13

Es war Morgen. Quellen hatte bewußt zugelassen, daß der festgenommene Lanoy die Nacht im Gewahrsamstank verbringen mußte, damit er Gelegenheit fand, über seine Verbrechen nachzudenken. Lanoy war von allen Sinnesempfindungen abgetrennt. Er schwamm in einem Bad aus warmer Nährflüssigkeit, alles Zufließende war unterbunden, so daß er nichts wahrnahm als seine eigene unerfreuliche Lage. Eine solche Behandlung wirkte oft sehr nachdrücklich auch auf die härtesten Leute. Und nach Broggs Worten war Lanoy der härteste Brocken seit langem.

Quellen hatte die Neuigkeit zu Hause erfahren, am späten Abend, nicht lange vor Helaines Anruf. Er hatte Anweisungen gegeben, wie mit Lanoy zu verfahren sei, war aber nicht selbst ins Amt gefahren, um sich den Mann anzusehen. Leeward hatte ihn abgeliefert, während Brogg am Sprungort zurückgeblieben war.

Für Quellen war es eine bedrückende Nacht gewesen. Er wußte natürlich, daß Norm Pomrath sich in die Vergangenheit abgesetzt hatte. Er hatte, angeschlossen an die Echtzeit-Schaltung, hilflos zugehört, als Pomrath und Lanoy das Ganze besprochen hatten und zu einer Einigung gekommen waren. Pomrath hatte an Ort und Stelle bezahlt — womit die Familienersparnisse praktisch aufgebraucht waren — und war auf die Platte getreten, um ins Jahr 2050 gestoßen zu werden. An diesem Punkt hatte die Übermittlung durch das Ohr aufgehört. Das Ohr war ein empfindliches Gerät, aber über einen Zeitabgrund hinweg konnte es nicht senden.

Helaines steinernes Gesicht hatte ihn noch mehr bedrückt. Sie gab ihm die Schuld an den Ereignissen, wie Quellen wußte, und sie würde ihm nie wirklich verzeihen. Er hatte also seine Schwester verloren, seine einzige Verwandte. Und auch Judith war für ihn verloren. Seit dem Fiasko bei der Gemeinschaftserbrech-Kommunion hatte sie sich geweigert, Anrufe von ihm anzunehmen. Er wußte, daß er sie nie wiedersehen würde. Die schlanke, nackte Gestalt im Aufsprühkleid drehte sich wollüstig in Quellens Träumen und weckte ihn oft.

Der einzige Trost in einer durchweg düsteren Lage war die Tatsache, daß Lanoy gefunden und festgenommen worden war. Das hieß, daß der Druck auf das Amt bald nachlassen würde. Da der Springerring zerschlagen war, konnte das Leben wieder seinen normalen Lauf nehmen, und Quellen würde wieder in der Lage sein, einen Großteil seiner Zeit in Afrika zu verbringen. Es sei denn, Brogg hatte ihn wirklich verraten. Quellen hatte nicht mehr daran gedacht. Kolls unfreundlicher Tonfall gestern — bedeutete er, daß seine eigene Verhaftung bevorstand, sobald der Fall Lanoy abgewickelt war?

Quellen erhielt die Antwort darauf kurz vor Mitternacht, als Koll anrief. Für Koll war immer Dienst.

»Ich habe mich eben im Amt erkundigt«, sagte Koll. »Ich höre, daß Sie den Halunken gefaßt haben.«

»Ja. Er wurde gegen Achtzehn oder Neunzehn gebracht. Brogg und Leeward hatten ihn aufgespürt. Sie haben ihn in den Gewahrsamstank gesteckt. Ich verhöre ihn am Morgen.«

»Gut gemacht«, sagte Koll, und Quellen sah um die Lippen des kleinen Mannes den Anflug eines echten Lächelns. »Das paßt gut zu der Personalbesprechung, die Spanner und ich heute nachmittag hatten. Ich habe eben einen Beförderungsantrag für Sie gestellt. Es erscheint ungerecht, den KrimSek in einer Wohnung Stufe Sieben hausen zu lassen, wenn ihm mindestens Sechs zusteht, finden Sie nicht? Sie werden sich Spanner und mir in Ihrem höheren Rang bald anschließen. Das wird Ihre Stellung im Amt selbst natürlich nicht beeinflussen, aber ich dachte, es würde Ihnen Freude machen.«

Quellen war erfreut. Und erleichtert. Er weiß also doch nichts von Afrika. Das war nur mein Schuldbewußtsein, dem ich die Ängste zu verdanken hatte. Dann kam eine neue Sorge. Wie sollte er das illegale Stat in eine neue Unterkunft schaffen, ohne entdeckt zu werden? Es war schon schwer genug gewesen, die Maschine hier einbauen zu lassen. Vielleicht lockte Koll ihn nur tiefer in eine Falle. Quellen preßte die Hände an die Schläfen und fröstelte, wartete auf den Morgen — und auf Lanoy.


»Sie geben zu, Menschen in die Vergangenheit geschickt zu haben?« fragte Quellen scharf.

»Gewiß«, sagte der kleine Mann keck. Quellen starrte ihn an und spürte ein unerklärliches Zornpochen in seinem Schädel. Wie konnte der Kerl so gelassen sein. »Gewiß«, sagte Lanoy. »Ich schicke Sie für zweihundert Kred zurück.«

Leeward stand breit und hochragend hinter dem kleinen Mann, und Quellen saß ihm am Tisch gegenüber. Brogg war heute nicht gekommen. Koll und Spanner hörten in ihrem eigenen Büro nebenan mit. Der Verbrecher wirkte wächsern nach seiner Nacht im Gewahrsamstank, verriet aber trotzdem Würde.

»Sie sind Lanoy?« zischte Quellen.

»So heiße ich.« Er war ein kleiner, dunkelhaariger, angespannter, wieseliger Mann, dessen schmale Lippen ständig in Bewegung waren. »Sicher, ich bin Lanoy.« Der kleine Kerl strahlte zuversichtliche Herzlichkeit aus. Er gewann von Minute zu Minute an Kraft. Er hatte jetzt die Beine übereinandergeschlagen und den Kopf zurückgelegt.

»War ziemlich übel, wie Ihre Leute mich aufgespürt haben«, sagte Lanoy. »Schlimm genug, daß Sie den armen, dummen Proleten übertölpelt haben, Sie zu mir zu führen, aber Sie hätten mich nicht auch noch in den Tank zu stecken brauchen. Die Nacht war scheußlich. Ich tue nichts Illegales, wissen Sie. Ich sollte Sie verklagen.«

»Nichts Illegales? Sie bringen die vergangenen fünfhundert Jahre durcheinander!«

»Keine Rede«, sagte Lanoy ruhig. »Das stimmt überhaupt nicht. Sie sind schon durcheinandergebracht worden. Das ist alles aufgezeichnet, wissen Sie. Ich sorge nur dafür, daß die vergangene Geschichte so stattfindet, wie sie stattgefunden hat, wenn Sie mich verstehen. Ich bin ein öffentlicher Wohltäter. Was wäre, wenn ich die Aufzeichnungen nicht wahr werden ließe?«

Quellen starrte den arroganten Kerl finster an. Er wollte auf und ab gehen, stellte fest, daß er in dem winzigen Büro nicht genug Platz hatte, und setzte sich lahm an seinen Schreibtisch. Er fühlte sich in Gegenwart des Kerls seltsam hilflos. Der Mann strahlte Macht aus.

»Sie geben zu, daß Sie Proleten als Springer zurückschicken?« sagte er. »Warum?«

Lanoy lächelte.

»Um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das werden Sie doch verstehen? Ich verfüge über ein sehr wertvolles Verfahren und möchte damit herausholen, was ich kann.«

»Sind Sie der Erfinder des Zeitreise-Verfahrens?«

»Das behaupte ich nicht. Aber darauf kommt es auch nicht an«, erklärte Lanoy. »Ich verfüge darüber.«

»Wenn Sie Ihre Maschine zum Geldverdienen benützen wollen, warum gehen Sie nicht einfach in der Zeit zurück und stehlen oder wetten auf Gliederfüßer, um Ihren Unterhalt zu bestreiten? Warum kassieren Sie nicht rasch beim Ausgang eines Rennens ab, über das Unterlagen vorhanden sind, und kommen wieder her?«

»Das könnte ich tun«, gab Lanoy zu. »Aber das Verfahren ist nicht umkehrbar, und ich könnte mit meinem Gewinn nicht wieder in die Gegenwart zurückkehren. Oder mit Gestohlenem. Und mir gefällt es hier, danke schön.«

Quellen kratzte sich am Kopf. Es gefiel ihm hier? Es erschien unfaßbar, daß es jemandem hier gefallen konnte, aber Lanoy meinte es offenbar ernst. Einer dieser perversen Ästhetiker, ohne Zweifel, dem noch ein Misthaufen als schön erschien.

Er sagte: »Hören Sie, Lanoy, ich will völlig offen mit Ihnen reden. Sie haben sich strafbar gemacht, weil Sie dieses Unternehmen ohne Zustimmung der Hohen Regierung betreiben. Kloofman hat Ihre Verhaftung angeordnet. Ich bin nicht bereit, mitzuteilen, was für eine Strafe Sie bekommen werden, aber das könnte hinaufreichen bis zur völligen Persönlichkeitslöschung, je nach Ihrer Einstellung. Sie haben aber eine Wahlmöglichkeit. Die Hohe Regierung wünscht über Ihre Zeitreisemaschine zu bestimmen. Übergeben Sie das meinen Leuten — nicht nur das Gerät, Sie verstehen, sondern auch die Methode. Ihre Mitarbeit wird sich strafmildernd auswirken.«

»Bedaure«, sagte Lanoy. »Die Maschine ist Privatbesitz. Sie haben keinen Anspruch darauf.«

»Die Gerichte —«

»Ich tue nichts Verbotenes, also brauche ich mir über eine Strafe nicht den Kopf zu zerbrechen. Und ich weigere mich, Ihre Jurisdiktion anzuerkennen. Die Antwort ist: nein.«

Quellen dachte an den Druck, der von Koll und Spanner und sogar von Kloofman auf ihn ausgeübt wurde, diesen Fall abzuschließen. Er wurde gleichzeitig zornig und ängstlich. Er stieß hervor: »Wenn ich mit Ihnen fertig bin, Lanoy, werden Sie sich wünschen, Sie hätten Ihre eigene Maschine benützt, um eine Million Jahre zurückzugehen. Wir können Mitarbeit erzwingen. Wir können Sülze aus Ihnen machen.«

Lanoys kühles Lächeln geriet nicht ins Schwanken. Seine Stimme klang gelassen, als er sagte: »Na, kommen Sie, KrimSek. Sie fangen an, die Beherrschung zu verlieren, und das ist immer gegen die Logik. Um nicht zu sagen, gefährlich.«

Quellen spürte die Wahrheit von Lanoys Warnung. Er bemühte sich um Ruhe und verlor den Kampf. Die Muskeln in seiner Kehle schienen sich zu verknoten.

»Ich stecke Sie in den Tank, bis Sie verfaulen«, fauchte er.

»Und was haben Sie davon? Ich wäre verfaultes Fleisch, und Sie könnten der Hohen Regierung das Zeitverfahren trotzdem nicht übergeben.« Lanoy zog die Schultern hoch. »Würde es Ihnen übrigens etwas ausmachen, mir ein bißchen mehr Sauerstoff hier zukommen zu lassen? Ich ersticke nämlich.«

In seiner Verblüffung über diese kühne Forderung öffnete Quellen den Lüftungsschacht weit. Leeward ließ Erstaunen über die Geschmacklosigkeit Lanoys erkennen. Ohne Zweifel würden auch die Beobachter im Nebenraum von Quellens abrupter Kapitulation verblüfft sein.

»Wenn Sie mich einsperren, vernichte ich Sie, Quellen. Ich sage Ihnen, an meiner Tätigkeit ist nichts Ungesetzliches. Sehen Sie her — ich bin zugelassener Vokat.« Lanoy zeigte einen gültigen Ausweis.

Quellen wußte sich nicht mehr zu helfen. Lanoy hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Gewöhnlich war er fähiger, mit Verbrechern umzugehen, aber die Ereignisse der letzten anstrengenden Tage hatten ihn geschwächt. Quellen kaute an seiner Unterlippe, während er den kleinen Mann scharf beobachtete, und wünschte sich inbrünstig, wieder an seinem Fluß im Kongo zu sein und den Krokodilen Steine hinzuwerfen.

»Auf jeden Fall mache ich Ihren Zeitreisen ein Ende«, sagte Quellen schließlich.

Lanoy lachte leise.

»Das würde ich Ihnen nicht empfehlen, Quellen.«

»Für Sie KrimSek.«

»Ich würde Ihnen nicht raten, mir Schwierigkeiten zu machen, Quellen«, wiederholte Lanoy. »Wenn Sie den Strom der Springer jetzt unterbrechen, geht in der Vergangenheit alles durcheinander. Diese Leute sind zurückgegangen. Das ist geschichtlich verzeichnet. Manche haben geheiratet und Kinder bekommen, und die Nachkommen dieser Kinder leben in der Jetztzeit.«

»Das weiß ich alles. Wir haben die Theorie ausführlich besprochen.«

»Sie wissen gar nicht, ob Sie der Nachkomme eines Springers sind, den ich nächste Woche zurückschicken soll, Quellen — und wenn dieser Springer nicht zurückgeht, erlischt Ihre Existenz wie eine ausgeblasene Kerze, Quellen. Ich nehme an, das ist eine angenehme Art des Sterbens. Aber wollen Sie sterben?«

Quellen starrte düster vor sich hin. Lanoys Worte jagten sich in seinem schmerzenden Schädel. Nun zeigte sich, daß das Ganze eine Verschwörung war, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Marok, Koll, Spanner, Brogg, Judith, Helaine und nun Lanoy — sie waren alle entschlossen, ihn unentrinnbar in den Irrsinn zu stoßen. Eine stillschweigende, unausgesprochene Verschwörung. Stumm verfluchte er die Hunderte Millionen dichtgedrängter Einwohner von Appalachia und fragte sich, ob er jemals wieder einen Augenblick der Einsamkeit erleben würde.

Er atmete tief ein.

»Die Vergangenheit wird nicht verändert werden, Lanoy. Wir sperren Sie ein und nehmen Ihnen die Maschine weg, sorgen aber selbst dafür, daß die Springer zurückgehen. Wir sind keine Dummköpfe, Lanoy. Wir sorgen dafür, daß alles so abläuft, wie es ablaufen soll.«

Lanoy sah ihn eine Zeitlang beinahe mitleidig an, wie jemand einen sehr seltenen aufgespießten Schmetterling betrachtet.

»Ist das Ihre Absicht, KrimSek? Glauben Sie wirklich, Sie könnten lernen, die Maschine zu bedienen?«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Dann muß ich Maßnahmen ergreifen, um mich zu schützen.«

Quellen hätte sich am liebsten verkrochen.

»Was können Sie schon tun?«

»Das werden Sie sehen. Vielleicht stecken Sie mich wieder in den Tank, während Sie sich überlegen, welche Wege Ihnen offenstehen. Dann holen Sie mich wieder. Zu einem Gespräch unter vier Augen. Ich habe Ihnen interessante Dinge zu erzählen. Sie werden aber nicht wollen, daß jemand anderer sie hört.«


Im Himmel gähnte ein Schlitz, als hätte eine schnelle Hand ihn aufgezogen. Norm Pomrath stürzte hindurch. Sein Magen protestierte, als er rasch hinunterfiel, zwei, drei Meter, ohne Vorwarnung. Lanoy hätte mir sagen können, daß ich mitten aus der Luft herunterfalle, dachte er. Im letzten Augenblick drehte er sich herum und landete auf Hüfte und linkem Bein. Seine Kniescheibe prallte auf die Straße. Pomrath ächzte und blieb kurze Zeit liegen. Es war nicht ratsam, lange liegenzubleiben, das wußte er. Er nahm sich zusammen, stand schwankend auf und wischte sich ab. Die Straße war bemerkenswert schmutzig. Pomraths ganze linke Körperseite schmerzte. Er hinkte an eine Hauswand, lehnte sich dort an, biß die Zähne zusammen und führte eine der empfohlenen Neuralübungen zur Förderung der Durchblutung aus. Die Schmerzen vergingen, als sich die Blutgefäße, die er sich geprellt hatte, leerten.

So. Schon besser.

Nun hatte er zum erstenmal Gelegenheit, die Welt von A. D. 2050 zu betrachten.

Beeindruckt war er nicht. Die Stadt sah zusammengedrängt aus, wie sie viereinhalb Jahrhunderte später aussehen würde, aber das Dichtgedrängte wirkte zufällig und asymmetrisch. Überall ragten Turmgebäude in archaischem Baustil empor. Es gab keine Schnellboote und keine Brücken über Etagenstraßen. Das Pflaster war von Rissen durchzogen. Die Straßen waren vollgestopft mit Fußgängern, nicht auffallend weniger, als er auf den Straßen zu sehen gewohnt war, obwohl er wußte, daß die Weltbevölkerung nur ein Drittel dessen ausmachte, was in seiner eigenen Zeit vorhanden war. Die Art, sich zu kleiden, interessierte ihn. Obwohl Frühling herrschte und die Luft warm war, verdeckte man alles. Die Frauen waren eingehüllt von den Fußknöcheln bis zum Kinn, die Männer bevorzugten weite Umhänge, um die Körperumrisse zu verdecken. Pomrath erkannte daran, daß Lanoy ihn annähernd in die richtige Zeit geschickt hatte.

Pomrath hatte sich mit den Dingen vorher befaßt. Er wußte, daß die Mitte des 21. Jahrhunderts eine Zeit neupuritanischer Reaktion gegen die fleischlichen Exzesse der unmittelbaren Vergangenheit gewesen war. Das gefiel ihm. Nichts langweilte ihn mehr als eine Epoche schamlos nacktbrüstiger Frauen und Männer mit Hosenbeuteln. Wahre Sinnlichkeit gedieh nur in einer Zeit erotischer Zurückhaltung, soviel wußte er. Sinnlichkeit gehörte zu den Dingen, die er suchte. Nach einem Jahrzehnt als braver Vater und treuer Ehemann freute Pomrath sich auf die Gelegenheit, sich einmal austoben zu können.

Er wußte ferner, daß die neupuritanische Phase bald wieder von einem gegensätzlichen Pendelschlag ausgelöscht werden würde. Er konnte also von beiden Kulturen das Beste nehmen: zuerst die verstohlenen Lüste der inneren Auflehnung gegen die öffentliche Moral, dann, wenn er älter wurde, die Freuden, den völligen Zusammenbruch dieser Moral zu erleben. Er hatte sich eine gute Zeit ausgesucht. Keine nennenswerten Kriege, keine schweren Krisen. Hier konnte man sein Leben genießen, vor allem dann, wenn man über nützliche Fähigkeiten verfügte. Ein Medizintechniker wie er würde in dieser Zeit primitiver Medizin günstige Aussichten haben.

Niemand hatte ihn auftauchen sehen. Zumindest war jeder Zeuge für sein plötzliches Erscheinen rasch verschwunden, um sich um eigene Angelegenheiten zu kümmern, ohne sich einzumischen. Gut.

Nun mußte er sich orientieren.

Er befand sich in einer Stadt, mutmaßlich New York. Überall Geschäfte und Büros. Pomrath ließ sich vom Strom der Passanten mittreiben. Ein Kiosk an der Ecke verkaufte, was die Entsprechung der Fakbänder in dieser Zeit zu sein schien. Pomrath riß die Augen auf. Da stand ein Datum: 6. Mai 2051. Tüchtiger Bursche, Lanoy. Innerhalb eines Jahres um die gewünschte Zeit. Das gelbe Band tickerte aus dem Schlitz der Maschine. Pomrath hatte Mühe, die antiquierte Grotesk-Druckschrift zu lesen. Er war sich nicht bewußt gewesen, wie sehr die Form der Buchstaben verändert worden war. Aber er hatte es bald heraus.

Fein. Nun brauchte er nur noch Geld, eine Identität, eine Wohnung. Innerhalb einer Woche würde er ganz in die Matrix dieser Zeit eingetaucht sein.


Er sog Luft in die Lunge. Er fühlte sich zuversichtlich, lebendig, in Hochstimmung. Hier gab es keine Stellungsmaschine. Er konnte nach eigenem Vermögen existieren, sich allein mit den unerbittlichen Kräften des Universums auseinandersetzen und sie sogar ein bißchen zum Nachgeben zwingen. In seiner eigenen Zeit war er nur eine Nummer auf einer Lochkarte, eine Anhäufung von Ionen auf einem Datenspeicherband gewesen. Hier konnte er seine Rolle selbst wählen und sie ausnützen.

Pomrath trat aufs Geratewohl in einen Laden. Man verkaufte hier Bücher. Keine Spulen; Bücher. Er betrachtete sie staunend. Billiges, schlechtes Papier; unscharfer Druck; dünner Einband. Er griff nach einem Roman, blätterte darin, stellte den Band zurück. Ein anderer Band schien ein bekanntes medizinisches Handbuch zu sein. Es würde nützlich sein. Er fragte sich, wie er es ohne Geld an sich bringen konnte. Er wollte vor niemandem zugeben, daß er ein Springer war. Er wollte es allein schaffen.

Ein Mann, in dem er den Besitzer vermutete, kam heran — dick, unsauber im Gesicht, wäßrig-blaue Augen. Pomrath lächelte. Er wußte, daß seine Kleidung ihn als Fremden verriet, hoffte aber, daß er damit nicht allzu deutlich als Besucher aus der Zeit auffiel.

Der Mann sagte mit leiser, wispernder Stimme: »Unten ist Besseres. Wollen Sie was erleben?«

Pomraths Lächeln wurde breiter.

»Tut mir leid, ich spreche nicht leicht. Mein Englisch sehr schlecht.«

»Was erleben, habe ich gesagt. Erleben. Unten. Sind Sie von außerhalb?«

»Besucher aus slawische Land. Verstehen Ihre Sprache nur wenig«, sagte Pomrath mit einem, wie er hoffte, starken tschechischen Akzent. »Vielleicht Sie helfen? Fühle mich hier unsicher.«


»Das dachte ich mir schon. Ein einsamer Ausländer. Na, gehen Sie hinunter. Die Mädels heitern Sie auf. Zwanzig Dollar. Haben Sie Dollar?«

Pomrath begann zu begreifen, was im Keller der Buchhandlung vorging. Er nickte heftig und ging nach hinten, das medizinische Fachbuch in der Hand. Der Besitzer schien nichts zu bemerken.

Stufen führten hinunter. Stufen! Pomrath wußte kaum, was er da vor sich hatte. Er packte fest das Geländer und stieg unsicher hinunter. Unten leuchtete ihn eine Art Abtaster an, und er hörte einen Piepslaut, der vermutlich mitteilte, daß er keine Waffen trug. Eine beleibte Frau in wallendem Gewand kam herausgerauscht, um ihn zu begutachten.

In seiner eigenen Zeit gab es öffentliche Sexkabinen, allen offen, ohne Heimlichkeit. Es lag nahe, daß in dieser neupuritanischen Zeit Mädchenzellen in den Untergeschossen alter, muffiger Gebäude versteckt waren. Das Laster war hier pro Kopf wohl häufiger als in der Zukunft, dachte Pomrath.

Die Frau sagte: »Sie sind der Ausländer, den AI heruntergeschickt hat, hm? Sie sehen wirklich ausländisch aus. Woher sind Sie, aus Frankreich?«

»Slawenbezirk. Prag.«

»Wo ist das?«

Pomrath blickte unsicher.

»Europa. Im Osten.«

Die Frau zuckte mit den Achseln und führte ihn hinein. Pomrath stand in einem kleinen, niedrigen Raum, der ein Bett, eine Waschgelegenheit und ein blondes Mädchen mit teigigem Gesicht enthielt. Das Mädchen ließ den Morgenrock fallen. Ihr Körper war weich und ein wenig schwabbelig, aber durchaus anziehend. Sie sah jung aus und intelligenter, als ihr Beruf zu verlangen schien.

»Das macht zwanzig Dollar«, sagte sie geduldig.

Pomrath wußte, daß der Augenblick der Wahrheit gekommen war. Er schaute sich nervös im Zimmer um und sah keine Abtaster. Er konnte natürlich nicht sicher sein. Selbst in dieser Zeit war man, was Bespitzelung anging, sehr fortschrittlich gewesen, und es gab für ihn keinen Zweifel daran, daß man zu denselben schmutzigen Tricks griff, die in seiner eigenen Zeit üblich waren. Aber er mußte das Risiko eingehen. Früher oder später brauchte er in dieser Zeit hier einen Verbündeten, und jetzt war der passende Augenblick gekommen, damit anzufangen.

»Ich habe kein Geld«, sagte Pomrath ohne den nachgemachten Akzent.

»Dann hau ab hier!«

»Psst. Nicht so schnell. Ich habe ein paar Ideen. Setzen Sie sich. Beruhigen Sie sich. Möchten Sie reich werden?«

»Sind Sie von der Polizei?«

»Ich bin fremd in der Stadt und brauche einen Freund. Ich habe Pläne. Helfen Sie mir, dann haben Sie das hier rasch hinter sich. Wie heißen Sie?«

»Lisa. Sie sprechen merkwürdig. Was sind Sie, Springer oder was?«

»Ist das so auffällig?«

»Nur geraten.« Die Augen des Mädchens waren tiefblau, sehr groß. Sie zog ihren Morgenrock wieder an, so, als halte sie es nicht für schicklich, geschäftliche Dinge nackt zu besprechen. Mit leiser Stimme sagte sie: »Sind Sie eben angekommen?«

»Ja. Ich bin Arzt. Ich kann uns enorm reich machen. Bei meinen Kenntnissen —«

»Wir werfen alle Turbinen an, Kleiner«, sagte sie. »Sie und ich. Wie heißen Sie?«

»Keystone«, sagte Pomrath wahllos. »Mort Keystone.«

»Wir reißen Bäume aus, Mort.«

»Das weiß ich. Wie bald können Sie hier raus?«

»Zwei Stunden noch.«

»Wo treffen wir uns?«

»Zwei Straßen von hier ist ein Park. Sie können sich da hinsetzen und warten. Ich komme.«

»Ein was?«

»Ein Park. Sie wissen schon, Gras, Bänke, ein paar Bäume. Was ist denn, Mort?«

Pomrath empfand die Fremdartigkeit, mitten in einer Stadt Bäume und Gras zu haben, ganz stark. Er zwang sich ein Lächeln ab.

»Nichts ist los. Ich warte im Park auf Sie.« Er gab ihr das Buch. »Da. Kaufen Sie das für mich, wenn Sie gehen. Ich möchte es nicht stehlen müssen.«

Sie nickte und sagte dann: »Sind Sie sicher, daß Sie sonst nichts wollen, wenn Sie schon hier unten sind?«

»Das hat bis später Zeit«, erwiderte Pomrath. »Ich warte im Park.« Er ging hinaus. Der Buchhändler winkte ihm fröhlich zu. Pomrath antwortete mit einer Reihe beliebiger Kehllaute und trat auf die Straße hinaus. Es war schwer für ihn, zu glauben, daß er vor nur wenigen Stunden und vierhundertneunundvierzig Jahren in der Zukunft am Rand eines seelischen Zusammenbruchs gestanden hatte. Er war völlig gelassen. Diese Welt bot Herausforderungen an, und er wußte, daß er sie bewältigen konnte.

Arme Helaine, dachte er. Möchte wissen, wie sie das aufgenommen hat.

Er ging mit raschen Schritten die Straße hinunter, nur vorübergehend gestört davon, daß das Pflaster nicht federte. Ich bin Mort Keystone, sagte er sich. Mort Keystone. Mort Keystone. Und Lisa wird mir helfen, Geld zu beschaffen, damit ich eine Praxis als Arzt aufmachen kann. Ich werde reich sein. Ich werde leben wie ein Zweier. Hier gibt es keine Hohe Regierung, die mich niederwerfen kann.

Ich werde Macht und Rang unter diesen Primitiven haben, sagte er sich erfreut. Und wenn ich mich eingerichtet habe, werde ich ein paar Leute aus meiner eigenen Zeit aufspüren, damit ich mir nicht so isoliert vorkomme. Wir werden alten Erinnerungen nachhängen, dachte er.

Erinnerungen an die Zukunft.

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