10. Die Rückkehr des Löwen

Es war gar nicht so leicht, wie es ausgesehen hatte, am Rand der Schlucht entlangzuwandern. Bereits nach wenigen Schritten standen sie vor einem Gehölz junger Kiefern, die an der äußersten Kante des Abhangs wuchsen. Zehn Minuten lang versuchten sie, sich hindurchzuzwängen, indem sie sich bückten und die Zweige beiseite schoben. Dann sahen sie ein, daß sie auf diese Weise für fünfhundert Meter wahrscheinlich nahezu eine Stunde brauchen würden. Sie krochen also wieder aus dem Dickicht heraus und beschlossen, um das Kieferngehölz herumzugehen. Das führte sie viel weiter nach rechts, als sie wollten – so weit, daß sie die Klippen nicht mehr sehen und den Fluß nicht mehr rauschen hören konnten. Sie fürchteten fast, ihn verloren zu haben. Keiner wußte, wie spät es war, aber der heißeste Teil des Tages war angebrochen. Als sie endlich an die Schlucht zurückfanden – ungefähr tausend Meter unterhalb der Stelle, von der sie aufgebrochen waren –, merkten sie, daß die Felsen auf ihrer Seite jetzt niedriger und zerklüfteter waren. Bald fanden sie einen Pfad in die Schlucht hinunter, und nun setzten sie ihren Weg am Ufer des Flusses fort, nachdem sie zuvor gerastet und reichlich getrunken hatten. Keiner redete mehr davon, bei Kaspian frühstücken zu wollen. Nicht einmal vom Mittagessen bei ihm sprach man. Es war sicherlich klug von ihnen, sich an den Sturzbach zu halten, statt auf der Höhe entlangzuwandern. So konnten sie nicht aus der Richtung kommen. Seit sie in dem Kiefernbruch herumgekrochen waren, fürchteten sie ständig, zu weit abgedrängt zu werden und sich dadurch im Wald zu verirren. Es war ein alter, pfadloser Wald, in dem man keine auch nur annähernd gerade Linie verfolgen konnte. Hoffnungslos verwucherte Brombeerbüsche, gestürzte Bäume, sumpfige Stellen und dichtes Unterholz hätten das Vorwärtskommen gehemmt. Aber die Schlucht des Sturzbaches war auch kein idealer Wanderweg – ich meine, kein idealer Wanderweg für eilige Leute. Um einen Nachmittag lang darin umherzuschweifen und dort ein Picknick zu veranstalten, wäre es eine entzückende Gegend gewesen. Sie bot alles, was man sich für ein solches Vorhaben nur wünschen kann – donnernde Wasserfälle, silbrige Wasseradern, tiefe bernsteinfarbene Wasserbecken, moosüberzogene Felsen, alle Sorten von Farnkräutern, wie Juwelen funkelnde Libellen und an den Ufern tiefes Moor, in das man bis zum Knöchel einsank; darüber gelegentlich ein Habicht und einmal sogar ein Adler, wie Trumpkin und Peter annahmen.

Während sie weiterwanderten, merkten sie, daß der Bach ein immer stärkeres Gefälle zeigte. Ihre Wanderung war kein Spaziergang mehr, sondern wurde mehr und mehr zur Kletterei – stellenweise zu einer gefährlichen Kletterei über schlüpfrige Felsen mit schwindelerregendem Blick in dunkle Abgründe, in deren Tiefe der Fluß böse brüllend schäumte. Natürlich suchten sie mit den Augen eifrig die Klippen links nach einem Durchbruch ab oder nach einer Stelle, die sie erklettern konnten, aber die Felsen blieben grausam undurchdringlich. Es war, um verrückt zu werden, weil sie wußten, wie nahe sie dem Ziel waren. Hätten sie nämlich links aus der Schlucht herausgekonnt, so hätten sie nur noch einen sanften Abhang zu bewältigen und einen ziemlich kurzen Weg nach Kaspians Hauptquartier zurückzulegen gehabt. Die Jungen und der Zwerg waren nun sehr dafür, ein Feuer anzumachen und das Bärenfleisch zu braten. Suse wollte das nicht. Sie wollte nur, wie sie sich ausdrückte: »Vorankommen, mit der Sache fertig werden und endlich aus diesen greulichen Wäldern heraus.« Lucy war viel zu elend und müde, um irgendeine Meinung über irgend etwas zu haben. Da es hier aber kein trockenes Feuerholz gab, so war es ohnehin ganz nebensächlich, was die einen oder anderen wünschten. Die Jungen überlegten, ob es wirklich so ekelerregend sei, rohes Fleisch zu essen, wie man ihnen immer gesagt hatte. Trumpkin versicherte es ihnen. Hätten diese Kinder einige Tage früher in England eine solche Wanderung unternommen, sie hätten sicherlich versagt. Ich habe aber schon früher erklärt, wie sehr Narnia sie veränderte. Selbst Lucy war jetzt sozusagen nur noch zu einem Drittel ein kleines Mädchen, das zum erstenmal in eine Internatsschule gehen sollte; zu zwei Drittel war sie jetzt Königin Lucy von Narnia. »Endlich!« rief Suse aus. »Hurra!« schrie Peter.

Die Schlucht hatte eine Biegung gemacht, und unter ihnen bot sich nun ein neuer Anblick. Sie sahen offenes Land sich bis zum Horizont erstrecken, und zwischen der Ebene und ihrem Standort erblickten sie das breite Silberband des Großen Flusses. Sie konnten auch die besonders breite und flache Stelle erkennen, wo einst die Befestigungen von Beruna gestanden hatten. Sie war jetzt durch eine lange, vielbogige Brücke überspannt, an deren anderem Ende man eine kleine Stadt sah. »Schau doch«, meinte Edmund. »Wir kämpften in der Schlacht von Beruna gerade dort, wo die Stadt liegt.« Dies ermunterte die Jungen sehr. Man fühlte sich gleich stärker, wenn man einen Platz wiedersieht, an dem man einmal einen glorreichen Sieg errungen hat, ganz zu schweigen von einem Königreich vor Hunderten von Jahren. Peter und Edmund waren bald so tief im Gespräch über die Schlacht, daß sie ihre wunden Füße und den schweren Druck der Kettenhemden auf den Schultern vergaßen. Auch der Zwerg hörte gespannt zu. Nun schritten sie schnelleren Schritts voran. Es wurde ihnen leichter, zu marschieren. Wenn sie auch zur Linken nach wie vor nur Klippen hatten, so wurde doch das Gelände auf ihrer rechten Seite allmählich ebener. Bald waren sie nicht mehr in einer Schlucht, vielmehr in einem Tal. Es gab keine Wasserfälle mehr, und sehr bald kamen sie wieder in ziemlich dichte Waldungen. Da – plötzlich – machte es Ssss, und es folgte ein Laut, als wenn ein Specht hämmert. Die Kinder überlegten noch, wo sie – vor vielen Jahren – so einen Laut gehört und warum sie ihn so verabscheut hatten, als Trumpkin ausrief: »Hinlegen!« und dabei gleichzeitig Lucy, die ihm zufällig am nächsten war, in das Farnkraut niederriß. Peter, der nach oben geblickt hatte, ob er ein Eichhörnchen erspähen könnte, erkannte, was es war – ein langer, grausamer Pfeil war genau über seinem Kopf in einen Baumstamm gesaust. Kaum hatte er Suse niedergezogen und war selbst zu Boden gefallen, als ein zweiter sausend über seine Schulter kam und sich in den Boden neben ihn bohrte. »Rasch! Rasch! Kehrt um. Kriecht zurück!« keuchte Trumpkin. Sie wandten sich um und krochen unter den Farnen wieder aufwärts inmitten einer Wolke gräßlich summender Fliegen. Pfeile sausten um sie herum. Einer traf mit einem scharfen Peng Suses Helm und glitt ab. Sie krochen schneller. Der Schweiß brach ihnen aus. Dann rannten sie, fast bis zum Boden gebückt. Die Jungen umklammerten angstvoll ihre Schwerter, um nicht darüber zu stolpern. Es war ein herzbeklemmender Lauf – die ganze Höhe wieder hinauf und die Strecke zurück, die sie bereits zurückgelegt hatten. Als sie endlich kaum noch laufen konnten, nicht einmal mehr, um ihr Leben zu retten, ließen sie sich keuchend hinter einem dicken Felsbrocken in das feuchte Moos niederfallen. Neben ihnen rauschte ein Wasserfall. Überrascht stellten sie fest, wie hoch sie schon wieder waren. Sie lauschten, hörten aber nichts mehr von den Verfolgern. »So, das wäre also in Ordnung«, sprach Trumpkin und holte tief Luft. »Die Wälder durchsuchen sie nicht. Wahrscheinlich waren es nur Wachtposten, das heißt, Miraz hat seine Posten bis hierher gesandt. Schützen und Schießscheiben! Das hätte uns fast erwischt.«

»Ich könnte mich ohrfeigen, daß ich uns hierhergebracht habe«, sagte Peter.

»Im Gegenteil, Majestät«, entgegnete der Zwerg. »Erstens wart Ihr es nicht, sondern es war Euer königlicher Bruder Edmund, der zuerst den Weg nach dem Spiegelwasser vorschlug.« »Leider hat der LKF recht«, gab Edmund zu. Er hatte seinen Vorschlag ganz vergessen, seitdem sich die Dinge so zum Schlechten wandten.

»Und außerdem«, fuhr Trumpkin fort, »wären wir, wenn wir meinen Weg gewählt hätten, sehr wahrscheinlich dem neuen Vorposten direkt in die Arme gelaufen; es wäre uns sonst ebenso schwergefallen, ihn zu umgehen. Mir scheint, dieser Spiegelwasserweg ist gar nicht so übel.«

»Dieser ›gar nicht so üble Weg‹ hat sich gut getarnt«, meinte Suse.

»Und wie er sich getarnt hat!« bekräftigte Edmund. »Vermutlich müssen wir nun in der Schlucht wieder hinaufgehen«, meinte Lucy.

»Lucy, du benimmst dich heldenhaft«, erklärte Peter. »Zum erstenmal machst du eine Bemerkung, und dann sagst du noch nicht einmal: ich habe es euch ja gleich gesagt. Also vorwärts.« »Und sobald wir wieder tief im Wald drinstecken«, bemerkte Trumpkin, »mache ich Feuer an und koche ein Abendessen – und wenn ihr euch auf den Kopf stellt. Aber erst müssen wir von hier fort.«

Ich brauche wohl nicht zu beschreiben, wie sehr sie sich abmühten, die Schlucht wieder hinaufzusteigen. Es war eine harte Arbeit, aber seltsamerweise fühlten sich alle erleichtert. Sie hatten neuen Auftrieb bekommen, und das Wort Abendessen wirkte sehr anfeuernd.

Sie erreichten das Kieferngehölz, das ihnen im Tageslicht so viele Mühe gekostet hatte, und lagerten sich in einer Höhlung etwas oberhalb davon. Es war mühsam, das Feuerholz zu sammeln, aber ein großer Augenblick, als das Feuer endlich aufflammte und sie die feuchten und schmierigen Pakete mit Bärenfleisch hervorzogen. Auf jeden, der den Tag in der Stube verbracht hatte, hätten diese Klumpen sicherlich recht abstoßend gewirkt. Der Zwerg entwickelte beim Kochen glänzende Gedanken. Jeder Apfel – sie hatten immer noch einige – wurde in Bärenfeisch eingewickelt – wie ein Apfel im Schlafrock, nur viel dicker und mit Fleisch statt Teig –, auf einen angespitzten Stock gesteckt und dann geröstet. Der Apfelsaft drang durch das Fleisch, und es war wie Schweinebraten mit Apfelsauce. Ein Bär, der vorwiegend andere Tiere gefressen hat, schmeckt nicht sehr gut, aber ein Bär, der von reichlich Honig und Früchten gelebt hat, ist ausgezeichnet, und dieser hier gehört zur letzten Art. Es war ein wahrhaft prächtiges Mahl. Und dann brauchte natürlich nicht abgewaschen zu werden – man lag auf dem Rücken, beobachtete den Rauch aus Trumpkins Pfeife, streckte die müden Beine aus und plauderte. Alle waren nun wieder hoffnungsfroh, daß sie tags darauf König Kaspian finden und Miraz in einigen Tagen besiegen würden. Es mag nicht sehr weise von ihnen gewesen sein, so zu denken, aber sie taten es nun einmal.

Einer nach dem anderen schliefen sie fest ein, und zwar alle ziemlich schnell.

Lucy erwachte aus dem tiefsten Schlaf, den man sich nur denken kann, und hatte das Gefühl, daß die liebste Stimme, die sie kannte, ihren Namen gerufen hatte. Zuerst dachte sie, es sei ihres Vaters Stimme, aber das schien nicht zu stimmen. Dann meinte sie, es könnte Peters Stimme gewesen sein, aber das paßte anscheinend auch nicht. Sie wollte nicht aufstehen – nicht etwa, weil sie noch müde war, im Gegenteil, sie fühlte sich wundervoll ausgeruht, ihr war ungemein behaglich zumute. Sie blickte gerade auf zu dem Mond Narnias, der viel größer als unserer ist, und in den sternenübersäten Himmel, denn der Platz, auf dem die Kinder lagerten, war recht frei. »Lucy«, ertönte wiederum der Ruf, und es war weder ihres Vaters noch Peters Stimme. Sie setzte sich hoch und zitterte vor Aufregung, nicht aus Furcht. Der Mond schien so hell, daß die ganze Waldlandschaft um sie herum fast so klar wie am Tag war, wenn sie auch wilder aussah. Hinter sich hatte sie das Kieferngehölz, etwas entfernt nach rechts die zackigen Spitzen der Klippen auf der anderen Seite der Schlucht, gerade vor sich eine freie Grasfläche, und einen Bogenschuß weiter fort öffnete sich eine Lichtung in den Bäumen. Lucy blickte scharf auf die Bäume, die an dieser Lichtung standen. »So etwas! Ich glaube wirklich, sie bewegen sich«, sagte sie zu sich selbst. »Sie gehen umher.«

Mit wild klopfendem Herzen erhob sie sich und ging zu ihnen hinüber. Es rauschte in der Lichtung, es rauschte so, wie es Bäume im starken Wind tun; dabei war es an diesem Abend gar nicht windig. Und außerdem war es kein gewöhnliches Baumrauschen. Lucy spürte, es lag eine Melodie darin. Doch konnte sie die Melodie so wenig erkennen, wie sie die Worte hatte verstehen können, als in der Nacht zuvor die Bäume nahe daran gewesen waren, zu ihr zu sprechen. Aber es war doch ein Tonfall. Ihre Füße hätten gern getanzt, als sie näher kam. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, die Bäume bewegten sich wirklich – sie bewegten sich gegeneinander und voneinander fort wie bei einem schwerfälligen, ländlichen Tanz. Es kann sicherlich nur ein sehr ländlicher Tanz werden, wenn Bäume tanzen, dachte Lucy. Jetzt war sie fast zwischen ihnen. Der erste Baum, den sie näher betrachtete, schien auf den ersten Blick gar kein Baum, sondern ein mächtiger Mann mit zottigem Bart und dicken Haarbüscheln zu sein. Sie fürchtete sich nicht; so etwas hatte sie schon früher gesehen. Aber als sie wieder hinblickte, war es nur ein Baum, wenngleich er sich bewegte. Es war natürlich nicht zu erkennen, ob er Füße oder Wurzeln hatte, denn wenn Bäume sich bewegen, so gehen sie nicht auf der Erdoberfläche. Sie waten etwa so in der Erde, wie wir es im Wasser tun. Ebenso war es mit allen anderen Bäumen, auf die ihr Blick fiel. In einem Augenblick schienen sie freundliche, liebenswerte Riesen und Riesinnen zu sein. Sie zeigten Formen, wie die Baumleute sie annehmen, wenn ein guter Zauber sie zu vollem Leben erweckt; im nächsten wirkten sie alle wieder wie Bäume. Aber auch dann, wenn sie Bäumen glichen, sahen sie wie seltsam menschliche Bäume aus. Glichen sie aber Menschen, so sahen sie wie merkwürdig hastige und laubreiche Leute aus, und während der ganzen Zeit hielt das seltsame Rauschen, das raschelnde, kühle, fröhliche Geräusch, an.

»Sie sind fast erwacht, aber nicht ganz«, sagte Lucy. Von sich selbst wußte sie, daß sie hellwach war, viel wacher, als man gewöhnlich ist. Furchtlos ging sie zwischen ihnen umher. Auch sie tanzte, während sie bald hierhin, bald dorthin hüpfte, um von den gewaltigen Mittänzern nicht angerannt zu werden. Aber sie war nicht ganz bei der Sache. Sie wollte hinter den Bäumen zu etwas anderem gelangen, denn von weiter her, von hinter den Bäumen, hatte jene liebe Stimme gerufen.

Allmählich gelangte sie hindurch. Dabei war sie sich selbst nicht klar darüber, ob sie ihre Arme gebraucht hatte, um die Zweige beiseite zu schieben, oder ob sie ihre Hände gereicht hatte, um in der langen Kette der großen Tänzer mitzumachen, die sich zu ihr niederbeugten. Die Bäume bildeten um eine freie Mitte einen Kreis, und Lucy trat aus dem wechselnden Durcheinander hübscher Lichter und Schatten in diesen Kreis hinein. Ihre Augen ruhten auf dem runden Grasplatz, der glatt wie ein Rasen war und um den die dunklen Bäume tanzten. Und dann – o Freude! Dort stand er, der riesige Löwe. Weiß schien er im Mondlicht, und große, schwarze Schatten warf er unter sich. Hätte er nicht den Schwanz bewegt, man hätte meinen können, es sei ein steinerner Löwe. Aber so dachte Lucy nicht. Sie dachte nicht einmal darüber nach, ob es ein freundlicher Löwe sei oder nicht. Sie rannte auf ihn zu. Ihr Herz – das fühlte sie – würde bersten, wenn sie nur einen Augenblick versäumte. Und alles, was sie dann wußte, war, daß sie ihn küßte, daß sie ihre Arme, soweit es nur möglich war, um seinen Nacken schlang und daß sie ihr Gesicht in der wundervollen, mächtigen Seidenweiche seiner Mähne verbarg. »Aslan, Aslan. Lieber Aslan«, schluchzte Lucy. »Endlich!« Das große Tier rollte sich auf eine Seite, so daß Lucy halb sitzend und halb liegend zwischen seine Vordertatzen fiel. Er beugte sich vor und berührte ganz leicht ihre Nase mit seiner Zunge. Sein warmer Atem hüllte sie ein. Sie schaute in das große, kluge Antlitz.

»Willkommen, Kind«, sagte er. »Aslan«, sagte Lucy, »du bist größer geworden.« »Das kommt dir nur so vor, weil du älter bist, mein Kleines«, antwortete er. »Nicht, weil du größer bist?«

»Das bin ich nicht. Aber du wirst mich mit jedem Jahr, das du älter wirst, größer finden.«

Eine Zeitlang war sie so glücklich, daß sie gar nicht sprechen mochte. Aber Aslan redete.

»Lucy«, sprach er, »wir dürfen hier nicht lange liegenbleiben. Du hast noch viel zu tun, und heute ist viel Zeit verloren worden.«

»Ja, war es nicht schändlich?« fragte Lucy. »Ich sah dich doch. Sie glaubten mir nicht. Sie sind alle so...« Tief aus Aslans Körper kam die leise Andeutung eines Knurrens. »Verzeih, bitte«, sagte Lucy, die etwas von seiner Stimmung verstand. »Ich wollte die anderen nicht schlechtmachen. Aber es war doch nicht meine Schuld, nicht wahr?« Der Löwe blickte ihr gerade in die Augen.

»Oh, Aslan«, beschwor ihn Lucy, »du denkst doch nicht etwa, es war mein Fehler? Wie konnte ich – ich konnte doch nicht die anderen verlassen und allein zu dir heraufkommen, nicht wahr? Schau mich nicht so an – na ja, vielleicht hätte ich es doch gekonnt. Ja, und ich wäre auch nicht allein gewesen, das weiß ich – nicht, solange ich bei dir gewesen wäre. Aber was hätte es genützt?« Aslan antwortete nichts.

»Du meinst«, fuhr Lucy kläglich fort, »alles wäre gut ausgegangen – irgendwie? Aber wie? Bitte, Aslan, soll ich es nicht erfahren?« »Etwas erfahren, was sich ereignet hätte, Kind?« sagte Aslan. »Nein, das erfährt niemals jemand.« »O weh«, stieß Lucy aus. »Aber jeder kann erkennen, was sich ereignen wird«, sagte Aslan. »Wenn du zu den anderen zurückgehst, sie aufweckst, ihnen berichtest, daß du mich wiedergesehen hast, und ihnen sagst, sie alle müßten sich sofort erheben und mir folgen – was wird dann geschehen? Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.« »Ist es das etwa, was ich jetzt tun soll?« »Ja, mein Kleines«, erwiderte Aslan. »Werden die anderen dich auch sehen?« fragte Lucy. »Keinesfalls sofort«, antwortete Aslan. »Vielleicht später, das mag sein.« »Aber sie werden mir nicht glauben«, meinte Lucy. »Das ist einerlei«, entgegnete Aslan. »Oje, oje«, klagte Lucy. »Und ich war so froh, dich wiederzusehen. Und ich glaubte, ich dürfte bei dir bleiben. Und ich dachte, du kommst brüllend an und schlägst alle Feinde in die Flucht – wie damals. Und jetzt wird alles so schrecklich.« »Es ist schwer für dich, Kleines«, sagte Aslan. »Aber nichts wiederholt sich. Es war für uns alle in Narnia bis jetzt schwer.« Lucy verbarg ihren Kopf in seiner Mähne, um sich vor seinem Blick zu verstecken. Aber in seiner Mähne muß Zauber gewesen sein. Sie fühlte, wie Löwenstärke in sie hineinströmte. Ganz plötzlich setzte sie sich auf. »Es tut mir leid, Aslan«, sagte sie. »Jetzt bin ich bereit.« »Jetzt bist du wie eine Löwin«, meinte Aslan. »Nun wird das ganze Narnia neu erstehen. Komm jetzt. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Er erhob sich und schritt stattlich und lautlos zurück zu dem Ring der tanzenden Bäume, durch den Lucy gekommen war. Lucy ging neben ihm und legte ihre ziemlich zitternde Hand auf seine Mähne. Die Bäume wichen auseinander, um sie durchzulassen, und nahmen für einen Augenblick ganz und gar ihre menschlichen Formen an. Lucy sah große und schöne Waldgötter und Waldgöttinnen vor sich, die sich alle vor dem Löwen niederbeugten. Gleich danach waren sie wieder Bäume, aber sie verbeugten sich weiter und schwenkten dabei Zweige und Äste so anmutig, daß ihre Verbeugung wie ein Tanz anzuschauen war. »So, Kind«, sagte Aslan, als sie die Bäume hinter sich gelassen hatten. »Hier werde ich warten. Geh, weck die anderen und fordere sie auf, dir zu folgen. Wollen sie es nicht, so mußt wenigstens du allein mir folgen.« Es ist eine heikle Aufgabe, vier Menschen zu wecken, die sehr müde und älter sind als man selbst, nur um ihnen etwas mitzuteilen, was sie voraussichtlich nicht glauben, und sie zu etwas aufzufordern, was sie bestimmt nicht mögen. »Ich darf nicht darüber nachdenken. Ich muß es einfach tun«, sagte sich Lucy. Zuerst ging sie zu Peter und schüttelte ihn. »Peter«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Wach auf. Schnell. Aslan ist da. Er sagt, wir müssen ihm sofort folgen.« »Natürlich, Lu. Was du willst«, sagte Peter unerwartet. Das war sehr ermutigend, da sich Peter aber sofort wieder umdrehte und weiterschlief, hatte es wenig Sinn.

Dann versuchte Lucy es bei Suse. Suse wachte richtig auf, aber nur, um mit ihrer aufreizenden Erwachsenenstimme zu sagen: »Du hast geträumt, Lucy. Leg dich wieder hin.« Dann packte sie Edmund. Ihn zu wecken war schwierig; doch als es endlich erreicht war, setzte er sich ganz wach auf. »Nanu«, sagte er in mürrischem Ton, »wovon redest du?« Sie wiederholte nochmals alles. Dies war der unangenehmste Teil ihres Auftrages, denn jedesmal, wenn sie es hersagte, klang es weniger überzeugend.

»Aslan!« rief Edmund aufspringend. »Hurra! Wo ist er?« Lucy wandte sich dorthin, wo sie den Löwen sehen konnte, der wartend seine geduldigen Augen auf sie richtete. »Dort«, sagte sie und wies hin. »Wo?« fragte Edmund wieder. »Dort! Dort. Siehst du ihn denn nicht? Vor den Bäumen?« Edmund starrte eine Weile scharf dorthin und sagte dann: »Nein, da ist nichts. Ich wurde zuerst vom Mondlicht geblendet und irrte mich. Das kann vorkommen. Zuerst dachte ich einen Augenblick lang auch, ich hätte etwas gesehen. Aber das war nur eine – wie nennt man das doch – optische Täuschung – oder?« »Ich sehe ihn die ganze Zeit«, erklärte Lucy. »Er blickt uns gerade an.«

»Warum kann ich ihn denn nicht sehen?« »Er sagte, du bist vielleicht dazu nicht imstande.« »Warum nicht?« »Das weiß ich nicht. Er sagte so.«

»Ach, wie blöd«, meinte Edmund. »Wenn du bloß nicht dauernd Erscheinungen sehen wolltest! Aber wir werden wohl die anderen wecken müssen.«

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