EINTRAGUNG NR. 24

Übersicht: Die Grenze der Funktion. Ostern. Alles ausstreichen.

Ich bin wie eine Maschine, die auf eine zu große Umdrehungszahl eingestellt worden ist. Die Lager sind heißgelaufen, noch eine Minute, und das geschmolzene Metall wird tröpfeln, alles wird sich in Nichts auflösen. Schnell, kaltes Wasser her, Logik! Ich begieße die Maschine mit ganzen Eimern kalten Wassers, aber die Logik zischt auf den glühenden Lagern und entweicht als weißer Dampf, der sich nicht greifen lässt.

Wenn man die wirkliche Bedeutung einer Funktion bestimmen will, muss man ihren Grenzwert nehmen, das ist völlig klar. Also war meine lächerliche »Auflösung im Weltall«, von der ich gestern sprach, wenn man sie als Limes auffasst, nichts anderes als der Tod. Denn der Tod ist die totale Auflösung des Ich im Weltall. Daraus folgt: Wenn man die Liebe mit L bezeichnet, den Tod mit T, dann ist L — f (T), das bedeutet, dass Liebe eine Funktion des Todes…

Ja, so ist es, so und nicht anders! Deswegen fürchte ich I, deswegen ringe ich mit ihr und will mich ihr nicht unterwerfen.

Aber warum stehen »ich will nicht« und »ich will« in mir nebeneinander? Das Entsetzliche ist, dass ich diesen seligen Tod von gestern herbeisehne. Das Entsetzliche ist, dass mich sogar jetzt, da ich die logische Funktion integriert habe, da ich weiß, dass sie den Tod in sich trägt, mit Lippen, Händen, mit meiner Brust, mit jedem Millimeter meines Körpers nach ihr verlangt… Morgen ist der Tag der Einstimmigkeit. Sie wird dort sein, ich werde sie sehen, freilich nur von weitem — das wird mir sehr wehe tun, denn ich muss neben ihr sein, ich fühle mich unwiderstehlich zu ihr hingezogen, ich muss ihre Knie, ihre Schultern, ihr Haar spüren… Aber ich will ja diesen Schmerz, ich brauche ihn.

Großer Wohltäter! Welch absurder Gedanke — nach Schmerz verlangen! Jeder weiß, dass Schmerzen negative Größen sind und die Summe verringern, die wir Glück nennen. Daraus folgt… Nichts, gar nichts folgt daraus. Öde, Leere.


Abends:

Durch die gläsernen Mauern des Hauses blicke ich in den fiebrig glühenden Sonnenuntergang. Ich stelle meinen Sessel so, dass ich diesen triumphierenden roten Schein nicht mehr sehe, und blättere in meinem Manuskript. Dabei muss ich feststellen: Ich habe wieder einmal vergessen, dass ich nicht für mich schreibe, sondern für Sie, unbekannte Leser, die ich liebe und bedaure, weil Sie sich noch irgendwo tief unten abmühen wie die Menschen vergangener Jahrhunderte. Nun will ich von dem Tag der Einstimmigkeit berichten, dem herrlichsten aller Tage. Ich habe ihn von frühester Jugend an geliebt. Ich glaube, für Sie ist dieser Tag etwas Ähnliches wie das Osterfest unserer Ahnen. Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich mir als Kind am Tag vor dem Fest einen kleinen Kalender anlegte und feierlich eine Stunde nach der anderen ausstrich: jede Stunde, die ich ausstrich, hieß eine Stunde weniger warten. Wenn ich wüsste, dass niemand es sähe, würde ich auch heute — mein Ehrenwort — einen solchen Kalender bei mir tragen und mich jeden Augenblick vergewissern, wie viel Zeit noch bis morgen bleibt, wann ich sie endlich sehen werde, wenn auch nur von weitem… Ich wurde unterbrochen, der Schneider brachte meine neue Uniform. Nach altem Brauch erhalten sämtliche Nummern neue Uniformen für das Fest. Morgen werde ich ein Schauspiel erleben, das sich jahraus, jahrein wiederholt und uns jedes Mal von neuem begeistert: die gewaltige Schale der Einstimmigkeit, andächtig erhobene Hände. Morgen ist der Tag der alljährlich wiederkehrenden Wahl des Wohltäters. Morgen werden wir IHM die Schlüssel zu der unbezwinglichen Feste unseres Glückes für ein weiteres Jahr übergeben. Der Tag der Einstimmigkeit hat natürlich nichts mit jenen ungeordneten, unorganisierten Wahlen unserer Vorfahren zu tun, deren Ergebnis nicht im voraus bekannt war. Es gibt nichts Unsinnigeres, als einen Staat auf blinde Zufälligkeiten zu gründen. Aber es mussten ganze Jahrhunderte vergehen, bevor die Menschen das einsahen. Ich brauche Ihnen deshalb wohl nicht zu sagen, dass es bei uns keinen Raum für irgendwelche Zufälligkeiten, für unerwartete Ereignisse gibt. Unsere Wahlen haben eher eine symbolische Bedeutung: sie erinnern uns daran, dass wir einen einzigen, gewaltigen Organismus bilden, der aus Millionen Zellen besteht, dass wir — in den Worten des Evangeliums gesagt — die Einzige Kirche sind. In der Geschichte des Einzigen Staates ist es noch niemals vorgekommen, dass auch nur eine Stimme sich erdreistet hätte, das machtvolle Unisono dieses feierlichen Tages zu stören.

Es heißt, unsere Vorfahren hätten ihre »Wahlen«

»geheim« durchgeführt, sich also wie Diebe versteckt. Einige Historiker behaupten sogar, sie seien maskiert zur Wahl erschienen (ich stelle mir dieses phantastisch-düstere Schauspiel ungefähr so vor: Nacht, ein freier Platz, dunkel gekleidete Gestalten, die an den Mauern entlangschleichen, im Wind flackern rote Fackeln…). Den Grund für diese Geheimnistuerei haben wir bis auf den heutigen Tag nicht eindeutig feststellen können. Wahrscheinlich hingen diese Wahlen mit irgendwelchen mystischen, abergläubischen oder sogar verbrecherischen Vorgängen zusammen. Wir aber haben nichts zu verbergen und brauchen uns für nichts zu schämen: wir halten unsere Wahlen in aller Öffentlichkeit am hellen Tag ab. Ich sehe, wie alle für den Wohltäter stimmen, alle anderen sehen, wie ich dem Wohltäter meine Stimme gebe — und es kann auch gar nicht anders sein, denn alle und ich — das ist das große Wir. Unsere Wahlmethoden erziehen die Menschen zu einer edlen Gesinnung, sie sind viel aufrichtiger und besser als die feige, verlogene Geheimniskrämerei von einst. Außerdem sind sie weit zweckmäßiger. Nehmen wir einmal an, das Unmögliche würde geschehen, und ein falscher Ton schliche sich in die Monophonie ein. Die unsichtbaren Beschützer, die mitten in unseren Reihen sitzen, würden es sofort bemerken und die auf Abwege geratenen Nummern zurückhalten und sie so vor weiteren Entgleisungen bewahren. Aber noch etwas kommt hinzu… Mein Blick fällt auf die gläserne Wand des Nachbarzimmers: eine Frau steht vor dem Spiegel und knöpft eilig ihre Uniform auf. Eine Sekunde lang sehe ich Augen, Lippen und zwei spitze rosige Punkte. Dann schließen sich die Vorhänge. Meine Erlebnisse von gestern fallen mir plötzlich wieder ein, und ich weiß nicht mehr, was »noch hinzukommt«. Ich will es auch gar nicht wissen. Ich will nur eins: I! Ich will, dass sie fortan immer bei mir ist, bei mir allein. Was ich von dem »Fest« geschrieben habe, ist lauter Unsinn. Ich möchte alles durchstreichen, zerreißen, wegwerfen. Denn ich weiß, dass es für mich nur dann ein Feiertag ist, wenn ich sie bei mir habe, wenn ihre Schulter die meine berührt. (Vielleicht ist dies ein frevelhafter Gedanke, aber es ist die Wahrheit.) Ohne I wird die Sonne von morgen nur eine Blechscheibe sein, der Himmel ein Stück blaubemaltes Blech, und ich selber…

Ich nahm den Telefonhörer ab: »I, sind Sie’s?«

»Ja. Warum rufen Sie so spät an?«

»Ich… ich wollte Sie bitten… ich möchte gern, dass Sie morgen neben mir sitzen. Liebste…« Liebste — ich hauchte das nur. Sie gab lange keine Antwort. Mir war, als hörte ich in I.s Zimmer jemand flüstern. Endlich sagte sie: »Nein, ich kann nicht. Sie wissen, wie gern ich es möchte, aber es geht wirklich nicht. Warum? Morgen werden Sie es sehen.«

Nacht.
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