Dritte Geschichte Eine Andere Kraft

Prolog

Das Auto hielt Juha Mustaioki an, der jetzt der Ranghöchste in ihrer kleinen Gruppe war, Jari Kuusinen und Raivo Nikkilia zwängten sich schweigend auf den Rücksitz des alten Shiguli, Juha stieg vorn ein.

»Bringen Sie uns nach Sche-rje-mje-tje-wo«, befahl Juha prononciert. Wie seltsam es auch anmutete, doch für Mustaioki war Russisch die Sprache seiner Kindheit, die er später freilich gründlich vergessen hatte. Sprachtalent hatte ihn indes schon immer ausgezeichnet. Außerdem hatte er in der Nähe der russischen Grenze gelebt und war regelmäßig nach Petersburg gefahren, um sich dort zu betrinken. Alle andern nahmen lieber die Fähre nach Schweden, wo man sich nachts auf dem Hinweg mit dem im Duty-free-Shop erworbenen Alkohol ordentlich einen hinter die Binde gießen konnte, tagsüber ausschlief, die Fähre nicht verließ (wen interessierte schon dieses Stockholm?) und sich auf dem Rückweg erneut dem kostspieligen Vergnügen überließ. Mustaioki fuhr jedoch unverdrossen weiter nach Piter. »Bringen Sie uns schnell und or-dent-lich hin.«

Der Fahrer brachte sie hin. Schnell und ordentlich. Ausländer zum Flughafen zu fahren war das reinste Vergnügen. Ein arbeitsloser Ingenieur, der sich als Taxifahrer verdingte, kriegte nicht häufig eine solche Tour. Und gerade jetzt konnte er das gut gebrauchen, da ein neues Jahr - noch dazu das Jahr 2000 - vor der Tür stand, da alle versuchten, ein möglichst üppiges Fest auszurichten und den Verwandten prachtvollere Geschenke zu machen als sonst.

Die drei Anderen saßen schweigend im Wagen und belauschten die Gedanken des Fahrers nicht. Obwohl sie das natürlich gekonnt hätten.

Bereits hinter der Ringautobahn drehte sich Juha zu seinen beiden Gefährten um. »Kommen wir hier am Ende also doch noch raus, Freunde?«, fragte er.

Jari und Raivo nickten zustimmend. Es war wirklich schwer zu glauben, dass die Verhöre der Nachtwache vorüber waren, die Vorladungen bei den finsteren Mitarbeitern der Inquisition, das geschäftige Gebaren dieses Rechtsverdrehers der Tagwache, eines Vampirs, der sowohl bei den Menschen als auch bei den Anderen nur allzu bekannt war.

Sie waren entkommen. Sie waren entkommen, durften das schreckliche, kalte und unwirtliche Moskau verlassen. Allerdings durften sie noch nicht nach Hause, sondern mussten nach Prag, wo seit kurzem das Europabüro der Inquisition saß Doch immerhin kamen sie raus aus Moskau. Mit eingeschränkten Rechten, mit der Auflage, sich am Ankunftsort registrieren zu lassen - aber trotzdem.

»Der arme Ollykainen…«, seufzte Raivo. »Wo er doch tschechisches Bier so geliebt hat. Er hat immer gesagt, das sei gleich nach unserm Lapin Kulta das beste Bier der Welt. Nie wieder wird er Bier trinken…«

»Wir werden eins für ihn mittrinken«, schlug Jari vor.

»Drei«, verbesserte Juha. »Er war der würdigste der Regin-Brüder.«

»Und wir?«, fragte Jari nach kurzem Nachdenken.

»Wir sind auch würdig«, stimmte Juha zu. »Wir haben unsere Pflicht erfüllt.«

Aus irgendeinem Grund senkten alle drei bei diesen Worten den Blick zu Boden.

Die kleine Sekte von Dunklen, die sich Regin-Brüder nannte, existierte bereits seit fast fünfhundert Jahren in Helsinki. Sie gehörten zu den wenigen Anderen, die den Großen Vertrag nicht offiziell anerkannten, doch da sie ihn auch nie ernsthaft verletzt hatten, drückten die Wächter des Tages und der Nacht bei ihnen ein Auge zu. Den Lichten schien es sogar zu gefallen, dass zwei, drei Dutzend Dunkle harmlose Rituale pflegten, Lieder sangen und archäologische Grabungen durchführten. Die Dunklen hatten in jedem Jahrhundert ein paarmal versucht, die Regin-Brüder für ihre Arbeit in der Tagwache zu gewinnen, und winkten jetzt nur noch ab.

Bis vor kurzem hatten Juha, Jari, Raivo und ihr verstorbener Gefährte Pasi Ollykainen ihre Aufgabe in der Sekte als aufregendes, mitunter sogar als lustiges Spiel betrachtet. Ihre Großväter und Urgroßväter hatten ihr Leben der Sekte gewidmet, ihre Kinder würden ebenfalls zu Regin-Brüdern heranwachsen… Ihre Adoptivkinder, natürlich. Nur selten hat ein Anderer das Glück, ein Kind mit den Fähigkeiten eines Anderen zu kriegen. Das ist nur bei den niederen Dunklen üblich, bei Vampiren und Tiermenschen…

Die Magier aus der kleinen finnischen Sekte hatten es da schwerer. Sie mussten die ganze Welt bereisen, um als Andere geborene Kinder zu suchen, die sie adoptieren, aufziehen und dem Dienst an der großen Sache des Fafnir zuführen konnten. In der Regel fanden sie die Kinder in unterentwickelten und exotischen Ländern.

Raivo stammte beispielsweise aus Burkina Faso. Den kleinen Jungen mit den großen Kulleraugen, den krummen rachitischen Beinen und dem aufgequollenen Bauch hatten sie seinen Eltern für vierzehn Dollar abgekauft. Sie hatten ihn geheilt, erzogen und ihm Finnisch beigebracht. Wer hätte beim Anblick des schönen und schlanken dunkelhäutigen Mann ahnen können, dass ihn einst ein völlig andres Schicksal erwartet hatte?

Jari war in den Elendsvierteln von Macao gefunden worden. Mit seinen vier Jahren gab er bereits einen bemerkenswerten Dieb ab, der seine magischen Fähigkeiten zu diesem Zweck einzusetzen wusste, was wiederum die Aufmerksamkeit seiner zukünftigen Adoptiveltern auf ihn gelenkt hatte. Für ihn mussten sie noch nicht einmal etwas zahlen. Jari tat sich nicht durch seine Körpergröße hervor, entzückte die Regin-Brüder jedoch durch seinen scharfen Verstand und seine guten magischen Anlagen.

Juha stammte aus Russland. Genauer, aus dem Süden der Ukraine. Von Kindheit an führte er das Leben eines Vagabunden, mit sieben hatte der Junge auf Güterzügen oder per Anhalter bereits das ganze Land durchquert, zu Fuß die Grenze überschritten und irgendwann bei den Eheleuten Mustaioki, treuen Anhängern der Sekte, an die Tür ihres kleinen Hauses geklopft. Das ließ sich einzig und allein durch magische Prädestination erklären.

Nur der tote Ollykainen war - welch bittere Ironie des Schicksals! - ein echter Finne gewesen.

Nie zuvor hatte der Fahrer eine derart seltsame Gesellschaft kutschiert - ein weißer Mann mit den Zügen eines Ukrainers, ein rabenschwarzer Afrikaner und ein kleiner schlitzäugiger Asiat. Alle drei unterhielten sich übrigens fließend auf Finnisch oder Schwedisch. Was es nicht alles gibt im Leben…

Am Flughafen studierten die Regin-Brüder als Erstes die Flugpläne, doch das arglistige und unergründliche Russland hielt auch diesmal eine kleine Überraschung für sie bereit: Der Flug nach Prag war schon zum vierten Mal verschoben worden. Sicher, sie hätten eine Maschine nach Duisburg mit Zwischenlandung in Prag nehmen können. Darüber informierte der Plan natürlich nicht, und eine Maschine nach Madrid, die ebenfalls über Prag flog, startete zu einer sehr ungünstigen Zeit, weshalb sie die Pläne direkt an der Kasse umschreiben mussten, was einen kräftigen Mann im sportiven Anzug, um dessen Hals eine fingerdicke Kette baumelte und der ein winziges Handy in der behaarten Pranke hielt, in einen Zustand unerklärlicher Wut versetzte. Der Kerl wollte den klein gewachsenen Jari schon beiseite schieben, doch Raivo wirkte rasch einen Respektzauber, der dazu führte, dass alle in der Reihe Wartenden ihre Beschuldigungen gegen die in unerschütterlicher Ruhe beratschlagenden Finnen fallen ließen.

»Wir fliegen nach Duisburg«, entschied Juha schließlich. »Das ist am bequemsten. Außerdem brauchen wir dann nicht so lange zu warten. Der Flug nach Prag wird noch dreimal verschoben werden. Das habt ihr doch auch gesehen, oder?«

Natürlich hatten sie es gesehen. Die Realitätsfäden liefen in einem kleinen Knoten zusammen, und die verfluchte Maschine würde erst spät abends starten.

Ein fast vergessenes Freiheitsgefühl ließ sie sich nicht weniger trunken fühlen als das heimatliche Lapin Kulta. Während Juha mit der freundlichen, am Ende aber verkniffen dreinblickenden Kassiererin verhandelte, sahen sich Jari und Raivo begeistert im Saal um, beobachteten die ankommenden Reisenden, die Verkäufer in den aquariumsgleich beleuchteten Läden, die in jedem Flughafen obligatorischen Schalter internationaler Fluggesellschaften…

Den Anderen entdeckte Jari. »Guck mal da!«

In der Nähe der Tür zur Abflughalle stand an einem Bartresen ein Lichter Magier und trank Kaffee aus einer kleinen dunkelgrünen Tasse. Neben einem hohen Hocker lugte eine halb leere Reisetasche hervor.

Eine Weile studierten Jari und Raivo die Aura des Anderen - der war völlig gelassen und hatte seine Gefühle hervorragend unter Kontrolle. Vermutlich hatte er sie bemerkt, ließ sich aber nichts anmerken.

»Lassen die uns denn nie in Ruhe?«, seufzte Raivo.

»Glaubst du, er observiert uns?«

»Natürlich.«Raivo sprach mit unbedingter Überzeugung. »Schließlich haben wir die Auflage, bei der Sitzung des Tribu-nals zu erscheinen. Und die Nachtwache Moskaus muss sich davon überzeugen, dass die entlassenen Zeugen sich nach Prag begeben. Du wirst schon sehen, der begleitet uns bis zur Gangway.«

»Aber unser Flug geht erst in fünf Stunden!«

»Wo sollte der Andere hin? Das ist seine Arbeit.«

Juha kam mit den zu kleinen Büchlein zusammengehefteten Tickets auf sie zu. Ein leichter Hauch von Magie ging von ihm aus - natürlich hatte es für heute keine Plätze mehr in der Maschine gegeben, drei Reservierungen mussten dafür herhalten, wofür es sowohl die Kassiererin als auch die Flughafenleitung zu manipulieren galt. »Hier, nehmt die…«, setzte er an, stockte dann aber. Er sah die Brüder aufmerksam an. »Was ist los?«, wollte er wissen.

»Wir haben einen Aufpasser. Der da, am Tresen, der Kaffee trinkt.«

Juha sah hinüber und entdeckte den Anderen.

Genau in diesem Augenblick trat in die gleichmäßig türkisfarbene Aura des Aufpassers ein matt glutroter Streifen.

»Irgendwas beunruhigt ihn«, meinte Raivo.

»Da ist noch ein Anderer!«, sagte Raivo. »Da an der Tür!«

In der Tat stand an der Glastür ein schwarzhaariger korpulenter Mann von etwas über dreißig Jahren. Mit einer Hand wischte er sich die Stirn mit einem Taschentuch ab, mit der andern hielt er ein Handy ans Ohr. Er schwieg und lauschte offenbar ausführlichen Anweisungen. Neben ihm stand ein kleiner Aktenkoffer.

Dieser Andere war ein Dunkler Magier.

»Und die observieren uns auch«, murmelte Raivo.

»Was können die schon von uns wollen?«, fragte Juha. »Die Anderen dürften schließlich genug im internationalen Flughafen von Moskau zu erledigen haben, oder?«

»Pass auf, Bruder«, erinnerte Jari ihn. »Sorglosigkeit betrübt und beunruhigt Fafnir…«Juha dachte finster darüber nach, dass nach der geplatzten Operation zur Einfuhr der Kralle nach Moskau der wiedergeborene Fafnir sie alle vier hätte zu Asche verbrennen müssen. Genauer die drei Überlebenden. Doch wie üblich sagte er kein Wort.

In der Zwischenzeit hatte der Lichte seinen Kaffee ausgetrunken, dem Dunklen einen unzufriedenen Blick zugeworfen und sich in Richtung Restaurant aufgemacht. Seine Aura hatte ihre gleichmäßige türkisfarbene Einfärbung zurückgewonnen, die nur noch kaum erkennbare kirschrote Spuren an der Stelle des Streifens zeigte, der sie bis eben noch durchzogen hatte.

Der Dunkle telefonierte immer noch. Genauer, er hörte zu.

»Sie wollen sich überzeugen, dass wir abfliegen!«, wiederholte der scharfsinnige Raivo. »Dabei sind wir doch selbst froh, dass sie uns das erlauben.«

Doch Raivo täuschte sich.

Der Lichte Magier schlenderte unablässig durch den Flughafen, kehrte abermals an die Bar zurück, las ein Buch und trank einen Kaffee. Der Dunkle beendete sein Gespräch und ging zum Fenster eines Kassenschalters, worauf die Brüder die Spur von Magie wahrnahmen. Eine relativ starke, etwa vierter Grad.

»Was macht er denn da?«, fragte Raivo beunruhigt. »Besorgt er sich auch ein Ticket, oder was? Juha, der wird uns doch wohl keine Schwierigkeiten machen?«

»Weshalb sollte er?«, wunderte sich Juha. »Schaut doch!«

Der Dunkle Magier ging mit einer Bordkarte in der Hand von der Kasse weg.

»Jemandem haben sie ein verkauftes Ticket annulliert!«, schlussfolgerte Raivo. »Hast du Töne! Das gibt einen Skandal…«

Es gab in der Tat einen Skandal beim Einchecken, vier Stunden später, als sie alle in einer Schlange anstanden. Sie alle, inklusive des Lichten. Einem der Fluggäste wurde plötzlich freundlich mitgeteilt, dass beim Verkauf seines Tickets ein Fehler unterlaufen sei, die Fluggesellschaft sich entschuldige undihm einen Platz in der Businessklasse für den nächsten Flug anbiete…

Völlig ungerührt beobachtete der Dunkle Magier den aufgebrachten Passagier. Anscheinend lächelte er sogar. Den Regin-Brüdern war freilich nicht nach Lachen zumute - sowohl der Dunkle als auch der Lichte würden in ihrer Maschine sitzen.

»Sie haben beschlossen, uns bis nach Prag zu begleiten«, meinte Raivo nach einer Weile. »Die nehmen die Sache aber ernst.«

»Nein, Bruder. Nein«, widersprach Juha kopfschüttelnd. »Irgendwas stimmt hier nicht. Ihr werdet schon sehen: Die wollen noch was von uns…«

Eins

Geser rief Anton am Abend zu sich, als die Analytiker und Techniker gerade Feierabend machten, während die Fahnder, die nachts auf Streife gehen sollten, nach und nach im Haus eintrudelten. In den Fluren des ersten Stocks roch es nach frisch gebrühtem Kaffee, heißen Zimtbrötchen und einem leichten aromatischem Tabak - in diesem Jahr war fast die ganze Nachtwache der Mode des Pfeiferauchens erlegen. Sogar die Frauen.

Anton arbeitete bereits seit einem Jahr nicht mehr im Informationszentrum, seinen Platz als Herr über die Computer und Vorgesetzter der Systemadministratorinnen nahm jetzt Tolik ein. Ein Magier zweiten Grades - und dieser Rang war Anton zu Beginn des Jahres zugesprochen worden - war zu bedeutsam, um seine Zeit am Schreibtisch abzusitzen, auf die Tastatur einzuhacken und Programme passend zu machen.

»Willst du einen Kaffee?«, fragte Semjon. Anton nickte. Im gleichen Moment klingelte das Telefon. In dem Zimmer, in dem vier Fahnder saßen - Anton, Semjon, Garik und Bär - senkte sich sofort Stille herab. Einen Anruf des Chefs vermochte jeder zu erspüren.

Und wem er galt, ebenfalls.

Unter dem gespannten Blick seiner Kollegen ging Anton an den Apparat.

»Komm zu mir, sobald du kannst«, befahl Geser, ohne ihn zu begrüßen. »Trink deinen Kaffee aus und komm her. »

»Gut«, antwortete Anton mit gelassener Stimmer. »Wird gemacht, Boris Ignatjewitsch.«

Er dachte nach und rauchte eine Pfeife an. Wenn Geser ihm nicht ausdrücklich zu verstehen gab, dass die Zeit drängte, brauchte er sich nicht sonderlich zu beeilen.

»Was ist los? Soll dir der Kopf gewaschen werden?«, fragte Garik. Anton zuckte nur mit den Schultern. Los sein konnte vieles. Angefangen von einer Anklage, die Nachtwache verraten zu haben, bis hin zu einer Beförderung. Von der Forderung, im Büro zu sitzen und nicht die Nase vor die Tür zu stecken, bis hin zum Befehl, das Hauptquartier der Dunklen zu stürmen. Wenn ein Magier höchsten Grades sich etwas überlegt, braucht man gar nicht erst zu versuchen, hinter seine Pläne zu kommen. Und schon gar nicht, wenn dieser Magier sich in einer derart miserablen Gemütsverfassung befindet wie Geser in den letzten Monaten.

Im Grunde erging es ihnen allen so. In diesem Jahr folgte eine Niederlage der nächsten. Alles hatte im Sommer begonnen, als die banale Verhaftung einer ungesetzlich praktizierenden Hexe in einer Auseinandersetzung mit den Dunklen gemündet war. Igor hatte sich in diesem Kampf verausgabt, der verdienstvolle, gute Igor Teplow, weshalb ihm ein Aufenthalt im Artek genehmigt worden war, damit er wieder zu Kräften kam. Dort war er jedoch auf eine Intrige der Dunklen hereingefallen. Es war der Hexe Alissa Donnikowa gelungen, ihn zu verzaubern und in sie verliebt zu machen, jenes Dunkle Luder, die Freundin Sebulons, die bereits mehrmals in die schlimmsten Ränkespiele gegen die Nachtwache verwickelt gewesen war. Diesmal hatte Alissa allerdings ihre Strafe bekommen - Igor hatte sie töten können. Dabei war er jedoch über die Grenzen der zulässigen Selbstverteidigung hinausgegangen; sein Schicksal hing jetzt an einem seidenen Faden.

Vor einem Monat war schließlich Witali Rohosa aufgetaucht, und das hatte zu einer verheerenden Niederlage geführt. Zunächst hatten sie ihn für einen gewöhnlichen Dunklen gehalten, dann war der Verdacht aufgekommen, der zugereiste Ukrainer sei ein Emissär, der der Tagwache zu Hilfe komme. Rohosa hatte sich jedoch als Spiegel herausgestellt, ein höchst seltener Fall, den die Wächter des Tages und der Nacht in ihrer gesamten Geschichte weniger als ein Dutzend Mal zu verzeichnen hatten. Faktisch handelte es sich bei ihm um eine unmittelbar aus dem Zwielicht hervorgegangene Erscheinung, das einen völlig unscheinbaren Menschen, bei dem es sich noch nicht einmal um einen Anderen handeln musste, in eine fürchterliche Kampfmaschine verwandelte. Wenn sie das von Anfang an gewusst hätten… Aber das hatten sie nicht. Im Kampf mit dem Spiegel war Tigerjunges gestorben, hatte Swetlana ihre Kraft verloren, und etliche Magier hatten mehr oder weniger großen Schaden davongetragen.

Alles stand sehr, sehr schlecht…

Wieder und wieder hatte Anton sich dafür verflucht, nicht auf die Idee gekommen zu sein, eine detaillierte Analyse der mit dem Auftauchen des Spiegels verbundenen Umstände vorzunehmen. Schließlich fanden sich in ihren Geheimarchiven vergleichbare Fälle: Ein Magier, der sich keiner Klassifikation zuordnen ließ, tauchte auf, seine Kraft nahm rasant zu, es kam zu einem entscheidenden Zusammenstoß, und dann verschwand er wieder. Alles hatte gepasst. Bis hin zum letzten Moment, in dem Witali Rohosa sich buchstäblich in Luft auflöste, sich dematerialisierte und in den Tiefen des Zwielichts verschwand, das ihn hervorgebracht hatte.

Doch Anton brauchte sich keine Vorwürfe zu machen, Garik und Semjon ebenfalls nicht. Für sie war der Spiegel eine der zahlreichen exotischen Erscheinungen, die sie bislang nur aus Vorlesungen und Archivmaterialien kannten. Warum aber hatten Geser oder Olga mit ihrer Arbeitserfahrung nicht sofort durchschaut, worum es sich dabei handelte? Schließlich hatten sie es bereits mit Spiegeln zu tun gehabt…Alles stand schlecht. Alles ging schief. Als ob das Dunkel, erbost über die jüngsten Erfolge der Nachtwache, ihnen einen Schlag um den anderen zufügen wollte. Was ihm vortrefflich gelang, das musste man zugeben.

Anton schüttelte den Kopf und lehnte die zweite Tasse Kaffee ab, die Semjon ihm anbot. Sorgfältig reinigte er seine Pfeife, wobei er unwillkürlich zu Bär hinüberschielte.

Der reinigte ebenfalls seine Pfeife. Eine lange und schmale Pfeife mit einem kleinen Kopf, die früher Tigerjunges gehört hatte. Die Frau hatte sie hin und wieder geraucht, meist in der Gesellschaft ihrer Freunde. Jetzt, da es Tigerjunges nicht mehr gab, rauchte Bär abwechselnd seine eigene und ihre Pfeife. Vermutlich war das die einzige Gefühlsregung, die er nach dem Tod von Tigerjunges zeigte. Das sanfte Berühren der Pfeife… und der starre Blick, als Witali Rohosa sich dematerialisierte. Ein Blick voll sehnsüchtigen Bedauerns. Bär hatte Rohosa nicht erwischt, seinen Rachedurst nicht stillen können…

Was auch für Alischer galt, den Lichten aus Usbekistan, dessen Vater vor einem Jahr von Alissa umgebracht worden war.

Auch Anton hatte noch eine Rechnung mit der Tagwache und ihrem Chef offen. Eine Rechnung, die natürlich nicht bezahlt werden würde. Der Große Vertrag band sowohl die Wächter des Tages als auch die der Nacht. Die Inquisition wachte über seine Einhaltung, und es gab nur einen Ausweg: vorzupreschen, den Feind zum Duell herauszufordern, so wie es beispielsweise Igor gemacht hatte. Aber mit welchem Ergebnis? Die Hexe war tot, dafür drohte dem Magier die Dematerialisierung, er musste die Entscheidung des Europabüros der Inquisition abwarten. Und es war nicht schwer zu erraten, wie die aussehen würde…

Anton erhob sich, nickte seinen Freunden zu und begab sich in den zweiten Stock, zum Chef.

Finster sah es in seiner Seele aus, auf die bevorstehenden Feiertage freute er sich überhaupt nicht, obwohl alle Menschenauf der Welt sie so ersehnten, als könne allein die Zahl 2000 etwas verändern. Aber was sollte daran eigentlich Besonderes sein?

Erst an der Tür zum Arbeitszimmer des Chefs packte Anton leichte Neugier.

Der magische' Schutzschild war sehr stark. Das Gebäude der Nachtwache war ohnehin gegen jede Beobachtung geschützt, die Arbeitszimmer der Mitarbeiter und die Konferenzräume darüber hinaus zusätzlich abgeschirmt. Heute hatte Geser jedoch noch etliche weitere Anstrengungen unternommen, um Vertraulichkeit zu gewährleisten: Die Luft im Korridor war stickig, unbeweglich und von Energie durchtränkt. Auch die unsichtbare Mauer, die irgendwo im Zwielicht verlief, zog sich nicht durch die ersten beiden Schichten, in die Anton gelangen konnte, sondern durch viel tiefere.

Er trat ins Büro und schloss die Tür fest hinter sich zu. In seinem Rücken spürte er eine leichte Bewegung, als sich der für einen Moment aufgebrochene Schutz wieder schloss.

»Setz dich, Anton«, sagte Geser. »Kaffe, Tee?«, fragte er liebenswürdig.

»Danke, Boris Ignatjewitsch«, erwiderte Anton, indem er Geser abermals bei seinem profanen Vor- und Vatersnamen nannte. »Ich habe gerade welchen getrunken.«

»Dann vielleicht ein Gläschen Bier?«, bot Geser völlig unerwartet an.

Anton unterdrückte mit Mühe den Wunsch, sich die Augen zu reiben oder besser: sich in den Arm zu kneifen. Geser waren die Freuden des Lebens nicht fremd. Er vergnügte sich mit den jungen Leuten in der Disco, flirtete mit dummen jungen Frauen und verbrachte auch mal mit einer die Nacht. Er genoss es, in einem Restaurant zu sitzen und etwas Exotisches zu essen, die Kellner hin und her zu scheuchen und die Köche mit seinem Wissen um kulinarische Raffinessen zur Weißglut zu bringen. Selbst einen Ausflug mit seinen Mitarbeitern machte er mit, wobei er wie alle geräucherte Brasse zum Bier, leicht gesalzene Gurken zum Wodka und Früchte zum Wein aß.

Eins jedoch tat Geser nie - sich während der Arbeit etwas zu genehmigen. Eine Flasche Kognak, von einem Dutzend Mitarbeitern der analytischen Abteilung anlässlich des Geburtstags von Juletschka, der jüngsten und von allen geliebten Zauberin der Nachtwache, geleert, hatte den Beteiligten eine Strafe von geradezu genialer Originalität eingebracht. Nicht einmal die Fürsprache Olgas, die ebenfalls an der Feier teilgenommen hatte, konnte sie retten. Für jeden gab es eine individuelle Strafe, die jeweils die empfindlichsten Stellen traf. Juletschka durfte sich zum Beispiel eine Woche lang nicht in der Nachtwache sehen lassen, sondern musste mit ihren Altersgenossen in der Schule hocken, mit den Mädchen aus ihrer Klasse in ein Eiscafe gehen und mit den Jungen ins Kino oder in die Disco. Als Julja wieder in die Wache kam, kochte sie vor Empörung. »Manno-mann«, wiederholte sie noch lange,»wenn ihr wüsstet, wie blöd die sind! Ich hasse sie!«

Für dieses Ich hasse sie! bekam sie übrigens einen zusätzlichen Straftag aufgebrummt. Und ein langes Gespräch mit Geser zum Thema-. »Kann eine Lichte Zauberin negative Gefühle gegenüber den Menschen empfinden?«

Nun stand Anton also vor Geser, wollte eigentlich schon in einem Sessel Platz nehmen, erstarrte jedoch und vergaß es völlig, sich hinzusetzen.

»Setz dich nur«, ließ es sich Geser nicht nehmen, ihn noch einmal aufzufordern. »Stehen ist nämlich auch nicht billiger. Was ist, willst du nun ein Bier?«

»Ist irgendwie nicht das Wetter dafür«, antwortete Anton und deutete mit dem Blick zum Fenster. Draußen fielen große, schwere Schneeflocken. Weiße Weihnachten, wie sie im Buche standen. »Nicht das Wetter und… wohl auch nicht der Ort, oder?«

Zu seiner eigenen Überraschung kam das Letztere als Frage heraus. Geser dachte kurz nach. »Vielleicht sollten wir irgendwo hingehen, wo es nett ist«, meinte er mit einem Hauch von Interesse. »Vielleicht in ein kleines Cafe im Südosten, da treffen sich die Zahnärzte. Kannst du dir das vorstellen? Das Lieblingscafe der Moskauer Dentisten! Außerdem gibt es noch eine Pizzeria am Weißrussischen Bahnhof, da ist immer mächtig was los…«

»Boris Ignatjewitsch«, platzte es aus Anton heraus. »Wo graben Sie nur immer all diese Lokale aus? Ein Restaurant der alpinen Skifahrer, eine Lesbenbar, eine Kantine für Klempner, eine Pelmenistube für Philatelisten…«

»Anton, mein Lieber.«Geser breitete die Arme aus. »Ich möchte dich noch einmal daran erinnern, wem unsere Arbeit gilt. Unsere Arbeit gilt…«

»Den Dunklen«, brummte Anton und setzte sich in einen Sessel.

»Nein, mein Junge. Da irrst du dich. Wir arbeiten mit den Menschen. Und die Menschen, das ist keine Herde geklonter Schafe, die synchron Gras kauen und alle gleichzeitig pupsen. Jeder Mensch ist ein Individuum. Darüber sind wir froh, denn es macht den Dunklen die Arbeit schwerer. Darüber sind wir aber auch betrübt, denn es macht auch uns die Arbeit schwerer. Und um die Menschen wenigstens ansatzweise zu verstehen - schließlich führen die Wächter des Tages und der Nacht diese endlose Schlacht um ihre Seelen -, müssen wir sie alle kennen. Nicht nur ich, verstehst du? Wir! Und wir müssen jeden verstehen, vom pickligen Teenager, der in der Disco Ecstasy einwirft, bis hin zum alten Professor mit blauem Blut in den Adern, der seine ganze Freizeit seiner Kakteenzucht widmet… Übrigens, die Bar, in der sich die Kakteenzüchter treffen, bietet eine höchst interessante Küche und eine ausgesprochen originelle Inneneinrichtung. Aber wir beide können jetzt nirgendwo hingehen. Spürst du den Schutz?«

Anton nickte. »Glaub mir, ich habe guten Grund, ihn einzurichten. Die Sicherheit an einem Ort voller Menschen zu gewährleisten wäre viel schwieriger. Eine solche Verschwendung von Kraft kann ich mir im Moment vermutlich nicht leisten…«Geser fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und seufzte. Er sah in der Tat müde aus. »Ach ja… nimm das. Es ist ein kleines Geschenk.«

Verwundert nahm Anton aus seiner Hand einen kleinen Gegenstand entgegen. Eine Art Globus: Eine Kugel, die aus feinen Knochen gearbeitet war… genauer aus beinernen Nadeln, die wie Bögen geformt waren und an den Polen jeweils in eine kleine Holzscheibe mündeten. Innen war die Kugel hohl… o nein. Sie war nicht hohl. Sondern voller Kraft. Schlummernder, gefangener Kraft…

»Was ist das?«, fragte Anton mit einem Anflug von Panik. »Keine Angst. Ein nicht verflüssigter Segen.«

»Und… was ist dann ein verflüssigter Segen?«

Geser seufzte. »Woher soll ich das denn wissen? Das war nur Spaß. Eine rhetorische Figur. Eine Redewendung. Eine Metapher. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt einen Segen gibt, und ob man ihn verflüssigen kann, ist noch eine ganze andre Frage. Was du in Händen hältst, ist eine Art magischer Generator unverständlichen Gebrabbels. Wenn du einmal ein absolut - und das sei betont -, ein absolut vertrauliches Gespräch führen musst, das niemand auf irgendeine Art belauschen darf, dann zerbrich einfach die Kugel in der Hand. Vermutlich wirst du dich dabei verletzen, aber diesen Preis musst du zahlen. Dafür kann dann im Laufe von zwölf Stunden niemand den Raum im Umkreis von zehn Metern um dich herum kontrollieren. Weder mit technischen noch mit magischen Mitteln. Es werden… äh… lediglich einige völlig harmlose und unschuldige Bilder, Gespräche und Ereignisse festgestellt werden können. Das Amulett selbst ist übrigens mit magischen Mitteln ebenfalls nicht festzustellen. »

»Vielen Dank«, sagte Anton finster. »Irgendwie kann ich mich aber über dieses Geschenk nicht so richtig freuen.«

»Du wirst es schon noch zu schätzen wissen. Was ist, trinkst du jetzt ein Bier oder nicht?«

»Gern. Nur warum muss es unbedingt Bier sein?«

»Um die eigenen Regeln nicht zu sehr zu verletzen.«Geser lächelte zufrieden. »Schließlich sind wir immer noch auf der Arbeit.«

Er drückte einen Knopf an der Sprechanlage. »Olja, bring uns bitte Bier«, sagte er leise.

Anton wunderte sich über gar nichts mehr. Doch Geser sah sich zu einer Erklärung veranlasst, nachdem er die Verbindung unterbrochen hatte. »Galotschka ist eine hervorragende Sekretärin. Aber sie ist nur eine Zauberin vierten Grades. Und könnte, ohne es selbst zu bemerken, dem Feind Informationen zukommen lassen. Deshalb habe ich sie heute ersetzt.«

Eine Minute später kam Olga herein. Mit einem Tablett, auf dem zwei große Gläser mit hellem Bier, eine beeindruckende, zwei Liter fassende Kristallkaraffe mit dem gleichen Getränk und eine Platte mit Käse standen.

»Hallo, Antoschka«, meinte Olga herzlich. »Du magst doch Budweiser?«

»Was wären wir für Lichte, wenn wir nicht so helle wären, helles tschechisches Bier zu lieben?«, versuchte Anton zu scherzen. Es gelang ihm nicht ganz, doch die Absicht, ein Wortspiel zu machen, war bemerkenswert. Es war lange her, seit er das letzte Mal dazu in Stimmung gewesen war…

»Wie geht es Sweta?«, fragte Olga im selben Ton wie zuvor.

Anton presste die Lippen zusammen. Die Last, die ihm kurz von der Seele genommen war, drückte ihn erneut. »Alles beim Alten…«

»Keine Veränderung?«

Anton nickte.

»Ich gehe heute Abend mal bei ihr vorbei«, meinte Olga. »Ichglaube, sie kann einen Besuch schon verkraften. Und ich werde sie ganz sicher ein wenig aufmuntern… glaub mir.«

Das stimmte. Wer könnte eine Große Zauberin, die auf lange Zeit ihrer magischen Fähigkeiten beraubt sein würde, besser trösten als eine andre Große Zauberin, der über lange Jahrzehnte ihre Kraft entzogen worden war, um sie für ihr Verhalten zu bestrafen?

»Tu das, Olga«, bat Anton. »Sweta wird sich sehr freuen.«

Geser hüstelte leicht.

»Euch bleibt schon noch genug Zeit«, brachte ihn Olga kalt zum Schweigen. »Weißt du was, Anton… ich wünsche dir viel Erfolg. Von ganzem Herzen wünsche ich dir viel Erfolg.«

»Wobei denn?«, fragte Anton verständnislos.

Statt ihm zu antworten, beugte sich Olga leicht zu ihm herunter und küsste ihn sanft, zärtlich auf die Lippen.

»Na aber!«, sagte Geser nur.

»Nachdem Anton und ich unsere Körper getauscht haben«, meinte Olga nonchalant,»hast du wohl kaum Grund, auf ihn eifersüchtig zu sein. Schon gar nicht wegen einer solchen Kleinigkeit. Gut, Jungs! Benehmt euch, trinkt nicht zu viel Bier; wenn was ist, ruft mich.«

»Wenn was ist?«Geser verzog das Gesicht. Doch Olga war bereits hinausgegangen. Der große Magier folgte ihr mit dem Blick. Als die Tür zu war, seufzte er. »Mit einer Großen Zauberin zusammenzuleben ist auch eine Erfahrung. Selbst für mich«, meinte er. »Wie kommst du damit zurecht, Anton?«

»Swetlana hat es nicht geschafft, zu einer wirklich Großen Zauberin zu werden«, bemerkte Anton. Er nahm das Glas und trank ein paar Schluck. Das Bier war vorzüglich. So wie richtiges Bier sein sollte.

»Du scheinst dich aber nicht darüber zu freuen?«, wollte Geser wissen.

»Nein.«Anton nahm sich ein Stück scharfen Ziegenkäses. »Das tu ich nicht. »

»Warum nicht?«, fragte Geser behutsam nach. »Schließlich könnt ihr jetzt einige Jahrzehnte lang ein glückliches, gleichberechtigtes Leben führen. Im Idealfall sogar ein halbes Jahrhundert lang.«

»Was soll das für ein Glück sein, Geser, wenn die Frau, die du liebst, sich wie ein minderwertiger Krüppel vorkommt?«, konterte Anton schroff. »Und wenn das meine Schuld ist - wenn auch nur teilweise?«

»Teilweise?«

»Ja«, meinte Anton nickend. »Teilweise.«

Geser hüllte sich in Schweigen. Nach einer Weile stellte er die Frage, mit der Anton vor drei Wochen gerechnet hatte, die er inzwischen aber nicht mehr erwartete. »Erzählst du mir, was Sebulon von dir wollte?«

»Er ist zu mir nach Hause gekommen. Schon wieder, genau wie damals.«

»Hat er sich erneut die Hilfe deines Freundes, des Vampirs, zunutze gemacht?«, wollte Geser wissen.

»Nein. Nach dem Zwischenfall lass ich ihn nicht mehr in meine Wohnung. Wie Sebulon reingekommen ist, verstehe ich einfach nicht.«

Geser nickte und trank von seinem Bier.

»Dann hat Sebulon mir… einen Verrat vorgeschlagen. Er hat behauptet, Witali Rohosa sei ein Spiegel, den das Zwielicht als Reaktion auf den Kraftzuwachs der Nachtwache hervorgebracht hat. Sein Hauptziel sei es, Swetlana zu vernichten oder ihrer Kräfte zu berauben. Wenn ich zu spät zur Sitzung der Inquisition käme, würde Rohosa Swetlana ihre Kraft entziehen und sich dematerialisieren.«

»Und du hast dich darauf eingelassen?«

Anton dachte kurz nach, bevor er seine Antwort formulierte. Dieses Gespräch hatte er schon oft mit Geser geführt - in Gedanken natürlich nur. Trotzdem hatte er bislang immer noch nicht die richtigen Worte gefunden. »Die einzige Alternative wäre es gewesen, den Widerstand fortzusetzen, Geser. Es lief ganz offenbar auf den Tod Swetlanas oder…«

»Oder?«, wollte Geser neugierig wissen.

»Oder den Tod von etlichen… nicht so hoch gestellten Mitarbeitern der Wache hinaus. Damit wir insgesamt genauso stark geschwächt würden.«

Geser nickte zufrieden. »Bist du von allein dahintergekommen?«

»Nein, nicht ganz. Ich habe in den Archiven gekramt und bin auf einige analoge Fälle gestoßen, von denen einer mit der Vernichtung der gesamten Kiewer Nachtwache geendet hat, mit Ausnahme des Chefs Alexander von Kissel. Dabei war damals das Ziel des Spiegels offenbar eben der Baron von Kissel, doch er konnte sich verteidigen. Mit dem Ergebnis, dass einfache Fahnder und Magier gestorben sind.«

»Aber warum hast du dich nicht mit mir in Verbindung gesetzt?«, wollte Geser wissen. »Warum hast du mir von dem Besuch Sebulons nichts gesagt?«

»Woher hätte ich wissen sollen, was Sebulon erwartet hat? Vielleicht wollte er ja gerade, dass ich mich gleich an Sie wende, um mir Rat zu holen. Sebulon hatte ganz offensichtlich vor, mich auszutricksen, aber ich konnte nicht herausfinden, was der Haken an der Sache war. Sowohl mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen als auch zu schweigen konnte sich als Fehler herausstellen. Deshalb habe ich einen dritten Weg gewählt. Ich habe versucht, den Spiegel nicht zu Swetlana zu lassen. Mit dem simpelsten Mittel - indem ich sein Auto gerammt habe.«

»Bravo«, sagte Geser mit kratziger, fremder Stimme. »Einfach genial, Anton. Das hat zwar nicht geklappt, aber der Versuch war goldrichtig. Aber warum hast du nicht irgendjemandem gesagt, wer dieser Rohosa ist?«

»Warum haben Sie denn nichts gesagt, Boris Ignatjewitsch?«. fragte Anton, wobei er den Kopf hob. »Oder wollen Sie mir erzählen, Sie hätten die Untersuchungen der Ereignisse von Kiew aus dem Oktober 1906 nicht geleitet? Oder dass Ihr Gedächtnis so was nicht über ein schlappes Jahrhundert aufbewahren kann? Damals hatten wir es mit einer absolut analogen Situation zu tun! Ein gewisser Wladimir Sobolew kam aus Poltawa nach Kiew, ließ sich in der Nachtwache registrieren, wurde später bei der Leiche einer Nutte gestellt, einem Mord, der klare Merkmale von Vampirismus erkennen ließ. Später wurde er dann neben einem abgemurksten kleinen Gauner erwischt…«

»Wozu habe ich dich gerufen?«, empörte sich Geser lauthals. »Um dich zu den zweifelhaften Aspekten deiner Beziehungen zu den Dunklen zu verhören oder um mir von dir Beschuldigungen anzuhören?«

»Sie haben mich gerufen, um mit mir Bier zu trinken, Boris Ignatjewitsch. Und um mich um etwas zu bitten.«

Geser atmete tief durch. »Nein«, meinte er kopfschüttelnd. »Ich habe nicht vor, dich um etwas zu bitten. Noch habe ich das Recht, dir etwas zu befehlen.«

»Versuchen Sie es«, sagte Anton mit Genugtuung. »Ich werde mich nicht mit Ihnen streiten und den Befehl ausführen. Hundertprozentig. Aber wollen Sie das wirklich? Einen gehorsamen Befehlsempfänger ohne jede Eigeninitiative?«

Geser breitete die Arme aus. »Schon gut. Du hast mich überzeugt. Ich möchte dich um etwas bitten, Anton…«

»Beantworten Sie erst noch meine Frage… nach dem Spiegel.«

»Gut, hör zu. Der Spiegel ist zum neunten Mal aufgetaucht - wenn man die offiziell registrierten und nachgewiesenen Fälle nimmt. Dabei hat er nur in zwei Fällen auf unserer Seite gestanden. Als der Spiegel die letzten drei Male in Erscheinung getreten ist, hat er den Dunklen gedient, und zwar immer dort, wo die Lichten zuvor enorm an Kraft gewonnen hatten und… und eine groß angelegte Operation planten. Mit dem Spiegel zu kämpfen ist unmöglich, jede magische Attacke wehrt er ab, wobei er sich damit gleichzeitig auf das Niveau seines Gegners hochzieht. Und gegen normale Angriffe setzt er sich mit magischen Mitteln zur Wehr. Man kann nur wählen, wen man opfern will, ein, zwei Dutzend einfacher Magier oder einen von den Großen.«

»Und Sie haben beschlossen, ihm Tigerjunges und Swetlana zu überlassen.«

»Das habe ich überhaupt nicht! Ich war mir doch gar nicht sicher, dass wir es wirklich mit einem Spiegel zu tun haben, bis Tigerjunges gestorben ist!«Geser schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass das Bier überschwappte. »Es hat überhaupt niemand sterben sollen, alles hätte mit der Gefangennahme Rohosas enden sollen, was bedeutet hätte, dass er kein Spiegel war, sondern ein ganz normaler zugereister Emissär. Oder wir hätten uns zurückgezogen. Ich hätte doch niemals gedacht, dass Tigerjunges auf ihn losgehen würde!«

»Sie war eine sehr impulsive Frau!«

»Nein, Anton. Da irrst du dich. Sie war eine energische und impulsive Andere, die sich hervorragend unter Kontrolle hatte. Und dieser Ausbruch…«Geser verstummte. »Wahrscheinlich habe ich mir nicht ganz klar gemacht, wie viel ihr an Andrej Tjunnikow gelegen hat…«

»In der letzten Zeit haben sie sich oft gesehen«, bestätigte Anton. »Er hat sie sogar in ihrem Haus im Umland von Moskau besucht - und Tigerjunges hat die Einsamkeit sehr geschätzt. Und als Andrej… Warum hat er sich diesen Rohosa überhaupt vorgeknöpft?«

»Um sich vor Tigerjunges dicke zu tun…«Geser seufzte. »Ach, ihr Jungs und Mädels, grün seid ihr noch alle hinter den Ohren, plustert euch voreinander auf, gebt mit eurer Magie an, mit euren Kampfnarben, Talismanen und Glücksbringern… Warum steckt nur so viel menschliche Dummheit in euch?«

»Weil wir Menschen sind. Andere Menschen, aber eben Menschen. Die nicht auf Anhieb zu echten Anderen werden. »

»Auch da hast du Recht, Anton.«Geser nickte. »Man muss das Leben eines Menschen durchleben, so richtig, achtzig oder hundert Jahre lang, seine Verwandten und Nächsten verlieren, die Menschen sind, sehen, wie lächerlich die Politiker sind, die tausendjährige Reiche aufbauen, und die Philosophen, die für ein, zwei Generationen ewige Wahrheiten schaffen… Erst danach wirst du ein Anderer. Aber solange du noch dein erstes, dein gewöhnliches Menschenleben lebst, bleibst du auch ein Mensch. Selbst wenn du ins Zwielicht eintreten, Zauber wirken und die Realitätslinien verfolgen kannst… Du bist noch ein Mensch, Anton. Und Swetlana ebenfalls. Und Tigerjunges… und Andrejka… waren auch Menschen. Und bei eurer menschlichen Seite hat das Dunkel euch auch erwischt. Bei euren Schwächen, euren Gefühlen…«

»Ist die Liebe wirklich eine Schwäche?«

»Wenn du die Liebe in dir hast, ist sie eine Kraft. Aber wenn die Liebe dich festhält, ist sie eine Schwäche.«

»Wir können es halt noch nicht anders.«

»Doch, Anton. Mit Mühe zwar, aber ihr könnt es auch anders…«Geser sah ihm in die Augen. »Was ist? Bist du noch immer sauer auf mich?«

»Nein. Ich glaube, dass Sie sich… alle Mühe gegeben haben.«

»Ja, das habe ich. Und ich habe es auch geschafft, was sehr bemerkenswert ist.«

»Der Tod von Tigerjunges und Andrej, der Kraftverlust von Swetlana - das nennen Sie geschafft?«, empörte sich Anton lautstark.

»Ja. Denn alle andern Möglichkeiten wären noch schlimmer gewesen. Und das, was passiert ist, arbeitet nicht nur Sebulon und seinen Kläffern in die Hände, was ebenfalls bemerkenswert ist.«

Daraufhin lächelte Geser. Kalt, ironisch. Ein sehr unschönes Lächeln, das nichts Gutes versprach.

»Swetlana wird das aber nicht helfen…«, setzte Anton an. Und verstummte, denn Geser schüttelte den Kopf. »Es liegt alles noch vor uns, Anton«, sagte er. »Alles hat gerade erst angefangen.«

Der Chef der Nachtwache goss ihnen ein zweites Glas Bier ein, trank und lehnte sich im Sessel zurück.

»Boris Ignatjewitsch…«

»Ich verstehe das alles ja, Anton. Du bist müde. Ich bin auch müde, wir alle sind müde, voller Bitternis, Schmerz und Schwermut. Aber wir leben im Krieg, und dieser Krieg ist noch längst nicht zu Ende. Wenn du nicht mehr teilnehmen willst, dann geh! Lebe als einfacher Lichter. Doch solange du ein Wächter der Nacht bist… das bist du doch noch, oder,. Anton?«

»Ja!«

»Gut. Schmeckt dir das Bier?«

»Ja«, brummte Anton.

»Auch das ist gut. Denn du fliegst in die Heimat dieses göttlichen Getränks. Nach Prag.«

»Wann?«, fragte Anton wie vor den Kopf geschlagen.

»Morgen früh. Genauer, mittags, die Morgenmaschine startet mit sechs Stunden Verspätung. Du nimmst eine Maschine mit Zwischenlandung in Prag.«

»Wozu?«

»Du weißt, dass das Europabüro der Inquisition von Bern nach Prag gezogen ist?«

»Ja, natürlich. Wegen der Kralle des Fafnir, die diese Blödmänner geklaut haben…«

»Genau. Die Inquisition pflegt sowieso die Tradition, einmal in fünfzig oder hundert Jahren ihren Sitz zu wechseln, und nach diesem Schlag ins Kontor der Berner Wachen… Kurzum, sie haben sich jetzt wieder eingerichtet und sich unseren Fall vorgenommen.«

»Dafür war also dieses Geschenk… Igor?«

»Ja. Er ist bereits dort. Wir haben eine offizielle Klage eingereicht und erklärt, die Dunklen hätten Igor bewusst provoziert und Alissa Donnikowa hätte ihn behext, was auch seinen Ner-venzusammenbruch ausgelöst habe, der zu der übermäßigen Aneignung menschlicher Kraft geführt habe… und… zu diesem bedauerlichen Zwischenfall mit dem ertrunkenen Jungen. Die Dunklen haben natürlich erklärt, Igor seinerseits habe Alissa verzaubert und versucht, sie für unsere Seite abzuwerben…«

Anton schnaubte, um seine Einschätzung dieser idiotischen Anschuldigung zum Ausdruck zu bringen. Abzuwerben! Als ob ein Dunkler aufhören könnte, ein Dunkler zu sein. Ihn einschüchtern, zur Kooperation zwingen, kaufen oder erpressen - na schön. Aber abwerben…

»Das Tribunal wird darüber entscheiden, wer schuldig ist und welches Maß an Verantwortung Igor zu tragen hat. Er hat Alissa zu einem offiziell registrierten Duell herausgefordert, insofern trifft die Nachtwache keine Schuld. Doch wenn die Inquisition ihn für schuldig befindet, zu übersteigerten Formen der Selbstverteidigung gegriffen oder es bewusst auf eine Provokation angelegt zu haben, ist sein Schicksal besiegelt. Dann muss er ins Zwielicht. Schon jetzt lebt er kaum noch… und wie es scheint, hat er keinen Willen zu kämpfen. Aber wir brauchen Igor, Anton. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr.«

»Aber was ist dort eigentlich passiert, Boris Ignatjewitsch?«, fragte Anton.

»Was passiert ist? Keine Ahnung. Wir haben nicht versucht, jemanden zu provozieren, das kannst du mir glauben. Ich habe Igor in Urlaub geschickt, denn der Junge hatte sich völlig verausgabt. Weißt du eigentlich, wie hervorragend die Arbeit im Pionierlager zur Regeneration geeignet ist? Die glücklichen Gesichter der Kinder, das fröhliche Gelächter, das übermütige Geschrei…«Gesers Stimme klang jetzt ganz warm. Es hätte nicht viel gefehlt, und Anton hätte geglaubt, der stets ernste Chef der Nachtwache lecke sich im nächsten Moment über die Lippen und fange an zu schnurren. Doch Geser unterbrach sich selbst. »Entweder ist unsere Anklage gerechtfertigt, dann haben wir eine Chance, Igor zu retten«, fuhr er schließlich fort. »Oderalles, was geschehen ist, ist ein tragischer Zufall… dann kann uns die Inquisition zwar nichts vorwerfen, aber Igor würde das Ganze auch nicht überleben. Er würde sich selbst für den Tod des Jungen und… von Alissa bestrafen.«

»Was hat Alissa damit zu tun?«

»Er hat sich wirklich in sie verliebt… ein weiterer unfertiger Anderer…«Geser beobachtete das Mienenspiel Antons und nickte:»Er hat sich verliebt, daran gibt es keinen Zweifel. Gut, du fährst also nach Prag. Als unser Vertreter beim Tribunal. Als Anwalt und Ankläger in einem. Ich gebe dir gleich alle notwendigen Unterlagen.«

»Ja… aber…«, stammelte Anton. »Ich habe doch überhaupt keine Erfahrung!«

»Wer hat die schon! Und du wirst sie dir aneignen. Mein Instinkt sagt mir, dass es in Zukunft viele solcher… juristischer Prozesse geben wird. Anstelle eines ehrlichen Kampfs und einer offenen Auseinandersetzung. Und mach dir nicht allzu viele Sorgen: Wenn die Sitzung eröffnet wird, werde ich vermutlich in Prag sein. Möglicherweise zusammen mit Olga und Swetlana.«

»Weshalb mit Swetlana?«

»Vielleicht gelingt es uns zu beweisen, dass Swetlana infolge einer Intrige der Dunklen ihre Kräfte verloren hat. Dann könnten wir vielleicht die Erlaubnis zu ihrer Heilung bekommen.«

»Wie… wie das?«

»Genauso wie bei Igor. Das Unglück besteht schließlich nicht darin, dass Swetlana nicht schneller wieder gesund werden könnte. Innerhalb von nur wenigen Monaten. Das könnte sie! Das Unglück besteht darin, dass ich die Erlaubnis zur Heilung eines Magiers zweiten oder dritten Grades mit Sicherheit kriegen könnte, aber die Wiederherstellung der Kräfte einer Großen Zauberin - das ist eine außergewöhnliche Sache. Hier kann uns nur eine Erlaubnis von der Inquisition helfen. Und zwar nicht von der Moskauer Abteilung, sondern mindestens vom Europa-büro.«Geser erhob sein Glas und lächelte. »Prosit, Anton. Trinken wir auf unser Gelingen.«

»Boris Ignatjewitsch! Sie haben mir selbst jetzt nicht alles gesagt!«, schrie Anton fast.

»Ja, das stimmt. Aber ich habe bereits mehr gesagt, als gut wäre. Wenn du aber gern an Schlaflosigkeit leiden möchtest…«Geser dachte kurz nach. »… dann halt dir noch einmal alles vor Augen, was im letzten Jahr passiert ist. Die Schicksalskreide *, der Tod von Alissa Donnikowa, das Auftauchen des Spiegels, die an eine Karikatur erinnernden Regin-Brüder mit der Kralle des Fafnir… und die Hysterie, die überall anlässlich des Endes des zweiten Jahrtausends grassiert.«

»Aber diese Sachen haben nichts miteinander gemein!«, platzte Anton heraus.

»Dann kannst du ja ruhig schlafen.«Geser lächelte.

Ende Dezember - das ist eine verrückte Zeit, eine entschieden unernste Zeit. Eine Zeit, in der vor den Feiertagen alles drunter und drüber geht, eine Zeit der Geschenke, eine Zeit, in der man mit Kollegen Sekt trinkt, sogar am Arbeitsplatz. Eine Zeit der bunten Lichter und Weihnachtsmärkte. Vor Weihnachten und Neujahr lässt sogar die ewige Konfrontation zwischen den Anderen nach, wenn sowohl Lichte als auch Dunkle sich einer verträumten Stimmung hingeben und bisweilen sogar geneigt sind, ihrem Gegner gewisse Demütigungen zu verzeihen. Die leichtesten und oberflächlichsten.

Edgar, der Dunkle Magier und Mitarbeiter der Tagwache, kam zum ersten Mal seit seinem Umzug von Estland in die Hauptstadt Russlands zur täglichen Besprechung zu spät. Der Grund dafür war trivial, doch ihn laut auszusprechen hätte sich jeder Magier, der etwas auf sich hält, geschämt.

Edgar hatte am Tschistoprudny-Boulevard Enten gefüttert. Völlig in unerwartet über ihm zusammenschlagenden Erinnerungen abgetaucht, hatte er die Zeit schlichtweg vergessen. Wie ein Teenager nach einem Glas Wein hatte er sich seinen Träumen überlassen. Als er wieder zu sich kam, war ihm klar geworden, dass die Besprechung bereits begonnen hatte.

Wenn ihn das Alter auch manches gelehrt hatte, so ragte die Fähigkeit, sich nicht zu hetzen, wenn er ohnehin zu spät kommen würde, unter diesen erworbenen Weisheiten doch heraus. Deshalb versuchte Edgar gar nicht erst, ein Auto anzuhalten oder im Geschwindschritt zur Metro zu jagen, sondern verfütterte in aller Ruhe das gekaufte Brötchen an die Enten, die am Rand eines Eislochs entlangwatschelten und manchmal auch direkt übers Eis schlitterten. Erst danach machte er sich zur Metrostation Tschistyje Prudy auf. Der weihnachtliche Schnee knirschte munter unter seinen festen Schuhen.

Zwanzig Minuten später betrat Edgar das Büro der Tagwache, auch jetzt die Ruhe bewahrend und ohne Hast. Das ältere Vampirpaar am Eingang schmückte eine Tanne. Sie begrüßten Edgar, wie es sich gehörte, respektvoll und unaufdringlich.

»Der Chef hat schon nach Ihnen gefragt«, teilte der Vampir mit. »Er hat angeordnet, dass Sie bei ihm vorbeikommen, sobald Sie auftauchen.«

»Danke, Filippitsch«, meinte Edgar. »Ist der Chef in seinem Zimmer?«

»Inzwischen ja.«

»Gut. Ein schönes Neues Jahr euch beiden.«

»Ihnen auch, Edgar.«

Edgar begab sich in die oberen Stockwerke und sandte Sebulon durchs Zwielicht das Choshda-Zeichen zu.

Komm rein, erwiderte Sebulon daraufhin.

Der Chef der Tagwache verlangte von seinen Untergebenen eine strenge Einhaltung der Hierarchie und Disziplin. Dabei brachte er es aber fertig, die persönliche Freiheit selbst des Geringsten der Tiermenschen von den Eingangsposten zu respektieren, und vertraute den Magiern an der Spitze der Tagwache. Er machte keine Anstalten, Edgar geradezu zu fragen, warum dieser nicht zur Besprechung erschienen war. Wenn er sie verpasst hatte, musste er einen gewichtigen Grund dafür haben.

Doch einen gewichtigen Grund konnte Edgar nicht vorweisen. Deshalb hielt er es für geboten, alles so zu erzählen, wie es sich abgespielt hatte, ohne Ausflüchte. Vor allem da für heute keine wichtigen Aktionen geplant waren. In einer brenzligen Situation hätte man sich ohnehin durchs Zwielicht mit ihm in Verbindung gesetzt oder ihn äußerstenfalls auf dem Handy angerufen, weshalb Edgar letzten Endes kein sonderlich schlechtes Gewissen plagte.

»Guten Abend, Chef.«

»Guten Abend, Edgar. Schönes Wetter, nicht?«

»Es schneit. Und es ist schön, dass kein Wind geht. Entschuldigen Sie, Chef, dass ich die Sitzung geschwänzt habe. Es stand doch nichts Dringendes an, oder?«

»Nein. Aber jetzt.«

Sebulon trug wie immer seinen geliebten grauen Anzug und ein graues Hemd. Noch nie, so schoss es Edgar durch den Kopf, hatte er den Chef in andrer Kleidung gesehen. Nur im Anzug und im grauen Hemd - wenn er sich in der gewöhnlichen Welt bewegte. Und ohne jede Kleidung in seiner Zwielicht-Gestalt

»Stellen Sie sich vor, Chef, ich bin ins Träumen geraten. Ich bin an den Teichen Tschistyje Prudy entlangspaziert und habe an Samara gedacht, wie es 1912 war.«

Sebulon lächelte kaum merklich. »Ein Fotoatelier …«, sang er leise. »In diesem Paar ersteht Samara neu, das Zwölfer Jahr…«

Der Chef der Tagwache hatte einen klangvollen Bariton, den er gut zu intonieren wusste. Auch wenn die beiden Dunklen Magier einander seit vielen Jahren kannten, hörte Edgar Sebulon zum ersten Mal singen.

»Hast du Enten gefüttert?«, wollte Sebulon wissen.

»Ja. «

Sebulon seufzte und überließ sich einen kurzen Moment seinen Erinnerungen. Einen sehr kurzen Moment. Buchstäblich nur eine halbe Minute.

»Gut, Edgar. Kommen wir zur Sache. Du fliegst morgen nach Prag.«

»Zum Tribunal?«

»Ja. Es werden verschiedene Fälle verhandelt, darunter auch der Mord an Alissa und die Aktion der Regin-Brüder.«

»Wollten sie die nicht morgen laufen lassen?«, wunderte sich Edgar. »Oder haben es sich die Lichten anders überlegt?«

»Sie haben es sich nicht anders überlegt. Der Fall ist dem Europabüro des Tribunals übergeben worden. Ich glaube, Geser versucht, uns die Verantwortung für ihre Aktion anzuhängen. Dass wir sie geplant hätten. Oder die Brüder dazu angestiftet hätten.«

»Dafür haben sie doch keine Beweise! Überhaupt keine!«

»Deshalb schicke ich dich ja auch nach Prag. Pass auf, was sie da machen. Und lass dich von niemandem unterkriegen, wir haben in den letzten Jahren genug unter denen gelitten, jetzt ist es an der Zeit, den Kopf wieder hoch zu tragen.«

»Die Umstände waren so, deshalb haben wir uns klein gemacht«, erwiderte Edgar. Die Aussicht, Weihnachten und danach den Beginn des Jahres 2000 in der alten gotischen Stadt Prag zu feiern, entzückte ihn aufs Höchste. Edgar liebte die düstere Stadt, die den europäischen Geist verkörperte, diese Stadt, in der sich die Dunklen frei und ungezwungen fühlten.

»Übrigens fliegst du höchstwahrscheinlich in derselben Maschine wie diese Brüder. Nimm dir eine Minute Zeit und mach ihnen klar, dass die Tagwache Moskaus nicht die Absicht hat, Dunkle beleidigen zu lassen, die auf ihrem Territorium leiden mussten. Sie sollen also nicht verzagen oder den Schwanz einziehen.«

»Wollen wir sie denn wirklich verteidigen?»

»Natürlich. Siehst du, Edgar, ich habe noch meine Pläne mit diesem albernen Dreigespann. Dieses internationale Terzett wird noch gebraucht… Nebenbei können wir uns auch um sie kümmern. Die Lichten werden ihnen vermutlich einen Aufpasser hinterherschicken. Um den musst du dich auch kümmern. Damit er sich nicht einmischt. Ohne Anlasszettel keinen Streit an, halt ihn einfach auf Abstand, das genügt.«

»Alles klar, Chef.«

»Nimm das.«Sebulon öffnete den Tresor neben dem Tisch und händigte Edgar zwei Amulette sowie einen geladenen Stab aus. »Den Höhenrauch solltest du vermutlich nicht einsetzen. Aber für den Notfall… Und wo du den Stab wieder aufladen kannst, weißt du.«

»In der Kostnice? Der Knochenkirche?«, vermutete Edgar prompt.

Sebulon nickte.

»Beim Dunkel!«, sagte Edgar mit einem Hauch von Wehmut in der Stimme zu sich selbst. »Ich bin seit siebzig Jahren nicht dort gewesen.«

»Gleichzeitig reinigst du dich dort auch selbst«, riet Sebulon. »Kannst du das?«

Edgar runzelte die Stirn. Freundschaft war eine schöne Sache, doch Sebulon war ein Magier außerhalb jeder Kategorie, während Edgar noch nicht einmal den ersten Grad erreicht hatte, obgleich er ganz offensichtlich alle Voraussetzungen dafür mitbrachte. Bis jetzt musste sich Edgar mit einem normalen menschlichen Namen begnügen, doch immerhin war sein Familienname bereits unwiderruflich in Vergessenheit geraten.

»Mit der Technik habe ich mich schon vertraut gemacht. Zumindest oberflächlich.«Es ließ sich nicht übersehen, wie peinlich es Edgar war, das zuzugeben.

»Dann üb noch«, beendete Sebulon das Thema. »Das war's, geh jetzt und pack. Hast du dringende Aufgaben? Wenn ja, übergib sie jemandem. Schagron oder Belaschewitsch. »

»Verstehe, Chef. Mach ich.«

»Viel Glück.«

Edgar ging hinaus, begab sich kurz in sein Arbeitszimmer, setzte eine Nachricht für Schagron auf, hinterließ sie im Zwielicht und ging nach Hause.

Unten traf er Alita.

»Hallo, meine Schöne!«

»Guten Tag, Edgar. Du kommst wohl nicht mit zum Schlittschuhlaufen?«

»Keine Zeit.«

»Mit dir ist einfach nichts anzufangen«, sagte die Hexe. »Neujahr steht vor der Tür - wie kannst du da an Arbeit denken? Die Lichten machen sich jetzt mehr Gedanken um die Qualität des erzeugten Sekts als um ihre üblichen Gemeinheiten. An einem Feiertag muss man durch die Straßen ziehen, nicht arbeiten.«

»Das kann man so und so sehen«, seufzte Edgar. »Ich habe jedenfalls keine Zeit. Ich fahre weg.«

»Wohin?«

»Nach Prag.«

»Oh!«, beneidete Alita ihn. »Lange?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht eine Woche…«

»Silvester in Prag!«, seufzte Alita. »Noch dazu beim Jahr 2000… Kann ich nicht mitkommen?«

»Flieg ruhig nach Prag«, forderte Edgar sie sofort auf. »Aber nicht mit mir. Schließlich fahre ich ja nicht zu meinem Vergnügen…«

Er beneidete sie ebenfalls ein wenig: Wenn die Hexe nach Prag fahren würde, könnte sie sich dort reinen Gewissens amüsieren. Edgar ging zu oft auf solche Dienstreisen, als dass er jetzt die grundlose Illusion hegen konnte, es würde nicht allzu viel Arbeit anfallen.

Es gab immer viel zu tun. Und an Feiertagen erst recht. Und an großen Feiertagen - und wer wollte behaupten, der Wechselder ersten von vier Ziffern einer Jahreszahl sei kein großer Feiertag? - fiel noch mehr Arbeit an, als in den finstersten Prognosen vorausgesagt.

Auf dem Heimweg überprüfte Edgar die Wahrscheinlichkeit und stellte fest, dass der Frühflug nach Prag auf den Abend verschoben werden würde und er mittags eine Maschine mit Zwischenlandung nehmen musste. An der Kasse gab es natürlich keine Tickets mehr; auf das Kontingent von reservierten Tickets brauchte er ebenfalls nicht zu hoffen. Doch das beunruhigte Edgar nicht weiter: der gute alte Trick mit der doppelt verkauften Flugkarte - was konnte einfacher sein? Und natürlich würde sich die Karte des Anderen als die»richtige«herausstellen. Selbst wenn es eine Minute vorm Einchecken erfolgte.

Seine Sachen zu packen, dafür braucht ein Anderer nicht lange. Warum sollte er sich auch mit Gepäck abschleppen, wenn es leichter war, alles unterwegs zu kaufen? Alles, was er brauchte, waren die Amulette, den Stab und ein Aktenkoffer samt einer Zeitschrift und einigen Bündeln grüner überseeischer Währung.

Natürlich konnte sich ein Anderer alles, was es zu kaufen gab, auch so beschaffen. Doch zum einen lohnte es nicht, dafür Kraft zu vergeuden. Zum andern ist Tat nicht gleich Tat. Du manipulierst einen Piroggenverkäufer, und die Nachtwache hängt dir eine nicht sanktionierte Intervention an. Bei denen musste man mit allem rechnen.

Außerdem hätte Edgar der Verkäufer leid getan. Natürlich nicht, wenn es um Piroggen ging. Aber womöglich musste er einem Autohändler mal einen Jeep aus dem Geschäft entführen? Die Menschen waren die Grundlage. Ihre Futterbasis, ihr Substrat. Um sie musste man sich kümmern… Und in diesem Fall spielte es keine Rolle, dass eine solche Einstellung sehr an die Auffassung der Lichten erinnerte.

Die Dunklen spüren den Unterschied zwischen sich um jemanden kümmern und sich für ihn ein Bein ausreißen. Ganz genau.

Die Nacht nutzte Edgar, um sich richtig auszuschlafen, obwohl es ihm mehr Mühe bereitete als angenommen, zu dieser ungewöhnlichen Zeit zu schlafen. Edgar wälzte sich bereits im Halbschlaf, als ihm der Gedanke durch den Kopf schoss, dass er doch lieber hätte mit Alita Schlittschuhlaufen gehen sollen.

Morgens bemerkte Edgar, dass man sich an seiner natürlichen magischen Hülle gewaltig zu schaffen gemacht hatte. Sie war jetzt stärker, enthielt unnachgiebige und stabile gepanzerte Fäden. Sebulon - natürlich, wer sonst? Jemand anders kam nicht in Frage. Hm, dachte Edgar. Sollte die Sache also doch nicht so einfach und ungefährlich werden? Oder ist Sebulon einfach übervorsichtig?

Seit die Auseinandersetzungen mit den Lichten zugenommen hatten, sorgte Sebulon immer häufiger persönlich für den Schutz der Mitarbeiter der Tagwache. Woher er nur all die Energie nahm, um diese unzähligen Schilde aufrechtzuerhalten?

Eine Antwort auf diese Fragen wussten in ganz Moskau wohl nur zwei Männer: Sebulon selbst und sein ewiger Gegenspieler Geser. Vielleicht auch noch die Inquisition. Die Leute an der Spitze.

Schagron brachte Edgar aus eigenem Antrieb zum Flughafen. Anscheinend gefiel es dem erst seit kurzem wiederhergestellten Magier einfach, mit dem ebenfalls erst seit kurzem reparierten BMW durch das festliche Moskau zu fahren. Als Vorwand diente ihm ein höchst einfaches und überzeugendes Argument: Er hatte sich um die aktuellen Fälle zu kümmern. Die er freilich mit der Lupe suchen musste. Ein dreizehnjähriges hysterisches Mädchen, das entdeckt hatte, dass es ins Zwielicht eintreten konnte, und sich dort zufällig im Spiegel erblickt hatte. Sie musste beruhigt, wieder zur Vernunft gebracht, unterstützt werden… Eine Aufgabe für einen Dilettanten. Dann gab es noch einen durchgedrehten Sukkubus mit einer gerontophilen Neigung, über den halb Birjulewo lachte. Das waren keine Fälle. Sondern kleine Unebenheiten. Unannehmlichkeiten.

Noch am Eingang zum Flughafengebäude erreichte Edgar ein Anruf von einem Magier aus der Leitung der Tagwache - ein Magier, den seine Freunde und Kollegen als Juri kannten, obgleich er seinen Zwielicht-Namen bereits offen hätte tragen dürfen. Schagron hatte ihn schließlich auch für besondere Verdienste für die Wache bekommen. Und Juri war bedeutend stärker als Schagron und wesentlich älter.

»Hallo Edgar. Du fliegst nach Prag?«

»Warum nicht?«, erwiderte Edgar in der Art eines Mannes aus Odessa.

»Hör zu und unterbrich mich nicht. Ich weiß etwas von den Plänen des Chefs. Und darüber, warum er dich dorthin schickt. Alles ist längst nicht so einfach und unkompliziert, wie es auf den ersten Blick aussieht. Heute oder morgen fliegen mehrere Lichte nach Prag, und ich würde mich nicht wundern, wenn in den nächsten Tagen auch Geser zu euch stoßen würde. Es gibt ein paar vage Hinweise darauf, dass die Lichten eine ganz große Operation planen. Natürlich lässt es sich Sebulon nicht nehmen, eine entsprechende Antwort parat zu halten. Also… pass ein bisschen auf. Vor allem unterwegs.«

Juri verstummte, als warte er auf Edgars Antwort, doch dieser - die Bitte, den Kollegen nicht zu unterbrechen im Ohr - schwieg. Er streckte sich lediglich im Zwielicht aus, um Sebulon auszumachen, konnte Jedoch nicht die geringste Spur vom Chef entdecken. Wo dieser umherirrte, in welchen geheimen Winkeln, in welchen tiefen Schichten des Zwielichts, war nicht herauszukriegen. Mächtige Magier haben ihre eigenen Wege und Beweggründe, die ihre Umwelt nicht zu verstehen vermag.

»Erinnerst du dich noch daran, wie der Chef Alissa Donnikowa in Urlaub geschickt hat?«, fuhr Juri fort. »Vergiss nicht, was ihr passiert ist. Und bevor du mich fragst, weshalb ich dir das alles erzähle: Weil ich ein Dunkler bin. Und weil ich eine gewisse Zeit mit dir zusammengearbeitet habe. Fass das auf, wie du willst, aber ich würde dich lieber unter den gesunden Anderen sehen als unter den Schatten im Zwielicht. Tschüss, Edgar.«

Damit beendete Juri das Gespräch.

Eine Zeit lang stand Edgar noch da und hielt das Handy nachdenklich in der Hand. Dann verstaute er es an seinem Gürtel, nahm den Aktenkoffer und ging zur Kasse.

Beim Dunkel!, dachte der Magier. Was sollte denn das? Will er mich warnen? Von etwas abhalten? Und all das ganz klar über Sebulons Kopf hinweg. Er hat Alissa erwähnt…

Die Hexe Alissa hatte Sebulon einfach geopfert. Kaltblütig und ohne überflüssiges Mitleid. Wie einen Bauern in einem Schachspiel. Allerdings hätte es auch komisch angemutet, bei diesem Spiel der Wachen den gesichtslosen Figuren auf dem Brett Gefühle entgegenzubringen. Gleichwohl können auch die Anderen fühlen und lieben. Doch obwohl Edgar wie ein Mensch Mitleid mit Alissa empfunden hatte, hätte er keinen Finger gerührt, um sie zu retten, selbst wenn er gewusst hätte, was ihr bevorstand. Denn jedes Spiel hat seine strengen, ein für alle Mal festgelegten Regeln. Und wer das Spiel einmal angefangen hat, kann es weder abbrechen noch gegen die Regeln handeln. Die Hexe Alissa war gegangen, die Hexe Alita gekommen. Das Gesetz vom Erhalt der Handlungsfähigkeit. Alita wirkte sogar sympathischer…

Tief in seine Überlegungen versunken, bearbeitete Edgar die Kassiererin völlig automatisch. Sie händigte ihm ein blaues Büchlein aus, während das Ticket eines unglückseligen Passagiers annulliert wurde. Der Arme würde später fliegen müssen. Denn in der Welt der Menschen und der Anderen stellen Letztere die Regeln auf. Weshalb wollte Juri mich warnen?, grübelte Edgar an der Bar bei einem Glas Bier, das teuer war, aber nicht schmeckte. Sicherlich nicht aus Altruismus? So stark verletzt niemand die Regeln des Spiels.

Kurz erinnerte er sich daran, dass Sebulon, bevor er aus Moskau verschwand, weder Juri noch Nikolai - die beiden stärksten Dunklen Magier der Tagwache nach dem Chef - zum Stellvertreter ernannt hatte, sondern ihn, Edgar, der hinter diesen beiden deutlich zurückblieb. Juri war bereits im letzten Jahrhundert zum Magier außerhalb jeder Kategorie ernannt worden, bei Nikolai lag die Ernennung noch nicht so lange zurück, sondern war erst nach dem Krieg erfolgt. Edgar hatte bislang noch nicht einmal die erste Kraftstufe erreicht, selbst die zweite hatte er, offen gestanden, nur mit Einschränkungen erklommen. Natürlich handelte es sich bei Edgar um einen starken Magier. Natürlich war er stärker als die meisten Anderen in Moskau - und zwar sowohl Dunkle als auch Lichte. Trotzdem fiel er gegen Juri und Nikolai ab.

Warum hatte Sebulon das getan? Wollte Juri sich jetzt einfach rächen? Aus purem Neid? Ihn erschrecken oder (was gab es nicht alles!) den emporgekommenen Kollegen zum Besten halten?

Auch aus Estland hatte man Edgar irgendwie überstürzt und nicht ganz nachvollziehbar angefordert. Er hatte in seinem kleinen baltischen Heimatland gelebt, die überschaubare und verschlafene Wache geleitet - und plötzlich das! Holterdiepolter! Sofortige Abberufung nach Moskau! Die schnelle Einarbeitung eines Nachfolgers, eines typischen»heißen Esten«, eines Magiers, der mal gerade den vierten Grad innehatte… Den muss ich auch noch in Tallinn anrufen. Und was hatte in Moskau auf ihn gewartet? Gewiss, nach Edgars Ankunft lief eine hektische zweiwöchige Operation an, etwas später musste er mit einer kühnen Finte den Lichten eine Hexe abjagen, die ohne Lizenz arbeitete. Das war's. Dann, nach über drei Monaten voller Routine, kam Mitte November die überraschende Ernennung zum Stellvertreter des Chefs der Tagwache während Sebulons Abwesenheit, das Auftauchen des Spiegels und das Tribunal in der Lomonossow-Universität.

Wenn er sich alles durch den Kopf gehen ließ, schien es ihm keinesfalls ausgeschlossen, dass die alten Magier der Tagwache versuchen könnten, den Balten, der bei seinem Gastspiel in Moskau etwas zu schnell Karriere machte, mal zu zeigen, wo sein Platz war - das Wort intrigieren war hier wohl doch nicht angebracht. Sebulon verließ Moskau nur selten. Sobald er jedoch in der Stadt weilte, war Edgar ein Fahnder, mehr nicht. Ein starker Fahnder, gewiss, wenn man so wollte, die Elite. Aber mit den gleichen Rechten wie alle.

Als das Glas leer war, beschloss Edgar: Er würde sich nicht länger den Kopf über die Gründe zerbrechen. Besser sollte er eine Verhaltensstrategie ausarbeiten, die berücksichtigte… die alles berücksichtigte. Selbst die absurdesten Varianten.

Gut. Was hatte Alissa das Genick gebrochen? Sie hatte es nicht geschafft, Kraft zu sammeln. Sie hatte den Lichten in ihrem nächsten Umfeld nicht erkannt. Sie hatte dem bewusst herbeigeführten, gefährlichen Zusammenstoß nicht auszuweichen gewusst. Und das Wichtigste: Sie hatte sich ihren Emotionen ausgeliefert. Sie hatte versucht, die Gefühle des Lichten anzusprechen.

Nun, mit der Kraft hatte Edgar keine Probleme, außerdem hatte ihm Sebulon noch etwas gegeben. Beide Amulette waren die reinsten Kraftbrunnen. Vor allem das, das mit dem Transsilvanischen Höhenrauch geladen war. Sollte Edgar dieses Amulett einsetzen, würden alle Anderen Europas eine ungeheure Freisetzung magischer Energie wahrnehmen. Hinzu kam noch der Kampfstab, eine hoch spezialisierte Waffe, die jedoch schnell und durchschlagend war. Mit der»Geißel Schaabs«war nicht zu spaßen!

Also musste Edgar die Lichten so gut wie möglich im Auge behalten. Apropos - die Lichten. In Scheremetjewo trieben sich im Moment gleich drei Lichte 'rum. Zum einen Anton Gorodezki, den er bereits von früheren Operationen kannte und der von den Dunklen unteren Ranges als»Sebulons Liebling«bezeichnet wurde. In der Geschichte mit dem Spiegel hatte er Sebulon aus irgendeinem Grund nachgegeben und den Dunklen geholfen… Oder hatte er alle nur Glauben machen wollen, er habe den Dunklen geholfen? Vermutlich doch Letzteres, denn wie hätte er sich sonst in seiner Nachtwache behaupten können?

Zum andern schnupperte im Duty-free-Shop eine Heilerin in mittleren Jahren aufmerksam an den Parfüms. Sie gehörte der Nachtwache nicht an. Vermutlich flog sie nur zufällig mit dieser Maschine.

Schließlich war da noch ein Anderer, der seinen Dienst als Milizionär bei der Registrierungsstelle versah. Die musste es freilich auf jedem Flughafen geben.

Dunkle gab es in Scheremetjewo-2 außer Edgar noch vier. Das ihm ans Herz gelegte Dreiergespann der Regin-Brüder, die misstrauisch abwechselnd zu Anton, der es sich in der Bar am gegenüberliegenden Ende der Halle gemütlich gemacht hatte, und zu Edgar hinüberschielten. Außerdem stand an den Spielautomaten noch ein schwacher Magier, der weiter nichts von seiner Umgebung wahrnahm. Anscheinend versuchte er, sich etwas zuzuverdienen, indem er den Apparat zwang, ihm den größtmöglichen Gewinn auszuspucken. Nichtsnutze wie er lassen sich vortrefflich mit dem russischen Wörtchen fuflo beschreiben.

Nichts, was auffällig gewesen wäre.

Das Einchecken und die Ausweiskontrolle gingen schnell über die Bühne, ein Visum war für Tschechien immer noch nicht notwendig. Für alle Fälle hielt Edgar zudem einen estnischen und einen argentinischen Pass bereit. Und dies absolut legal, denn Argentinien war ein prächtiges Land, das völlig offen Handel mit seiner Staatsbürgerschaft trieb.

Die verbleibende Zeit bis zum Abflug verbrachte Edgar in einer der Bars. Natürlich nicht in der, in der es sich der Liebling Sebulons bequem gemacht hatte, der Lichte Magier Gorodezki. Mit ihm hatte Edgar nur einmal kurz Blickkontakt gehabt. Also gut, ich weiß, dass du hier bist, du weißt, dass ich hier bin, und wir beide wissen, dass jeder von uns seinen Gegenspieler erkannt hat… Wir haben einen vergleichbaren Auftrag. Wir sollen unsere Leute vor Gericht verteidigen und den Gegnern einheizen…

Zu Gorodezkis Ehre sei gesagt, dass dieser klar zu verstehen gab: Sobald die Verhandlung eröffnet ist, können wir uns die Köpfe einhauen. Aber jetzt steigen wir einfach ins Flugzeug und lassen einander in Ruhe.

Wie komisch, wie merkwürdig hier das Wort»einander«klang. Aber welches wollte man sonst nehmen…

Ob das ein Nachhall jener fernen Zeiten war, als die Anderen sich noch nicht in Lichte und Dunkle geteilt, sondern sich gemeinsam dem Schicksal und den Widrigkeiten des Lebens entgegengestellt hatten? Damals stand freilich jeder Heiler einem Vampir näher als ein glückloser Mensch aus der gesichtslosen Masse seinesgleichen. Das Zwielicht sorgt für Nähe.

Doch das Zwielicht kann auch trennen. Un'd zwar nicht schlecht. Weltweit wird man heute keine unversöhnlicheren Feinde finden als Dunkle und Lichte. Dagegen wirkt der Konflikt zwischen den USA und der islamischen Welt mit Iran und Irak an der Spitze nahezu läppisch… Selbst der Kalte Krieg von einst zwischen den USA und der UdSSR konnte mit dem Krieg zwischen den Wachen nicht mithalten. Das waren Spiele. Kinderspiele von dummen Menschen.

Edgar trank einen rabenschwarzen Kaffee, der jedoch nicht sehr gut schmeckte, und dachte über alles und nichts zugleich nach. Zum Beispiel darüber, warum all die Bars in Flughäfen und Bahnhöfen, die so teuer waren und bei Lebensmitteln nicht zu pfuschen schienen, so schlechten Kaffee kochten, scheußliches Bier ausschenkten und belegte Brote servierten, die absolut niemand essen konnte. Viele Übel im Leben der Menschen gingen auf den Kampf zwischen den Wachen zurück, aber in diesem Punkt waren sie völlig unschuldig! Seine Schützlinge - das bunt gemischte Dreiergespann - behielten ihn vom Wartesaal aus missbilligend im Auge. Er konnte verstehen, dass die Regin-Brüder in ihm lediglich einen ganz gewöhnlichen Schnüffler sahen. Sollten sie ruhig. Diese Hohlköpfe. Diese dummen und sorglosen Hohlköpfe. Aber wenn es sein musste, würde er sie vor den Karren der Dunklen spannen. Sebulon hatte völlig Recht, wenn er sie für ihre Sache einsetzen wollte. Die Geschichte mit der Kralle des Fafnir, das musste man unumwunden festhalten, hatte die Lichten während des Auftauchens des Spiegels Rohosa gewaltig verunsichert. Die Regin-Brüder hatten, ohne es selbst zu ahnen, einen der Schläge abgekriegt, der für die Tagwache bestimmt war. Darüber hinaus hatten sie es dem immer stärker werdenden Spiegel ermöglicht, sich bis obenhin mit Kraft vollzutanken. Das hatte schließlich den Erfolg der Lichten in dieser Runde vereitelt und Sebulon und seiner Garde zum Vorteil gereicht.

Recht geschah ihnen.

Ohne jedes Mitgefühl beobachtete Edgar, wie ein wütender Schnösel im hyperkorrekten Anzug und teuren Mantel von zuvorkommenden Zöllnern weggeführt wurde - eben an seiner Stelle würde nun Edgar nach Prag fliegen.

Edgar passte den richtigen Moment ab und stand auf, als sich einer der Regin-Brüder aus seinem Sessel erhob. Er wandte sich an denjenigen, der den vernünftigsten Eindruck machte, an den weißen Bruder.

»Grüß dich, Bruder«, sprach Edgar ihn eindringlich an.

Der»Finne«schaute ihn mit großen Augen an. Gespannt.

»Wir sind die Dunklen«, fuhr Edgar leise fort. »Wir geben unsere Leute nicht auf. Ich bin geschickt worden, um euch im Notfall zu verteidigen. Und beim Tribunal werden wir euch zu schützen wissen, das könnt ihr glauben. Also, Kopf hoch, ihr Diener des Dunkels. Unsere Stunde wird bald kommen.«

Nach diesen Worten erhob sich Edgar und kehrte, ohne sich noch einmal umzudrehen, zu seinem Platz zurück. Gut. Sollen sie sich den Kopf darüber zerbrechen…

Aber wie pathetisch er gesprochen hatte! Eine gemeißelte, feierliche Miene zu bewahren und sich das Lachen zu verkneifen hatte Edgar einiges abverlangt. Doch die großen Augen des»Finnen«vermittelten ihm eine ganz andre Botschaft - er hatte wirklich Angst und machte sich Sorgen.

»Ich bin doch gemein«, murmelte Edgar in seinen Bart. »Sie sind die reinsten Kinder… Und ich mache mich über sie lustig.«

Edgar seufzte zerknirscht und blätterte die Zeitschrift auf. Wie gut, dass der Flug nach Prag kürzer war als beispielsweise nach Jushno-Sachalinsk. Ein Stündchen, zwei - und schon war man da. Ohne Zwischenlandungen und ohne im Flugzeug schlafen zu müssen, ein wahrer Albtraum. Doch wenn man ehrlich war, stellten die Dunklen Portale die bequemste Art des Reisens dar. Nur bedeutete es einen unangemessenen Luxus, ein Portal von Moskau nach Prag zu legen. Also musste er fliegen wie ein normaler Mensch.

Nun, nicht ganz wie ein normaler Mensch. Wenigstens hatten Andere keine Probleme mit dem Ticket.

Zwei

Anton liebte Prag. Ja, mehr noch: Er verstand nicht, wie man diese Stadt nicht lieben konnte. Es gibt Städte, die vom ersten Augenblick an nur Missfallen auslösen, einen erdrücken, während es andre gibt, die einen sanft und unmerklich verzaubern. Moskau gehörte leider weder zur ersten noch zur zweiten Kategorie. Prag dagegen glich einer alten und weisen Zauberin, die es verstand, eine junge Frau vorzugaukeln, dies jedoch nicht für nötig erachtete, da sie ihre Schönheit in jedem Alter bewahrte.

So betrachtet, hätte Prag eigentlich zur Heimstatt der Dunklen werden müssen. Eine Stadt, die von gotischen Bauwerken birst, eine Stadt voller Pestsäulen, diesen an die Epidemien im Mittelalter gemahnenden Denkmälern, eine Stadt, die im Zweiten Weltkrieg als Getto diente, eine Stadt des Widerstreits der Supermächte im Kalten Krieg - wo waren all diese Manifestationen des Dunkels geblieben, dieser Nährboden der Dunklen?

Wohin hatten sie sich verflüchtigt, warum blieben von ihnen nur Erinnerungen, aber keine Verbitterung?

Ein Rätsel…

Anton kannte niemanden von der Prager Nachtwache persönlich. Ein paarmal hatte er mit einem Kurier oder per EMail Informationen mit ihr ausgetauscht, als es darum ging, etwas in den Archivmaterialien zu präzisieren. Zu Weihnachten und Silvester schickten sich alle Nachtwachen traditionell Grüße… doch niemand unterschied dabei zwischen der Prager Nachtwache (die einhundertdreißig Andere zu ihren aktiven Mitarbeitern zählte und sechsundsiebzig zur operativen Reserve) und der Nachtwache irgendeiner amerikanischen»Stadt«(mit einem aktiven Anderen und null Reserve).

Anton hatte bereits zweimal in Prag Urlaub gemacht. Damals war er einfach ziellos durch die Straßen geschlendert, von einer Bierstube zur nächsten, hatte auf der Karlsbrücke Andenken gekauft und war nach Karlsbad gefahren, um dort in einem Becken mit einer heißen Mineralquelle zu baden und in einem Cafe warme Waffeln zu essen.

Jetzt flog er nach Prag, um zu arbeiten. Und wie…

Er streckte sich auf seinem Platz aus, so gut es in der Economyklasse der Boeing 737 ging, die sich vom Komfort her nicht allzu sehr von der guten alten Tupolew aus Sowjetzeiten unterschied. Anton sah auf die Hinterköpfe der Regin-Brüder. Sie waren angespannt, die Auren der Dunklen voller Angst und Ungeduld. Seine Anwesenheit war ihnen nicht entgangen, und jetzt hofften sie, so schnell wie möglich weit weg von Anton zu kommen.

Wenn diese Geschichte auf dem Flughafen nicht passiert wäre, hätte Anton sogar Mitleid mit den glücklosen Magiern empfinden können. Doch ein Feind, mit dem er sich einmal geschlagen hatte, blieb für alle Ewigkeit ein Feind.

Als hätte er diesen Gedanken gespürt - obgleich das natürlich nicht in seinen Kräften stand -, drehte sich einer der Regin-Brüder, ein hochgewachsener kräftiger Afrikaner, um. Misstrauisch spähte er zu Anton hinüber, blickte dann aber rasch woanders hin. Anton fiel sein Name wieder ein: Raivo. Ursprünglich aus Senegal… nein, aus Burkina Faso, genau. Von einer Familie der Regin-Brüder aufgenommen und in Treue zum großen Fafnir erzogen…

Welchem Unsinn hingen diese Regin-Brüder bloß an? Vor sehr, sehr langer Zeit hatte sich einmal eine Geschichte ereignet, wie sie unter Anderen immer wieder vorkommt. Ein Dunkler und ein Lichter Magier hatten sich einen tödlichen Kampf geliefert. Der Lichte hieß Sigurd… Siegfried, wenn man die deutsche Variante bevorzugte. Der Dunkle starb, und zwar in seiner Zwielicht-Gestalt als Drache. Er hieß Fafnir. Später starb auch Sigurd… Ob Geser ihn gekannt hatte?

Danach nahm die Geschichte jedoch einen etwas ungewöhnlichen Lauf. Die Schüler des Dunklen Magiers liefen nicht in alle Richtungen auseinander, wie es normalerweise der Fall ist, und bekämpften sich auch nicht gegenseitig - was noch weitaus häufiger vorkommt. Sie beschlossen, ihren Meister auferstehen zu lassen. Sie schlossen sich unter dem Namen Regin-Brüder zu einer Sekte zusammen und zogen sich aus dem üblichen Kampf zwischen Licht und Dunkel fast völlig zurück. Was den Lichten natürlich nur recht war. Sorgsam hüteten die Brüder die Kralle, die sie aus dem Zwielicht-Körper des Dunklen Magiers herausgezogen hatten. Später konfiszierte die Inquisition die Kralle - vor dem Zweiten Weltkrieg gelang es den Lichten, ihren Protest dagegen geltend zu machen, dass sich ein derart mächtiges Artefakt im Besitz der Dunklen befand. Die Regin-Brüder schienen keinen Streit zu wollen und gaben die Kralle mit den Worten»Die Zeit des Fafnir ist noch nicht gekommen…«heraus. Und plötzlich dieser Überfall auf das Europabüro der Inquisition! Ein Zusammenstoß, bei dem fast alle Magier der kleinen Sekte und eine ordentliche Zahl träge gewordener Wachleute der Inquisition fielen. Dann die absurde Ankunft der überlebenden Sektenmitglieder in Moskau.

Bekanntlich gab es nicht nur unter den Menschen Idioten…

Doch waren sie wirklich Idioten?

Anton erinnerte sich, was für ein ungeheurer Kraftausstoß von dieser Kralle ausgegangen war. Teilweise handelte es sich dabei um die Kraft, die über lange Jahrhunderte hinweg in der Kralle durch die Anstrengungen der Regin-Brüder gespeichert worden war. Teilweise um die Kraft des Dunklen Magiers.

Die Anderen sterben nicht wie normale Menschen. Sie gehen ins Zwielicht ein, verlieren ihre materielle Hülle und werden der Möglichkeit beraubt, in die Welt der Menschen zurückzukehren. Doch etwas bleibt. Anton hatte bereits die vagen Schatten gesehen, den zitternden Höhenrauch, der mitunter im Zwielicht entsteht und den Weg der toten Anderen markiert. Einmal hatte er sogar mit einem toten Anderen kommuniziert… Keine sehr angenehme Erinnerung. Dennoch: Irgendetwas bleibt auch dort erhalten…

Ob ein toter Anderer wieder zum Leben erweckt werden konnte?

Vermutlich gab es darauf irgendwo eine Antwort. Im Dschungel der Archive, geschützt von Stempeln»Streng geheim«, den Siegeln der Nacht- und der Tagwache, dem Verbot der Inquisition. Die höchsten Magier mussten diese Frage gestellt haben: Wohin die Anderen nach dem Tod gehen, wohin sie selbst sich am Ende aufmachen müssen…

Nur brauchte Anton die Antwort nicht zu wissen.

Er sah zum Fenster hinaus, in die unter ihm vorbeiziehenden Wolken, die schwachen Funken von Tausenden zu einem Ganzen verschmelzender Auren, die die Stadt absteckten. Sie überflogen bereits Polen.

Angenommen, Fafnir könnte wieder zum Leben erweckt werden…

Was dann? Selbst wenn er ein starker Magier, selbst wenn er ein Hoher Magier gewesen war, ein Magier außerhalb jeder Kategorie… seine Auferstehung würde nichts am globalen Gleichgewicht der Kräfte ändern. Vor allem, da er dem Leben der Menschen entfremdet worden war, die Tatsachen nicht mehr verstand. Wenn er so dumm wäre, in seiner Zwielichtgestalt durch Europa zu ziehen, würde man ihn mit Raketen zerfetzen, mit Laserraketen erschießen, taktische Atombomben gegen ihn einsetzen - unter dem kummervollen Geschrei der Japaner über die Auferstehung und Ermordung Godzillas.

Was wollten die Dunklen? Chaos, Panik, Geschrei, die Apokalypse drohe?

Anton rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. Er nahm der lächelnden Stewardess einen Plastikbecher und eine kleine Flasche mit trockenem ungarischen Wein ab. Edgar hatte es gut… Wie jeder Dunkle Magier flog er Businessclass, weshalb er ein Kristallglas und besseren Wein bekam…

Etwas an seinem letzten Gedanken hatte ihn stutzen lassen. Fafnir… die Apokalypse… Immerhin hing Gesers Anspielung auf die Massenhysterie im Zusammenhang mit dem Jahr 2000 damit nicht völlig in der Luft. Nur warum legten es die Dunklen auf das Ende der Welt an? Und was bedeutete der Rest? Die Hexe Alissa… Die Schicksalskreide…

Anton bedauerte, seinen Laptop nicht bei sich zu haben. Wie hilfreich es jetzt wäre, eine Übersicht am Bildschirm zu erstellen, Varianten durchzuspielen, zu überprüfen, wie was zusammenpasste. Es gab ein Standardprogramm zur Berechnung von Intrigen, das Mazarini, und bisweilen half es, eine Situation zu verstehen.

Die Schicksalskreide…

Er nippte an dem Wein - der zu seinem Erstaunen recht gut war. Dann runzelte er die Stirn. Geser und Sebulon. Die beiden Hauptfaktoren, von denen die ganze Geschichte abhing. Sie waren weitaus rätselhafter und komplexer als alte Artefakte wie die Schicksalskreide oder die Kralle des Fafnir, aber auch als Andere wie der Spiegel und Alissa. Und vermutlich wussten sie ganz genau, was geschah… und versuchten, sich gegenseitig auszutricksen. Wie üblich.

Geser.

Sebulon.

Jede Auswertung sollte vermutlich bei der Schicksalskreide anfangen. Als die Nachtwache Moskaus Swetlana gewonnenhatte, die neue Große Zauberin, hatte Geser wieder einmal versucht, eine globale Veränderung der Welt herbeizuführen. Er hatte für Swetlana die Schicksalskreide besorgt, ein altes und mächtiges Artefakt, mit dem es möglich war, das Schicksalsbuch umzuschreiben, ein Menschenleben zu manipulieren. Auf den ersten Blick sah es so aus, als müsse Swetlana das Schicksal des Jungen Jegor umschreiben, des Anderen mit der unbestimmten Aura, der gleichermaßen dem Dunkel wie dem Licht zugeneigt war, als müsse sie ihn in einen zukünftigen Propheten oder Herrscher verwandeln. Doch Swetlana hatte - nicht ohne sein, Antons, Dazutun - davon abgesehen. Sie hatte Jegors Schicksal lediglich wieder ins Gleichgewicht gebracht, alle Einflüsse ausgelöscht, die die Wächter des Tages und der Nacht im Kampf gegeneinander bereits auf ihn ausgeübt hatten.

Doch Gesers Plan erwies sich natürlich als vielschichtig. Und in der zweiten Schicht dieses Plans wurde seine alte Freundin Olga, ebenfalls eine Große Zauberin, die von der Führung der Lichten einst bestraft worden war, rehabilitiert, bekam ihre magischen Fähigkeiten zurück und erhielt die andre Hälfte jener Schicksalskreide, um ein Schicksal umzuschreiben - während alle Dunklen Moskaus Swetlana überwachten.

Das war die Wahrheit, die Anton kannte. Die zweite Schicht der Wahrheit.

Aber gab es nicht noch eine dritte?

Gut, damit konnte er sich später befassen. Was weiter? Alissa Donnikowa, eine fähige Hexe der Tagwache, wenn auch nicht aus der Elite. Bei einer Konfrontation zwischen Dunklen und Lichten, die klar auf das Konto von Sebulon ging, hatte sie sämtliche magischen Kräfte verloren. Sie war ins Artek geschickt worden - an den Ort, an den Geser auch Igor geschickt hatte, dem es genauso ergangen war. Beide waren in Liebe füreinander entflammt, in einer schrecklichen, tödlichen Liebe, wie sie nur ein Lichter Magier und eine Dunkle Hexe für einander hegen können. Mit klarem Ergebnis - Alissa war tot, ermordet von Igor, Igor selbst drohte die Dematerialisierung, denn ihn belastete die Verletzung des Großen Vertrages und die eigene Schuld. Dann noch dieser Junge, der seinetwegen zufällig ertrunken war…

Das war keine Intrige Gesers. Das trug die Handschrift der Tagwache, war ihr erbarmungsloser und zynischer Stil. Sebulon hatte seine Freundin geopfert, sie zur Schlachtbank geschickt - aber wozu? Um Igor auszuschalten? Seltsam. Auch wenn der Tausch fast gerecht war, denn Alissa Donnikowa war eine starke Hexe.

Eine Intrige als Antwort auf eine Intrige…

Dann das Auftauchen des Spiegels. Geser war sich sicher, dass es sich nicht hatte voraussagen lassen, folglich in der Tat einen Zufall darstellte. Doch vermutlich hatten sowohl Geser als auch Sebulon sofort beschlossen, davon zu profitieren - jeder auf seine Art.

Der Wunsch, laut - nicht nur innerlich - zu fluchen, packte Anton. Von wegen: Die Daten reichen nicht für die Analyse! Alles Mutmaßungen, weiße Flecken, Spekulationen…

Auch die Regin-Brüder ließen sich kaum einordnen. Sie hatte Sebulon nach Moskau gelockt. Um Panik in der Nachtwache zu verbreiten? Den Spiegel mit Kraft aufzutanken? Damit diese Dunklen Magier die Inquisition in so sinnloser Weise angriffen, konnte ihnen nur eins versprochen worden sein: die Auferstehung Fafnirs. Natürlich wollten die alten Magier Fafnir wieder leben sehen, denn das war vermutlich ihre letzte Chance, doch noch zu siegen. Auch die Reaktion der jungen Magier konnte nicht verwundern, dieser wahllos zusammengesuchten Finnen afrikanischen und asiatischen Ursprungs, denn sie lebten viel zu zurückgezogen, fassten das Ganze als Spiel auf, nicht als Aufsehen erregendes Verbrechen.

Aber was bezweckte Sebulon damit?

Nein. All das ergab keinen Sinn. Anton schüttelte den Kopf und nahm seine Unfähigkeit, die Vorgänge zu durchschauen, gelassen hin. Was nur… Gut, er würde seinen Auftrag erledigen. Er würde versuchen, Igor zu retten.

Er würde versuchen, die Tagwache anzuklagen.

Unterdessen war das Flugzeug bereits im Landeanflug…

Die jüngste Nummer der National Geographic half Edgar nicht - er konnte sich einfach nicht auf den Artikel über den italienischen Brauch, zu Silvester alte Sachen zum Fenster hinauszuwerfen, und andre Neujahrsrituale konzentrieren. Das Einzige, was Edgar den ersten Absätzen entnahm, war der feste Vorsatz, zu Silvester nicht durch die schmalen alten Gässchen Italiens zu flanieren.

Das leise Brummen der Turbinen zwang ihn, seine Gedanken zu ordnen. Unwillkürlich wandte sich Edgar abermals seiner Aufgabe zu und dem aktuellen Stand in der endlosen Auseinandersetzung zwischen Licht und Dunkel, personifiziert durch die Anderen.

Gut. Noch einmal ganz von vorn.

In der letzten Zeit hatte die Tagwache ihre Position deutlich ausbauen und den Lichten einige empfindliche Schläge beibringen können, die sich nicht so ohne weiteres wegstecken ließen. Dafür brauchte es Zeit, möglicherweise nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte. Sebulons natürliche Reaktion dürfte darin bestehen, den Erfolg jetzt zu nutzen und nicht abzuwarten, bis die Lichten zu neuen Kräften gekommen waren. Auf den Schultern des perplexen Gegners würde er dem Sieg entgegeneilen…

Was konnte die Lichten gegenwärtig schwächen und die Dunklen stärken? Jetzt, da die Nachtwache eine starke und viel versprechende Zauberin verloren hatte? Der Versuch, noch jemanden aus dem Sattel zu ziehen?

Edgar dachte weiter darüber nach und bedauerte, keinen Laptop dabeizuhaben. Dann könnte er rasch alle Variantendurchspielen, sich nacheinander alle fähigen Lichten Magier vornehmen und versuchen, ihre schwachen Seiten zu finden… Dafür gab es sogar ein besonderes Programm, Richelieu. An qualifizierten Programmierern mangelte es der Tagwache nicht.

Nun musste er sich also auf seinen internen Computer verlassen, ein leistungsfähiges Gerät mit kleineren Macken.

Wer? Geser? Er dürfte ausscheiden, denn er war bereits in Gefilde vorgedrungen, in denen Andere von ihren Kollegen praktisch nicht mehr belangt werden konnten.

Objektiv sollte Edgar als Nummer zwei der Nachtwache Swetlana Nasarowa annehmen, doch sie würde für lange Zeit aus dem Spiel sein, weshalb er die Nummer zwei besser der Intrigantin Olga gab, einer alten Spezialistin für Gewaltaktionen, die gerade erst wieder ins Spiel zurückgekommen war. Oder an Ilja, den Magier ersten Grades. Zudem hegte Edgar den Verdacht, dies stelle längst nicht die Grenze von Iljas Fähigkeiten dar. Im Prinzip konnte er zu einem Großen heranwachsen, doch solche Metamorphosen brauchten Zeit und kosteten kolossale Anstrengungen. Vor allem seitens des Magiers. Ilja war jedoch noch zu jung, um auf die zahllosen einfachen, fast menschlichen Lebensfreuden zu verzichten.

Wer also? Olga oder Ilja? Wer von beiden war jetzt verletzbar?

Wie der sowjetische Spion Stirlitz aus dem Kultfilm der siebziger Jahre Siebzehn Augenblicke des Frühlings klappte Edgar den Tisch herunter und warf langsam die schematisierten Porträts auf die Servietten: eine schmale Frauensilhouette und ein längliches Gesicht mit Brille. Olga oder Ilja?

Olga. Sie war klug, erfahren, vorausschauend und rundum zynisch. Edgar kannte ihr genaues Alter nicht, vermutete aber zu Recht, dass Olga mindestens doppelt so alt war wie er selbst. Edgar wusste auch nicht, wie stark sie wirklich war - er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, das zu prüfen und sich von ihrer Kraft zu überzeugen. Ehrlich gesagt, wollte er das aber auch gar nicht… Ihr abermals die Fähigkeiten zu entziehen dürfte mit Sicherheit unglaublich schwer werden - alle, die erst kürzlich aus dem Gefängnis entlassen worden waren, hängen in der ersten Zeit enorm an ihrer Freiheit. Olga würde es sich tausendmal überlegen, bevor sie erneut ein Risiko einging und vor dem Tribunal landete. Außerdem war sie Gesers alte Liebe, und der Chef der Nachtwache würde sie gewiss mit besonderem Eifer verteidigen. An Sebulons Stelle würde Edgar sich hüten, Olga anzugreifen, weil ein wütender Geser ein weitaus gefährlicherer Gegner war als ein normaler Geser.

Nachdenklich fuhr er sich mit der Kappe des Filzstifts über die Nase und ixte die weibliche Figur auf der Serviette aus.

Ilja. Ein sehr starker Magier, mit dem Gesicht eines raffinierten Intelligenzlers, der aus irgendeinem Grund eine Brille trug, obwohl er seine Fehlsichtigkeit ohne weiteres selbst korrigieren könnte. Im Moment war er weder in Moskau noch in Europa. Er hielt sich auf Ceylon auf. Die Lichten der Moskauer Nachtwache waren in den letzten fünf Jahren übrigens verdächtig oft nach Ceylon geflogen. Was sie da wohl ausheckten?

Edgar machte sich einen Knoten im Gedächtnis: Diese Information musste er an die analytische Abteilung weiterleiten, sollten die sich mal den Kopf darüber zerbrechen… Obwohl sie ihr Augenmerk vermutlich ohnehin längst auf diese Besonderheit gerichtet hatten. Und wenn nicht? Edgar stand lieber wie ein Idiot da und pustete aufs Wasser, als sich später an heißer Milch den Mund zu verbrennen, weil sich niemand um Ceylon gekümmert hatte…

Hm, ja. Wenn Sebulon etwas gegen Ilja plante, würde er seine Pläne wohl kaum in Prag umsetzen. Und auch nicht jetzt. Oder hoffte er vielleicht, Ilja dorthin zu locken?

Edgar schob die Serviette weg, ohne die zweite Figur durchzustreichen, und nahm sich eine neue. Die letzte. Er teilte sie mit zwei senkrechten Linien in vier Sektoren und fing an, in jedem ein Porträt zu zeichnen. Zunächst nur drei, mit flüchtigen Strichen, aber dennoch unglaublich lebendig, im Stile eines Bidstrup oder Tschishikows.

Möglicherweise war an Edgar ein Karikaturist verloren gegangen.

Ilja, Semjon… Igor. Der Angeklagte des Tribunals. Sollte er ihn mitzählen oder nicht? Vermutlich schon, denn er war der Verletzlichste von allen.

Nach kurzem Nachdenken zeichnete er in den vierten Abschnitt Anton Gorodezki. Den Einzigen, der immer noch seinen Familiennamen führte. Dennoch hatte er bereits den zweiten Grad erlangt, stand also mit Edgar auf einer Stufe. Wenn er auch weniger Erfahrung hatte.

Wer von ihnen? Natürlich wäre es am einfachsten, Igor auszuschalten. Er stand ohnehin mit einem Bein im Schattenreich des Zwielichts.

Und wieder Gorodezki. Er flog auch nach Prag. Aber das sind nur die schlichtesten Varianten. Wie viele gab es insgesamt?

Allein bei dem Gedanken an die Zahl der theoretisch möglichen Varianten und Wechselbeziehungen bekam Edgar Zahnschmerzen. Mist! Ach, jetzt das Richelieu-Programm mit seinem heuristischen Modul…

Stopp, rief sich Edgar innerlich zur Ordnung. Stopp. Du bist fürchterlich einseitig, Dunkler!

Der neue Gedanke war einfach und unerwartet.

Die Dunklen konnten nicht nur gestärkt werden, indem sie einen ihrer Gegner aus dem Sattel warfen. Gäbe es nicht auch die umgekehrte Möglichkeit: einen starken Dunklen in den Kampf zu schicken?

Doch wen konnten sie unter die wenigen Magier der Tagwache einreihen? Witali Rohosa, über dessen Auftauchen Edgar sich wie ein Kind gefreut hatte, war nur ein Spiegel gewesen. Er hatte vollbracht, wofür das Zwielicht ihn geschaffen hatte, und war für immer verschwunden. Sollten sie einen aus-sichtsreichen jungen Menschen suchen? Bestimmt würden sie jemanden finden… Aus ihm würden sie jedoch nicht im Handumdrehen einen wirklich starken Anderen machen, und auf Wunderkinder wie Swetlana Nasarowa waren die Dunklen schon lange nicht mehr gestoßen.

Trotzdem, dachte Edgar, trotzdem bin ich auf dem richtigen Weg. Ich fliege nach Prag. Die Hauptstadt der europäischen Nekromantie. Noch dazu kurz vor Weihnachten, vor Beginn des Jahres 2000. In einer Zeit, in der zahllose Propheten und Seher die Welt mit den unterschiedlichsten Schreckensszenarien verunsichern, darunter auch solche vom Ende der Welt…

Ha! Das war's! Sebulon würde doch nicht vorhaben, einen der dematerialisierten Magier der Vergangenheit wieder auferstehen zu lassen? Prag! In dieser Zeit! Beim Dunkel, Sebulon hatte wie immer leichthin und geschickt verborgen, was eigentlich ins Auge sprang!

Edgar atmete schwer aus, zerknüllte die Serviette mit den Zeichnungen und stopfte sie sich in die Tasche.

Also: In der Stadt der Nekromanten könnte Sebulon im Zuge einer unglaublichen energetischen Instabilität durchaus versuchen, jemanden aus dem Nichts zurückzuholen. Aber wen?

Denk nach, Edgar… Die Antwort muss ebenfalls auf der Hand liegen.

Gut, schauen wir uns noch einmal an, was wir haben. Prag, das Tribunal, den Fall des Duells zwischen Teplow und Donnikowa, Gorodezki und Edgar, beide auf Dienstreise… Alita könnte noch herkommen. Wer noch? Ach ja, die Regin-Brüder…

Stopp! Stopp, stopp und noch mal stopp!!!

Die Regin-Brüder! Die Diener Fafnirs!»Siehst du, Edgar, ich habe noch meine Pläne mit diesem albernen Dreigespann«, hatte Sebulon gesagt.

Fafnir!

Edgar versuchte, äußerlich ruhig zu bleiben, klappte das Tischchen hoch und setzte sich bequemer hin.Fafnir. Das käme den Dunklen allerdings vortrefflich zupass, der mächtige Fafnir, der Große Magier, der Zwielichtdrache

Allein ein kleiner Nachhall seiner Kraft, von Rohosa dem Spiegel aufgenommen, hatte es ermöglicht, eine Zauberin wie Swetlana aller Kraft zu berauben.

Und wenn Sebulon wirklich die Auferstehung Fafnirs plant, hätte er keinen besseren Ort und keine bessere Zeit in den vergangenen und in den kommenden hundert Jahren wählen können, resümierte Edgar, während er den Blick durch die Boeing schweifen ließ. Ja, so musste es sein.

Auf einen Blick der Stewardess hin legte Edgar den Sicherheitsgurt an. Das Flugzeug setzte zur Landung an.

Guten Tag, Prag…

Seine Ohren schienen wie mit Watte verstopft, doch das hinderte Edgar nicht am Denken.

Also eine Auferstehung. Eine Aktion, die die Dunklen seit fünfzig Jahren nicht mehr durchgeführt hatten, seit Stalin nicht. Freilich hatte sich auch keine Gelegenheit dazu geboten: Seit 1933 und 1947 waren die erforderlichen mächtigen energetischen Turbulenzen nicht mehr aufgetreten.

Warum hatte Sebulon Edgar nichts gesagt? War die Zeit dafür noch nicht reif? Wie passte die versteckte Warnung Juris dazu? Und wie hing die Geschichte, die sich im Sommer im Artek abgespielt hatte, damit zusammen? Denn zusammenhängen musste sie damit, ganz bestimmt. Ein Bauer war bereits geopfert. Traf es Jetzt eine wichtigere Figur? Und was sollte Edgar abgeben? Einen Springer oder einen Läufer? Die beiden Türme - das sind mit Sicherheit Juri und Nikolai, die Dame ist Sebulon, der König - das ist nichts andres als die Sache des Dunkels, die schutzlose und alles bestimmende Sache.

Der Turm hatte Edgar zu verstehen gegeben, das Gambit der Krim könne sich wiederholen, diesmal mit einem Offizier. Ein Springer wollte Edgar aus irgendeinem Grund nicht sein. Sollte doch Anna Tichonowna, diese Hexe und Missgeburt, den Gaul spielen, für sie wäre das genau das Richtige…

Das Flugzeug erbebte. Die Räder berührten die Landebahn. Einmal, zweimal. Der Flug ging in eine rasante, jedoch mit jeder Sekunde langsamer werdende Fahrt auf dem Beton über.

Sebulon plante doch nicht wirklich einen neuen Tausch, während er in aller Ruhe ein paar Bauern vorschob (die Regin-Brüder), in der Hoffnung, auf dem Brett möge, wenn nicht eine weitere schwarze Dame, so doch ein Turm auftauchen?

Die ausgetauschte Figur zu sein wäre jedenfalls peinlich.

Und was, wenn das gleichzeitig ein Examen ist?, überlegte Edgar. Eine Prüfung, ob ich überhaupt was tauge? Alissa hatte sich fressen lassen. Solche Figuren kann Sebulon in seinem Spiel nicht gebrauchen. Aber wenn Edgar seine Haut retten konnte, noch dazu ohne die Pläne des Chefs zu durchkreuzen… Ja, genau, das war es, was er erreichen musste!

Nur wie?

Das Objekt für den Tausch war Anton Gorodezki, der Liebling Sebulons. Das stand außer Frage. Er konnte ihn nicht endlos benutzen, das wusste der Chef der Tagwache ganz genau. Außerdem war längst nicht klar, ob es ihm auch gelingen würde, ihn zu benutzen… Sebulon war stets bereit, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und würde die Sache so hinstellen, als habe er den Lichten Magier getäuscht…

Die Passagiere erhoben sich und schlängelten sich zum Ausgang, einem ziehharmonikaartigen Schlauch, an den die Bewohner der ehemaligen UdSSR nicht gewohnt waren. Edgar langte nach seinem Mantel und warf ihn sich über die Schultern, während er die Zeitschrift in der Tasche am Vordersitz ließ, schnappte sich seinen Aktenkoffer und ging ebenfalls zum Ausgang.

Das Gefühl, nicht mehr in Russland, sondern in Europa zu sein, stellte sich unverzüglich ein und war seltsam umfassend. Es war nicht genau zu verstehen, worin es sich ausdrückte - in den Gesichtern der Menschen, ihrer Kleidung, in der Sauberkeit oder Ausstattung des Flughafens. In tausend Kleinigkeiten. In Durchsagen auf Tschechisch und Englisch ohne Rjasaner Akzent. Im Lächeln, das weitaus häufiger anzutreffen war. Im Fehlen von lästigen Zigeunern auf dem Platz vor dem Gebäude und nicht weniger lästigen Schwarztaxifahrern.

Dafür gab es am Stand zugelassene Taxis, freundliche gelbe Opel.

Der Taxifahrer plauderte gleichermaßen fließend auf Russisch, auf Englisch und natürlich in seiner Muttersprache Tschechisch mit ihm. Wohin? Ins Hotel. Ich vermute, ins Hilton. Oh! Es kommt nicht häufig vor, dass man Russen ins Hilton bringt. Und die, die sich dort tatsächlich einquartieren, das sind andre: behangen mit Gold, wichtige Persönlichkeiten, mit Bodyguards, in teuren Limousinen… Aber ich bin kein Russe, sondern Este. Stimmt, jetzt ist das nicht mehr dasselbe… Früher allerdings auch nicht. Ach ja, aber früher galten auch die Tschechen fast als Russen… Hm, ja. Darüber könnte man natürlich streiten.

Der Taxifahrer lenkte ihn mit seinem Geplauder ab, und Edgar beschloss, seine Überlegungen ruhen zu lassen. Schließlich würde er am Tag seiner Ankunft ohnehin noch nicht ernsthaft arbeiten. Da konnte er sich ruhig entspannen - natürlich bei dem einen oder andern Glas Bier. Wer würde bei klarem Verstand und gesundem Magen (oder auch bei krankem) ein Glas echtes tschechisches Bier nicht zu schätzen wissen?

Nur ein Toter.

Wie in jedem Hilton fand sich selbst in dem vor Weihnachten von Touristen überquellenden Prag ein freies Zimmer. Aber wie in jedem Land, das sich von den Ketten des Sozialismus noch nicht ganz befreit hatte, kostete es für einen NichtAnderen eine Unsumme Geld. Edgar war ein Anderer, weshalb er sofort bezahlte, ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl man das offenbar von ihm erwartet hatte. LetztenEndes war er doch ein Russe, sah aber nicht wie ein Mafioso beziehungsweise Neureicher aus… In jungen Jahren hätte sich Edgar nicht beherrschen können und dem Mann an der Rezeption seinen argentinischen Pass unter die Nase geknallt, doch seit dieser Zeit war er hundert Jahre herangereift. Ganze hundert Jahre.

Deshalb begnügte er sich mit dem russischen.

Bei der Registrierung - bei der, die nicht für alle ist - saß er einem Dunklen gegenüber. Der einer sehr seltenen Spezies angehörte: den Schraten. Während er Edgar betrachtete, beleckte er die schmalen Lippen und riss die spaltartigen Augen auf. Erst dann lächelte er: Seine Zähne waren klein, scharf und alle dreieckig.

»Hallo! Zum Tribunal?«

»Hm.«

»Nimm das…«

Er warf Edgar einen Klumpen blauen Lichts zu, die temporäre Registrierung. Der Klumpen durchdrang ohne weiteres die Kleidung und setzte sich auf Edgars Brust als ovales, im Zwielicht leuchtendes Siegel fest.

»Danke.«

»Heizt denen ein, auf dem Tribunal«, bat der Schrat. »Wie es sich gehört. Jetzt ist unsere Zeit…«

»Ich werde mir alle Mühe geben«, versprach Edgar seufzend.

Er ging nur kurz in sein Zimmer, um sich zu waschen und den Aktenkoffer abzustellen.

Gut, dachte Edgar begeistert, als er mit dem Fahrstuhl wieder nach unten fuhr, jetzt ab in den Schwarzen Adler! Dort bestelle ich mir natürlich gebackene Wildschweinkeule. Dieses Essen war so beliebt, das er sogar einmal in einem Fantasy-Thriller auf sein Rezept gestoßen war.

Während Edgar auf sein Essen wartete, trank er in kleinen Schlucken sein zweites Glas Bier (das erste hatte er nach russischem Brauch auf ex geleert und sich damit ein billigendes Nicken des Kellners verdient) und versuchte, seine Gedanken weiterzuentwickeln. Irgendetwas störte ihn dabei. Oder irgendjemand.

Er blickte auf und sah Anton Gorodezki, der neben seinem Tisch stand und Edgar unverwandt anstarrte.

Edgar erschauerte, da er glaubte, man verfolge ihn. Doch in Gorodezkis Augen leuchtete dieselbe Verwirrung, worauf Edgar sich sofort wieder beruhigte. Ein Zufall… das war nicht mehr als ein Zufall.

Und noch etwas: Es gab keine freien Plätze mehr. Nur noch an Edgars Tisch.

Einem unerwarteten Impuls folgend, nickte Edgar dem Lichten zu. »Setz dich. Ich bin nicht im Dienst. Und dir wünsche ich dasselbe - lassen wir sie, die Arbeit!«

Anton zögerte. Edgar glaubte schon fast, er werde weggehen, doch dann überwand Anton sich. Er kam auf ihn zu und setzte sich Edgar gegenüber. Düster blickte er ihn an. Offenbar glaubte er nicht, dass Edgar, sein eingeschworener Feind, nur seine Freizeit genoss. Wie drücken es die Lichten aus? Derjenige, dem du einmal in einem Kampf gegenübergestanden hast, ist für immer dein Feind.

Quatsch. Spinnerei. Edgar zog Flexibilität vor. Wenn ihm jetzt ein Bündnis mit demjenigen, den er noch gestern mit der»Geißel Schaabs«durchgepeitscht hatte, vorteilhaft erschien, warum sollte er es dann nicht eingehen? Freilich gab es nach einer Behandlung mit der»Geißel Schaabs«kaum jemanden, mit dem man ein Bündnis hätte eingehen können… Doch wohl nicht mit der Asche?

»Kein Wort über die Wachen?«, fragte Anton ironisch.

»Kein Wort«, versicherte Edgar. »Nur zwei Landsleute kurz vor Weihnachten in Prag. Ich habe gebackene Wildschweinkeule bestellt. Das kann ich nur empfehlen!«

»Danke, ich kenn's«, meinte Anton, nach wie vor ohne die Andeutung eines Lächelns, und drehte sich dem heraneilenden Kellner zu.

Nein, diese Europäer können einfach nicht verstehen, was richtiger Frost, was richtiger Winter ist… Anton trat aus der Metrostation Malostranskä und überlegte, ob er den Jackenkragen hochschlagen sollte, entschied sich dann aber dagegen.

Nur ganz leichter Schnee. Gerade mal zwei Grad unter Null.

Langsam, ohne Eile schlenderte er die Straße entlang, das alte Kopfsteinpflaster hinunter. Manchmal betrachtete er im Vorbeigehen die Souvenirstände - komisches Holzspielzeug, Keramikgeschirr von seltsamer Form, Ansichtskarten mit Motiven von Prag, T-Shirts mit skurrilen Aufschriften. Letztendlich würde er doch etwas kaufen müssen. Zur Erinnerung, wie man so sagte. Beispielsweise ein T-Shirt mit der Aufschrift Born to be wild und einer lustigen Fratze.

Bis zum Treffen mit dem Vertreter der Inquisition blieben noch fast drei Stunden. Es würde noch nicht einmal nötig sein, ein Taxi zu nehmen oder mit der Metro zu fahren. Er konnte in Ruhe Mittag essen und zu Fuß zum genannten Ort gehen. Ein Treffen unter der Rathausuhr - was könnte es Romantischeres geben?

Womöglich stellte sich der Vertreter der Inquisition ja als Frau heraus, noch dazu als hübsche und obendrein als Lichte? Dann wäre die Romantik perfekt.

Anton musste über diese Gedanken lachen. Er verspürte nicht den geringsten Wunsch, fremdzugehen und eine Affäre anzufangen. Zudem ließen sich auf die Inquisitoren die Begriffe»Lichter«und»Dunkler«gar nicht anwenden. Sie standen außerhalb der hohen Kräfte.

Vielleicht waren auch die Begriffe»Mann«und»Frau«nicht auf sie anzuwenden? Soviel Anton wusste, hatte der Lichte Moskauer Magier namens Maxim, der in ihren Untersuchungen als der Wilde lief, die Scheidung eingereicht, nachdem er Inquisitor geworden war. * Allem Anschein nach verloren sie jedes Interesse an kleinen menschlichen Dummheiten wie Liebe, Sex, Eifersucht…

Der Schwarze Adler war eins von Antons Lieblingsrestaurants in Prag. Möglicherweise einfach deshalb, weil er mehrmals dort gewesen war, als er das erste Mal Prag besucht hatte. Braucht ein russischer Mensch viel, um glücklich zu sein? Eine gute, aber unaufdringliche Bedienung, leckeres Essen, das wundervolle Bier und niedrige Preise. Der letzte Punkt war recht wichtig.

Es waren die Dunklen, die es sich leisten konnten, nicht aufs Geld zu achten. Selbst Rohosa, vom Zwielicht hervorgebracht, war mit den Taschen voller Dollar in Moskau aufgetaucht. Geld konnte man auch mit ehrlicher Arbeit verdienen, aber auf ehrliche Weise zu viel Geld zu kommen, das ging nie, dafür musste man das eigene Gewissen immer ein wenig überlisten. Und in diesem Punkt unterlag die Nachtwache der Tagwache stets.

Die Straße, die er entlangging, teilte sich. Wie ein Fluss, in dessen Mitte eine schmale lange Insel lag, auf der einige alte, flachere Gebäuden standen, meist Restaurants und Souvenirläden. Der Schwarze Adler fand sich im ersten.

Bereits an der Tür stieß Anton auf den Lichten.

Nein, das war kein Mitarbeiter irgendeiner Tagwache. Sondern einfach ein Anderer, der der vordersten Linie im magischen Krieg ein fast normales, ein fast menschliches Leben vorzog. Ein großer, schlanker schöner Mann in mittleren Jahren, der die Uniform eines Offiziers der amerikanischen Luftwaffe trug. Er verließ das Restaurant gerade, ganz offenkundig zufrieden mit der hier verbrachten Zeit, seiner Freundin, einer attraktiven Tschechin, und sich selbst.

Anton entdeckte er nicht gleich, so war er ins Gespräch vertieft. Doch als er ihn bemerkte, erstrahlte auf seinem Gesicht ein breites Lächeln.

Jetzt gab es kein Entkommen mehr - Anton nahm vom verschneiten Steinboden seinen Schatten auf und trat ins Zwielicht. Wie ein Baldachin aus Watte senkte sich Stille herab. Die Welt bremste ab, verlor ihre Farben. Die Auren der Menschen loderten in verschwommenen Regenbögen auf - in der Regel ruhige, ausgeglichene Auren, die nicht von überflüssigen Gedanken belastet wurden. Genau so sollte es an einem Ort für Touristen sein.

»Hallo, Wächter!«, begrüßte ihn der Amerikaner fröhlich. Hier, in der Zwielicht-Welt, gab es keine Verständigungsprobleme.

»Guten Abend, Lichter«, erwiderte Anton. »Ich freue mich, dich zu sehen.«

»Prager Wache?«, vermutete der Amerikaner. Die Aura des Wächters hatte er erkannt, die Details jedoch nicht. Bei ihm selbst handelte es sich übrigens um einen recht schwachen Magier. Vielleicht sechster Grad, außerdem mit einem starken Hang zur traditionellen Magie. In der Wache war er wirklich fehl am Platze. Vielleicht hätte er irgendwo in der Provinz hocken und ebenso schwache Dunkle, kleine Hexen und Tiermenschen, im Auge behalten können.

»Die Moskauer.«

»Oh! Die Moskauer Wache!«Jetzt schwang in der Stimme des Amerikaners offene Bewunderung mit. »Eine starke Wache. Lass mich dir die Hand schütteln.«

Sie gaben sich die Hand. Der amerikanische Flieger schien in ihrer Begegnung eine würdevolle Bereicherung seines Abends zu sehen.

»Hauptmann Christian Vanover jr., Magier sechsten Grades. Brauchst du meine Hilfe, Wächter?«Die formale Anfrage war mit der gebotenen Seriosität vorgebracht worden. »Ich danke dir, Lichter.

»Nein, Hilfe ist nicht nötig«, erwiderte Anton ebenso höflich.

»Machst du hier Urlaub?«, fragte Christian.

»Nein. Ich bin dienstlich hier. Trotzdem brauche ich keine Hilfe.«

»Ich habe Weihnachtsferien«, meinte der Hauptmann nickend. »Meine Einheit ist im Kosowo stationiert, und ich habe beschlossen, mir Prag anzusehen.«

»Eine gute Wahl«, bestätigte Anton. »Eine schöne Stadt.«

Er wollte das Gespräch nicht fortsetzen. Doch der Amerikaner floss von Gutmütigkeit über. »Eine herrliche Stadt! Wie gut, dass wir sie während des Zweiten Weltkriegs gerettet haben.«

»Ja, wir haben sie gerettet…«, nickte Anton.

»Hast du in diesen Jahren mitgekämpft, Wächter?«

Anton sah ein, dass in der Tat ein schwacher Magier vor ihm stand. Er konnte das tatsächliche Alter nicht sehen, noch nicht einmal annähernd…

»Nein.«

»Ich war damals auch noch zu jung«, seufzte der Amerikaner. »Ich habe davon geträumt, zur Armee zu gehen, doch ich war erst fünfzehn. Schade, denn dann hätte ich ein halbes Jahrhundert eher hierher kommen können…«

Anton gelang es gerade noch, sich den Satz zu verkneifen, dass dafür gleichwohl geringe Chancen bestanden hatten, schließlich waren die amerikanischen Truppen nicht in Prag einmarschiert. Doch gleich darauf schämte er sich seines Gedankens.

»Na, dann viel Glück«, verabschiedete sich der Amerikaner endlich. »Irgendwann werde ich ganz bestimmt mal nach Moskau kommen, Wächter!«

»Nur nicht auf die Weise wie ins Kosowo.«Diesmal schaffte es Anton nicht, sich auf die Zunge zu beißen. Doch der Hauptmann Christian Vanover jr. nahm es ihm nicht krumm. Im Gegenteil, auf seinem Gesicht lag ein strahlendes Lächeln. »Nein, ich glaube, dazu wird es doch wohl nicht kommen«, meinte er. »Das Licht sei mit dir, Wächter!«

Anton trat nach dem Amerikaner aus dem Zwielicht. Der hakte sich erneut bei seiner Freundin ein, die von alldem nichts bemerkt hatte, und zwinkerte Anton verschmitzt zu.

»Der Saft sei mit dir…«, murmelte Anton auf Russisch.

Mist! Die gute Stimmung war verflogen und so gründlich dahingeschmolzen wie ein Stück Eis in einer glühenden Bratpfanne.

Er konnte sich tausendmal in Erinnerung rufen, dass Auseinandersetzungen und Streitigkeiten zwischen Staaten sich nicht auf die Beziehungen von Licht und Dunkel auswirkten. Man musste zugeben, dass ein Magier, der als Flieger an einem Krieg teilnahm, höchstwahrscheinlich keine Bomben auf die friedliche Bevölkerung abwerfen würde. Und trotzdem…

Doch wie brachte er es fertig, Angriffe zu fliegen, Bomben über den Köpfen von Menschen zu zünden und dennoch ein Lichter zu bleiben? Denn ein Lichter war er, ohne Zweifel! Dabei hatte er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Menschenleben auf dem Gewissen. Wie schaffte er es, nicht ins Zwielicht abzustürzen? Wie stark musste er an die eigene Wahrheit glauben, um eine Armee, eine kämpfende Armee, und die Sache des Lichts unter einen Flut zu bringen?!

Finster und bedrückt betrat Anton den Schwarzen Adler.

Und erblickte sofort die Kameraden von Christian Vanover. Zehn Männer, alles gewöhnliche Menschen. Sie saßen an einem langen Tisch, aßen Gulasch und tranken Sprite.

Ehrenwort, sie tranken Sprite!

In einer tschechischen Bierstube! Im Urlaub!

Und nicht, weil sie sich an eine Prohibition hielten. Auf dem Tisch standen auch einige leere Bierflaschen. Amerikanisches Budweiser, das Anton nur trinken würde, wenn er in der Wüste am Verdursten war. Anton ging an den Amerikanern vorbei. Freie Tische gab es nicht mehr. Schon wieder Pech… Doch da hinten saß jemand allein, vielleicht konnte er sich dazusetzen…

Der Mann hob den Kopf und erschauderte. Genau wie Anton im selben Moment.

Es war Edgar.

Drei

Was man den Dunklen nicht nehmen kann, das ist ihre Lebensfreude. Diesbezüglich hegte Anton keinerlei Zweifel, Man brauchte sich nur anzusehen, mit welchem Appetit Edgar die ausgesprochen leckere und vermutlich von Diätisten nicht gerade empfohlene Schweinshaxe verputzte, die er mit Meerrettich und Senf würzte, der - obwohl reichlich scharf - für einen Russen natürlich zu süß war. Das Ganze rundete er mit einer tüchtigen Portion Bier ab.

Das verblüffte Anton stets aufs Neue. Selbst seine Nachbarn, die Vampire, mit denen er einmal recht gut befreundet gewesen war, wirkten mitunter lebendiger und lebenslustiger als die Lichten Magier. Die höchsten Magier natürlich - jene, deren Kraft sich mit Antons vergleichen ließ - hatten sich als Menschen noch nicht ausgetobt.

Eins nur war unangenehm: Ihre Lebensfreude erstreckte sich in der Regel nur auf sie selbst.

Anton hob den schweren Seidel mit hellem Budweiser. »Prosit«, murmelte er.

Wie gut, dass der tschechische Brauch es nicht verlangte anzustoßen. Mit einem Dunklen hätte Anton das nicht gern getan.

»Prosit«, erwiderte Edgar. Genussvoll leerte er die Hälfte des Glases mit zwei Schlucken und wischte sich den Schaum ab. »Das ist gut.«

»Stimmt«, pflichtete Anton ihm bei, obwohl sich seine Anspannung nicht legte. Nein, natürlich brauchte er sich nichts vorzuwerfen, weil er mit einem Dunklen Bier trank. Die Gesetze der Nachtwache verboten den Kontakt mit den Dunklen nicht, im Gegenteil: Wenn ein Mitarbeiter von seiner Sicherheit überzeugt war, wurde dies sogar begrüßt. Vielleicht konnte man etwas in Erfahrung bringen oder - hol's das Dunkel! - sein Gegenüber beeinflussen. Ihn natürlich nicht fürs Licht gewinnen… ihn aber doch wenigsten von der nächsten Gemeinheit abhalten. »Wie schön, dass wir wenigstens einmal Anlass haben, einer Meinung zu sein«, meinte Anton zu seiner eigenen Überraschung.

»Stimmt.«Edgar versuchte freundlich und korrekt zu sprechen, damit der Lichte sich nicht in die Idee hineinsteigerte, er solle wieder einmal beleidigt oder beschuldigt werden. »Ob man tschechisches Bier in Moskau oder in Prag trinkt, das ist ein großer Unterschied.«

Gorodezki nickte. »Genau. Vor allem wenn man an Flaschenbier denkt. Tschechisches Bier in Flaschen, das ist die Leiche echten Biers in einem gläsernen Sarg.«

Edgar grinste und drückte damit sein Einverständnis aus. »Aus irgendeinem Grund fehlt den Bierbrauern im übrigen Osteuropa das Talent.«

»Selbst in Estland?«, fragte Anton.

Edgar zuckte mit den Schultern. Die Lichten würden sich nie eine Gelegenheit zum Sticheln entgehen lassen.

»Unser Bier ist gut, aber nicht hervorragend. Genau wie in Russland übrigens auch.«

Anton runzelte die Stirn, als versuche er sich an den Geschmack russischen Biers zu erinnern. »Diesen Sommer war ich in Ungarn«, wechselte er dann jedoch das Thema. »Da ist Dreher fast die einzige einheimische Marke.«

»Und?«

»Lieber hätte ich sauer gewordenes Baltika trinken sollen.«

Edgar schmunzelte. Selbst als er sein Gedächtnis etwas bemühte, konnte er sich an keine ungarische Biermarke erinnern. Doch so wie sich Anton darüber äußerte, war es wohl auch besser, sich nicht zu erinnern. Vom Bier verstand sein Gesprächspartner etwas. Und zwar nicht zu wenig. Überhaupt lieben die Lichten die Sinnesfreuden, das musste man einräumen.

»Und diese… ruhmreichen Soldaten… trinken ihre heimatliche Plörre.«Anton nickte zu den Amerikanern hinüber. »Die Friedensstifter… Die Asse Görings…«

Sowohl Edgar wie auch Anton hatten die gebackene Wildschweinkeule seit langem aufgegessen. Auch Bier hatten sie schon reichlich getrunken, weshalb ihre Augen leicht glänzten, die Stimme lauter und zwangloser erklang.

»Wieso Göring?«, wunderte sich Edgar. »Das sind doch keine Deutschen, sondern Amis.«

»Die Asse der Air Force der USA - wie klingt denn das?!«, erklärte Anton so geduldig, als rede er mit einem Kind. »Kennst du irgendeine kurze und prägnante Bezeichnung der amerikanischen Luftwaffe?«

»Nein.«

»Siehst du. Also meinetwegen die Asse Clintons. Die Deutschen wussten immerhin, dass gegen sie damals genau solche Flieger gekämpft haben, die hier aber haben ihre Bomben auf Siedlungen abgeworfen, deren einzige Verteidigung Flak aus dem Zweiten Weltkrieg war… Dafür sind sie dann auch noch ausgezeichnet worden. Frag sie doch mal, ob ihnen überhaupt etwas im Leben heilig ist. Bis heute glauben sie, dass sie 1945 Prag befreit haben.«

»Heilig?«Edgar grinste. »Wozu sollte ihnen etwas heilig sein? Sie sind Soldaten.«

»Weißt du, Anderer, ich glaube, selbst Soldaten sollten in erster Linie Menschen sein. Und Menschen müssen etwas haben, das sie in ihrer Seele heilig halten.«

»Für den Anfang reicht es, wenn sie eine Seele haben. Erst dann kommt das Heilige. Oh! Fragen wir doch gleich mal!«An ihrem Tisch zwängte sich gerade ein rotwangiger amerikanischer Flieger vorbei, funkelnd mit Tressen und anderem Lametta behangen. Ein frisches Gesicht, der ganze Stolz von Texas oder Oklahoma. Der Flieger kam vermutlich vom Klo zurück.

»Entschuldigen Sie bitte, Offizier! Darf ich Sie etwas fragen?«, sprach Edgar ihn in flüssigem Englisch an. »Gibt es etwas in Ihrem Leben, das Ihnen heilig ist? Etwas, das Ihnen viel bedeutet?«

Der Amerikaner blieb stehen, als sei er gestolpert. Sein Instinkt sagte ihm, dass ein Soldat des allerbesten Landes der Welt verpflichtet ist, das Gesicht zu wahren und eine würdige Antwort zu geben. Seine Miene spiegelte anstrengende Denkarbeit wider - und plötzlich ein Aufleuchten! Die Offenbarung. Der Amerikaner hatte doch noch etwas gefunden, das ihm heilig war. Ein stolzes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. »Etwas, das mir heilig ist? Natürlich, habe ich das. Die Chicago Butts…«

Selbst die Magier vermochten nicht zu sagen, ob er scherzte oder ob er das völlig ernst meinte.

»Weißt du, es ist wie eine Partie Schach«, erklärte Edgar. »Die Leitung bewegt einfach auf dem Brett ihre unpersönlichen Figuren: uns.«

Die Augen des Kellners wurden proportional zu der von Anton und Edgar bestellten Menge Bier immer größer. An diesen Tisch hatte er bereits so viele große Seidel gebracht, dass es für das gesamte amerikanische Luftgeschwader und die Chicago Bulls obendrein gereicht hätte. Die beiden Russen saßen jedoch immer noch da, fanden kein Ende, obwohl nicht zu übersehen war, was für eine Mühe ihnen das Sprechen inzwischen bereitete.

»Nimm doch nur mal dich und mich«, fuhr Edgar fort. »Du trittst in diesem Prozess als Verteidiger auf. Ich als Ankläger.

Trotzdem stellen wir keine bedeutsame Größe dar. Wir sind auch jetzt nur Figuren auf dem Spielbrett. Bei Bedarf schickt man uns an die vorderste Front. Bei Bedarf nimmt man uns für bessere Zeiten zur Seite. Wenn sie wollen, tauschen sie uns ab. Worum geht es denn bei diesem Prozess eigentlich? Es ist der Tanz um einen trivialen Abtausch herum. Euer Igor für unsre Alissa. Das ist alles. Sie sind aufeinander losgegangen wie Spinnen im Glas und wurden vom Brett genommen. Im Namen hehrer und für uns unerforschlicher Ziele.«

»Da liegst du falsch.«Anton drohte ihm streng mit dem Finger. »Geser hat nicht gewusst, dass Igor mit Alissa zusammenstoßen würde. Das war eine Intrige Sebulons!«

»Woher nimmst du diese Sicherheit?«, fragte Edgar amüsiert. »Bist du so ausgebufft, dass du in Gesers Seele lesen kannst wie in einem offenen Buch? Soweit ich weiß, weiht die Leitung der Lichten ihre Mitarbeiter ebenfalls nicht gerade bereitwillig in ihre geheimen Pläne ein. Die hohe Politik der hohen Kräfte!«, deklamierte er lautstark und schulmeisterlich.

Anton wollte nur zu gern widersprechen. Doch überzeugende Einwände hatte er bedauerlicherweise nicht zur Hand.

»Oder nehmen wir die letzte Auseinandersetzung in der Lomonossow-Universität. Sebulon hat dich benutzt. Tut mir leid, das hörst du wahrscheinlich nicht gern, aber wo wir schon einmal mit dem Thema angefangen haben… Also, Sebulon hat dich benutzt. Sebulon! Dein eingeschworener Feind!«

»Er hat mich nicht benutzt.«Anton zögerte, fuhr dann aber doch fort. »Er hat versucht, mich zu benutzen. Und ich habe versucht, die Situation zu unsern Gunsten auszunutzen. Du weißt, wie das ist - im Krieg.«

»Gut, dann hat er es eben nur versucht«, stimmte Edgar geringschätzig zu. »Gut… Aber Geser hat nichts - nichts! - unternommen, um dich zu schützen. Warum sollte er seinen Bauern zu Hilfe kommen? Das ist unökonomisch und sinnlos.«

»Was ihr mit euern Bauern macht, ist auch nicht besser«, bemerkte Anton finster. »Die niederen Anderen, die Vampire und Tiermenschen, seht ihr nicht mal als gleichberechtigt an. Sie sind nur Kanonenfutter.«

»Sie sind wirklich Kanonenfutter, Anton. Billiger und nicht so wertvoll wie wir Magier. Aber im Grunde sind unsere Spitzfindigkeiten und Muskelspielereien völlig unsinnig. Wir sind Marionetten. Nur Marionetten. Aber es zum Puppenspieler zu bringen, haben wir nicht die geringste Chance, denn dafür sind die Fähigkeiten eines Geser oder eines Sebulon nötig, und diese Fähigkeiten kommen extrem selten vor. Außerdem sind die Plätze an den Spieltischen schon besetzt. Keiner der Spieler würde seinen Platz einer Figur überlassen, nicht einmal der Dame oder dem König.«

Anton leerte mit finsterem Blick das Glas und stellte es lautlos auf den Bierdeckel mit dem Wappen des Restaurants.

Er war längst nicht mehr der junge Magier, der zum ersten Mal im Leben auf Jagd geht und eine wildernde Vampirin verfolgt. Schon lange nicht mehr, obwohl eigentlich nicht so viel Zeit vergangen war. Seitdem hatte er oft genug Gelegenheit gehabt, sich davon zu überzeugen, wie viel Dunkel im Licht steckte. Und die düstere Einstellung des Dunklen Edgar - wir sind doch eh nur Schräubchen im Getriebe der Großen Onkel, weshalb es am besten ist, Bier zu trinken und die Klappe zu halten - beeindruckte ihn sogar ein wenig. Und einmal mehr dachte Anton darüber nach, dass die Dunklen in ihrer scheinbaren Einfalt mitunter menschlicher waren als die Kämpfer für die hohen Ideale, die Lichten.

»Trotzdem liegst du falsch, Edgar«, sagte er schließlich. »Zwischen uns gibt es einen wesentlichen Unterschied. Wir leben für andre. Wir dienen, wir befehlen nicht.«

»So reden alle Herrscher der Menschen.«Bereitwillig tappte Edgar in die Falle. »Die Partei ist die Dienerin des Volkes. Erinnerst du dich noch?«

»Aber es gibt etwas, das uns von den Herrschern der Menschen unterscheidet.«Anton sah Edgar in die Augen. »Die Dematerialisierung. Verstehst du? Ein Lichter kann den Weg des Bösen nicht einschlagen. Wenn er begreift, dass er das Böse in dieser Welt vermehrt, geht er ins Zwielicht ein. Er verschwindet. Das ist schon mehrmals vorgekommen. Ein Lichter braucht bloß einen Fehler zu machen oder dem Dunkel ein wenig nachzugeben.«

Edgar kicherte leise. »Anton… da hast du die Antwort doch gleich mitgeliefert. Wenn er begreift… Und wenn er es nicht begreift? Erinnerst du dich noch an den wahnsinnigen Heiler? Vor zwölf Jahren, wenn mich nicht alles täuscht…«

Anton erinnerte sich. Er war damals noch nicht initiiert, doch diesen einmaligen Fall nahm jeder Mitarbeiter der Wachen durch, jeder Lichte.

Ein einfacher Heiler mit starken Anlagen zur Prophezeiung. Er lebte bei Moskau, arbeitete nicht aktiv in der Nachtwache, zählte jedoch zur aktiven Reserve. Von Beruf Arzt, griff er in seiner Praxis zu Lichter Magie. Die Patienten vergötterten ihn - er wirkte wahrhaftig Wunder…

Doch er tötete auch Patientinnen, junge Frauen. Nicht auf magische Weise, sondern schlicht mit Gift. Ab und an durch Akupunktur, denn die energetischen Punkte des menschlichen Körpers kannte er vorzüglich…

Die Nachtwache kam ihm fast zufällig auf die Spur. Einer der Analytiker interessierte sich für die sprunghafte Zunahme der Todesrate von jungen Frauen in dieser kleinen Stadt bei Moskau. Vor allem frappierte ihn, dass die meisten Opfer schwanger waren. Außerdem verzeichnete man hier eine ungeheure Zahl von Fehlgeburten, Abtreibungen und Totgeburten. Die Dunklen gerieten in Verdacht, die Vampire und Tiermenschen, Satanisten und Hexen… Wen hatten sie nicht alles überprüft!

Dann nahm sich Geser der Sache an, und der Mörder wurde gefasst. Ein Lichter Magier…

Er hatte die Zukunft einfach zu genau vorausgesehen, dieser charmante, imposante Heiler. Und mitunter hatte er bei einer Untersuchung auch die Zukunft des ungeborenen Kindes seiner Patientin vorausgesehen, das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Mörder heranwachsen würde, zum Verrückten oder Verbrecher. Manchmal sah er, dass die Patientin selbst ein unglaubliches Verbrechen begehen oder zufällig für den Tod vieler Menschen verantwortlich sein würde. Irgendwann beschloss er, etwas dagegen zu tun. So gut er konnte…

Vor Gericht erklärte der Heiler voller Eifer, er habe auf lichte magische Handlungen verzichtet, weil sonst die Dunklen das Recht auf einen Gegenschlag gehabt hätten, womit das Böse auf der Welt nicht verringert worden wäre. So habe er sich einfach selbst daran gemacht, das»Unkraut zu jäten«. Davor, ins Zwielicht zu stürzen, hatte ihn die sichere Überzeugung bewahrt, die Summe des von ihm in der Welt vollbrachten Guten übersteige die des angerichteten Bösen bei weitem.

Geser selbst musste ihn dematerialisieren.

»Das war ein Psychopath«, erklärte Anton. »Einfach ein Verrückter. Mit einer typischen Zerrüttung des Denkvermögens… Solche Fälle gibt es nun einmal.«

»Wie auch der Waffengefährte von Jeanne d'Arc, Gilles de Rais«, konterte Edgar schlagfertig. »War das nicht auch ein Lichter? Der dann Frauen und Kinder ermordet hat, um aus ihren Körpern ein Jugendelixier zu gewinnen, den Tod zu besiegen und die ganze Menschheit zu beglücken.«

»Gegen Wahnsinn ist niemand gefeit, Edgar. Selbst die Anderen nicht. Doch wenn wir eine ganz normale Hexe nehmen…«, begann Anton hitzig.

»Ich will mich gar nicht streiten.«Edgar breitete friedfertig die Arme aus. »Aber es geht doch hier nicht um Extreme! Sondern einfach darum, dass dergleichen möglich ist, und euer viel gerühmter Schutzmechanismus, die Dematerialisierung… nennen wir ihn einfach das Gewissen… kann versagen. Und jetzt stell dir mal vor, Geser sei zu der Überzeugung gelangt, dein Tod werde dem Licht gewaltigen Nutzen bringen. Wenn in einer Waagschale Anton Gorodezki liegt und in der andern Millionen von Menschenleben.«

»Er bräuchte mich nicht täuschen«, sagte Anton mit fester Stimme. »Bestimmt nicht. Wenn eine solche Situation einträte, wäre ich bereit, mich zu opfern. Jeder von uns wäre dazu bereit!«

»Wenn er dir aber davon nichts sagen dürfte?«, schmunzelte Edgar zufrieden. »Damit der Feind nichts davon erfährt, damit du dich natürlich verhältst, damit du nicht unnütz leidest… Denn deinen Seelenfrieden zu bewahren gehört ebenfalls zu Gesers Pflichten.«

Zufrieden führte er das nächste Glas Bier an die Lippen. Geräuschvoll schlürfte er die Blume ab.

»Du bist ein Dunkler«, sagte Anton. »Du siehst in allem nur das Böse, den Verrat, die Gemeinheit.«

»Ich verschließe nur nicht die Augen davor«, parierte Edgar. »Und deshalb vertraue ich Sebulon nicht. Fast genauso wenig wie Geser. Selbst dir kann ich mehr vertrauen, denn du bist eine genauso unglückliche Figur, die bloß zufällig eine Farbe bekommen hat, die sich von meiner unterscheidet. Aber muss ein schwarzer Bauer einen weißen hassen? Nein. Vor allem dann nicht, wenn sich diese Bauern gegenübersitzen und friedlich Bier trinken.«

»Weißt du was?«, sagte Anton leicht verwundert. »Mir ist ein Rätsel, wie ihr leben könnt - mit dieser Weltsicht. Ich würde mich da sofort aufhängen.«

»Aber du kannst mir nichts entgegensetzen?«

Anton trank ebenfalls von seinem Bier. Die erstaunliche Besonderheit frisch gezapften tschechischen Biers besteht darin, weder den Körper noch den Kopf sonderlich schwer zu machen, selbst dann nicht, wenn man viel davon trinkt. Oder kam ihm das nur so vor?»Nein«, gab Anton zu. »Im Moment nicht. Aber ich bin mir sicher, dass du nicht Recht hast. Es ist nur schwierig, mit einem Blinden über die Farben des Regenbogens zu streiten. Dir fehlt etwas… was genau, weiß ich nicht. Aber etwas sehr Wichtiges, ohne das du hilfloser als jeder Blinder bist.«

»Wieso hilflos?«, erwiderte Edgar leicht beleidigt. »Hilflos seid eher ihr, die Lichten. Durch eure ethischen Prinzipien an Armen und Beinen gefesselt. Aber wer - wie zum Beispiel Geser - ein höheres Entwicklungsniveau erreicht hat, der lenkt euch.«

»Ich werde versuchen, dir zu antworten«, sagte Anton. »Aber nicht jetzt. Dafür werden wir uns noch einmal sehen müssen.«

»Weichst du der Antwort aus?«, kicherte Edgar.

»Nein. Aber wir haben uns vorgenommen, nicht von der Arbeit zu sprechen. So war es doch, oder?«

Edgar hüllte sich in Schweigen. Der Lichte hatte ihn in der Tat ausgetrickst, wenn auch nur ein bisschen. Warum hatte er sich bloß auf dieses sinnlose Streitgespräch eingelassen? Aus einem weißen Hund machst du keinen schwarzen, hieß es bei ihnen in der Tagwache.

»Stimmt«, räumte er schließlich ein. »Es ist meine Schuld, das gebe ich zu. Nur…«

»Nur dass es sehr schwierig ist, nicht über das zu sprechen, was uns trennt«, nickte Anton. »Das verstehe ich. Deshalb ist es nicht deine Schuld… sondern Schicksal.«

Er kramte in seinen Taschen und holte ein Päckchen Zigaretten heraus. Edgar registrierte automatisch, dass es sich um billige Zigaretten handelte, die russischen 21. Jahrhundert. Ach ja! Ein Dunkler Magier seines Grades konnte sich alle Freuden des Lebens leisten. Während Anton russische Zigaretten rauchte… und vermutlich nicht zufällig in diesem kleinen und gemütlichen, aber auch sehr preiswerten Restaurant gelandet war.

»Sagst du mir, wo du abgestiegen bist?«, fragte er.

»Im Kafka«, antworte Anton. »Das ist in Žižkov, in der Křemencova.«Also tatsächlich. Ein billiges Hotel ohne Renommee. Edgar nickte, während er beobachtete, wie der Lichte seine Zigarette anzündete. Irgendwie ungeschickt, als rauche er noch nicht lange oder nur sehr selten.

»Du bist im Hilton«, sagte Anton plötzlich. »Simmt's? Oder im Radisson SAS, äußerstenfalls.«

»Observiert ihr mich?«, fragte Edgar unwillkürlich voller Misstrauen.

»Nein. Nur zieht es alle Dunklen zu großen Namen und teuren Einrichtungen. Bei euch weiß man nämlich auch ganz gut, woran man ist.«

»Ja, und?«, fragte Edgar provozierend. »Bist du also ein Anhänger von Askese und einer ärmlichen Lebensweise?«

Anton sah sich mit einem ironischen Blick im Restaurant um, schaute auf die nahezu kläglichen Reste der Schweinshaxe auf dem beschnitzten Holzbrett und das wer weiß wie vielte Bier… Obwohl es irgendwie nicht nötig war zu antworten, tat er es. »Natürlich nicht, das sage ich ja gar nicht. Aber die Zahl der Betten und der Service sind nicht das Wichtigste in einem Hotel. Ebenso wenig wie der Preis für ein Essen auf der Speisekarte. Ich hätte auch ins Hilton gehen oder mein Bier in der teuersten Prager Kneipe trinken können. Aber wozu? Nimm doch nur dich: Weshalb bist du ausgerechnet hierher gekommen? Das ist doch nicht das angesagteste Restaurant!«

»Hier ist es gemütlich«, gab Edgar zu. »Und das Essen ist gut.«

»Genau das meine ich.«

»Ja!«, rief Edgar in einem urplötzlichen Ausbruch betrunkenen Großmuts aus. »Ich glaube, ich habe es verstanden. Worin der Unterschied zwischen uns besteht. Ihr versucht, eure natürlichen Bedürfnisse einzuschränken. Aus Bescheidenheit oder so… Wir dagegen leben auf größerem Fuß… Was die Kraft angeht, das Geld, Rohstoffe und menschliche Ressourcen…«

»Menschen sind keine Ressourcen!«Antons Blick wurde mit einem Mal bohrend und böse. »Verstehst du das? Sie sind keine Ressourcen!«

So war es immer… man brauchte nur Berührungspunkte zu erwähnen… Edgar seufzte. Was hatte man ihnen nicht alles weisgemacht, diesen Lichten. Ach, was nicht alles…

»Gut. Lassen wir das.«Er trank sein Bier aus. »Aber hier hat ein amerikanischer Pilot gesessen…«, konnte er sich dann doch nicht verkneifen. »Ein Lichter Magier obendrein… Eine echte Nullnummer, er hat mich noch nicht einmal bemerkt. Wollen wir wetten, dass er Menschen als Ressourcen sieht? Oder als minderwertige Rasse, als dumme und unverständige Rasse, die man züchten und bestrafen kann. Damit unterscheidet er sich nicht von uns.«

»Unser Unglück ist, dass wir ein Produkt der menschlichen Gesellschaft sind«, erwiderte Anton düster. »Mit all ihren Unzulänglichkeiten. Wenn die Lichten nicht bereits viele hundert Jahre gelebt haben, tragen selbst sie die Stereotypen und Mythen ihres jeweiligen Landes in sich, sei es nun Russland, Amerika oder Burkina Faso, das ist völlig egal. Warum spukt mir bloß ständig Burkina Faso im Kopf rum?«

»Einer dieser Idioten von den Regin-Brüdern ist aus Burkina Faso«, bot Edgar eine Erklärung an. »Und die Bezeichnung ist auch komisch.«

»Die Regin-Brüder…«Anton nickte. »Weshalb habt ihr euch mit denen eingelassen? Denn es war doch wohl einer aus der Moskauer Tagwache, der sie gerufen hat! Er hat Hilfe versprochen, die Aktivierung der Kralle des Fafnir… Wozu?«

»Ich weiß nur, was offiziell verbreitet wird!«, versicherte Edgar rasch. Das fehlte noch, dass diese Lichten ihn wegen eines Formfehlers drankriegten…

»Du brauchst es nicht zuzugeben, das ist gar nicht nötig!«Anton winkte ab. »Ich bin schließlich kein Kind mehr. Aber wenn wir eins nicht brauchen, dann ist es das Auftauchen eines wahnsinnigen Dunklen Magiers mit ungeheurer Kraft. »

»Das brauchen auch wir nicht«, erklärte Edgar. »Das wäre Krieg. Mit allem Drum und Dran. Das wäre die Apokalypse.«

»Dann habt ihr die Regin-Brüder also angelogen«, stellte Anton fest. »Ihr habt sie dazu überredet, das Berner Büro anzugreifen, die Kralle zu stehlen, nach Moskau zu fliegen… aber wozu? Um den Spiegel aufzutanken?«

Er denkt schnell, stellte Edgar insgeheim fest. Doch er schüttelte den Kopf, während er nach einer brillanten Erwiderung suchte. »Was für ein Quatsch! Wir haben überhaupt erst erfahren, wer dieser Witali Rohosa ist, nachdem die Kralle bereits geraubt und die vier überlebenden Kämpfer auf dem Weg nach Moskau waren.«

»Stimmt auch wieder!«, rief Anton plötzlich aus. »Du hast Recht, Dunkler! Das Auftauchen des Spiegels ließ sich nicht voraussagen, denn er ist ein elementares Produkt des Zwielichts. Das offizielle Kommunique der Inquisition bestätigt dass die Sekte den Sturm auf das Depot mit den Artefakten bereits zwei Wochen vor diesen Ereignissen geplant hat. Rohosa gab es damals noch gar nicht… genauer gesagt, es gab ihn, aber nicht als Spiegel, sondern als normalen Menschen, den das Zwielicht dann einer Metamorphose unterzog…«

Edgar biss sich auf die Lippe. Jetzt sah es so aus, als habe er dem Lichten etwas gesteckt… ihm eine Information zukommen lassen oder ihn einfach auf den richtigen Gedanken gebracht. Das sah nicht gut aus… Warum eigentlich nicht? Er selbst durchschaute die Situation ja auch nicht. Für ihn war das auch lebenswichtig. »Vielleicht wollte jemand das Büro der Inquisition aus Bern verjagen?«, dachte er schließlich laut.

»Oder hat beschlossen, es nach Prag zu verlegen…«

Sie starrten einander nachdenklich an, der Lichte und der Dunkle, beide gleichermaßen daran interessiert zu verstehen, was hier geschah. Der Kellner wollte schon auf sie zukommen, doch als er bemerkte, dass sie ihr Bier noch nicht ausgetrunken hatten, ging er zu den Amerikanern. »Das wäre eine Variante«, stimmte Edgar zu. »Doch die Operation mit der Kralle brauchten wir nicht! Versucht gar nicht erst, uns einen derartigen Schwachsinn anzuhängen!«

»Aber vielleicht«, sagte Anton plötzlich,»wart ihr darauf aus, eine andre Operation zu hintertreiben… unsre Operation? Und da kam euch die Kralle des Fafnir gerade recht?«

Edgar verfluchte sich selbst für seine Geschwätzigkeit. Natürlich nur im übertragenen Sinne. Kein Dunkler würde sich freiwillig einen Infernostrudel über den Kopf hängen.

»Wie kommst du denn darauf? Und was denn überhaupt für eine Operation…«, setzte er an. Und begriff sogleich: Indem er unversehens die Nachtwache zu verteidigen begann, bestätigte er im Grunde Antons Hypothese.

»Danke, Anderer«, sagte der Lichte nachdrücklich.

Während sich Edgar innerlich immer noch in den Arsch trat, erhob er sich. Es hieß ja nicht umsonst: Wenn du dich mit einem Lichten an einen Tisch setzt, schneid dir die Zunge ab und näh dir den Mund mit Draht zu!

»Ich muss jetzt gehen«, erklärte er. »Es war sehr schön… mit dir zu sprechen.«

»Gleichfalls«, stimmte Anton zu. Und streckte sogar die Hand aus.

Ihm nicht die Hand zu geben wäre dumm gewesen. Edgar ergriff die ausgestreckte Hand, legte einen Schein im Wert von fünfhundert Kronen auf den Tisch und ging schnell hinaus.

Anton lächelte ihm hinterher. Letzten Endes machte es Spaß, einen Dunklen zu verwirren, vor allem dann, wenn er zu den ersten Zehn der Tagwache gehörte. Dieser dicke Wächter glaubte jetzt tatsächlich, er habe ihm irgendein schreckliches Geheimnis verraten - obwohl er nichts beim Namen genannt hatte und Antons Version dumm war; und selbst wenn sie zufällig wahr sein sollte, so hatte Anton doch nichts Handfestes erfahren…

Er nickte dem Kellner zu und machte eine Geste, bei der ermit dem Finger etwas auf die offene Handfläche zu schreiben schien. Eine Minute später kriegte er die Rechnung.

Mit dem üblichen Trinkgeld belief sie sich auf Tausendundzwanzig Kronen.

Ach diese Dunklen…

Selbst wenn es um Kleinigkeiten geht, müssen sie geizen. Nach all den Anspielungen, wie erbärmlich die Nachtwache dastehe und wie ihre Mitarbeiter das Geld zusammenhielten…

Nachdem Anton bezahlt hatte, stand er auf (das Bier war nun doch zu spüren - sein Körper war angenehm, gleichzeitig aber auch beängstigend entspannt) und verließ den Schwarzen Adler. Zum Altstädter Ring, dem Rathausplatz, wo er sich mit dem Mitarbeiter des Europabüros der Inquisition treffen sollte, würde er es noch gerade so schaffen.

Hier wimmelte es stets von Touristen.

Vor allem zu Beginn einer Stunde, wenn im Rathausturm die alte astronomische Uhr zu schlagen begann. Dann öffneten sich zwei Fenster, in denen die Apostel erschienen, sich nach vorn bewegten, als ob sie den Platz überblicken wollten, und dann wieder im Innenleben des Mechanismus verschwanden Eine unermüdliche Wache des Altstädter Rings.

Anton stand inmitten der Touristen, die Hände in den Ta schen vergraben - die Finger froren doch, und Handschuhe hatte er aus irgendeinem Grund noch nie gern getragen. Um ihn herum surrten leise Videokameras, klickten die Auslöser der Fotoapparate, tauschte die vielsprachige Menge Eindrücke vom Besuch einer weiteren obligatorischen Sehenswürdigkeit aus. Er vermeinte sogar, das Knirschen der Gehirne zu hören die einen Haken im Reiseführer für Prag machten: Uhr angu cken - erledigt.

Warum lief er unwillkürlich in dieser gesichtslosen Masse mit und hakte seine Programmpunkte innerlich ganz genauso ab? War er zu faul, sich selbst etwas einfallen zu lassen? Zu träge? Oder war das ein unausrottbarer Herdeninstinkt? Die Dunklen dürften schließlich nicht in der allgemeinen Menge trotten…

»Nein, ich verstehe dich nicht«, erklang es ein paar Schritte von ihm entfernt. »Ich bin im Urlaub, hörst du? Kannst du das nicht selbst entscheiden?«

Anton schielte zu seinem Landsmann hinüber. Eine besondere Freude war das nicht. Ein kräftiger Russe mit breiten Schultern und reichlich viel Gold. Teure Anzüge zu tragen hatte er bereits gelernt, aber eine Krawatte von Hermes binden - das konnte er nicht. Natürlich war die Krawatte gebunden, aber mit einem so furchtbaren»Kolchosknoten«, dass es peinlich anzusehen war. Unter dem offenen Mantel aus glutrotem Kaschmir lugte ein zerknautschter Schal hervor.

Der neureiche Russe fing seinen Blick auf, runzelte die Stirn, steckte das Handy weg und sah wieder zur Rathausuhr. Anton schaute woanders hin.

Die dritte Generation, so versprachen es die Analytiker. Sie müssten auf die dritte Generation warten. Der Enkel dieses reich gewordenen Mafioso, dem es gelungen war, am Leben zu bleiben, würde ein absolut anständiger Mensch sein. Sie mussten nur warten. Und im Unterschied zu Menschen konnten Andere Generationen warten. Ihre Arbeit zog sich über Jahrhunderte hin… zumindest die Arbeit der Lichten.

Die Dunklen hatten es dagegen leichter, die notwendigen Veränderungen im Bewusstsein der Menschen herbeizuführen. Der Weg des Dunkels ist stets kürzer als der des Lichts. Kürzer, leichter und angenehmer.

»Anton Gorodezki«, sagte jemand hinter ihm. Russisch war offenbar nicht die Muttersprache des Sprechers, obwohl er es vollendet beherrschte.

Die Intonation war unverwechselbar. Die beiläufige, leicht gelangweilte Intonation der Inquisitoren.

Anton drehte sich um, nickte und streckte die Hand aus. Der Inquisitor schien ein Tscheche zu sein. Ein hochgewachsener Mann unbestimmten Alters, der einen warmen grauen Mantel und eine Baskenmütze aus Wolle mit einer komischen Spange in Form von Jagdhörnen, Flinte und Hirschkopf trug. Man konnte sich ihn ohne weiteres in einem dämmrigen herbstlichen Park vorstellen: Langsam schritt er über den dicken Teppich aus bereits braun gewordenen Blättern, ein nachdenklicher, trauriger Mann, der an einen in seine Gedanken versunkenen Spion erinnerte.

»Vitezslav«, sagte der Inquisitor. »Vitezslav Grubin. Gehen wir.«

Sie kamen problemlos aus der Menge heraus, denn die Menschen wichen aus irgendeinem Grund vor dem Inquisitor zurück, obwohl dieser nicht auf seine Fähigkeiten als Anderer zurückgriff. Sie gingen durch ein schmales Gässchen und entfernten sich langsam von den müßiggängerischen Touristen.

»Wie war der Flug, Anton?«, wollte Vitezslav wissen. »Haben Sie sich schon erholt und etwas gegessen?«

»Danke, es ist alles in Ordnung.«

Die Freundlichkeit des Inquisitors - selbst wenn sie noch so formell sein mochte - überraschte und freute Anton.

»Brauchen Sie Hilfe von unserem Büro?«

Anton schüttelte den Kopf, ohne im Geringsten daran zu zweifeln, dass der ein paar Schritte vor ihm hergehende Vitezslav die Bewegung spürte.

»Gut«, antwortete der Inquisitor in nach wie vor gleichgültigem, wenn auch aufrichtigem Ton. »Wir haben sehr viel Arbeit… Die Verlegung des Europabüros von Bern nach Prag war für uns alle ein bedeutsames Ereignis. Wir sind sehr stolz… sehr stolz darauf. Aber unsere Abteilung ist nur sehr klein. Und es gibt jede Menge Arbeit.«

»Soweit ich weiß, hat die Inquisition in Prag wenig zu tun«, sagte Anton.

»Ja. Die Wachen hier sind sehr gesetzestreu. Sie verletzen den Großen Vertrag kaum.«

Da hat er Recht, dachte Anton. Die Inquisition beschäftigte sich stets mit den Zwistigkeiten der Wachen untereinander, der Verbrechen einzelner Anderer nahmen sich die Wachen selbst an. Auf die Dunklen in Prag dürfte indes die Atmosphäre eines normalen europäischen Landes kaum eine beruhigende Wirkung gehabt haben. Doch im Rahmen der Organisation hatten sie gelernt, die Gesetze zu achten.

Oder sie zumindest weniger augenfällig zu übertreten.

»Die Sitzung des Tribunals zum Fall Igor Teplow, Magier zweiten Grades, leitender Mitarbeiter der Nachtwache Moskaus, beginnt morgen Abend«, teilte Vitezslav mit. Anton fiel auf, dass Igor mit vollem Namen und dem ihm zukommenden Status genannt worden war und die Sitzung begann, und nicht stattfand. Demzufolge hatte die Inquisition noch keinen Beschluss gefasst. Und stellte sich auf einen langen Prozess ein…»Wollen Sie ihn sehen?«

»Ja, natürlich«, nickte Anton. »Ich habe ihm ein paar Briefe von Kollegen und ein paar Geschenke mitgebracht…«

Er verstummte. Der Satz von den Briefen und Geschenken klang irgendwie sehr bedeutungsschwer. Als brächte er tatsächlich jemandem im Gefängnis etwas. Oder besuche einen Schwerkranken…

»Ich bin mit dem Auto da«, sagte der Inquisitor. »Wir können jetzt in Ihr Hotel fahren, um die Sachen zu holen, und dann zu dem Arrestanten…«

»Igor… ist er irgendwo in der Inquisition?«

»Nein. Warum?«, antwortete Vitezslav mit einer Gegenfrage. Er blieb vor einem Skoda Felicia stehen, der am Straßenrand geparkt war. »Einen arrestierten Dunklen hätten wir vielleicht unter Beobachtung gestellt. Aber Ihr Mitarbeiter ist in einem gewöhnlichen Hotel. Er musste allerdings eine Erklärung unterschreiben, nicht auszureisen.«

Anton nickte und erkannte, wie überflüssig seine Frage gewesen war. In der Tat, warum hätten sie einen Lichten Magier ins Gefängnis stecken sollen?

»Entschuldigen Sie, Vitezslav…«, sagte er. »Mir ist klar, dass es für Ihre heutige Arbeit keine Bedeutung hat, aber ich würde gern wissen… einfach so, ohne jeden Hintergedanken… vielleicht könnte ich Sie auch sondieren, aber das widerspräche den Gepflogenheiten…«

»Was ich gewesen bin?«, fragte Vitezslav.

»Ja.«

Der Inquisitor holte den Schlüssel heraus, drückte einen Knopf am Schlüsselanhänger und schaltete damit die Alarmanlage ab. Dann öffnete er die Tür.

»Ich bin ein Vampir. War es, besser gesagt.«

»Ein Höherer?«, hakte Anton aus irgendeinem Grund nach.

Anton nahm auf dem Beifahrersitz Platz und schnallte sich an. Der Vampir Vitezslav ließ den Motor an, fuhr aber noch nicht los, damit der Motor sich erst warm laufen konnte.

»Verzeihen Sie mir, die Frage war wirklich idiotisch«, gab Anton zu.

»Natürlich, absolut idiotisch.«An übermäßiger Feinfühligkeit litt der Inquisitor nicht. »Soweit ich weiß, Anton, sind Sie noch sehr jung…«

Sanft, flüssig fädelte sich Vitezslav in den Verkehr ein. In welchem Hotel Anton abgestiegen war, fragte er natürlich nicht. Das war nicht nötig. »Sie hegen vermutlich einige Illusionen, was die Inquisition ist und welche Anderen für sie arbeiten«, sagte er. »Also gut… Lassen Sie mich Ihnen die nötigen Erklärungen geben. Die Inquisition repräsentiert keine dritte Kraft, wie viele einfache Mitarbeiter der Wachen glauben. Wir entwickeln uns auch nicht zu einer besonderen Art von Anderen, die weder zum Dunkel noch zum Licht gehört… Wir sind einfach Inquisitoren. Ausgewählt aus den Dunklen und Lichten, vorausgesetzt, wir haben - aus welchen Gründen auch immer - verstanden, wie notwendig der Große Vertrag und die Waffenruhe zwischen den Wachen ist. Ja, wir verfügen über bestimmte Informationen, die Ihnen, den Wächtern, nicht zugänglich sind - von den höchsten Magiern vielleicht abgesehen. Und glauben Sie mir, Anton Gorodezki, dass unser Wissen uns keine Freude bereitet. Wir sind dazu gezwungen, die Hüter des Großen Vertrages zu sein. Verstehen Sie das?«

»Ich versuche, es zu verstehen«, sagte Anton.

»Ich bin ein Vampir«, wiederholte Vitezslav leise. »Ein echter Höherer Vampir, der mehr als einmal eine junge Frau umgebracht hat… Energetisch gesehen gibt es nichts Besseres…«

»Auf einen Vortrag über die Physiologie der Vampire kann ich verzichten«, unterbrach Anton ihn. »Das ist mir unangenehm, glauben Sie mir das.«

Vitezslav nickte und schaute aufmerksam auf die Straße. Anton fiel plötzlich auf, dass das Auto noch ganz neu war, sauber, der Inquisitor es offenbar pflegte und stolz darauf war…

»Also gut, ich habe keine Seele oder zumindest kein Leben in dem Sinne, wie es die Lichten auffassen«, fuhr Vitezslav fort. »Die Sache des Lichts halte ich für naiv, gefährlich und teilweise sogar für eine verhängnisvolle Doktrin. Die Sache des Dunkels spricht mich dagegen sehr an. Aber…«

Er verstummte einen Moment, als müsse er einen komplizierten Gedankengang konstruieren.

»Aber ich kann mir die Alternative zur gegenwärtigen Situation gut vorstellen. Deshalb gehöre ich der Inquisition an. Deshalb bestrafe ich alle, die den Großen Vertrag verletzen. Beachten Sie das, Anton. Nicht diejenigen, die Unrecht haben, denn die Wahrheit gibt es immer mindestens in zwei Varianten. Nicht diejenigen, die nach vorn stürmen, denn es gab Zeiten, in denen das Licht über mehr Kraft verfügte, und Zeiten, in denen das Dunkel siegte. Die Inquisition ist nur der Hüter des Großen Vertrages. »

»Ich verstehe«, sagte Anton. »Natürlich. Was mich aber schon immer interessiert hat: Kann eine Situation entstehen, in der die Inquisition die eine oder andre Seite unterstützt? Sich nicht auf die Buchstaben des Vertrages bezieht, sondern auf die Wahrheit.«

»Es gibt mindestens zwei Wahrheiten«, wiederholte der Inquisitor. »Eine Situation…«

Er versank in Gedanken.

»Ich habe noch nie einen Lichten Inquisitor kennen gelernt, der seine Wache unterstützt hätte«, erklärte Anton. »Aber lässt sich das auch für Dunkle Inquisitoren sagen? Wie man es auch dreht und wendet, Sie haben Ihre Kräfte, Ihr geheimes Wissen. Von den konfiszierten Artefakten in den Depots ganz zu schweigen.«

»Möglich ist alles«, räumte der Vampir überraschend ein. »Ja… das gebe ich zu. Falls ein offener Krieg zwischen dem Dunkel und dem Licht ausbricht, nicht nur eine Schlacht zwischen den Wachen, sondern ein regelrechter Krieg zwischen Dunkel und Licht. Wenn jeder Andere auf seiner Seite der Front steht… Doch ob die Inquisition dann noch nötig ist? Dann werden auch wir wieder einfache Andere…«Er nickte. »Doch zu dieser Zeit existiert vermutlich schon gar keine Inquisition mehr«, fügte er schließlich hinzu. »Sie wäre untergegangen bei dem Versuch, eine solche Situation zu verhindern. Aber wir sind nicht sehr viele. Und das Verhalten einiger überlebender Anderer, die einst die Kittel der Inquisitoren getragen haben, würde nichts ändern.«

»Ich verstehe, was die Nachtwache veranlasst, den Vertrag einzuhalten«, sagte Anton. »Wir kämpfen für die Menschen. Und ich weiß, was die Tagwache antreibt, nämlich die Angst um sich selbst. Aber was bringt Sie, die Inquisitoren, dazu, gegen Ihr eigenes Wesen anzugehen?«

Vitezslav drehte ihm den Kopf zu. »Euch alle leitet nur die Angst, Anton Gorodezki«, sagte er leise. »Um euch selbst oder um die Menschen, das spielt keine Rolle. Aber uns leitet das Entsetzen. Deshalb halten wir den Großen Vertrag ein. Sie können wegen des Prozessausgangs beruhigt sein - es wird keine Unterstellungen geben. Wenn Ihr Kollege den Vertrag nicht verletzt hat, kann er Prag gesund und munter verlassen.«

Gegen Abend ließ Edgars Verzweiflung etwas nach. Vielleicht hatte ihm das gute Essen in einem teuren Restaurant geholfen, samt einer Flasche erlesenen tschechischen Weins (nun, kein französischer, kein spanischer, aber ein ziemlich guter). Vielleicht wirkte auch die Atmosphäre des weihnachtlichen Prags beruhigend auf ihn. An Gott glaubte Edgar natürlich nicht - wenige Andere und noch weniger Dunkle waren anfällig für solche überholten Ansichten. Aber das Weihnachtsfest selbst fand er reizend und ansprechend, weshalb er versuchte, es stets gebührend zu feiern.

Vielleicht lag das an Kindheitserinnerungen? Als er noch ein einfacher Bauernjunge namens Edgar gewesen war, der seinem Vater auf dem Hof half, in die Kirche ging und mit klopfendem Herzen jedes Fest erwartete. Oder kamen ihm die ungebetenen Erinnerungen aus den zwanziger, dreißiger Jahren in den Sinn, als er bereits ein Anderer war, aber noch nicht aktiv in der Wache arbeitete, in Tallinn lebte, eine gut gehende Anwaltskanzlei führte, eine prachtvolle Frau und vier Kinder hatte… Seine Eltern waren schon lange tot, auch seine Frau hatte er inzwischen begraben, von den beiden noch nicht verstorbenen Söhnen lebte einer in Kanada, der andre in Pärnu. Beide hatte er seit vierzig Jahren nicht gesehen. Es wäre den beiden alten Leuten schwer gefallen zu glauben, dass dieser jugendliche kräftige Mann ihr Vater war, der noch Ende des 19. Jahrhunderts auf die Welt gekommen war.

Ja, vermutlich sind es Erinnerungen, dachte Edgar bei sich, während er sich eine Zigarre anzündete. Trotz allem bot ein normales menschliches Leben doch viel Schönes. Vielleicht sollte er es mal wieder als Mensch versuchen? Heiraten, eine Familie gründen… sich für dreißig Jahre von der Wache beurlauben lassen…

Er lachte lautlos. Das war doch alles Quatsch. Man konnte nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Er hatte bereits als Mensch gelebt, hatte als einfacher Anderer gelebt, und jetzt war sein Platz in der Tagwache. Jungen wie Anton hatten es gut, mit ihrem ungebrochenen Eifer und ihren lebendigen Gefühlen, aber für Edgar schickte sich eine derartige Unruhe nicht mehr…

Edgar fing den Blick einer jungen Frau auf, die sich allein am Nachbartisch langweilte, und lächelte sie an. Ganz leicht nur berührte er ihr Bewusstsein.

Keine Prostituierte, sondern einfach eine junge Frau auf Abenteuersuche. Umso besser. Er mochte die Professionellen nicht, die ihn ohnehin nicht mehr erstaunen konnten.

Er rief den Kellner und bestellte eine Flasche Sekt.

Vier

Die Inquisition hatte es bei der Unterbringung des Arrestanten an nichts mangeln lassen. Das Hotel war anständig, die Suite zwar nicht de luxe, aber sehr schön, mit zwei Zimmern.

Anton verhielt kurz den Schritt, bevor er auf Igor zutrat.

Er hatte sich verändert…

Von Anfang an hatte Igor in der Wache als Fahnder gearbeitet. Er war ihr in den ersten Nachkriegsjahren beigetreten, als es ungeheuer viel Arbeit gab. Damals kam es einerseits zu einer Eruption lichter Gefühle, andererseits erlebten kleine Ganoven Hochkonjunktur… Außerdem erkannten bei der allgemeinen atheistischen Einstellung im Land die Menschen nur mit Mühe den Anderen in sich. Igor hatte sein Wesen leicht und voller Freude akzeptiert. Ihm schien es relativ egal zu sein, was er tat - mit dem Fallschirm im Rücken der Faschisten abzuspringen und Brücken in die Luft zu sprengen oder in Moskaus Straßen Vampire und Tiermenschen zu jagen. Solide dritte Kraftstufe, mit gewissen Chancen, sich weiterzuentwickeln, doch auch die dritte Stufe war bereits nicht wenig, wenn sie mit Erfahrung, Kühnheit und einem guten Reaktionsvermögen einherging.

Igor besaß all das im Übermaß. Höchstens an Erfahrung mangelte es ihm noch, aber manches Jahr seiner Arbeit in der Wache konnte durchaus für drei zählen. Vielleicht war er nicht so belesen und versiert wie Ilja oder Garik, hatte nicht an so vielen beeindruckenden Operationen teilgenommen wie Semjon, aber»im Feld«waren ihm nur wenige ebenbürtig. Und noch etwas hatte Anton immer gefallen: Igor war jung geblieben. Nicht nur körperlich, was ohnehin kein Problem für einen Magier seines Grades darstellte, sondern auch seelisch. Wer sonst hätte fröhlich zugestimmt, die fünfzehnjährige Julja aus der analytischen Abteilung zu begleiten, um ins tiefste Tuschino zu fahren, wo die Band Tequila Jazz ihr neues Album Hundertfünfzig Milliarden Schritte vorstellte? Wer sonst würde sich hingebungsvoll um einen Teenager voller Komplexe kümmern, der festgestellt hatte, dass er ein Anderer war? Wer würde fünf Jahre lang begeistert extremes Fallschirmspringen betreiben, nur um jene Theorie gründlichst zu überprüfen, derzufolge der Anteil von Anderen unter Extremsportlern höher ist als anderswo? Wer sonst erklärte sich immer als Erster bereit, mit einem Kollegen den Dienst zu tauschen oder die langweiligsten Aufgaben (für die gefährlichsten fanden sich immer Freiwillige) zu übernehmen? Vielleicht machte Anton da einen Fehler, aber in letzter Zeit gelangte er immer häufiger zu der Überzeugung, dass es weit nützlicher sei, wenn ihm ein zuverlässiger und lebenslustiger statt eines starken und durch Erfahrung klug gewordenen Kollegen den Rücken deckte. Der starke und kluge Wächter konnte immer durch eine Aufgabe abgelenkt werden, die wichtiger war als die, ihm Rückendeckung zu geben…

Der Andere, der jetzt vor Anton stand, sah weder stark noch lebensfroh aus. Igor war enorm abgemagert, in seinen Augen lag eine stumme, farblose Sehnsucht. Und noch etwas: Er schien kaum zu wissen, wohin mit seinen Händen… mal versteckte er sie hinterm Rücken, mal faltete er sie.

»Anton…«, sagte er schließlich. Ohne ein Lächeln, nur mit einem leichten Hauch von Freude. »Hallo, Anton.«

Einem plötzlichen Impuls folgend, trat er an Igor heran und umarmte ihn. »Hallo, hallo…«, flüsterte er. »Was machst du nur für Sachen…«

Vitezslav stand neben der Tür. »Ich werde Sie nicht offiziell zur Einhaltung der Besuchsordnung gegenüber dem Verdächtigen ermahnen… denn Sie sind beide Lichte«, sagte er leise. »Soll ich auf Sie warten, Gorodezki?«

»Nein, danke.«Anton trat von Igor zurück, ließ aber die Hand auf seiner Schulter. »Ich komme allein zurück.«

»Igor Teplow, die Sitzung des Tribunals zu Ihrem Fall findet morgen Abend statt, um sieben Uhr Ortszeit. Ein Auto wird sie um halb sieben abholen, halten Sie sich bereit.«

»Ich halte mich schon lange bereit«, sagte Igor leise. »Keine Sorge.«

»Alles Gute«, wünschte der Vampir freundlich und ging.

Die beiden Lichten blieben allein.

»Seh ich so erbärmlich aus?«, fragte Igor.

Anton wollte nicht lügen. »Das kannst du laut sagen. Wie der Tod auf Beinen. Man könnte denken, du bekämst nur Wasser und Brot.«

Igor schüttelte ernst den Kopf. »Nein, wie kommst du darauf. Die Bedingungen, in denen ich gehalten werde, sind normal.«

Eine leichte Ironie schwang in seinen Worten mit. Als spreche er über ein Tier, das im Zoo im Käfig lebt.

»Ich habe dir was mitgebracht«, antwortete Anton im selben Ton, in der Hoffnung, so den schwachen Lebensfaden zu erwischen. »Ist das Füttern erlaubt?«

»Ja«, nickte Igor. »Ich habe nur einfach… Mir bleibt jeder Bissen im Hals stecken, verstehst du? Ich lese keine Bücher, will nichts trinken, mit niemandem reden… Ich stelle den Fernseher an und glotze… bis drei Uhr nachts. Wenn ich morgens aufstehe, stelle ich ihn gleich wieder an. Kannst du dir das vorstellen? Ich habe sogar schon perfekt Tschechisch gelernt. Eine sehr verständliche Sprache.«

»Schlimm«, meinte Anton. »Gut. Wie du dir sicherlich denken kannst, habe ich unter der Hand Befehle und Anweisungen vor der Reise bekommen. Ich soll dir nämlich deinen Lebenswillen zurückgeben.«

Jetzt musste Igor doch lachen. »Verstehe. Da kann man wohl nichts machen… Dann pack mal aus.«

Anton legte einen dicken Packen Briefe auf den Tisch. Auf jedem Umschlag stand nur ein Name: des Absenders.

»Jeder von uns hat dir geschrieben. Olga hat verlangt, dass du ihren Brief als Erstes liest. Das Gleiche haben allerdings auch Juletschka und Lena verlangt. Also entscheide selbst…«

Igor schaute nachdenklich auf die Briefe. »Ich ziehe später einfach einen. Gut, pack weiter aus. Ich meine jetzt nicht die Briefe.«

Lächelnd holte er eine in Papier gewickelte Flasche heraus.

»Smirnowskaja Nr. 21«, sagte Igor. »Stimmt's?«

»Stimmt.«

»Das hab ich gewusst. Mach weiter.«

Mit einem schiefen Lächeln holte Anton aus der Tüte einen kleinen Laib Schwarzbrot Borodinski, eine Wurst, eingelegte Gurken in einer Plastiktüte, einige fliederfarbene Zwiebeln aus Jalta und ein Stück Speck.

»Teufel auch!«Igor schüttelte den Kopf. »Alles, was ich mag. Da hat Semjon euch beraten, oder?«

»Ja.«

»Die Zöllner müssen dich für verrückt gehalten haben.«

»Ich habe ihren Blick abgelenkt. Schließlich bin ich auf Dienstreise, da habe ich das Recht dazu.«

»Alles klar. Gut, ich bereite uns was vor. Du erzählst mir, was bei uns los war. Man hat mich zwar informiert… aber so ist es besser. Von Andrej und Tigerjunges… von diesem ganzen Wirrwarr.«

Während Igor die Sachen zurechtschnitt, Gläser spülte und gewissenhaft abtrocknete und die Flasche öffnete, gab Anton ihm eine Kurzfassung der jüngsten Moskauer Ereignisse. Schweigend goss Igor Wodka in vier Gläser ein. Zwei deckte er mit geschnittenem Brot ab, eins schob er Anton hin, das letzte nahm er selbst.

»Auf die Kollegen«, sagte er. »Möge das Licht ihnen gnädig sein. Auf Tigerjunges… auf Andrjuschka…«

Sie tranken auf ex, ohne vorher anzustoßen. Neugierig betrachtete Anton Igor. Der hustete los und sah das Glas verzweifelt an. »Anton… um Himmels willen… der Wodka ätzt einem ja alles weg!«

»Ach nee!«, bestätigte Anton fröhlich. »Dieser Wodka ist auch etwas ganz Besonderes, nämlich reiner Alkohol, veredelt mit Leitungswasser. Ich habe ewig danach gesucht. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwierig es jetzt ist, in einem Geschäft gepanschten Wodka zu bekommen!«

»Wozu?«, erwiderte Igor.

»Was, wozu? Wozu bringe ich dir das Borodinski mit? In jedem Prager Geschäft hätte ich ein Schwarzbrot kaufen können, ein frisches und leckeres Brot! Und Wurst auch. Und Speck. Mit den Zwiebeln wäre es vielleicht nicht so einfach gewesen…«

»Was ist das? Ein Gruß aus der Heimat?«, fragte Igor, der noch immer das Gesicht verzog.

»Genau.«

»Alles, bloß das nicht… An meinem letzten Morgen möchte ich ohne Kopfschmerzen aufwachen«, sagte Igor ernsthaft. Er runzelte die Stirn und fuhr mit der Hand über die Flasche und die beiden vollen Gläser. Die Flüssigkeit funkelte kurz zitronengelb auf. »Niedere Magie ist mir erlaubt«, erklärte Igor mit einem leichten Schuldgefühl in der Stimme.

»Dann gieß noch mal ein.«

»Musst du noch irgendwohin?«, fragte Igor, wobei er zu Anton hinüberschielte und den magisch behandelten Wodka einschenkte.

»Nein. Wo sollte ich hinmüssen?«, erwiderte Anton. »Ich sitze lieber hier mit dir zusammen und unterhalte mich. Willst du wissen, weshalb ich die Flasche ausgetauscht habe?«

»Dann geht das also auf dich zurück?«

»Ja, genau. Semjon hat richtigen mitgebracht. Aber ich wollte dich an etwas erinnern… Nicht immer steckt in einer schönen Verpackung auch ein schöner Inhalt.«

Igor seufzte, sein Gesicht verschattete sich. »Gorodezki… du brauchst mir keine Moralpredigt zu halten. Ich war schon bei der Wache, da warst du noch nicht mal geboren. Mir ist das alles klar! Aber ich bin schuldig, und ich werde meine Strafe akzeptieren.«

»Nein, dir ist überhaupt nichts klar!«, schrie Anton wütend. »Du stehst da, Seht nur her… besser, du sitzt da! Ich bin schuldig, ich akzeptiere meine Strafe…«, äffte er Igor nach. »Und was sollen wir tun? Vor allem jetzt, ohne Tigerjunges und Andrej? Hast du schon gehört, dass Geser beschlossen hat, unsere Programmiererinnen auszubilden?«

»Hör auf damit, Anton! Jeder Andere ist zu ersetzen. In der Reserve der Moskauer Wache sind Hunderte von Magiern und Zauberinnen!«

»Ja, natürlich. Und wenn wir pfeifen, kommen sie. Sie verlassen ihre Familien, geben ihre Arbeit auf, das Übliche. Stehen Gewehr bei Fuß, was auch sonst? Wenn das aktive Personal sich blamiert hat, die Hände in den Schoß legt, aufgibt…«

Igor seufzte. »Anton, das alles ist mir klar.«Er redete jetzt mit scharfer und energischer Stimme, erinnerte wieder an den Fahnder von einst. »Du bist ein schlauer Kerl, und du hast Recht, wenn du mich auf die Palme bringst. Du versuchst, meinen Lebenswillen wieder anzustacheln… versuchst, mich zu überzeugen zu kämpfen… Aber du musst eins begreifen: Ich will wirklich nicht kämpfen! Ich halte mich wirklich für schuldig. Ich habe wirklich… entschieden zu gehen. Ins Nichts, ins Zwielicht.«

»Warum, Igor? Ich verstehe, dass der Tod eines Menschen immer eine Tragödie ist, vor allem wenn es deine Schuld ist, aber du konntest doch nicht vorhersehen…«

Igor bedachte ihn mit einem schweren Blick. Und schüttelte den Kopf. »Nein, Antoschka. Du verstehst nicht das geringste Bisschen. Du glaubst, ich bestrafe mich dafür, dass dieser Junge ertrunken ist? Nein.«

Anton nahm sein Glas und leerte es in einem Zug.

»Der Junge tut mir leid«, fuhr Igor fort. »Sehr leid. Ich habe in der Tat schon eine Menge mit ansehen müssen… auch, dass Menschen sterben. Meinetwegen. Kinder, Frauen und Alte. Musstest du zum Beispiel schon einmal entscheiden, zu wem du rennst, wen du rettest: einen nicht initiierten Anderen oder einen normalen Menschen? Ich musste es. Musstest du schon mal aus einer Menge alle Kraft ziehen? In dem Wissen, dass mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit zwei Menschen in dieser Menge das nicht aushalten und sich das Leben nehmen? Ich musste es.«

»Ich habe auch schon einiges durchmachen müssen, Igor.«

»Ja, ich weiß. Damals dieser Orkan… Warum kommst du mir dann mit diesem Mist? Kannst du mir nicht glauben, dass es nicht um diesen unglückseligen Jungen geht? Sondern darum, dass ich eine Dunkle liebe?«

»Das kann ich nicht«, gab Anton zu. »Niemals! Geser hat das auch gesagt, aber…«

»Gut, dann glaub halt Geser.«Igor lächelte bitter. »Ich liebe sie, Anton. Selbst jetzt noch. Und ich werde sie immer lieben - das ist mein Problem.«

Er nahm das Glas.

»Vielen Dank auch, dass du zu Ehren dieser Toten wenigstens kein Glas auf dem Tisch stehen hast…«Anton spürte, wie die Wut in ihm hochkocht. »Viel…«

Und verstummte, als er unwillkürlich Igors Blick folgte. Im Schrank, hinter der Scheibe, stand ein halb volles Glas, auf dem ein Stück hart gewordenes Brot lag. »Du bist ja verrückt«, murmelte Anton. »Absolut verrückt. Igor, versteh doch, sie ist eine Hexe!«

»Sie war eine Hexe«, räumte Igor mit einem leicht traurigen Lächeln ein.

»Sie hat dich um den Finger gewickelt… freilich, nicht verzaubert, das natürlich nicht, aber sie hat dafür gesorgt, dass du dich in sie verliebst.«

»Nein. Sie hat sich auch verliebt. Und nicht den geringsten Verdacht gehabt, wer ich bin.«

»Gut. Gehen wir davon aus, dass du Recht hast. Trotzdem war es eine Intrige. Von Sebulon, der genau wusste, was…«

»Ja, vermutlich schon«, meinte Igor nickend. »Ich habe viel darüber nachgedacht, Anton. Anscheinend war auch die Konfrontation in Butowo von den Dunklen eingefädelt worden. Von den höchsten Leuten, von Sebulon und noch ein, zwei Dunklen. Die Lemeschewa wusste wahrscheinlich Bescheid. Edgar und die Hexen nicht.«

Die Vampire und Tiermenschen hielt er nicht einmal für erwähnenswert.

»Wenn du mir also zustimmst…«, setzte Anton an.

»Warte. Ja, die Dunklen haben diese Operation geplant. Es war eine Intrige Sebulons. Eine erfolgreiche Intrige…«Igor senkte den Kopf. »Nur ändert das doch nichts an meiner Beziehung zu Alissa, oder?«, sagte er tonlos.

Am liebsten hätte Anton tüchtig losgeflucht. Was er auch tat. »Igor, du kennst doch das Dossier von Alissa Donnikowa«, sagte er danach. »Du musst es dir angesehen haben!«

»Ja. «

»Dann weißt du doch, wie viel Blut an ihren Händen klebt! Wie viel Böses sie angerichtet hat! Ich selbst bin mehrmals mit ihr zusammengestoßen! Ihretwegen sind unsere Operationen den Bach runtergegangen, sie… sie war Sebulon treu ergeben…«

»Du hast noch vergessen zu erwähnen, dass sie SebulonsMatratze gewesen ist«, sagte Igor mit Grabesstimme. »Dass das Haupt der Moskauer Dunklen sehr gern mit ihr Sex in seiner Zwielichtgestalt gehabt hat, dass sie mehrmals an einem Hexensabbat mit Opferung und an Gruppenorgien teilgenommen hat. Warum hast du das verschwiegen? Du hättest es ruhig sagen können, ich weiß es sowieso. Geser hat mir ihr vollständiges Dossier überlassen… Er hat sich alle Mühe gegeben. Ich weiß das alles.«

»Und trotzdem liebst du sie?«, fragte Anton naiv.

Igor hob den Kopf, und sie sahen einander in die Augen. Dann streckte Igor die Hand aus und berührte vorsichtig Antons Arm. »Sei nicht böse auf mich, mein Lichter Bruder. Verachte mich nicht. Wenn du das nicht verstehen kannst, dann geh lieber. Schau dir Prag an…«

»Ich versuche, es zu verstehen«, flüsterte Anton. »Ehrenwort, ich versuche es. Alissa Donnikowa war eine ganz gewöhnliche Hexe. Nicht besser und nicht schlechter als alle andern. Eine kluge, schöne und strenge Hexe. Die eine Spur von Bösem und Schmerz hinter sich hergezogen hat. Wie kannst du sie lieben?«

»Ich habe sie anders gesehen«, antwortete Igor. »Als eine ruhelose und unglückliche Frau, die unbedingt jemanden lieben wollte. Die sich zum ersten Mal selbst verliebt hat. Eine Frau, die zu unserm Pech die Dunklen zuerst entdeckt haben. Sie haben für ihre Initiierung jenen Moment gewählt, als in ihrer Seele das Dunkel das Licht überwog. Bei heranwachsenden Frauen ist das sehr leicht, das weißt du selbst. Danach lief dann alles wie am Schnürchen. Das Zwielicht saugte ihre ganze Güte aus ihr heraus. Das Zwielicht hat sie zu dem gemacht, was sie dann war.«

»Du liebst nicht Alissa selbst«, sagte Anton, ohne zu bemerken, dass er von der Donnikowa in der Gegenwart sprach. »Du liebst ein idealisiertes… nein, ein alternatives Bild von ihr! Jene Alissa, die es nie gab und auch jetzt nicht gibt!»

»Jetzt bestimmt nicht. Und trotzdem hast du nicht völlig Recht, Anton. Ich liebe die, die sie war, als sie ihre Fähigkeiten als Andere eingebüßt hatte. Als sie, wenn auch nur kurz, von dem grauen Spinnennetz befreit war. Musstest du denn noch nie verzeihen?«

»Doch«, antwortete Anton und verstummte kurz. »Doch. Aber nicht so etwas.«

»Dann hast du Glück gehabt, Antoschka.«

Igor goss noch einmal Wodka ein.

»Dann beantworte mir eine Frage.«Obwohl Anton nicht versuchte, Igor zu schonen, brachte er die Worte nur mit Mühe heraus. »Warum hast du sie dann umgebracht?«

»Weil sie eine Hexe war«, erklärte Igor ausgesprochen gelassen. »Weil sie Böses und Schmerz brachte. Weil: Ein Mitarbeiter der Nachtwache verteidigt die Menschen immer und überall gegen das Böse, auf jedem Territorium, ungeachtet seiner persönlichen Einstellung zur Situation. Hast du noch nie darüber nachgedacht, warum es in unserer Satzung diese Präzisierung gibt? Über die persönliche Einstellung zur Situation? Wobei es besser persönliche Einstellung zu den Dunklem heißen sollte, aber das klingt irgendwie nicht so gut. Deshalb griff man auf diesen Eume… Euphe…«

»Euphemismus…«, sagte Anton wie hypnotisiert.

»… diesen Euphemismus zurück.«Igor lächelte. »Genau. Erinnerst du dich noch, als wir die Vampirin auf dem Dach verhaftet haben? Du hast auf sie geschossen, aber dann ist dein Nachbar, der Vampir, gekommen. Und du hast die Pistole gesenkt.«

»Ich war dabei, einen Fehler zu machen.«Anton zuckte mit den Schultern. »Sie gehörte vor ein Gericht. Deshalb habe ich auch aufgehört…«

»Nicht doch, Anton. Du hättest sie erschossen. Und jeden andern Vampir, der eine Verbrecherin verteidigen wollte, ebenfalls. Aber vor dir stand kein Vampir, sondern dein Freundgut, vielleicht nicht dein Freund, sondern nur ein Bekannter. Und deshalb hast du aufgehört. Aber jetzt stell dir mal vor, du hättest vor der Wahl gestanden: Entweder du feuerst deine Pistole ab oder schenkst der Verbrecherin die Freiheit.«

»Dann hätte ich sie erschossen«, sagte Anton scharf. »Und Kostja auch. Dann hätte ich keine andere Wahl gehabt. Es wäre mir sehr schwer gefallen, sicher, aber ich…«

»Und wenn es nicht nur ein guter Bekannter gewesen wäre, sondern deine Liebste? Eine Menschenfrau oder eine Andere, eine Zauberin, egal in welcher Einfärbung…«

»Dann hätte ich geschossen…«, flüsterte Anton. »Trotz allem hätte ich geschossen.«

»Und was weiter?«

»Ich hätte es einfach nicht zu einer solchen Situation kommen lassen. Ich hätte es nicht dazu kommen lassen!«

»Natürlich nicht. Wir kommen nicht einmal auf die Idee, uns zu verlieben, sobald wir die Aura des Dunkels erblicken. Wie die Dunklen auch nicht, sobald sie die Aura des Lichts sehen. Aber uns hat es hinterrücks erwischt, Anton. Als wir aller Kräfte beraubt waren. Wir hatten keine Wahl…«

»Sag mir eins, Igor.«Anton holte Luft. Der Wodka zeigte keine Wirkung, und ihr Gespräch brachte, selbst wenn es noch so persönlich war, keine Erleichterung. »Sag mir, warum du Alissa nicht einfach vom Gelände des Ferienlagers vertrieben hast? Warum hast du Geser nicht um Rat und Hilfe gebeten? Damit hättest du die Menschen geschützt und gleichzeitig…«

»Sie wäre nicht gegangen«, entgegnete Igor scharf. »Sie hatte schließlich eine offizielle Erlaubnis, im Artek zu sein. Weißt du, was am schrecklichsten ist, Anton? Das Recht auf Wiederherstellung ihrer Kräfte hat Sebulon mit Geser ausgehandelt, indem er ihm das Recht einräumte, dass ein Lichter Magier dritten Grades ebenfalls neue Kräfte schöpfen durfte. Das war ich! Verstehst du jetzt, wie eins zum andern passt?«

»Bist du sicher, dass sie nicht gegangen wäre?«, fragte Anton. Igor hob schweigend sein Glas. Zum ersten Mal an diesem Abend stießen sie an, brachten aber keinen Toast aus. »Ich bin nicht sicher, Anton. Das ist ja so schlimm, dass ich nicht sicher bin. Ich habe ihr gesagt… befohlen, das Feld zu räumen. Aber das war gleich in dem Moment, als wir erkannt haben, wer wir sind. Als wir nicht klar denken konnten, nur Adrenalin rauschte…«

»Wenn sie dich geliebt hätte«, sagte Anton,»dann wäre sie gegangen. Man hätte nur die richtigen Worte finden müssen…«

»Vermutlich. Wer kann das jetzt noch sagen?«

»Das tut mir so leid, Igor«, flüsterte Anton. »Natürlich nicht die Hexe Alissa, die nicht. Das kannst du von mir nicht verlangen. Um sie werde ich keine Träne vergießen. Aber du tust mir sehr leid. Und ich würde mir sehr wünschen, dass du bei uns bleibst. Dass du alles durchstehst, nicht daran kaputtgehst.«

»Es gibt nichts, wofür ich noch leben möchte, Anton.«Bedauernd breitete Igor die Arme aus. »Versteh mich, nichts! Wahrscheinlich habe ich mich nämlich auch zum ersten Mal im Leben verliebt. Ich bin schon verheiratet gewesen… früher. 1945 bin ich ein Anderer geworden… als ich von der Front zurückkam, ein junger Hauptmann, die Brust voller Orden, ohne eine Schramme… überhaupt hatte ich Glück, und erst später habe ich begriffen, dass ich das meinen latenten Fähigkeiten als Anderer zu verdanken habe. Und dann habe ich alles über die Wachen erfahren… Ein neuer Krieg, verstehst du? Ein völlig gerechter, ohne Frage! Ich konnte weiter nichts richtig, als zu kämpfen, und mir wurde klar, dass ich hier eine neue Lebensaufgabe gefunden hatte. Für ein sehr langes Leben. Und dass ich mich nicht mit den Kümmernissen eines Menschen herumschlagen müsste oder mit ärgerlichen Krankheiten, nicht mehr nach Lebensmitteln anstehen… Du kannst dir ja nicht vorstellen, Anton, was ganz stinknormaler Hunger ist, was echtes Schwarzbrot, was wirklich gepanschter Wodka ist… was es heißt, dem Lackaffen von der Spionageabwehr zum ersten Mal in die satte Visage zu grinsen und bloß gelangweilt zu gähnen, nachdem er dich gefragt hat:»Warum haben Sie sich zwei Monate auf feindlichem Gebiet aufgehalten, wenn die Brücke bereits drei Tage nach Landung der Truppen gesprengt worden ist?«

Bei Igor machte sich der Wodka jetzt doch etwas bemerkbar. Er sprach schnell und wütend… und keineswegs so, wie ein junger Magier aus der Nachtwache normalerweise spricht…

»Ich bin zurückgekommen und habe meine Wilena angesehen, meine Lenotschka-Wilenotschka, eine junge und schöne Frau, die mir jeden Tag einen Brief geschrieben hat, ich lüge nicht, jeden Tag! Und du kannst dir nicht vorstellen, was für Briefe! Ich sah, dass sie sich sehr über meine Rückkehr freute, denn ich war gesund, nicht verkrüppelt und noch dazu ein Held! Eine Frau hatte damals selten so viel Glück. Aber sie hatte unglaubliche Angst, dass die neidischen Nachbarsweiber mir von all den Männern erzählen, die sie in diesen vier Jahren gehabt hatte, und davon, dass sie keinen Kummer gekannt hatte, und zwar nicht wegen meines Offizierspatents… Du verstehst immer noch nicht einmal die Hälfte von dem, was ich sage, nicht wahr? Aber ich habe mit einem Mal alles erkannt. Alles, auf einen Schlag. Und je länger ich sie betrachtete, desto mehr sah ich. Details, Einzelheiten. Und nicht nur, was die Männer angeht - von verschissenen Spekulanten bis zu solchen wie mir, Raufbolden, die heimlich vom Krankenbett abhauen und ab zu Muttern untern Rock schlüpfen… Und wie sie einem Oberst zugeflüstert hat:»Der verfault bestimmt schon lange in der Erde…«, das habe ich auch gehört… Der Oberst hat sich übrigens als Mensch herausgestellt. Als echter. Er stieg aus dem Bett, knallte ihr eine, zog sich an und ging.«

Er goss Wodka ein und trank ihn schnell aus, ohne auf Anton Rücksicht zu nehmen. Dann goss er noch einmal ein. »Seit dieser Zeit bin ich so«, fuhr er fort. »Ich bin aus dem Haus gegangen, unter dem Klirren der Medaillen und dem Geschrei Wilenas. »Sie haben dich alle angelogen, die Mistweiber, ich bin dir treu gewesen!«Ich ging die Straße entlang, und etwas in meinem Innern brannte aus. Das war im Mai, Anton. Im Mai 1945, Geser hat mich gleich nach der Kapitulation Deutschlands von der Front weggeholt. »Deine Front ist jetzt hier, Hauptmann Teplow«, hat er mir erklärt. Die Menschen waren damals… sie waren nicht so wie heute, Anton. Sie alle hatten leuchtende Gesichter. Die Dunklen Dreckskerle hatten Hochsaison, da brauchen wir uns nichts vormachen! Aber auch Licht gab es viel. Und als ich die Straße entlangging, stromerten Kinder um mich herum, staunten die Ordenspracht auf meiner Brust an und stritten darüber, welche Medaille ich wofür bekommen hatte. Die Männer drückten mir die Hand und luden mich auf einen Wodka ein. Die Frauen kamen herbeigelaufen… und küssten mich. Einfach so, ohne sich viel dabei zu denken. Sie küssten mich wie ihren Freund, der noch nicht zurückgekehrt oder bereits gefallen war, wie ihren Vater, wie ihren Bruder. Manchmal weinten sie, küssten mich und gingen weiter. Verstehst du das? Wahrscheinlich nicht… Schließlich gehörst auch du zu denen, die sich Sorgen um unser Land machen, darüber nachgrübeln, wie schlecht jetzt alles ist, in was für einem Loch wir gelandet sind… Du leidest, weil die Lichten Russland nicht in großem Maßstab helfen. Dabei kennst du ein richtiges Loch gar nicht, Anton. Wir schon!«

Igor trank erneut. Anton hob schweigend sein Glas, nickte und brachte einen stummen, wiewohl auch ohne Worte verständlichen Toast aus.

»Damals wurde ich zu dem, der ich heute bin«, wiederholte Igor. »Ein Magier. Ein Fahnder. Ewig jung. Einer, der alle liebt… und niemanden. Ich hatte für mich bereits beschlossen, dass ich mich nicht verlieben werde. Niemals. Freundinnen, das ist eine Sache, Liebe eine andre. Einen Menschen darf man nicht lieben, denn er ist schwach, einen Anderen darf man nicht lieben, denn er ist entweder dein Feind oder dein Kampfgefährte. Dieses Lebensprinzip habe ich für mich formuliert, Antoschka. Und es befolgt, so gut ich konnte. In gewisser Weise bin ich immer noch der junge Spund, der von der Front zurückkehrt und für den es noch viel zu früh ist, sich zu verlieben. Es ist eins, mit einer Frau über die Tanzfläche zu schieben…«Er lachte leise. »… oder in der Disco im coolen Outfit unter einer UV-Lampe herumzuhüpfen… egal, ob bei Jazz, Rock oder Trash, egal, wie lang der Rock ist und aus was die Strümpfe sind… Das ist alles gut. Das kannst du alles machen, das ist richtig. Hast du diesen amerikanischen Zeichentrickfilm gesehen? Peter Pan? Ungefähr so war ich. Nur dass ich kein dummer Junge war, sondern ein dummer Jüngling. Und mir ging es gut damit… sehr lange. Die Zeit, die einem Menschen bestimmt ist, habe ich schon durchlebt. Sich zu beklagen wäre eine Sünde, denn ich habe nicht an Hilflosigkeit im Alter oder andern Problemen gelitten. Deshalb mach dir keine unnützen Sorgen, Anton.«

Anton saß da und hielt sich den Kopf. Er schwieg.

Es war, als öffnete sich eine Tür - und dort sah er etwas… nein, nichts Verbotenes… nichts Peinliches… Etwas völlig Fremdes. Und er verstand, dass hinter jeder Tür, die er, so das Licht will, öffnete, etwas ebenso Fremdes lag… etwas Persönliches…

»Ich bin meinen Weg gegangen, Anton«, sagte Igor fast zärtlich. »Sei nicht so traurig. Ich weiß, dass du in der Hoffnung hierher gekommen bist, mich aufzurütteln, mir die Flausen aus dem Kopf zu treiben, deine Anweisungen auszuführen. Nur wird nichts daraus. Ich habe mich nämlich wie der letzte Trottel in die Dunkle verliebt. Ich habe sie umgebracht. Und mich, wie es scheint, damit auch.«

Anton schwieg. Alles war so leer. Eine fremde Sehnsucht rollte über ihn hinweg, ein fremder Kummer. Allem Anschein nach hatte er nicht einem kranken Freund Geschenke von Freunden aus Russland gebracht, sondern saß jetzt mit ihm bei seiner Totenfeier…

»Bleib heute hier, Anton«, bat Igor. »Ich werde sowieso nicht schlafen… bald kann ich mich für immer ausschlafen. Ich habe noch drei Flaschen Wodka im Kühlschrank… um ehrlich zu sein. Und fünf Stockwerke weiter unten ist das Restaurant.«

»Dann schlafen wir am Tisch ein.«

»Bestimmt nicht, schließlich sind wir Andere. Wir halten das durch. Ich möchte reden. Jemandem die Ohren vollheulen. Ich fange an, mich vor der Dunkelheit zu fürchten. Glaubst du mir das?«

»Ja. «

Igor nickte. »Danke. Ich habe meine Gitarre hier, singen wir etwas. Oder ich singe allein etwas. Für sich selbst zu singen, das ist… na ja, du verstehst schon. Und noch etwas.«

Anton sah Igor an. Mit einem Mal klang seine Stimme konzentrierter. Kräftiger.

»Ich bin immer noch ein Wächter. Das habe ich nicht vergessen, da brauchst du nicht dran zu zweifeln. Und ich glaube, dass ich in diesem ganzen Chaos einfach ein Bauer… nein, wohl kein Bauer… ein Offizier bin, der eine andre Figur geschlagen hat und nun eingestellt ist. Nur dass ich im Unterschied zu einer Figur denken kann. Ich hoffe, auch du hast das nicht verlernt. Mir ist schon alles egal, Anton. Aber wer die Partie gewinnt, das geht mir nicht am Rücken vorbei! Lass uns zusammen darüber nachdenken.«

»Womit fangen wir an?«, fragte Anton. Fragte und wunderte sich insgeheim über sich selbst. Hatte er Igor etwa beim Wort genommen? Sich damit abgefunden, ihn als vom Brett genommene Figur zu betrachten… nun, vielleicht nicht heruntergenommene, aber bereits verlorene, nach der die Hand des unsichtbaren Gegners greift…

»Mit Swetlana. Mit der Schicksalskreide.«Igor beobachtete aufmerksam, wie sich Antons Miene veränderte. Zufrieden lachte er los. »Was ist, habe ich es getroffen? Hast du den gleichen Gedanken gehabt?«

»Und Geser auch…«, flüsterte Anton.

»Geser ist ein kluger Kopf«, meinte Igor. »Und wir? Wollen wir wenigstens einmal versuchen, nicht mit unsern Händen, sondern mit unserm Kopf zu denken?«

»Versuchen wir's«, nickte Anton. »Nur…«

Er kramte in seiner Tasche nach dem Amulett, das ihm Geser gegeben hatte. Als er die kleine Kugel zerquetschte, spürte er, wie kleine Nadeln aus Knochen in seine Haut pikten. Nichts geht ohne Schmerzen…»In den nächsten zwölf Stunden wird uns niemand beobachten und belauschen können«, erklärte er.

»Sicher?«, hakte Igor nach. »Aber wird es die Inquisition nicht stutzig machen, wenn sie über uns keine Informationen mehr bekommt?«

»Das wird nicht der Fall sein«, erwiderte Anton. »Soweit ich es verstanden habe, müssten, falls sie hier Beobachtungsapparate oder Observierungszauber installiert haben, falsche Informationen übermittelt werden. Von ausgezeichneter Qualität.«

»Geser ist ein kluger Kopf«, wiederholte Igor lächelnd.

Edgar saß am Fenster, rauchte und trank langsam aus einem Glas den abgestandenen Sekt. Es schmeckte trotzdem…

Seine Freundin schlief im Nachbarzimmer zufrieden und befriedigt den Schlaf der Gerechten. Eine tolle Frau. Eine deutsche Studentin, mit skandinavischen Wurzeln, gerade leidenschaftlich genug, gerade lustig genug. Für Edgars Geschmack beim Sex jedoch etwas zu kompliziert. Im Unterschied zu den meisten seiner Kollegen war Edgar in dieser Frage höchst konservativ. Er nahm nicht an Orgien teil, legte sich keine minderjährigen Freundinnen zu, und von allen Positionen war ihm die klassische Missionarsstellung die liebste.

Dafür beherrschte er diese - das musste man anerkennen - in vollendeter Weise.

Edgar rekelte sich genüsslich und öffnete vorsichtig das Fenster. Er stand auf und atmete die kalte, frostige Luft ein. Einneuer Tag hatte begonnen. Möglicherweise würde das Tribunal bereits heute das Urteil fällen. Dann konnte er die Feiertage in aller Ruhe genießen, ohne sich den Kopf über Intrigen zerbrechen zu müssen.

Und trotzdem: Wessen Intrige war das? Die der Tag- oder die der Nachtwache?

Und vor allem: Welche Rolle sollte er dabei spielen?

Doch wohl nicht in der Tat - wie Juri angedeutet hatte - die gleiche Opferrolle wie Alissa?

»Hier, sieh dir das an…«Igor breitete auf dem Tisch ein großes Blatt Papier aus und holte eine Schachtel Filzmarker aus der Tasche. »Ich habe schon öfter solche Schemata gezeichnet… und das eine oder andre kommt dabei immer heraus. Das hier ist Swetlana.«

Nachdenklich sah Anton auf den Kreis, der mit einem dicken gelben Strich gezeichnet war. »Keine große Ähnlichkeit«, sagte er.

Igor lachte. »Na schön… Jetzt mal keine Witze. Sieh dir die Verteilung an. Das Gleichgewicht zwischen den Dunklen und uns war ausbalanciert, wenn auch labil, doch es bestand. Hier sind die Magier der ersten drei Grade auf unserer Seite… und hier die Dunklen, die ihnen gleichwertig sind… Sowohl die aktiven wie auch die, die man leicht zum Dienst mobilisieren kann.«

Das Blatt bedeckte sich schnell mit kleinen Kreisen. Mit einer schwungvollen Bewegung zog Igor in der Mitte der Liste einen Strich. In der einen Hälfte schrieb er oben»Geser«hin, in der andern»Sebulon«. »Im Grunde stehen die beiden außen vor«, erklärte er. »Sie sind die Schachspieler, aber uns interessieren die Figuren. Siehst du, was sich mit dem Auftauchen Swetlanas verändert hat?«

»Kommt drauf an, für welche Figur du sie hältst«, meinte Anton vorsichtig. »Im Moment ist sie eine Zauberin ersten Grades… oder war es, besser gesagt. »

»Ja, und? Guck dir doch mal an, wie viele Magier noch ihr Niveau haben!«

»Sie ist ein Bauer«, sagte Anton und wunderte sich selbst über seine Worte. »Swetlana ist nicht mehr als ein Bauer, und zwar noch viele lange Jahre! Sie wird ihre Kraft vergrößern, lernen, ihre Fähigkeiten zu kontrollieren, Erfahrung sammeln… Sie ist stärker als ich… war es. Aber ich würde mit ihr fertig werden, wenn ich auf der andern Seite der Front stehen würde.«

»Völlig richtig, Anton.«Igor goss sich geschickt einen Wodka aus der zweiten Flasche ein, die erste stand seit langem unterm Tisch. »Völlig richtig! Swetlana hat die Nachtwache ungeheuer gestärkt. Und kann zukünftig durchaus in einer Reihe mit Geser stehen. Aber das ist eine Frage von Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten!«

»Weshalb dann diese Aktivität der Dunklen? Sie hätten beinahe den Vertrag verletzt, nur um Sweta auszuschalten.«

»Denk mal nach!«Igor sah ihm in die Augen. »Spielen wir die Schachanalogie doch mal bis zum Ende durch…«

»Der Bauer erreicht das andre Ende des Bretts…«

»… und verwandelt sich in eine beliebige Figur.«

Anton breitete die Arme aus. »Igor, das weiß sowieso jeder. Wir alle sind Bauern, aber einige haben die Chance, eine Dame zu werden. Swetlana hat sie. Du nicht, ich auch nicht, Semjon ebenfalls nicht… Aber der Weg bis zum andern Ende des Bretts ist lang, und die Dunklen hätten nicht so hinterher sein müssen, Swetlana auszuschalten!«

»Die Schicksalskreide«, warf Igor ein.

»Was soll schon mit der Kreide sein? Geser wollte den Jungen ohne Schicksal, Jegor, benutzen, um aus ihm einen…«

»Was zu machen?«

»Einen Propheten, einen Philosophen, Dichter, Magier…«Anton zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Einen, der die Menschheit zum Licht führt. Oder vielleicht einen Spiegel? Einen Spiegel, wie es Witali Rohosa gewesen ist, nur dass er unserer Seite nützt.«

»Aber Swetlana wollte sich nicht einmischen«, nickte Igor. »Der Junge Jegor bleibt allein mit seinem Schicksal.«

»Dafür…«Anton erstarrte. Er wusste nicht, ob er das Recht hatte, Igor jene Wahrheit zu sagen, die er kannte - selbst wenn das Amulett sie schützte.

»Dafür hat Olga mit der zweiten Hälfte der Schicksalskreide das Schicksal von jemandem umgeschrieben«, meinte Igor schmunzelnd. »Das pfeifen die Sperlinge von den Dächern…«

»Die Spatzen«, korrigierte Anton ihn automatisch.

»Von mir aus. Entscheidend ist, dass die Operation trotzdem geglückt ist. Swetlana hat es nicht geschafft - aber Olga. Nebenbei hat Geser auf diese Weise Olga rehabilitiert.«

»Nebenbei?«Anton schüttelte den Kopf. »Gut, von mir aus nebenbei. Aber das ist nur die zweite Schicht der Wahrheit. Ich bin überzeugt, dass es noch eine dritte gibt.«

»Die dritte ist die Frage, wessen Schicksal Olga umgeschrieben hat. Sobald Sebulon von ihrer Rehabilitation erfahren hat, wusste er, dass er reingelegt worden war. Dass er auf eines der üblichen Ablenkungsmanöver hereingefallen war. Daraufhin haben sich die Dunklen auf die Suche gemacht. Jegorka, den armen Kerl, haben sie zehnmal überprüft - vielleicht hatte man sein Schicksalsbuch ja zweimal umgeschrieben…«

»Woher weißt du das denn?«

»Ich habe auf den Jungen aufgepasst. Geser hat mir den Befehl dazu gegeben, denn es war klar, dass die Dunklen denjenigen suchen würden, um den es eigentlich ging.«

»Und?«

»Nichts. Mit Jegor ist alles in Ordnung. Sein Schicksal wurde nicht umgeschrieben.«

»Wessen dann?«

Igor schwieg und sah Anton in die Augen. Er wartete. Als ob er nicht das Recht hätte, diesen Namen selbst auszusprechen. »Swetlanas?«, schrie Anton in jäher Erkenntnis auf. Gleichzeitig schoss ihm durch den Kopf, dass jeder Dunkle an seiner Stelle gebrüllt hätte:»Meins?«

»Sieht so aus. Das ist ein Zug von genialer Schönheit. Um sie herum tobt ein derartiger Ozean von Kraft, dass es einfach unmöglich war, die Operation mit ihrem Schicksalsbuch zu bemerken. Und ihr Schicksalsbuch können die Dunklen nicht überprüfen, das käme einer Kriegserklärung gleich.«

»Will Geser Swetlanas Verwandlung in eine Große Zauberin beschleunigen?«

»Das ist ausgeschlossen. Das würde den Vertrag verletzen. Grabe tiefer.«

Anton starrte auf die kleinen Kreise. Er nahm einen Filzstift und zog von Swetlana eine leuchtend rote Linie nach oben, die in einen neuen kleinen Kreis mündete. Einen leeren.

»Ja«, sagte Igor. »Genau. Du weißt, in welcher Zeit wir leben?«

»Das Ende des Jahrtausends…«

»Zweitausend Jahre nach Christi Geburt«, schmunzelte Igor.

»Jeschua war der größte Lichte Magier«, sagte Anton. »Ich weiß nicht genau, ob man hier überhaupt von einem Magier sprechen kann… er war das Licht selbst… aber… Will Geser einen neuen Messias?«

»Das sagst du, nicht ich«, erwiderte Igor. »Komm… aufs Licht.«

In absoluter Erstarrung trank Anton ein volles Glas. »Nein, aber das…«Er schüttelte den Kopf. »Igor, das ist ein Spiel mit den Urkräften! Mit der Grundlage des Universums! Wie kann er das riskieren?«

»Anton, ich bin überzeugt, dass alles genau so geplant ist. Urteil doch selbst: Weltweit flammen religiöse Glaubensvorstellungen auf, alle erwarten auf die eine oder andere Weise gleichermaßen das Ende der Welt und die Wiederkehr eines Heilands… was übrigens dasselbe ist.«

»Doch wohl nicht alle…«Anton winkte ab. »Übertreib nicht!»

»Nicht alle, aber genug, damit der Strom menschlicher Erwartungen sich auf die Realität auswirkt. Und wenn man dem Ganzen ein bisschen nachhilft, wenn man das Schicksal von jemandem umschreibt… Geser spielt va banque. Er will für unsere Reihen einen Anderen gewinnen, mit dessen Kraft sich keiner der Dunklen messen kann. Weder Sebulon noch ein gewisser kleiner kalifornischer Landwirt, weder die Besitzerin eines schlichten Hotels in Spanien noch die populäre japanische Sängerin… Niemand.«

»Das könnte stimmen«, gab Anton zu. »Aber Swetlana hat ihre Kraft verloren, und zwar für lange Zeit.«

»Ja und? Hindert sie das etwa daran, ein Kind zur Welt zu bringen?«

»Stopp!«Anton fuchtelte mahnend mit den Händen. »Jetzt machen wir uns gegenseitig schon ganz wuschig. Glauben kann man letzten Endes an jede Hypothese. Aber sehen wir uns mal die übrigen Ereignisse an. Was ist zum Beispiel mit dem Spiegel?«

»Der Spiegel…«Igor runzelte die Stirn. »Einen Spiegel bringt das Zwielicht hervor. Sebulon konnte nicht direkt auf ihn einwirken… aber diese dummen Sektierer mit dem Artefakt nach Moskau holen und Rohosa mit Kraft auftanken - das durchaus. Und das Ziel dieser Aufladung ist klar-. Swetlana zu vernichten.«

»Rohosa hat sie nicht vernichtet! Er hat ihr bloß ihre Kraft geraubt, aber das ist…«

»Irgendjemand von uns hat nicht so gespielt, wie Sebulon es geplant hat«, erwiderte Igor. »Irgendjemand hat nicht den Schritt getan, der es Sebulon ermöglicht hätte, Swetlana vollständig zu vernichten… als Persönlichkeit. Vielleicht hat sie gerettet, dass Tigerjunges und Andrej bereits gestorben waren? Der Spiegel ist kein hundertprozentiger Dunkler, und in die Konfrontation der Wachen greift er nicht direkt ein. Was meinst du, ob er womöglich noch mit einem bestimmten Schlag gerechnet hat? Von dir, beispielsweise. Oder von Geser. Aber der

Schlag blieb aus… weshalb er im Gegenzug nicht mit voller Kraft zuschlagen konnte.«

»Dann erklär mir mal, wozu Sebulon Alissa und dich aufeinander gehetzt hat, Igor?«

»Das war ein Zufall«, murmelte Igor. »Ich habe doch schon gesagt, dass Alissa…«

»Selbst wenn sie es nicht gewusst hat! Aber Sebulon hat es gewusst, das kannst du mir glauben! Er hat sie dem Tod überlassen und damit zwei Figuren abgetauscht! Wozu?«

»Das wüsste ich auch gern.«Igor breitete die Arme aus.

Fünf

Raivo tigerte durchs Zimmer und gestikulierte mit einem für ihn untypischen Eifer. »Trotzdem rechne ich noch mit Schwierigkeiten! Wir haben nicht das Recht, von der Hilfe der Tagwache zu auszugehen. Ob sie nun aus Moskau kommt, aus Prag, aus Helsinki - oder woher auch immer.«

»Aber dieser Dunkle hat versprochen, uns zu helfen…«, bemerkte Jari.

Raivo runzelte die Stirn. Mit einer beredten Geste winkte er ab. »Versprochen! Ja, natürlich. Und wer hat unsern Brüdern versprochen, dass Fafnir auferstehen wird?«

»Meiner Ansicht nach«, bemerkte Juha leise,»wäre es weitaus klüger, der großen Sache der Wiederauferstehung Fafnirs zu dienen, als den alten Magier tatsächlich auferstehen zu lassen…«

Einen Augenblick lang herrschte Stille.

»Juha…«, sagte Jari tadelnd. »Also… so direkt brauchst du das nicht…«

»Warum nicht? Die Zeiten der Magier, die ohne jede Regel spielen, sind längst vorbei. Willst du etwa eine globale Katastrophe?«

»Aber unsere…«

»Unsere altersschwachen Häuptlinge haben den Verstand verloren! Deshalb sind sie auch auf die Versprechungen von sonst wem reingefallen! Und in Bern gestorben… Uns wird niemand helfen, da hat Raivo Recht! Wer tot ist, kommt nicht wieder. Pasi hat das auch geglaubt - und wo ist Pasi jetzt? Von Geser im Zwielicht dematerialisiert!«

Auf dem Tisch schrillte das Telefon. Juha, der seine Rede offensichtlich nur ungern unterbrach, langte nach dem Hörer. »Ja.«

Im nächsten Moment sprang er hoch und riss ein Glas mit jenem scheußlichem tschechischen Bier um. »Du?«, schrie er. »Du… Von wo rufst du an? Was?«

Eine Minute lang hörte er zu, wobei sich auf seiner Miene ein immer fröhlicherer, zugleich aber auch immer verwirrterer Ausdruck abzeichnete. Wie es eben der Fall ist, wenn einem Menschen eine gute Nachricht mitgeteilt wird, der bereits auf böse Überraschungen eingestellt war und - mehr noch - es geschafft hatte, alle mit seinem Pessimismus anzustecken. Nach einer Weile legte Juha den Hörer auf. »Brüder…«, flüsterte er.

Anton vermochte sich einfach nicht darüber klar zu werden, ob es dumm von ihnen gewesen war, die zweite Flasche Wodka zu öffnen oder nicht. Auf der einen Seite schienen sie der Sache langsam auf den Grund zu kommen, auf der andern wurde es immer schwieriger, das Problem zu erörtern. Igor beispielsweise neigte immer mehr zu extremer Skepsis. Und wollte einfach nicht begreifen, was Anton ihm zu beweisen versuchte. »Igor, wenn in einem derart komplizierten Schema auch nur ein Element nicht passt, fällt alles in sich zusammen! Für alles muss es eine Erklärung geben. Vielleicht hast du einem Plan Sebulons im Weg gestanden?«

»Ich?«Igor lachte bitter auf. »Vergiss es. Ich bin ein ganz gewöhnlicher Fahnder. Dritter Grad… in Hochform zweiter… ohne besondere Fähigkeiten und ohne jede Perspektive. Ich hätte es mit dem Spiegel nicht aufnehmen können. Ich weiß nicht, Anton.«

»Irgendwas muss doch an dir dran sein«, murmelte Anton. Er goss Wodka ein, schwieg eine Sekunde und stellte dann seine Frage. »Igor, hast du was mit Swetlana gehabt?«

»Nein«, antwortete Igor scharf. »Nein. Schlag dir diesen Gedanken aus dem Kopf. Da war nichts, da ist nichts und da wird auch nie etwas sein. Und wenn du glaubst, ich solle der Vater des zukünftigen Messias sein…«

Er lachte mit einem Mal los.

»Es ist mir einfach in den Sinn gekommen…«, brummte Anton, der sich wie ein kompletter Idiot vorkam.

»Du hast Ideen, Anton… Das ist die Eifersucht, die da aus dir spricht, verzeih mir, aber nicht dein Kopf! Das Ganze hat doch nichts mit dem normalen, dem menschlichen Fortpflanzungsprozess zu tun! Wenn Swetlanas Schicksalsbuch umgeschrieben worden ist, wenn sie die Mutter eines neuen Messias werden soll, ist das ein Prozess auf dem Niveau komplexer Stoffe, der Energetik von Licht und Dunkel, des Kerns des Universums! Welche Rolle spielt es da, wer…«Er legte eine kurze Kunstpause ein. »… der biologische Vater ist? Selbst von Swetlana hängt dabei nicht allzu viel ab! Nein, das ist Quatsch. Sebulon braucht nur vor Swetlana Angst zu haben.«

»Dann verstehe ich nicht, was es bringt, dich zu entfernen…«

»Ich auch nicht. Aber es wird schon einen Grund dafür geben…«

Schweigend und ohne anzustoßen tranken sie. Wie auf Kommando starrten sie wieder auf das Blatt Papier.

»Dann lass uns genau davon ausgehen!«, schlug Anton vor, der bemerkte, dass seine Stimme leicht zerfloss. »Also, vor anderthalb Jahren haben Olga und Geser Swetlanas Schicksal umgeschrieben? Und jetzt soll sie Mutter eines Messias werden?«

»Allem Anschein nach, ja.«

»Sebulon hat versucht, sich das Auftauchen des Spiegels zunutze zu machen, um sie zu vernichten, ist aber gescheitert…«

»Auch das ist richtig.«

»Gut. Deine Rolle dabei lassen wir erst einmal beiseite… Was könnte der nächste Schritt Sebulons sein? letzt, da Swetlana ihre gesamte Kraft verloren hat und schutzlos ist?«

»Sie ist nicht schutzlos!«Igor drohte ihm mit dem Finger. »Was redest du denn da! Ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass auf höchster Ebene für ihren Schutz gesorgt worden ist. Außerdem würde ein Angriff auf sie eine Verletzung des Vertrages bedeuten. Den Dunklen ist ihre Haut teuer, niemand von ihnen will dematerialisiert werden…«

»Was könnte dann der Gegenzug sein? Doch nur…«

»Das Auftauchen des Antichrist. Er ist der Einzige, der sich dem Messias entgegenstellen könnte.«

»Wobei die Menschheit das Auftauchen des Antichrist… dieses Gegenchristus ebenso bereitwillig erwartet!«, rief Anton aus. »Dank der Massenkultur!«

»Hast du eine Bibel?«, fragte Igor überraschend.

»Dabei? Natürlich nicht, wie kommst du darauf…«

»Warte…«Igor ging mit schnellen, wenn auch nicht ganz sicheren Schritten ins andre Zimmer und kehrte mit einem dicken kleinen Buch zurück. Leicht verlegen sah er Anton an. »Natürlich bin ich Atheist«, sagte er. »Aber die Bibel… du verstehst. Das ist…«

»Igor!«Anton legte die Hand auf das Buch. »Sie wird uns nicht helfen. Lass uns lieber logisch vorgehen!«

»Gut«, stimmte Igor ohne weiteres zu und legte mit einiger Erleichterung die Heilige Schrift weg.

»Sebulon will auch leben. Er braucht keine Apokalypse… hoffe ich wenigstens. Er braucht eine Figur, die von der Kraft her einem Messias des Lichts ebenbürtig wäre.«

»Fafnir…«, meinte Igor nachdenklich. »Fafnir?«

»Ein starker Dunkler Magier…«, stimmte Anton zu. »Aber kein Antichrist!«

»Sechshundertsechsundsechzig.«Igor rutschte im Sessel hin und her. »Genau! Und nun bild mal die Summe der Buchstaben in Fafnirs Namen!«

»Ich erinnere mich nicht mehr, wie sich Fafnirs Name im Original schreibt. Aber wenn du ihn russisch schreibst, dann…«Anton dachte einen Moment lang nach. »Achtundachtzig! Und nicht sechshundertsechsundsechzig.«

»Aber achtundachtzig… ist… auch eine seltsame Zahl!«Igor sah Anton mit glühenden Augen an. »Überleg doch mal! Nicht siebenundachtzig! Und nicht neunundachtzig! Sondern genau achtundachtzig! Ist das nicht komisch?«

»Doch…«, pflichtete ihm Anton bei. Die Zahl kam ihm in der Tat komisch vor. »Vermutlich könnte man Fafnir tatsächlich auferstehen lassen, ihn aus dem Zwielicht ziehen… Aber…«

»Nicht einfach auferstehen lassen«, präzisierte Igor. »Das alles ist doch auf die Menschen abgestimmt, oder? Auf ihre Erwartungen, auf ihre Bereitschaft zu glauben! Und wenn die Wiederbelebung des Fafnir dem richtigen Muster folgt, dann wird aus einem verrückten Magier ein verrückter Antimessias!«

»Aber welchem Muster?«

»Nun, all diese… die vier apokalyptischen Reiter… das Tier, das aus dem Meer heraufkommt…«Plötzlich nahmen Igors Augen einen starren Ausdruck an. »Anton… es heißt doch, Fafnir sei im Meer bestattet worden! Und… was, wenn der Tod von Alissa und diesem Jungen, Makar,… im Meer… eine Art Opfer darstellt… das ist auch ein Heraufkommen Dunkler Kraft…«

Anton schüttelte den Kopf und wischte sich die schweißglänzende Stirn ab. »Haben wir nicht einfach zu viel getrunken, Igor? Ja, ich stimme dir zu: Geser versucht… könnte versuchen, Swetlana zur Mutter eines neuen Messias zu machen… der gewissermaßen eine neue Verkörperung Christi wäre… hm… oder einfach eines Zauberers mit nie da gewesenen Kräften… Es sieht ganz danach aus. Und Sebulon versucht im Gegenzug eine Figur mit gleichen Kräften aufzutreiben. Aber all das mit einem Armageddon in Verbindung zu bringen, mit der Bibel, mit Religion - das geht doch wohl zu weit!»

»Aber es ist das Jahr 2000!«, schrie Igor fast. »Verstehst du das nicht? Was die Magier denken, ist eins, aber die Realität der Menschen, ihre Träume und Ängste… die biegen die Realität auf ihre Weise zurecht! Und die auftauchenden Figuren werden alle nötigen Eigenschaften haben! Gehen wir!«

»Wohin?«

»Wodka holen. Im Restaurant.«

Anton seufzte und sah auf die Flasche. Die war in der Tat leer. »Lass uns lieber anrufen und ihn bestellen.«

»Vergiss es, ich muss mir die Füße vertreten.«

Anton erhob sich, verstaute das Amulett in der Tasche und nickte. »Gut, gehen wir…«

An den Fahrstühlen war niemand, trotzdem mussten sie lange warten. »Halt dir doch mal vor Augen, was Sebulon machen kann…«, meinte Igor gegen die Wand gelehnt. »Er klaut die Kralle des Fafnir aus dem Depot…«

»Wie das?«

»Was heißt hier, wie das? Einmal ist sie schon gestohlen worden, da kann es auch ein zweites Mal passieren! Dann werden ein paar magische Handlungen durchgeführt und die mythologischen Vorstellungen von der Apokalypse in Szene gesetzt. Heuschrecken… der Stern Wermut… vier Reiter…«

»Ich stell mir schon vor, wie Sebulon vier Pferde am Zügel führt.«

»Ach was, Pferde sind gar nicht nötig!«Igor runzelte die Stirn. »Du weißt genauso gut wie ich, was die Magie der Analogien ist. Nehmen wir einfach mal vier Menschen, besser noch vier Dunkle. Einen Asiaten, das ist das rote Pferd, einen Afrikaner, das ist das schwarze Pferd, einen Europäer, das ist das weiße Pferd, und einen, sagen wir mal, Skandinavier, das ist das fahle Pferd… Wir setzen sie auf Spielzeugpferde aus Holz…«

Anton erstarrte vor der Tür des Fahrstuhls, die sich gerade öffnete.

In der verspiegelten Kabine standen, die Lichten verängstigtanschauend, die Regin-Brüder. Die Adoptivkinder der Sekte-, ein Afrikaner, ein Chinese und ein Ukrainer. Freilich… in welchem Hotel hätten sie sonst untergebracht sein sollen? Schließlich hatten sie beim Tribunal der Inquisition zu erscheinen… Irgendwie langsam, ohne Hast ließ sich Anton durch den Kopf gehen, dass der vierte Kämpfer ausgerechnet ein Skandinavier gewesen war.

Und wie gut, dass er es gewesen war…

Anscheinend hatte Igor den gleichen Gedanken. »Drei…«, murmelte er.

In tödlicher Stille schlossen sich die Türen des Aufzugs. Doch Juha Mustaioki trat plötzlich nach vorn, quetschte den Fuß zwischen den Spalt, genau unter die Fotozelle. Sofort gingen die Türen wieder auseinander.

»Ich möchte der Moskauer Nachtwache danken«, sagte er unerwartet. Ohne Frage war er außer sich, versuchte aber dennoch, sich unter Kontrolle zu halten. »Das war sehr human.«

»Was war human?«, fragte Anton.

»Pasi Ollykainen zu verzeihen. Wir… wir wissen es zu schätzen, dass er noch lebt.«

»Wo ist er?«, rief Anton aus.

»Unten… in der Bar…«Verwundert sah Juha die Magier an.

»Vier Pferde…«, sagte Igor tonlos. »Vier Pferde! Vier Pferde!«

Mustaioki fuhr zurück und sah seine Gefährten verwirrt an.

Die Magier blieben allein zurück.

»Alles passt!«Igor drehte sich Anton zu. »Siehst du das nicht? Alles!«

»Wart mal…«

Anton konzentrierte sich, um sich an die Bewegungen zu erinnern. Er hob die rechte Hand, fuchtelte damit vor Igors Gesicht herum, riss sie abrupt herunter und dann wieder nach oben, wobei er mit den Fingern eine Schale formte.

»Dass dich doch…«, stöhnte Igor mit erstickter Stimme und stürzte ins Zimmer. Anton folgte ihm langsam. Während er auf Igors gekrümmten Rücken blickte, der in der geöffneten Toilettentür zu sehen war, streckte er sich im Zwielicht nach ihm aus. Igor stöhnte auf.

Der Ernüchterungszauber ist nicht sehr kompliziert. Aber sehr unangenehm für das manipulierte Objekt.

Ein paar Minuten später kam Igor aus dem Bad. Mit nassen Haaren, eingefallenen Augen, leichenblass.

»Das fahle Pferd…«, murmelte Anton. »Komm… jetzt bist du bei mir dran.«

Igor führte bereitwillig die Passes durch, sodass jetzt Anton über der Kloschüssel hing. Danach wusch er sich, trank das ekelhaft schmeckende Leitungswasser (er hatte sofort Durst bekommen) und kam ein paar Minuten später wieder ins Zimmer. Igor hatte die Spuren ihres Besäufnisses bereits beseitigt. Er sah Anton an. »Das schwarze Pferd…«, meinte er amüsiert.

Anton ging zum Kühlschrank, holte zwei Flaschen Mineralwasser heraus, riss mit den Fingern den Kronkorken ab und ließ sich in einen der Sessel fallen. Igor nahm die zweite Flasche. Eine Weile tranken sie in seligem Schweigen ihr Wasser. »Man-nomann… was haben wir uns hinter die Binde gegossen«, meinte er schuldbewusst.

»Diese Schaukelpferde!«, fluchte Anton und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Allein zuzugeben, dass wir auf so was gekommen sind, ist peinlich!«

»Aber es sieht recht logisch aus…«, gab Igor kleinlaut zu bedenken. »Diese verfluchten Brüder… Der vierte lebt also doch?«

»Offensichtlich…«Anton breitete die Arme aus. »Ich weiß nur, dass Geser ihn im Zwielicht verfolgt und erwischt hat…«

»Ja, gewiss… Weshalb hätte er einen Verdächtigen umbringen sollen? Er hat ihn der Inquisition übergeben. Vermutlich gleich da, im Zwielicht. Anton… ob wir vielleicht doch Recht haben?«

»Ist der Fusel doch nicht ganz raus?«, wollte Anton wissen.

»Nein, nein… der ist draußen«, seufzte Igor. »Und richtig trinken kann ich jetzt auch nicht mehr! Ein verfluchter Mist ist das! Sebulon wird doch einen verrückten alten Magier nicht aus dem Zwielicht holen. Was sollte er mit diesem Prachtburschen schon anfangen? Und weshalb sollte er das Ende der Welt herbeiführen, indem er einen Antichrist schafft…«

»Und Fafnir selbst reißt sich auch nicht um diese Aufgabe«, erklärte Anton. »Ganz bestimmt nicht. Dazu fehlt es ihm an Mumm.«

»Dann ist also alles, was wir uns überlegt haben, Müll?«

Anton sah auf das Blatt Papier, auf dem Fettflecken von der Wurst und feuchte Kreise von den Gläsern prangten. Wann hatten sie es denn geschafft, alles so einzusauen - sie waren doch eigentlich ganz manierlich gewesen?

»Was Swetlana angeht, nicht, fürchte ich. Aber der Rest… Warum haben wir uns so in die Zahl achtundachtzig verbissen? Was ist denn an ihr so geheimnisvoll?«

»Sie ist… so rund, du kannst sie von beiden Seiten lesen…«Igor winkte mit der Hand ab und lachte. »Ja, du hast Recht. Betrunkenes Gequatsche.«

Anton hob einen Marker auf, der heruntergefallen war. Er strich den Kreis mit der Beschriftung Regin-Brüder durch. »Sie sind raus aus dem Spiel«, sagte er. »Allem Anschein nach haben sie ihre Mission erfüllt, nämlich den Spiegel mit Kraft zu versorgen. Worum wir uns jetzt kümmern sollten, Igor…«

Igor sah den Kreis mit seinem eigenen Namen an. »Ich wäre froh, wenn ich daran glauben könnte, eine besondere Mission zu haben«, seufzte er. »Daran, dass ich Sebulon und der Tagwache die Suppe gehörig versalzen habe. Aber…«Hilflos breitete er die Arme aus.

»Igor, du bist der Schlüssel zu allem«, meinte Anton. »Verstehst du das? Wenn wir herausfinden, warum Sebulon versucht hat, dich aus dem Weg zu räumen, um etwas gegen Swetlana zu unternehmen, dann werden wir siegen. Wenn wir es nicht herauskriegen, geht die Partie an ihn. »

»Es gibt noch Geser. Soweit ich es verstanden habe, kommt er heute Morgen hierher.«

»Besser wäre es, wenn wir ohne ihn dahinter kämen.«Anton entging nicht, dass in seiner Stimme ein Hauch von Ärger mitschwang. »Seine… seine Entscheidungen sind zu global.«

Edgar goss sich den schalen Sekt ein, der vom Vorabend übrig geblieben war, trank ihn und runzelte die Stirn. Nur Aristokraten trinken gern Sekt zum Frühstück, dachte er. Oder Degenerierte. Na, mit einem Aristokraten hast du jedenfalls keine Ähnlichkeit, mein Guter…

Die seltsame Angewohnheit eines Wächters, in jeder Lebenssituation über Probleme nachzudenken, behielt Edgar selbst während nächtlicher Ausschweifungen bei. Auch in der letzten Nacht hatte Edgar weiter darüber gegrübelt, was die beiden Chefs der Moskauer Wachen dieses Jahr zu Weihnachten planten… Was ihn freilich nicht daran gehindert hatte, dem Akt Vergnügen abzugewinnen.

Also, dachte Edgar. Was haben wir denn? Am besten, ich nehme mir alles häppchenweise vor. Alles, bis zum letzten Detail.

Welchen Nutzen kann Sebulon aus der derzeitigen Situation ziehen? Ich müsste mir in Gedanken ein Modell von ihr machen.

Das Tribunal, zu dem beide Wachen jemanden schickten. Nicht die besten Kräfte, aber auch nicht die schlechtesten. Zwei Magier, beide unter den ersten Zehn. Edgar und Anton. Es würden noch Beobachter kommen, daran dürfte kaum zu zweifeln sein. Ebenfalls dürfte außer Frage stehen, dass während der Sitzung des Tribunals keine der beiden Seiten etwas unternehmen würde - alle würden versuchen, bei der gleichgültigten und unparteiischen Inquisition einen Vorteil für sich herauszuschlagen.

Aber war sie so unparteiisch? An ihrer unparteilichen Einstellung zweifelte Edgar nicht im mindesten. Dazu hatte er be-reits zu lange in der Welt der Anderen gelebt. Nicht einmal - nicht ein einziges Mal - hatte ihn auch nur die Spur eines Zweifels am Handeln und Verhalten der Inquisition beschlichen. Die Diener des Großen Vertrages blieben stets kalt und entschlossen. Jemand hatte einmal völlig richtig bemerkt, die Inquisition urteile nicht über Recht und Schuld, sondern bestrafe lediglich denjenigen, der den Großen Vertrag verletzt. Darin drückte sich der Kern der Weltsicht eines jeden Inquisitors aus, doch Edgar, bereits zu dieser Erkenntnis gelangt, verstand nach wie vor nicht, was die Inquisitoren zwang, so und nicht anders zu handeln.

Ob die höchsten Magier das wussten? Geser und Sebulon?

Also, das Tribunal. Der Lichte Igor Teplow kann freigesprochen werden (was nicht zu wünschen wäre) oder aber verurteilt.

Im ersten Fall bliebe der Moskauer Nachtwache ein zwar vorübergehend kampfunfähiger, ansonsten aber starker und - was nicht zu unterschätzen war - sehr erfahrener Magier dritten Grades erhalten. Bereits vor ihrem Zweikampf in Südbutowo war Edgar mit Teplow zusammengestoßen, wenn auch nie so direkt. Unmittelbar nach dem Krieg, in dem unvergesslichen Fall des»Aschfarbenen Belosersk«. Damals griffen sowohl die Moskauer wie auch die Tallinner Wache an den unglaublichsten Orten ein, so auch im Gebiet Wologoda. Es fehlte an Leuten… genauer gesagt, an Anderen. Sowohl bei den Dunklen wie auch bei den Lichten.

Im zweiten Fall wäre der Magier der Nachtwache unwiderruflich verloren. Was die Frage aufwarf: Ja und? Antwort: Igor Teplow ist gar nicht der, der er zu sein scheint. Genauer: Mit ihm ist etwas verbunden, das kaum jemand weiß, die Magier der Extraklasse ausgenommen. Überhaupt sieht es sehr danach aus, als schlage Sebulon treffsicher und hartnäckig auf zwei Ziele im Lager des Feindes ein: auf Igor Teplow und Swetlana Nasarow. Dafür hatte er sogar seine kleine Freundin Alissa geopfert. Die logische Verbindungen zwischen dem Kampf in Butowo, dem Duell im Artek und den reichlich verworrenen Ereignissen, die das Auftauchen des Dunklen Spiegels begleiteten, hatte Edgar noch nicht erfasst. Doch es reichte ihm, sie deutlich zu spüren. All diese Auseinandersetzungen und Intrigen verband mit Sicherheit ein Faden, dessen Ende direkt zur Hand Sebulons führte.

Nun, der Versuch, eine zukünftige Große Zauberin zu beseitigen, war völlig verständlich und gerechtfertigt. Aber weshalb wollte Sebulon dem Magier Igor ans Leder? Warum ausgerechnet ihm? Und warum ausgerechnet jetzt, nicht früher, als er noch schwächer und unbedarfter gewesen war?

Das ließ nur eine Schlussfolgerung zu: Igor war erst zu dem Zeitpunkt gefährlich geworden, als Swetlana in die Reihen der Nachtwache aufgenommen worden war.

Gut. Weiter.

Die Auferstehung Fafnirs. Ort und Zeit hätten nicht besser gewählt sein können: am Vorabend des Jahres 2000 im Zentrum der europäischen Nekromantie. In welchem Zusammenhang stand das jedoch mit dem Tribunal und dem Fall Teplow/Donnikowa?

Das war die Frage!

Düster trank Edgar etwas Sekt und dachte darüber nach, dass ihm kaum noch Zeit verblieb, nur noch bis zum Abend. Deshalb traf er die einzig mögliche Entscheidung, nämlich sich unverzüglich ins Büro der hiesigen Tagwache zu begeben und die Unterlagen zu dem Duell von Siegfried und Fafnir anzufordern sowie im Necronomicon den Eintrag zur Auferstehung zu studieren.

Edgar war als Magier stark genug, um den Mechanismus der Auferstehung eines Großen Dunklen zu begreifen, um zu verstehen, welche der unabdingbaren Voraussetzungen gegenwärtig erfüllt werden konnten und welche nicht.

Die Deutsche schlief immer noch tief und fest. Es hätte Edgarleid getan, sie zu wecken. Er wusch sich, rasierte sich, zog sich Kleidung und Schuhe an, berührte sanft ihr schlafendes Bewusstsein und trat in den morgendlichen Schnee Prags hinaus.

Das Büro der Tagwache lag im Vyšehrad, direkt über der Vltava, untergebracht in einem zweistöckigen Privathaus aus Ziegelsteinen, mit einer alten, aber noch funktionierenden Pumpe. Ihr Hebel glich einem gekrümmten Zeigefinger. Der Tradition gemäß stieg Edgar in einer gewissen Entfernung aus dem Taxi, um den Kollegen die Möglichkeit zu geben, ihn zu bemerken und eine Entscheidung zu treffen.

Die Kollegen enttäuschten ihn nicht. Dreihundert Meter vorm Eingang entdeckten sie Edgar. Er spürte, wie jemand kurz seine Aura berührte, und öffnete sich - gerade so weit, dass der Magier, der ihn scannte, feststellen konnte: Hier kommt ein Dunkler, ein Dunkler Magier, ein Dunkler Magier zweiten Grades, und er kommt dienstlich. So und nicht anders, indem er die Information in zunehmendem Grade dosierte.

Prag ist natürlich eine europäische Hauptstadt, mit Moskau kann sie aber trotzdem nicht mithalten. Der - nebenbei bemerkt einzige - Posten am Eingang, ein Schrat, lächelte Edgar mit gebleckten Zähnen an.

Schon wieder ein Schrat, dachte Edgar leicht verwundert. Ob sie in Prag wirklich häufiger vorkommen? Das ist schließlich schon der zweite…

Im Territorium der ehemaligen UdSSR waren insgesamt nur sechs Schrate registriert: zwei in Turkmenistan und je einer auf der Krim, in Weißrussland, in Jakutien und auf Kamtschatka. Edgar wusste das, weil er sich vor fünfzehn Jahren mit einem Fall außerhalb von Tallinn beschäftigt hatte, bei dem alle sechs als Zeugen auftraten.

Die Zwielicht-Gestalt des Schrats war fast klassisch. »Ich grüße Sie, Kollege!«

»Guten Tag.«

Im Zwielicht gab es natürlich keine Verständigungsprobleme. »Was führt Sie in unsere Bastion? Ein Fall? Oder ist das nur ein Höflichkeitsbesuch?«

»Eher ein Fall. Wo finde ich hier das Archiv?«

»Im zweiten Untergeschoss, alles Weitere sehen Sie dann selbst.«

Zweites Untergeschoss, dachte Edgar. Also ein Keller mit mehreren Geschossen…

»Vielen Dank. Kann ich dann durchgehen?«

»Natürlich! Ein Dunkler kann gehen, wohin er will, oder etwa nicht?«

Edgar seufzte. Irgendwie war es so - und doch auch wieder nicht.

»Der Fahrstuhl ist dort drüben«, erklärte der Schrat.

»Vielen Dank«, meinte Edgar noch einmal und ging in die genannte Richtung.

Der uralte Aufzug brachte ihn zwei Stockwerke unter das Straßenpflaster. Und dabei ging es noch weiter hinunter: Noch fünf weitere Geschosse versteckten sich unter der Erde. Die Prager Wache hatte gründliche Arbeit geleistet!

Der Flur vor dem Fahrstuhl war absolut winzig, maß nur vier mal vier Meter. Rechts und links gab es je eine Tür; an der einen hing ein Schild»Bibliothek«, an der andern eins mit der Aufschrift»Rechenzentrum«.

Fangen wir mit der Bibliothek an, beschloss Edgar. Zur Zeit von Fafnir und Alhazred gab es noch keine Computer… zumindest keine Computer im heutigen Sinne.

Edgar trat auf die Tür linker Hand zu. Sie war nicht abgeschlossen, sondern einfach nur zu.

Eine klassische Bibliothek: ein großer Saal, in dem ein Dutzend Tische und lange Reihen mit Bücherregalen standen. Ein Blick auf die Rücken genügte, um zu erkennen, dass die altehrwürdigen Folianten sich der besonders anderen Anderen entsannen…

Edgar blieb stehen. In diesem Moment kam hinter den Regalen ein unglaublich dünner Dunkler hervor. Ein Vampir. Zudem ein Höherer Vampir, das erkannte Edgar sofort.

Normale Vampire gibt es in Moskau reichlich. Sie stellen das unterste Glied dar. Jenes Kanonenfutter, von dem Anton Gorodezki gesprochen hatte. Zu magischen Handlungen sind sie kaum in der Lage, selbst ein miserabler Magier ist stärker als sie. Etwas andres sind Höhere Vampire, die in Moskau und in Osteuropa aus irgendeinem Grund überhaupt nicht vorkommen. Eine Ausnahme stellen hier jedoch Tschechien und Rumänien dar.

»Guten Tag. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

»Guten Tag. Ich suche Materialien zu einem Magier aus der Vergangenheit.«

»Zu welchem denn?«, wollte der Vampir wissen.

»Fafnir. Der Zwielichtdrache.«

»Oh, oh!«, meinte der Vampir respektvoll. »Das war ein mächtiger Magier. Einer der stärksten Dunklen in der gesamten Geschichte der Menschheit. Was konkret interessiert Sie denn?«

»Die Todesumstände. Die Gründe für das Duell mit Siegfried, die Vorgeschichte, Einzelheiten… Kurzum, ich möchte mich umfassend über diese bemerkenswerte Persönlichkeit informieren. Die Sache ist nur die, dass mir dafür leider nur ein paar Stunden zur Verfügung stehen. Außerdem würde ich mir gern klar machen, wie eine Aktion aussehen müsste, die zu einer Rückkehr aus dem Zwielicht führt…«

»Eine solche Aktion ist leider praktisch unmöglich«, meinte der Vampir mit einem traurigen Lächeln. »Dafür wären Manipulationen von solcher Kraft und Intensität notwendig, dass die Dunklen - und zwar alle weltweit, das betone ich ausdrücklich - das Recht darauf nicht erwerben könnten, selbst wenn sie einen hundertjährigen Winterschlaf hielten.«

»Gleichwohl.«Edgar beschrieb einen Kreis mit der Hand. »Ich würde diese Aufgabe gern lösen, und sei es nur auf dem Papier. »

»Dann müssen Sie im Necronomicon von Alhazred nachlesen«, riet der Vampir. »Dort werden die nötigen Schritte zur Rematerialisierung eines Wesens recht ausführlich beschrieben.«Ohne Übergang fragte er dann:»Sind sie ein Theoretiker der Nekromantie?«

»Wie kommen Sie denn darauf!«, meinte Edgar mit breitem Lächeln. »Ich habe mich noch nie mit Nekromantie beschäftigt. Aber jetzt habe ich angefangen, mich dafür zu interessieren…«

»Dann haben Sie genau das Richtige getan, als Sie nach Prag gekommen sind. Hier kennt man sich mit Nekromantie aus, und Sie werden so viele Experten finden, wie Sie brauchen… Aber leider sind sie alle Theoretiker geblieben, und Sie wissen natürlich ganz genau, weshalb.«

Edgar wusste in der Tat, warum.

Weil die Inquisition seit der Unterzeichnung des Großen Vertrages nur zweimal eine Rematerialisierung sanktioniert hatte, und beide Male nur vorübergehend. Weil das Tribunal Zeugen vernehmen musste. Mitunter gibt es also die Möglichkeit, einen dematerialisierten Anderen aus dem Zwielicht zurückzuholen. Das wurde zweimal getan, aber nach dem Verhör wartete auf die Anderen wieder das Zwielicht.

Edgar glaubte nicht, dass ein Magier vom Niveau eines Fafnir sich nicht prophylaktisch um ein Schlupfloch zur Rematerialisierung gekümmert hatte. Er musste es geradezu tun, sobald er ein bestimmtes Niveau erreicht hatte. Nebenbei bemerkt hoffte Edgar, auch selbst einmal diese Stufe zu erklimmen. Mit nicht weniger Berechtigung hoffte er übrigens auch, nicht dematerialisiert zu werden, doch das Leben gebärdet sich so seltsam, dass es einem immer wieder die komischsten Überraschungen bereitet. Vor allem unter den Bedingungen eines anhaltenden Krieges.

»Kommen Sie hierher.«Der Vampir wies auf die Tische. »Ich bringe Ihnen gleich die Bücher. Ich vermute, Sie interessierensich keineswegs für die Legenden der Menschen, sondern für die Chroniken der Anderen. Das stimmt doch, oder?«

»Ja, natürlich, verehrter Kollege. Natürlich.«

»Ich bin gleich wieder da.«

Der Vampir kam in der Tat schnell zurück. Offenbar arbeitete er schon so manches Jahrzehnt als Hüter der Bibliothek und kannte seine Bücher aufs Trefflichste.

»Bitte schön«, sagte er und legte zwei Werke auf den Tisch. Bei dem einen handelte es sich um einen alten, in matt gewordenes braunes Leder gebundenen Folianten, das Necronomicon in der Übersetzung von Gerhard Küchelstein. Das zweite Buch war kleiner und wirkte bescheidener. In der Mitte der Seite prangte in Schnörkelschrift der Titel Lebensbeschreibung und Erklärung der ruhmreichen Taten sowie der Prophezeiungen und der unzähligen beispiellosen Entdeckungen des Großen Dunklen Magiers, welchselbiger den Anderen unter dem Namen Fafnir oder Zwielichtdrache wohlbekannt ist von Johann Jetzer, Urmongomod. Anscheinend das Original.

Der Titel des Buches von Jetzer-Urmongomod dürfte vermutlich weit archaischer gewesen sein, doch Edgar war des Althochdeutschen nicht mächtig und musste durchs Zwielicht lesen, wobei stilistische Besonderheiten geglättet und der Text nivelliert, dafür jedoch weitaus verständlicher wurde.

Die Taten des Fafnir las Edgar kursiv. Wie zu erwarten, interpretierte dieser Foliant die Ereignisse deutlich anders als die Edda oder das Nibelungenlied. Zum einen waren natürlich sowohl Sigurd (alias Siegfried alias Sirvit) wie auch Regin, Hreidmar und Fafnir selbst Andere. Natürlich war Hreidmar nicht der biologische Vater von Fafnir und Regin nicht sein Bruder. Durch eine lange und sorgfältig eingefädelte Intrige stiftete Sigurd Unfrieden unter den Dunklen Magiern und vernichtete sie alle - manche durch fremde Hand, manche durch die eigene. Selbstverständlich hatte es Sigurd nicht auf irgendwelche Schätze, wertloses Metall oder funkelnde Steine abgesehen. Sigurd und die Übrigen machten Jagd auf das Erbe des Zwergs Andwari, doch worum es sich dabei handelte, ging aus der Arbeit Jetzers nicht hervor. Vielleicht um alte und mächtige Artefakte, vielleicht einfach um bestimmte Kenntnisse (zum Beispiel in Form von Büchern). Sigurd tötete am Ende jedenfalls alle und brachte Andwaris Erbe in seinen Besitz. Was dann weiter geschah, konnte Edgar nirgends herausfinden. Fafnir hatte Sigurd als Vorletzten besiegt, vor Regin. Offenbar konnte Fafnir trotz allem bestimmte Geheimnisse mit ins Zwielicht retten, doch das hat die Magier jener Zeit wenig geschert, die weder an Verträge noch Bestimmungen gebunden waren und ohne jede Rücksicht auf die Inquisition handeln konnten, da diese damals noch gar nicht existierte.

Das Wichtigste, was Edgar erfuhr, war, dass Fafnir über einige vergessene Kenntnisse im Bereich der höchsten Kampfmagie verfügte (was ihm freilich im Duell mit dem arglistigen Sigurd kaum geholfen hatte), die er mit ins Zwielicht genommen hatte. Folglich konnte Sebulon durchaus versuchen, sich diese Kenntnisse anzueignen.

Nachdem er zu diesem recht offensichtlichen Schluss gekommen war, nahm Edgar sich das Necronomicon vor.

Das Erste, was Edgar herausfand, war, dass es sich bei der Rematerialisierung nicht unbedingt um die Auferstehung eines vormals dematerialisierten Anderen handelte. Alles war viel einfacher und banaler.

Am besten ließ sich das Ganze mit einer Rochade vergleichen. Jemand geht ins Zwielicht ein, jemand tritt an seiner Stelle aus dem Zwielicht heraus. Je höher das Kraftniveau des zu Rematerialisierenden ist, desto stärker muss der zu Dematerialisierende sein. Das Niveau muss aber nicht absolut gleich sein, etwas»Luft«ist durchaus zulässig. Wenn das, was Urmongomod über Fafnir schrieb, der Wahrheit entsprach, dann konnte der Zwielicht-Drache gegen einen Dunklen Magier zweiten oder dritten Grades ausgetauscht werden. Allerdings nur bei einer entsprechenden globalen Energiezufuhr. Diese Zufuhr konnte eine Inszenierung der Apokalypse durchaus gewährleisten. Die Gefühle Tausender von Menschen bringen einen solchen Sturm, eine solche Bö von Emotionen hervor, dass der auferstandene Fafnir, wenn er aus dem Zwielicht trat, vermutlich voller Kraft sein würde, ein mächtiger Dunkler Magier, den es nach Rache und Freiheit dürstete. Nach einer Freiheit, die er vor sehr lange Zeit verloren hatte.

Was würde er tun, der Große Magier der Vergangenheit, der noch nie ein Wort vom Vertrag oder der Inquisition gehört hatte? Wie wollte Sebulon mit ihm fertig werden? Machte er sich darüber überhaupt Gedanken? Der Zwielichtdrache am Himmel des weihnachtlichen Europas - was konnte wahnwitziger und schrecklicher sein?

Denn wenn Fafnir lostobt und eine Stadt nach der nächsten abfackelt, Zerstörung bringt, blindlings seine Kraft freisetzt, dann würden ihn die Menschen schon zum Schweigen bringen. Mit Raketen. Dieses Lichte Ass mit seinen Chicago Bulls würde aus seinem Phantom oder Harrier schon was Passendes abfeuern… Vielleicht brachten sie ihn um, vielleicht nicht - aber zum Schweigen würden sie ihn auf alle Fälle bringen. Ob es Europa danach leichter haben würde? Brauchte es Atompilze? Beschauliche Städtchen, die in den Flammen Fafnirs aufgingen?

Aber vermutlich würde Fafnir nicht seine Kraft einsetzen, sondern seine Erfahrung und seine Tücke - und dann gute Nacht Europa. Dann würde es weitaus mehr Opfer und Zerstörung geben.

Nur, was hatte Sebulon von alledem?

Das verstand Edgar nicht.

Was war noch für die Auferstehung des Zwielichtdrachen nötig? Ein Magier zweiten oder dritten Grades am richtigen Ort… An welchem eigentlich?

Zehn Minuten lang berechnete Edgar diesen anhand der Sterne und der mobilen Energieherde. Eine Aufgabe mittleren Schwierigkeitsgrades: Fafnir war im Norden Europas ins Zwielicht geschickt worden… Also musste seine Rematerialisierung möglichst beim Übergang vom Jahr 1999 zum Jahr 2000 in… Eben!

Das Ergebnis erstaunte Edgar nicht sehr. Tschechien. Prag.

Gleich darauf durchströmten Edgar jedoch unschöne Vorahnungen. Ein Magier zweiten oder dritten Grades am richtigen Ort… In Prag…

Das war er! Edgar, der Este!

Edgar wischte sich den schlagartig austretenden Schweiß von der Stirn und machte sich wieder an die Lektüre.

Als Figur in Sebulons Spiel taugte bei weitem nicht jeder. Das Objekt der Rochade musste beispielsweise an einem ganz bestimmten Ort geboren worden sein. Das war alles reichlich vage… An welchem Ort denn nun?

Die Auswertung ergab: Skandinavien, Norddeutschland und das Baltikum.

Das Baltikum.

Der Chef der Moskauer Tagwache hatte den Esten völlig überraschend zur Arbeit in die Hauptstadt abbeordert… Niemand hatte dafür einen triftigen Grund erkennen können…

Wer war noch in Skandinavien, Norddeutschland oder dem Baltikum geboren worden und hielt sich zurzeit in Prag auf?

Niemand. Nur Edgar.

Davor hatte Juri ihn also vor seiner Abreise nach Prag gewarnt. Genau davor. Wovor sonst?

Also. Ruhig. Ganz ruhig. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren. Wer gewarnt ist, ist gewappnet. Was gab das Necronomicon noch her?

Es sind vier Dunkle nötig, die den Kreis der Auferstehung bilden. Nun, das ist klar. Ein Kreis ist die Variante eines Portals, der an die Energie der vier genannten angeschlossen werden muss, die mit dem extravaganten Namen Reiter des Dunkels bezeichnet werden.

Zudem waren die Reiter rot, schwarz, weiß und fahl. Kurzum, genau wie die Pferde im Szenario der Apokalypse. Haargenau. Und auch die passenden Magier waren hier. Freilich nur drei. Die Regin-Brüder… die übrigens rot (der Asiat!), schwarz (der Afrikaner!), weiß (der Slawe) und fahl (der von Geser ermordete Skandinavier!) sind.

Sebulon hatte doch gesagt, er habe mit diesen dreien noch etwas vor. Jetzt konnte Edgar so kühn sein und mutmaßen, was genau. Und das Fehlen des vierten Reiters dürfte Sebulon kaum aufhalten.

Edgar arbeitete den Abschnitt im Necronomicon bis zum Ende durch und stieß dabei noch auf zwei Details. Kleine, doch allem Anschein nach wichtige.

Da Fafnir ein Drache war, musste seine Auferstehung laut Kanon so aussehen, als käme er aus dem Meer. Das war allerdings nicht zwingend notwendig. Dagegen war es unbedingt erforderlich, dem Meer ein Opfer zu bringen. Zuvor. Wo auch immer, in China oder auf den Falklandinseln.

Oder auf der Krim.

Als Opfer sollte ein»Jüngling oder eine Maid«dargebracht werden. Kein Kind mehr, aber auch noch kein Erwachsener.

Das Artek, schoss es Edgar sofort durch den Kopf. Der Teenager, der infolge des Duells ertrunken ist.

Und noch etwas. Wenn Sebulon für die Rolle der zweiten Figur in dieser Rochade wirklich ihn, Edgar, bestimmt hatte, dann musste der Chef, wo auch immer er sich befand, in den letzten vierundzwanzig Stunden ein Bild von Edgar aufgetrieben haben. Ein Porträt oder ein Foto. Am ehesten wohl ein Porträt. Und er musste die Darstellung bei sich tragen. Bis zum Moment des Austauschs.

Das war's. Die Bibliothek konnte Edgar Jetzt nicht mehr helfen. Hastig dankte er dem als Bibliothekar angestellten Vampir und eilte zu einem Computer.

Natürlich könnte er einfach in Moskau anrufen. Doch ein Anruf ließ sich leicht abhören, und Edgar wollte auf gar keinen Fall zu früh die Karten auf den Tisch legen. Darüber hinaus war erabsolut sicher, dass Alita jetzt auf einem der Kanäle der IRC chatten würde.

Der Systemadministrator, entweder ein schwacher Magier oder ein Zauberer, zeigte ihm hilfsbereit, wie er ins Internet kam. Edgar dankte ihm. Sofort tauchte der junge Mann wieder hinter dem Bildschirm seines Laptops ab, der mit Maschinencode übersät war. Er programmierte auf althergebrachte Weise, ganz ohne neumodischen WindowsDelphi-Kram.

Edgar startete mirc, wählte sich gewohnheitsgemäß in den DALnet-Server in Göteborg mit einer lustigen Kuh als Logo (die Kuh war natürlich mit Buchstaben und Ziffern als Pseudographik gestaltet) ein und gab sein Passwort ein, klinkte sich aber in keinen Chatroom ein. Er wählte im Menü Query und gab den Spitznamen ein, den er suchte: Alita.

Ein neues Fenster öffnete sich.

Am meisten hatte Edgar davor Angst, im Ergebnisfeld werde die trockene Auskunft»No such nick or Channel«erscheinen.

Doch das Dunkel war ihm gnädig. Schon im nächsten Augenblick bekam er eine Antwort. Die in der gewünschten Adresse bestand: alita@ncport.ru.

»Edgar! Hallo! Bist du in Prag?«

»Ja. Alita, ich muss dringend etwas wissen… allerdings ist es etwas merkwürdig. Und nicht für alle bestimmt. Hilfst du mir?«

»Blöde Frage, Edgar! Natürlich.«

»Bist du in den letzten Tagen beim Chef gewesen?«

Die Wahrscheinlichkeit, dass Sebulon eine kleine Hexe zu sich rief, war insgesamt recht niedrig - aber mit irgendwas musste er ja anfangen.

»Ja. Warum?«

Ach nee, wunderte sich Edgar. Habe ich es also getroffen! »Hast du zufällig gesehen, ob der Chef ein Foto oder Porträt von mir im Büro hat?«, tippte er weiter. »Auf dem Tisch zum Beispiel…«

»Woher weißt du das denn?«Alita schickte ihm eine ganzeReihe Smileys, die ihre gute Laune symbolisierten. »Nach deiner Abreise hat der Chef zwei Zeichnungen in Auftrag gegeben. Dein Porträt und die Darstellung eines Drachen. Beide stehen in Rahmen auf seinem Tisch. Die Rahmen habe ich in einem Geschäft für Künstlerbedarf in der Twerskaja gefunden. Der Chef hat mir dafür eine Flasche Cliquot geschenkt!«

Edgar kniff die Augen zusammen.

Das war's. Der letzte Strich unter der zukünftigen Rochade. Dein Urteil, Edgar der Este.

Und was wirst du jetzt tun?

»Vielen Dank, Alita«, hackte er mit hölzernen Fingern. »Ich muss wieder los, stecke bis über beide Ohren in Arbeit…«

»Tschüss, Edgar. Ich küsse dich!«

Die Smileys wollte er sich nicht einmal mehr ansehen. Edgar schloss das mirc-Fenster und stand vom Tisch auf.

Der Programmierer sah ihn über seinen Bildschirm hinweg an. »Schon fertig?«, fragte er, ohne sich jedoch allzu sehr darüber zu wundern.

»Ja«, antwortete Edgar. »Vielen Dank.«

Er ging zur Tür, ohne über irgendetwas nachzudenken. In seinem Kopf hatte sich schallende Leere ausgebreitet.

Sebulon hatte ihn also ausgewählt wie eine Kuh fürs Weihnachtsschaschlik. Denn er brauchte einen relativ starken Magier aus dem Baltikum. Hatte ihn zu sich gerufen und beschützt. Hatte ihm für kurze Zeit das Kommando übertragen - und zwar nicht über irgendwen, sondern über die Moskauer Wache. Aber im Grunde bist du die Kuh. Zur rechten Zeit wirst du abgeschlachtet. Er hat dich benutzt wie einen Gegenstand. Jetzt tauscht er dich ab wie eine Figur.

Denn das Spiel ist endlos, auch wenn die Figuren nur vorübergehend auf dem Brett bleiben.

Und dann? Wenn die Zeit kommt, erscheint auf dem Spielfeld eine neue schwarze Dame. Bringt es dem Offizier, der so schnell von der Peripherie nach vorn geschoben worden ist, dann wirklich nichts mehr, mit den Armen zu rudern und sich an der glatten Oberfläche des Spielfelds festzuklammern?

O nein! Vielleicht bin ich keine Dame, dachte Edgar bei sich, der jetzt langsam zu kochen anfing. Aber auf alle Fälle bin ich auch kein Bauer. Ich will nicht einfach so vom Brett genommen werden. Ich wehre mich. Und wenn mir das gelingt, werde ich halb Europa vor Schwierigkeiten bewahren.

Schließlich gibt es noch die Inquisition. Etwas sagte Edgar, dass die Träger der grauen Kittel sich kaum über ein neuerliches Auftauchen des Zwielichtdrachen freuen würden.

Das vorweihnachtliche Prag schien irgendwie verschwunden zu sein, zur Seite getreten, verblasst. Edgar nahm sich ein Taxi und fuhr in das Hotel, in das er jetzt musste. Unterwegs sah er nicht einmal aus dem Fenster. Geistesabwesend bezahlte er schließlich und marschierte ins Foyer. So wie er den Hotelportier ansah, wäre der vermutlich glücklich gewesen, wenn sich der Granitboden unter ihm aufgetan hätte.

Raschen Schrittes ging Edgar zu den Fahrstühlen, sodass in seinem Rücken der offene Mantel fast hochwehte. Er schoss auf das Zimmer zu, das ihm der Instinkt eines Anderen genannt hatte.

Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Und schluckte krampfhaft.

Aus der Bar kamen gerade die»Finnen«, die Regin-Brüder. Alle vier. Vier, und nicht drei - zu dem Chinesen, dem Afrikaner und dem Slawen hatte sich der echte Finne hinzugesellt, den alle für tot hielten.

Doch der Finne war gesund und munter.

Na klar, weshalb hätte Geser einen Zeugen umbringen sollen?

Vermutlich überkommen einen Künstler die unterschiedlichsten Gefühle, wenn er das letzte Stückchen Glas in das nunmehr vollständige Mosaik einpasst. Aber was sollte derjenige machen, für den sich die Glasscherben des Mosaiks zu den trockenen Worten eines Urteils zusammenfügen?»Bruder!«, wandte sich einer der»Finnen«feierlich an Edgar. »Wir möchten dir und der Tagwache Moskaus für die Unterstützung danken. Kommst du mit uns? Wir begießen die Rettung unseres Bruders Pasi, den alle für tot gehalten haben.«

Der echte Finne lächelte gequält, und seine Miene brachte deutlich zum Ausdruck, wie sehr ihn die Sorge seiner Gefährten rührte.

»Herzlichen Glückwunsch…«, sagte Edgar tonlos. Obwohl zum Gratulieren eigentlich kein Anlass bestand - alle vier würden bei der Auferstehung Fafnirs unweigerlich sterben.

»Mein Dunkler Bruder.«Als der Magier Edgars Zögern bemerkte, drang er nicht weiter in ihn ein. »Du weißt nicht zufällig… warum dieser Lichte, der ebenfalls angeklagt ist… warum er uns die vier Pferde genannt hat?«

Seine Gefährten nickten unisono und empört.

»Das kann man wohl nicht als unbegründete Beleidigung betrachten?«, hakte der Anführer der Regin-Brüder nach.

»Nein«, antwortete Edgar. »Das ist schlimmer als eine Beleidigung. Das ist die Wahrheit.«

Darauf stürzte er zum Fahrstuhl.

Sechs

Anton kapitulierte gegen Mittag. Trotz der bemerkenswerten Fähigkeit von Alkohol, die Fantasie anzuregen, rührten Igor und er keinen Wodka mehr an. Schon von Kaffee wurde ihm übel. Das hervorragende tschechische Bier wollte er auch nicht.

Igor stand am Fenster mit einem Glas Trinkjoghurt von Danone in der Hand und wies mit einem Kopfschütteln einen weiteren Vorschlag Antons zurück. »Was du nur für Ideen hast! Was soll ich schon für ein Drachentöter sein? Und haben wir die Version mit Fafnir nicht schon längst ad acta gelegt?«

»Und wenn sie doch stimmt?«

»Ändert das auch nichts. Hier geht es um einen Kampf von Magiern, nicht um ein Duell mit einem feuerspeienden Ungeheuer…«Igor grinste. »Außerdem würde ich bei einem Kampf zwischen dem Drachen Fafnir und einigen modernen Kampfhelikoptern auf die Hubschrauber setzen«, fügte er dann zynisch hinzu. »Geben wir das Rätselraten auf, Anton. Wir kriegen es doch nicht raus.«

»Und trotzdem, Igor, du bist der Schlüssel.«

»Und was heißt das? Den Schlüsseln wird nie mitgeteilt, welche Tür sie öffnen sollen. Ich bin ein stinknormaler Anderer, Anton. Nur Sebulon weiß, worin meine… Bedeutung besteht. Und Geser vermutlich auch. Gleich ist er bei uns, dann werden wir ihn danach fragen.«

Anton sah durchs Zwielicht. »Wirklich?«, fragte er neidisch. »Ist er schon so nah? Ich spüre ihn nicht…«

»Ich spüre ihn auch nicht, ich habe durchs Fenster gesehen, wie sie ins Hotel gekommen sind.«

An der Tür klopfte es leise. Ein Tribut an die Höflichkeit, mehr nicht, denn bereits einen Augenblick später kamen die Gäste durchs Zwielicht herein. Geser, sein schweigsamer Schatten Alischer und Swetlana. Swetlana wurde von den beiden Magiern durchs Zwielicht geführt. Sie sah Anton erst, als alle drei aus dem Zwielicht heraus in die Menschenwelt eintraten. Sie lächelte und breitete ein wenig schuldbewusst die Arme aus: Sieh dir an, was aus mir geworden ist! Und Anton wurde abermals von jener sehnsuchtsvollen und schuldbewussten Zärtlichkeit durchströmt, die mit Scham und Wut auf ihn selbst versetzt war. Dabei hatte er keine andre Wahl gehabt, als dem Spiegel zu erlauben, Swetlana ihre Kraft zu rauben… Und was das Wichtigste war: Swetlana lebte noch… Doch wie sollte er dem verfluchten Gefühl entkommen, die Partie verloren zu haben?

Ob Igor etwas Vergleichbares empfand, wenn er an Alissa dachte? Vergleichbar, aber umso vieles bitterer?

Dann blieb ihm nur, sich zu wundern und darüber zu freuen, dass er noch am Leben war…

»Guten Tag, Kinder…«, sagte Geser sanft.

Er trug einen bescheidenen, nicht sehr teuren Anzug und eine Krawatte von gedeckter Farbe. Ein mittelständischer Geschäftsmann, der sich bei Marks amp; Spencer einkleidet und seinen Mitarbeitern zu Weihnachten stets kleine Geschenke zukommen lässt. In diesem Fall sah Geser das beste Geschenk anscheinend in seiner eigenen Person…

»Seien Sie gegrüßt, Boris Ignatjewitsch«, erwiderte Anton. Den Tag gut zu nennen - da weigerte sich seine Zunge. »Sei gegrüßt, Alischer.«

Mit Sweta tauschte er nur nochmals einen Blick, bevor er sie bei der Hand nahm und zum Sessel führte. Wie eine Kranke… Was sollte das bloß…

»Guten Tag, Chef«, sagte Igor ruhig. »Ich freue mich, Sie zu sehen. Grüß dich, Sweta. Hallo, Alischer.«

Der Leibwächter (wenn man einen Magier dritten Grades allen Ernstes als Leibwächter für einen Großen Magier durchgehen lassen will) oder eher wohl die Ordonnanz von Geser, der Sohn eines Devona und einer Menschenfrau, nickte den Magiern schweigend zu und zog sich in eine Ecke des Zimmers zurück. Dort blieb er wie angewurzelt stehen, die Hände vor der Brust verschränkt und teilweise im Zwielicht verschwunden. Anton spürte, dass Alischers Fähigkeiten zur Beobachtung im Zwielicht künstlich gesteigert worden waren, allem Anschein nach vom Chef. Und dass der junge Magier versuchte, Igor nicht anzusehen, entging Anton ebenfalls nicht. Noch eine sinnlose Scherbe - Alischers Vater war von Alissa Donnikowa umgebracht worden. Auch wenn er kein Mensch oder Anderer ist - was genau eigentlich ein Devona, dieser treue Gehilfe hoher Magier ist, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Der Devona selbst vollbringt keine Ruhmestaten, das ist nicht seine Aufgabe. Er dient lediglich den Helden, indem er ihren Weg von kleinen Hindernissen befreit. Außerdem stärkt er die Familienbeziehungen… sorgt dafür, dass große Helden zur Welt kommen…

Anton stockte der Atem.

Die Kinder von Tiermenschen erben in der Regel die Fähigkeit, sich zu verwandeln. Magier bekommen nur selten Andere. Aber wie war es bei einem Devona?

Was ist Alischer? Einfach ein Magier? Oder ein Devona wie sein Vater, der viele Jahrhunderte der Gehilfe Gesers in Zentralasien gewesen war?

Und wozu brauchte der Chef einen jungen usbekischen Magier? Hatte Geser ihn nur aus Sentimentalität und Pflichtgefühl in die Moskauer Wache aufgenommen und an sich gebunden?

»Anton!«

Er sah Swetlana an und verstand erst jetzt, dass er ihren Arm zu fest gepackt hielt. »Entschuldige…«

Geser stand vor Igor und sah ihm in die Augen. Lange und schweigend. Dann seufzte er und ging irgendwie gekrümmt und ermattet zum Sessel. Er setzte sich und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Boris Ignatjewitsch«, sagte Igor. »Sie müssen mir das verzeihen!«

»Nein!«, schrie Geser, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen. »Ich verzeihe dir das nicht! Hast du dich in die Hexe verliebt? Darüber werde ich nicht urteilen, das ist dein Schicksal. Aber dass du dich schon aufgegeben hast, dafür kannst du keine Vergebung erwarten!«

Igor fühlte sich eindeutig nicht wohl in seiner Haut. Anton sah ihn an und begriff mit einem Mal, dass er trotz allem ins Ziel getroffen hatte. Wenn auch nicht ins Schwarze, natürlich nicht - es wäre dumm gewesen zu glauben, man könne einen Magier, den das Leben zermürbt hatte, mit einem profanen Besäufnis und Gesprächen über Freunde benebeln und ihm seinen Lebenswillen zurückgeben. Noch dümmer wäre es, darauf zu hoffen, ihn davon zu überzeugen, dass seine Liebe schlicht und ergreifend eine widerwärtige gierige Schlampe war.

Aber ihr langes Gespräch in der letzten Nacht, ihr Versuch, die Ereignisse zu verstehen, diese neue Phase im Krieg der Wachen zu durchschauen - all das gehörte zu der Rolle, die sie zu spielen hatten. Igor war von seiner schwermütigen Qual abgelenkt worden. Er fühlte sich wieder wie einer von ihnen.

Damit konnte Geser doch nicht gerechnet haben, oder?

Denn dann wäre sein ganzes Verhalten - inklusive dieser Szene - vorbedacht und berechnet!

Immerhin hatte der Chef insofern Recht, als Igors Verstand im Moment einfach getrübt war…

»Geser, es gibt etwas, das noch nicht einmal du verlangenkannst!«, sagte Igor plötzlich. In scharfem Ton. Mit hochkochendem Zorn. Und bebender Stimme.

»Ja, natürlich, Hauptmann Igor Teplow.«Gesers Stimme war kalt wie Eis. »Das darf ich nicht! Aber wer hatte das Recht, im November 1942 von dir zu verlangen, unter Kugelhagel durch den Dnjepr zu schwimmen? Und wer hatte das Recht…«

»Das ist was anderes!«

»Wieso denn?« Geser erhob sich und trat an Igor heran. Abermals blieb er wie angewurzelt vor ihm stehen, ein kleiner Mann - er war einen Kopf kürzer als Igor - mager und absolut nicht heldenhaft. »Teplow, muss ich dir vielleicht erklären, was der Krieg fordert? Er frisst nicht in erster Linie den Körper, sondern den Geist! Und als du in der ruhmreichen Stadt Berlin den armen Rotzjungen aus der Hitlerjugend mit einem Messer malträtiert hast, damit er seine Leute verrät, hast du das genau gewusst!«

Igor zuckte zusammen, als habe er einen Schlag ins Gesicht bekommen.

»Gewissen… Liebe… Ehre…«, deklamierte Geser nachdenklich. »Niemand hat das Recht, dich zu zwingen, gegen dein Gewissen zu handeln. Niemand hat das Recht, dich zu zwingen, deine Liebe zu verraten. Niemand hat das Recht, dich zu überreden, gegen deine Ehre zu handeln. Niemand. Da hast du Recht. Trotzdem tun wir das! Aus freiem Entschluss. Wenn in einer Waagschale unsere Liebe, unser Gewissen und unsere Ehre liegt und in der andern eine Million Menschen, die verliebt sind, ein reines Gewissen haben, ihre Ehre achten. Wir sind keine Engel, das passt nicht zu uns. Und ich verstehe deinen Schmerz, das kannst du mir glauben! Aber sieh dir Alischer an! Und versuch, auch seinen Schmerz zu verstehen! Und frag Anton, was er über deine Liebste denkt! Und Swetlana!«

»Ich kann Igor nicht verurteilen«, sagte Swetlana leise. »Sie müssen schon entschuldigen, Chef. Und du verzeih mir auch, Alischer. Vielleicht bin ich eine Idiotin… und nicht würdig, in der Wache zu arbeiten. Nur kann ich euch alle verstehen.«Sie sagte das sehr leise, ohne jede Effekthascherei, aber Geser blieb nun stumm, erstarrte und ging dann von Igor weg. »Als ob ich das nicht verstehe…«, sagte er und breitete die Arme aus.

Im Zimmer senkte sich Stille herab, zähe Stille.

»Geser, wann immer mir die Pflicht etwas gebot, habe ich es getan«, sagte Igor plötzlich. »Ehrenhaft und unerbittlich. Ohne Rücksicht auf… auf meine Gedanken und Gefühle. Aber meine Pflicht habe ich erfüllt. Bis zum Ende.«

»Nein. Da hast du Unrecht, Igor.«Geser durchquerte das Zimmer und holte eine Zigarre aus seiner Tasche. Er sah sie an, runzelte die Stirn und steckte sie wieder zurück, um ein Päckchen der demokratischen Pall Mall herauszukramen. Er knüllte es zusammen und fuchtelte ärgerlich mit der Hand… »Die Wache braucht dich. Wir alle brauchen dich. Ich brauche dich.«

»Swetlana braucht mich…«, bemerkte Igor beiläufig.

»Swetlana, Alischer, Ilja, Semjon, Bär, wir alle!«, erwiderte Geser sehr schnell. »Das ist doch klar!«

Igor lächelte, als akzeptiere er die Notwendigkeit, nicht offen zu sprechen. »Für lange?«, hakte er plötzlich in sachlichem, ernstem Ton nach.

»Höchstens für zwanzig Jahre«, antwortete Geser so ruhig, als habe er die Frage erwartet.

»Hoffst du, dass in dieser Zeit meine Liebe zu Alissa vergeht, Geser?«, fragte Igor.

»Das auch«, gab Geser zu. »Aber die Wache braucht dich gerade jetzt. In den nächsten Jahren.«

»Weshalb, Geser?«

»Lass uns einfach machen, Igor. Wir versuchen, dich herauszuholen. Und wir holen dich heraus, glaube mir, wenn du uns nur machen lässt… oder noch besser, uns ein klein bisschen hilfst.«

Igor dachte nach. »Ich werde Alissa Donnikowa nicht anklagen, mich verzaubert zu haben«, sagte er dann. »Das hat sie nicht. »

»Aber du könntest doch die Vermutung äußern, eure Begegnung sei von der Moskauer Tagwache herbeigeführt worden.«

»Das könnte ich«, nickte Igor. »Vermutlich war das ja auch so.«

»Das ist alles.«Geser breitete die Arme aus. »Um mehr bitte ich dich nicht.«

Er sah wirklich zufrieden aus.

Anton hüstelte. Er wartete, bis Geser ihn ansah. »Boris Ignatjewitsch«, sagte er dann. »Ich möchte Sie auch um einen Gefallen bitten. Erklären Sie uns, welche Rolle Igor in unserer neuen Intrige spielt.«

»Nur Igor?«

»Ja. Wozu Sie Swetlana, mich und den Devona Alischer brauchen, ist auch so klar.«

Der in seiner Ecke erstarrte junge usbekische Magier zuckte zusammen.

»Guten Nachwuchs haben wir…«, sagte Geser müde. »Schlau. Und gleichzeitig so dumm…«

Er hielt inne und sah sich konzentriert um. Dann schüttelte er den Kopf. Anton spürte, wie sich um sie herum Kraft ausbreitete. Das Zimmer anfüllte, aufheizte. Wie eine feste Mauer drückte und etwas nach außen drängte…

»Ich kann das nicht sagen«, gestand Geser überraschend ein. »Ich kann das aus einem ganz einfachen Grund nicht sagen…«

»Weil wir uns dann weigern würden mitzuarbeiten?«, fragte Anton scharf.

»Nein.« Geser schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil. Ich schwöre beim Licht, dass diese Ereignisse niemandem von euch Schaden zufügen werden. Weder eurem magischen noch eurem menschlichen Ich… Ihr würdet wirklich mit echtem, aufrichtigem Eifer mitarbeiten. Aber…«Er wog jetzt jedes Wort ab. »Im Moment läuft tatsächlich die Schlussoperation der Moskauer Nachtwache. Leider ist das auch die Schlussoperation der Tagwache. Vom Verhalten jedes Einzelnen hier hängt genauso wie vom Verhalten unserer Gegner… hängt zu viel ab. Wir machen unsere Schritte, dito unsere Feinde. Diese Schritte können verfehlt sein, glücklos und falsch. Aber den Sieg wird derjenige erringen, der zum Schluss den richtigen Schritt macht!«

»Sieger werden nicht verurteilt«, stimmte Anton zu. »Aber die Figuren auf dem Schachbrett haben nicht das Recht, sich selbständig zu bewegen.«

»Jeden Zug von euch kann Sebulon ohne Mühe erahnen!«, brüllte Geser. »Mach dir da nichts vor, Anton. Auch dass du das Auto, in dem der Spiegel gesessen hat, gerammt hast, war ein Schritt, den er vorausgesehen hat! Ja, es war ein erfolgreicher Schritt! Ja, das kleinere Übel! Aber er hat niemanden überrascht! Weder Sebulon… noch mich.«Er holte Luft. »Kinder…«, fuhr er dann ruhiger fort. »Ihr seid für mich keine Figuren auf einem Schachbrett. Glaubt mir das. Und auch keine Werkzeuge.«

»Aber eine von uns«, meinte Swetlana lächelnd und brachte zum Ausdruck, wie lächerlich ein solcher Satz in einer männlichen Gesellschaft klang,»könnte die Werkbank sein, an der ein Werkzeug hergestellt wird?«

Anton fragte nicht, wie sie das herausgefunden hatte. Vielleicht hatte sie auch Schemata gezeichnet, heimlich, ohne ihm etwas zu sagen? Oder hatte sie etwas gespürt, als sie noch über ihre Kraft verfügte?

Geser hüllte sich in Schweigen und ließ den Kopf hängen. Er schien nachzudenken… Doch Anton bemerkte, dass sich der Schutzkokon um sie herum bis zu einer wahrhaft undenkbaren Dichte verstärkte. Wo lag die Grenze der Kraft der Großen Magier? Hatte sie überhaupt eine Grenze?

»Gut.«Geser nickte. »Swetlana, du hast Recht… aber nur teilweise… ach, beim Licht und beim Dunkel!«

Er sank in einen Sessel. Nun holte er doch seine Zigaretten heraus und zündete sich eine an. Bevor er weiter sprach, nahm er mehrere Züge. »Swetlana… du bist eine Große Zauberin. Solche wie du werden bloß alle paar Jahrhunderte einmal geboren. Potenziell bist du vermutlich stärker als Olga… Aber dein Wert für die Lichten - ich meine nicht nur für unsere Wache, sondern für die Lichten insgesamt - besteht darin, dass du die Mutter eines Messias werden könntest.«

»Nachdem Olga mein Schicksalsbuch umgeschrieben hat«, sagte Swetlana.

»Nein. Nicht erst danach. Man kann das Schicksal eines Anderen nicht so leicht umschreiben wie das Schicksal eines Menschen. Das war von Anfang an vorherbestimmt. Wir haben nur einige Details korrigiert. Winzigkeiten. Die dich nicht betreffen, auch nicht die Zukunft des… des zu erwartenden Kindes.«

»Welche?«In Swetlanas Stimme klang nun doch Ärger durch. Lange hatte sie ihre Wut zurückgehalten. Jetzt war Anton allerdings kurz davor loszuschreien - so bohrten sich ihre Finger in seine Hand.

»Nur das Datum!«Nein, Geser stand Swetlana in puncto Hartnäckigkeit in nichts nach. »Nichts, außer dem Datum! Zweitausend Jahre nach der Geburt Christi! Nie zuvor hat die Menschheit so an die Ankunft eines Messias geglaubt!«

»Meinen herzlichen Dank auch«, zischte Swetlana mit vor Wut schriller Stimme. »Ihr habt also entschieden, wann und von wem ich ihn euch zur Welt bringe?«

»Erstens, wieso ihn?«, wollte Geser wissen.

Anton, der sich eigentlich gerade in das Gespräch einmischen und sich zu Swetlanas Frage nach dem Vater äußern wollte, schluckte die bereits formulierte Antwort hinunter. Der Druck von Swetlanas Hand ließ jetzt auch nach.

»Für die einen entscheiden Mama und Papa, für die andern eine besoffene Hebamme und für die dritten ein Gläschen Wodka zu viel«, sinnierte Geser schwermütig. Auf die zweite Frage einzugehen war nicht nötig. »Swetlana, mein Kind! Mit diesen Kräften, mit dieser Vorbestimmung zu spielen ist gefährlich! Selbst ich würde das nicht wagen! Es ist vorbestimmt, dass du eine Tochter zur Welt bringst, die eine herausragende Figur im Krieg zwischen Licht und Dunkel werden wird! Ihr Wort wird das Universum verändern, ihr Wort wird die Sünder zur Beichte treiben, bei ihrem Anblick werden selbst die bedeutendsten Magier des Dunkels auf die Knie fallen!«

»Das ist nur eine Wahrscheinlichkeit…«, flüsterte Swetlana.

»Natürlich. Es gibt kein Schicksal - leider und glücklicherweise. Aber du kannst mir glauben, dass dieser müde alte Magier hier alles tun wird, was in seiner Macht steht, um diese Wahrscheinlichkeit Realität werden zu lassen.«

»Besser wäre ich ein Mensch geblieben…«, flüsterte Swetlana. »Besser wäre ich…«

»Wann hast du dir das letzte Mal eine Ikone angeschaut?«, fragte Geser. »Sieh Maria in die Augen und denke mal darüber nach, warum sie immer traurig sind.«

Es war sehr still.

»Ich habe euch schon mehr gesagt, als ich dürfte.«Geser breitete mit schuldbewusster Miene die Arme aus. Anton hatte zum ersten Mal den Eindruck, dass Geser ihnen nicht eine Sekunde etwas vorgespielt hatte. »Ich habe es gesagt und habe mit einem Fuß die Grenze des Zulässigen überschritten. Jetzt müsst ihr entscheiden. Darüber nachdenken, wer eine Figur auf dem Schachbrett ist und wer… wer eine vernünftige Persönlichkeit ist, in der Lage, über eine vermeintliche Beleidigung hinwegzugehen!«

»Vermeintlich?«, fragte Swetlana bitter.

»Als man dir erklärt hat, dass du dir nach dem Sandkasten die Hände waschen sollst oder dich dazu angehalten hat, dir eine Schleife ins Haar zu binden, war das auch eine Einmischung in dein Schicksal«, sagte Geser. »Und meiner Ansicht nach eine völlig gerechtfertigte.«

»Sie sind nicht mein Vater, Boris Ignatjewitsch!«, erwiderte Swetlana.

»Nein. Natürlich nicht. Aber für mich seid ihr alle meine Kinder…«Geser seufzte. »Ich erwarte euch im Foyer… genauer, Alischer und ich werden dort auf euch warten. Wenn ihr wollt, kommt nach.«

Er ging hinaus, wie ein Schatten folgte ihm der Devona.

Der Erste, der etwas sagte, war Igor. »Das Schlimmste ist, dass er in gewisser Weise Recht hat.«

»Wenn dir jemand mitteilen würde, dass du einen Messias zur Welt bringen sollst, werde ich noch einmal mit dir darüber reden, ob dieser jemand Recht hat!«, entgegnete Swetlana scharf.

»Für mich wäre das… weitaus… schwieriger…«, gab Igor kleinlaut zu.

Anton lächelte als Erster. Er sah Swetlana an. »Hör mal…«, sagte er. »Ich erinnere mich noch, wie du dich über die Ungerechtigkeit des Schicksals beklagt hast, dass Andere in der Regel normale Menschenkinder bekommen…«

»Da habe ich mich abstrakt empört…«Swetlana schlug die Hände überm Kopf zusammen. »Ihr beiden habt doch bestimmt was zum Rauchen…«

Schweigend gab Igor ihr eine Zigarette.

»Warum muss das so laufen? Hinter meinem Rücken?«, fragte Swetlana kläglich, während sie ihre Zigarette anrauchte. »Und wie will man aus mir… die Mutter eines Messias machen? Noch dazu eines weiblichen Messias!«

»Na ja, Messias ist einfach ein Terminus, der passt«, sagte Igor. »Entspann dich.«

»Ich bin keine Jungfrau mehr!«, erklärte Swetlana finster. »Und überhaupt… Ich halte mich auch nicht für die Tugend in Person…«

»Zieh keine überflüssigen Parallelen.«

Seltsamerweise schien Igor sich beruhigt zu haben. Und zwar richtig. Innerlich. Jetzt konzentrierte er sich sogar.

»Anton, nun sag doch auch mal was!«, platzte es aus Swetlana heraus, während sie ihn ansah. »Was ist denn mit dir? Geht dich das alles etwa nichts an?»

»Ich hoffe sehr, dass es mich ganz direkt etwas angeht«, erwiderte Anton. »Und ich glaube, dass wir jetzt zu Geser gehen sollten. Schön ist das bestimmt nicht für ihn, so dazusitzen und zu warten.«

»Er weiß doch schon alles… ahnt es…«Swetlana drehte sich um.

»Nein. Er weiß es nicht. Wenn wir wirklich keine Bauern sind, dann weiß er es nicht.«

Sanft erklang eine Gitarre. Igor, gegen die Wand gelehnt, hatte das Instrument in den Händen. Er sang so leise, dass Swetlana und Anton schweigen mussten.

Es bitten mich Teufel um Dienste,

Keinem jedoch will ich dienen.

Nicht einmal mir, nicht einmal dir,

Denen nicht, die es befehlen.

Denn solange sie leben,

Dien' ich keinem von ihnen.

Ich hab genug Feuer gestohlen,

Um es nie wieder zu stehlen

Igor legte die Gitarre weg, ließ sie sanft in den Sessel gleiten. So lässt man ein Instrument zurück, wenn man überzeugt ist, gleich wiederzukommen. »Gehen wir?«

Von den Dunklen betrat Edgar als Erster den Sitzungssaal des Tribunals. So sollte es sein. Mit ihm kam Anton herein, der durch die gegenüberliegende Tür eintrat. Höflich nickten sie einander zu, begrüßten sich. Edgar hegte keine besonderen Vorbehalte gegen diesen Lichten und ging davon aus, dass es sich bei Anton ebenso verhielt.

O ja, verglichen mit dem kleinen verfallenen Zimmer in der Lomonossow-Universität machte dieser Saal richtig Eindruck! Das hier war Europa, ohne Frage! Die Steingewölbe wirkten schwer und drückend, vermittelten aber gleichzeitig auch den Eindruck von Sicherheit und Ruhe. Ein einfacher Metalllüster, allerdings mit mehreren hundert Kerzen. Edgar hätte schwören können, dass die Kerzen nicht erst seit hundert Jahren brannten. Es hieß, die Berner Abteilung der Inquisition sei in einem ultramodernen Bau untergebracht gewesen; für die Prager galt das Gegenteil, es war ein sehr altes Gebäude.

Und gefiel Edgar besser.

Der runde Saal war in zwei Hälften unterteilt: Eine war mit hellem Marmor verkleidet, eine mit dunklem. In dieser augenfälligen Schlichtheit, die die beiden Kräfte demonstrierte, lag etwas ebenso Naives wie Erhabenes. Kleine Stehpulte - die Plätze für die Ankläger - standen in der Mitte rings um ein rundes Gitter, das ein dunkles Loch im Boden überdeckte.

Ein dreieckiger Keil aus grauem Marmor streckte sich fast bis zur Mitte in den Saal hinein. Er war den Inquisitoren vorbehalten, die natürlich schon anwesend waren. Sieben. Im Grunde galt die Inquisition nicht als Kraft, die den Wachen vergleichbar war, aber unter diesen sieben befanden sich, wie Edgar wusste, zwei Große: ein Dunkler und ein Lichter. Falls das Europabüro wollte, konnte es vermutlich mit Geser und Sebulon fertig werden.

Was nicht schlecht war.

Hinter Anton kamen weitere drei Lichte aus Moskau herein. Geser… nun ja, was täten sie ohne Geser?! Swetlana, auch nicht weiter verwunderlich. Und dieser Usbeke, der Sekretär oder Adjutant Gesers.

Hinter Edgar kamen bereits die Dunklen den Gang hinunter. Sebulon… Edgar spürte das Nahen des Chefs, drehte sich unwillkürlich um und fing das freundliche Nicken vom Oberhaupt der Moskauer Dunklen auf. Ja, ja… lach du nur, Judas… nein, du bist noch schlimmer als Judas, denn der hat seinen Lehrer verraten, aber du verrätst deinen Schüler! Aber hinter Sebulon kamen noch zwei Dunkle herein. Und wenn Edgar mit Anna Lemeschewa gerechnet hatte, so doch niemals mit Juri, der ihm jetzt verschmitzt zuzwinkerte, Juri, der ihn rechtzeitig vor den sinistren Plänen Sebulons gewarnt hatte.

Edgar zwang sich dazu, sich von seinen Kollegen abzuwenden und nur nach vorn zu schauen.

Igor brachte man als Letzten. Zwei einfache Inquisitoren gingen neben ihm her und begleiteten ihn schweigend zu dem vergitterten Kreis mit einem Durchmesser von drei Metern in der Mitte des Saals.

Entweder war in diesen Kreis keine besondere Magie eingeflochten oder Edgar spürte sie nicht. Und auch der Mechanismus, mit dem man das Gitter im Handumdrehen herunterklappen und den Angeklagten so in den tiefen Kellerschacht schicken konnte, machte den Eindruck, als sei er seit langem eingerostet und werde schon ewig nicht mehr benutzt. Trotzdem dürfte es nicht sonderlich angenehm sein, auf diesem Kreis zu stehen.

Igor achtete jedoch gar nicht darauf. Er stellte sich in die Mitte des Kreises, die Hände vor der Brust verschränkt.

»Im Namen des Großen Vertrages…«

Aus der Gruppe der Inquisitoren löste sich einer, der keinen grauen Kittel trug. Vitezslav, der Höhere Vampir.

»Wir sind die Anderen. Wir dienen unterschiedlichen Kräften…«

Mechanisch wiederholte Edgar die Worte des Vertrages und versuchte dabei, sich vorzustellen, womit Vitezslav anfangen würde. Und wie er selbst aus all dem bloß mit heiler Haut davonkommen sollte…

»Heute muss sich das Europäische Tribunal der Inquisition mit der Klage der Nachtwache Moskaus, Russland, gegen die Tagwache Moskaus, Russland, befassen«, erklärte der Vampir, nachdem der Vertrag verlesen worden war. »Die Gegenklageder Tagwache Moskaus gegen die Nachtwache Moskaus ist Teil dieses Prozesses. Gegenstand der Verhandlung ist das Duell zwischen dem Lichten Magier Igor Teplow und der Dunklen Hexe Alissa Donnikowa…«

Bis jetzt war alles ohne Überraschung verlaufen… Edgar bemerkte, wie er sich an das dunkle, kühle Holz des Stehpults geklammert hielt und sich mit aller Willenskraft zur Ruhe zwang. Schließlich war er ein erfahrener Jurist. Was unterschied eine Gerichtsverhandlung der Menschen schon von einer der Anderen?

Vielleicht die Art des Urteils…

»Der Prozessablauf wird jedoch leicht abgeändert«, fuhr Vitezslav fort. »Das Tribunal hat noch über zwei Fragen zu befinden, die mit der Hauptklage im Zusammenhang stehen. Die erste betrifft die Sekte der Dunklen, die sich selbst die Regin-Brüder nennt und des Überfalls auf das Depot der Inquisition, den Raub der Kralle des Fafnir, der unerlaubten Einfuhr dieses Artefakts nach Russland und des Widerstands gegen die Moskauer Nachtwache für schuldig befunden ist. Man führe die Angeklagten herein.«

Zwei weitere junge Inquisitoren brachten die vier Finnen herein. Ein leichtes Lächeln zeichnete sich auf den Gesichtern aller Anderen ab - es war einfach unmöglich, sich ein noch stärker an eine Karikatur gemahnendes Quartett vorzustellen.

»Es besteht vermutlich keine Notwendigkeit, die Umstände des betrüblichen Zwischenfalls zu wiederholen«, sagte der Vampir. »Alle Anwesenden sind mit den von der Inquisition zu diesem Fall zusammengetragenen Materialien vertraut. Jetzt ist es an der Inquisition, das Urteil zu sprechen. Ein gerechtes, sachliches und strenges Urteil.«

Die Gesichter der vier ließen darauf schließen, dass sie nicht auf Nachsicht hofften.

»Ein derart schweres Verbrechen wie der Überfall auf die Mitarbeiter der Inquisition und der Raub eines hochgefährlichen Artefakts aus ihrem Depot kann nicht anders als mit bedingungsloser Dematerialisierung bestraft werden«, verkündete der Vampir. Er machte eine Pause. Seine nächsten Worte ließen die Köpfe der Finnen hochschnellen:»Aber… aber die Angeklagten waren nicht unmittelbar in den Vorfall von Bern verwickelt. Wie aus den Prozessunterlagen erhellt, hat die Leitung der Sekte, die bedauerlicherweise bei der Verhaftung gestorben ist, die vier jungen Magier gezwungen, als Kuriere tätig zu werden. Insofern qualifiziert die Inquisition ihr Verhalten nur als Schmuggel und Widerstand gegen die Moskauer Nachtwache. Mildernde Umständen sind gleichfalls zu berücksichtigen: die tiefe und aufrichtige Reue, die Hilfe bei der Aufklärung nach der Verhaftung, die Jugend der Angeklagten sowie die bisherige Unbescholtenheit. Wenn die Moskauer Nachtwache weitere mildernde Umstände vorbringt und die persönliche Anklage gegen die Dunklen Magier fallen lässt, hat die Inquisition das Recht, ein weniger strenges Urteil zu fällen.«

Auf Seiten der Lichten erhob sich Geser. Er breitete die Arme aus. »Die Moskauer Nachtwache macht keine… persönlichen Ansprüche gegen die Angeklagten geltend. Darüber hinaus vertreten wir die Ansicht, dass die Führung der Sekte der Regin-Brüder zu diesem Verbrechen von einem… von einem unbekannten Dunklen Magier gedrängt worden ist.«

»Das ist nicht bewiesen«, erklärte Vitezslav.

»Nur die Identität des Drahtziehers ist bisher nicht festgestellt worden«, meinte Geser lächelnd. »Die Tatsache seiner Existenz kann keinem Zweifel unterliegen.«

Vitezslav nickte. Er wandte sich seinen sechs Kollegen zu. Eine Weile tauschten die Inquisitoren wortlos ihre Gedanken aus. Dann wandte sich Vitezslav wieder den vier erstarrten Finnen zu.

»Im Namen des Großen Vertrages. Unter Berücksichtigung der Nachsicht der Nachtwache, des Ausbleibens schwerwiegender Folgen und anderer mildernde Umstände räumt die Inquisition Ihnen das Recht ein, die Strafe selbst zu wählen. Variante eins: Sie werden zum Tod durch Erhängen ohne Beschneidung der bürgerlichen Rechte verurteilt…«

Der kräftige Afrikaner seufzte schwer, der Chinese und der Finne fassten ihn unterm Arm und stützten ihn.

»Die zweite Variante der Strafe: Von heute an bis zum Ende Ihrer Tage ist es Ihnen verboten, Magie anzuwenden. Sie haben das Recht, ein normales Menschenleben zu führen, das Sie jedoch nicht durch magische Möglichkeiten verlängern oder in seiner Qualität verbessern dürfen.«

Wie gebannt starrten die Finnen den Inquisitor an. Sebulon kicherte leise, nahm aber gleich wieder einen ernsten Ausdruck an.

»Das zweite… das zweite!«, stieß Juha Mustaioki mit gepresster Stimme hervor. Die übrigen drei nickten.

»Gibt es Einwände seitens der hier Anwesenden?«, fragte Vitezslav.

Abermals erhob Geser sich. »Wir…«Er seufzte. »Als Ausdruck unseres guten Willens… glauben wir… als kleine Geste… den Angeklagten die Anwendung von Magie gestatten zu können… niederer Magie… bei unbelebten Gegenständen.«

Offenbar brachte Geser jedes Wort nur mit Mühe über die Lippen, als müsse er sich zu dieser Barmherzigkeit zwingen.

»Sagen wir, um einen verlorenen Gegenstand wieder zu finden… einen kleinen… einen Schlüssel oder eine Münze… Um Fliegen aus dem Zimmer zu vertreiben… laut Bestimmung gelten Fliegen doch als unbelebt, oder? Um den Vergaser im Auto zu reinigen…«

Auf dem Gesicht des Vampirs zeichnete sich leichte Verblüffung ab. Das versteht er nicht, schlussfolgerte Edgar.

»Die Inquisition gibt dem statt…«, sagte der Vampir schließlich. »Drückt den Angeklagten das Siegel auf!«

Zwei Inquisitoren hoben die rechte Hand - und zu den vier Verurteilten schlängelten sich dünne funkelnde Energiefäden. Die Siegel brannten sich fest ein und ließen den Verurteiltennur die Möglichkeit, allerschwächste Magie anzuwenden. Vermutlich hatten die Inquisitoren in der Tat nicht verstanden, dass die überraschende Güte Gesers die Strafe nur schlimmer machte. Es ist eine Sache, auf jede Magie verzichten zu müssen und sich nach und nach mit einer menschlichen Existenz abzufinden. Es ist etwas ganz andres, sich jeden Tag wie ein unfähiger Krüppel vorzukommen, der sich mit einem Schatten seiner einstigen Fähigkeiten begnügen muss.

Die Finnen dachten darüber im Moment übrigens nicht nach. Man brachte sie, trunken vor Glück, aus dem Saal des Tribunals. Juha versuchte in einem fort, sich loszureißen, um allen die Hand zu drücken, doch die aufmerksamen Tribunalsdiener trieben ihn mit profanen Stößen hinaus.

Edgar schüttelte den Kopf. Im Grunde war es nicht schlecht, dass die Regin-Brüder gerettet worden waren. Aber dieser Preis… Er selbst hätte vermutlich einen schnellen Tod bevorzugt.

»Die nächste Frage der Sitzung wurde nicht vorab eingereicht«, sagte Vitezslav. »Die Inquisition bittet den Leiter der Moskauer Nachtwache, bekannt unter dem Namen Geser, in den Kreis der Anklage zu treten…«

Sebulon lächelte triumphierend.

»Desgleichen den Leiter der Moskauer Tagwache, bekannt unter dem Namen Sebulon.«

Die leichte Verwirrung auf Sebulons Gesicht überraschte Edgar in höchstem Maße. Nur: Wie viel davon war gespielt?

»Die erste Frage der Inquisition geht an den Großen Magier Geser.«Vitezslav sprach jetzt höflich, aber sehr streng. »Geser, haben Sie eine Manipulation am Schicksalsbuch der hier anwesenden Großen Zauberin Swetlana Nasarowa vorgenommen, um die besagte Große Zauberin auf diese Weise zu zwingen, Mutter eines Lichten Messias zu werden?«

Im Saal senkte sich Stille herab.

»Präzisieren Sie die Formulierung, Vitezslav«, bat Geser sanft. »Ansonsten nehme ich sie übel.«

Der Vampir bleckte die Zähne zu einem Lächeln. »Beantworten Sie den Kern der Frage, Großer Magier Geser.«

»Gut«, nickte Geser. »Ich habe eine solche Anklage nicht erwartet, aber… ich werde dem Tribunal alles erklären.«

Du hast sie erwartet, dachte Edgar bei sich. All das hast du erwartet, du alter Intrigant…

»Eine derartige Manipulation ist grundsätzlich unmöglich. Selbst für mich«, erläuterte Geser bescheiden.

Vitezslav schien das zu irritieren. »Lichter Magier Geser, aber das Schicksalsbuch von Swetlana Nasarowa…«

»… zeigt, dass sie Mutter einer der größten Lichten Zauberinnen wird oder, um es einmal poetisch auszudrücken, eines Messias des Lichts.«Geser lächelte fröhlich. »Das freut die Moskauer Nachtwache sehr… ach, nicht nur uns, sondern alle Lichten! Aber die verehrte Inquisition muss eins verstehen: Solche Dinge schreibt man nicht in das Schicksalsbuch. Mit keinen Mitteln. Auf keine Weise. Selbst mit dem Ihnen bekannten Artefakt nicht, das rechtmäßig der Nachtwache gehört.«

Der Vampir gab nicht nach:»Aber es ist doch eine Manipulation an dem Schicksalsbuch von Swetlana Nasarowa vorgenommen worden?«

»Ja.«Geser nickte. »Wie alle wissen… oder fast alle…, ist es möglich, einen neuen Eintrag im Schicksalsbuch vorzunehmen, was sich jedoch unmittelbar auf das Gleichgewicht von Licht und Dunkel auswirkt. Es ist recht einfach, belanglose Veränderungen im Schicksal eines gewöhnlichen Menschen herbeizuführen. Etwas schwieriger ist es, unbedeutendere Änderungen im Schicksal eines Anderen vorzunehmen. Und je stärker dieser Andere und je gewichtiger die Veränderung ist, desto empörter werden Licht und Dunkel dagegen protestieren. Können Sie, verehrte Mitglieder des Tribunals, sich vorstellen, welche Folgen es hätte, wenn im Schicksalsbuch einer Großen Zauberin ein Eintrag eingefügt würde, dass sie die Mutter eines Messias wird?«

Niemand antwortete.

»Jeder von uns… ja, alle Anderen zusammengenommen, würden allein bei dem Versuch, etwas derart Schändliches zu tun, dematerialisiert werden!«, rief Geser laut. »Zu Staub zerfallen! Die Welt würde einstürzen! Und Sie klagen mich einer solchen Tat an!«

»Lichter Magier Geser, welche Veränderungen haben Sie denn nun im Schicksalsbuch der Swetlana Nasarowa vorgenommen?«

»Nichtigkeiten!«Geser breitete die Arme aus. »Ich bin doch wohl verpflichtet, für meine Mitarbeiter Sorge zu tragen, oder? Eine Reise zu einem Ferienort in Italien… die Fahrschule… dies und das… Ich kann Ihnen eine detaillierte Liste vorlegen, wenn Sie das wünschen. Nichts von Bedeutung. Kleine Freuden des menschlichen Lebens!«

Vitezslav dachte nach. »An welcher Stelle haben Sie die Einträge vorgenommen?«, hakte er nach. »Vor oder nach dem Eintrag zur Geburt einer Großen Lichten?«

»Ich glaube vor…«, meinte Geser lächelnd.

»Folglich haben Sie den Zeitpunkt dieses Ereignisses korrigiert.«Vitezslav fragte nicht, er überlegte. »Sie haben die maximale Wahrscheinlichkeit dafür geschaffen, dass die zukünftige Tochter Swetlanas ein Messias des Lichts wird…«

»Das kann sein«, räumte Geser ein. »Was werfen Sie mir eigentlich vor? Schließlich habe ich doch nur versucht, das Leben meiner Mitarbeiterin angenehmer zu gestalten.«

»Aber hätten Sie für eine Verschönerung der Lebensumstände von Swetlana Nasarowa nicht andere Möglichkeiten gehabt? Eine kostenlose Reise? Eine Geldprämie? Ein freundschaftlicher Rat?«

Geser sah jetzt ehrlich verletzt aus. »Ich habe die Möglichkeiten ausgeschöpft, die mir zur Verfügung standen. Die Inquisition hat das Recht, sich darüber zu wundern, warum ich Nägel mit einem Mikroskop einschlage, ja… Aber sie kann mich deswegen nicht anklagen!«

Die Inquisitoren sahen einander an. Dieses Mal dauerte die wortlose Beratung fast eine Minute. Edgar merkte, wie ein Strom kalten Schweißes über seinen Rücken rann. Was sollte das alles?! Wenn die Inquisition Geser anklagte… einen Großen Magier dematerialisierte… Der war schließlich ein andres Kaliber als die vier Finnen, mit denen man ohne weiteres fertig werden konnte…

»Das fällt nicht in unsere Zuständigkeit«, sagte Vitezslav schließlich. »Großer Magier Geser, nachdem die Inquisition Ihre Erklärungen gehört hat, kommt sie zu dem Schluss, dass Sie die Buchstaben des Großen Vertrages nicht verletzt haben…«

»Die Buchstaben und den Geist!«, stellte Geser in scharfem Ton richtig.

»Die Buchstaben und den Geist!«, pflichtete ihm der Vampir bei, dessen Ärger jetzt jedoch durchbrach. »Gleichwohl stellt Ihr Vorgehen ein zweifelhaftes und gefährliches…«

»Nicht mehr als der Versuch der Moskauer Tagwache, Swetlana Nasarowa noch kurz vor ihrer Initiierung zu vernichten«, schnitt ihm Geser das Wort ab. »Haben Sie noch weitere Fragen an mich?«

»Nein«, antwortete Vitezslav. »Sie können an Ihren Platz zurückgehen.«

Während des Verhörs hatte Sebulon bescheiden am Rand des Gitterkreises gestanden. Ein anspruchsloser, unauffälliger grauer Schatten… Anscheinend nahm er es völlig gelassen hin, dass die Klage gegen Geser fallen gelassen wurde. Und das beunruhigte Edgar.

»Dunkler Magier Sebulon, die Inquisition hat auch an Sie einige Fragen«, sagte Vitezslav. »Haben Sie die Sekte der Regin-Brüder zu diesem Überfall angestiftet?«

»Niemand ist verpflichtet, gegen sich selbst auszusagen…«, erklärte Sebulon mit tonloser Stimme.

»Ist das ein Geständnis?«, fragte der Vampir schon etwas interessierter.

»Nein, ich zitierte damit nur das Gesetz. Sie haben nicht das Recht, mir eine solche Frage zu stellen. Deshalb werde ich sie nicht beantworten.«

»Gut. Einspruch stattgegeben. Großer Magier Sebulon, haben Sie, um dem zukünftigen Messias der Lichten etwas entgegenzusetzen, geplant, den Großen Magier Fafnir auferstehen zu lassen, der vor mehr als tausend Jahren ins Zwielicht geschickt und dematerialisiert worden ist?«

Sebulon blinzelte mehrmals. »Wie kommen Sie auf einen derartigen Quatsch?«, rief er voller Verwunderung.

»Haben Sie sich der Initiierung Swetlana Nasarowas entgegengestellt und gegen sie gerichtete Maßnahmen ergriffen?«

»Ja, innerhalb der vom Großen Vertrag erlaubten Grenzen«, erwiderte Sebulon rasch.

»Und Fafnir?«

»Was ist mit Fafnir?«, antwortete Sebulon mit einer Gegenfrage. Er sah Edgar an - und zwinkerte ihm zu.

»Warum haben Sie einen Mitarbeiter der Tagwache nach Prag geschickt, der ideal für die Rematerialisierung Fafnirs geeignet wäre?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!«

»Haben Sie geplant, folgende Parallelen herzustellen: Fafnir - der Antichrist, die vier Mitglieder der Sekte der Regin-Brüder - die vier apokalyptischen Reiter…«

Sebulon prustete los. Er lachte lange, fröhlich, ab und an wiehernd - wie man nur lachen kann, wenn man ein riskantes, aber ausgesprochen lustiges Spiel gewonnen hat. Er wischte die austretenden Tränen ab. »Der Sinn für Humor bei den Vertretern der Inquisition entzückt mich«, erklärt er dann schon ruhiger. »Fafnir ist ein verrückter Psychopath, ich habe ihn noch persönlich kennen gelernt, und wenn ich etwas nicht will, dann ist es, ihm noch einmal zu begegnen… Vor allem eignet er sich nicht im Geringsten als Messias der Dunklen! Dazu reicht seine Kraft nicht. Um Swetlana zu vernichten…«Sebulon lächelte. »… ja, dasschon. Aber dieser Preis… Wie kommen Sie nur darauf?! Und diese schwächlichen finnischen Magier… Wie war das? Was haben Sie gesagt? Die apokalyptischen Reiter?«

Edgar kam sich wie ein kompletter Idiot vor. Flehend sah er Vitezslav an. Doch der ließ nicht locker. »Weshalb haben Sie folgende Handlungen vorgenommen: die Vorbereitung des Todes von Alissa Donnikowa, der als rituelles Opfer für die Rematerialisierung verstanden werden kann, und der Auftrag an einen bekannten Moskauer Künstler, zwei Porträts anzufertigen, von dem Dunklen Magier Edgar und vom Drachen Fafnir?«

»Zu den Umständen des Todes von Alissa Donnikowa hätte ich auch noch was zu sagen!«, meinte Sebulon wieder ernst. »Soweit mir bekannt ist, wird das im nächsten Verhör zur Sprache kommen. Und die Porträts…«

Das Haupt der Moskauer Dunklen schob die Hand hinter das Revers seines Jacketts und holte zwei kleine, etwa 20 x 30 cm große gerahmte Bilder heraus. In dem einen Porträt erkannte Edgar sich voller Entsetzen selbst. Auf dem andern schlug krampfhaft ein Drache um sich.

»Das ist ein kleines Weihnachtsgeschenk für einen meiner besten Mitarbeiter. Wenn Sie einem alten Mann diese Sentimentalität nachsehen wollen…«

Mit diesen Worten machte Sebulon einen Schritt vor und streckte Edgar das Porträt hin. Ein gutes Bild, ohne Frage! Was Edgar jedoch Angst einjagte, war das Flüstern Sebulons:»Schlaukopf…«

Dann kehrte Sebulon wieder zum Kreis zurück.

»Und das zweite Bild?«, fragte Vitezslav.

»Reine Sentimentalität«, erklärte Sebulon. »Durch diese Regin-Brüder ist in meiner Seele einiges aufgewühlt worden. Ich habe mich an Fafnir erinnert… und beschlossen, mir zum Gedenken an ihn sein Porträt anfertigen zu lassen…«

»Sie haben nicht geplant, ihn wieder ins Leben zu rufen?«, hakte Vitezslav noch einmal nach. Und diesmal antwortete Sebulonsehr ernst und, wie es schien, völlig aufrichtig. »Nicht eine Sekunde. Es gibt einfachere Wege, um ans Ziel zu gelangen.«

Die Inquisitoren sahen einander an.

»Großer Magier Sebulon«, sagte Vitezslav. »Die Inquisition hat nichts gegen Sie vorzubringen, Sie können sich wieder an Ihren Platz begeben. Wir erinnern freilich noch einmal daran, dass Ihre Handlungen in ihrer Gesamtheit höchst zweideutig und gefährlich wirken…«

»Ja doch, das habe ich verstanden«, murmelte Sebulon, der bereits den Kreis verließ. »Schon bald wird es verboten sein, sich ohne Erlaubnis in der Nase zu bohren…«

Edgar sah zu Geser hinüber. Ob der alte Intrigant vor Wut schäumte?

Nein. Geser war nicht wütend. Es hatte den Anschein, als habe er die Worte Sebulons mit echtem Interesse vernommen. Folglich musste er zwar hundertprozentig davon überzeugt gewesen sein, dass sich das Haupt der Dunklen aus dieser Sache herauswinden würde, interessierte sich aber für das Wie.

Sie beide hatten all das von Anfang an gewusst!

Verzweifelt ordnete Edgar seine sich überschlagenden Gedanken. Also… Swetlana sollte tatsächlich die Mutter eines Messias des Lichts werden… der weiblichen Geschlechts war, was eine echte Überraschung darstellte! Sebulon hintertrieb das, aber… aber nicht, indem er einen Antichrist aus Fleisch und Blut schuf… Dabei handelte es sich nur um ein Ablenkungsmanöver, auf das er, obwohl kein dummer Dunkler Magier, wie ein kleiner Junge hereingefallen war!

Worum ging es dann?

»Die Inquisition kommt jetzt zur Behandlung der Hauptfrage des heutigen Tages, die für Licht und Dunkel von herausragender Bedeutung ist«, verkündete Vitezslav und beantwortete damit gleichsam die unausgesprochene Frage Edgars. »Der Fall Igor Teplow, Magier dritten Grades der Moskauer Nachtwache. Sie alle sind mit den Prozessunterlagen vertraut?«Niemand sagte etwas. Alle kannten das Material seit langem…

»Das Wort hat der Vertreter der Anklage, Anton Gorodezki!«

Der Edgar gegenüberstehende Lichte hob den Kopf. Er bedachte Vitezslav mit einem knappen Nicken. »Ich fasse mich kurz. Der Kern unserer Klage ist einfach: Der hier anwesende ehrenwerte Magier Sebulon hat Alissa Donnikowa mit Bedacht ins Artek geschickt, da er wusste, dass Igor Teplow sich dort zwecks Erneuerung seiner Kraft aufhielt. Vermutlich hat Sebulon sich die Wahrscheinlichkeitslinien angesehen und erkannt, dass unter den gegebenen Umständen zwischen Igor und Alissa unweigerlich etwas… unweigerlich Liebe entstehen würde. Eine tragische und hoffnungslose Liebe, da die beiden Beteiligten unterschiedlichen Kräften angehören. Eine Liebe, die mit einem Duell enden würde, bei dem entweder Igor oder Alissa sterben und der überlebende Gegner von der Inquisition verurteilt werden würde. Wir klagen Sebulon der bewussten und zynischen Beseitigung… des Versuchs der Beseitigung«, verbesserte er sich,»des Mitarbeiters der Moskauer Nachtwache Igor Teplow an. Im Zusammenhang damit bitten wir die Inquisition, die Klage gegen Igor Teplow auf Verletzung des Großen Vertrages und Mord an Alissa Donnikowa fallen zu lassen.«

»Ist das alles?«, fragte Vitezslav nach kurzem Schweigen.

»Nein. Ferner bitten wir darum, den Tod eines jungen Menschen, der nicht zu den Anderen gehört und infolge dieses Duells gestorben ist, hier zu behandeln. Da das Duell von Sebulon inszeniert worden ist…«

»Einspruch«, sagte Sebulon klirrend.

»Einspruch stattgegeben«, bestätigte der Vampir.

»Da wir glauben, das Duell sei von Sebulon inszeniert worden, muss ihm der Tod des Jungen ebenfalls zur Last gelegt werden, wohingegen Igor Teplow nicht dafür zur Verantwortung gezogen werden kann. Das ist alles.«

Vitezslav richtete den Blick auf Sebulon. »Können Sie auf den Kern der Frage eingehen?«

»Ich werde mich nicht dazu äußeren, den Grund habe ich bereits genannt«, erwiderte Sebulon kalt.

»Das Wort hat der Vertreter der Verteidigung.«

Edgar seufzte. »Die hier vorgestellten gedanklichen Konstrukte meines Kollegen sind ausgesprochen kurzweilig«, fing er an. »Wir erleben hier den Versuch, einen Verbrecher zu entlasten…«

»Einspruch!«, sagte Anton rasch.

»Den Angeklagten zu entlasten«, korrigierte sich Edgar. »Igor Teplow ist des Mordes an der jungen Hexe Alissa Donnikowa schuldig. Was jedoch das Schlimmste ist: die ihn von ganzem Herzen geliebt hat! Aber das ist noch nicht alles! Igor Teplow hat im Zuge seiner manischen Leidenschaft nebenbei auch noch den Jungen Makar Kanewski umgebracht. Er hat ein Kind getötet. Ein Menschenkind, das ebenfalls ein Recht auf Leben hatte! Doch auch das ist noch nicht alles! Als Folge des umfänglichen Kraftabzugs bei den Kindern, die im Artek Ferien gemacht haben, kam es bei sieben von ihnen im Laufe der darauf folgenden drei Monate zu nächtlichen Angstzuständen! Es sind zwei Fälle von hartnäckigem nächtlichen Bettnässen bekannt geworden! Der neunjährige Jurik Semezki aus Moskau ist einen Monat nach seiner Rückkehr aus dem Artek an Erstickung gestorben, als er sich in der Badewanne verschluckt hat. Und bis heute ist noch nicht geklärt, ob nicht auch das eine Folge des Tuns von Igor Teplow… des Lichten Magiers Igor Teplow ist!«

Er sah den Angeklagten an. Igors Miene war wie gemeißelt. Nicht zu durchdringen. Ausdruckslos.

»Die Lichten können so viele grundlose Anklagen vorbringen, wie sie wollen«, sagte Edgar. »Ohne Beweise, ohne eine vernünftige Erklärung, weshalb die Tagwache Moskaus eine junge und viel versprechende Mitarbeiterin opfern sollte, die bereits mehrfach von der Leitung gelobt worden ist, nur um einen insgesamt talentlosen Lichten Magier Dritten Grades zu beseitigen… Das ist eine Frage ihres Gewissens. Wir bitten die Inquisition nur, die Sachlage unvoreingenommen zu betrachten und den Schuldigen für die Verletzung des Großen Vertrages zu bestrafen.«Edgar holte Luft und formulierte seine abschließenden Worte. »Uns ist schon oft zu Ohren gekommen, dass die Lichten Magier, die sich in ethisch nicht zu gerechtfertigender Weise verhalten haben, sich selbst dematerialisieren. Unter der Last ihrer Scham ins Zwielicht eingehen… Wir haben viel davon gehört. Aber ich beispielsweise habe dergleichen noch nie gesehen. Igor Teplow dürfte den Mord an der in ihn verliebten Frau ebenso wie den Tod und das Leid unschuldiger kleiner Menschenkinder doch wohl kaum als eine Tat erachten, die ethisch einwandfrei ist!«

Er verstummte.

Die Inquisitoren sahen einander an. Dann ergriff Vitezslav das Wort. »Kann die jeweilige Seite Beweise für ihre jeweilige Wahrheit vorbringen?«

Geser schwieg.

»Verzeihen Sie«, fragte Sebulon verwundert,»aber welche Beweise könnte ich vorbringen, dass ich kein Kamel bin? Sollen doch die ein Fantasiegespinst beweisen, die es in Umlauf gebracht haben!«

»Die Inquisition hat die Meinung beider Seiten vernommen«, sagte der Vampir. »Angeklagter, wollten Sie dem etwas hinzufügen?«

»Ja.«Igor Teplow nickte. »Ich gebe zu, dass meine Handlungen nicht völlig gerechtfertigt waren… und ich mich ihrer Folgen schäme. Ich… ich bin sehr…«Er verhaspelte sich, sprach dann aber schnell weiter. »Mich verband mit Alissa Donnikowa eine sehr gute Beziehung. Aber dass sie sich als Dunkle herausgestellt hat, ließ mich im Affekt handeln. Ich bitte nicht um Gnade. Auch das Urteil über mich habe ich gefällt. Aber…«Abrupt drehte er sich Sebulon zu. »Der Mörder bist du! Du hast Alissa zum Tode verurteilt! Und genau deshalb bin ich gezwungen zu leben… gezwungen, damit deine Gemeinheit dir nichts bringt!«Sebulon breitete nur die Arme aus und seufzte schwer.

»Haben Sie dafür Beweise?«, fragte der Vampir.

Igor schüttelte den Kopf.

»Das Tribunal versteht die Bedeutung dieses Falls«, sagte Vitezslav. »Ungeachtet dessen, dass keine Seite Beweise hat vorbringen können, erkennt das Tribunal die Notwendigkeit an, den wahrhaft Schuldigen zu ermitteln. Insofern…«

Edgar sah, wie sich mit einem Mal Sebulons Gesichtsausdruck veränderte. Einfror, als sich seine Lippen halb zu einem traurigen Lächeln verzogen hatten.

»Insofern setzt die Inquisition die Vernehmung der Zeugen fort. Alissa Donnikowa wird einer temporären Rematerialisierung unterzogen.«

»Einspruch!«Sebulon erhob sich. »Der vorliegende Fall ist nicht von solcher Bedeutung, dass man die Ruhe der Toten stören müsste.«

»Einspruch abgelehnt. Die Inquisition bittet Anna Lemeschewa, die auf Weisung der Inquisition anwesend ist, in die Mitte des Saals zu gehen. Ihr Körper wird der temporären Materialisierung von Alissa Donnikowa dienen.«

Die Lemeschewa winselte auf. Doch schon im nächsten Moment geleiteten zwei einfache Inquisitoren sie, die leicht zappelte, in die Mitte des Saals.

»Alle Energieausgaben dieses Vorgangs werden der Moskauer Nachtwache berechnet, eine Entschädigung erfolgt nicht, unabhängig davon, wie der Prozess endet«, fuhr Vitezslav fort. »Großer Magier Geser, verfügen Sie über den erforderlichen Kraftvorrat?«

»Ja.«Geser erhob sich. »Das tue ich.«

Edgar begriff, dass er den Faden der Ereignisse endgültig verloren hatte. Was war denn so wichtig an ihm, diesem Igor Teplow, dass Sebulon seinetwegen seine Geliebte geopfert hatte und Geser eine ungeheure Menge Kraft abgeben würde?

»Man führe die Rematerialisierung durch«, ordnete Vitezslavan. »Jeder Versuch des Widerstands wird mit dem unverzüglichen und unwiderruflichen Tod bestraft.«

Einige der Magier der Inquisition rückten etwas vor, Geser seufzte und ging zur Lemeschewa. Die winselte erneut - und verstummte dann, um mit starren Augen auf den Lichten Magier zu starren.

Edgar musste die Augen zusammenkneifen.

In der Mitte des Saals brodelte eine solch ungeheure Energie, dass er einfach nicht hinsehen konnte. Er spürte, wie die Inquisitoren eine magische Barriere nach der nächsten um Geser und die Lemeschewa herum errichteten. Er spürte, wie die Barrieren unter dem Druck einer undenkbaren Kraft einstürzten. Wie das Zwielicht zusammenzuckte, zerfetzt wurde, in allen Schichten, die Edgar kannte, und in allen, von denen er nicht einmal etwas geahnt hatte. Wenn das eine temporäre Rematerialisierung war, wie sähe dann eine permanente aus?

Der Sturm legte sich. Geser trat langsam zurück.

In der Mitte des Saals blieben drei Personen zurück: der Inquisitor Vitezslav, der Lichte Magier Igor Teplow und die Dunkle Hexe Alissa Donnikowa.

Eine zitternde, hustende, ihre Kehle umklammernde Alissa.

Edgar schreckte zusammen. Er wusste nicht, was mit Anderen passiert - dort, im Zwielicht. Und wenn er ehrlich war, wollte er es auch gar nicht wissen. Doch jetzt kam Alissa in dem Augenblick zu sich, in dem ihr menschliches Dasein geendet hatte. Sie kam mit schmerzzerrissenen Lungen ins Leben zurück, schluckte noch Meerwasser, versuchte verzweifelt, sich aus der»Presse«zu befreien, mit der der Lichte sie herunterdrückte.

»Alissa Donnikowa«, sagte der Vampir. Selbst ihm zitterte die Stimme. Die temporäre Rematerialisierung war eine seltene Prozedur, eine sehr seltene…»Sie unterliegen der temporären Rematerialisierung und befinden sich im Gebäude des Europatribunals der Inquisition in Prag. Verstehen Sie meine Worte?«Alissa Donnikowa richtete sich auf, hatte ihr Röcheln bereits unter Kontrolle und sah Igor Teplow an. Nur ihn.

»Verstehen Sie meine Worte?«, wiederholte Vitezslav.

»Warum… in Prag?«, fragte Alissa. Sie atmete schnell und tief, als könne sie nicht genug Luft einatmen - und sei es diese feuchte Luft eines Kellergewölbes.

»Das ist nicht wichtig, Alissa Donnikowa. Sie sind als Zeugin in unsere Welt gerufen worden. Von Ihren Worten hängt viel ab.«

»Kann… kann ich hier bleiben? Wieder? Für immer?«, fragte Alissa.

Doch sie sah nur Igor an.

»Nein«, antwortete der Inquisitor ehrlich. »Werden Sie freiwillig auf unsere Fragen antworten?«

Alissa nickte. Mit verzweifeltem Stolz. »Ja, das werde ich, Inquisitor. Fragen Sie.«

Doch sie sah nur Igor an.

»Die Fragen betreffen Ihr Duell mit dem hier anwesenden Lichten Magier Igor Teplow. Sind Sie den Regeln entsprechend zum Duell herausgefordert worden?«

»Ja. «

»Hatten Sie die Möglichkeit, das Duell auszuschlagen und zu gehen?«

»Ja.«

»Sagen Sie, Alissa, machen Sie Igor Teplow für Ihren Tod verantwortlich?«

Alissa lächelte. Sie fuchtelte mit der Hand - drehte sich nicht um, zeigte aber zielsicher auf Sebulon.

»Nein.«

Sie sah nur Igor an.

»Legen Sie… Ihrem Gegner etwas zur Last?«

Sie schüttelte nur den Kopf.

»Alissa Donnikowa, können Sie jemanden der hier Anwesenden beschuldigen, die traurigen Ereignisse herbeigeführt zu haben, die zu Ihrem Tod geführt haben?»

»Sebulon«, sagte Alissa absolut gleichgültig. »Das ist seine Operation.«

»Feige Idiotin!«, schrie Sebulon. »Du wirst trotzdem nicht rematerialisiert werden! Was machst du bloß, du Hexe!«

Und erst da wandte sich Alissa Donnikowa zu Sebulon um. Einen Augenblick nur. Und unter ihrem Blick verstummte das Haupt der Dunklen.

»Sebulon, erinnerst du dich noch, was du mir gesagt hast, als ich dich gerufen habe, schon halb ertrunken?«

»Du dumme, rachsüchtige kleine Idiotin«, sagte Sebulon schon ruhiger.

Alissa schüttelte den Kopf. Dann sah sie wieder Igor an. »Was hat denn Rache damit zu tun…«, sagte sie sehr spöttisch. »Die Liebe ist auch eine große Kraft, Sebulon.«

»Die Inquisition hat keine weiteren Fragen«, sagte Vitezslav rasch. »Meine Herren… ich glaube, es wäre eines Anderen nicht würdig… diese Szene weiter fortzusetzen. Die Klage auf Verletzung des Großen Vertrages gegen Igor Teplow wird fallen gelassen. Alissa Donnikowa kann… kann… zurückkehren.«

Wie im Traum sah Edgar, wie Geser sich erhob. Der triumphierende, siegreiche Geser. Und gekrümmt auf der Bank: Sebulon. Der besiegte Sebulon.

Erst als sich auf den Gesichtern dieser beiden Großen Magier erneut ein verwirrter Ausdruck abzeichnete, richtete Edgar den Blick wieder auf die Mitte des Saals.

Alissa Donnikowa verschwand. Ihr Körper veränderte sich, zerfloss, tauchte als leichter, körperloser Schatten ins Zwielicht ein. Die Lemeschewa, auf alle viere gefallen, kroch Sebulon vor die Füße.

Aber auch Igor Teplow verschwand.

Ging ins Zwielicht ein.

Edgar hatte nicht gelogen. Er sah wirklich zum ersten Mal, wie ein Lichter Magier sich dematerialisierte. Freiwillig. Ohne Kampf, ohne Geschrei, ohne Kraftausstoß. Als Igor Teplow sich schon fast in einen körperlosen Schatten verwandelt hatte, wandte er sich noch einmal für einen Augenblick zurück, um seine Gefährten anzusehen. Irgendwie schuld-bewusst. Danach - sah er nur noch Alissa an.

Und verschwand.

Das Zwielicht schloss sich. Die Luft im Saal war eiskalt, die Wände mit weißen Raureifzweigen bewachsen - als seien es Trauerbänder in einem Zimmer. Auf Sebulons Gesicht kehrte langsam das triumphierende Lächeln zurück. Geser blickte schwermütig und traurig auf den leeren Gitterkreis.

»Nun?«, schrie Sebulon. »Und jetzt? Wo ist dein Hauslehrer jetzt? Wo ist derjenige, der Einzige, der den Messias des Lichts erziehen kann?«

Er brach in prustendes Gelächter aus und tätschelte der vor ihm knienden Lemeschewa den Kopf. »Ja, in der Tat, das war eine Operation der Tagwache«, sagte er, indem er sich an die Inquisition wandte. »Die jedoch innerhalb der Grenzen des Großen Vertrages lag. Der Austausch zweier ebenbürtiger Figuren, Alissa Donnikowa für Igor Teplow. Haben Sie noch weitere Fragen an uns?«

»Seitens der Inquisition gibt es keine weiteren Fragen…«, sagte der Vampir zögernd. Er wischte sich das Gesicht mit der Hand ab. »Unter Berücksichtigung aller Umstände… wird die Inquisition über die Frage der vorzeitigen Wiederherstellung der Kraft Swetlana Nasarowas beraten. Aber das erst… später. Das war's… Alle können den Saal verlassen.«

Als Erste stand Swetlana auf. Sie ging zu Sebulon. Eine Sekunde lang stand sie vor ihm und sah ihm ins Gesicht. Mit einem Mal begriff Edgar - begriff es mit stockendem Herzen -, dass die Zauberin den Magier jetzt schlagen würde.

Doch sie sagte ihm nur etwas. Dann drehte sie sich um und ging rasch weg.

Edgar stakste mit steifen Knien vom Stehpult weg. Beinah wäre er gegen Geser gestoßen, den nachdenklichen, niedergedrückten, in seine Grübeleien versunkenen Magier. Im selben Moment sprang Anton, Edgar zur Seite stoßend, auf Geser zu. »Was heißt das…?«, schrie er. »Swetlanas Tochter kann eine Andere sein, braucht aber trotzdem nicht zum Messias der Lichten heranzuwachsen?«

Geser nickte.

»Wie das?«, fragte Anton begriffsstutzig. »Kann denn nicht Swetlana selbst…«

»Eine Große Zauberin zu sein und eine Große Zauberin zu erziehen sind zwei ganz unterschiedliche Dinge…«, sagte Geser müde. »Leider. Ich… ich sehe momentan keine Figur, die Igor gleichwertig wäre. Ich… ich wusste nicht, dass er diese Hexe so sehr liebt! Dann hätte ich einen andern Weg gesucht.«

»Wessen Tochter wird es sein?«, fragte Anton unvermittelt. »Swetlanas und…«

»Wessen?«Geser sah Anton mit einem Mal verärgert an. »Wenn du hier nicht wie ein Idiot rumstehst und einen alten Dummkopf anstarrst, sondern zusiehst, dass du zu deiner Frau kommst, dann deine!«

Anton deutete ein Nicken an. Und stürzte aus dem Saal. Edgar hätte Geser auch gern ein paar Fragen gestellt… aber er fing den Blick des Lichten auf und zog es vor, das Risiko nicht einzugehen. Er drehte sich um, ging zu dem Feld aus grauem Marmor, trat an den schmalen Keil der Inquisition heran, der versuchte, den Saal in eine schwarze und eine weiße Hälfte zu schneiden.

Die Inquisitoren legten ihre Kittel bereits ab. Einer von ihnen warf Vitezslav seinen Kittel lässig über den Arm, öffnete ein Portal und verschwand. Die Übrigen nahmen den üblichen Weg durch die Tür.

Der Vampir sah Edgar an. »Möchtest du ihn mal anprobieren?«, fragte er.

»Ich weiß nicht, ob mir der Schnitt steht«, antwortete Edgar leise.

»Wer weiß. Aber probieren solltest du. Oder willst du etwa nach Moskau zurückkehren?«

Behutsam nahm Edgar den zusammengeknüllten grauen Stoff aus Vitezslavs Händen entgegen. »Verzeihen Sie…«, fragte er betreten. »Aber was hat Swetlana zu Sebulon gesagt?«

»Als Inquisitor muss man ein gutes Gehör haben.«Auf dem Gesicht des Vampirs zeichnete sich ein schiefes Lächeln ab. »Fast nichts. Ich würde es einen Fluch nennen, aber Lichte können nicht einmal fluchen… Sie hat gesagt:»Möge dich niemals jemand lieben.«

Edgar nickte. Er zuckte mit den Schultern und sagte:»Darauf kann er ohnehin verzichten.«


* Geser spielt hier auf die Operation der Moskauer Nachtwache an, die in der dritten Geschichte»Im eigenen Saft«des Buches Wächter der Nacht eingehend geschildert wird.

* Die Ereignisse um Maxim werden in der zweiten Geschichte»Der eigene Kreis«in dem Buch Wächter der Nacht geschildert.

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