INSEL GUERNSEY Ärmelkanal 5. Dezember, 6 Uhr 30

Ruth Brouard fuhr erschrocken aus dem Schlaf. Irgendetwas stimmte nicht im Haus. Sie blieb still liegen und lauschte in die Dunkelheit, wie sie es vor vielen Jahren gelernt hatte, als es galt, abzuwarten, ob das Geräusch sich wiederholen würde, und daraus zu schließen, ob sie in ihrem Versteck sicher war oder fliehen sollte. Was für ein Geräusch das eben gewesen war, hätte sie in diesem Moment angestrengten Horchens nicht sagen können, aber es war nicht einer der gewohnten nächtlichen Laute gewesen wie das Ächzen des Hauses, das Klappern eines Fensters in seinem Rahmen, das Rauschen des Windes oder der Schrei einer Möwe, die im Schlaf gestört worden war. Ihr Puls begann schneller zu schlagen, während sie sich, immer noch angespannt lauschend, zwang, die verschiedenen Gegenstände im Zimmer zu unterscheiden, um jeden Einzelnen zu mustern und seinen Standort in der Dunkelheit mit jenem zu vergleichen, den er bei Tag innehatte, wenn weder Gespenster noch Einbrecher es wagen würden, den Frieden des alten Herrenhauses zu stören, in dem sie lebte.

Sie hörte nichts Ungewöhnliches mehr und schrieb ihr plötzliches Erwachen einem Traum zu, an den sie sich nicht erinnern konnte. Die Überempfindlichkeit ihrer Nerven lastete sie ihrer Fantasie an und dem Medikament, das sie einnahm, das stärkste Schmerzmittel, das der Arzt ihr anstelle des Morphiums, das ihr Körper brauchte, zu geben bereit war.

Sie stöhnte leise, als der Schmerz sich in ihren Schultern sammelte und in ihre Arme ergoss. Ärzte, dachte sie, waren moderne Krieger, ausgebildet, den Feind im Inneren bis auf die letzte Zelle zu bekämpfen. Darauf waren sie programmiert, und sie war dankbar dafür. Doch es gab Momente, da wusste der Patient mehr als der Arzt, und so ein Moment war jetzt gekommen. Sechs Monate, dachte sie. Zwei Wochen bis zu ihrem sechsundsechzigsten Geburtstag, den siebenundsechzigsten würde sie nicht mehr erleben. Nach einer Ruhepause von zwanzig Jahren, in der sie sich zum Optimismus hatte verführen lassen, hatte die teuflische Krankheit es geschafft, von ihrer Brust in ihre Knochen vorzustoßen.

Sie drehte sich vom Rücken auf die Seite, und ihr Blick fiel auf die rote Digitalanzeige des Weckers neben ihrem Bett. Es war später, als sie gedacht hatte. Sie hatte sich von der Jahreszeit irreführen lassen und wegen der Dunkelheit angenommen, es wäre erst zwei oder drei Uhr; aber es war schon halb sieben, nur eine Stunde vor der Zeit, zu der sie gewöhnlich aufstand.

In dem Zimmer nebenan nahm sie ein Geräusch wahr, aber kein ungewöhnliches, das Traum oder Fantasie entsprungen war. Es war das sachte Reiben von Holz auf Holz, als eine Schranktür geöffnet und wieder geschlossen, eine Kommodenschublade aufgezogen und wieder zugeschoben wurde. Etwas schlug mit gedämpftem Aufprall auf den Boden, und Ruth sah ihn augenblicklich vor sich, wie er in der Hast die Laufschuhe fallen ließ.

Er hatte sich wahrscheinlich schon in seine Badehose hineingezwängt — dieses Zipfelchen himmelblauen Lycras, das sie für einen Mann seines Alters absolut unpassend fand — und seinen Trainingsanzug darüber gezogen. Nun brauchte er nur noch in die Schuhe zu schlüpfen, und eben das tat er im Moment, wie ein Knarren des Schaukelstuhls Ruth verriet.

Lächelnd lauschte sie dem Tun ihres Bruders. Guy war so zuverlässig wie die Wiederkehr der Jahreszeiten. Er hatte gestern Abend gesagt, dass er am Morgen schwimmen gehen würde, also tat er das auch — wie im Übrigen jeden Morgen. Durch den Park pflegte er zur Straße zu laufen und in strammem Tempo, um warm zu werden, zum Strand hinunterzumarschieren, allein auf der schmalen Serpentinenstraße, die einen Zickzacktunnel in die Bäume schnitt. Mehr als alles andere bewunderte Ruth an ihrem Bruder seine Fähigkeit, an seinen Plänen festzuhalten und sie zum Erfolg zu führen.

Sie hörte ihn seine Zimmertür schließen und wusste schon, wie es weitergehen würde: In der Dunkelheit würde er sich den Weg zum Wäscheschrank ertasten und ein Handtuch herausnehmen. Dafür würde er vielleicht zehn Sekunden brauchen, danach aber sicher fünf Minuten, um seine Schwimmbrille zu suchen, die er bei seiner Heimkehr gewöhnlich gedankenlos irgendwo hinzuwerfen pflegte, in den Messerkasten oder den Zeitungsständer oder aufs Büfett im Frühstückszimmer. Mit der Schwimmbrille in der Hand würde er in die Küche gehen, um sich einen Tee zu kochen — eine dampfende Mischung aus Ginkgo und Grüntee, die er stets auf seinen Morgenausflug mitnahm, als Belohnung nach einem Bad bei Wassertemperaturen, die gewöhnliche Sterbliche abgeschreckt hätten — , und dann losgehen, über den Rasen zu den Kastanien, zur Auffahrt dahinter und weiter bis zu der Mauer, die das Anwesen begrenzte. Wie immer. Wieder lächelte sie bei dem Gedanken an diese Zuverlässigkeit ihres Bruders, ein Wesenszug, den sie an ihm am meisten liebte und dem es zu verdanken war, dass Ruth sich geborgen fühlte, obwohl es eigentlich anders hätte sein müssen.

Sie sah zu, wie die Ziffern auf ihrer Digitaluhr umsprangen, während die Minuten verstrichen und ihr Bruder seine Vorbereitungen traf. Jetzt stand er wahrscheinlich am Wäscheschrank, jetzt ging er die Treppe hinunter, suchte die Schwimmbrille und verfluchte sein Gedächtnis, das ihn nun, da er sich den Siebzig näherte, immer öfter im Stich ließ, jetzt war er vermutlich in der Küche und genehmigte sich vielleicht sogar heimlich einen kleinen Imbiss vor dem Schwimmen.

In dem Moment, an dem das allmorgendliche Ritual Guy aller Voraussicht nach aus dem Haus führen würde, stand Ruth auf und hängte sich ihren Morgenrock um die Schultern. Mit nackten Füßen ging sie zum Fenster und zog den schweren Vorhang auf die Seite. Sie zählte von zwanzig rückwärts, und als sie bei fünf ankam, sah sie ihn unten aus dem Haus treten, so zuverlässig wie der Ablauf der Stunden, die den Tag bestimmten, wie der Dezemberwind, der das Salz des Ärmelkanals über das Land wehte.

Er hatte an, was er immer anhatte: eine rote Wollmütze, die er über das volle, ergrauende Haar tief in die Stirn gezogen trug, so dass sie seine Ohren bedeckte, den marineblauen Trainingsanzug, der an Ellbogen, Manschetten und Knien noch Flecken von der weißen Farbe hatte, mit der er im vergangenen Sommer den Wintergarten gestrichen hatte, Laufschuhe ohne Socken — das allerdings konnte sie von oben nicht erkennen, aber sie kannte ihren Bruder und wusste, wie er sich zu kleiden pflegte. Er trug die Thermoskanne mit dem Tee in der Hand. Ein Badetuch lag um seinen Hals. Die Schwimmbrille steckte vermutlich in einer seiner Taschen.

«Viel Spaß beim Schwimmen«, sagte sie, die Lippen an der eisigen Fensterscheibe. Und fügte hinzu, was er immer zu ihr sagte, was ihre Mutter ihnen vor langer Zeit zugerufen hatte, als der Fischkutter abgelegt hatte, um sie von zu Hause fort in die pechschwarze Nacht hinauszutragen:»Au revoir et adieu, mes cheris.«

Ihr Blick folgte ihm, als er wie jeden Morgen unten den Rasen überquerte, um die Bäume und die Auffahrt hinter ihnen zu erreichen.

Aber an diesem Morgen blieb er nicht allein. Als er bei den Kastanien anlangte, löste sich aus ihrem Schatten eine Gestalt und folgte ihm.

Vor sich sah Guy Brouard die Lichter im Haus der Duffys, einem kompakten Steinbau, der einen Teil der Grenzmauer des Besitzes bildete. In dem Häuschen mit dem steilen Giebeldach, in dem früher die Pächter des Freibeuters, der Le Reposoir zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts erbaut hatte, ihre Abgaben entrichten mussten, lebte jetzt das Ehepaar, das Guy und seiner Schwester bei der Pflege und Instandhaltung des Besitzes half: Kevin Duffy, der für die Außenarbeiten zuständig war, und seine Frau Valerie, die den Haushalt führte.

Das Licht im Haus verriet, dass Valerie schon auf den Beinen war, vermutlich machte sie gerade Kevin das Frühstück. Typisch Valerie — Ehefrauen wie sie, die es als ihre Aufgabe und ihr Privileg betrachteten, für ihren Mann zu sorgen, gab es heute nicht mehr. Hätte er, sagte sich Guy, gleich so eine Frau gefunden, so hätte er es nicht nötig gehabt, sein ganzes Leben damit zu vertun, sämtliche sich bietenden Möglichkeiten durchzuprobieren, um vielleicht doch noch die Richtige zu finden.

Die beiden Frauen, mit denen er verheiratet gewesen war, hatten dem traurigen Stereotyp entsprochen. Ein Kind mit der Ersten, zwei Kinder mit der Zweiten, ein schönes Zuhause, schöne Autos, schöne Urlaube in der Sonne, Kindermädchen, Internate, das alles hatte nicht gezählt: Du arbeitest zu viel. Du bist nie zu Hause. Du liebst deine Arbeit mehr als mich. Endlose Variationen zu einem tödlichen Thema. Kein Wunder, dass er es nicht geschafft hatte, treu zu bleiben.

Guy ließ die kahlen Kastanien hinter sich und folgte der Auffahrt in Richtung zur Straße. Noch war alles still, aber als er das eiserne Tor erreichte und den einen Flügel aufzog, begannen in den Bombeerst- räuchern, im Schwarzdorn und im Efeu, der an der schmalen Straße wucherte und sich an der von Flechten überzogenen Steinmauer emporzog, die ersten Vögel zu zwitschern.

Es war kalt. Dezember. Was konnte man da anderes erwarten. So früh am Tag ging wenigstens noch kein Wind, wenn auch für später ein seltener Südostwind angesagt war, der das Schwimmen nach Mittag unmöglich machen würde. Aber es war ohnehin nicht zu erwarten, dass außer ihm jemand auf den Gedanken kam, im Dezember zu schwimmen. Das war einer der Vorteile, wenn man nicht kälteempfindlich war: Man hatte das Wasser für sich allein.

Und so war es Guy Brouard am liebsten. Denn beim Schwimmen ließ sich gut nachdenken, und er hatte meistens eine Menge nachzudenken.

Heute war das nicht anders. Mit der Grenzmauer des Besitzes zu seiner Rechten und den hohen Hecken des umgebenden Ackerlands zu seiner Linken, ging er durch das graue Morgenlicht die Straße entlang zur ersten scharfen Kurve auf dem Weg, der ihn den steilen Hügel hinunter zur Bucht führen würde. Er dachte darüber nach, was er in seinem Leben in den letzten Monaten angerichtet hatte, einiges bewusst und nach reiflicher Überlegung, anderes als Konsequenz von Ereignissen, die niemand hätte voraussehen können. Bei seinen engsten Weggefährten hatte er nicht nur Enttäuschung und Befremden hervorgerufen, sondern auch das Gefühl, betrogen worden zu sein. Und weil es seit langem seine Gewohnheit war, die Dinge, die ihm am meisten am Herzen lagen, für sich zu behalten, hatten sie nicht begreifen können, wie sie sich in ihren Erwartungen hinsichtlich seiner Person so gründlich hatten irren können. Nahezu ein Jahrzehnt lang hatte er sie ermuntert, in Guy Brouard den ewigen Wohltäter zu sehen, väterlich besorgt um ihre Zukunft und auf die großzügigste Weise bemüht, diese Zukunft zu sichern. Er hatte sie damit nicht irreführen wollen. Im Gegenteil, es war stets seine Absicht gewesen, jedem von ihnen seinen geheimen Traum zu erfüllen.

Aber nur so lange, bis er das erste Mal auf Ruths Gesicht die Grimasse des Schmerzes wahrgenommen hatte, die sie sich erlaubte, wenn sie dachte, er sähe es nicht, und bevor er begriffen hatte, was diese Grimasse bedeutete. Er hätte vermutlich nichts gemerkt, hätte sie nicht plötzlich angefangen, sich unter dem Vorwand, auf den Klippen wandern zu wollen, fortzustehlen. Am Icart Point mit seinen von Feldspatkristallen durchzogenen Gneisfelsen hole sie sich die Inspiration für eine künftige Petit-Point-Arbeit, behauptete sie. In Jerbourg, berichtete sie, bildeten die Schieferschichten im Stein Bänder in unterschiedlichem Grau, die es einem erlaubten, den Weg zu verfolgen, den Zeit und Natur bei der Ablagerung von Schlick und Sedimenten in dem uralten Gestein genommen hatten. Sie skizziere den Stechginster, sagte sie, und zeichne mit ihren Stiften Grasnelke und Lichtnelke in Rosa und Weiß. Sie sammle Margeriten, arrangiere sie auf der zerklüfteten Oberfläche eines Granitblocks und fertige Zeichnungen von ihnen an. Sie pflücke beim Wandern je nach Jahreszeit und persönlicher Neigung Glockenblumen, Ginster, Heidekraut, Stechginster, wilde Narzissen und Lilien. Aber irgendwie schafften es die Blumen nie bis nach Hause.»Sie haben zu lange im Auto gelegen, ich musste sie wegwerfen«, pflegte sie zu erklären.»Wilde Blumen halten nicht, wenn man sie pflückt.«

Monat um Monat war das so gegangen. Aber Ruth war keine Klippenwanderin. Sie war auch keine Blumensammlerin oder Geologiestudentin. Natürlich wurde Guy misstrauisch.

Anfangs glaubte er törichterweise, es gäbe endlich einen Mann im Leben seiner Schwester und es sei ihr peinlich, ihm das zu sagen. Dann aber sah er eines Tages ihren Wagen vor dem Princess- Elizabeth-Hospital stehen, und dieser Zufall, mit ihrem häufig schmerzverzerrten Gesicht und den langen Rückzügen in ihr Zimmer in Verbindung gebracht, zwang ihn, zur Kenntnis zu nehmen, was er nicht zur Kenntnis hatte nehmen wollen.

Seit der Nacht, als sie von Frankreichs Küste abgelegt hatten, um in einem Fischkutter unter Netzen versteckt die Flucht anzutreten, die viel zu lange hinausgezögert worden war, war sie in seinem Leben die einzige Konstante gewesen. Sie war sein Überlebensgrund gewesen, sein Ansporn, erwachsen zu werden, Pläne zu machen, erfolgreich zu sein.

Aber dies? Daran konnte er nichts ändern. Vor dem, woran seine Schwester jetzt litt, konnte kein Fischkutter in der Nacht sie retten.

Wenn er die anderen enttäuscht, befremdet und betrogen hatte, so war das nichts im Licht des drohenden Verlusts von Ruth.

Das morgendliche Schwimmen brachte ihm Erleichterung von den überwältigenden Ängsten, die diese Überlegungen auslösten. Er wusste, ohne das tägliche Bad in der Bucht würden die Gedanken an seine Schwester ihn aufzehren, ganz zu schweigen von dem Hadern mit seiner Ohnmacht, an ihrem Schicksal etwas zu ändern.

Die Straße, auf der er sich befand, war steil und schmal, die Ostküste der Insel war dicht bewaldet. Dank dem seltenen Auftreten rauer Winde aus Frankreich gediehen hier Bäume in üppiger Vielfalt. Das Geäst von Platanen und Kastanien, Eschen und Buchen bildete über Guy ein filigranes Gewölbe, das sich als graue Silhouette vom dunklen Zinn des noch beinahe nächtlichen Himmels abhob. Die Bäume standen auf schroffen, mit steinernen Mauern befestigten Hängen, zu deren Füßen das Wasser aus einer weiter landeinwärts gelegenen Quelle floss und auf seinem raschen Lauf zum Meer die Felsen umspülte.

Die Straße führte in Serpentinen abwärts, vorbei an einer schattigen Wassermühle und einem Hotel im Stil eines Schweizer Chalets, das fehl am Platz wirkte und über den Winter geschlossen war. Sie ende- te an einem kleinen Parkplatz mit einer Imbissbude, die verriegelt und mit Brettern gesichert war, und einer glitschigen Granitrampe, die früher Pferdefuhrwerken Zugang zum vraic geboten hatte, einer für die Kanalinseln typischen Tangart, die den Bauern als Dünger diente.

Die Luft war still, die Möwen hatten sich noch nicht von ihren Ruheplätzen auf den Felsen erhoben. Das Wasser in der Bucht war ruhig, ein aschefarbener Spiegel, der die Farbe des heller werdenden Himmels reflektierte. Es gab keine Wellen an diesem geschützten Ort, nur den sanften Schlag von Wasser auf Kiesel, eine sachte Berührung, die im Tang die kontrastierenden Gerüche erwachenden Lebens und lautlosen Verfalls freizusetzen schien.

Bei dem Rettungsring, der von einem vor langer Zeit in den Fels getriebenen Haken herabhing, legte Guy sein Handtuch ab und stellte die Thermoskanne auf einen Stein mit glatter Oberfläche. Er zog seine Schuhe und die Hose seines Trainingsanzugs aus und griff in die Jackentasche nach der Schwimmbrille.

Seine Finger berührten jedoch nicht nur die Brille, sondern daneben ein kleines, in Stoff eingeschlagenes Objekt, das er herauszog und verwundert in der offenen Hand hielt. Nur sehr selten hatte er außer der Schwimmbrille etwas in seiner Jacke.

Der Gegenstand war in weißes Leinen eingehüllt. Als er den Stoff neugierig auseinander schlug, fand er einen kreisrunden Stein, der in der Mitte ein Loch hatte und ein Rad darstellen sollte: enne rouelle de faitot. Ein Elfenrad.

Guy lächelte. Die Insel war ein Ort, an dem alter Volksglaube sich auch heute noch hielt. Man spottete vielleicht über die Idee, zum Schutz vor Hexen und ihresgleichen einen Talisman zu tragen, im Stillen jedoch verwarf man sie nicht so leicht. Du solltest immer so einen bei dir tragen, Guy. Jeder braucht Schutz.

Aber der Stein — ob Elfenrad oder nicht — hatte nicht die Kraft besessen, ihn so zu schützen, wie er sich geschützt geglaubt hatte. Das Unerwartete trat in jedermanns Leben, also hätte er sich eigentlich nicht wundern dürfen, als es auch in seines getreten war.

Er hüllte den Stein wieder in das Leinen und schob ihn in die Tasche, legte Jacke und Wollmütze ab und setzte die Schwimmbrille auf, ging über den schmalen Strand und watete ohne Zögern ins Wasser.

Es traf ihn wie ein Schock. Nicht einmal im Hochsommer war das Wasser im Ärmelkanal warm. An diesem düsteren Wintermorgen war es eiskalt und bedrohlich.

Aber daran dachte er nicht, als er resolut weiter hineinwatete und, sobald er ausreichend Tiefe hatte, sich vom Grund abstieß und zu schwimmen begann. Er mied die Tangzonen und bewegte sich schnell durch das Wasser.

So schwamm er hundert Meter weit hinaus bis zu dem Granitfelsen, der, wie eine Kröte geformt, die Stelle kennzeichnete, wo die Bucht mit dem Ärmelkanal zusammentraf. Hier machte er Halt, direkt am Auge der Kröte, einem Guanoklumpen, der sich in einer seichten Mulde im Stein angesammelt hatte. Er wandte sich dem Strand zu und begann, Wasser zu treten, die beste Methode, die er kannte, um sich für die kommende Skisaison in Österreich fit zu halten. Wie immer nahm er seine Brille ab, um seinen Augen ein paar Minuten lang ein klares Bild zu gönnen, und ließ seinen Blick gemächlich von den fernen baumbestandenen Hängen über raues, von Felsbrocken übersätes Gelände abwärts schweifen zum Strand, während er beim Wassertreten lautlos mitzählte.

Plötzlich stockte er.

Da war jemand. Dort am Strand, größtenteils im Schatten, stand eine Gestalt, die ihn beobachtete. Unverkennbar. Sie stand neben der Granitrampe, dunkel gekleidet mit einem Streifen Weiß am Hals, dem es vermutlich zu verdanken war, dass er überhaupt aufmerksam geworden war. Während Guy blinzelnd versuchte, die Gestalt schärfer in den Blick zu bekommen, trat diese von der Rampe fort und ging weiter den Strand entlang.

Ihr Ziel war klar. Sie ging zu seinen abgelegten Kleidern und kniete neben ihnen nieder, um etwas hochzuheben, die Jacke oder die Hose — das war auf diese Entfernung schwer zu erkennen.

Doch Guy konnte sich denken, worauf die Person es abgesehen hatte, und er fluchte. Er hätte seine Taschen durchsehen sollen, bevor er das Haus verlassen hatte. Ein gewöhnlicher Dieb hätte sich natürlich nicht für den kleinen durchbohrten Stein interessiert, den Guy Brouard in der Tasche trug. Aber ein gewöhnlicher Dieb hätte auch nie damit gerechnet, so früh an einem kalten Dezembermorgen die unbewachten Kleider eines Schwimmers am Strand vorzufinden. Wer immer die Person war — sie wusste, wer da draußen in der Bucht schwamm. Und sie suchte entweder den Stein oder kramte in Guys Kleidung, weil sie hoffte, ihn damit an Land zurückzulocken.

Verdammt noch mal, dachte er. Diese Zeit gehörte ihm allein. Er dachte nicht daran, sie mit irgendjemandem zu teilen. Wichtig war ihm jetzt nur seine Schwester und wie sie sterben würde.

Er begann, wieder zu schwimmen, durchquerte zweimal die Bucht und sah, als er schließlich erneut zum Strand blickte, mit Befriedigung, dass die Person, die ihn in seinem Alleinsein und seinem Frieden gestört hatte, verschwunden war.

Er schwamm ans Ufer und erreichte es außer Atem, nachdem er beinahe das Doppelte der Strecke zurückgelegt hatte, die er sonst morgens schwamm. Taumelnd und schlotternd vor Kälte rannte er aus dem Wasser zu seinem Handtuch.

Der Tee versprach rasche Abhilfe gegen die Kälte, und er goss sich aus der Thermosflasche einen Becher ein. Er war stark und bitter und vor allem heiß, und Guy trank den Becher leer, bevor er seine Badehose auszog und sich ein zweites Mal einschenkte. Jetzt trank er langsamer, trocknete sich dabei ab und rubbelte kräftig, um wieder warm zu werden. Er schlüpfte in seine Hose und ergriff seine Jacke, warf sie sich um die Schultern und setzte sich auf einen Felsen, um seine Füße zu trocknen. Erst nachdem er seine Laufschuhe angezogen hatte, schob er die Hand in die Tasche. Der Stein war noch da.

Er ließ sich das durch den Kopf gehen. Er ließ sich durch den Kopf gehen, was er vom Wasser aus gesehen hatte. Er reckte den Hals und suchte mit den Augen den Hang ab. Nirgends rührte sich etwas.

Er fragte sich, ob das, was er am Strand zu sehen geglaubt hatte, eine Täuschung gewesen war. Vielleicht war es gar kein Mensch aus

Fleisch und Blut gewesen, sondern eine Ausgeburt seines Gewissens. Fleischgewordene Schuld, zum Beispiel.

Er zog den Stein heraus. Noch einmal packte er ihn aus und strich mit dem Daumen über die eingeritzten Initialen. Jeder braucht Schutz, dachte er. Die Schwierigkeit war, zu wissen, vor wem oder was.

Er spülte den Rest des Tees hinunter und goss sich noch einen Becher ein. In weniger als einer Stunde würde die Sonne aufgegangen sein. Er beschloss, diesen Moment heute Morgen abzuwarten.

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