EINTRAGUNG NR. 10

Übersicht: Der Brief. Die Membrane. Das zottige Ich.

Der gestrige Tag war für mich wie jenes Papier, durch das die Chemiker ihre Lösungen filtrieren: alle schweren Teilchen, alles Überflüssige bleibt darauf zurück. Am Morgen ging ich sauber destilliert und durchsichtig zur Halle hinunter.

Die Kontrolleurin saß an ihrem Tischchen, sah auf die Uhr und trug die Nummer der Hinausgehenden in eine Liste ein. Sie heißt U… ich will ihre Nummer lieber nicht nennen, denn ich fürchte, ich könnte etwas Hässliches über sie schreiben. Obwohl sie eigentlich eine anständige, nicht mehr ganz junge Frau ist. Das einzige an ihr, das mir nicht gefällt, sind ihre Hängebacken, die wie Kiemen aussehen.

Ihre Feder kratzte, ich sah meine Nummer, D-503, auf dem Papier und daneben einen Tintenklecks. Ich wollte sie gerade darauf aufmerksam machen, als sie plötzlich aufblickte und mir süß-säuerlich zulächelte: »Hier ist ein Brief für Sie.«

Ich wusste, dass dieser Brief, den sie bereits durchgelesen hatte, noch von den Beschützern zensiert werden musste (ich glaube, es ist überflüssig, diesen ganz natürlichen Vorgang zu erklären), und dass ich ihn nicht vor 12 Uhr erhalten würde. Aber dieses sonderbare Lächeln hatte mich verwirrt, so sehr verwirrt, dass ich mich später bei der Arbeit am Integral nicht konzentrieren konnte und sogar einmal einen Rechenfehler machte, was mir früher nie passiert ist.

Um 12 Uhr stand ich wieder vor den bräunlich-roten Fischkiemen, sah wieder das gleiche Lächeln — und endlich hielt ich den Brief in der Hand. Ich weiß nicht, warum ich ihn nicht sofort las, ich steckte ihn in die Tasche und eilte in mein Zimmer. Ich riss den Umschlag auf, überflog die Zeilen und — setzte mich… Der Brief war die offizielle Benachrichtigung, die Nummer I-330 habe sich auf mich eingetragen, und ich müsse heute um 21 Uhr bei ihr erscheinen… Adresse umstehend…

Und das, obwohl ich ihr so unmissverständlich gezeigt hatte, wie ich zu ihr stehe! Außerdem wusste sie gar nicht, ob ich nicht doch bei den Beschützern gewesen war — sie konnte von keinem Menschen erfahren haben, dass ich krank war —, ich hatte wirklich nicht hingehen können… Und dennoch…

In meinem Kopf rotierte, heulte ein Dynamo. Der Buddha, das gelbe Kleid, die Maiglöckchen — ein rosiger Halbmond… Auch das noch: heute Abend wollte O zu mir kommen. Soll ich ihr diese Benachrichtigung zeigen? Sie wird mir wohl nicht glauben (wie sollte sie das auch?), dass ich nichts damit zu tun habe, dass ich völlig unschuldig bin. Es wird gewiss zu einer sinnlosen, völlig unlogischen Auseinandersetzung kommen… Nein, nur das nicht! Mag alles ganz mechanisch seinen Lauf nehmen, ich werde ihr einfach eine Abschrift dieser Benachrichtigung schicken.

Ich steckte den Brief hastig in die Tasche, und dabei sah ich meine hässliche Affenhand. Da fiel mir ein, wie sie, I-330, damals auf dem Spaziergang meine Hand genommen und betrachtet hatte. Dachte sie denn wirklich… Es ist Viertel vor neun. Eine weiße Nacht. Alles ringsum ist wie grünes Glas. Doch das ist ein anderes, dickes Glas, nicht das unsere, nicht das richtige, sondern eine dünne, gläserne Schale, und darunter wirbelt, brodelt, heult etwas… Ich würde mich nicht wundern, wenn jetzt die Kuppeln der Auditorien als runde Rauchwolken langsam emporstiegen, wenn der alte Mond verkniffen lächelte — wie jene Frau heute morgen hinter ihrem Tisch — und wenn in sämtlichen Häusern die Vorhänge zugezogen würden und dahinter…

Ein seltsames Gefühl: Ich spüre plötzlich meine Rippen, sie waren eiserne Bänder und beengten, bedrückten mein Herz. Ich stand vor einer Glastür mit den goldenen Ziffern I-330. I saß mit dem Rücken zu mir am Tisch und schrieb. Ich trat ein…

»Da«, ich hielt ihr mein Billett hin. »Ich habe heute morgen eine Benachrichtigung erhalten und bin gekommen…«

»Wie pünktlich Sie sind! Einen Augenblick bitte. Setzen Sie sich, ich bin sofort fertig.«

Sie blickte wieder auf ihren Brief — was mochte wohl jetzt in ihr vorgehen? Was würde sie in der nächsten Sekunde sagen, was würde sie tun? Wie sollte man das erfahren, berechnen, da bei ihr alles aus dem wilden, längst versunkenen Land der Träume kam? Ich betrachtete sie schweigend. Meine Rippen waren eiserne Spangen, drückten… Wenn sie spricht, gleicht ihr Gesicht einem wirbelnden, blitzenden Rad, man kann die einzelnen Speichen nicht unterscheiden. Doch im Augenblick stand das Rad still, und ich sah eine seltsame geometrische Figur: Die hochgezogenen Brauen bildeten ein spitzwinkeliges Dreieck, zwei tiefe, spöttische Falten liefen von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Diese beiden Dreiecke standen im Widerspruch zueinander und zeichneten das ganze Gesicht mit jenem unangenehmen, aufreizenden X, das einem Kreuz glich. Ein kreuzweise durchgestrichenes Gesicht.

Das Rad drehte sich, die Speichen verschmolzen… »Sie waren also nicht im Beschützeramt?«

»Ich war… ich konnte nicht, ich war krank.«

»Das habe ich mir gleich gedacht, irgend etwas musste Ihnen dazwischenkommen — ganz gleich was.« Sie lächelte, die scharfen Zähne blitzten. »Aber dafür habe ich Sie jetzt in der Hand. Vergessen Sie nicht: Jede Nummer, die nicht binnen 48 Stunden Anzeige erstattet, wird…«

Mein Herz klopfte so wild, dass es die Rippen zu sprengen drohte. Ich kam mir wie ein dummer Junge vor, den man bei einem Streich ertappt hat, und schwieg. Ich war völlig verwirrt, konnte weder Hand noch Fuß rühren… Sie stand auf und reckte sich wohlig. Dann drückte sie auf einen Knopf, und die Gardinen schlossen sich mit leisem Rauschen. Ich war von der Welt abgeschnitten, allein mit ihr.

I stand irgendwo hinter mir, vor dem Schrank. Ihre Uniform raschelte, glitt zu Boden — ich lauschte gespannt. Da dachte ich, es durchzuckte mich wie ein Blitz … Neulich musste ich die Krümmung einer neuen Straßenmembrane berechnen (jetzt hängen die elegant dekorierten Membranen in allen Straßen und registrieren die Gespräche der Passanten für das Beschützeramt), und plötzlich musste ich denken: die konkave, rosige, schwingende Membrane ist eigentlich ein seltsames Wesen, es besteht aus einem einzigen Organ, dem Ohr. Eine solche Membrane war ich jetzt.

Leise klirrte ein Knopf am Kragen — an der Brust — noch weiter unten. Die gläserne Seide glitt über die Schultern, die Knie — zu Boden. Ich hörte, deutlicher als man es sehen konnte, wie das eine, dann das andere Bein aus dem blaugrauen Seidenhaufen stieg. Die straff gespannte Membrane lebte und registrierte: Stille. Nein, scharfe Hammerschläge gegen die Rippen. Ich hörte, sah: Sie überlegte eine Sekunde lang.

Die Schranktür klappte, schloss sich wieder — Seide, Seide… »Bitte.«

Ich wandte mich um. Sie trug ein leichtes, safrangelbes altmodisches Kleid. Das war tausendmal schlimmer, als wenn sie nichts angehabt hätte. Zwei spitze rosige Punkte schimmerten in dem dünnen Gewebe wie zwei Kohlen in der Asche. Zwei zärtlich gerundete Knie… Sie setzte sich in den niedrigen Sessel. Auf dem quadratischen Tischchen vor ihr standen eine Flasche mit einer giftgrünen Flüssigkeit und zwei Gläser mit dünnem Stiel. Im Mund hatte sie eine dünne Papierpfeife, wie man sie in alten Zeiten rauchte (den Namen dafür habe ich vergessen).

Die Membrane schwang immer noch. Der Hammer in mir schlug auf rotglühende Eisenstäbe. Ich hörte deutlich jeden einzelnen Schlag… Konnte auch sie es hören? Nein, sie rauchte ruhig weiter, blickte mich an und schüttelte die Asche achtlos auf mein rosa Billett. Ich fragte sie so kaltblütig wie möglich:

»Warum haben Sie sich eigentlich auf mich eingetragen? Und warum haben Sie mich gezwungen, hierher zu kommen?«

Sie tat, als hörte sie nicht, goss die Gläser voll und nahm einen Schluck.

»Ein ausgezeichneter Likör. Trinken Sie auch einen?« Da erst begriff ich, dass es Alkohol war! Wie ein Blitz zuckte mir ein Erlebnis von gestern durch den Kopf, die steinerne Hand des Wohltäters, der blendend helle Lichtstrahl, der ausgestreckte Körper mit dem weit zurückgebogenen Kopf. Ich erbebte.

»Aber«, sagte ich, »wissen Sie denn nicht, alle, die sich mit Nikotin und besonders mit Alkohol vergiften, wird der Einzige Staat unbarmherzig…«

Die dunklen Brauen schnellten empor, bildeten ein spöttisches Dreieck. »Einige wenige schnell zu vernichten ist vernünftiger, als vielen die Möglichkeit zu geben, sich selbst umzubringen; und die Degeneration usw… Das ist die nackte Wahrheit.«

»Ja, die nackte Wahrheit…«

»Und wenn man die ganze Gesellschaft solcher glatzköpfigen, nackten Wahrheiten auf die Straße hinausließe… stellen Sie sich nur vor, meinetwegen meinen hartnäckigen Verehrer — Sie kennen ihn doch — stellen Sie sich vor, er würde die ganze Lüge seiner Verkleidung abwerfen und sich in seiner wahren Gestalt in der Öffentlichkeit zeigen… ach!«

Sie lachte. Aber ich konnte das untere, traurige Dreieck in ihrem Gesicht deutlich erkennen — zwei tiefe, bittere Falten von der Nase zu den Mundwinkeln. Diese Falten verrieten mir, dass er, der zweifach gekrümmte, bucklige Kerl mit den abstehenden Ohren sie umarmt hatte, sie, eine solche Frau… er…

Ich will versuchen, die anomalen Gefühlen, die ich in diesem Augenblick empfand, zu schildern. Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, weiß ich genau: All das musste so sein; er hatte das gleiche Recht auf Glück wie jede andere anständige Nummer, und es wäre ungerecht von mir… I lachte sonderbar und lange. Dann sah sie mich durchdringend an: »Wissen Sie, vor Ihnen habe ich nicht die geringste Angst. In Ihrer Gegenwart bin ich ganz ruhig. Sie sind ein netter, lieber Mensch — davon bin ich überzeugt —, und Sie denken nicht daran, zu den Beschützern zu laufen und anzuzeigen, dass ich Likör trinke und rauche. Sie werden krank sein oder sonst etwas. Noch mehr — ich bin sogar überzeugt, dass Sie gleich mit mir dieses berauschende Gift trinken werden.« Welch spöttischer, dreister Ton! Jetzt hasste ich sie wieder. Wieso »jetzt«? Ich habe sie doch die ganze Zeit gehasst. Sie trank ihr Glas in einem Zug aus, machte ein paar Schritte — die rosigen Punkte unter dem gelben Kleid schimmerten — und blieb hinter meinem Sessel stehen. Plötzlich schlang sie die Arme um meinen Hals, presste ihre Lippen auf meinen Mund… Ich schwöre, das kam völlig unerwartet für mich, und vielleicht nur, weil… Denn, was dann geschah, das konnte ich doch nicht wollen — soviel ist mir jetzt klar.

Ich fühlte unerträglich süße Lippen (ich glaube, es war der Geschmack des Likörs) — und ein Schluck des brennenden Giftes floss in meinen Mund, ein zweiter, ein dritter… Ich löste mich von der Erde und stürzte wie ein selbständiger Planet, mich rasend um meine Achse drehend, hinab, immer tiefer hinab — in einer unberechenbaren Bahn…

Alles weitere kann ich nur ungefähr beschreiben, nur mit Hilfe mehr oder minder passender Analogien.

Früher wäre mir das nie in den Sinn gekommen, aber es ist so: Wir Menschen auf der Erde gehen stets über einem brodelnden Feuermeer, das sich tief im Schoß der Erde verbirgt und an das wir nie denken. Mit einemmal war mir, als wäre die dünne Rinde unter meinen Füßen zu durchsichtigem Glas geworden, als könnte ich plötzlich sehen… Ich wurde zu Glas. Ich konnte in mein Inneres blicken.

Da waren zwei Ich, das alte D-503, die Nummer D-503, und das andere… Früher hatte es sehr selten seine behaarten Hände aus der Schale emporgestreckt, doch jetzt war es ganz herausgekrochen, die Schale krachte, gleich würde sie in tausend Stücke zerspringen, und — was dann?

Ich klammerte mich mit aller Kraft an einen Strohhalm, an die Sessellehne, und fragte, nur um die Stimme jenes früheren Ich zu hören:

»Wo… wo haben Sie dieses… dieses Gift her?«

»Von einem Arzt, einem meiner Freunde.«

»Einem Freund! Wer ist das?«

Und mein anderes Ich sprang plötzlich auf und schrie: »Das erlaube ich nicht! Ich will, dass keiner da ist, außer mir! Ich schlage jeden tot, der… weil ich Sie…« Ich sah, wie jener andere sie grob mit seinen behaarten Händen packte, ihr die Seide vom Leib riss, die Zähne in ihre Schulter grub, ich weiß es noch genau, die Zähne! I befreite sich, wie, weiß ich nicht mehr. Sie stand mit gesenkten Lidern gegen den Schrank gelehnt und hörte mir schweigend zu.

Ich kniete auf dem Fußboden, umschlang ihre Beine, küsste ihre Knie. Ich flehte: »Bitte, bitte, sofort — jetzt, in diesem Augenblick!« Die scharfen Zähne blitzten, die Brauen zuckten spöttisch.

Sie neigte sich zu mir und knöpfte wortlos mein Abzeichen mit der Nummer ab. »Ja, Liebste…!« Ich nestelte hastig an meiner Uniform. Aber I hielt mir, immer noch schweigend, die Uhr auf meinem Abzeichen hin. Fünf Minuten vor halb elf.

Ich erstarrte. Ich wusste, was es bedeutet, sich nach 22.30 Uhr auf der Straße zu zeigen. Alle Wahnideen waren wie weggeblasen, ich war wieder ich. Mir wurde das eine klar: Ich hasse sie, ich hasse sie!

Ohne mich zu verabschieden, ohne mich umzusehen, stürzte ich aus dem Zimmer. Im Laufen steckte ich irgendwie das Abzeichen an die Uniform, rannte die Nottreppe hinunter (ich fürchtete, jemandem im Lift zu begegnen) auf die verlassene Straße.

Alles war an seinem Platz — alles ganz einfach, alltäglich, gesetzmäßig: die hellerleuchteten, gläsernen Häuser, der gläserne bleiche Himmel, die grünliche regungslose Nacht. Aber unter diesem stillen, kühlen Glas toste unhörbar etwas Wildes, Rotes, Zottiges. Auch ich jagte keuchend dahin, um nicht zu spät zu kommen.

Plötzlich merkte ich, dass mein Abzeichen sich gelockert hatte, es löste sich von der Uniform und fiel klirrend auf das gläserne Pflaster. Ich bückte mich, um es aufzuheben — und in der sekundenlangen Stille hörte ich leise, schlurfende Schritte hinter mir. Ich wandte mich um; etwas Kleines, Krummes bog um die Ecke. So kam es mir wenigstens damals vor.

Ich rannte, so schnell ich konnte. Am Eingang meines Hauses blieb ich stehen, die Uhr zeigte eine Minute vor halb elf. Ich lauschte — niemand folgte mir. Alles war nur Einbildung, eine Nachwirkung jenes Giftes. Die Nacht war qualvoll. Das Bett unter mir hob sich, senkte sich, hob sich von neuem und beschrieb eine Sinuskurve. Ich sagte mir immer wieder: »In der Nacht müssen alle Nummern schlafen. Das ist ebenso eine Pflicht wie die Arbeit am Tage. Das ist notwendig, damit man tags­über arbeiten kann. In der Nacht nicht zu schlafen, ist ein Verbrechen.«

Trotzdem konnte ich kein Auge zutun. Ich gehe zugrunde. Ich bin nicht mehr fähig, meine Pflichten dem Einzigen Staat gegenüber zu erfüllen… Ich…

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