen, um die Mitternachtsstunde zu kommen, wurde trotz dieser Erklärungen durchaus nicht ersichtlich, alles machte sich jedoch recht anständig. Selbst die unvermeidlichen Seufzer, Fragen und Ausdrücke des Erstaunens nahmen plötzlich eine ungewöhnlich gemäßigte und zurückhaltende Form an, dafür aber wurde der heißeste Dank geäußert und sogar durch die Tränen der vernünftigsten aller Mütter bekräftigt. Arkadij Iwanowitsch stand auf, lachte, küßte die Braut, tätschelte ihr die Wange und versprach noch einmal, sehr bald zurückzukommen; als er in ihren Augen neben der kindlichen Neugier auch eine ernste, stumme Frage las, dachte er noch eine Weile nach, küßte sie wieder und spürte aufrichtigen Arger, daß das Geschenk sofort in Verwahrung der vernünftigsten aller Mütter kommen würde. Er ging und hinterließ alle im Zustande ungewöhnlicher Aufregung. Aber die weichherzige Mama löste sofort im Flüstertone und hastig einige der wichtigsten Bedenken, nämlich, daß Arkadij Iwanowitsch ein Mann mit großen Geschäften und Verbindungen, ein reicher Mann sei; Gott allein könne wissen, was er für Pläne habe; wenn es ihm einfalle, reise er fort, wenn es ihm einfalle, mache er ein Geldgeschenk, also brauche man sich über ihn nicht zu wundern. Es sei natürlich sehr sonderbar, daß er ganz durchnäßt war, aber die Engländer seien zum Beispiel noch viel exzentrischer, und überhaupt kümmerten sich alle Leute der großen Welt sehr wenig darum, was man von ihnen sagt, und genierten sich nicht. Vielleicht gehe er absichtlich so umher, um zu zeigen, daß er nichts fürchte. Vor allen Dingen dürfe man aber keinem Menschen ein Wort davon sagen, denn Gott allein wisse, was daraus noch werden würde; das Geld müsse sofort eingeschlossen werden, und es sei sicher sehr gut, daß Fedoßja in der Küche geblieben war; das Wichtigste aber sei, kein Wort davon der gerissenen Rößlich zu sagen, und so weiter und so weiter. So blieben sie bis zwei Uhr tuschelnd sitzen. Die Braut ging übrigens viel früher schlafen, erstaunt und ein wenig traurig.
Swidrigailow passierte indessen Punkt zwölf Uhr die *sche Brücke in der Richtung nach der Petersburger Seite. Es hatte zu regnen aufgehört, aber der Wind brauste noch. Er fing zu zittern an und blickte eine Weile mit besonderem Interesse und sogar fragend auf das schwarze Wasser der Kleinen Newa. Aber es wurde ihm bald viel zu kalt, über dem Wasser zu stehen; er drehte sich um und ging in den *schen Prospekt. Lange, fast eine halbe Stunde, schritt er den unendlichen *schen Prospekt entlang, stolperte mehr als einmal auf dem Holzpflaster, hörte aber nicht auf, aufmerksam etwas auf der rechten Seite des Prospektes zu suchen. Hier, fast am Ende des Prospektes, hatte er einmal zufällig im Vorbeifahren ein hölzernes, doch großes Gasthaus bemerkt, dessen Name, soweit er sich erinnerte, ähnlich wie »Adrianopel« klang. Er hatte sich in seinen Erwartungen nicht getäuscht; das Gasthaus war in dieser Einöde ein so sichtbarer Punkt, daß es ganz unmöglich war, es selbst im Finstern nicht zu finden. Es war ein langgestrecktes, hölzernes, schwarzgewordenes Gebäude, in dem trotz der späten Stunden noch Licht brannte und ein reges Leben zu sehen war. Er trat ein und fragte einen abgerissenen Kerl, den er im Korridor traf, nach einem Zimmer. Der zerlumpte Kerl warf einen Blick auf Swidrigailow, schüttelte sich und führte ihn sofort in ein enges, dumpfes Zimmer, das ganz am Ende des Korridors, in der Ecke unter der Treppe, lag. Ein anderes war aber nicht zu haben; alle Zimmer waren besetzt. Der zerlumpte Kerl sah ihn fragend an.
»Gibt's Tee?« fragte Swidrigailow.
»Kann gemacht werden.«
»Was gibt's noch?«
»Kalbfleisch, Schnaps, kalten Imbiß.«
»Bring mir Kalbfleisch und Tee.«
»Sonst wünschen Sie nichts?« fragte der Kerl sogar mit einigem Erstaunen.
»Nein, nichts.«
Der zerlumpte Kerl verschwand vollkommen enttäuscht.
– Das muß wohl ein guter Ort sein, – dachte Swidrigailow: – wie kommt es, daß ich ihn nicht kannte? Ich habe wohl auch das Aussehen eines Menschen, der aus einem Tingeltangel kommt, aber unterwegs schon eine Geschichte gehabt hat. Es wäre interessant, zu erfahren, wer hier absteigt und übernachtet.
Er zündete ein Licht an und betrachtete sein Zimmer genauer. Es war eine winzige kleine Kammer, beinahe zu niedrig für Swidrigailows Körpergröße, mit nur einem Fenster. Die Wände sahen so aus, als wären sie aus Brettern zusammengenagelt, und die abgeriebene Tapete war so verstaubt und zerrissen, daß man ihre (gelbe) Farbe noch erraten, aber das Muster nicht mehr unterscheiden konnte. Der eine Teil der Wand und der Decke war schräg abgeschnitten, wie es gewöhnlich in Mansarden ist, aber hier befand sich darüber die Treppe. Swidrigailow stellte das Licht hin, setzte sich aufs Bett und versank in Gedanken. Aber ein sonderbares und ununterbrochenes Flüstern im Nebenzimmer, das sich zuweilen fast bis zu einem Geschrei steigerte, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Geflüster hatte seit dem Augenblick, als er eingetreten war, nicht aufgehört. Er lauschte: jemand schimpfte und überschüttete einen anderen weinend mit Vorwürfen, aber man hörte nur eine Stimme. Swidrigailow erhob sich verdeckte mit der Hand die Kerzenflamme und sah sofort an der Wand eine Ritze aufblitzen; er ging heran und blickte hinein. In dem Zimmer, das etwas größer war als das seinige, befanden sich zwei Gäste. Der eine, ohne Rock, mit lockigem Kopf und rotem, erregtem Gesicht, stand in Rednerpose da, die Beine weit auseinander, um das Gleichgewicht zu bewahren, schlug sich mit der Hand vor die Brust und warf dem anderen pathetisch vor, daß er ein Bettler sei und sogar keinen Rang habe, daß er ihn aus dem Schmutz herausgezogen habe und ihn, wenn er wolle, wegjagen könne; das alles sehe aber der Finger Gottes allein. Der Freund, dem diese Rede galt, saß auf einem Stuhl und hatte die Miene eines Menschen, der sehr gerne niesen möchte, dem es aber nicht gelingen will. Ab und zu sah er mit einem trüben Schafsblicke den Redner an, schien aber nicht die geringste Ahnung davon zu haben, wovon die Rede war, und auch kaum etwas zu hören. Auf dem Tisch brannte ein Kerzenstumpf, standen und lagen eine fast leere Schnapsflasche, Gläser, Brot, Gurken und Teegeschirr; der Tee war schon längst ausgetrunken. Nachdem Swidrigailow dieses Bild aufmerksam betrachtet hatte, verließ er gleichgültig die Ritze und setzte sich wieder aufs Bett.
Der abgerissene Kerl, der mit dem Tee und dem Kalbfleisch gekommen war, konnte sich nicht enthalten, wieder zu fragen, ob der Herr nicht noch etwas wünsche, und entfernte sich, nachdem er abermals eine verneinende Antwort bekommen hatte, endgültig aus dem Zimmer. Swidrigailow stürzte sich über den Tee, um sich schneller zu erwärmen, und trank ein Glas, aber essen konnte er nicht, da er jeden Appetit verloren hatte. Offenbar begann er zu fiebern. Er zog Mantel und Jacke aus, wickelte sich in die Decke und legte sich aufs Bett. Er ärgerte sich: »Diesmal wäre es doch besser, gesund zu sein«, dachte er sich und lächelte. Im Zimmer war es dumpf, das Licht brannte trüb, draußen brauste der Wind, irgendwo in einer Ecke nagte eine Maus, und im Zimmer roch es überhaupt nach Mäusen und nach Leder. Er lag da und träumte, ein Gedanke löste den anderen ab. Es schien, als wollte er sich mit seiner Phantasie an etwas Bestimmtes klammern. »Draußen unter dem Fenster ist wohl irgendein Garten«, dachte er ... »Die Bäume rauschen; wie widerlich ist mir das Rauschen der Bäume in der Nacht, bei Sturm, im Finstern, – ein übles Gefühl!« Und er erinnerte sich, wie er, als er vorhin am Petrowskij-Park vorüberging, mit Widerwillen an ihn gedacht hatte. Bei dieser Gelegenheit erinnerte er sich auch der *schen Brücke und der Kleinen Newa, und er fühlte wieder eine Kälte, wie vorhin, als er über dem Wasser stand. »Nie im Leben habe ich Wasser gemocht, selbst auf Landschaftsbildern nicht«, dachte er sich wieder und lächelte plötzlich über einen sonderbaren Gedanken: »Jetzt müßten mir doch eigentlich jede Ästhetik und jeder Komfort gleichgültig sein, aber gerade jetzt bin ich wählerisch geworden, wie ein Tier, das sich einen passenden Ort aussucht ... im gleichen Falle. Ich hätte eben vorhin in den Petrowskij-Park einbiegen sollen! Kam mir aber wohl zu dunkel und kalt vor, he-he! Beinahe suche ich angenehme Gefühle! ... Übrigens: warum soll ich nicht die Kerze auslöschen? (Er blies sie aus.) Die Nachbarn haben sich wohl schon schlafen gelegt«, dachte er, als er in der Ritze kein Licht mehr sah. »Nun, Marfa Petrowna, jetzt hätten Sie erscheinen sollen: es ist dunkel, der Ort ist geeignet, und der Augenblick originell. Aber gerade jetzt werden Sie nicht kommen ...«
Es kam ihm plötzlich aus irgendeinem Grunde in den Sinn, daß er vorhin, eine Stunde vor seinem Anschlag auf Dunjetschka, Raskolnikow empfohlen hatte, sie der Obhut Rasumichins anzuvertrauen. »In der Tat, ich habe es damals wirklich mehr gesagt, um mich selbst zu reizen, was Raskolnikow auch erraten hat. Dieser Raskolnikow ist aber ein geriebener Junge! Große Lasten hat er schon getragen. Kann mit der Zeit ein großer Spitzbube werden, wenn ihm der ganze Unsinn aus dem Kopfe herausfliegt, jetzt will er aber zu sehr leben. In diesem Punkte sind alle diese Leute gemein. Na, hol ihn der Teufel, was geht es mich an.«
Er konnte immer keinen Schlaf finden. Allmählich erstand vor ihm das Bild Dunjetschkas, wie er sie vorhin gesehen hatte, und plötzlich lief ein Zittern durch seinen Körper. »Nein, das muß man jetzt schon aufgeben,« dachte er, zu sich kommend, »man muß an etwas anderes denken. Sonderbar und lächerlich: gegen niemand habe ich jemals starken Haß gehabt, habe auch niemals besondere Rachlust gespürt, das ist aber ein schlimmes Zeichen, ein schlimmes Zeichen! Habe auch niemals gerne gestritten, bin auch nie hitzig geworden – auch ein schlimmes Zeichen! Und was habe ich ihr vorhin nicht alles versprochen, – pfui Teufel! Vielleicht hätte sie mich aber auch irgendwie ummodeln können ...« Er schwieg wieder und preßte die Lippen zusammen: wieder erschien vor ihm Dunjetschkas Bild, genau wie sie aussah, als sie nach dem ersten Schuß erschrocken war, den Revolver sinken ließ und ihn leichenblaß ansah, so daß er sie zweimal hätte packen können, während sie nicht einmal die Hand zur Gegenwehr erhoben hätte, wenn er sie nicht selbst daran erinnerte. Er erinnerte sich, wie er in diesem Augenblick etwas wie Mitleid mit ihr spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte ... »Ach, zum Teufel! Wieder diese Gedanken; das muß ich alles aufgeben, aufgeben, aufgeben! ...«
Er schlief schon ein, das fieberhafte Zittern war im Abnehmen; plötzlich lief etwas unter der Bettdecke über seinen Arm und sein Bein. Er fuhr zusammen: »Pfui Teufel, das scheint ja eine Maus zu sein!« dachte er. »Ich habe das Kalbfleisch auf dem Tische stehen lassen ...« Er hatte furchtbar wenig Lust, die Decke abzuwerfen, aufzustehen und zu frieren, aber plötzlich fuhr ihm wieder etwas höchst unangenehm über das Bein; er riß die Decke von sich und steckte die Kerze an. Vor fieberhafter Kälte zitternd, bückte er sich und untersuchte das Bett, konnte aber nichts sehen; nun schüttelte er die Decke, und plötzlich sprang auf das Laken eine Maus. Er versuchte sie zu fangen; aber die Maus sprang nicht vom Bett herunter, sondern rannte im Zickzack in allen Richtungen, glitt ihm durch die Finger, lief ihm über die Hand und huschte plötzlich unter das Kissen; er warf das Kissen zu Boden, spürte aber im gleichen Augenblick, wie ihm etwas in den Busen sprang und unter seinem Hemde über den Rücken huschte. Ihn befiel ein nervöses Zittern und – er erwachte. Im Zimmer war es dunkel, er lag wie vorhin im Bette, in die Decke gehüllt, hinter dem Fenster heulte der Wind. »Wie ekelhaft!« dachte er ärgerlich.
Er stand auf und setzte sich auf den Bettrand, mit dem Rücken gegen das Fenster. »Lieber nicht mehr einschlafen!« sagte er sich. Vom Fenster kam übrigens Kälte und Feuchtigkeit herein; ohne aufzustehen, zog er die Decke über sich und hüllte sich in sie. Die Kerze steckte er nicht an. Er dachte an nichts und wollte an nichts denken; doch Visionen zogen eine nach der anderen an ihm vorbei, Bruchstücke von Gedanken ohne Anfang, ohne Ende und ohne Zusammenhang wirbelten ihm durch den Sinn. Er verfiel gleichsam in einen Halbschlummer. War es die Kälte, die Dunkelheit, die Feuchtigkeit oder der Wind, der draußen heulte und die Bäume bewegte, was in ihm eine hartnäckige phantastische Neigung weckte, – aber er sah plötzlich lauter Blumen vor sich. Ein herrliches blühendes Landschaftsbild tauchte vor ihm auf: ein heiterer, warmer, fast heißer Frühlingstag, ein Pfingsttag; ein reiches, prächtiges Landhaus in englischem Stil, ganz von duftenden Blumenbeeten umgeben; der Eingang umwunden von Schlingpflanzen, verdeckt von Rosenstöcken; eine helle, kühle Treppe, mit einem prächtigen Teppich bedeckt, flankiert von seltenen Blumen in chinesischen Vasen. Besonders fielen ihm wassergefüllte Glasvasen auf den Fensterbänken auf, gefüllt mit Sträußen von weißen, zarten, stark duftenden Narzissen, die sich auf ihren grellgrünen, dicken und langen Stengeln bogen. Er wollte sich von ihnen gar nicht trennen, aber er ging die Treppe hinauf in einen großen, hohen Saal, und auch hier waren überall an den Fenstern, vor der offenen Tür zur Terrasse und auf der Terrasse selbst Blumen, nichts als Blumen. Der Boden war mit frischgemähtem, duftendem Gras bestreut, die Fenster standen offen, eine frische, leichte, kühle Luft drang ins Zimmer, Vögel zwitscherten vor den Fenstern, und mitten im Saale stand auf einigen zusammengerückten, mit weißem Atlas bedeckten Tischen ein Sarg. Dieser Sarg war mit weißem Gros-de-Naples ausgeschlagen und mit weißen Rüschen benäht. Blumengirlanden umrankten ihn auf allen Seiten. Ganz in Blumen lag darin ein kleines Mädchen in weißem Tüllkleid, die wie aus Marmor gemeißelten, zusammengefalteten Hände an die Brust gedrückt. Aber ihre aufgelösten hellblonden Haare waren naß; ein Rosenkranz schmückte ihr Haupt. Das strenge und schon erstarrte Gesichtsprofil war auch wie aus Marmor gemeißelt, doch das Lächeln auf den blassen Lippen war von einem gar nicht kindlichen, grenzenlosen Weh und einer großen Klage erfüllt. Swidrigailow kannte dieses Mädchen; am Sarge gab es weder ein Heiligenbild noch brennende Kerzen, es waren keine Gebete zu hören. Das kleine Mädchen war eine Selbstmörderin, die man aus dem Wasser gezogen hatte. Sie war nur vierzehn Jahre alt, aber ihr Herz war schon gebrochen, sie hatte sich getötet, durch eine schändliche Tat verletzt, die ihr junges, kindliches Bewußtsein mit Entsetzen und Erstaunen erfüllt, die ihre engelreine Seele mit unverdienter Schande besudelt und ihr einen letzten Schrei der Verzweiflung entrissen hatte, der nicht erhört, sondern frech erstickt wurde in finstrer Nacht, in Kälte, bei feuchtem Tauwetter, als der Wind heulte ...
Swidrigailow kam zu sich, stand auf und trat ans Fenster. Er fand tastend den Riegel und öffnete das Fenster. Der Wind drang rasend in seine enge Kammer und schlug mit frostigem Reif gegen sein Gesicht und seine nur mit dem Hemd bedeckte Brust. Unter dem Fenster befand sich wohl tatsächlich etwas wie ein Garten, vielleicht sogar ein Vergnügungsgarten; wahrscheinlich sang bei Tage auch hier ein Sängerchor und wurde auf den Tischen Tee serviert. Jetzt aber flogen von den Bäumen und Sträuchern Regentropfen ins Fenster, es war dunkel wie in einem Keller, so daß man kaum einige dunkle Flecken, die Gegenstände darstellten, unterscheiden konnte. Swidrigailow beugte sich hinaus und blickte an die fünf Minuten, sich mit den Ellenbogen auf das Fensterbrett stützend, unverwandt in dieses Dunkel. Durch die finstere Nacht tönte plötzlich ein Kanonenschuß, ihm folgte ein zweiter.
»Aha, das Signal! Das Wasser steigt!« dachte er. »Gegen Morgen wird es in den niedriggelegenen Stadtteilen in die Straßen fluten, die Keller überschwemmen, die Kellerratten werden emporschwimmen, und die Menschen werden in Wind und Regen, durchnäßt und fluchend ihren Plunder in die oberen Stockwerke schleppen ... Wie spät mag es jetzt wohl sein?« Kaum hatte er sich das gefragt, als irgendwo ganz in der Nähe, tickend und sich mit aller Kraft beeilend, eine Wanduhr drei schlug. »Ach, in einer Stunde fängt es schon zu tagen an! Was soll ich noch länger warten? Ich gehe gleich von hier weg direkt in den Petrowskij-Park; dort suche ich mir einen großen Strauch aus, ganz vom Regen übergossen, so daß, wenn man ihn nur mit der Schulter berührt, Millionen von Tropfen den Kopf überschütten ...« Er ging vom Fenster weg, machte es zu, steckte die Kerze an, zog Weste und Mantel an, setzte sich den Hut auf und ging mit der Kerze in der Hand in den Korridor, um den abgerissenen Kerl, der irgendwo in einer Kammer zwischen allerlei Gerümpel und Kerzenstümpfen schlafen mochte, aufzusuchen, mit ihm abzurechnen und das Gasthaus zu verlassen. »Es ist der beste Augenblick, einen besseren hätte ich gar nicht finden können!«
Er ging lange auf dem langen schmalen Korridor auf und ab, ohne jemand zu finden, und wollte schon laut rufen, als er plötzlich in einer dunklen Ecke zwischen einem alten Schrank und einer Tür einen sonderbaren Gegenstand entdeckte; es schien etwas Lebendiges zu sein. Er beugte sich mit der Kerze darüber und sah ein Kind, ein höchstens fünfjähriges kleines Mädchen, in einem wie ein Bodenlappen durchnäßten Kleidchen, ein zitterndes und weinendes Kind. Es schien vor Swidrigailow gar keine Angst zu haben, sah ihn mit stumpfem Staunen mit seinen großen schwarzen Augen an und schluchzte ab und zu, wie Kinder, die lange geweint haben, aber schon stillgeworden sind und sich sogar getröstet haben, doch noch immer ab und zu aufzuschluchzen pflegen. Das Gesichtchen war blaß und mager; sie war vor Kälte fast erstarrt, – aber »wie ist sie nur hergeraten? Sie hat sich also hier versteckt und die ganze Nacht nicht geschlafen«. Er begann sie auszufragen. Das Mädchen wurde plötzlich lebhaft und stammelte etwas sehr schnell in ihrer kindlichen Sprache. Die Rede war von einem »Mamachen« und daß »Mamachen hauen wird« und von irgendeiner Tasse, die das Kind zerschlagen hatte. Das Mädchen redete ununterbrochen; aus allen diesen Reden konnte man einiges verstehen: daß es ein verhaßtes Kind sei, das von seiner Mutter, einer ewig betrunkenen Köchin, wahrscheinlich im Gasthause selbst, durch fortwährende Schläge ganz eingeschüchtert worden; daß das Kind eine Tasse dieses Mamachens zerschlagen habe und so erschrocken wäre, daß sie schon am Abend weggelaufen sei; wahrscheinlich hatte sie sich lange auf dem Hof im Regen verborgengehalten, sich dann ins Haus eingeschlichen, sich hinter den Schrank versteckt und hier in der Ecke die ganze Nacht weinend und zitternd vor Nässe, Dunkelheit und Angst, daß man sie schlagen würde, gesessen. Er nahm sie auf die Arme, ging in sein Zimmer, setzte sie aufs Bett und begann sie auszukleiden. Ihre durchlöcherten Schuhe, unter denen sie keine Strümpfe hatte, waren so durchnäßt, als hätten sie die ganze Nacht in einer Pfütze gelegen. Nachdem er sie entkleidet hatte, legte er sie ins Bett und hüllte sie bis zum Kopf in die Decke. Sie schlief sofort ein. Nachdem er mit alledem fertig war, versank er wieder in düsteres Brüten.
»Was mußte ich mich mit ihr einlassen!« sagte er sich plötzlich mit einem schweren und gehässigen Gefühl. »Was für Unsinn!« Argerlich nahm er die Kerze, um hinauszugehen, um jeden Preis den abgerissenen Kerl zu finden und so schnell als möglich von hier wegzukommen. »Ach, das Mädel!« dachte er fluchend, als er schon die Tür öffnete, kam aber noch einmal zurück, um nach dem Kinde zu sehen, ob es schon schlafe und wie es schlafe. Er lüftete vorsichtig die Decke. Das Mädchen schlief fest und selig. Sie war unter der Decke warm geworden, und ihre blassen Wangen hatten sich gerötet. Aber seltsam: Dieses Rot war greller und leuchtender als sonst das Rot auf kindlichen Wangen. »Das ist fieberhafte Röte«, sagte sich Swidrigailow; »es ist, wie wenn man ihr ein ganzes Glas Wein zu trinken gegeben hätte. Die roten Lippen brennen und glühen, aber was ist das?« Ihm schien es plötzlich, als ob ihre langen schwarzen Wimpern zuckten und blinzelten, als ob sie sich höben und unter ihnen ein schelmisches, scharfes, gar nicht kindlich blinzelndes Auge hervorblickte, als ob das Mädchen gar nicht schliefe und sich nur verstellte. Ja, so ist es: Ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, die Mundwinkel zucken, als ob sie ein Lachen zurückhalten wollten. Nun hält sie sich nicht mehr zurück: Es ist ein Lachen, ein ausgesprochenes Lachen; etwas Freches und Herausforderndes leuchtet in diesem gar nicht kindlichen Gesicht; das ist das Laster, das ist das Gesicht einer Kokette, das freche Gesicht einer feilen französischen Dirne. Schon öffnen sich ganz unverhohlen beide Augen: Sie mustern ihn mit einem glühenden, schamlosen Blick, sie locken ihn, sie lachen ... Etwas unendlich Häßliches und Beleidigendes lag in diesem Lachen, in diesen Augen, in diesem ganzen gemeinen Kindergesicht. »Wie! Eine Fünfjährige!« flüsterte Swidrigailow mit tiefem Entsetzen. »Ja ... was ist denn das?« Nun wendet sie sich ihm mit ihrem glühenden Gesichtchen ganz zu, streckt die Arme aus ... »Ah, Verfluchte!« schrie Swidrigailow entsetzt, mit der Hand zum Schlage ausholend. Aber im selben Augenblick erwachte er.
Er liegt im gleichen Bette, wie früher in die Decke gehüllt, die Kerze ist nicht angezündet, und durch das Fenster leuchtet weiß der Morgen herein.
»Ein Alpdrücken die ganze Nacht!« Er stand zornig auf und fühlte sich ganz zerschlagen; alle Knochen schmerzten ihm. Draußen war ein dichter Nebel, und man konnte nichts unterscheiden. Bald fünf Uhr: Er hatte sich verschlafen! Er stand auf und zog Weste und Mantel an, die noch feucht waren. Er fühlte in der Tasche den Revolver, nahm ihn heraus und brachte das Zündhütchen in Ordnung; dann setzte er sich, nahm aus der Tasche sein Notizbuch und schrieb auf das Titelblatt, an auffallender Stelle mit großer Schrift einige Zeilen. Er las sie durch, stützte sich auf den Tisch und dachte eine Weile nach. Der Revolver und das Notizbuch lagen gleich neben seinem Ellenbogen. Die erwachten Fliegen klebten auf der Portion Kalbfleisch herum, die er nicht angerührt hatte und die immer noch hier auf dem Tische stand. Er sah sie lange an und versuchte endlich mit der freien rechten Hand nach einer Fliege zu haschen. Lange bemühte er sich, konnte sie aber unmöglich fangen. Endlich ertappte er sich bei dieser interessanten Beschäftigung, fuhr zusammen, stand auf und ging entschlossen aus dem Zimmer. Nach einer Minute war er schon auf der Straße.
Ein milchweißer dichter Nebel lag über der Stadt. Swidrigailow ging auf dem schlüpfrigen, schmutzigen Holzpflaster in der Richtung zu der Kleinen Newa. Er malte sich das während der Nacht hochgestiegene Wasser der Kleinen Newa aus, die Petrowskij-Insel, nasse Wege, nasses Gras, nasse Bäume und Sträucher und endlich jenen bewußten Strauch ... Um an etwas anderes zu denken, begann er voll Ärger die Häuser zu mustern. Weder einen Menschen noch eine Droschke traf er auf dem Prospekt. Traurig und schmutzig sahen die grellgelben hölzernen Häuschen mit den geschlossenen Läden aus. Kälte und Nässe drangen ihm durch Mark und Bein, und ihn begann zu frösteln. Hier und da stieß er auf Schilder von Kauf-und Gemüseläden und las jedes aufmerksam. Schon war das Holzpflaster zu Ende. Er erreichte ein großes steinernes Gebäude. Ein schmutziger durchfrorener kleiner Hund mit eingezogenem Schwanz lief ihm über den Weg. Ein vollkommen betrunkener Mensch in einem Uniformmantel lag mit dem Gesicht nach unten quer über das Trottoir. Er sah ihn an und ging weiter. Ein hoher Feuerwehrturm tauchte links von ihm auf.
»Bah!« sagte er sich. »Das ist die beste Stelle, was brauche ich den Petrowskij-Park? Hier ist wenigstens ein offizieller Zeuge dabei ...«
Bei diesem neuen Gedanken mußte er beinahe lächeln. Er bog in die ***sche Straße ein; hier ragte ein großes Haus mit einem Turm. Vor dem verschlossenen mächtigen Tore des Hauses stand, mit der Schulter daran gelehnt, ein kleines Männchen in einem grauen Soldatenmantel, mit einem messingenen Achilleshelm auf dem Kopfe. Mit verschlafenen Augen schielte er kühl den herantretenden Swidrigailow an. Sein Gesicht drückte jenen ewigen, verdrießlichen Gram aus, der sich so unangenehm ohne Ausnahme allen Gesichtern des jüdischen Volkes aufgeprägt hat. Beide, Swidrigailow und der Achilles, betrachteten einander schweigend eine ganze Weile. Dem Achilles erschien es endlich nicht in der Ordnung, daß ein Mensch, der gar nicht betrunken ist, drei Schritte vor ihm steht, ihn anstarrt und nichts sagt.
»Was su-uchen Sie denn hier?« fragte er mit unverkennbar jüdischem Akzent, ohne sich zu rühren und ohne seine Stellung zu verändern.
»Gar nichts, Bruder, guten Tag!« antwortete Swidrigailow.
»Hier ist nicht der Ort.«
»Ich fahre in ein fremdes Land, Bruder.«
»In ein fremdes Land?«
»Nach Amerika.«
»Nach Amerika?«
Swidrigailow holte den Revolver hervor und spannte den Hahn. Der Achilles zog die Brauen hoch.
»Was sind das für Scherze, hier ist nicht der Ort!«
»Warum sollte hier nicht der Ort sein?«
»Weil hier nicht der Ort ist.«
»Na, Bruder, das ist mir einerlei. Der Ort ist gut; wenn man dich fragt, so sagst du eben, ich sei nach Amerika gefahren.«
Er setzte den Revolver an seine rechte Schläfe.
»Hier geht das nicht, hier ist nicht der Ort!« rief Achilles zusammenfahrend, während seine Pupillen sich immer mehr erweiterten.
Swidrigailow drückte ab.
Am gleichen Tage, gegen Abend, um die siebente Stunde näherte sich Raskolnikow der Wohnung seiner Mutter und Schwester – der gleichen Wohnung im Hause Bakalejews, wo sie Rasumichin untergebracht hatte. Der Eingang zur Treppe war von der Straße aus. Vor dem Hause verlangsamte Raskolnikow seine Schritte, als schwankte er noch, ob er hinaufgehen solle oder nicht. Er würde aber um nichts in der Welt umkehren: sein Entschluß stand fest.
– Außerdem ist es ganz gleich, denn sie wissen noch nichts – dachte er – und sie sind schon gewohnt, mich für einen Sonderling zu halten.
Seine Kleidung war schrecklich: alles war beschmutzt, vom Regen während der Nacht durchnäßt, zerrissen und abgetragen. Sein Gesicht war entstellt durch die Müdigkeit, das schlechte Wetter, die körperliche Erschöpfung und den beinahe vierundzwanzigstündigen Kampf mit sich selbst. Die ganze Nacht hatte er ganz allein verbracht, Gott weiß wo. Aber er hatte sich wenigstens entschlossen.
Er klopfte an die Tür, und die Mutter öffnete ihm. Dunjetschka war nicht zu Hause. Auch das Dienstmädchen war nicht da. Pulcheria Alexandrowna war zuerst stumm vor freudigem Erstaunen; dann ergriff sie seine Hand und zog ihn ins Zimmer.
»Nun, da bist du ja!« begann sie, vor Freude stockend. »Sei mir nicht böse, Rodja, daß ich dich so dumm begrüße – mit Tränen; aber ich lache ja und weine nicht. Du glaubst, ich weine? Nein, es ist Freude, ich habe nur diese dumme Gewohnheit, daß mir die Tränen fließen. Das habe ich seit dem Tode deines Vaters, bei jeder Gelegenheit weine ich. Setz dich doch, Liebster, du bist sicher müde, ich sehe es. Ach, wie du dich beschmutzt hast!«
»Ich war gestern im Regen ...« begann Raskolnikow.
»Aber nein, nein!« fuhr Pulcheria Alexandrowna auf, ihn unterbrechend. »Du glaubst wohl, ich werde gleich anfangen, dich auszufragen, nach meiner früheren Altweibergewohnheit; du kannst ruhig sein. Ich verstehe ja, ich verstehe alles; jetzt habe ich die hiesigen Sitten gelernt und sehe wirklich ein, daß man hier klüger ist. Ich habe mir ein für allemal gesagt: Wie komme ich dazu, deine Entschlüsse zu verstehen und von dir Rechenschaft zu fordern? Du hast vielleicht Gott weiß was für Dinge und Pläne im Kopfe, oder es keimen in dir Gedanken; wie soll ich dir dabei in die Hand fallen und dich fragen: Woran denkst du jetzt? Ich ... Ach, Gott! Was laufe ich herum wie eine Verrückte? ... Ich lese eben deinen Artikel in der Zeitschrift zum drittenmal, Rodja, Dmitrij Prokofjitsch hat ihn mir gebracht. Wie ich ihn sah, schrie ich förmlich auf: Eine dumme Gans bin ich, sagte ich mir, jetzt sehe ich, womit er sich beschäftigt, das ist ja die Lösung der Dinge! Die Gelehrten sind immer so. Vielleicht hat er gerade neue Gedanken im Kopfe; er überlegt sie sich, und ich quäle und störe ihn. Ich lese den Artikel, mein Freund, und verstehe vieles natürlich nicht; so muß es übrigens auch sein: Wie käme ich dazu.«
»Zeigen Sie ihn mir, Mama.«
Raskolnikow nahm das Blatt und warf einen flüchtigen Blick auf seinen Artikel. Wie sehr es auch seiner Lage und seinem Zustande widersprach, empfand er doch das eigenartig schmerzvoll-süße Gefühl, das jeder Autor empfindet, wenn er sich zum erstenmal gedruckt sieht; auch seine dreiundzwanzig Jahre sprachen dabei mit. Das dauerte nur einen Augenblick. Nachdem er einige Zeilen gelesen hatte, runzelte er die Stirn, und sein Herz krampfte sich vor furchtbarem Gram zusammen. Alle seine seelischen Kämpfe der letzten Monate kamen ihm auf einmal zum Bewußtsein. Angeekelt und geärgert warf er den Artikel auf den Tisch.
»Aber, Rodja, ich mag auch dumm sein, aber ich kann doch darüber urteilen, daß du sehr bald einer der ersten, wenn nicht der Erste in unserer Gelehrtenwelt sein wirst. Und sie wagten es, zu glauben, daß du verrückt geworden seist. Ha-ha-ha! Weißt du, sie haben es wirklich geglaubt. Und auch Dunjetschka, Dunjetschka hat es beinahe geglaubt – was sagst du dazu?! Dein seliger Vater hat zweimal Beiträge an Zeitschriften geschickt: Zuerst Verse (ich habe noch das Heftchen, ich will es dir einmal zeigen) und dann eine ganze Erzählung (ich hatte ihn gebeten, sie abschreiben zu dürfen); so inbrünstig beteten wir beide, daß man es nehme, sie nahmen es aber nicht an! Vor sechs, sieben Tagen war ich totunglücklich, Rodja, als ich sah, wie du dich kleidest, was du ißt und wie du herumgehst. Aber jetzt sehe ich, daß ich damals dumm war, denn wenn du willst, kannst du dir mit deinem Verstand und deinem Talent alles verschaffen. Also willst du es bloß vorläufig nicht und bist mit viel wichtigeren Dingen beschäftigt ...«
»Ist Dunja nicht zu Hause, Mama?«
»Nein, Rodja. Sie ist sehr oft nicht zu Hause und läßt mich allein. Dmitrij Prokofjitsch – wie dankbar bin ich ihm dafür! – kommt öfters zu mir und spricht immer von dir. Er liebt und schätzt dich sehr, mein Freund. Von deiner Schwester will ich nicht sagen, daß sie unehrerbietig gegen mich wäre. Ich beklage mich ja nicht. Sie hat ihren Charakter, und ich habe den meinigen; sie hat jetzt allerlei Geheimnisse; ich aber habe gar keine Geheimnisse vor euch. Ich bin natürlich fest überzeugt, daß Dunja viel zu klug ist, auch liebt sie dich und mich; aber ich weiß wirklich nicht, wohin das alles führen soll. Du hast mich jetzt ganz glücklich gemacht, weil du hergekommen bist; sie hat dich aber versäumt; wenn sie kommt, werde ich ihr sagen: Als du weg warst, war dein Bruder hier; wo hast du die Zeit zu verbringen geruht? Du sollst mich aber nicht verwöhnen, Rodja: Wenn du kannst, komm zu mir; kannst du aber nicht, so ist eben nichts zu machen, ich werde warten. Ich werde doch immerhin wissen, daß du mich liebst, und das genügt mir. Nun, ich werde deine Werke lesen, werde von allen über dich hören, und ab und zu wirst du auch selbst kommen – was kann ich mir noch Besseres wünschen? Du bist doch eben gekommen, um der Mutter Freude zu machen, ich sehe es ja ...«
Pulcheria Alexandrowna fing plötzlich zu weinen an.
»Schon wieder fange ich an! Achte nicht auf mich dumme Gans. Ach, Gott, was sitze ich da!« schrie sie auf, von ihrem Platze aufspringend. »Ich habe ja Kaffee und biete dir gar nichts an! So egoistisch ist solch ein altes Weib. Sofort, sofort!«
»Mamachen, lassen Sie es, ich gehe gleich fort. Ich bin nicht deswegen hergekommen. Bitte, hören Sie mich an.«
Pulcheria Alexandrowna ging ängstlich auf ihn zu.
»Mamachen, was auch passiert, was Sie über mich auch hören, was man Ihnen auch sagt – werden Sie mich auch dann noch so lieben wie jetzt?« fragte er plötzlich aus vollem Herzen, als überlegte er sich seine Worte nicht, als wäge er sie nicht.
»Rodja, Rodja, was fällt dir ein? Wie kannst du nur so etwas fragen! Wer wird denn mir etwas über dich sagen? Ich werde ja niemand glauben, wer zu mir auch kommt, ich jage ihn einfach hinaus.«
»Ich bin gekommen, Ihnen zu versichern, daß ich Sie immer geliebt habe, und bin jetzt froh, daß wir allein sind, bin sogar froh, daß Dunjetschka nicht da ist«, fuhr er in derselben Erregung fort. »Ich bin gekommen, Ihnen offen zu sagen, daß, wenn Sie auch unglücklich sein werden, Sie doch wissen sollen, daß Ihr Sohn Sie jetzt mehr als sich selbst liebt und daß alles, was Sie über mich gedacht haben, daß ich grausam sei und Sie nicht liebe, nicht richtig ist. Sie zu lieben werde ich niemals aufhören! ... Nun, es ist genug: Ich glaubte, daß ich es sagen und damit beginnen müßte ...«
Pulcheria Alexandrowna umarmte ihn stumm, drückte ihn an die Brust und weinte leise.
»Was mit dir ist, Rodja, weiß ich nicht«, sagte sie endlich. »Ich dachte die ganze Zeit, daß wir dich einfach langweilen, aber jetzt ersehe ich aus allem, daß dir ein großes Leid bevorsteht und daß du dich darüber grämst. Ich habe es schon lange vorausgesehen, Rodja. Verzeih mir, daß ich davon spreche; ich denke immer daran und schlafe nachts nicht. Diese ganze Nacht hat auch deine Schwester phantasiert und immer von dir gesprochen. Ich habe etwas gehört, aber nichts verstanden. Den ganzen Morgen ging ich wie vor einer Hinrichtung herum, erwartete immer etwas, und nun ist es gekommen. Rodja, Rodja, wo willst du denn hin? Verreist du vielleicht irgendwohin?«
»Ich verreise.«
»Das hab' ich mir auch gedacht! Ich kann ja auch mit dir mitfahren, wenn du es brauchst. Auch Dunja; sie liebt dich, sie liebt dich sehr; auch Ssofja Ssemjonowna kann vielleicht mitkommen, wenn es nötig ist; siehst du, ich will sie gern als Tochter aufnehmen. Dmitrij Prokofjitsch wird uns helfen, uns auf den Weg zu machen ... Aber ... wohin ... reisest du?«
»Leben Sie wohl, Mamachen.«
»Wie! Heute schon!« rief sie aus, als verliere sie ihn für alle Ewigkeit.
»Ich kann nicht ... es ist Zeit für mich, ich muß dringend ...«
»Und ich darf nicht mit?«
»Nein, knien Sie nieder und beten Sie für mich zu Gott Ihr Gebet wird vielleicht erhört werden.«
»Laß dich bekreuzigen, dich segnen! Ja, so, so! O Gott, was tun wir!«
Ja, er war froh, er war sehr froh, daß niemand dabei war, daß er mit der Mutter allein war. Sein Herz war seit dieser ganzen schrecklichen Zeit gleichsam auf einmal weich geworden. Er sank vor ihr nieder, er küßte ihre Füße, und beide weinten, einander umarmend. Sie hatte schon lange begriffen, daß mit ihrem Sohn etwas Furchtbares vorging, und nun war dieser für ihn so schreckliche Augenblick gekommen.
»Rodja, mein Lieber, mein Erstgeborener,« sagte sie schluchzend, »du bist jetzt ebenso, wie du als kleines Kind warst; du bist damals ebenso zu mir gekommen, hast mich ebenso umarmt und geküßt; als wir noch mit deinem Vater in Armut lebten, tröstetest du uns schon damit, daß du mit uns warst; und als ich deinen Vater beerdigt hatte, wie oft haben wir uns umarmt, so wie jetzt, und auf seinem Grabe geweint. Daß ich schon so lange weine, kommt daher, weil das Mutterherz das Unheil ahnt. Als ich dich damals zum erstenmal sah, am Abend, erinnerst du dich noch, als wir erst eben angekommen waren, hatte ich alles aus deinem Blick allein erraten, und mein Herz krampfte sich damals zusammen; und heute, als ich dir öffnete und dich ansah, sagte ich mir gleich, daß die Schicksalsstunde gekommen sei. Rodja, Rodja, du reist doch nicht sofort?«
»Nein.«
»Kommst du noch einmal her?«
»Ja ... ich komme noch.«
»Rodja, sei mir nicht böse, ich wage dich nicht auszufragen. Ich weiß, daß ich es nicht darf, aber sag mir bloß zwei Worte: Ist es weit, wohin du reist?«
»Sehr weit.«
»Was ist dort, eine Anstellung für dich, oder erwartet dich eine Karriere?«
»Was Gott mir gibt ... beten Sie nur für mich ...«
Raskolnikow ging zur Tür, aber sie hielt ihn fest und blickte ihm verzweifelnd in die Augen. Ihr Gesicht war vor Entsetzen verzerrt.
»Genug, Mamachen«, sagte Raskolnikow, der schon tief bereute, daß es ihm eingefallen war, herzukommen.
»Doch nicht für immer? Noch nicht für immer? Du wirst doch noch kommen, wirst morgen kommen?«
»Ja, ich werde kommen, leben Sie wohl.«
Endlich riß er sich los – – –
Der Abend war frisch, warm und heiter; das Wetter hatte sich schon am Morgen gebessert. Raskolnikow ging nach Hause, er hatte große Eile. Er wollte allem noch vor Sonnenuntergang ein Ende machen. Bis dahin wollte er niemand sehen. Als er die Treppe hinaufstieg, bemerkte er, daß Nastasja sich vom Samowar abwandte, ihn unverwandt ansah und mit den Augen verfolgte. – Ist etwa jemand bei mir? – dachte er. Mit Widerwillen dachte er an Porfirij. Als er aber sein Zimmer erreichte und die Tür öffnete, erblickte er Dunjetschka. Sie saß mutterseelenallein in tiefem Nachdenken da und schien schon lange auf ihn zu warten. Er blieb auf der Schwelle stehen. Sie erhob sich erschrocken vom Sofa und richtete sich vor ihm auf. Ihr unverwandt auf ihn gerichteter Blick drückte Entsetzen und unstillbaren Gram aus. An diesem Blick allein erriet er sofort, daß sie alles wußte.
»Nun, soll ich zu dir eintreten oder fortgehen?« fragte er mißtrauisch.
»Ich saß den ganzen Tag bei Ssofja Ssemjonowna; wir haben dich beide erwartet. Wir glaubten, du würdest unbedingt dorthin kommen.«
Raskolnikow trat ins Zimmer und setzte sich erschöpft auf einen Stuhl.
»Ich bin so schwach, Dunja; ich bin so müde; aber ich möchte mich wenigstens in diesem Augenblick ganz in der Hand haben.«
Er warf ihr einen mißtrauischen Blick zu.
»Wo warst du denn die ganze Nacht?«
»Ich weiß es nicht mehr genau. Siehst du, Schwester, ich wollte mich endgültig entschließen und ging lange an der Newa auf und ab. Ich wollte dort ein Ende machen, aber ich brachte es nicht über mich ...« flüsterte er und sah Dunja wieder mißtrauisch an.
»Gott sei Dank! Und wir haben gerade das befürchtet, ich und Ssofja Ssemjonowna! Also glaubst du noch an das Leben! ... Gott sei Dank, Gott sei Dank.«
Raskolnikow lächelte bitter.
»Ich glaube nicht, aber eben habe ich mit der Mutter geweint, wir hielten uns dabei umarmt; ich glaube nicht, aber ich bat sie, für mich zu beten. Gott weiß, wie das gemacht wird, Dunjetschka, ich verstehe nichts davon.«
»Du warst bei der Mutter? Du hast es ihr gesagt?« rief Dunja entsetzt aus. »Hast du dich wirklich entschlossen, es ihr zu sagen?«
»Nein, ich habe nichts gesagt ... nicht mit Worten; aber sie hat vieles begriffen. Sie hat in der Nacht gehört, wie du phantasiert hast. Ich bin überzeugt, daß sie es zur Hälfte schon begreift. Vielleicht ist es nicht gut, daß ich bei ihr war. Ich weiß auch nicht, warum ich zu ihr gegangen bin. Ich bin ein gemeiner Mensch, Dunja.«
»Ein gemeiner Mensch, bist aber bereit, das Leid auf dich zu nehmen! Du gehst doch hin?«
»Ich gehe. Sofort. Ja, um dieser Schande zu entrinnen, wollte ich mich ertränken, Dunja; aber als ich schon über dem Wasser stand, dachte ich mir: wenn ich mich bisher für stark gehalten habe, so werde ich auch die Schande nicht fürchten. Das ist der Stolz, Dunja.«
»Der Stolz, Rodja.«
Es leuchtete wie ein Feuer in seinen erloschenen Augen auf; es schien ihm Freude zu machen, daß er noch stolz sei.
»Glaubst du nicht, Schwester, daß ich vor dem Wasser einfach Angst bekam?« fragte er, ihr mit einem häßlichen Lächeln ins Gesicht blickend.
»O Rodja, hör auf!« rief Dunja aus.
An die zwei Minuten schwiegen sie beide. Er saß mit gesenktem Kopfe da und blickte zu Boden; Dunjetschka saß am anderen Ende des Tisches und sah ihn voller Qual an. Plötzlich stand er auf.
»Es ist spät, es ist Zeit! Ich gehe gleich hin, mich anzuzeigen. Aber ich weiß nicht, warum ich gehe, mich anzuzeigen.«
Große Tränen liefen ihr die Wangen herab.
»Du weinst, Schwester, kannst du mir aber die Hand reichen?«
»Und du zweifeltest daran?«
Sie umarmte ihn.
»Indem du hingehst, um das Leid auf dich zu nehmen, büßest du denn dein Verbrechen nicht schon zur Hälfte ab?!« schrie sie, ihn fest umarmend und küssend.
»Verbrechen? Was ist das für ein Verbrechen?!« rief er in einem Anfall plötzlicher Wut. »Daß ich eine abscheuliche, schädliche Laus, eine alte Wucherin, die niemand braucht, für deren Ermordung einem vierzig Sünden vergeben werden, die den Armen alle Säfte aussog, ermordet habe – das soll ein Verbrechen sein?! Ich denke gar nicht daran und will es auch gar nicht büßen. Was deutet man mir von allen Seiten auf das Wort, Verbrechen'? Jetzt erst sehe ich den ganzen Unsinn meiner Kleinmütigkeit, jetzt, wo ich mich schon entschlossen habe, diese ganz unnötige Schande auf mich zu nehmen! Ich entschließe mich dazu bloß aus Gemeinheit und Talentlosigkeit, vielleicht auch noch aus Berechnung, wie dieser ... Porfirij ... mir vorgeschlagen hat! ...«
»Bruder, Bruder, was sagst du! Du hast aber doch Blut vergossen!« rief Dunja voll Verzweiflung aus.
»Das alle vergießen,« fiel er ihr fast rasend ins Wort, »das in der Welt wie ein Wasserfall fließt und immer geflossen ist, das man wie Champagner vergießt und für das man auf dem Kapitol gekrönt und dann als Wohltäter der Menschheit gepriesen wird. Betrachte die Sache doch näher! Ich selbst wollte den Menschen Gutes tun und hätte Hunderte und Tausende guter Werke getan statt dieser einzigen Dummheit, sogar keiner Dummheit, sondern bloß einer Ungeschicklichkeit, denn dieser ganze Gedanke war gar nicht so dumm, wie er jetzt erscheint, nach dem Mißerfolg ... (nach dem Mißerfolg erscheint alles dumm!). Durch diese Dummheit wollte ich mir bloß eine unabhängige Stellung verschaffen, den ersten Schritt tun, die Mittel auftreiben, und dann würde alles durch einen im Verhältnis unermeßlichen Nutzen aufgewogen werden ... Aber ich habe auch den ersten Schritt nicht ausgehalten, denn ich bin ein Schuft! Das ist eben die ganze Sache! Und doch werde ich es niemals mit euren Augen ansehen: Wäre es mir gelungen, so würde man mich gekrönt haben, so aber muß ich in die Falle!«
»Aber das ist doch gar nicht das, gar nicht das! Bruder, was sagst du nur!«
»Ah! Es ist nicht die richtige Form, sie ist nicht ästhetisch genug! Aber ich kann doch unmöglich begreifen, warum es respektabler sein soll, die Menschen durch Bomben umzubringen! Die Furcht vor den Gesetzen der Ästhetik ist das erste Zeichen der Schwäche! ... Noch niemals, niemals habe ich es klarer als jetzt begriffen, und weniger als jemals begreife ich jetzt mein Verbrechen! Niemals, niemals war ich stärker und überzeugter als jetzt!«
In sein blasses, ausgemergeltes Gesicht war sogar Blut gestiegen. Als er aber die letzten Worte sprach, begegnete er zufällig mit seinem Blick den Augen Dunjas und sah darin so viel, so viel Qual um seinetwillen, daß er unwillkürlich zur Besinnung kam. Er fühlte, daß er diese beiden armen Frauen immerhin unglücklich gemacht hatte. Immerhin war er die Ursache.
»Dunja, Liebste! Wenn ich Schuld habe, so vergib mir (obwohl man mir gar nicht vergeben kann, wenn ich Schuld habe)! Lebe wohl! Wir wollen nicht streiten! Es ist Zeit, es ist höchste Zeit. Folge mir nicht, ich flehe dich an, ich muß noch irgendwo hingehen ... Geh jetzt gleich zur Mutter und setze dich neben sie. Ich flehe dich an! Das ist meine letzte große Bitte an dich. Verlaß sie nicht in dieser ganzen Zeit; ich habe sie in einer Unruhe zurückgelassen, die sie kaum überstehen wird: Sie wird entweder sterben oder den Verstand verlieren. Bleib bei ihr! Rasumichin wird mit euch sein; ich habe mit ihm schon gesprochen ... Weine nicht um mich: Ich werde mich bemühen, mutig und ehrlich zu sein, mein ganzes Leben, obgleich ich ein Mörder bin. Vielleicht wirst du einmal meinen Namen hören. Ich werde euch keine Schande antun, du wirst es sehen; ich werde noch beweisen ... jetzt vorläufig auf Wiedersehen«, schloß er eilig, als er in den Augen Dunjas bei seinen letzten Worten und Versprechungen wieder einen sonderbaren Ausdruck bemerkt hatte. »Was weinst du so? Weine nicht, weine nicht, wir trennen uns doch nicht für immer! ... Ach ja! Wart, ich hab es vergessen! ...«
Er trat an den Tisch, nahm ein dickes, verstaubtes Buch, schlug es auf und nahm ein zwischen den Seiten verwahrtes kleines Aquarellbild auf Elfenbein heraus. Es war das Bild der Tochter seiner Wirtin, seiner früheren Braut, die am Fieber gestorben war, desselben merkwürdigen jungen Mädchens, das ins Kloster gehen wollte. Eine Minute lang blickte er dieses ausdrucksvolle und krankhafte Gesichtchen an, küßte das Bild und gab es Dunjetschka.
»Mit ihr habe ich viel davon gesprochen, mit ihr allein«, sagte er nachdenklich. »Ihrem Herzen habe ich vieles davon mitgeteilt, was später in einer so häßlichen Weise in Erfüllung gegangen ist. Sei ruhig,« wandte er sich an Dunja, »sie war mit mir nicht einverstanden, ebenso wie du, und ich bin froh, daß sie nicht mehr ist. Die Hauptsache, die Hauptsache ist, daß jetzt alles ganz neu beginnt, daß alles entzweibricht«, rief er plötzlich aus, wieder in seinen Gram verfallend, »alles, alles; bin ich aber dazu vorbereitet? Will ich es selbst? ... Man sagt, es sei zu meiner Prüfung notwendig! Doch wozu, wozu alle diese unsinnigen Prüfungen? Was brauche ich sie? Werde ich es denn dann, erdrückt von Qualen und Idiotie, in greisenhafter Ohnmacht nach zwanzigjähriger Zwangsarbeit besser empfinden, als ich es jetzt empfinde, und wozu soll ich dann noch leben? Oh, ich wußte es, daß ich ein Schuft bin, als ich heute in der Morgendämmerung an der Newa stand!« – – –
Beide verließen schließlich das Haus. Es war Dunja schwer, aber sie liebte ihn so! Sie trennte sich von ihm; als sie aber etwa fünfzig Schritte gegangen war, wandte sie sich um, um ihn noch einmal anzuschauen. Sie konnte ihn noch sehen. Aber an der Ecke wandte er sich auch um, und ihre Blicke trafen sich zum letztenmal; als er merkte, daß sie ihn ansah, winkte er ungeduldig und sogar ärgerlich mit der Hand, daß sie weitergehe, und bog jäh um die Ecke.
– Ich bin böse, ich sehe es – dachte er, als er sich nach einer Minute seiner ärgerlichen Geste gegen Dunja schämte. – Aber warum lieben sie mich so, wenn ich es nicht verdiene! O wär ich doch allein und niemand liebte mich, und hätte ich auch selbst nie jemand geliebt! Dann wäre dies alles nicht geschehen! Ich möchte aber gern wissen, ob meine Seele in diesen kommenden fünfzehn oder zwanzig Jahren sich so demütigen wird, daß ich vor den Menschen voller Andacht jammern und mich bei jedem Wort Mörder nennen werde? Ja, so wird es sein! Darum verschicken sie mich auch nach Sibirien, das ist es, was sie brauchen ... Da laufen sie in den Straßen herum, und jeder von ihnen ist ein Schuft und ein Mörder, schon seiner Natur nach; und noch schlimmer als das – ein Idiot! Wenn man mir aber die Zwangsarbeit erläßt, so werden sie vor edler Empörung rasen! Oh, wie ich sie alle hasse! –
Er vertiefte sich in den Gedanken: – Durch welchen Prozeß kann es so kommen, daß ich mich zuletzt ganz ohne zu klügeln vor allen demütige, mich mit voller Überzeugung demütige? Warum auch nicht? Es muß natürlich so kommen. Werden mir denn die zwanzig Jahre ununterbrochenen Druckes nicht endgültig den Garaus machen? Steter Tropfen höhlt den Stein. Und wozu, wozu dann noch leben, wozu gehe ich jetzt hin, wo ich selbst weiß, daß alles sich genau so wie nach Noten abspielen wird und nicht anders! –
Diese Frage legte er sich seit gestern abend vielleicht schon zum hundertstenmal vor, aber er ging dennoch hin.
Als er zu Ssonja kam, begann es zu dämmern. Ssonja hatte den ganzen Tag in furchtbarer Aufregung auf ihn gewartet. Auch Dunja hatte mit ihr gewartet. Dunja war schon am Morgen zu ihr gekommen, eingedenk der gestrigen Worte Swidrigailows, daß Ssonja schon »alles wisse«. Wir wollen die Einzelheiten der Unterhaltung zwischen den beiden jungen Mädchen, ihre Tränen und, wie weit sie sich näher kamen, übergehen. Dunja hatte bei dieser Zusammenkunft wenigstens den Trost gefunden, daß ihr Bruder nicht allein sein werde: Er war doch mit seiner Beichte zuerst zu Ssonja gegangen; in ihr hatte er den Menschen gesucht, als er einen Menschen brauchte; sie wird ihm auch überallhin folgen, wohin ihn das Schicksal auch bringt. Sie fragte gar nicht, aber sie wußte, daß es so kommen werde. Sie sah Ssonja mit Ehrfurcht an und machte sie damit sogar verlegen. Ssonja war nahe daran, zu weinen: Sie hielt sich ihrerseits für unwürdig, Dunja auch nur anzublicken. Das herrliche Bild Dunjas, als sie sich von ihr so aufmerksam und ehrerbietig nach ihrer ersten Begegnung bei Raskolnikow verabschiedet hatte, blieb seitdem für immer in ihrer Seele als einer der schönsten und erhabensten Eindrücke ihres Lebens.
Dunjetschka hatte es schließlich doch nicht ausgehalten und war von Ssonja gegangen, um den Bruder in seiner Wohnung zu erwarten; sie glaubte immer, daß er zuerst dorthin kommen würde. Als Ssonja allein geblieben war, begann sie sich mit dem Gedanken zu quälen, daß Rodja vielleicht wirklich Selbstmord begehen würde. Dasselbe fürchtete auch Dunja. Aber sie hatten einander den ganzen Tag mit vielen Gründen zu überzeugen gesucht, daß es nicht möglich sei, und waren ruhiger, solange sie zusammenblieben. Nachdem sie sich aber getrennt hatten, dachte die eine wie die andere wieder nur noch daran. Ssonja erinnerte sich, daß Swidrigailow ihr gestern gesagt hatte, daß Raskolnikow nur zwei Wege vor sich habe: entweder Sibirien oder ... Außerdem kannte sie seinen Ehrgeiz, seinen Hochmut, seine Eigenliebe und seinen Unglauben.
– Können denn der Kleinmut und die Furcht vor dem Tode allein ihn zwingen, zu leben? – dachte sie schließlich in Verzweiflung.
Die Sonne ging indessen unter. Ssonja stand traurig am Fenster und blickte unverwandt hinaus – aber sie konnte bloß die ungetünchte Grundmauer des Nachbarhauses sehen. Endlich, als sie vom Tode des Unglücklichen völlig überzeugt war, – trat er in ihr Zimmer.
Ein freudiger Schrei entrang sich ihrer Brust. Als sie aber sein Gesicht aufmerksam ansah, erbleichte sie plötzlich.
»Na, ja!« sagte Raskolnikow mit spöttischem Lächeln. »Ich komme, um mir dein Kreuz zu holen, Ssonja; du hast mich doch selbst auf den Kreuzweg geschickt. Wie ist es nun: wo es zu handeln gilt, bist du bange geworden?«
Ssonja sah ihn erstaunt an. So sonderbar erschien ihr dieser Ton; ein kaltes Frösteln lief über ihren Körper, aber schon nach einer Minute hatte sie erraten, daß dieser Ton und diese Worte gekünstelt waren. Als er mit ihr sprach, sah er auch in eine Ecke, als vermeide er, ihr ins Gesicht zu blicken.
»Siehst du, Ssonja, ich habe eingesehen, daß es so vielleicht besser sein wird. Es gibt einen Umstand ... Na ja, es ist lang zu erzählen und hat auch keinen Sinn. Weißt du, was mich bloß ärgert? Es ärgert mich, daß alle diese dummen tierischen Fratzen mich gleich umringen und anglotzen, mir ihre dummen Fragen vorlegen werden, die man beantworten muß, daß sie mit Fingern auf mich zeigen werden ... Pfui! Weißt du, ich will nicht zu Porfirij gehen; ich habe ihn satt. Ich gehe lieber zu meinem Freund Pulver, der wird sich wundern, bei dem werde ich einen gewissen Effekt machen. Ich muß aber kaltblütiger sein; viel zu viel Galle hat sich in mir in der letzten Zeit angesammelt. Glaubst du mir, ich habe soeben meiner Schwester fast mit der Faust gedroht, bloß weil sie sich umwandte, um mich zum letzten Male zu sehen. So ein Zustand ist eine Schweinerei! Ach, wie weit ist es mit mir gekommen! Nun, wo ist denn das Kreuz?«
Er war wie ausgewechselt. Er konnte nicht einen Augenblick ruhig stehen, konnte seine Aufmerksamkeit auf keinen Gegenstand konzentrieren; seine Gedanken sprangen übereinander, er redete irre; seine Hände zitterten leicht.
Ssonja nahm schweigend aus der Schublade zwei Kreuze, eines aus Zypressenholz und eines aus Messing, bekreuzigte sich, bekreuzigte auch ihn und hängte ihm das Kreuz aus Zypressenholz um den Hals.
»Das ist also ein Symbol dessen, daß ich ein Kreuz auf mich nehme, he-he! Als ob ich bisher wenig gelitten hätte! Ein Kreuz aus Zypressenholz, also wie es das einfache Volk trägt; das aus Messing, das Kreuz Lisawetas nimmst du dir; zeig es mir! So hat sie es ... in jenem Augenblick umgehabt? Ich kenne zwei ähnliche Kreuze, ein silbernes und ein kleines Heiligenbild. Ich habe sie damals der Alten auf die Brust geworfen. Diese Kreuze sollte ich mir jetzt umhängen, wirklich ... Übrigens schwatze ich immer Unsinn; so vergesse ich die Hauptsache, ich bin so zerstreut! ... Siehst du, Ssonja, ich bin eigentlich gekommen, um es dir vorher zu sagen, damit du es weißt ... Nun, das ist alles ... Ich bin ja nur deswegen hergekommen. (Hm! Ich hatte übrigens geglaubt, daß ich mehr sagen würde.) Du wolltest doch selbst, daß ich hingehe; nun werde ich im Gefängnis sitzen, und dein Wunsch wird in Erfüllung gehen; was weinst du denn? Auch du weinst? Hör auf, genug; ach, wie schwer ist mir das alles!«
Aber in ihm regte sich Mitgefühl; sein Herz krampfte sich bei ihrem Anblick zusammen. – Was hat sie bloß? dachte er. – Was bin ich ihr? Warum weint sie, warum verabschiedet sie sich von mir wie meine Mutter oder wie Dunja? Sie wird meine Wärterin sein! –
»Bekreuzige dich, bete wenigstens einmal!« bat Ssonja mit zitternder, scheuer Stimme.
»Oh, gerne, soviel du willst! Und mit reinem Herzen, Ssonja, mit reinem Herzen ...«
Er wollte ihr übrigens etwas ganz anderes sagen.
Er bekreuzigte sich einige Male, Ssonja nahm ihr Tuch und warf es sich über den Kopf. Es war ein grünes Drap-de-dames-Tuch, wahrscheinlich dasselbe, von dem Marmeladow gesprochen hatte, das »Familientuch«. Raskolnikow kam sogar dieser Gedanke, aber er fragte nicht. Er begann tatsächlich selbst zu fühlen, daß er furchtbar zerstreut und voll häßlicher Unruhe war. Er erschrak darüber. Er war plötzlich bestürzt, daß Ssonja mit ihm gehen wolle.
»Was fällt dir ein? Wo willst du hin? Bleibe, bleibe! Ich gehe allein!« rief er in kleinmütigem Zorn und ging beinahe erbost zur Tür. »Wozu dieses ganze Gefolge!« murmelte er hinaustretend.
Ssonja blieb allein mitten im Zimmer. Er hatte von ihr nicht einmal Abschied genommen, er hatte sie schon vergessen; ein stechender Zweifel empörte sich plötzlich in seiner Seele:
– Ist es auch so richtig, ist es richtig? – dachte er wieder, als er die Treppe hinunterging. – Kann ich denn nicht mehr stehen bleiben und alles wieder gutmachen ... und nicht hingehen? –
Er ging aber doch hin. Plötzlich fühlte er endgültig, daß es keinen Sinn habe, Fragen an sich zu stellen. Als er schon auf der Straße war, erinnerte er sich, daß er sich von Ssonja nicht verabschiedet hatte, daß sie mitten im Zimmer in ihrem grünen Tuche geblieben war und es nicht wagte, nachdem er sie angeschrien hatte, sich zu rühren. Im gleichen Augenblick durchzuckte ihn ein Gedanke, der gleichsam nur darauf gewartet hatte, um ihn völlig zu verwirren.
– Nun, warum, warum bin ich jetzt bei ihr gewesen? Ich sagte ihr: in einer wichtigen Angelegenheit; was war das für eine wichtige Angelegenheit? Ich hatte ihr doch nichts zu sagen! Um ihr zu sagen, daß ich hingehe? Was ist denn dabei? War es denn notwendig? Liebe ich sie etwa? Doch nein, nein! Ich habe sie doch soeben wie einen Hund von mir gestoßen. Brauchte ich vielleicht ihr Kreuz? Oh, wie tief bin ich gesunken! Ihre Tränen brauchte ich, ich mußte ihren Schreck sehen, ich mußte sehen, wie ihr Herz schmerzt und sich quält! Ich mußte mich an irgendetwas festklammern, verweilen, einen Menschen sehen! Und ich wagte noch, so auf mich zu hoffen, so von mir zu denken, ich elender Bettler, ich Schuft, Schuft! –
Er ging am Kanal entlang und hatte nicht mehr weit zu gehen. Aber bei der Brücke blieb er stehen, schlug plötzlich den Weg über die Brücke ein und ging nach dem Heumarkt.
Mit gierigen Blicken sah er nach rechts und nach links, betrachtete gespannt jeden Gegenstand und konnte auf keinen seine Aufmerksamkeit konzentrieren; alles entglitt ihm. – Nach einer Woche, nach einem Monat wird man mich über diese Brücke irgendwohin in so einem Gefängniswagen fahren; mit welchen Augen werde ich dann diesen Kanal ansehen? – Wenn ich mir das merken könnte! – ging es ihm durch den Kopf. – Dieses Schild dort, wie werde ich dann diese Buchstaben lesen? Da steht geschrieben »Genossenschaft«; wenn ich mir nur dieses »a«, diesen Buchstaben »a« merken könnte und dann nach einem Monat ihn wiedersehen; wie werde ich ihn dann ansehen? Was werde ich dann fühlen und denken? ... ... Mein Gott, wie gemein ist doch wohl das alles, alle meine jetzigen ... Sorgen! Natürlich, es muß auch interessant sein ... in seiner Art ... (Ha-ha-ha! Woran ich jetzt denke!) Ich werde zu einem Kind und prahle vor mir selbst; warum werfe ich es mir vor? Gott, wie sie stoßen! Dieser Dicke da (wahrscheinlich ein Deutscher), der mich gestoßen hat, weiß er auch, wen er gestoßen hat? Eine Frau mit einem Kinde bettelt; es ist doch interessant, daß sie mich für glücklicher hält als sich selbst. Soll ich ihr nicht spaßhalber ein Almosen geben? Ah, ich hab ja noch ein Fünfkopekenstück in der Tasche! Woher? ... »Hier, hier ... nimm es, Mütterchen! ...«
»Gott schütze dich!« antwortete die Bettlerin mit weinerlicher Stimme.
Er trat auf den Heumarkt. Es war ihm unangenehm, sehr unangenehm, mit Menschen zusammenzustoßen, er ging aber gerade dorthin, wo die meisten Menschen waren. Er hätte alles in der Welt hergegeben, um allein zu bleiben; aber er fühlte selbst, daß er keinen Augenblick allein bleiben würde. In der Menge stand ein Betrunkener; er wollte tanzen, fiel aber immer um. Die Leute umringten ihn. Raskolnikow drängte sich durch die Menge, sah den Betrunkenen eine Weile an und lachte plötzlich kurz auf. Im nächsten Augenblick hatte er ihn schon vergessen und sah ihn nicht mehr, obwohl er ihn anstarrte. Er ging schließlich weg und wußte nicht einmal, wo er sich befand; als er aber die Mitte des Platzes erreichte, geschah mit ihm plötzlich eine Veränderung, seine Empfindung ergriff ihn auf einmal ganz mit Leib und Seele.
Er erinnerte sich plötzlich der Worte Ssonjas: »Geh gleich hin, sofort, stell dich auf einem Kreuzweg hin, küsse zuerst die Erde, die du geschändet hast, und dann verbeuge dich vor der ganzen Welt, nach allen vier Seiten, und sage allen laut: ›Ich habe getötet!‹« Er erzitterte am ganzen Körper, als er sich dessen erinnerte. So sehr hatten ihn der ausweglose Gram und die Unruhe der ganzen letzten Zeit und besonders der letzten Stunden niedergedrückt, daß er sich der Möglichkeit dieser neuen, vollkommenen und ungeteilten Empfindung sofort hingab. Wie ein Krampf überkam es ihn plötzlich: es entzündete sich in seiner Seele als Funke und ergriff ihn dann plötzlich ganz wie eine Flamme. Alles schmolz in ihm auf einmal, Tränen stürzten ihm aus den Augen. Wo er stand, sank er zu Boden ...
Er kniete mitten auf dem Platze nieder, verneigte sich bis zur Erde und küßte diese schmutzige Erde mit Genuß und voll Seligkeit. Er stand auf und verneigte sich noch einmal.
»Wie der sich vollgesoffen hat!« bemerkte ein Bursche in seiner Nähe.
Viele lachten.
»Er geht nach Jerusalem, Brüder, nimmt Abschied von seinen Kindern und seiner Heimat, verneigt sich vor der ganzen Welt und küßt die Residenzstadt Sankt Petersburg und ihren Grund!« fügte ein betrunkener Kleinbürger hinzu.
»Das Bürschlein ist noch jung!« bemerkte ein dritter.
»Vom Adel!« sagte jemand mit gesetzter Stimme.
»Heutzutage kennt man sich nicht mehr aus, wer vom Adel ist und wer nicht.«
Alle diese Rufe und Gespräche hielten Raskolnikow zurück, und die Worte: »Ich habe getötet«, die ihm von den Lippen kommen wollten, erstarben in ihm. Er ließ jedoch alle diese Rufe ruhig über sich ergehen und ging, ohne sich umzusehen, direkt in die Gasse, die zum Polizeibureau führte. Unterwegs tauchte vor ihm eine Erscheinung auf, aber er wunderte sich nicht über sie; er hatte schon geahnt, daß es so kommen müsse. Als er sich auf dem Heumarkt zum zweiten Male, nach links gewandt, verbeugte, sah er etwa fünfzig Schritte entfernt Ssonja. Sie verbarg sich vor ihm hinter einer der Bretterbuden, die auf dem Platze standen; also hatte sie ihn auf dem ganzen Leidensweg begleitet! Raskolnikow fühlte und begriff in diesem Augenblick ein für allemal, daß Ssonja ewig bei ihm bleiben und ihm auch bis ans Ende der Welt folgen würde, was für ein Schicksal ihn auch erwartete. Und sein ganzes Herz wandte sich ... aber er hatte schon den verhängnisvollen Ort erreicht ...
Er betrat ziemlich sicher den Hof. Er mußte in den zweiten Stock. – Es wird noch eine Weile dauern, bis ich hinaufkomme – dachte er. Überhaupt schien es ihm, als sei der entscheidende Augenblick noch fern, als habe er noch viel Zeit und könne sich noch vieles überlegen.
Wieder der gleiche Kehricht, die gleichen Abfälle auf der Wendeltreppe, die Türen aller Wohnungen standen wieder weit offen, wieder dieselben Küchen, aus denen Dunst und Gestank kam. Raskolnikow war seit damals nicht mehr hier gewesen. Seine Beine erstarrten und knickten ein, bewegten sich aber doch. Er blieb einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen, um sich zu erholen und als Mensch einzutreten. – Aber wozu? Warum? – dachte er plötzlich, als er seine Bewegung bemerkte. – Wenn ich schon diesen Kelch trinken muß, so ist doch alles gleich! Je schlimmer, um so besser. – Er stellte sich plötzlich die Gestalt des Ilja Petrowitsch »Pulver« vor. – Muß ich denn wirklich zu ihm? Kann ich nicht zu einem anderen? Kann ich nicht zu Nikodim Fomitsch? Sofort umkehren und zum Revieraufseher selbst in die Wohnung gehen? Dann wird sich alles ganz familiär abspielen ... Nein, nein! Zu Pulver, zu Pulver ... Wenn ich schon trinken soll, dann alles auf einmal ... –
Fröstelnd und kaum seiner Sinne mächtig, öffnete er die Tür zum Polizeibureau. Diesmal waren sehr wenig Menschen da: er sah einen Hausknecht und noch einen einfachen Mann. Der Bureaudiener schaute nicht einmal hinter seinem Verschlag heraus. Raskolnikow ging ins nächste Zimmer. – Vielleicht geht es auch, daß ich gar nichts sage, – ging es ihm durch den Kopf. Irgendein Mensch, wahrscheinlich ein Schreiber, in Zivilkleidung, schickte sich gerade an, etwas auf seinem Pulte zu schreiben. In einer Ecke machte sich noch ein Schreiber an die Arbeit. Samjotow war nicht da. Auch Nikodim Fomitsch war natürlich noch nicht da.
»Ist niemand da?« wandte sich Raskolnikow an den Mann am Pulte.
»Wen wünschen Sie?«
»Ah! Man hört nichts, man sieht nichts, riecht aber den Russen ... wie heißt es noch in dem Märchen ... hab es vergessen! M-meine Hochachtung!« rief plötzlich eine bekannte Stimme.
Raskolnikow erzitterte. Vor ihm stand Pulver; er war plötzlich aus dem dritten Zimmer gekommen. – Das ist das Schicksal selbst – dachte Raskolnikow. – Warum ist er hier? –
»Zu uns? In welcher Angelegenheit?« rief Ilja Petrowitsch. (Er war anscheinend in ausgezeichneter, sogar etwas erregter Stimmung.) – »Wenn in einer geschäftlichen, so sind Sie zu früh gekommen. Ich selbst bin nur ganz zufällig hier ... Übrigens stehe ich zu Ihren Diensten. Ich muß Ihnen gestehen ... wie? Wie? Entschuldigen Sie ...«
»Raskolnikow.«
»Ach was, Raskolnikow! Konnten Sie denn wirklich annehmen, daß ich es vergessen hätte! Halten Sie mich, bitte, nicht für so einen ... Rodion Ro ... Ro ... Rodionytsch, ich glaube, so?«
»Rodion Romanytsch.«
»Ja, ja, ja! Rodion Romanytsch, Rodion Romanytsch! Darauf wollte ich eben kommen. Habe mich sogar einigemal erkundigt. Ich muß Ihnen gestehen, ich habe seit damals aufrichtig bedauert, daß wir Sie damals so ... man hat es mir später erklärt; ich erfuhr, daß Sie ein junger Literat sind und sogar Gelehrter ... und sozusagen die ersten Schritte ... O Gott! Wer von den Literaten und Gelehrten hat seine Karriere nicht mit originellen Schritten begonnen! Ich und meine Frau – wir beide schätzen die Literatur, meine Frau sogar leidenschaftlich! Die Literatur und die Kunst! Wenn man bloß eine edle Gesinnung hat, alles andere kann man aber durch Talent, Wissen, Verstand und Genie erwerben! So ein Hut – nun, was bedeutet zum Beispiel ein Hut? Ein Hut ist eine Art Pfannkuchen, ich kann ihn mir beim Bäcker kaufen; aber was unter dem Hut ist und vom Hut verdeckt wird, das kann ich mir nicht kaufen! ... Ich gestehe, ich wollte Sie sogar besuchen, um mich mit Ihnen auszusprechen, glaube aber, daß Sie ... Aber ich vergesse ganz, Sie zu fragen, ob Sie nicht wirklich etwas wünschen. Man sagt, Sie hätten Besuch von Ihren Verwandten?«
»Ja, meine Mutter und meine Schwester ...«
»Ich hatte sogar die Ehre und das Glück, Ihre Schwester zu treffen, – eine gebildete und reizende Dame. Ich muß gestehen, ich bedauerte sehr, daß wir damals in Hitze gekommen waren. Ein unangenehmer Fall! Daß ich Sie aber damals infolge Ihrer Ohnmacht so sonderbar angeblickt habe, das hat sich später auf die glänzendste Weise aufgeklärt! Aberglaube und Fanatismus! Ich begreife vollkommen Ihre Entrüstung. Vielleicht wollen Sie infolge der Ankunft Ihrer Angehörigen die Wohnung wechseln?«
»N-nein, ich bin nur so ... Ich bin gekommen, zu fragen ... ich glaubte, daß ich Samjotow hier treffen würde.«
»Ach ja, Sie sind mit ihm befreundet, ich habe es gehört. Nun, Samjotow ist nicht mehr bei uns, – Sie kommen zu spät. Jawohl, wir haben Alexander Grigorjewitsch verloren! Seit gestern ist er nicht mehr vorhanden; ist in ein anderes Ressort versetzt worden ... und hat sich vor der Versetzung mit allen verzankt ... er war sogar recht unhöflich ... Ein leichtsinniger Junge, sonst nichts; er versprach zwar, etwas zu werden; aber was soll man mit ihnen, mit unserer glänzenden Jugend anfangen! Irgendein Examen will er ablegen, aber bei uns ist es immer so: man redet und prahlt, und das ist das ganze Examen. Das ist doch ganz was anderes als zum Beispiel Sie oder der Herr Rasumichin, Ihr Freund! Ihre Karriere ist der wissenschaftliche Beruf, Mißerfolge können Sie davon nicht mehr abbringen! Alle Reize des Lebens sind für Sie, sozusagen, nihil est, – ein Asket, ein Mönch, ein Einsiedler! ... Ein Buch in der Hand, eine Feder hinter dem Ohr, wissenschaftliche Untersuchungen – darin schwebt Ihr Geist! Auch ich selbst zum Teil ... Haben Sie die Aufzeichnungen von Livingstone gelesen?«
»Nein.«
»Ich habe sie aber gelesen. Heute gibt es übrigens sehr viel Nihilisten; nun, das ist auch begreiflich; die Zeiten sind danach, wie meinen Sie? Übrigens sind wir beide ... Sie sind natürlich kein Nihilist! Sagen Sie es aufrichtig, ganz aufrichtig?!«
»N-ein ...«
»Nein, wissen Sie, mit mir müssen Sie aufrichtig sein, genieren Sie sich nicht, tun Sie so, als wären Sie mit sich allein! Der Dienst ist eine Sache für sich, und die ... Sie glauben wohl, ich wollte sagen, die Freundschaft ist eine Sache für sich? Nein, Sie haben es nicht erraten! Nicht die Freundschaft, sondern das Gefühl des Bürgers und Menschen, das Gefühl der Humanität und der Liebe zum Allmächtigen. Ich kann eine offizielle Person sein und ein Amt bekleiden, aber ich bin verpflichtet, immer den Bürger und Menschen in mir zu fühlen und mir Rechenschaft zu geben ... Sie brachten eben die Rede auf Samjotow, Samjotow ist imstande, in einem unanständigen Lokal bei einem Glase Champagner oder einheimischem Schaumwein einen Skandal auf französische Manier zu verüben – das ist Ihr Samjotow! Aber ich bin vielleicht vor Ergebenheit und hohen Gefühlen sozusagen zu Asche verbrannt und habe überdies Einfluß, einen Rang, bekleide ein Amt! Bin verheiratet und habe Kinder. Erfülle die Pflicht des Bürgers und Menschen. Aber was ist er? Gestatten Sie mir die Frage. Ich wende mich an Sie als an einen durch die Bildung geadelten Menschen. Auch gibt es jetzt auf einmal eine solche Menge von Hebammen.«
Raskolnikow zog fragend die Brauen hoch. Die Worte Ilja Petrowitschs, der wohl eben von Tische kam, schlugen wie inhaltlose Töne an sein Ohr. Einen Teil von ihnen hatte er dennoch verstanden; er sah ihn fragend an und wußte nicht, womit das alles enden sollte.
»Ich meine diese kurzgeschorenen Mädels«, fuhr der redselige Ilja Petrowitsch fort. »Ich nenne sie Hebammen und finde, daß diese Bezeichnung treffend ist. He-he! Sie dringen in die medizinische Akademie ein, lernen Anatomie; nun, sagen Sie mir, wenn ich krank werde, werde ich so ein Mädel holen lassen, damit sie mich behandelt? He-he!«
Ilja Petrowitsch lachte, durchaus zufrieden mit seinen Witzen.
»Es ist allerdings ein maßloser Durst nach Bildung; aber bilde dich und laß es sein. Warum soll man übertreiben? Warum soll man anständige Menschen beleidigen, wie es dieser Schuft Samjotow tut? Warum hat er mich beleidigt, frage ich Sie? Und dann diese Menge von Selbstmorden – das können Sie sich gar nicht vorstellen. – Alles verpraßt sein letztes Geld und begeht dann Selbstmord. Kleine Mädels, Jungen, Greise ... Erst heute früh kam die Mitteilung über einen vor kurzem zugereisten Herrn. Nil Pawlytsch! Nil Pawlytsch! Wie hieß noch dieser Gentleman, über den wir eben die Mitteilung erhielten, der sich auf der Petersburger Seite erschossen hat?«
»Swidrigailow«, antwortete jemand heiser und gleichgültig aus dem anderen Zimmer.
Raskolnikow fuhr zusammen.
»Swidrigailow?! Swidrigailow hat sich erschossen?!« rief er aus.
»Wie! Sie kannten Swidrigailow?«
»Ja ... ich kannte ihn ... Er war vor kurzem hergekommen ...« ...«
»Ja, gewiß, er ist vor kurzem zugereist, hatte seine Frau verloren, ein Mann von liederlichem Lebenswandel, und hat sich plötzlich erschossen, und so skandalös, daß man es sich gar nicht vorstellen kann ... hat in seinem Notizbuche einige Worte hinterlassen, daß er bei vollem Verstande sterbe und bitte, niemand für seinen Tod verantwortlich zu machen. Dieser soll Geld gehabt haben. Wie kommen Sie dazu, ihn zu kennen?«
»Ich ... war mit ihm bekannt ... meine Schwester lebte in seinem Hause als Gouvernante ...«
»So, so, so ... Dann können Sie uns wohl einiges mitteilen. Und Sie haben es gar nicht geahnt?«
»Ich habe ihn gestern gesehen ... er ... trank Wein ... ich wußte nichts.«
Raskolnikow hatte ein Gefühl, als ob etwas auf ihn niedergefallen wäre und ihn erdrückt hätte.
»Sie sind wieder blaß geworden. Es ist hier bei uns eine so stickige Luft ...«
»Ja, ich muß gehen«, murmelte Raskolnikow. »Entschuldigen Sie, daß ich gestört habe ...«
»Oh, bitte sehr, soviel es Ihnen beliebt! Es war mir ein Vergnügen, und ich freue mich, es Ihnen zu sagen.«
Ilja Petrowitsch reichte ihm sogar die Hand.
»Ich wollte nur ... zu Samjotow ...«
»Ich verstehe, ich verstehe, und haben dabei mir das Vergnügen gemacht.«
»Ich ... ich freue mich ... auf Wiedersehen ...« stammelte Raskolnikow mit einem Lächeln.
Er ging hinaus; er schwankte. Der Kopf schwindelte ihm. Er fühlte nicht, ob er noch auf den Beinen stehe. Er begann die Treppe hinabzugehen, indem er sich mit der rechten Hand gegen die Wand stützte. Es schien ihm, als hätte ihn irgendein Hausknecht, der mit einem Buche in der Hand ins Bureau hinaufging, gestoßen; als bellte irgendwo im unteren Stock aus Leibeskräften ein Hündchen, und als hätte eine Frau mit einem Stock nach ihm geworfen und es angeschrien. Er ging hinunter und trat in den Hof. Hier auf dem Hofe, in der Nähe des Ausganges stand Ssonja, bleich und starr und sah ihn wie wahnsinnig an. Er blieb vor ihr stehen. Ihr Gesicht zeigte einen leidenden und gequälten Ausdruck, etwas wie Verzweiflung. Sie schlug die Hände zusammen. Ein häßliches, verlorenes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Er stand eine Weile da, lächelte und ging wieder ins Polizeibureau hinauf.
Ilja Petrowitsch hatte sich hingesetzt und wühlte in irgendwelchen Papieren. Vor ihm stand derselbe Mann, der vorhin auf der Treppe Raskolnikow gestoßen hatte.
»Ah! Sie sind wieder da! Haben Sie etwas vergessen? ... ... Aber was ist mit Ihnen?«
Raskolnikow kam mit blassen Lippen und starrem Blick näher, trat langsam an ihn, dicht an den Tisch heran, stützte sich mit der Hand auf die Tischplatte, wollte etwas sagen, konnte aber nicht; man hörte nur irgendwelche unzusammenhängenden Töne.
»Ihnen ist schlecht! Einen Stuhl! Hier, setzen Sie sich auf den Stuhl, setzen Sie sich! Wasser!«
Raskolnikow ließ sich auf den Stuhl nieder, wandte aber die Augen nicht vom Gesicht des höchst unangenehm überraschten Ilja Petrowitsch. Beide sahen eine Minute lang einander an und warteten. Jemand brachte Wasser.
»Ich habe ...« begann Raskolnikow.
»Trinken Sie Wasser.«
Raskolnikow stieß mit der Hand das Glas zurück und sagte leise, stockend, doch vernehmlich:
»Ich habe damals die alte Beamtenwitwe und ihre Schwester Lisaweta mit dem Beil erschlagen und beraubt!«
Ilja Petrowitsch machte den Mund auf. Von allen Seiten kam man zusammengelaufen.
Raskolnikow wiederholte seine Aussage.
Sibirien. Am Ufer eines breiten, öden Flusses steht eine Stadt, eines von den administrativen Zentren Rußlands; in der Stadt ist eine Festung, in der Festung befindet sich ein Zuchthaus. Im Zuchthause sitzt schon seit neun Monaten der Sträfling zweiter Klasse Rodion Raskolnikow. Seit dem Tage seines Verbrechens sind fast anderthalb Jahre vergangen.
Das Gerichtsverfahren gegen ihn verlief ohne große Schwierigkeiten. Der Verbrecher hielt seine Aussage bestimmt und klar aufrecht, ohne die Umstände zu verwickeln, ohne sie zu seinen Gunsten zu mildern, ohne die Tatsachen zu entstellen und ohne auch die geringste Einzelheit zu verschweigen. Er beschrieb bis zum letzten Detail den ganzen Vorgang des Mordes, erklärte das Geheimnis des »Pfandes« (des Holzbrettchens mit der Metallplatte), das man in den Händen der ermordeten Alten gefunden hatte; erzählte genau, wie er die Schlüssel von der Ermordeten genommen hatte, beschrieb diese Schlüssel, beschrieb auch die Truhe und womit sie angefüllt war; er erklärte das Rätsel der Ermordung Lisawetas; erzählte, wie Koch gekommen war und geklopft hatte und nach ihm der Student erschienen war, und gab alles wieder, was sie miteinander gesprochen hatten; erzählte, wie er, der Verbrecher, nachher die Treppe hinuntergelaufen war und das Geschrei von Mikolka und Mitjka gehört hatte; wie er sich in der leeren Wohnung versteckt hatte und dann nach Hause gekommen war; schließlich gab er den Stein auf dem Hofe auf dem Wosnessenskij-Prospekt hinter dem Tore an, unter dem man später die Sachen und den Beutel auch wirklich fand. Mit einem Wort: die Sache war vollkommen klar. Die Untersuchungsbeamten und die Richter waren unter anderem sehr darüber erstaunt, daß er den Beutel und die Sachen unter dem Stein versteckt hatte, ohne von ihnen Gebrauch zu machen, besonders aber darüber, daß er sich nicht nur aller Gegenstände, die er geraubt hatte, nicht erinnerte, sondern sich sogar in ihrer Zahl irrte. Der Umstand, daß er kein einzigesmal den Beutel geöffnet hatte und nicht einmal wußte, wieviel Geld er enthielt, erschien ganz unglaubwürdig. Im Beutel fand man dreihundertsiebzehn Rubel in Banknoten und drei Zwanzigkopekenstücke; von dem langen Liegen unter dem Stein hatten einige zu oberst liegende Scheine, es waren gerade die größeren, sehr gelitten. Lange mühte man sich ab, zu erfahren, warum der Angeklagte gerade in diesem einen Punkte log, während er in allen übrigen Dingen freiwillig und aufrichtig gestand. Schließlich gaben einige (besonders die Psychologen) die Möglichkeit zu, daß er in den Beutel wirklich nicht hineingeschaut hatte und darum auch nicht wußte, was er enthielt; ohne es zu wissen, hätte er den Beutel unter dem Steine versteckt; daraus schloß man aber auch, daß das Verbrechen nur im Zustande einer gewissen vorübergehenden Unzurechnungsfähigkeit verübt werden konnte, sozusagen einer krankhaften Monomanie, zu morden und zu rauben, ohne weitere Absichten auf Bereicherung. Sehr gelegen kam die neueste Theorie von vorübergehender Geistesstörung, die man heutzutage so oft auf manche Verbrecher anzuwenden versucht. Zudem wurde der seit langem datierende hypochondrische Zustand Raskolnikows genau von vielen Zeugen bestätigt – vom Arzte Sossimow, von seinen früheren Kollegen, seiner Wirtin und dem Dienstmädchen. Das alles unterstützte außerordentlich die Annahme, daß Raskolnikow einem gewöhnlichen Mörder, Räuber und Diebe gar nicht ähnlich sehe und daß hier etwas anderes vorliegen müsse. Aber zum größten Verdruß derer, die diese Ansicht vertraten, machte der Verbrecher selbst fast keine Versuche, sich zu verteidigen; auf die endgültigen Fragen, was ihn zum Morde habe bewegen können und was ihn zum Raube verleitet habe, antwortete er sehr klar mit der rohesten Genauigkeit, daß die Ursache davon seine schlechte Lage, seine Armut und Hilflosigkeit gewesen seien, der Wunsch, die ersten Schritte seiner Lebensbahn mit Hilfe der mindestens dreitausend Rubel zu sichern, die er bei der Ermordeten zu finden hoffte. Zum Morde habe er sich aber infolge seines leichtsinnigen und kleinmütigen Charakters entschlossen, der überdies durch Entbehrungen und Mißerfolge gereizt war. Auf die Frage, was ihn veranlaßt habe, mit einem Geständnis zu kommen, antwortete er unumwunden, daß es aufrichtige Reue gewesen sei. Das alles klang schon beinahe roh ...
Das Urteil fiel jedoch milder aus, als man es nach der Art des Verbrechens erwartet hatte, und zwar vielleicht gerade aus dem Grunde, weil der Verbrecher sich nicht nur nicht zu verteidigen versuchte, sondern sogar den Wunsch zeigte, sich noch mehr anzuklagen. Alle die seltsamen und besonderen Umstände wurden mit in Betracht gezogen. Der krankhafte Zustand und die Notlage des Verbrechers vor Ausführung der Tat unterlagen keinem Zweifel. Daß er vom Geraubten keinen Gebrauch gemacht hatte, wurde zum Teil der erwachten Reue und zum Teil dem nicht völlig normalen Zustande seiner geistigen Fähigkeiten bei der Verübung des Verbrechens zugeschrieben. Auch die zufällige Ermordung Lisawetas diente als Umstand, der die letzte Annahme bekräftigte: ein Mensch begeht zwei Morde und vergißt zugleich, daß die Tür offen steht! Schließlich das freiwillige Geständnis gerade zu einem Zeitpunkt, wo die Sache infolge der falschen Selbstanklage eines entmutigten Fanatikers (Nikolai) außerordentlich verwickelt wurde und außerdem, wo gegen den wahren Verbrecher nicht nur keine klaren Indizien, sondern auch fast keine Verdachtsgründe vorlagen (Porfirij Petrowitsch hatte Wort gehalten) – das alles trug außerordentlich viel zur Milderung des Loses des Angeklagten bei.
Außerdem wurden auch andere, völlig unerwartete Umstände bekannt, die für den Angeklagten außerordentlich günstig waren. Der ehemalige Student Rasumichin hatte irgendwo Beweise dafür ausgegraben, daß der Angeklagte Raskolnikow, als er noch auf der Universität war, aus seinen letzten Mitteln einen armen und schwindsüchtigen Universitätskollegen unterstützt und fast ein ganzes halbes Jahr ausgehalten habe. Als dieser gestorben war, hätte er den am Leben gebliebenen alten und gelähmten Vater des verstorbenen Kollegen (der seinen Vater durch seiner Hände Arbeit fast seit seinem dreizehnten Lebensjahre ernährt und unterhalten hatte) gepflegt, dann diesen Alten in einem Krankenhaus untergebracht und, als er starb, auf eigene Kosten beerdigen lassen. Alle diese Mitteilungen hatten einen gewissen günstigen Einfluß auf das Los Raskolnikows. Seine frühere Wirtin, die Mutter der verstorbenen Braut Raskolnikows, die Witwe Sarnizyna, sagte aus, daß Raskolnikow, als sie noch in einem anderen Hause, an den »Fünf Ecken« wohnten, während einer nächtlichen Feuersbrunst aus einer schon brennenden Wohnung zwei kleine Kinder gerettet und dabei Brandwunden davongetragen habe. Diese Tatsache wurde genau untersucht und von anderen Zeugen mit ziemlicher Sicherheit bestätigt. Mit einem Wort: die Sache endete damit, daß der Verbrecher in Anbetracht seines freiwilligen Geständnisses und einiger strafmildernder Umstände zu nur acht Jahren Zwangsarbeit zweiter Klasse verurteilt wurde.
Die Mutter Raskolnikows war noch beim Anfange des Prozesses erkrankt. Dunja und Rasumichin brachten es fertig, sie für die Dauer des ganzen Prozesses aus Petersburg fortzubringen. Rasumichin wählte eine an der Eisenbahn gelegene Stadt in der Nähe von Petersburg, um die Möglichkeit zu haben, den Prozeß regelmäßig zu verfolgen und zugleich möglichst oft Awdotja Romanowna zu sehen. Die Krankheit Pulcheria Alexandrownas war nervöser Natur und sehr eigentümlich, begleitet von einer wenn auch nicht völligen, so doch teilweisen Geistesstörung. Als Dunja von ihrer letzten Zusammenkunft mit dem Bruder zurückkehrte, traf sie die Mutter schon ganz krank an, im Fieber und phantasierend. Am gleichen Abend kam sie mit Rasumichin überein, was man der Mutter auf die Fragen nach dem Bruder antworten solle, und erfand mit ihm zusammen für die Mutter eine ganze Geschichte, daß Raskolnikow irgendwo sehr weit an die Grenze Rußlands, in einem privaten Auftrage gereist sei, der ihm endlich Geld und Berühmtheit einbringen würde. Aber Pulcheria Alexandrowna stellte zum Erstaunen der beiden weder damals noch später irgendwelche Fragen. Im Gegenteil, sie wußte selbst eine ganze Geschichte über die plötzliche Abreise des Sohnes; sie erzählte unter Tränen, wie er zu ihr gekommen war, um Abschied zu nehmen; machte dabei Andeutungen, daß nur sie allein manche höchst wichtigen und geheimnisvollen Umstände kenne und daß Rodja viele mächtige Feinde habe, so daß er sich sogar verbergen müsse. Was aber seine zukünftige Karriere betraf, so erschien sie ihr als unzweifelhaft und glänzend, wenn gewisse widrige Umstände beseitigt sein würden; sie versicherte Rasumichin, daß ihr Sohn mit der Zeit sogar ein Staatsmann werden würde, wofür sein Artikel und seine glänzende literarische Begabung zeugten. Diesen Artikel las sie fortwährend, las ihn manchmal auch laut vor und nahm ihn sogar mit ins Bett; und doch fragte sie nie, wo sich Rodja jetzt aufhalte, obwohl man es augenscheinlich vermied, mit ihr darüber zu sprechen, was schon allein ihren Argwohn hätte wecken müssen. Dieses seltsame Schweigen Pulcheria Alexandrownas über gewisse Punkte erschien zuletzt beängstigend. Sie beklagte sich zum Beispiel nicht, daß sie von ihm keine Briefe erhalte, während sie früher, als sie noch in ihrem Städtchen wohnte, nur von der Hoffnung und Erwartung gelebt hatte, bald einen Brief von ihrem geliebten Rodja zu bekommen. Dieser Umstand war doch gar zu unerklärlich und beunruhigte Dunja sehr; ihr kam der Gedanke, daß die Mutter vielleicht etwas Schreckliches über das Los ihres Sohnes ahne und zu fragen fürchte, um nicht etwas noch Fürchterlicheres zu erfahren. Dunja sah jedenfalls klar, daß Pulcheria Alexandrowna nicht bei vollem Verstande war.
Ein paarmal war es übrigens vorgekommen, daß sie das Gespräch selbst so leitete, daß es unmöglich war, ihr zu antworten, ohne zu erwähnen, wo sich Rodja jetzt befand; und als die Antworten naturgemäß ungenügend und verdächtig ausfielen, wurde sie plötzlich außerordentlich traurig, düster und schweigsam, was eine ziemlich lange Zeit anhielt. Dunja sah schließlich ein, daß es sehr schwer war, zu lügen und zu erfinden, und kam zum endgültigen Entschluß, über gewisse Punkte vollkommen zu schweigen; aber es wurde immer klarer, daß die arme Mutter etwas Schreckliches argwöhnte. Dunja erinnerte sich unter anderem der Worte ihres Bruders, daß die Mutter sie in der Nacht vor jenem schicksalschweren Tage nach der Szene mit Swidrigailow habe phantasieren hören. Ob sie wohl etwas verstanden hatte? Oft, manchmal nach mehreren Tagen und sogar Wochen eines düsteren Schweigens und stummer Tränen wurde die Kranke plötzlich hysterisch lebhaft und fing an, laut von ihrem Sohne, von ihren Hoffnungen und von der Zukunft zu sprechen ... Ihre Phantasien waren bisweilen sehr sonderbar. Man tröstete sie, man stimmte ihr bei (sie sah vielleicht selbst, daß man ihr beistimmte, nur um sie zu trösten), und doch redete sie ...
Fünf Monate nach der Selbstanzeige des Verbrechers erfolgte das Urteil. Rasumichin besuchte ihn im Gefängnis, so oft es nur möglich war. Ssonja ebenfalls. Schließlich schlug die Stunde der Trennung. Dunja schwur dem Bruder, daß dies keine Trennung für immer sei. Auch Rasumichin bestätigte es. In Rasumichins jungem und feurigem Kopfe hatte sich der Plan festgesetzt, in den folgenden drei oder vier Jahren möglichst den Grund zu einem Vermögen zu legen, etwas Geld zu sparen und nach Sibirien überzusiedeln, wo der Boden in jeder Beziehung reich sei, wo es aber an Arbeitskräften, Menschen und Kapitalien mangele, sich dort, in derselben Stadt, wo Rodja sein werde, niederzulassen und ... gemeinsam ein neues Leben zu beginnen. Beim Abschied weinten sie alle. Raskolnikow war in den allerletzten Tagen sehr nachdenklich, fragte viel nach der Mutter und machte sich ihretwegen Sorgen. Er quälte sich so sehr um sie, daß es Dunja beunruhigte. Als er die Einzelheiten über die Krankheit der Mutter hörte, wurde er sehr düster. Gegen Ssonja war er während der ganzen Zeit aus irgendeinem Grunde sehr wortkarg. Ssonja hatte sich schon lange mit Hilfe des Geldes, das ihr Swidrigailow gegeben hatte, zu der Reise fertiggemacht, um der Abteilung von Sträflingen zu folgen, mit der er verschickt werden sollte. Darüber war zwischen ihr und Raskolnikow kein einziges Wort gefallen; aber beide wußten, daß es so sein werde. Beim letzten Abschied lächelte er seltsam bei den glühenden Versicherungen seiner Schwester und Rasumichins über die glückliche Zukunft, die sie alle erwartete, sobald er seine Strafe abgebüßt haben würde, und sagte voraus, daß die Krankheit der Mutter mit einer Katastrophe enden werde. Er und Ssonja traten endlich die Reise an.
Zwei Monate später heiratete Dunjetschka Rasumichin. Die Hochzeit war traurig und still. Unter den Geladenen befanden sich übrigens Porfirij Petrowitsch und Sossimow. In der ganzen letzten Zeit hatte Rasumichin das Aussehen eines festentschlossenen Menschen. Dunja glaubte blindlings, daß er alle seine Pläne verwirklichen werde, und es war ihr unmöglich, nicht daran zu glauben: dieser Mensch zeigte einen eisernen Willen. Auch begann er wieder die Universitätsvorlesungen zu hören, um das Studium zu absolvieren. Jeden Augenblick bauten sie an den Plänen für die Zukunft; beide rechneten fest darauf, nach fünf Jahren bestimmt nach Sibirien überzusiedeln. Bis dahin setzten sie ihre Hoffnungen auf Ssonja.
Pulcheria Alexandrowna gab der Tochter mit Freude den Segen zur Verheiratung mit Rasumichin; aber nach der Hochzeit schien sie noch trauriger und besorgter. Um ihr eine Freude zu bereiten, teilte ihr Rasumichin unter anderem die Geschichte vom Studenten und dessen altem Vater mit und auch, daß Rodja sich verbrannt hatte und sogar krank gewesen war, als er im vorigen Jahre zwei kleine Kinder aus dem Feuer gerettet hatte. Diese beiden Mitteilungen versetzten die schon ohnehin verstörte Pulcheria Alexandrowna fast in den Zustand von Verzückung. Sie sprach ununterbrochen darüber, sie knüpfte auch auf der Straße Gespräche an (obwohl Dunja sie ständig begleitete). In den Omnibussen, in Läden, wenn sie nur einen Zuhörer erwischte, brachte sie das Gespräch auf ihren Sohn, auf seinen Artikel, wie er den Studenten unterstützt und wie er bei der Feuersbrunst Brandwunden bekommen hatte, und so weiter. Dunjetschka wußte gar nicht, wie sie davon abzuhalten. Schon abgesehen von der Gefahr eines solchen verzückten, krankhaften Zustandes, drohte dabei auch noch die Möglichkeit, daß jemand sich des Namens Raskolnikow aus der Gerichtsverhandlung erinnern und die Rede darauf bringen könnte. Pulcheria Alexandrowna erfuhr sogar die Adresse der Mutter der beiden aus dem Feuer geretteten Kinder und wollte sie unbedingt aufsuchen. Ihre Unruhe erreichte endlich die äußersten Grenzen. Manchmal fing sie plötzlich zu weinen an, bekam oft Fieber und phantasierte dann. Eines Morgens erklärte sie, daß nach ihrer Berechnung Rodja bald zurückkehren müsse, daß sie sich erinnere, wie er bei seinem Abschied von ihr selbst erwähnt habe, man müsse seine Rückkehr nach genau neun Monaten erwarten. Sie fing an, die Wohnung aufzuräumen und sich zu seinem Empfang vorzubereiten, begann das für ihn bestimmte Zimmer (ihr eigenes) instand zu setzen, die Möbel zu reinigen, die Vorhänge zu waschen und aufzuhängen und so weiter. Dunja war sehr unruhig, sagte aber nichts und half ihr, das Zimmer für den Empfang des Bruders einzurichten. Nach dem unruhigen, in ständigen Phantasien, freudigen Träumen und Tränen verbrachten Tage erkrankte sie in der Nacht und lag am nächsten Morgen in Fieber und Fieberphantasien. Sie war an einem Nervenfieber erkrankt. Nach zwei Wochen starb sie. In den Fieberphantasien entschlüpften ihr Worte, aus denen man schließen konnte, daß sie viel mehr über das schreckliche Schicksal ihres Sohnes ahnte, als man angenommen hatte.
Raskolnikow wußte lange nichts vom Tode der Mutter, obwohl der Briefwechsel mit Petersburg gleich nach seiner Ankunft in Sibirien in Gang gekommen war. Der Briefwechsel wurde durch Ssonja vermittelt, die pünktlich jeden Monat nach Petersburg an die Adresse Rasumichins schrieb und pünktlich jeden Monat eine Antwort aus Petersburg erhielt. Die Briefe Ssonjas erschienen Dunja und Rasumichin zuerst etwas trocken und unbefriedigend, aber schließlich fanden sie beide, daß man gar nicht besser schreiben konnte, denn diese Briefe lieferten schließlich doch eine vollkommene und klare Vorstellung vom Schicksal des unglücklichen Bruders. Die Briefe Ssonjas waren mit der alltäglichsten Wirklichkeit, mit der einfachsten und klarsten Schilderung des ganzen Zuchthauslebens Raskolnikows angefüllt. Man fand in ihnen weder eine Darlegung ihrer eigenen Hoffnungen noch Vermutungen über die Zukunft noch eine Beschreibung ihrer eigenen Gefühle. Statt aller Versuche, seinen seelischen Zustand und überhaupt sein ganzes Innenleben zu erklären, standen in den Briefen lauter Tatsachen, das heißt seine eigenen Worte, genaue Berichte über seinen Gesundheitszustand, die Wünsche, die er ihr bei ihrem Besuche äußerte, seine Aufträge und dergleichen. Alle diese Nachrichten teilte sie mit außerordentlicher Genauigkeit mit. Das Bild des unglücklichen Bruders trat schließlich ganz von selbst klar und deutlich hervor; hier waren Irrtümer ausgeschlossen, denn es waren lauter sichere Tatsachen.
Aber wenig Erfreuliches konnten Dunja und ihr Mann aus diesen Nachrichten schließen, besonders im Anfang. Ssonja teilte immer mit, daß er ständig düster und wortkarg sei und sich fast gar nicht für die Nachrichten interessiere, die sie ihm jedesmal aus den Briefen, die sie erhielt, mitteilte; daß er manchmal nach der Mutter frage; und als sie ihm, nachdem sie gemerkt hatte, daß er die Wahrheit ahnte, ihren Tod mitteilte, so hätte selbst die Nachricht vom Tode der Mutter zu ihrem Erstaunen auf ihn keinen besonders starken Eindruck gemacht; so schien es ihr wenigstens nach seinem Außeren. Sie teilte unter anderem mit, daß er, obwohl er ganz in sich verschlossen zu sein scheine und sich von allen abgewandt habe, sein neues Leben dennoch sehr einfach und offen hinnehme; daß er seine Lage wohl begreife, in der nächsten Zeit keine Veränderungen zum Besten erwarte, keine leichtsinnigen Hoffnungen (die in seiner Lage doch so begreiflich wären) hege und sich fast über nichts in seiner neuen Umgebung, die seinem früheren Leben so wenig gleiche, wundere. Sie teilte auch mit, daß seine Gesundheit befriedigend sei. Er gehe zur Arbeit, der er nicht ausweiche, um die er sich aber auch nicht bewerbe. Gegen das Essen sei er gleichgültig, aber das Essen sei außer am Sonn- und Feiertag dermaßen schlecht, daß er schließlich gern von ihr, Ssonja, etwas Geld genommen habe, um seinen eigenen Tee zu haben; wegen des übrigen habe er sie gebeten, sich nicht zu beunruhigen, weil alle diese Sorgen ihn bloß ärgerten. Ferner teilte Ssonja mit, daß er im Zuchthause im gemeinsamen Raume mit den anderen untergebracht sei; die inneren Räume habe sie nicht gesehen, aber sie nehme an, daß es dort eng, häßlich und ungesund sei; daß er auf einer Pritsche schlafe, eine Filzunterlage habe und nichts anderes haben wolle. Daß er aber so schlecht und ärmlich nicht aus einer bestimmten, vorgefaßten Absicht lebe, sondern bloß aus Unachtsamkeit und äußerlicher Gleichgültigkeit gegen sein Schicksal. Ssonja gestand offen, daß er, besonders im Anfang, sich nicht nur für ihre Besuche nicht interessiert, sondern sich über sie fast geärgert habe, wortkarg, sogar grob zu ihr gewesen sei, daß aber mit der Zeit diese Zusammenkünfte ihm zur Gewohnheit geworden seien und er sich sogar gegrämt habe, als sie einige Tage krank gewesen sei und ihn nicht besuchen konnte. Sie sehe ihn an Feiertagen vor dem Zuchthaustor oder im Wachthaus, wohin man ihn für einige Minuten zu ihr rufe; an Wochentagen aber bei der Arbeit, entweder in den Werkstätten oder in der Ziegelbrennerei oder in den Schuppen am Ufer des Irtysch. Über sich selbst teilte Ssonja mit, daß es ihr gelungen sei, in der Stadt einige Bekanntschaften zu machen und Protektion zu finden; sie beschäftige sich jetzt mit Nähen, und da es in der Stadt fast keine Schneiderinnen gäbe, sei sie in vielen Häusern unentbehrlich geworden; sie verschwieg bloß, daß Raskolnikow durch sie Protektion bei den Behörden gefunden habe, daß sein Arbeitspensum erleichtert worden sei und dergleichen mehr. Schließlich kam die Nachricht (Dunja hatte schon in den letzten Briefen eine eigentümliche Aufregung und Unruhe gemerkt), daß er alle meide, daß die anderen Sträflinge ihm feindlich gesinnt seien, daß er tagelang schweige und sehr blaß werde. Plötzlich teilte Ssonja in ihrem letzten Briefe mit, daß er ernstlich erkrankt sei und im Hospital, in der Sträflingsabteilung liege.
Er war schon seit langem krank; es waren aber nicht die Schrecken des Zuchthauslebens, nicht die Zwangsarbeit, nicht die Verpflegung, auch nicht der abrasierte Kopf und die Sträflingskleidung, was ihn gebrochen hatte: ach, was machte er sich aus allen diesen Qualen und Peinigungen! Im Gegenteil, er freute sich sogar über die Arbeit: wenn er sich bei der Arbeit körperlich abgehetzt hatte, konnte er wenigstens einige Stunden ruhig schlafen. Und was bedeutete für ihn das Essen – diese fleischlose Kohlsuppe mit Küchenschwaben? Als Student in seinem früheren Leben hatte er oft auch nicht mal das gehabt. Seine Kleidung war warm und seiner Lebensweise angepaßt. Die Ketten fühlte er fast gar nicht. Sollte er sich seines rasierten Kopfes und seiner zweifarbigen Jacke schämen? Vor wem? Vor Ssonja? Ssonja fürchtete ihn doch, sollte er sich vor ihr schämen?
Gewiß! Er schämte sich sogar vor Ssonja, die er dafür durch seine verächtliche und rohe Behandlung quälte. Aber er schämte sich nicht seines rasierten Kopfes: sein Stolz war schwer verletzt, und er erkrankte auch an verletztem Stolze. Oh, wie glücklich wäre er, wenn er sich selbst anklagen könnte! Alles würde er dann tragen, selbst die Schande und Schmach. Aber er richtete sich streng, und sein erbittertes Gewissen konnte in seiner Vergangenheit keine besondere Schuld finden außer einem einfachen Versehen, das auch jedem anderen passieren konnte. Er schämte sich gerade dessen, daß er, Raskolnikow, so blind, hoffnungslos, lautlos und dumm nach dem Ratschlusse eines blinden Schicksals zugrundegegangen war und sich vor dem »Unsinn« irgendeines Urteils demütigen und beugen mußte, wenn er sich nur einige Ruhe verschaffen wollte.
Eine gegenstandslose und ziellose Unruhe in der Gegenwart, ein ununterbrochenes Opfer in der Zukunft, durch das er nichts gewann – das erwartete ihn in der Welt. Was liegt ihm daran, daß er nach acht Jahren erst zweiunddreißig Jahre alt sein wird und ein neues Leben beginnen kann? Wozu soll er leben? Was soll er in Aussicht haben? Wonach soll er streben? Leben, um zu existieren? Aber er war auch früher tausendmal bereit gewesen, seine Existenz für eine Idee, für eine Hoffnung, sogar für eine Phantasie hinzugeben. Die Existenz allein hatte ihm niemals genügt, er strebte immer nach Größerem. Vielleicht hatte ihn bloß diese Kraft seines Wollens auf den Gedanken gebracht, daß er ein Mensch sei, der sich mehr erlauben dürfe als alle anderen?
Hätte ihm das Schicksal doch Reue gesandt, eine brennende Reue, die das Herz zerbricht, den Schlaf vertreibt, eine Reue, bei deren schrecklichen Qualen man an die Schlinge und einen Sumpf denkt! Oh, wie würde er sich darüber freuen! Qualen und Tränen – das ist doch auch Leben. Aber er bereute sein Verbrechen nicht.
Er könnte sich wenigstens über seine Dummheit ärgern, wie er sich früher über seine häßlichen und dummen Handlungen geärgert hatte, die ihn nach Sibirien brachten. Als er sich aber jetzt im Zuchthause, in Freiheit alle seine früheren Handlungen überlegte, fand er sie gar nicht so dumm und abscheulich, wie sie ihm vorher, in jener verhängnisvollen Zeit erschienen waren.
– Wodurch, wodurch – dachte er, war mein Gedanke dümmer als alle anderen Gedanken und Theorien, die in der Welt schwirren und zusammenprallen, solange die Welt steht? Man braucht nur die Sache mit einem völlig unabhängigen, weiten und von den alltäglichen Einflüssen losgelösten Blick anzuschauen, und dann wird mein Gedanke natürlich gar nicht so ... seltsam erscheinen. O ihr Verneiner und Weisen, die ihr einen Fünfer wert seid, warum bleibt ihr auf halbem Wege stehen! –
– Warum erscheint ihnen meine Tat so häßlich? – fragte er sich selbst. – Weil sie ein Verbrechen ist? Was bedeutet das Wort Verbrechen? Mein Gewissen ist ruhig. Ich habe sogar ein Kapital verbrechen begangen; der Buchstabe des Gesetzes ist natürlich verletzt, und Blut ist vergossen, nun, nehmt mir nach dem Buchstaben des Gesetzes meinen Kopf ... und genug! Natürlich, in diesem Falle müßten viele Wohltäter der Menschheit, die die Macht nicht geerbt, sondern an sich gerissen haben, schon bei ihren ersten Schritten hingerichtet worden sein. Aber jene Menschen haben ihre Schritte ertragen, und darum haben sie recht, aber ich habe es nicht ertragen und hatte folglich nicht das Recht, mir diesen Schritt zu erlauben. –
Nur darin erkannte er sein Verbrechen an, nur darin allein: daß er es nicht ertragen und ein freiwilliges Geständnis abgelegt hatte.
Er litt auch unter dem Gedanken: Warum hatte er sich damals nicht das Leben genommen? Warum hatte er schon am Flußufer gestanden und die Selbstanzeige vorgezogen? Liegt denn eine solche Kraft in diesem Willen zum Leben und ist er so schwer zu überwinden? Hat doch Swidrigailow, der den Tod so fürchtete, diesen Willen überwunden!
Voller Qual stellte er sich diese Frage und konnte nicht verstehen, daß er vielleicht schon damals, als er am Wasser stand, in sich selbst und in seinen Überzeugungen eine tiefe Lüge geahnt hatte. Er verstand nicht, daß diese Vorahnung der Vorbote einer künftigen Umwälzung in seinem Leben, seiner künftigen Auferstehung, seiner künftigen neuen Anschauung vom Leben sein konnte.
Er ließ hier eher die dumpfe Schwere des Instinkts gelten, die zu zerreißen nicht seine Sache war und die zu überschreiten er wiederum nicht die Kraft hatte (infolge seiner Schwäche und Nichtigkeit). Er sah seine Zuchthausgenossen an und wunderte sich: wie auch sie alle das Leben liebten und an ihm hingen! Es kam ihm sogar vor, daß man im Zuchthause das Leben noch mehr liebte und schätzte, als man es in der Freiheit schätzt. Was für schreckliche Qualen und Martern haben manche von ihnen schon überstanden, zum Beispiel die Landstreicher! Kann denn für so einen wirklich ein Sonnenstrahl, ein dichter Wald, eine kalte Quelle im Dickicht, die er sich schon vor drei Jahren gemerkt hat und nach der er sich wie nach einer Geliebten sehnt, von der er träumt wie auch vom grünen Grase um sie herum und vom singenden Vogel im Gebüsch, so viel bedeuten?! Und als er die Leute noch aufmerksamer betrachtete, fand er noch unerklärlichere Beispiele dafür.
Im Zuchthause, in seiner nächsten Umgebung bemerkte er natürlich vieles nicht und wollte es auch gar nicht bemerken. Er lebte gleichsam mit gesenkten Augen; es war ihm unerträglich und widerlich, zu sehen. Aber zuletzt mußte er doch über vieles staunen, und er begann fast unwillkürlich, vieles zu sehen, was er früher nicht mal geahnt hatte. Überhaupt und am meisten machte ihn der schreckliche, unüberbrückbare Abgrund staunen, der zwischen ihm und allen diesen Menschen lag. Es war, als gehörten sie verschiedenen Nationen an. Er und sie sahen einander mißtrauisch und feindselig an. Er kannte und begriff die allgemeinen Ursachen dieser Feindschaft; aber er hätte früher niemals geglaubt, daß diese Ursachen wirklich so tief und stark sein könnten. Im Zuchthause befanden sich auch verbannte Polen, politische Verbrecher. Diese hielten alle übrigen Sträflinge einfach für ungebildete Bauern und verachteten sie; aber Raskolnikow konnte sie nicht so ansehen: er sah klar, daß diese Bauern in vielen Dingen viel klüger waren als die Polen selbst. Es waren auch Russen da, die dieses Volk zu sehr verachteten: ein gewesener Offizier und zwei gewesene Zöglinge eines Priesterseminars. Raskolnikow sah auch ihren Irrtum klar.
Ihn selbst aber liebten alle nicht und mieden ihn. Schließlich fing man ihn sogar zu hassen an, – warum? Er wußte es nicht. Man verachtete ihn, man lachte über ihn, und die, die viel verbrecherischer waren als er, lachten über sein Verbrechen.
»Du bist ein Herr!« sagte man ihm. »Es war nicht deine Sache, mit einem Beile zu gehen; das ist nichts für einen Herrn.«
In der zweiten Woche der großen Fasten kam er an die Reihe, sich zugleich mit der ganzen Kaserne zum Abendmahl vorzubereiten. Er ging zur Kirche mit den anderen. Eines Tages kam es, er wußte selbst nicht, aus welchem Grunde, zum Streite; alle fielen plötzlich wütend über ihn her.
»Du bist ein Gottloser! Du glaubst nicht an Gott!« schrien sie alle. »Man müßte dich erschlagen!«
Er sprach niemals mit ihnen über Gott und über den Glauben, aber sie wollten ihn als einen Gottlosen erschlagen; er schwieg und widersprach ihnen nicht. Ein Zuchthäusler stürzte sich auf ihn in äußerster Wut. Raskolnikow erwartete ihn ruhig und schweigend; er zuckte mit keiner Wimper, kein Zug seines Gesichtes bebte. Der Wachsoldat stellte sich noch rechtzeitig zwischen ihn und den Mörder, – sonst wäre Blut geflossen.
Unerklärlich war für ihn noch eine Frage: Warum hatten sie alle Ssonja so lieb gewonnen? Sie suchte sich bei ihnen niemals einzuschmeicheln; sie trafen sie selten, nur manchmal bei den Arbeiten, wenn sie auf einen Augenblick kam, um ihn zu sehen. Und doch kannten sie sie alle und wußten auch, daß sie ihm gefolgt war, wußten, wie sie lebte und wo sie wohnte. Geld gab sie ihnen nicht und erwies ihnen auch keine besonderen Dienste. Nur einmal zu Weihnachten brachte sie eine Gabe für das ganze Zuchthaus: Kuchen und Brezeln. Aber allmählich hatten sich zwischen ihnen und Ssonja gewisse nähere Beziehungen angeknüpft: sie schrieb für sie Briefe und schickte sie zur Post. Ihre Verwandten beiderlei Geschlechts, die in die Stadt kamen, ließen auf deren Wunsch bei Ssonja Sachen und sogar Geld für sie zurück. Ihre Frauen und Geliebten kannten Ssonja und besuchten sie. Und wenn sie zur Arbeit kam, um Raskolnikow zu sehen, oder einer Partie Sträflinge, die zur Arbeit gingen, begegnete, nahmen sie alle die Mützen ab und grüßten sie. »Mütterchen, Ssofja Ssemjonowna, unsere Mutter, du Zarte und Barmherzige!« sagten diese groben gebrandmarkten Zuchthäusler zu diesem kleinen schmächtigen Geschöpf. Sie lächelte und nickte ihnen zu, und sie alle sahen es gern, wenn sie ihnen zulächelte. Sie liebten auch ihren Gang, wandten sich um, um zu sehen, wie sie ging, und lobten sie; sie lobten sie sogar dafür, daß sie so klein war; sie wußten gar nicht mehr, wofür sie noch zu loben. Sie kamen auch zu ihr, um sich von ihr in Krankheitsfällen behandeln zu lassen.
Raskolnikow verbrachte das Ende der Fastenzeit und die Osterwoche im Spital. Während der Genesung erinnerte er sich seiner Träume, die er im Fieber gehabt hatte. Während seiner Krankheit träumte er, daß die ganze Welt verdammt sei, irgendeiner schrecklichen, unerhörten und noch nie dagewesenen Seuche zum Opfer zu fallen, die aus Asiens Tiefen über Europa kam. Alle sollten umkommen, mit Ausnahme einiger sehr weniger Auserwählter. Es kamen neue Trichinen auf, mikroskopische Wesen, die sich in den Körpern der Menschen einnisteten. Diese Geschöpfe waren aber mit Verstand und Willen begabte Geister. Die Menschen, in die sie eingedrungen waren, wurden sofort zu Besessenen und Wahnsinnigen. Noch niemals, niemals hatten sich die Menschen für so klug und unwankbar in ihrer Wahrheit gehalten wie diese Angesteckten. Noch niemals hatten sie ihre Urteile, ihre wissenschaftlichen Schlüsse, ihre sittlichen Überzeugungen und Glaubenssätze für unerschütterlicher gehalten. Ganze Siedlungen, ganze Städte und Völker wurden angesteckt und rasten wie Wahnsinnige. Alle waren in Unruhe und verstanden einander nicht; ein jeder glaubte, daß er allein die Wahrheit fasse, und quälte sich beim Anblick der anderen, schlug sich vor die Brust, weinte und rang die Hände. Sie wußten nicht, wen und wie man richten sollte, was als gut und als böse anzusehen sei. Sie wußten nicht, wen anzuklagen und wen freizusprechen. Die Menschen töteten einander in einer eigentümlichen, sinnlosen Wut. Sie zogen als ganze Armeen gegeneinander, aber die Armeen begannen schon auf dem Marsche einander zu zerfleischen, die Reihen gerieten durcheinander, die Krieger fielen übereinander her, stachen und hieben, bissen und fraßen einander auf. In den Städten läutete den ganzen Tag die Sturmglocke: man rief alle zusammen, aber wer rief und wozu er rief, das wußte niemand, und alle waren in Unruhe. Sie gaben die gewöhnlichsten Handwerke auf, weil jeder seine eigenen Gedanken und Verbesserungen in Vorschlag brachte, und sie konnten sich nicht einigen; der Ackerbau stockte. Hier und da liefen Menschen zu Haufen zusammen, einigten sich über etwas, schwuren, sich nicht mehr zu trennen, – begannen aber sofort etwas ganz anderes zu tun, als was sie soeben beschlossen hatten, einander anzuklagen, sich zu prügeln und zu morden. Es kamen Feuersbrünste und eine Hungersnot. Alle und alles ging zugrunde. Die Seuche griff um sich und verbreitete sich immer weiter und weiter. Bloß einige Menschen in der ganzen Welt konnten sich retten: es waren die Reinen und Auserwählten, ausersehen, ein neues Leben und ein neues Menschengeschlecht zu begründen, die Erde zu erneuern und zu reinigen, aber niemand hatte irgendwo diese Menschen gesehen, niemand hatte ihre Worte und Stimmen gehört.
Raskolnikow quälte es, daß dieser sinnlose Fiebertraum so traurig und schmerzlich in seinen Erinnerungen fortlebte, daß der Eindruck dieser Träume so lange nicht weichen wollte. Die zweite Woche nach Ostern hatte schon begonnen; es waren warme, heitere Frühlingstage; in der Sträflingsabteilung des Spitals standen die Fenster offen (vergitterte Fenster, unter denen ein Wachtposten auf und ab ging). Ssonja hatte ihn während seiner Krankheit bloß zweimal besuchen können; man mußte jedesmal um Erlaubnis bitten, und das war schwer. Sie kam aber oft auf den Hof des Spitals, vor sein Fenster, besonders gegen Abend, manchmal aber auch bloß, um einen Augenblick auf dem Hofe zu stehen und wenigstens aus der Ferne auf die Fenster seiner Abteilung zu schauen. Eines Abends war Raskolnikow, der schon fast genesen war, eingeschlafen; als er erwachte, trat er zufällig ans Fenster und erblickte plötzlich weit am Spitaltore Ssonja. Sie stand dort und schien auf etwas zu warten. Es war ihm, als durchbohrte etwas in diesem Augenblick sein Herz; er fuhr zusammen und ging schnell vom Fenster weg. Am folgenden Tage kam Ssonja nicht, am dritten Tage auch nicht; er merkte, daß er sie voll Unruhe erwartete. Endlich wurde er aus dem Spital entlassen. Ins Zuchthaus zurückgekehrt, erfuhr er von den Sträflingen, daß Ssofja Ssemjonowna erkrankt sei, zu Hause liege und nicht aufstehe.
Er war sehr beunruhigt und ließ sich nach ihr erkundigen. Bald erfuhr er, daß die Erkrankung nicht gefährlich sei. Als Ssonja ihrerseits erfuhr, daß er sich nach ihr sehnte und sich um sie sorgte, schickte sie ihm einen mit Bleistift geschriebenen Zettel, in dem sie ihm mitteilte, daß es ihr schon viel besser gehe, daß es eine unbedeutende, leichte Erkältung sei und daß sie bald, sehr bald ihn wieder bei der Arbeit aufsuchen werde. Als er diesen Zettel las, schlug sein Herz stark und schmerzhaft.
Es war ein heiterer und warmer Tag. Am frühen Morgen um sechs Uhr ging er zur Arbeit, an das Flußufer, wo in einem Schuppen ein Ofen zum Alabasterbrennen eingerichtet war und wo der Alabaster gestoßen wurde. Bloß drei Arbeiter gingen dorthin. Der eine von ihnen ließ sich vom Wachtsoldaten in die Festung zurückführen, um irgendein Werkzeug zu holen; der andere begann das Holz zu zerkleinern und es in den Ofen zu legen. Raskolnikow trat aus dem Schuppen ans Ufer, setzte sich auf die dort aufgestapelten Balken und begann auf den breiten und öden Fluß zu blicken. Vom hohen Ufer bot sich eine Aussicht auf die weite Umgebung. Vom anderen fernen Ufer tönte kaum hörbar ein Lied herüber. Dort lagen in der unübersehbaren, vom Sonnenlicht übergossenen Steppe als schwarze Punkte die Zelte der Nomaden verstreut. Dort war die Freiheit, dort lebten andere Menschen, die ganz anders waren als die hiesigen, dort schien die Zeit selbst stillzustehen, als wäre das Zeitalter Abrahams und seiner Herden noch nicht vorüber. Raskolnikow saß da und blickte unverwandt und regungslos hinüber, seine Gedanken wurden zu Träumen, zu Kontemplation; er dachte an nichts, aber ein tiefer Gram erregte und quälte ihn.
Plötzlich sah er neben sich Ssonja. Sie war unhörbar herangetreten und hatte sich neben ihn gesetzt. Es war noch sehr früh; die Morgenkühle war noch nicht gewichen. Sie hatte ihren alten ärmlichen Pelz an und das grüne Tuch um. Ihr Gesicht zeigte noch die Spuren der Krankheit, es war magerer, blasser und schmächtiger geworden. Sie lächelte ihm freudig und freundlich zu, reichte ihm aber die Hand scheu, wie immer.
Sie reichte ihm die Hand immer so scheu, manchmal reichte sie sie ihm gar nicht, als fürchtete sie, daß er sie von sich stoßen würde. Er nahm ihre Hand stets mit Widerwillen, empfing sie stets wie geärgert und schwieg zuweilen hartnäckig während ihres ganzen Besuches. Es kam vor, daß sie vor ihm zitterte und in tiefem Kummer von ihm ging. Aber jetzt lösten sich ihre Hände nicht; er sah sie schnell und flüchtig an, sagte nichts und schlug seine Augen nieder. Sie waren beide allein, niemand sah sie. Der Wachtsoldat hatte sich gerade weggewandt.
Wie es kam, das wußte er selbst nicht, aber plötzlich packte ihn etwas und warf ihn zu ihren Füßen. Er weinte und umschlang ihre Knie. Im ersten Augenblick erschrak sie, und ihr Gesicht wurde totenblaß. Sie sprang von ihrem Platze auf und sah ihn zitternd an. Aber sie begriff sofort, im Nu alles. In ihren Augen leuchtete ein grenzenloses Glück auf; sie begriff, und es gab für sie keinen Zweifel mehr, daß er sie liebte, grenzenlos liebte, und daß dieser Augenblick endlich doch gekommen war ...
Sie wollten sprechen, konnten aber nicht. Tränen standen in ihren Augen. Beide waren bleich und abgemagert; aber in diesen kranken und bleichen Gesichtern leuchtete schon das Morgenrot einer neuen Zukunft, der völligen Auferstehung zu einem neuen Leben. Die Liebe hatte sie auferweckt, das Herz des einen enthielt unerschöpfliche Lebensquellen für das Herz des andern.
Sie beschlossen, zu warten und zu dulden. Es blieben ihnen bis dahin noch sieben Jahre und so viel unerträgliche Qual, so viel grenzenloses Glück! Aber er war auferstanden, und er wußte es, er fühlte es mit seinem ganzen erneuten Wesen, und sie – sie lebte doch nur sein Leben!
Am Abend des gleichen Tages, als die Kaserne schon geschlossen war, lag Raskolnikow auf seiner Pritsche und dachte an sie. An diesem Tage kam es ihm sogar vor, als ob alle Sträflinge, seine bisherigen Feinde, ihn ganz anders ansahen. Er sprach sie sogar selbst an, und sie antworteten ihm freundlich. Er erinnerte sich jetzt dessen, aber es mußte doch so kommen! Mußte sich denn jetzt nicht alles ändern?
Er dachte an sie. Er erinnerte sich, wie er sie immer gequält und ihr Herz gepeinigt hatte; er erinnerte sich ihres bleichen, schmalen Gesichtchens; aber diese Erinnerungen quälten ihn jetzt fast gar nicht; er wußte, mit welcher unendlichen Liebe er jetzt alle ihre Qualen sühnen würde.
Und was bedeuteten auch alle, alle Qualen der Vergangenheit! Alles, sogar sein Verbrechen, sogar das Urteil und die Verbannung erschienen ihm jetzt beim ersten Gefühlsausbruche als eine rein äußerliche, unverständliche Tatsache, die nicht ihm zugestoßen sei. An diesem Abend konnte er übrigens gar nicht lange und dauernd an etwas denken, konnte seine Gedanken nicht auf etwas konzentrieren; jetzt hätte er auch gar nichts bewußt beschließen können; er fühlte nur. Statt der Dialektik begann jetzt das Leben, und in seinem Bewußtsein mußte sich jetzt etwas ganz anderes herausarbeiten.
Unter seinem Kissen lag das Neue Testament. Er griff mechanisch danach. Dieses Buch gehörte ihr, es war dasselbe, aus dem sie ihm von der Auferstehung des Lazarus vorgelesen hatte. Zu Beginn seines Zuchthauslebens hatte er geglaubt, daß sie ihn mit der Religion totquälen würde, daß sie immer über das Evangelium sprechen und ihm Bücher aufzwingen würde. Aber zu seinem größten Erstaunen hatte sie kein einzigesmal die Rede darauf gebracht und ihm sogar nie das Evangelium angeboten. Er hatte sie selbst kurz vor seiner Erkrankung darum gebeten, und sie hatte ihm schweigend das Buch gebracht. Bis jetzt hatte er es nicht mal aufgeschlagen.
Er schlug es auch jetzt nicht auf, aber ein Gedanke zog ihm durch den Sinn: »Können denn ihre Überzeugungen jetzt nicht auch meine Überzeugungen sein? Wenigstens ihre Gefühle, ihre Bestrebungen ...?«
Auch sie war diesen ganzen Tag in Erregung, und in der Nacht erkrankte sie von neuem. Aber sie war so glücklich, so unerwartet glücklich, daß sie vor ihrem Glück fast erschrak. Sieben Jahre, bloß sieben Jahre! Im Anfange ihres Glücks waren sie in manchen Augenblicken beide geneigt, diese sieben Jahre für sieben Tage zu halten. Er wußte nicht, daß dieses neue Leben ihm nicht umsonst zufallen würde, daß er es teuer erkaufen und mit einer großen künftigen Tat bezahlen müsse ...
Aber hier fängt schon eine neue Geschichte an, – die Geschichte der allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner allmählichen Wiedergeburt, des allmählichen Überganges aus der einen Welt in eine andere, der Bekanntschaft mit einer neuen, ihm bisher völlig unbekannten Wirklichkeit. Das könnte den Stoff zu einer neuen Erzählung abgeben, aber unsere jetzige Erzählung ist zu Ende.