Suse und die beiden Jungen waren vom Rudern todmüde, bevor sie das letzte Vorgebirge umschifft hatten und in die Spiegelwasserbucht hineingerieten. Lucys Kopf schmerzte, nachdem sie viele Stunden in der Sonne gesessen und auf das glitzernde Wasser geschaut hatte. Selbst Trumpkin sehnte das Ende der Reise herbei. Der Steuersitz, auf dem er saß, war für Männer gemacht, nicht für Zwerge, und seine Füße reichten nicht bis an die Bodenbretter. Jeder kann nachfühlen, wie ungemütlich solcher Zustand schon nach nur zehn Minuten ist. Je müder sie wurden, um so mehr sank ihr Mut. Bis jetzt hatten die Kinder nur daran gedacht, wie sie Kaspian erreichen könnten. Nun machten sie sich allerlei Gedanken. Was sollten sie tun, wenn sie ihn gefunden hätten? Wie kann eine Handvoll Zwerge und Geschöpfe der Wildnis ein Heer erwachsener Menschen schlagen?
Langsam folgten sie den Windungen des Spiegelwassers im Zwielicht – in einem Zwielicht, das sich vertiefte, als die Ufer enger zusammenrückten und die überhängenden Bäume sich fast über ihren Köpfen trafen. Es war hier, wo das Meeresrauschen hinter ihnen verklungen war, ganz still. Sie konnten sogar das Tröpfeln der kleinen Rinnsale hören, die aus dem Wald in den Spiegelbach flössen.
Endlich gingen sie an Land. Sie waren viel zu müde, auch nur zu versuchen, ein Feuer anzumachen. Selbst ein aus Äpfeln bestehendes Abendessen war besser, als sich die Mühe zu machen, irgend etwas zu fischen oder zu jagen, obwohl sie fast alle geglaubt hatten, keine Äpfel mehr sehen zu können. Nachdem sie eine Weile schweigend gekaut hatten, kuschelten sie sich zwischen vier großen Buchen zusammengedrängt in das Moos und das trockene Laub.
Alle außer Lucy schliefen sofort fest ein. Lucy, die viel weniger müde war, konnte keine gemütliche Stellung finden. Außerdem hatte sie vergessen, daß alle Zwerge schnarchen. Dagegen wußte sie, daß es, wenn man gern einschlafen möchte, am besten ist, es nicht gewaltsam zu versuchen. Also öffnete sie ihre Augen. Durch eine lichte Stelle zwischen den Farnkräutern und den Zweigen konnte sie gerade einen Fleck des Spiegelbaches und den Himmel darüber sehen. Da entdeckte sie – und die Erinnerung war aufregend – wieder die hellen Sterne von Narnia. Einst hatte sie sie besser gekannt als die Sterne unserer Welt, weil sie als Königin von Narnia viel später ins Bett gegangen war, als es ein Kind in England tun muß. Da waren die Sterne nun wieder, und von ihrem Platz aus konnte sie immerhin drei von den Sterngruppen im Sommer sehen: das Schiff, den Hammer und den Leoparden. »Lieber alter Leopard«, murmelte sie glücklich in sich hinein. Anstatt schläfriger zu werden, wurde sie immer wacher; sie befand sich in einem seltsamen, träumerischen, nächtlichen Wachzustand. Der Bach wurde heller. Sie wußte jetzt, der Mond schien darauf, wenn sie ihn auch nicht sehen konnte. Und dann begann sie zu fühlen, wie der ganze Wald gleich ihr erwachte. Ohne zu wissen, warum sie es tat, erhob sie sich rasch und ging eine kleine Strecke vom Lager fort. »Wie wunderschön ist dies«, sagte Lucy zu sich selbst. Es war kühl und frisch; überall zogen köstliche Düfte durch die Luft. Irgendwo in der Nähe erschallte das Gezwitscher einer Nachtigall, die zu singen anfing, wieder aufhörte und von neuem begann. Geradeaus war es noch ein wenig heller. Sie ging auf das Licht zu und kam auf einen Platz, wo die Bäume weniger dicht standen und wohin der Mond große Lichtflecken und Kreise warf. Mondlicht und Schatten gingen so ineinander über, daß man nicht genau erkennen konnte: war dort etwas, und was war es? In diesem Augenblick brach die Nachtigall – endlich zufriedengestellt mit ihrem Stimmen – in vollen Gesang aus. Lucys Augen gewöhnten sich allmählich an dieses Licht, und sie konnte die ihr am nächsten stehenden Bäume besser erkennen. Eine große Sehnsucht nach den alten Zeiten, als die Bäume in Narnia noch sprechen konnten, überfiel sie. Sie wußte genau, wie jeder dieser Bäume sprechen und welche menschliche Form er annehmen würde – wenn man ihn nur erwecken könnte. Sie betrachtete eine Silberbirke: diese würde eine sanfte, säuselnde Stimme haben und wie ein schlankes, tanzlustiges junges Mädchen aussehen, dem die Haare ins Gesicht fielen. Sie sah die Eiche an: diese würde ein vertrockneter, aber gutmütiger alter Mann mit krausem Bart und haarigen Warzen im Gesicht und an den Händen sein. Sie blickte zu der Buche auf, unter der sie stand; ach – das wäre die schönste von allen. Sie wäre eine anmutige Göttin, glatt und aufrecht, die Herrin des Waldes. »O Bäume, Bäume, Bäume«, sprach Lucy, die vorher nicht die Absicht gehabt hatte, überhaupt zu reden. »O Bäume, erwacht! Erwacht! Erwacht! Erinnert ihr euch nicht? Kennt ihr mich nicht mehr? Baumgeister und Nymphen, kommt heraus, kommt zu mir!«
Obwohl nicht ein Lüftchen sich rührte, regten sich alle Bäume um sie her. Die Blätter raschelten, als wenn sie sprächen. Die Nachtigall unterbrach ihren Gesang, als wolle sie lauschen. In wenigen Augenblicken, so fühlte Lucy, würde sie verstehen, was die Bäume sagen wollten. Aber dieser Augenblick kam nicht. Das Rascheln verstummte. Die Nachtigall setzte ihren Gesang fort. Selbst im Mondlicht sah der Wald wieder ganz gewöhnlich aus. Aber Lucy hatte das Gefühl – wie man es manchmal hat, wenn man versucht, sich auf einen Namen oder eine Zahl zu besinnen, und sie liegen einem auf der Zunge, entgleiten aber, ehe man sich richtig erinnert –, daß sie um Haaresbreite etwas versäumt hatte. Es war ihr, als habe sie den Bruchteil einer Sekunde zu früh oder den Bruchteil einer Sekunde zu spät zu den Bäumen gesprochen oder als habe sie alle richtigen Worte bis auf eines gebraucht oder aber ein verkehrtes Wort hinzugefügt. Ganz plötzlich wurde sie müde. Sie ging zurück ins Lager, kuschelte sich zwischen Suse und Peter und schlief ein. Kalt und unfroh erwachten alle am nächsten Morgen im grauen Dämmerlicht des Waldes. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und alles war feucht und schmutzig. »Äpfel! Heißajuchhei!« sagte Trumpkin mit betrübtem Grinsen, »ich muß schon sagen: die einstigen Könige und Königinnen überfüttern ihre Höflinge nicht gerade.« Sie erhoben sich, schüttelten sich und blickten um sich. Die Bäume waren dick, und sie konnten nach jeder Richtung nur einige Meter weit sehen.
»Eure Majestäten wissen vermutlich den Weg genau?« fragte der Zwerg.
»Ich nicht«, antwortete Suse. »Diese Wälder habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Eigentlich hatte ich angenommen, wir müßten am Fluß entlanggehen.« »Dann hättest du das, finde ich, rechtzeitig sagen sollen«, bemerkte Peter mit verständlicher Schärfe. »Oh, kümmere dich doch nicht um sie«, sagte Edmund. »Sie war schon immer ein Waschlappen. Du hast doch einen Taschen-kompaß, Peter, nicht wahr? Gut, dann ist die Sache klar wie dicke Tinte. Wir müssen uns beim Marschieren nach Nordwesten halten – den kleinen Fluß dort überqueren, den – wie heißt er doch gleich? – Sturzbach.«
»Ich weiß«, fiel Peter ein, »den, der bei der Festung Beruna oder bei der Berunabrücke, wie der LKF sie nennt, auf den großen Fluß trifft.«
»Richtig! Wir überqueren ihn und steigen bergan: dann sind wir um acht oder neun Uhr herum am Steintisch – ich meine bei Aslans Mal. Hoffentlich hält König Kaspian ein gutes Frühstück für uns bereit.«
»Und hoffentlich hast du recht«, meinte Suse. »Auf all das kann ich mich nicht mehr besinnen.« »Das ist bei den Mädchen leider immer so«, bemerkte Edmund zu Peter und dem Zwerg. »Sie können niemals eine Landkarte im Kopf behalten.«
»Weil in unseren Köpfen nämlich schon etwas anderes drin ist«, erwiderte Lucy.
Anfangs schien alles gutzugehen. Sie glaubten sogar, auf einen alten Pfad geraten zu sein. Aber wenn ihr etwas von Wäldern versteht, wißt ihr, wie oft man auf solche vermeintlichen Pfade stößt. Nach einigen Minuten sind sie dann plötzlich zu Ende, und man stößt auf den nächsten, wobei man hofft, es möge kein anderer Pfad, sondern ein Stück des ersten sein, und der verschwindet auch, und wenn man dann völlig aus der Richtung geraten ist, erkennt man, daß keiner von allen ein richtiger Weg war. Die Jungen und der Zwerg allerdings waren mit Wäldern vertraut und ließen sich nur ganz kurze Zeit täuschen. Etwa eine halbe Stunde lang waren sie dahingetrottet – drei von ihnen waren nach dem gestrigen Rudern noch recht steif –, als Trumpkin plötzlich wisperte: »Halt!« Sie blieben stehen. »Irgend etwas folgt uns«, sagte er leise, »oder vielmehr, irgend etwas versucht, mit uns Schritt zu halten – drüben an der linken Seite.« Sie standen, lauschten und starrten hinüber, bis ihnen Ohren und Augen schmerzten. »Wir beiden sollten Pfeile in unsere Bogen stecken«, sagte Suse zu Trumpkin. Der Zwerg nickte, und als beide Bogen schußbereit waren, ging die Gruppe weiter. Sie wanderten einige Dutzend Meter durch ziemlich freies Waldgelände und waren sehr auf der Hut. Dann wurde das Unterholz dichter, und sie mußten sich dem verdächtigen Ding nähern. Als sie dicht daran waren, brach plötzlich aus krachenden Zweigen mit heißem Atem wie ein Blitz etwas Knurrendes. Lucy wurde umgestoßen und hörte, während sie hinfiel, den Ton der Bogensehne. Als sie wieder etwas wahrnehmen konnte, sah sie einen großen, grauen, grimmig aussehenden Bären mit Trumpkins Pfeil in der Seite tot daliegen.
»Bei diesem Schießen um die Wette hat dich der LKF ausgestochen, Suse«, sagte Peter und lächelte etwas gezwungen. Selbst ihn hatte dieses Abenteuer mitgenommen. »Ich – ich war zu langsam«, meinte Suse mit verlegener Stimme. »Ich fürchtete, es könne einer von unseren Bären, ein Sprechender Bär sein.« Sie haßte das Töten.
»Das macht es eben so schwierig«, entgegnete Trumpkin, »wenn die meisten Tiere feindselig und stumm geworden sind, aber noch einige von der anderen Art leben. Man weiß niemals, was man vor sich hat, wagt aber nicht, abzuwarten.« »Guter alter Bruin«, sagte Suse. »Der kann es doch nicht etwa gewesen sein?«
»Nein, der nicht«, erwiderte der Zwerg. »Von diesem da sah ich das Gesicht und hörte das Knurren. Er wollte nur das kleine Mädchen zum Frühstück verspeisen. Da wir gerade von Frühstück sprechen – ich wollte Eure Majestät nicht enttäuschen, als Ihr hofftet, König Kaspian werde Euch ein gutes Frühstück auftischen, aber Fleisch ist im Heerlager sehr knapp. Und Bärenfleisch schmeckt sehr gut. Es wäre eine Schande, den Kadaver liegenzulassen, ohne etwas davon zu nehmen. Es würde uns nicht länger als eine halbe Stunde aufhalten, etwas abzuschneiden. Ich nehme an, ihr beiden jungen Burschen – Könige wollte ich sagen – wißt, wie man einen Bären häutet?« »Laßt uns ein Stück weitergehen und uns niedersetzen«, schlug Suse Lucy vor. »Ich weiß, was das für eine greuliche Sache ist.« Lucy schüttelte sich und nickte. Als sie sich niedergelassen hatten, sagte sie: »Mir ist ein schrecklicher Gedanke gekommen, Suse.«
»Was für einer?«
»Wie entsetzlich wäre es, wenn eines Tages in unserer Welt Menschen, die unter uns leben, wild würden wie die Tiere hier und dabei noch weiter wie Menschen aussähen. Man wüßte dann niemals, welches die einen und welches die anderen sind!« »Wir haben genug Plage hier und später in Narnia«, meinte die praktische Suse, »und sollten uns nicht nur solche Dinge ausmalen.«
Als sie wieder mit den Jungen und dem Zwerg zusammentrafen, war inzwischen von dem besten Fleisch soviel abgeschnitten, wie sie glaubten tragen zu können. Es ist keine angenehme Sache, sich die Taschen mit rohem Fleisch zu füllen, aber sie schlugen es in frische Blätter ein und fanden sich damit ab, so gut es ging. Alle waren sie erfahren genug, um zu wissen, daß sie über diese wabbeligen und unappetitlichen Packen später ganz anders denken würden. Sie mußten nur erst lange genug marschiert und wirklich hungrig geworden sein. Sie schleppten sich weiter und machten nur Pause, um drei Paar Hände im ersten Bach zu waschen, den sie trafen, bis die Sonne aufging, die Vögel zu singen begannen und mehr Fliegen in den Farnen summten, als ihnen angenehm war. Sie waren nun nicht mehr ganz so steif von den gestrigem Rudern wie anfangs. Ihre Laune hob sich. Die Sonne wurde wärmer, und so nahmen sie ihre Helme ab und trugen sie in der Hand.
»Wir gehen doch bestimmt richtig?« fragte Edmund nach etwa einer Stunde.
»Meiner Meinung nach kann es nicht verkehrt sein, solange wir uns nicht zu sehr nach links wenden«, antwortete Peter. »Halten wir uns zu sehr nach rechts, so verlieren wir schlimmstenfalls etwas Zeit und stoßen zu bald auf den Großen Fluß, ohne eine Schleife abzuschneiden.«
Wieder marschierten sie langsam weiter, ohne einen Laut von sich zu geben. Man hörte nur, wie ihre Füße schlurften und ihre Kettenhemden klirrten.
»Wo ist denn dieser blöde Sturzbach hingeraten?« fragte Edmund nach geraumer Zeit.
»Eigentlich hätten wir ihn schon erreicht haben müssen, meine ich«, erwiderte Peter, »aber es bleibt uns nichts übrig, als weiterzugehen.« Sie fühlten beide, wie der Zwerg sie ängstlich betrachtete, aber er sagte nichts.
Sie schleppten sich weiter, und ihre Panzer wurden immer schwerer und heißer.
»Was zum Donnerwetter bedeutet das?« rief Peter plötzlich aus. Sie waren, ohne es zu merken, fast an den Rand eines Abgrundes gekommen, von wo sie in eine Schlucht blickten. Unten schäumte ein Fluß. Auf der anderen Seite erhoben sich ziemlich hohe Klippen. Sie waren alle – außer Edmund und vielleicht Trumpkin – nicht im Klettern geübt. »Es tut mir leid«, sagte Peter. »Es ist mein Fehler, daß wir hierhergekommen sind. Wir haben uns verirrt. Diese Gegend habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen.« Der Zwerg gab einen Pfiff von sich.
»Oh, laßt uns zurückgehen und den anderen Weg nehmen«, rief Suse. »Ich wußte ja, wir würden uns in diesen Wäldern verirren.«
»Suse«, entgegnete Lucy vorwurfsvoll, »hacke doch nicht immer so auf Peter herum. Das ist häßlich, und er tut doch, was er kann.«
»Und meckere du nicht immer über Suse«, warf Edmund dazwischen. »Ich meine, sie hat völlig recht.« »Schellfisch und Schildkröten!« rief Trumpkin aus. »Wenn wir uns auf dem Herweg verirrt haben, wie können wir dann den Rückweg finden? Wenn wir aber auf die Insel zurückkehren und von vorn anfangen müssen – gesetzt den Fall, wir können es überhaupt –, so wäre es am besten, die ganze Sache aufzugeben. Jedenfalls ist Miraz dann mit Kaspian fertig, bevor wir ihn erreichen.«
»Meinst du, wir sollten weitergehen?« fragte Lucy. »Ich bin nicht ganz überzeugt davon, daß König Peter sich verirrt hat«, meinte Trumpkin. »Wer sagt denn, daß dieser Fluß nicht der Sturzbach ist?«
»Weil der Sturzbach nicht in einer Schlucht ist«, antwortete Peter und hielt mit Mühe an sich. »Eure Majestät sagt: ist«, erwiderte der Zwerg. »Solltet Ihr nicht lieber sagen: war? Ihr kanntet dieses Land vor Hunderten von Jahren – vielleicht vor tausend Jahren. Kann es sich nicht verändert haben? Ein Erdrutsch kann die Hälfte dieses Berges dort herabgerissen und nackte Felsen zurückgelassen haben, und schon habt Ihr die Klippen jenseits der Schlucht. Der Sturzbach kann sein Bett Jahr für Jahr ausgehöhlt haben, bis die kleinen Abhänge auf dieser Seite entstanden. Vielleicht aber hat sich auch ein Erdbeben oder etwas Ähnliches ereignet.« »Daran habe ich nicht gedacht«, gab Peter zu. »Immerhin«, fuhr Trumpkin fort, »selbst wenn dies nicht der Sturzbach ist, so fließt er doch ungefähr nach Norden und muß also in den Großen Fluß münden. Mir ist so, als hätte ich etwas Ähnliches auf meinem Herweg gesehen. Wenn wir also nach rechts fußabwärts gehen, so werden wir auf den Großen Fluß stoßen, wenn auch vielleicht nicht so weit oben, wie wir hofften. Wenigstens werden wir nicht schlechter abschneiden, als hättet Ihr meinen Weg genommen.«
»Trumpkin, du bist ein Mordskerl!« rief Peter. »Los denn. Hinunter in die Schlucht.« »Seht! O seht doch!« rief Lucy. »Wo? Was?« riefen alle fragend durcheinander. »Der Löwe«, sagte Lucy, »Aslan selbst. Habt ihr nicht gesehen?« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich vollkommen, und ihre Augen glänzten. »Meinst du wirklich, daß...« begann Peter. »Wo glaubst du ihn denn gesehen zu haben?« fragte Suse. »Rede nur nicht so, als wenn du erwachsen wärest«, sagte Lucy und stampfte mit dem Fuß auf. »Ich glaubte nicht, ihn zu sehen. Ich sah ihn.« »Wo denn, Lu?« fragte Peter.
»Gerade dort oben zwischen den Eschen. Nein, auf dieser Seite der Schlucht. Und oben, nicht unten. Gerade entgegengesetzt von der Richtung, die ihr nehmen wollt. Und er wollte uns dahin haben, wo er ist – nach oben.« »Wieso weißt du denn, was er wollte?« fragte Edmund. »Er – ich – ich weiß es eben«, antwortete Lucy. »Ich sah es an seinem Gesicht.« Die anderen blickten sich verwirrt an. »Eure Majestät kann durchaus einen Löwen gesehen haben«, warf Trumpkin ein. »Es gibt in diesen Wäldern Löwen, sagte man mir. Aber das braucht kein freundlicher und Sprechender Löwe gewesen zu sein, ebensowenig wie der Bär vorhin ein freundlicher und Sprechender Bär war.« »Oh, seid doch nicht so dumm«, beschwor Lucy sie. »Glaubt ihr etwa, ich erkenne Aslan nicht, wenn ich ihn sehe?« »Er muß jetzt ein ziemlich ältlicher Löwe sein«, meinte Trumpkin, »wenn Ihr ihn noch von damals kennt. Wenn es aber wirklich derselbe ist, warum könnte nicht auch er wild und dumpf wie so viele andere geworden sein?«
Lucy wurde purpurrot, und ich glaube, sie hätte sich auf Trumpkin gestürzt, wenn Peter nicht seine Hand auf ihren Arm gelegt hätte. »Der LKF versteht das nicht. Wie könnte er auch? Du mußt es schon hinnehmen, Trumpkin, daß wir wirklich einiges von Aslan wissen – ein klein wenig, will ich sagen. Und du mußt nicht wieder so über ihn reden. Erstens bringt es kein Glück, und zum anderen ist es Unsinn. Die einzige Frage ist die, ob Aslan wirklich da war.«
»Aber ich weiß es doch«, beteuerte Lucy, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Ja, Lu, aber wir doch nicht, das mußt du verstehen«, beruhigte Peter sie.
»Dann müssen wir abstimmen«, entschied Edmund. »Gut«, erwiderte Peter. »Du bist der älteste, LKF. Wofür stimmst du? Bergauf oder bergab?«
»Bergab«, sagte der Zwerg. »Ich weiß nichts von Aslan, aber ich weiß: wenn wir uns nach links wenden und in der Schlucht aufwärts steigen, können wir den ganzen Tag unterwegs sein, ohne eine Stelle zum Hinübergehen zu finden. Wogegen wir, wenn wir uns nach rechts wenden und abwärts gehen, auf alle Fälle in einigen Stunden den Großen Fluß treffen. Außerdem, wenn es hier richtige Löwen gibt, so sollten wir ihnen aus dem Wege und nicht entgegengehen.« »Was meinst du, Suse?« »Sei nicht böse, Lu«, sagte Suse, »aber ich glaube wirklich, wir sollten abwärts gehen. Ich bin totmüde. Laßt uns nur so schnell wie möglich aus diesem elenden Wald ins Freie gelangen. Und keiner von uns außer dir sah irgend etwas.« »Edmund?« fragte Peter.
»Wißt ihr, ich muß daran denken«, sagte Edmund ganz schnell und wurde dabei ein wenig rot, »als wir zuerst vor einem Jahr – oder vor tausend Jahren, wie es auch sein mag – Narnia entdeckten, da war es Lucy, die es zuerst fand, und keiner von uns wollte ihr glauben. Ich war der Schlimmste von euch, das weiß ich wohl. Dennoch hatte sie recht. Wäre es nicht richtig, ihr diesmal gleich zu glauben? Ich stimme für bergauf.« »Oh, Edi!« rief Lucy aus und ergriff seine Hand. »Und jetzt bist du an der Reihe, Peter«, sagte Suse, »und ich hoffe sehr... «
»Ach, schweig doch jetzt, halt den Mund und laß mich nachdenken«, unterbrach Peter sie. »Ich möchte am liebsten nicht wählen.«
»Ihr seid ein König«, bemerkte Trumpkin nachdrücklich. »Abwärts«, sagte Peter nach einer langen Pause. »Lucy mag recht haben, aber ich kann mir nicht anders helfen. So oder so müssen wir etwas tun.«
So setzten sie sich nach rechts, flußabwärts, am Rand des Abgrundes in Bewegung. Lucy ging als letzte und weinte bitterlich.