DRITTER TEIL Die Kreuzigung eines Gentlemans

»Als oberster Justizbeamter am Brüsseler Gericht habe ich heraus gefunden, daß die Denkweise eines verbrecherischen Gehirns von Motiven bestimmt wird, die dem gesetzestreuen Bürger häufig unbegreiflich sind.«

FELIX BROUWAGE


13. Neptuns Geheimnis


Stephen Megaras Jacht Helene segelte in Rekordgeschwindigkeit auf nördlichem Kurs von Jamaika zu den Bahamas bis in die Nähe von New Providence Island, wo sie einen ernsten Motorschaden erlitt. Captain Swift war gezwungen, Kurs auf den Hafen von Nassau zu nehmen, um sie dort reparieren zu lassen. Es dauerte mehrere Tage, bis sie wieder seetüchtig war.

Am ersten Juli -ganze acht Tage, nachdem Inspector Vaughn Megaras Funkspruch erhalten hatte -tauchte die Helene endlich in Sichtweite der Küste von Long Island auf. Die Polizei hatte in Zusammenarbeit mit den Zuständigen dafür gesorgt, daß Megara im New Yorker Hafen zügig abgefertigt wurde und nach nur kurzer Verzögerung den Long Island Sound ansteuern konnte. Ein Polizeischiff und eine Schar kleinerer, von Reportern gemieteter Boote, die nur mit Mühe davon abzuhalten waren, das blankgescheuerte Deck der Jacht zu entern, begleiteten die Helene.

Acht Tage ... Acht Tage beschaulicher Ruhe ohne jedes nennenswerte Ereignis. Mit Ausnahme der Beerdigung. Doch selbst die war eine stille Angelegenheit. Brad war ohne übertriebenen Pomp auf einem Friedhof auf Long Island bestattet worden; Mrs. Brad, so berichtete die Presse, hatte die Prozedur bewundernswert gefaßt überstanden. Selbst ihre Tochter, keine Blutsverwandte des Toten, hatte erheblich mitgenommener gewirkt als die Witwe.

Die Fahndung nach Velja Krosac hatte inzwischen die Dimensionen einer landesweiten Menschenjagd angenommen; seine Beschreibung war an sämtliche Polizeihauptquartiere, Sheriffbüros und Häfen der Vereinigten Staaten gegangen; selbst in Kanada und Mexiko hielt man die Augen offen. Trotz der feinmaschigen Netze hatte man bislang noch keinen Fisch gefangen. Krosac schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Auch von Kling fehlte jede Spur.

Fox, der Chauffeur, schmorte noch immer unter ständiger Bewachung in seiner Hütte; zwar war er nicht offiziell verhaftet worden; und doch war er ein Gefangener - ebensogut hätte er in Sing-Sing sitzen können. Die Polizei ermittelte fieberhaft; doch war es zum Zeitpunkt von Megaras Ankunft noch immer nicht gelungen, seine Fingerabdrücke mit Hilfe der für den Osten der Staaten gültigen »Verbrecheralben« zu identifizieren. Der Inspector sandte -unbeirrbar, wie er war -Kopien an die weiter westlich gelegenen Staaten. Fox indessen schwieg eisern. Zwar beschwerte er sich nicht über die nicht ganz rechtmäßige Freiheitsberaubung; doch sein brennender Blick verriet, was in ihm vorgehen mochte. Vorsichtshalber verdoppelte der Inspector die Wachen. Vaughns souveränes Können zeigte sich darin, daß er Fox, wenn man einmal von der Bewachung absah, vollkommen ignorierte. Fox wurde weder verhört noch schikaniert; er wurde einfach sich selbst überlassen, verlor aber trotz der Isolationsfolter nicht die Nerven. Tagelang saß er schweigend in seinem Blockhaus; rührte das Essen kaum an, das man ihm aus Mrs. Baxters Küche reichte; bewegte sich kaum, ja atmete kaum.

Alle standen bereit, als am Freitag, dem ersten Juli, die Helene auf dem Long Island Sound durch die westliche Meerenge von Ketcham‘s Cove segelte und schließlich in den tiefen Wassern zwischen Oyster Island und dem Festland vor Anker ging. Auf Bradwoods Anlege-Ponton wimmelte es nur so von Polizeibeamten, die das gemächliche Manövrieren der Jacht verfolgten. Die Helene war strahlend weiß, elegant und schnittig. In der klaren Morgenluft waren glitzernde Messingteile und die fernen Gestalten, die an Deck entlang liefen, deutlich zu erkennen. Kleinere Boote schaukelten um ihren schlanken Körper.

Inspector Vaughn, Staatsanwalt Isham, Ellery Queen und Professor Yardley standen auf dem Kai und warteten schweigend. Nun wurde ein Beiboot seitlich heruntergelassen und klatschte aufs Wasser; mehrere Leute kletterten die eiserne Schiffsleiter herunter und stiegen hinein. Sofort setzte sich ein Polizeiboot in Bewegung, und das kleine Boot folgte ihm, während sie auf die Anlegestelle zu hielten. Die Menge rührte sich ...

Stephen Megara war ein tiefgebräunter Mann von stattlichem Wuchs. Er trug einen schwarzen Schnurrbart, und seine Nase hatte eine Schlägerei offenbar nicht ungebrochen überstanden. Megara wirkte vital und finster zugleich. Mit einer schnellen, sicheren, geschmeidigen Bewegung sprang er an Land; jeder seiner Schritte war wohlgesetzt. Dieser Mann, dachte Ellery, während er ihn mit großem Interesse beobachtete, war ein Mann der Tat; Welten trennten ihn von dem schmerbäuchigen, vorzeitig gealterten Mann, wie es Thomas Brad gewesen sein mußte.

»Ich bin Stephen Megara«, sagte er mit leichtem Eton-Akzent. »Was für ein Empfangskomitee! Helene!« Er ging zuerst auf die junge Frau zu. Er nahm ihre Hände und schaute ihr zärtlich in die Augen. Die Riege der anderen Hauptdarsteller -Mrs. Brad, Jonah, Dr. Temple -ignorierte er. Helene errötete und zog ihre Hände zurück. Megara lächelte kurz, wobei sich sein Schnurrbart leicht in die Höhe zog, und flüsterte Mrs. Brad etwas ins Ohr, nickte kurz Dr. Temple zu und kehrte dann zu den Beamten zurück. »Tom ist ermordet worden? Ich stehe

jedem zur Verfügung, der sich mir vorstellt.«

»Ach nee!« murmelte Isham. »Mein Name ist Isham, Staatsanwalt des Bezirks. Das ist Inspector Vaughn von der Polizei Nassau. Mr. Ellery Queen, Sonderbeauftragter. Professor Yardley, Ihr neuer Nachbar.«

Megara gab allen flüchtig die Hand. Dann wandte er sich um und winkte einen alten, unfreundlich dreinblickenden Gesellen in blauer Uniform herbei, der mit ihm in das Beiboot gestiegen war. »Captain Swift, mein Skipper.« Swifts Kiefer mahlten geräuschvoll, und seine Augen funkelten wie die Linsen eines Fernglases kristallklar in einem Gesicht, das so zerfurcht war wie das des Ewigen Juden.

»Tach«, bellte Captain Swift in die Runde und salutierte mit der linken Hand, der, wie Ellery auffiel, drei Finger fehlten. In schweigendem Einverständnis setzte sich die Gruppe schließlich in Richtung Haus in Bewegung. Captain Swift hatte den typisch rollenden Gang eines gestandenen Seemanns.

»Beschämend für mich, daß ich es erst so spät erfahren habe«, sagte Megara zu Isham im Gehen. Die Brads, Lincoln, Dr. Temple -alle folgten ihnen mit ausdruckslosen Gesichtern. »Aber ich bin monatelang auf hoher See gewesen, da ist man von der Außenwelt so gut wie abgeschnitten. War ein harter Schlag für mich, das mit Tom.« Ellery drängte sich der Eindruck auf, daß der Schlag so hart kaum gewesen sein konnte, denn Megara sprach in so sachlichem Ton über den Mord an seinem Kompagnon, als bestellte er neue Teppichlieferungen.

»Wir haben auf Sie gewartet, Mr. Megara«, begann Vaughn. »Wer könnte ein Motiv gehabt haben, Mr. Brad umzubringen?«

»Hmm«, erwiderte Megara und drehte sich kurz nach Mrs. Brad und Helene um. »Dazu würde ich mich lieber später äußern. Sagen Sie mir doch bitte erst einmal, wie es genau passiert ist.«

Isham öffnete den Mund, um zu antworten, doch Ellery kam ihm mit betont sanfter Stimme zuvor: »Haben Sie jemals von einem Mann namens Andrew Van gehört?«

Für den Bruchteil einer Sekunde nur setzte Megaras gleichmäßiger Schritt aus, doch sein Gesichtsausdruck blieb so unergründlich wie zuvor. »Andrew Van? Was soll der mit dem Mord zu tun haben?«

»Dann kennen Sie ihn!« rief Isham.

»Er ist unter ähnlichen Umständen ermordet worden wie Ihr Partner, Mr. Megara«, antwortete Ellery.

»Van also auch!« Die Gelassenheit des Seglers bröckelte sichtbar ab; in seinen Augen flackerte tiefes Unbehagen auf.

»Enthauptet und dann gekreuzigt -in Form eines T«, fuhr Ellery sachlich fort.

Diesmal blieb Megara abrupt stehen; die ganze Kavalkade hinter ihm ebenfalls. Sein Gesicht verfärbte sich unter der Maske der Sonnenbräune violett. »T!« stammelte er. »Lassen Sie uns ins Haus gehen, meine Herren.«

Während er das sagte, begann er zu zittern und ließ die Schultern hängen. Sein mahagonibrauner Teint hatte sich in gespenstische Blässe verwandelt. Er schien binnen Sekunden um Jahre gealtert zu sein.

»Haben Sie eine Erklärung für die Ts?« fragte Ellery voll gespannter Ungeduld.

»Möglicherweise ja ...« Megara schloß so plötzlich den Mund, daß die Zähne klackten, und ging weiter.

Den Rest der Strecke legten sie schweigend zurück.

Stallings öffnete die Eingangstür und hieß Megara mit seinem milden Lächeln willkommen. »Mr. Megara! Wie ich mich freue, Sie -«

Megara schob sich an ihm vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, steuerte, von den anderen gefolgt, auf das Arbeitszimmer zu und begann, dort angekommen, schweigend auf und ab zu schreiten. Er schien über etwas nachzugrübeln. Schließlich trat Mrs. Brad auf ihn zu und legte ihm ihre rundliche Hand auf den Arm.

»Stephen ... wenn du nur dafür sorgen könntest, daß diese gräßliche -«

»Stephen, du weißt etwas!« schrie Helene.

»Wenn Sie etwas wissen, Megara, dann - um Gottes willen ­sagen Sie es endlich, und lösen Sie diese unerträgliche Spannung!« zischte Lincoln in äußerst rauhem Ton. »Es ist für uns alle ein einziger Alptraum!«

Megara stöhnte und stopfte die Hände in die Taschen. »Immer mit der Ruhe! Setzen Sie sich, Captain. Tut mir leid, Sie in diesen Schlamassel hineinzuziehen.« Captain Swift blinzelte skeptisch und blieb stehen; er schien sich äußerst unwohl zu fühlen und arbeitete sich näher an die Tür heran.

»Meine Herren«, begann Megara unerwartet. »Ich glaube zu wissen, wer meinen - wer Brad ermordet hat.«

»Ach ja?« fragte Vaughn unbeeindruckt.

»Wer?« brüllte Isham.

Megara drückte seine breiten Schultern durch. »Ein Mann namens Velja Krosac. Krosac ... Daran besteht für mich überhaupt kein Zweifel. T, sagten Sie? Wenn es das bedeuten soll, wovon ich ausgehe, ist er der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der diese Bedeutung kennt. T, nicht wahr? Sozusagen der blutige Beweis dafür, daß ... Aber berichten Sie mir erst genau, was geschehen ist. In beiden Fällen -Van und Brad.«

Vaughn sah zu Isham hinüber und berichtete, als der nickte, knapp, was sich in beiden Fällen jeweils ereignet hatte. Sein Bericht begann damit, wie Old Pete und Michael Orkins den Leichnam des Lehrers an der Stelle, wo die Straße nach Arroyo auf die New Cumberland-Pughtown-Schnellstraße traf, gefunden hatten. Als Vaughn erwähnte, daß der Tankstellenbesitzer Croker einen hinkenden Mann zur Kreuzung gefahren hatte, nickte Megara gedankenschwer. »Das ist er; das ist der Mann!« als wollte er letzte Zweifel vertreiben. Als Vaughns Bericht zu Ende war, blieb auf Megaras Gesicht ein bitteres Lächeln zurück.

»Ich habe die Geschichte zusammen.« Megara hatte seine stolze Haltung zurückgewonnen. Nun strahlte er wieder Mut und Entschlossenheit aus. »Erzählen Sie mir, was Sie im Gartenhaus vorgefunden haben. Irgend etwas stimmt da noch nicht ...«

»Aber Mr. Megara«, protestierte Isham. »Ich verstehe nicht ­«

»Bringen Sie mich sofort dorthin«, entgegnete Megara knapp und strebte zur Tür. Isham schien seine Zweifel zu haben, doch Ellery nickte ihm zu. Und so folgten sie dem Segler.

Als sie am Totempfahl vorbei zum Gartenhaus kamen, flüsterte Professor Yardley: »Na, Queen, wenn das nicht nach dem Finale aussieht!«

Ellery zuckte die Schultern. »Ich wüßte nicht, wieso. Was ich über Krosac gesagt habe, gilt immer noch. Wo zum Henker steckt er? Nur wenn es Megara gelingen sollte, ihn in seiner jetzigen Tarnung zu identifizieren -«

»Schon wieder voreilig«, schimpfte der Professor. »Wo nehmen Sie denn bitte die Gewißheit her, daß er in der Nähe ist?«

»Nirgendwoher. Aber möglich ist es allemal.«

Das Gartenhaus war mit Leinwand verhängt worden; ein Streifenbeamter hielt davor Wache. Vaughn schlug den Stoff zurück, und Megara trat, ohne zu zögern, ein. Das Innere des Häuschens war in weiser Voraussicht des Inspectors genauso belassen worden, wie die Polizei es am Morgen nach der Tat vorgefunden hatte, was sich nun, wie es schien, auszahlen sollte.

Megara schenkte jedoch nur einem Gegenstand Beachtung. Das T und die Blutlache -Zeugen des blutigen Rituals ­ignorierte er zugunsten der neptunköpfigen Pfeife mit Dreizack ...

»Dachte ich mir«, murmelte er leise, während er sich bückte und die Pfeife aufhob. »In dem Moment, als Sie diese Pfeife erwähnten, Inspector, wußte ich, daß etwas nicht stimmt.«

»Nicht stimmt?« Vaughn war aus dem Konzept; Ellery sah Megara aufmerksam und fragend an. »Was stimmt denn nicht, Mr. Megara?«

»Alles.« Megara betrachtete die Pfeife und schien völlig zu resignieren. »Wenn Sie denken, daß diese Pfeife hier Tom gehört hat - Nun ja, dann ist das ein Irrtum.«

»Soll das heißen«, fragte der Inspector verunsichert, »die Pfeife gehört Krosac?«

»Schön wär‘s!« antwortete Megara verzweifelt. »Nein. Sie gehört mir.«

Alle Anwesenden kauten eine Weile vergeblich auf dem Brocken herum, um zu sehen, ob er sich verdauen ließ. Vaughn versuchte erst gar nicht, seine Verwirrung zu verbergen. »Na ja«, stammelte er, »selbst wenn -«

»Moment mal, Vaughn«, unterbrach der Staatsanwalt hastig. »Das ist gravierender, als man zunächst meinen sollte. Mr. Megara, wir sind bisher davon ausgegangen, daß die Pfeife Brad gehört hat. Stallings hat unsere Vermutung bestätigt, obwohl, wie uns hätte klar sein sollen, eine solche Verwechslung leicht vorkommen kann. Dennoch sind Brads Fingerabdrücke darauf; und in der Mordnacht ist seine persönliche Tabakmarke darin geraucht worden. Und jetzt kommen Sie und sagen, die Pfeife gehört Ihnen. Mir will einfach nicht in den Kopf -«

Megara verengte die Augenlider; sein Tonfall blieb stur. »Ich sage doch, da stimmt etwas nicht, Mr. Isham. Die Pfeife gehört

mir. Wenn Stallings behauptet, sie habe Tom gehört, dann lügt er entweder oder hat einfach angenommen, daß sie Tom gehört, weil sie ihm im Haus aufgefallen ist, bevor ich letztes Jahr losgesegelt bin. Ich hatte einfach vergessen, sie mitzunehmen.«

»Was Ihnen nicht in den Kopf will, Isham«, sagte Ellery ruhig, »ist die Vorstellung, daß ein Mann die Pfeife eines anderen geraucht haben soll.«

»Genau.«

»In der Tat lächerlich!« sagte Megara. »Tom hätte niemals meine Pfeife angerührt, auch nicht die eines anderen. Er hatte genug eigene, wovon Sie sich leicht überzeugen können, wenn Sie die Schublade seines Lesetisches im Arbeitszimmer aufziehen. Kein Mann steckt sich freiwillig die Pfeife eines anderen in den Mund, schon gar nicht Tom -er war ein Hygienefanatiker!« Er spielte geistesabwesend mit seiner Pfeife. »Ich hab‘ sie vermißt, die alte Neptun ... hab‘ sie jetzt schon fünfzehn Jahre. Tom -er wußte, wie ich an dem Ding hänge.« Er schwieg einen Moment lang. »Er hätte diese Pfeife genausowenig geraucht, wie er sich Stallings Gebiß ausgeliehen hätte.«

Keiner lachte. Ellery wirkte auf einmal sehr beflissen. »Wir haben es mit einer interessanten Sachlage zu tun, meine Herren. Endlich fällt Licht auf die Angelegenheit! Erkennen Sie denn nicht die Bedeutung der Tatsache, daß die Pfeife Mr. Megara gehört?«

»Jetzt lassen Sie doch mal Ihre ständigen Visionen im Kasten!« brummte Vaughn. »Es bedeutet nur so viel: Krosac versucht, Megara die Sache anzuhängen.«

»Falsch, Inspector«, erwiderte Ellery mit ausgesuchter Freundlichkeit. »Es bedeutet nichts dergleichen. Krosac kann sich nicht ernsthaft darauf verlassen haben, daß wir auf so etwas hereinfallen und tatsächlich Mr. Megara für den Täter halten würden. Jeder wußte doch, daß Mr. Megara Tausende von

Kilometern entfernt auf hoher See weilte! Ganz zu schweigen von der Verbindung zu Vans Ermordung und den Ts, der Handschrift des Mörders ... Nein.« Er wandte sich dem Segler zu, der noch immer stirnrunzelnd die Pfeife betrachtete.

»Wo waren Sie selbst, Ihre Jacht und Ihre Besatzung am zweiundzwanzigsten Juni?«

Megara drehte sich zu seinem Kapitän herum. »Auf diese Frage sind wir vorbereitet, nicht wahr, Captain?« Unter seinem Schnurrbart grinste er breit. »Also, wo waren wir?«

Captain Swift zog mit hochrotem Kopf ein Blatt Papier aus einer seiner ausgebeulten Taschen. »Hier is‘ die Eintragung aus mei‘m Logbuch«, brummte er. »Da ham Se‘s schwarz auf weiß, Mister.«

Die Notiz besagte, daß die Helene am zweiundzwanzigsten Juni die Gatun-Schleusen im Panamakanal mit Kurs auf die Westindischen Inseln passiert hatte. Der Captain hatte eine Quittung dazugeheftet, der zu entnehmen war, daß die Helene die Gebühr für die Passage des Panamakanals entrichtet hatte.

»Die ganze Crew is‘ an Bord«, schnaufte Captain Swift. »Mein Logbuch könnse meinetwegen von vorne bis hinten durchblättern. Wir ham den Pazifik in östlicher Richtung überquert. Auf der Westpassage sind wir bis nach Australien gekommen.«

Vaughn nickte. »Niemand zweifelt daran, daß Sie die Wahrheit sagen, Captain. Trotzdem müßten wir einen Blick in Ihr Logbuch werfen.«

Megara stand breitbeinig da; und es war nicht sonderlich schwer, sich vorzustellen, wie er bei hohem Seegang auf der Brücke stand. »Keiner zweifelt an uns. Wie schön! Nicht, daß es mich kratzen würde, Sie verstehen ... Wir sind dem Tod auf der Reise nicht begegnet. Das Gefährlichste war, daß ich hinter Suva plötzlich heftige Schmerzen in der Leistengegend bekam.«

Isham wußte offenbar nicht mehr weiter, und Inspector Vaughn wandte sich an Ellery. »Nun, Mr. Queen, was spukt denn so durch Ihre Gehirnwindungen? Sie brüten doch wieder einen Ihrer genialen Einfälle aus!«

»Ich fürchte, Inspector, die Indizien sprechen nicht gerade dafür«, erwiderte Ellery, indem er auf den Eintrag im Logbuch und die Quittung deutete, »daß Krosac den Mord Megara anhängen wollte.« Er zog an seiner Zigarette, bevor er fortfuhr. »Die Pfeife ...« Er schnippte die Asche seiner Zigarette in die Richtung der Bruyere-Pfeife, die Megara noch immer in Händen hielt. »Krosac muß klargewesen sein, daß Mr. Megara für die Tatzeit und darüber hinaus ein wasserdichtes Alibi hatte. Also lassen wir diese Theorie fallen. Ungeachtet dessen läßt sich aus der Tatsache, daß diese Pfeife hier Mr. Megara gehört und Brad sie niemals angerührt hätte, eine andere Theorie ableiten.«

»Brillant«, sagte Professor Yardley, »wenn es stimmt. Was für eine Theorie?«

»Brad hätte die neptunköpfige Pfeife, Eigentum seines Kompagnons, niemals geraucht. Dennoch hat dies jemand getan, das Opfer hat sie angeblich selbst in der Hand gehabt. Wenn sich nun aber Brad die Pfeife niemals in den Mund gesteckt hätte, und es doch so aussieht, als hätte er dies getan ­was folgt dann daraus?«

»Genial«, murmelte der Professor. »Es sollte bloß den Anschein haben, als ob Brad sie geraucht hätte. Muß ein Kinderspiel gewesen sein, die Finger des Toten auf den Stiel zu drücken.«

»Exakt!« rief Ellery. »Ebensoleicht war es, die Pfeife so zu präparieren, daß man annehmen mußte, sie wäre benutzt worden. Vielleicht hat der Mörder sie selbst gestopft, angezündet und geraucht. Zu dumm, daß das Bertillonsystem nichts über die individuelle Mundflora aussagt; würde sich

manchmal lohnen ... Wer also könnte ein Interesse daran gehabt haben, es so aussehen zu lassen, als hätte Brad diese Pfeife geraucht? Sicher nur der Mörder. Warum? Um den Eindruck zu erwecken, Brad wäre in seiner Rauchjacke zum Gartenhaus spaziert, um in Ruhe ein Pfeifchen zu rauchen, wobei ihn der Mörder überfallen und ermordet hätte.«

»Klingt gar nicht so abwegig«, bestätigte Isham. »Aber warum hat Krosac Mr. Megaras Pfeife genommen? Warum nicht eine von Brads eigenen?«

Ellery zuckte die Schultern. »Dafür gäbe es eine einfache Erklärung. Wo hatte Krosac die Pfeife vermutlich her? -Aus der Schublade des Lesetisches im Arbeitszimmer! Käme das hin, Mr. Megara?«

»Dürfte wohl«, sagte Megara. »Tom hat alle seine Pfeifen dort aufbewahrt. Als er meine gefunden hatte, nachdem ich aufgebrochen war, muß er sie zu den anderen in die Schublade gelegt haben, damit sie nicht verlorengeht.«

»Danke. Krosac zieht also die Schublade auf und findet ein ganzes Arsenal von Pfeifen vor. Selbstverständlich nimmt er an, daß alle Brads Eigentum sind. Die Pfeife will er im Gartenhaus zurücklassen, um zu suggerieren, daß Brad dort geraucht hätte. Er sucht eine aus, die besonders auffällig ist, weil er klugerweise annimmt, daß die auffälligste Pfeife am leichtesten identifiziert wird. Ergo nimmt er die Neptun. Wir haben verdammtes Glück gehabt, daß er sich da vergriffen hat -am Eigentum von Mr. Megara.«

»Gut«, fuhr Ellery konzentriert fort. »Daraus ergibt sich eine interessante Folgerung. Hat sich unser Freund Krosac nicht einige Mühe gemacht, uns glauben zu machen, daß Brad überfallen und ermordet worden sei, während er im Gartenhaus rauchte? Denn, sehen Sie, hätte es keine Pfeife und keine Anhaltspunkte dafür gegeben, daß geraucht wurde, hätten wir Brads freiwillige Anwesenheit im Gartenhaus doch in Zweifel gezogen, zumal er eine Rauchjacke trug. Er hätte ja auch dort hingeschleift worden sein können. Wenn wir davon ausgehen, daß ein Mann an einem bestimmten Ort geraucht hat, nehmen wir jedoch ebenfalls an, daß er sich zumindest bis zu einem bestimmten Zeitpunkt freiwillig dort aufgehalten hat ... Nun finden wir jedoch heraus, daß er dort nicht geraucht hat, der Mörder uns aber das Gegenteil suggerieren will. Die einzig logische Schlußfolgerung daraus ist: Das Gartenhaus ist nicht der Tatort. Lediglich dem Mörder liegt viel daran, daß wir dies glauben.«

Megara beobachtete Ellery mit einem nachdenklichen, ja zynischen Leuchten in den Augen. Die anderen schwiegen.

Ellery schnippte seine Zigarette durch die Tür nach draußen. »Der nächste Schritt ergibt sich von selbst. Wenn das Verbrechen nicht im Gartenhaus verübt worden ist, muß es woanders verübt worden sein. Diesen Ort müssen wir ausfindig machen und untersuchen. Die Lösung liegt natürlich auf der Hand: Der Mord ist in der Bibliothek verübt worden. Dort ist Brad zuletzt lebend gesehen worden, während er gegen sich selbst Dame spielte und, da er sämtliche potentiellen Zeugen oder Störer fortgeschickt hatte, offenbar einen Gast erwartete.«

»Einen Moment, bitte.« Megaras Mund glich einem leblosen Strich. »Ein unglaublich präziser und wortgewaltiger Vortrag, Mr. Queen. Leider aber stimmt davon nichts.«

Ellerys Lächeln verlor sich. »Wie? Ich verstehe nicht. Wo, bitte, soll denn der Haken sein?«

»Der Haken an Ihrer Analyse ist die Annahme, Krosac hätte nicht gewußt, daß die Pfeife mir gehört.«

Ellery nahm sein Pincenez ab und begann, die Linsen mit seinem Taschentuch zu polieren - ein untrügliches Zeichen dafür, daß er verwirrt, äußerst zufrieden oder aufgeregt war. »Eine bemerkenswerte Aussage, Mr. Megara, wenn Sie nicht irren. Woher sollte denn Krosac wissen, daß die Pfeife Ihnen gehört?«

»Weil er sie aus einem Etui genommen hat. Haben Sie eines in der Schublade gefunden?«

»Nein.« Ellerys Augen blitzten neugierig. »Jetzt erzählen Sie mir bloß nicht, daß Ihre Initialen auf dem Etui eingraviert waren, Sir!«

»Noch besser«, entfuhr es Megara. »Mein voller Name prangte in Goldlettern auf dem Maroquin! Als ich die Pfeife das letzte Mal sah, war sie in dem Etui, dessen Form natürlich der Pfeife angepaßt und daher genauso auffällig ist. Eine andere Pfeife hätte nicht hineingepaßt, ausgenommen eine detailgetreue Nachbildung.«

»Hervorragend!« rief Ellery mit einem schamlosen Grinsen. »Ich nehme alles zurück. Das gibt uns völlig neuen Auftrieb, Mr. Megara! Da fällt ein ganz anderes Licht auf die Sache! Stoff zum Nachdenken ... Krosac wußte also, daß die Pfeife Ihnen gehört. Dennoch hat er sie bewußt im Gartenhaus zurückgelassen. Das Etui hat er verschwinden lassen -es ist nirgendwo gefunden worden. Warum? Weil wir es sonst gefunden, die augenfällige Ähnlichkeit zwischen Megaras Etui und der Form der vermeintlich in Brads Besitz befindlichen Pfeife bemerkt und sofort gefolgert hätten, daß sie ihm nicht gehörte. Indem Krosac jedoch das Etui beseitigte, konnte er uns vorübergehend vorgaukeln, die Pfeife hätte Brad gehört. Sie verstehen?«

»Warum nur vorübergehend?« fragte Vaughn.

»Ganz einfach«, erwiderte Ellery triumphierend, weil Mr. Megara zurückgekehrt ist, die Pfeife als seine eigene erkannt und uns über das fehlende Etui aufgeklärt hat. Krosac hat gewußt, daß dies unumgänglich war. Wir schließen daraus: Krosac wollte uns -solange Mr. Megara noch auf See war -in dem Glauben wissen, daß die Pfeife Brad gehört und das Verbrechen demzufolge im Gartenhaus stattgefunden hätte.

Krosac hat in Kauf genommen, daß wir nach Mr. Megaras Ankunft herausfinden würden, daß das Gartenhaus nicht der Tatort war; weiterhin hat er einkalkuliert, da unausweichlich, daß wir nach dem wahren Tatort suchen würden. Warum aber sage ich: einkalkuliert? -Weil Krosac offen gestanden hätte, auf einfacherem Wege dafür zu sorgen, daß wir das Gartenhaus als Tatort angesehen hätten -nämlich, indem er eine von Brads eigenen Pfeifen genommen hätte!«

»Sie gehen also davon aus«, wandte der Professor nachdenklich ein, »daß der Mörder es geradezu darauf angelegt hat, daß wir den wahren Tatort finden? Ich verstehe nicht, warum.«

»Ergibt für mich keinen rechten Sinn«, sagte Isham kopfschüttelnd.

»Klarer geht‘s doch nicht«, schmunzelte Ellery. »Verstehen Sie denn nicht -Krosac wollte uns erst jetzt am wahren Tatort haben, vor einer Woche noch nicht - erst jetzt!«

»Aber, Mensch, warum?« fragte Megara ungeduldig. »Das ist doch völlig absurd.«

Ellery zuckte die Achseln. »Soweit bin ich leider noch nicht; aber glauben Sie mir, es gibt eine Antwort, Mr. Megara. Wir sollen etwas finden, während Sie in Bradwood sind, was wir nach Krosacs Regie nicht hätten entdecken dürfen, solange Sie noch irgendwo auf dem Pazifik herumgesegelt sind.«

»Quatsch«, sagte Vaughn voller Unmut.

»Was auch immer das sein soll«, fügte Isham hinzu. »Ich glaub‘ da nicht dran.«

»Ich schlage vor«, entgegnete Ellery, »daß wir tun, was Monsieur Krosac uns aufgetragen hat. Wenn er will, daß wir es finden, dann sollten wir uns an die Arbeit machen. Wenn Sie mir bitte zur Bibliothek folgen wollen?«


14. Das elfenbeinerne Versteck


Die Bibliothek war am Morgen, nachdem man die verstümmelte Leiche aufgefunden hatte, versiegelt worden. Nun betraten Isham, Vaughn, Megara, Professor Yardley und Ellery den Raum; Captain Swift indessen rollte zur Anlegestelle, die Brads und Lincoln hatten sich in ihre Privaträume zurückgezogen, und Dr. Temple war schon vor einiger Zeit gegangen.

Megara stand etwas abseits, während der Raum durchsucht wurde; diesmal ging die Polizei nicht mit der üblichen flüchtigen Routine vor, sondern stellte den Raum mit solcher Gründlichkeit auf den Kopf, die kein Staubkörnchen außer acht ließ. Isham entriß dem Sekretär seine Innereien und bedeckte das ausgeweidete Möbel mit verstreuten Papieren. Vaughn nahm sich das übrige Mobiliar vor, Stück für Stück. Professor Yardley ließ es sich nicht nehmen, den Musikschrank neben dem Flügel im Erker zu durchwühlen.

Die Entdeckung ließ nicht lange auf sich warten. Zumindest war es überhaupt einmal eine Entdeckung; ob es sich nun um diejenige handelte, an der Velja Krosac gelegen war oder nicht, war für den Augenblick belanglos. Die Entdeckung war von großer Bedeutung -und wurde von Ellery gemacht, während er gerade neben dem Inspector herumwühlte.

Dem Zufall -oder der Gründlichkeit -war es zu verdanken, daß Ellery den Diwan an einem Bein faßte und ein Stück von der Bücherwand wegzog, so daß er nun mit allen vier Beinen auf dem chinesischen Teppich stand, während die hinteren beiden zuvor auf dem nackten Boden gestanden hatten. Er schrie laut auf, bückte sich und untersuchte den Teil des Teppichs, den der Diwan verdeckt hatte. Isham, Vaughn und Yardley eilten auf der Stelle hinzu. Megara reckte den Hals, bewegte sich aber nicht von der Stelle.

»Was ist es?«

»So was«, murmelte der Inspector. »War ja auch kaum zu übersehen. Ein Fleck!«

»Ein Blutfleck«, verbesserte Ellery sanft. »Wir wollen doch hoffen, daß mich die Erfahrung mehr gelehrt hat als unser hochverehrter Professor.«

Sie blickten auf einen getrockneten schwärzlichen Fleck, der wie ein Wachssiegel auf den warmen Goldtönen des Teppichs haftete. Nur ein paar Zentimeter weiter befand sich ein quadratischer Abdruck im Teppich; ein Abdruck, wie er entsteht, wenn das Gewicht eines Stuhl-oder Tischbeins jahrelang auf derselben Stelle lastet. Vom Diwan konnte der Abdruck nicht stammen - seine Füße waren rund.

Ellery, der am Boden kniete, schaute einen Moment lang suchend umher. Dann fiel sein Blick auf den Sekretär an der gegenüberliegenden Wand.

»Da müßte doch -«, begann er und schob den Diwan ganz in die Mitte des Raumes. Er nickte. Einen Meter vom ersten Abdruck entfernt war sein Gegenstück zum Vorschein gekommen.

»Wie zum Teufel«, fragte sich Isham, »ist der Fleck bloß unter den Diwan gekommen? Stallings hat mir bei seiner ersten Vernehmung feierlich versichert, hier sei nichts verändert worden.«

»Das bedarf doch wohl kaum einer Erklärung, oder?« antwortete Ellery trocken, wahrend er aufstand. »Es ist auch nichts verändert worden -außer der Lage des Teppichs. Man konnte von dem armen Mann nicht ernsthaft erwarten, daß ihm das auffällt.«

Während er den Blick noch einmal durch die Bibliothek schweifen ließ, begannen seine Augen zu leuchten. Er hatte recht gehabt; der Sekretär war das einzige Möbelstück im Raum, dessen Beine zwei Abdrücke hinterlassen haben konnten, die in Größe und Form exakt mit denen im Teppich übereinstimmten.

Er durchquerte den Raum und hob einen Fuß des Sekretärs an. Direkt darunter erschien im Teppich ein quadratischer Abdruck, der den beiden unter dem Diwan genau glich, wenn man davon absah, daß er nicht annähernd so tief oder scharf umrissen war.

»Wir machen jetzt einmal ein kleines Experiment«, sagte Ellery, während er sich voll aufrichtete. »Wir drehen den Teppich ein bißchen.«

»Drehen?« fragte Isham. »Wozu das?«

»Damit er wieder so zu liegen kommt, wie er Dienstag abend gelegen hat, bevor Krosac ihn herumgedreht hat.«

Inspector Vaughn ging ein Licht auf. »Himmel!« stöhnte er, »Ja klar! Jetzt versteh‘ ich! -Er wollte verhindern, daß wir den Blutfleck finden, konnte den Teppich aber nicht loswerden!«

»Das ist erst die halbe Geschichte, Inspector«, bemerkte Professor Yardley, »wenn ich Sie richtig verstanden habe, Queen.«

»Haben Sie«, erwiderte Ellery lässig. »Er brauchte bloß den Tisch aus dem Weg zu räumen. Der Rest war einfach.« Stephen Megara stand noch immer in der Ecke, lauschte schweigend, machte aber keinerlei Anstalten, den vier Männern zu helfen. Vaughn hob den runden Tisch mühelos an und stellte ihn im Flur ab. Es dauerte nicht lange, bis die vier Männer -jeder an einer der Ecken -den Teppich unter den kleineren Möbeln hervorgezogen und so gedreht hatten, daß der Teil des Teppichs, der zuvor vom Diwan verdeckt gewesen war, nun wieder dort lag, wo er in der Mordnacht gelegen hatte: auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Wie sie sofort sahen, paßten die Füße des Sekretärs nahtlos in die beiden Abdrücke. Und das getrocknete Blut

Isham war fassungslos. »Am Damebrett!«

»Hmm. Ich habe die Szene immer plastischer vor Augen«, sagte Ellery selbstzufrieden.

Der Blutfleck befand sich nun etwa sechzig Zentimeter hinter einem der Klappsitze, die zum Dametisch gehörten. Direkt daneben stand der Sekretär.

»Von hinten erschlagen«, sagte Professor Yardley, »während er mit den verflixten Klötzchen experimentierte. Hätte eigentlich damit rechnen müssen, daß ihn diese Obsession eines Tages noch in Teufels Küche bringt.«

»Was denken Sie, Mr. Megara?« fragte Ellery den schweigsamen Segler.

Der zuckte die Schultern. »Das ist Ihr Job, Gentlemen.«

»Ich glaube«, sagte Ellery, indem er sich in einem der Clubsessel niederließ und sich eine Zigarette ansteckte, »wir sparen Zeit, wenn wir das Ganze noch einmal im Schnelldurchlauf Revue passieren lassen. Wäre Ihnen das recht, Inspector?«

»Ich sehe immer noch nicht ein«, brummte Vaughn, »wozu es gut gewesen sein soll, den Teppich herumzudrehen. Wen wollte er damit täuschen? Wir hätten den Fleck nie gefunden, wenn er nicht, wie Sie gezeigt haben, vorsätzlich eine Spur zu diesem Raum gelegt hätte, indem er Mr. Megaras Pfeife zurückließ.«

»Langsam, Inspector. Lassen Sie mich einen Augenblick überlegen ... Es steht jetzt fest - daran ist überhaupt nicht mehr zu rütteln -, daß Krosac die Tatsache, daß der Mord in diesem Raum hier verübt worden ist, von vornherein nicht auf Dauer verschleiern wollte; mehr noch, er hat uns ja geradezu mit der Nase darauf gestoßen -zum Zeitpunkt seiner Wahl, als er nämlich wußte, daß eine gründlichere Durchsuchung der Bibliothek den Blutfleck zutage fördern würde. Andernfalls hätte er weder die Pfeifenspur gelegt noch den Blutfleck so belassen, wie er ist. Denn sehen Sie einmal -« Ellery wies auf

die offene Klappe des Sekretärs. »Hier rechts -fast genau über dem Blutfleck -standen griffbereit zwei Tintenfäßchen. Hätte nun Krosac den Teppich einfach liegenlassen und absichtlich eines der Tintenfäßchen umgekippt, wäre der Polizei kein Verdacht gekommen. Niemand hätte an der oberflächlichen Wahrheit gezweifelt. Wir wären davon ausgegangen, daß das Tintenfäßchen von Brad selbst oder jemand anderem aus Versehen umgestoßen worden wäre, und niemals auf die Idee gekommen, unter der Tinte nach Blut zu suchen ... Anstatt diese einfache Lösung zu wählen, hat Krosac sich die irre Mühe gemacht, den Teppich herumzudrehen und so sicherzustellen, daß wir den Blutfleck bei der ersten Durchsuchung übersehen, durch Megara und seine Pfeife jedoch zu diesem Raum zurückgeführt werden und ihn während der zweiten Durchsuchung finden. Das Erstaunliche daran ist folgendes: Krosac hat durch sein Täuschungsmanöver nichts gewonnen ­außer Zeit.«

»Schön und gut«, sagte der Professor säuerlich. »Dennoch fresse ich einen Besen, wenn Sie uns erklären können, warum wir den Fleck überhaupt finden sollten!«

»Mein liebes Professorchen«, antwortete Ellery, »immer mit der Ruhe. Jetzt rede ich! Sie sind Experte für Alte Geschichte – meine Domäne ist die Logik! Und auf diesem Gebiet lasse ich niemandem die Siegespalme! Ha! Fahren wir fort.«

Ellerys Miene wurde wieder ernst. »Krosac wollte den Tatort nicht dauerhaft verschleiern, sondern seine Entdeckung nur hinauszögern. Warum? Darauf gibt es drei mögliche Antworten. Hören Sie jetzt genau zu - insbesondere Sie, Mr. Megara; vielleicht können Sie uns in diesem Punkt helfen.«

Megara nickte und ließ sich auf den Diwan fallen, der inzwischen wieder an seinen Platz gerückt war.

»Erstens: In diesem Raum befand sich etwas für Krosac Gefährliches, das er zu einem späteren Zeitpunkt entfernen

wollte, weil er es aus irgendeinem Grunde in der Mordnacht nicht fortschaffen konnte ... Zweitens: Krosac wollte etwas herbringen, das er in der Mordnacht aus irgendeinem Grund nicht herbringen konnte -«

»Moment mal, langsam«, sagte der Staatsanwalt, der Ellerys Vortrag angestrengt gefolgt war. »Beides klingt plausibel; denn in beiden Fällen hätte unsere Aufmerksamkeit dem Gartenhaus als dem vermeintlichen Tatort gegolten, nicht der Bibliothek, zu der der Mörder dann vielleicht Zugang gehabt hatte.«

»Falsch, Mr. Isham«, entgegnete Ellery. »Krosac mußte damit rechnen -selbst wenn der Fleck bei der ersten Durchsuchung übersehen worden war, wie er es geplant hatte, und das Gartenhaus als Tatort galt ... Ich wiederhole: Krosac mußte damit rechnen, daß das Haus streng bewacht würde und ihn rein routinemäßige Vorsichtsmaßnahmen der Polizei daran hindern würden, etwas aus der Bibliothek fortzuschaffen oder dort hinzubringen. Es gibt jedoch ein noch viel überzeugenderes Argument gegen die beiden Hypothesen, meine Herren. Wenn Krosac vorgehabt hätte, zum Tatort zurückzukehren, und deshalb das Gartenhaus zum Tatort umdekoriert hätte, wäre es für ihn von unbestreitbarem Vorteil gewesen, die Illusion auf Dauer anzulegen. Er hätte so unbegrenzt Zeit und Gelegenheit gehabt, sich Zutritt zur Bibliothek zu verschaffen. Aber er tat etwas anderes: Er legte absichtlich eine Spur zurück zu diesem Raum, was -wenn meine bisherigen Annahmen richtig sind ­das Letzte gewesen wäre, was man von ihm erwartet hätte. Ich wage folglich zu behaupten, daß beide Theorien unhaltbar sind.«

»Mir zu hoch«, brummte Vaughn angewidert, »diese Sandburgen.«

»Jetzt seien Sie einmal so gut«, monierte Isham, »die Klappe zu halten. Zugegeben, Vaughn, das sind nicht Ihre geschätzten Sing-oder-stirb-Methoden, und Mr. Queen geht reichlich unorthodox vor; aber es klingt so, als wäre er auf der richtigen Spur. Fahren Sie fort, Mr. Queen, wir sind ganz Ohr!«

»Sie dürfen sich als offiziell gerügt betrachten, Inspector«, sagte Ellery ernst. »Dritte Möglichkeit: In der Bibliothek befindet sich etwas, was auch in der Mordnacht dort war und was -jetzt kommen einige ›wasse‹ -für den Verbrecher keine Gefahr darstellt, was er nicht später fortschaffen wollte, was die Polizei finden sollte -auf das sie jedoch nicht vor Mr. Megaras Rückkehr stoßen sollte!«

»Puh«, stöhnte Vaughn. »Ich glaube, ich muß mal an die frische Luft.«

»Beachten Sie ihn einfach nicht, Mr. Queen«, beschwichtigte Isham.

Megara blickte Ellery unverwandt an. »Weiter.«

»Da wir alle keine Spielverderber sind«, fuhr Ellery fort, »werden wir so gut sein, nach dem Ding zu suchen, das wir erst finden sollten, sobald Sie, Mr. Megara, am Tatort eingetroffen sind ... Wissen Sie«, fügte er nachdenklich hinzu, »meine Erfahrung lehrt mich -und das werden Sie, Inspector, mir ausnahmsweise bestätigen können -, daß einem Mörder um so mehr Fehler unterlaufen, je elaborierter er vorgeht. Ich glaube, wir brauchen den guten Stallings noch einmal.«

Der Beamte an der Tür brüllte: »Stallings!«, und der Butler eilte würdevoll herbei.

»Stallings«, begann Ellery mit Nachdruck, »Sie sind doch mit diesem Raum sehr vertraut, nicht wahr?«

Stallings hüstelte. »So gut wie Mr. Brad selbst, wenn ich das in aller Bescheidenheit anmerken darf.«

»Wir schön zu hören! Dann schauen Sie sich doch bitte einmal um.« Stallings ließ pflichteifrig seinen Blick durch den Raum schweifen. »Ist alles an seinem Platz? Ist irgend etwas neu? Befindet sich in diesem Raum etwas, was nicht hier hingehört?«

Stallings lächelte flüchtig und begann, gemessenen Schrittes den Raum zu inspizieren; er stocherte in Ecken herum, zog Schubladen auf, inspizierte das Innere des Sekretärs ... Nach zehn Minuten war er mit seinem Rundgang durch und verkündete: »In diesem Raum ist nichts verändert worden, seit ich ihn das letzte Mal betreten habe; ich meine, seit Mr. Brad ermordet worden ist ... außer der Tatsache, Sir, daß der Tisch fehlt.«

Ellery blieb hartnäckig. »Sonst ist alles in Ordnung und nichts fehlt?«

Der Butler schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, Sir. Nur der Fleck dort war noch nicht da, als ich Dienstag abend das Haus verließ. Und der Dametisch ...«

»Was ist damit?« fragte Ellery scharf.

Stallings zuckte dezent die Schultern. »Die Steine. Sie sind anders verteilt. Mr. Brad hat natürlich weitergespielt, nachdem ich den Raum verlassen hatte.«

»Na also«, seufzte Ellery erleichtert. »Scharf beobachtet, Stallings. Sie haben das Zeug zu einem Sherlock -ein fotografisches Gedächtnis! ... Das wär‘s.«

Stallings warf Megara, der finster zur Wand starrte, während er einen westindischen Zigarillo paffte, einen vorwurfsvollen Blick zu und verließ den Raum.

»Und jetzt«, sagte Ellery beschwingt, »an die Arbeit!«

»Wonach, bitteschön, suchen wir denn?« brummte Vaughn.

»Wenn ich das wüßte, Inspector, könnten wir uns die Mühe sparen!« Die nun folgende Episode hätte jeden beliebigen Beobachter außerordentlich erheitert, nur Stephen Megara nicht; die Gabe zu lachen schien ihm, sofern er sie jemals besessen hatte, vollends abhanden gekommen zu sein. Vier ausgewachsene Männer, die auf allen vieren über den Teppich krochen, die Wände zu erklimmen suchten, Tapeten und Holzvertäfelungen abklopften, das Füllmaterial der Sofakissen umherstreuten, auf gut Glück an Tisch-und Stuhlbeinen zerrten -man konnte meinen, Alice‘ Wunderland betreten zu haben. Nach fünfzehn Minuten erfolgloser Suche erhob sich ein schwitzender, zerknautschter und sehr verärgerter Ellery aus dem Schlachtgetümmel und setzte sich neben Megara auf den Diwan. Sofort fiel er in Trance; seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, zogen Schreckensbilder an ihm vorbei. Der Professor wühlte unverdrossen weiter und schien sich großartig zu amüsieren, während er mit seinen vier sperrigen Gliedmaßen auf dem Teppich herumrutschte. Dann jedoch stand er auf und streckte sich nach dem altmodischen Kronleuchter.

»Das wäre nun aber ein sehr ausgefallenes Versteck«, murmelte er, holte sich einen Stuhl und begann, in den Kristallklunkern herumzuklimpern. Einer der Drähte mußte schlecht isoliert gewesen sein; der Professor schrie plötzlich auf und plumpste zu Boden. Vaughn grunzte gereizt und hielt ein weiteres Blatt Papier gegen das Licht; offenbar von der Hypothese ausgehend, der Täter habe eine Nachricht mit unsichtbarer Tinte hinterlassen. Isham schüttelte die Vorhänge aus; die Jalousien hatte er bereits herabgelassen und in Lampen nach Hohlräumen gesucht; kurz, man erging sich in sinnloser Geschäftigkeit.

Alle Beteiligten hatten hin und wieder zu den Büchern in den eingebauten Wandregalen geschielt; doch hatte sich ihnen bislang niemand genähert. Die Aussichtslosigkeit des Unterfangens, unter Tausenden von Bänden den potentiell richtigen herauszupicken, hatte es allen verleidet, auch nur einen Anfang zu wagen.

Ellery lehnte sich zurück und keuchte: »Was für Vollidioten wir doch sind! Jagen wie die jungen Katzen unseren eigenen Schwanz ... Krosac wollte, daß wir in die Bibliothek zurückkehren und hier nach etwas suchen, was wir auch finden sollen! Folglich wird er es nicht an einem Ort versteckt haben, den aufzuspüren es der vereinigten Gaben eines Houdinis und eines Bluthundes bedürfte. Er wird es jedoch auch nicht so exponiert haben, daß es uns schon beim ersten Durchgang in die Hände fällt. Ihnen, Professor, gebe ich den Rat, bei der nächsten Durchsuchung von Kronleuchtern daran zu denken, daß Krosac diesen Raum vermutlich nicht gut genug kennt, um zu wissen, welche Lampen oder Stuhlbeine Hohlräume aufweisen ... Nein, das Versteck ist sorgfältig ausgetüftelt, aber leicht zugänglich.«

»Machen Sie‘s kurz«, blaffte Vaughn sarkastisch, »und verraten Sie‘s uns endlich.« Er hatte sich vollkommen verausgabt; der Schweiß lief ihm in Strömen das Gesicht herunter. »Kennen Sie hier irgendwelche Verstecke, Mr. Megara?«

Professor Yardleys Kinnbart schnellte vor wie der falsche Bart eines Pharao, als Megara verneinte.

Ellery fuhr fort: »Erinnert mich an eine ganz ähnliche Suchaktion, als vor kurzem mein Vater, der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt Cronin und ich im Mordfall Monte Field ermittelt haben; der alte Winkeladvokat war während einer Aufführung von Gunplay – Sie erinnern sich? -im Roman-Theater vergiftet worden. Wir haben es dann in -« (Mr. Queen spielt hier auf die Untersuchung an, über die er später in seinem Roman »Der mysteriöse Zylinder« berichtete)

Die Augen des Professors begannen zu leuchten; er hastete quer durch den Raum zum Erker, in dem der Flügel stand. Nur wenige Minuten zuvor hatte sich Isham das Instrument vorgenommen; Yardley interessierte sich jedoch weder für den Resonanzkasten noch für den Klavierhocker, und schon gar nicht für den Musikschrank. Er setzte sich einfach auf den Hocker und drückte so gravitätisch, wie Ellery ihn auf dem Katheder in Erinnerung hatte, den tiefsten Ton im Bass herunter und arbeitete sich so das Manual hoch, wobei er jede Taste einzeln anschlug, bis er bei den höheren Oktaven anlangte.

»Ausgezeichnete Analysearbeit, Queen«, sagte er, während ein Ton nach dem anderen erklang. »Hat mich auf eine Idee gebracht ... Angenommen, ich wäre Krosac. Ich will etwas verstecken, einen kleinen und, sagen wir, flachen Gegenstand. Ich habe nur begrenzt Zeit, und meine Vertrautheit mit dem Anwesen hält sich ebenfalls in Grenzen. Was mache ich? Wo -« Er stutzte; die Taste, die er gerade heruntergedrückt hatte, gab einen schrägen Ton von sich. Er schlug den Ton mehrmals an; als sich jedoch herausstellte, daß die Taste einfach verstimmt war, wanderten seine Finger weiter oktavaufwärts. »Krosac braucht ein Versteck, das man nicht entdecken wird, bevor er alles perfekt präpariert hat -auch nicht zufällig. Er schaut sich um -und sieht den Flügel. Das Entscheidende: Brad ist tot, die Bibliothek gehört zu seinen Privaträumen. Mit Sicherheit ­überlegt er -wird niemand so pietätlos sein, in der Bibliothek eines Toten musizieren zu wollen, zumindest eine längere Zeit nicht. Ergo ...«

»Genial gefolgert, Professor!« rief Ellery aus. »Das hätte glatt von mir sein können!«

Als hätte der Veranstalter persönlich dafür gesorgt, das Konzert unmittelbar nach diesem bescheidenen Programmhinweis beginnen zu lassen, schloß sich eine Entdeckung des Professors an. Die gleichmäßige Abfolge der Ganz-und Halbtonschritte riß jäh ab; Yardley war bei einer Taste angelangt, die sich partout nicht herunterdrücken lassen wollte.

»Heureka!« sagte er. Sein häßliches Gesicht spiegelte Unglauben; er wirkte wie jemand, dem man gerade einen Taschenspielertrick beigebracht hat und der nicht recht glauben konnte, daß es direkt beim ersten Mal geklappt hatte.

Die Männer stürzten zum Flügel, Megara nicht weniger neugierig als die anderen. Die Taste ließ sich trotz aller professoralen Bemühungen nicht mehr als etwa einen halben

Zentimeter herunterdrucken. Plötzlich blieb sie ganz hängen und ließ sich nicht einmal mehr in die Normalposition zurückbringen.

»Eine Sekunde«, sagte Ellery knapp und zog sein vom eigenen Vater mit viel Spott belegtes Taschenset hervor, entnahm ihm eine lange Nadel und begann, in den Fugen zu beiden Seiten der Taste zu stochern. Einen Augenblick später war zwischen den elfenbeinernen Tasten ein winziges Stück Papier zu sehen.

Alle seufzten im Chor auf, während Ellery das Knäuel herauspräparierte. Das Stück Papier war flach gefaltet und dann zusammengeknüllt worden; Ellery faltete es vorsichtig auseinander und breitete es auf dem Tisch aus.

Megaras Blick blieb unergründlich; die anderen jedoch waren aufs Äußerste überrascht. Nicht einmal Ellery hätte voraussagen können, welch ungewöhnlicher, wild hingekritzelter Appell sich zwischen den Tasten verborgen hatte.


AN DIE POLIZEI:

Sollte mir etwas zustoßen -und ich fürchte aus gutem Grund, daß mir ein Mordanschlag bevorsteht -, ziehen Sie bitte Erkundigungen zu dem Mord an einem Schulmeister aus Arroyo (W. Va.) namens Andrew Van ein, der letzte Weihnachten auf bestialische Weise ermordet worden ist. Man hat ihm den Kopf abgeschlagen und gekreuzigt.

Bitte benachrichtigen Sie sofort Stephen Megara, wo auch immer er sich gerade aufhalten mag, und bitten Sie ihn, umgehend nach Bradwood zurückzukehren.

Sagen Sie ihm, daß er nicht glauben soll, daß Andrew Van tot sei. Nur Stephen Megara weiß, wo er zu finden ist.

Bitte behandeln Sie dieses Schreiben absolut vertraulich, wenn Ihnen das Leben unschuldiger Menschen nicht gleichgültig ist. Unternehmen Sie nichts, bevor Megara Ihnen

mitgeteilt hat, wie Sie vorgehen müssen. Sowohl Van als auch Megara brauchen jeden nur erdenklichen Schutz.

Die Sache ist von solcher Wichtigkeit, daß ich meinen Appell wiederholen muß: Bitte hören Sie auf Megara! Sie haben es mit einem Verbrecher zu tun, der vor rein gar nichts zurückschreckt!

Die Zeilen waren unterschrieben mit der, wie der direkte Vergleich mit anderen Papieren zeigte, unzweifelhaft echten Unterschrift von Thomas Brad.


15. Lazarus


Stephen Megara kochte vor Wut. Die Verwandlung dieses vitalen, selbstbeherrschten Mannes war bestürzend. Das Unfaßbare hatte ihm binnen Sekunden die Maske der Selbstbeherrschung vom Gesicht gerissen; seine Augen, die vor Ungeduld blitzten, wanderten zum Fenster, als sähen sie einen imaginären Velja Krosac hereinklettern; und dann zur Tür, an der ein gleichmütiger Posten lehnte. Er zog eine kompakte Automatic aus der Jackentasche und überprüfte ihre Mechanik mit zitternden Fingern. Er schüttelte sich, ging zur Tür und sperrte die Wache aus. Dann ging er zum Fenster und starrte hinaus. Eine Weile stand er schweigend da, lachte dann kurz und ließ die Automatic in seine Westentasche zurückgleiten.

Isham brummte: »Mr. Megara -«

Der Segler schnellte herum, zu allem bereit. »Tom war ein Schwächling«, sagte er knapp. »Mich kriegt er so nicht!«

»Wo ist Van? Wieso soll er noch am Leben sein? Was soll das Schreiben? Warum -«

»Augenblick, bitte«, unterbrach Ellery. »Nicht so voreilig, Mr. Isham. Wir haben vor dem nächsten Gang noch ordentlich zu kauen ... Es ist jetzt klar, daß Brad diesen Brief an einem unmittelbar zugänglichen Ort plaziert hat -in dem Sekretär oder der Schublade im runden Tisch zum Beispiel -in der Erwartung, daß wir ihn direkt nach dem Mord finden. Auf die Gründlichkeit dieses Krosac, dem ich mit jeder Entdeckung mehr Bewunderung entgegenbringe, war er allerdings nicht gefaßt. Als Krosac Brad nun umgebracht hatte, durchsuchte er anschließend den Raum. Vielleicht ahnte er, daß ein solcher Warnbrief existierte. Wie auch immer, er hat ihn gefunden und gesehen, daß er für ihn harmlos ist-«

»Da kann ich nicht folgen«, sagte Vaughn. »Das ist doch das Letzte, was ein Mörder tun würde -eine Botschaft seines Opfers dazulassen!«

»Es bedarf wirklich keiner besonderen Geistesblitze, Inspector«, erwiderte Ellery trocken, »um zu verstehen, warum Krosac diesen vermeintlichen Fehler eingebaut hat! Wenn die Botschaft eine Gefahr für Krosacs Sicherheit gewesen wäre, hätte er sie sicher vernichtet oder zumindest mitgenommen. Doch ganz im Gegenteil; er hat das Papier nicht nur von der Vernichtung verschont; er hat es auch noch -entgegen aller normalsterblichen Vernunft, wie Sie richtig betonen -am Tatort belassen und damit seinem Opfer zur Erfüllung seines Letzten Willens verholfen.«

»Aber warum?« fragte Isham.

»Warum?« Ellerys schmale Nasenflügel blähten sich furchterregend. »Weil es ihn überhaupt nicht juckte, daß die Polizei den Brief finden würde; o nein, es war sogar von Vorteil für ihn! Hier dringen wir zum Kern des Problems vor: Was genau steht in Brads Mitteilung?« Megaras Schultern zuckten unwillkürlich, und ein finsterer Ausdruck bemächtigte sich seiner Gesichtszüge. »Daß Van noch am Leben ist und nur Stephen Megara weiß, wo wir ihn finden können!«

Professor Yardley machte große Augen. »Dieser Teufel! Er weiß selbst nicht, wo Van steckt.«

»Genau! Krosac muß in Arroyo den falschen Mann erwischt haben. Er glaubte, Andrew Van getötet zu haben; Thomas Brad war der nächste auf seiner Liste. Als er den abgehakt hatte, fand er den Brief. Darin stand, daß Van noch lebte. Wenn er jedoch vor einem halben Jahr ein Motiv hatte, Van aus dem Weg zu räumen, dann hat er es vermutlich noch immer. Wenn Van also noch lebte -und wir den armen Teufel, den er aus Versehen einen Kopf kürzer gemacht hat, einmal vernachlässigen -, mußte Krosac den echten Van ausfindig machen und endgültig erledigen. Wo aber konnte der sein? Daß er untergetaucht war ­die Beine unter die Arme genommen hatte, als er erfuhr, daß ihm Krosac hinterher war und sogar bereits einen anderen Mann irrtümlich umgebracht hatte -, verstand sich von selbst.«

Ellery fuchtelte mit dem Zeigefinger.

»Vergegenwärtigen wir uns das Problem, vor dem Krosac stand. Dem Brief war nicht zu entnehmen, wo Van sich aufhält. Es stand jedoch darin, daß nur eine einzige Person Vans Versteck kennt - Megara ...«

»Moment, bitte«, sagte Isham. »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Aber warum zum Henker hat Krosac den Brief nicht vernichtet und einfach Megaras Ankunft abgewartet. Megara hätte uns verraten, wo Van steckt; und Krosac hätte es ­wie Sie sicher vermuten -über uns irgendwie herausbekommen.«

»Oberflächlich betrachtet ein kluger Einwand! Leider aber vollkommen überflüssig.« Ellery zündete sich mit leicht zitternden Fingern eine Zigarette an. »Sehen Sie denn nicht? Wenn es keinen Brief gegeben hätte, wäre Megara nie auf den Gedanken gekommen, Vans Tod anzuzweifeln! Oder hätte es dazu Anlaß gegeben, Mr. Megara?«

»Hätte es. Aber Krosac konnte das nicht wissen.« Megaras asketischer Charakter und seine Willenskraft schwangen sogar in seiner Stimme mit.

Ellery war perplex. »Das verstehe ich jetzt nicht ... Krosac wußte es nicht? Aber zumindest ist meine These belegt. Wenn Krosac den Brief der Polizei überlassen hätte -bei der ersten Durchsuchung schon, meine ich, mit der Folge, daß die Bibliothek sehr bald nach der Entdeckung der Leiche als wahrer Tatort festgestanden hätte -, wäre sofort eine Großfahndung nach Van eingeleitet worden. Krosac selbst suchte Van auch; hätte in diesem Fall jedoch mit der Polizei um die Wette suchen müssen, ohne sich dabei verdächtig zu machen, was seine eigenen Nachforschungen zu stark behindert hätte! Indem Krosac jedoch die Auffindung des Briefes hinauszögerte, schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe: Erstens konnte er im Zeitintervall zwischen dem Mord und der Ankunft von Mr. Megara ungestört nach Van suchen; den die Polizei - noch nicht im Besitz des Briefes -für mausetot hielt. Zweitens: War es Krosac in der Zwischenzeit nicht gelungen, Van aufzuspüren, hatte er nichts dabei verloren; denn sobald Mr. Megara hier auftauchte, würde er die Pfeife identifizieren, damit neue Ermittlungen auslösen -wie geschehen -, die schließlich ergäben, daß der Mord in Wirklichkeit in der Bibliothek stattgefunden hat. Der Raum würde gründlich gefilzt werden, der Brief gefunden; Megara erführe, daß Van noch lebt, und würde der Polizei seinen Aufenthaltsort verraten ... Krosac brauchte sich nur noch an uns dranzuhängen, um herauszufinden, wo Van sich versteckt!«

Megara murmelte bitter: »Vielleicht ist ja schon alles vorüber.«

Ellery fuhr herum. »Sie glauben, Krosac hat Van inzwischen gefunden?«

Megara breitete die Handflächen auseinander und zuckte die Achseln -eine europäische Geste, die so gar nicht zu diesem virilen, sehr amerikanisch wirkenden Mann paßte. »Möglich ist

es. Diesem Satan ist alles zuzutrauen.«

»Hören Sie«, brummte der Inspector. »Wir vergeuden wertvolle Zeit mit unnützem Gequassel, anstatt Informationen zu sammeln. Augenblick, Mr. Queen! Hier ist kein Kaffeeklatsch! Fürs erste haben Sie genug geredet ... Spucken Sie‘s schon aus, Megara! Welche Verbindung besteht zwischen Ihnen, ihrem Kompagnon Brad und Van?«

Der Segler zögerte einige Sekunden und stammelte schließlich: »Wir sind -wir waren -« Seine rechte Hand schnellte unwillkürlich zur ausgebeulten Jackentasche.

»Ja?« brüllte der Staatsanwalt.

»Brüder.«

»Brüder!«

Ellery starrte ungläubig auf Megaras Mund. Isham rief freudig erregt. »Dann haben Sie also richtig gelegen, Mr. Queen. Die Namen sind falsch! Von Brad, Megara und Van stimmt höchstens einer. Aber welcher -«

Megara setzte sich. »Keiner. Keiner davon. Wenn ich Ihnen erzähle -« Ein Schleier fiel über sein Gesicht; er starrte wie durch die Wände der Bibliothek hindurch in eine fremde Welt.

»Was?« fragte der Inspector.

»Wenn ich Ihnen das jetzt erzähle, werden Sie verstehen, was Sie bisher für ein unauflösbares Mysterium gehalten haben. Im gleichen Augenblick, in dem Sie mir von den Ts berichtet haben -von diesen Wahnsinns-Ts -, von den geköpften Leichen, von den ausgestreckt angenagelten Gliedmaßen, von den blutigen Ts an der Tür und auf dem Boden des Gartenhauses, von der Kreuzung, vom Totempfahl -«

»Sagen Sie bloß«, sagte Ellery forsch, »Ihr wirklicher Name beginnt mit T!«

Megara nickte schweren Hauptes. »Ja«, erwiderte er mit gesenkter Stimme. »Wir heißen Tvar. T-v-a-r ...«

Für eine Weile herrschte Schweigen.

Dann hob der Professor an: »Sie haben, wie immer, recht behalten, Queen. T als Buchstabe, nichts weiter -kein Kreuz, keine Ägyptologie, keine obskure religiöse Bedeutung ... Seltsam, geradezu unglaublich.«

Ellery schien ein wenig enttäuscht; dennoch fixierte er Megara mit unbewegten Augen.

»Ich glaube es einfach nicht«, brachte Vaughn voller Entrüstung hervor. »So etwas habe ich noch nie gehört.«

»Einen Mann so zurechtzuhacken, daß er die Initiale seines Nachnamens bildet!« murmelte Isham fassungslos. »Wir machen uns ja zum Gespött, wenn die Öffentlichkeit das erfährt!«

Megara sprang auf; sein Körper bebte vor Wut. »Sie kennen Osteuropa nicht!« fauchte er. »Sie haben ja überhaupt keine Ahnung! Er schleudert uns, von unbändiger Zerstörungswut getrieben, dieses T entgegen -den Anfangsbuchstaben unseres ihm verhaßten Namens! Der Mann ist nicht bei Sinnen, sage ich Ihnen! Es ist alles so klar ...« Seine Wut schien sich zu legen, und er sank auf seinen Stuhl zurück. »Es ist schwer zu glauben«, fuhr er leise fort. »Nicht, was Sie jetzt denken! Es ist schwer zu glauben, daß er uns tatsächlich alle die Jahre verfolgt hat. Wie im Film! Daß er allerdings die Toten so ver-« Seine Stimme wurde wieder schneidend. »Andreja hat es gewußt.«

»Tvar«, wiederholte Ellery leise. »Und drei Decknamen über viele Jahre hinweg. Offenbar aus schwerwiegenden Gründen. Osteuropa ... Vielleicht Rache, Mr. Megara?«

Megara nickte, und seine Stimme wurde melancholisch. »Ich fürchte, ja. Aber wie hat er uns gefunden? Das kann ich mir einfach nicht erklären! Als Andreja, Tomislav und ich vor Gott weiß wie vielen Jahren abgemacht haben, unsere wahre Identität geheimzuhalten, haben wir uns ebenso geschworen, niemandem, verstehen Sie, absolut niemandem unseren alten Familiennamen zu verraten. Ich könnte beschwören, daß nicht einmal Toms Frau -Margaret -oder Helene unseren Namen kennen.«

»Ihres Wissens«, fragte Ellery, »ist Krosac also der einzige, der ihn kennt?«

»Ja. Deshalb ist es mir unerklärlich, wie er uns auf die Spur gekommen ist. Allein die falschen Namen ...«

»Mr. Megara«, brummte Vaughn, »ich schlage vor, wir reden endlich Tacheles! Ich brauche Fakten. Erstens -wer zum Teufel ist dieser Krosac? Was hat er gegen Sie in der Hand? Zweitens ­«

»Nichts überstürzen, Vaughn«, fiel Isham dazwischen. »Ich muß die Sache mit dem T erst verdauen. Ich verstehe noch nicht ganz. Warum das T Ihres Nachnamens?«

»Um zu versinnbildlichen«, antwortete Megara mit hohler Stimme, »daß die Tvars des Todes sind! Albern, nicht wahr?« Sein ungestümes Gelächter hallte in ihren Ohren noch lange nach.

»Würden Sie Krosac erkennen, wenn Sie ihm begegneten?« fragte Elleiy schließlich.

Megara kniff die Lippen zusammen. »Das ist ja das Verflixte! Seit zwanzig Jahren ist keiner von uns Krosac begegnet; und damals war er noch so jung, daß wir ihn heute nicht mehr wiedererkennen würden. Jeder von uns könnte Krosac sein. Wir sind einem Mann ausgeliefert, der so gut wie unsichtbar ist.«

»Er hinkt aber doch mit dem linken Bein?«

»Ja, als Kind hat er leicht gehinkt.«

»Das braucht aber nichts zu bedeuten«, murmelte der Professor. »Das kann genausogut ein Trick gewesen sein. Vielleicht hat er ja eine frühere körperliche Behinderung vorgetäuscht, um seine Spur zu verwischen. Zu Krosacs Verschlagenheit würde das hervorragend passen!«

Vaughn machte einen unvermittelten Schritt vorwärts und

bleckte die Zähne. »Schluß jetzt mit dem nutzlosen Gewäsch! Ich will endlich harte Fakten! Hören Sie, Mr. Megara -oder Tvar, oder wie auch immer Sie sich zu nennen belieben -, warum muß Krosac unbedingt den bösen Buben mimen? Wofür, zum Henker, rächt er sich? Was für eine Geschichte steckt dahinter?«

»Das kann warten«, fuhr Ellery scharf dazwischen. »Im Augenblick interessiert nur eine Frage: Mr. Tvar, wie können Sie -wie Ihr verstorbener Bruder schreibt -wissen, wo Van sich aufhält? Sie waren über ein Jahr lang auf hoher See -ohne Verbindung zum Festland; und der Mord von Arroyo ist erst vor einem halben Jahr geschehen - letzte Weihnachten.«

»Alles vor langer Zeit abgesprochen, für den Fall, daß ...«, antwortete Megara kaum hörbar, »vor sehr langer Zeit ... Ich sagte ja bereits, ich hätte auch ohne den Brief gewußt, daß Andreja noch lebt. In Ihrem Bericht über Arroyo erwähnten Sie die Namen der beiden Männer, die den Toten an der Kreuzung gefunden haben ...«

Ellerys Augen glichen Schlitzen. »Ja?«

Megara ließ seinen Blick erneut umherschweifen, wie um sicherzugehen, daß Krosac nicht doch durch den Raum geisterte. »Und da wußte ich Bescheid. Wenn nämlich Old Pete -der Einsiedler, von dem Sie gesprochen haben -noch am Leben war, dann galt das auch für meinen Bruder Andreja Tvar.«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht -«, begann der Staatsanwalt.

»Ich schon!« rief Ellery aus und wandte sich Professor Yardley zu. »Mensch, sehen Sie denn nicht? Andrew Van ist Old Pete!«

Bevor die anderen sich von der Überraschung erholt hatten, nickte Megara. »Sie sagen es. Er hat sich vor Jahren dieses Alter ego zugelegt, um im Ernstfall, der ja jetzt leider eingetreten ist, untertauchen zu können. Vermutlich versteckt er

sich in den Bergen von West Virginia -wenn Krosac ihn nicht bereits aufgespürt hat -und hofft wider alle Vernunft, daß Krosac seinen Irrtum nicht bemerkt hat. Immerhin hat Krosac uns vor zwanzig Jahren das letzte Mal gesehen. Zumindest, soweit mir bekannt ist.«

»Nur so ist die Verwechslung zu erklären«, sagte Ellery. »Da er nicht wußte, wie sein Opfer nach zwanzig Jahren aussah, hat er den Falschen erwischt, ohne es zu merken.«

»Kling?« fragte Isham nachdenklich.

»Wen sonst?« Ellery begann zu grinsen. »Sie wollen handeln, Inspector? Bitteschön!« Er rieb sich die Hände. »Eins ist klar: Wir müssen Krosac zuvorkommen und seinen Mordplan vereiteln. Ich glaube nämlich nicht, daß Krosac Andreja schon gefunden hat. Als Old Pete ist er perfekt; ich habe damals im Gerichtssaal gesessen und nicht im mindesten daran gezweifelt, einen alten Kauz vor mir zu haben. Wir müssen Ihren Bruder sofort kontaktieren, Mr. Megara; so vorsichtig allerdings, daß Krosac -unter welcher Maske er sich auch immer verbergen mag -Andrejas Tarnung nicht durchschaut.« »Na endlich!« sagte Vaughn mit einem mürrischen Grinsen. Megara erhob sich und starrte glasig in die Runde. »Ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen, Gentlemen -für meinen Bruder Andreja. Was mich selbst betrifft -«, er tätschelte unheilverkündend seine ausgebeulte Jackentasche, »soll er nur kommen! Wenn sich diese Ratte aus ihrem Loch traut, füttere ich sie mit Blei!«


16. Die Gesandten


Was sich Mrs. Brad und ihre Tochter auch einfielen ließen ­es half alles nichts; Stephen Megara wollte sich partout nicht überreden lassen, die Nacht an Land zu verbringen. Den Rest des Tages verbrachte er mit den Brads und Lincoln und wirkte dank seiner überragenden Selbstbeherrschung so ausgeglichen, daß ihm nichts anzumerken war. Als jedoch die Abenddämmerung hereinbrach, wurde er unruhig und machte sich, bevor es gänzlich dunkel wurde, auf den Weg zu seiner Jacht, die in der Bucht vor Anker lag. Mit ihrem Ankerlicht strahlte sie Oyster Island an und durchdrang die tiefe Finsternis, die die Insel umgab. Da Mrs. Brad mit Megaras Rückkehr -der Rückkehr des »Kompagnons« ihres ermordeten Mannes -Trost und ein Gefühl der Sicherheit verband, war sie ihm zum Anlegesteg gefolgt und bat ihn nun flehentlich zu bleiben.

Doch Megara lehnte entschieden ab. »Ich schlafe heute nacht auf der Helene, Margaret. Ich habe so viele Jahre meines Lebens auf dem Boot verbracht, daß ich mich nur noch dort zu Hause fühle ... Lincoln ist doch bei euch, und -«, seine Stimme nahm einen häßlichen Klang an, »durch meine Anwesenheit wäre das Haus keinesfalls sicherer. Gute Nacht, Margaret, macht euch keine Sorgen.«

Die beiden Beamten, die sie zur Bucht begleitet hatten, beobachteten die beiden neugierig. Mrs. Brad schickte einen tränenfeuchten Blick gen Himmel und lief dann zum Haus zurück. Es war bemerkenswert, wie wenig die erst kurz zurückliegende Tragödie ihr Nervenkostüm angegriffen haue, beinahe gleichgültig strich sie an dem Totempfahl vorbei, über dem der Adler seine Schwingen ausbreitete.

Die Männer - nunmehr Verschworene - hatten vereinbart, absolut niemanden in das Geheimnis der Gebrüder Tvar einzuweihen.

Stephen Megara verbrachte die Nacht unter Polizeischutz. Captain Swift und sein Steward tauschten fragende Blicke, während Polizeibeamte auf Deck patrouillierten. Megara schloß die Kabinentür hinter sich ab; der Wachhabende draußen konnte nicht umhin zu hören, wie sich zwei Stunden lang Schenkgeräusche mit dem Klirren von Gläsern abwechselten. Megara schien dem flüssigen Tröster mehr zu Vertrauen als dem nicht unbeträchtlichen Polizeiaufgebot. Schließlich erlosch das Licht. Megara schlief so ruhig, daß die Wache die ganze Nacht hindurch keinen Laut vernahm.

Am nächsten Morgen, einem Samstag, herrschte in Bradwood hektische Aufbruchstimmung. In aller Frühe schossen zwei Polizeilimousinen die Einfahrt hinauf und parkten vor der Kolonialvilla. Inspector Vaughn stieg mit der Attitüde eines Feldherrn die Stufen der Veranda hinab und marschierte, umgeben von uniformierten Wachen, den Pfad zum Anlegesteg hinunter. Im selben Augenblick begann der Motor einer Polizeibarkasse laut zu knattern. Der Inspector, dem der Tatendrang die Rote ins Gesicht getrieben hatte, sprang in das Boot, das sofort Kurs auf die Jacht nahm.

Man gab sich keine Mühe, die Aktion zu vertuschen; sie duldete ohnehin keinen Aufschub mehr. Auf Oyster Island ließen sich einige Gestalten ausmachen, die sich aus der Deckung herausgetraut hatten und die Hälse nach der Barkasse reckten. Dr. Temple stand auf seinem Steg und hielt offen Ausschau; die Lynns hingegen waren auf den Gedanken verfallen, eine Ruderpartie vorzutäuschen, um das Boot unauffällig im Auge behalten zu können.

Der Inspector erklomm die Schiffsleiter der Helene.

Fünf Minuten später kam er in Begleitung von Stephen Megara, der übernächtigt aussah und nach Schnaps roch, aber dennoch Anzug und Krawatte trug, wieder herunter. Trotz der halb durchzechten Nacht folgte er Vaughn mit erstaunlicher Behendigkeit, während er seinen Kapitän kaum eines Blickes würdigte. Sie sprangen in die Barkasse, die sie zum Festland brachte.

Am Steg angelangt, wechselten sie, während die Polizeiwachen warteten, noch ein paar Worte, bevor sie sich, von Uniformierten umringt, auf den Weg zum Haus machten. Das Schauspiel hatte fast den Pomp einer Prozession.

Ein Mann in Zivil sah sie kommen, sprang aus dem Fond der Limousine, salutierte und nahm Haltung an. Unverzüglich stiegen Vaughn und Megara in den ersten Wagen ein; den zweiten bestiegen Beamte. Ihr Hupkonzert ließ keinen Zweifel daran, wer von nun an Herr der Straßen war. Sie bogen in die Einfahrt und erreichten in kürzester Zeit die Schnellstraße, die an Bradwood vorbeiführte.

Als sie am Tor angelangt waren, erwachten vier Motorräder zum Leben; zwei fuhren voraus, zwei flankierten die Limousine, der hintere Wagen bildete die Nachhut ... Es war schon verwunderlich; nicht ein einziger Polizist war nach ihrem eiligen Aufbruch in Bradwood oder der angrenzenden Nachbarschaft zurückgeblieben.

Die Kavalkade donnerte die Schnellstraße hinunter und fegte alle anderen beiseite; es war nicht zu überhören, daß der lautstarke Konvoi in Richtung New York City raste ...

Vaughn und Megara ließen ein Bradwood zurück, in das nun wieder Friede einkehren konnte. Die Lynns paddelten zu ihrem Steg zurück; Dr. Temple verschwand mit einer Zigarette im Mund im Wald, und Oyster Island erschien so menschenleer wie eh und je. Ketcham ruderte in einem heruntergekommenen Kahn auf das Festland zu. Jonah Lincoln setzte einen von Brads Wagen rückwärts aus der Garage und rollte die Einfahrt hinunter.

Das Haus des Professors, das ein gutes Stück von der Straße zurückstand, lag wie verlassen da, nichts regte sich.

Daß Vaughn jedoch nicht so leichtsinnig gewesen war, Bradwood unbewacht zu lassen, mußte jedem klar werden, der versuchte, die Straße, die Bradwood vom Grundstück Yardleys trennte, in die eine oder andere Richtung zu verlassen. Die Straße nämlich mündete auf beiden Seiten in eine Kreuzung ein, an die man unweigerlich kam, wenn man Bradwood zu Fuß oder mit dem Auto verlassen wollte. An beiden Kreuzungen stand -vollkommen unaufdringlich -je ein einsatzbereiter Polizeiwagen, den Vaughn mit seinen Leuten vollgestopft hatte

Und hinter Oyster Island -vom Festland aus unsichtbar ­trieb eine große Polizeibarkasse mit abgestelltem Motor in den Fluten. Die Männer an Deck vertrieben sich die Zeit mit Angeln, hatten jedoch ein scharfes Auge auf die beiden Enden der Ketcham‘s Bay, die jedes Boot passieren mußte, um Bradwood auf dem Wasserweg verlassen zu können ...


17. Der alte Mann in den Bergen


Nicht ohne Grund erschien das Haus des Professors am Samstag morgen so still und trostlos; Yardley und seine alte Haushälterin Nanny hatten, als gehörten auch sie zur Polizei, strikte Order erhalten, das Haus nicht zu verlassen. Es wäre unvorsichtig gewesen, sich draußen blicken zu lassen, während Vaughn und Megara losfuhren; denn es war allgemein bekannt, daß Yardley einen Gast hatte -Mr. Ellery Queen, den Sonderbeauftragten aus New York City. Wenn der Professor allein spazierengegangen wäre, hätte jemand, der glaubte, auf der Hut sein zu müssen, vielleicht Argwohn geschöpft. Leider war es Yardley nicht möglich, sich in Gesellschaft seines Gastes zu zeigen, denn der war längst über alle Berge. Im selben Augenblick, in dem Megara den Polizeiwagen bestiegen hatte, war Yardleys Gast der Polizei bereits Hunderte von Kilometern von Long Island entfernt.

Ellery war raffiniert vorgegangen: Am späten Freitag abend, als die Dunkelheit Bradwood längst umfangen hatte, war Ellery in seinen Duesenberg geklettert, hatte das Anwesen des Professors verlassen und war, nahezu ohne Gas zu geben, durch die nächtliche Landschaft gehuscht. Schließlich war er -mit dem Fuß auf dem Gaspedal -in die Schnellstraße nach Mineola eingebogen. In der Stadt stieg Isham zu, und sie rasten Richtung New York.

Um vier Uhr morgens waren sie bereits in der Hauptstadt von Pennsylvania. Harrisburg lag in tiefem Schlummer, und die beiden Reisenden waren so erschöpft, daß sie, ohne sich lange zu beraten, beim Senate-Hotel haltmachten und sich schweigend in ihre Zimmer zurückzogen. Ellery hatte den Weckdienst für neun Uhr bestellt. Sie fielen in ihre Betten und schliefen wie Tote.

Um halb zehn am Samstag morgen hatten sie Harrisburg längst hinter sich gelassen und waren auf dem Weg nach Pittsburgh. Auf eine Mittagspause verzichteten sie. Der Sportwagen war mittlerweile von Staub bedeckt, und auch die beiden Männer hatte die Gewalttour sichtlich mitgenommen. Immerhin ließ sich der Duesenberg zu in seinem Alter nicht mehr ganz selbstverständlichen Höchstleistungen anspornen; zweimal wurden sie von Polizei auf Motorrädern verfolgt, während sie mit über hundert Sachen über den Asphalt bretterten. Isham präsentierte seinen Ausweis, und sie rasten weiter ... Um drei Uhr nachmittags steckten sie im dichten Verkehr von Pittsburgh.

»Das hält ja kein Pferd aus!« nölte Isham. »Der läuft uns doch nicht weg! Sie können ja ruhig weiterhungern; aber ich muß unbedingt was zwischen die Zähne kriegen!«

Während der Staatsanwalt sich den Magen vollschlug, verloren sie wertvolle Zeit. Ellery hatte eine seltsame Erregung erfaßt. Er stocherte lustlos in seinem Essen herum, sah blaß und übernächtigt aus; doch seine Augen funkelten unnatürlich wach - ganz so, als hinge er Gedanken nach, die er vorläufig lieber für sich behielt.

Kurz vor fünf parkte der Duesenberg vor der Holzfassade, hinter der die würdigen Lenker der Geschicke von Arroyo residierten.

Als Ellery und Isham dem Wagen entstiegen, knirschten ihre Gelenke förmlich. Isham streckte sich ausgiebig, ohne die neugierigen Blicke zu bemerken, mit denen ihn ein beleibter Deutscher -in dem Ellery den ehrenwerten Bernheim, den Gemischtwarenhändler von Arroyo, wiedererkannte -und jener Einheimische im blauen Jeansanzug, der nie etwas anderes zu tun schien, als den Bürgersteig vor dem Rathaus zu kehren, musterten. Isham gähnte: »Am besten, wir bringen das gleich hinter uns. Wo sitzt der zuständige Constable, Mr. Queen?«

Ellery führte Isham zum hinteren Teil des Gebäudes, in dem sich die Amtsstube des Wachtmeisters befand, und klopfte an die Tür. »Kommense schon rein, wenn‘s unbedingt sein muß!« brummte eine rauchige Baßstimme.

Sie traten ein. Constable Luden hing genauso massig und verschwitzt über seinem Schreibtisch wie vor einem halben Jahr; Ellery fragte sich im stillen, ob es wohl möglich war, daß er sich seither nicht vom Fleck bewegt hatte. Als der Constable den Unterkiefer fallenließ, kamen die stumpfen gelben Hauer in seinem aufgedunsenen roten Gesicht zum Vorschein.

»Ich denk‘, mich tritt‘n Pferd!« rief er und stand polternd auf. »Wenn das nich‘ Mr. Queen is‘! Kommense rein, kommense! Sindse immer noch dem Kerl hinterher, der unsern Lehrer auf’m Gewissen hat?«

»Genau dem sind wir auf den Fersen, Constable«, schmunzelte Ellery. »Das ist ein Kollege von Ihnen. Darf ich vorstellen: Bezirksstaatsanwalt Isham von Nassau County, New York.«

Isham grunzte kurz, bot Luden jedoch nicht die Hand. Der

Constable setzte ein breites Grinsen auf. »Im letzten Jahr hatten wir öfter ma‘ hohen Besuch, Mister. Se können die Nase also ruhig wieder runternehm‘, haha.« Isham schien seinen Ohren nicht zu trauen. »Ja, is‘ doch wahr ... Also, was kann ich für Sie tun, Mr. Queen?«

»Dürften wir uns vielleicht erst einmal setzen? Wir sind seit Jahrhunderten mit dem Wagen unterwegs.«

»Klar doch.«

Sie nahmen Platz.

»Constable, sind Sie eigentlich diesem Bergmenschen namens Old Pete in letzter Zeit einmal begegnet?«

»Ol‘ Pete? -Wo Se das jetz‘ so fragen, ehrlich gesagt, nee«, antwortete Luden und warf Isham einen spöttischen Blick zu. »Ich hab‘ den Alten seit Wochen nich‘ geseh‘n. Kommt zwar nich‘ oft in die Stadt rein, der Alte, mein ich‘, aber ... Nee, also, kommt mir so vor, als hätt‘ ich den minnestens zwei Monate nich‘ geseh‘n. Hat sich das letzte Mal, als er vom Berg runter is‘, auch ziemlich mit Vorräten eingedeckt. Aber da fragense besser Bernheim.«

»Wissen Sie zufällig«, fragte Isham, »wo sich seine Hütte genau befindet?«

»Könnte schon sein ... Aber warum interessieren Se sich so für Ol‘ Pete? Den wollnse doch wohl nich‘ verhaften, den armen Schlucker! Nich‘, daß mich das was anginge«, fügte Luden hinzu, als Isham die Stirn runzelte. »Bin noch nie da droben gewesen. Kenn‘ auch sonst kaum ein‘ aus der Umgebung, der ma‘ zu ihm rauf wär‘. Die Leute erzähl‘n sich Gruselgeschichten von Höhlenmenschen, weil‘s da droben in den Bergen viele Höhlen gibt ... Ol‘ Petes Hütte liegt so versteckt, dasse die nie alleine finden.«

»Würden Sie uns den Weg zeigen, Constable?« fragte Ellery.

»Klaro. Wär‘ doch gelacht, wenn ich die nich‘ fänd.« Luden stand auf und schüttelte sich wie ein fetter alter Kettenhund.

»Ich nehme an, Se wolln nich‘, daß die ganze Stadt davon erfährt?« fragte er beiläufig.

»Um Himmels willen, nein!« antwortete Isham gereizt. »Verraten Sie auch Ihrer Frau nichts davon!«

Der Constable grunzte amüsiert. »Worauf Se sich verlassen könn‘. Ich hab‘ nämlich keine. Werd‘ ich dem Herrgott auch ewig dankbar für sein ... Na, denn ma‘ los.«

Er geleitete seine Besucher jedoch nicht zum Haupteingang zurück, vor dem der Duesenberg parkte, sondern führte sie durch eine Hintertür auf eine verlassene Nebenstraße. Luden und Isham warteten, während Ellery geschwind um das Gebäude herumlief und in den Duesenberg sprang. Zwei Minuten später hielt der Wagen in der Seitenstraße und hinterließ, sobald er seine lebende Fracht geladen hatte, nichts als eine Staubwolke. Luden hatte damit vorliebnehmen müssen, Trittbrettfahrer zu spielen.

Der Constable dirigierte sie über mehrere Umwege zu einer schlammigen Straße, die ins Herz der unmittelbar vor ihnen aufragenden Berge vordrang. »Hier wird die Straße schlechter«, erklärte er. »Parkense am besten hier, den Rest machen wir zu Fuß.«

»Zu Fuß?« fragte Isham, während er den steilen Aufstieg ins Auge faßte.

»Keine Bange«, grinste Luden. »Ich trag‘ Sie, wennse nich‘ mehr können.«

Den Wagen ließen sie -hinter Buschwerk getarnt -zurück. Der Staatsanwalt sah sich um und bückte sich noch einmal, um etwas aus dem Wagen zu holen. Es war ein eingewickeltes Bündel, das Luden mit unverhohlener Neugier betrachtete; doch keiner der beiden ließ sich dazu herab, den Gegenstand zu kommentieren.

Der Constable begann, sich einen Weg durch das Dickicht zu bahnen, wobei er den Blick auf Bodenhöhe hielt; er schien jedoch nicht sonderlich bei der Sache zu sein, bis er einen zugewucherten Fußweg ausgemacht hatte. Ellery und Isham trotteten schweigend hinter ihm her. Sie stiegen höher und höher; keine Menschenseele schien dieses Stück Erde je zuvor betreten zu haben. Die Bäume waren so hoch, daß ihre Kronen Dächer bildeten und den Himmel vollständig verdeckten; die Luft war so schwül, daß alle drei Männer bereits naßgeschwitzt waren, als sie gerade einmal hundertfünfzig Meter Aufstieg hinter sich hatten. Isham begann leise vor sich hin zu fluchen.

Nach einer Viertelstunde Schinderei, in der der Weg immer schmaler und der Wald immer dichter geworden war, blieb der Constable plötzlich stehen.

»Matt Hollis hat mir den Weg ma‘ erklärt«, flüsterte er. »Da ungefähr musse sein!«

Vorsichtig arbeiteten sie sich weiter vorwärts, während Luden Anweisungen gab. Und -wie der gute Constable prophezeit hatte - da stand sie ... Auf einer kleinen Lichtung, die unter einer massiven Felsnase gelegen war, stand eine Hütte aus rohen Baumstämmen. Knapp zehn Meter breit war die Schneise, die ihr Bewohner vorne und seitlich der Hütte in den Wald geschlagen hatte. Mit der Rückseite lehnte sie an der vorgewölbten Granitwand. Ellery traute seinen Augen kaum: Das so freigeschlagene Grundstück war vollständig mit einem hohen, mehrfach gewundenen, verrosteten und äußerst bedrohlich wirkenden Stacheldraht eingezäunt.

»Jetzt schauen Sie sich das mal an!« flüsterte Isham. »Ein Zaun ohne Eingang!«

Tatsächlich wies der Drahtzaun keinerlei Unterbrechung seiner gleichmäßigen Stachelbewehrung auf. Die Hütte innerhalb der Festung wirkte ebenfalls wenig einladend, und selbst die Rauchfahne, die sich aus dem Kamin schlängelte, wirkte düster.

»Menschenskind!« murmelte Luden. »Warum hatter sich

bloß so verbarrikadiert? Muß endgültig durchgedreht sein; sag‘ ich doch immer.«

»Hier möcht‘ ich wahrhaftig keinem im Dunkeln begegnen«, murmelte Ellery. »Constable, wir müssen eine ungewöhnliche Bitte an Sie richten.«

Luden, der vielleicht witterte, daß dies seine letzte Begegnung mit dem berühmten Ellery Queen war, wurde servil. »Also, was das angeht«, brummte er, »kümmer‘ ich mich sowieso nur um mein‘ eig‘nen Kram und schweige außerdem wie‘n Grab. Muß ma‘ in der Gegend können. Gibt etliche Schwarzbrennereien innen Bergen hier. Aber da halt‘ ich mich raus, is‘ deren Sache. Also Sir - womit kann ich Ihnen dienen?«

»Vergessen Sie unseren kleinen Ausflug«, erwiderte Isham. »Wir sind nie hiergewesen, klar? Und davon erfährt auch keiner der Kollegen in Hancock County! Den Namen Old Pete haben Sie nie gehört.«

Ludens Pranke grapschte nach einem Stück Papier, das Ellery aus seiner Brieftasche gezogen hatte.

»Mr. Isham«, sagte er feierlich. »Von jetz‘ an bin ich blind, taub und stumm. Sie finden alleine zurück?«

»Ja.«

»Dann Waidmanns Heil -und herzlichen Dank auch, Mr. Queen.«

Luden drehte sich auf dem Absatz herum und verschwand im Wald, ohne sich noch einmal umzusehen.

Isham und Ellery tauschten kurz Blicke, bevor sie ihre Deckung verließen und sich auf die Lichtung wagten.

Kaum hatten sie sich an den Zaun herangeschlichen -Isham war gerade im Begriff, das Bündel, das sie mit sich führten, über die höchste Stachelspitze zu heben -, als eine rauhe, gebrochene Stimme aus dem Innern der Hütte brüllte: »Halt! Zurück!«

Sie hielten inne; das Bündel fiel zu Boden. Aus dem einzigen Fenster der Hütte -das ebenfalls mit Stacheldraht geschützt war, lugte der Lauf einer Schrotflinte, der direkt auf die beiden Eindringlinge gerichtet war. Es folgte nicht etwa nervöses Gefuchtel; nein, die häßliche Szenerie blieb seltsam unbewegt. Offenbar war der Lauf der Waffe bereit zu halten, was er versprach.

Ellery schluckte, und der Staatsanwalt erstarrte förmlich zur Säule. »Das ist Old Pete«, flüsterte Ellery. »Was an dem für ein Schauspieler verlorengegangen ist!« Er lugte über den Zaun hinweg und brüllte: »Nehmen Sie bitte einen Augenblick lang den Finger vom Abzug. Wir sind Freunde!«

Stille. Der Besitzer der Schrotflinte begutachtete seine Besucher, die ruhig dastanden.

Dann ertönte die rauhe Stimme erneut: »Ich glaub‘ Ihn‘ kein Wort! Weg hier! Ich schieße, wenn Sie nich‘ in fünf Sekunden die fliege machen! «

Isham brüllte zurück: »Wir sind von der Polizei, Sie Idiot! Wir haben einen Brief für Sie dabei - von Megara! Und lassen Sie die Zicken! Es ist schließlich Ihretwegen, daß wir hier nicht gesehen werden wollen!«

Der Flintenlauf bewegte sich nicht; dafür aber erschien das zugewachsene Gesicht des Alten hinter dem Stacheldraht, und ein Paar klare Augen beäugten sie mißtrauisch. Die Unentschlossenheit des Mannes war förmlich zu riechen. Kurz darauf verschwanden Kopf und Flintenlauf plötzlich. Einen Augenblick später rüttelte es an der zugenagelten, schweren Tür, und ein bärtiger, ungewaschener, in Lumpen gehüllter Old Pete trat ins Freie. Die Schrotflinte hielt er gesenkt, doch war ihr Lauf noch immer auf die Eindringlinge gerichtet.

»Klettern Sie über‘n Zaun; ‘nen Eingang gibt‘s nich‘.« Die Stimme war dieselbe; aber es schwang ein neuer Ton darin mit.

Nachdem sie eine Weile bestürzt auf den Zaun gestarrt hatten, hob Ellery äußerst vorsichtig eines seiner langen Beine, trat mit dem Fuß den untersten Draht herunter und suchte zaghaft nach einer Möglichkeit, sich festzuhalten.

»Machense schon!« brüllte Old Pete ungeduldig. »Und keine Tricks!«

Isham suchte den Waldboden nach einem Stock ab; schließlich fand er einen, spreizte damit die beiden untersten Drahtstränge auseinander; und Ellery konnte durchkriechen, nicht allerdings, ohne hängenzubleiben und sich die Schulter seines Anzugs aufzureißen. Unbeholfen folgte der Staatsanwalt nach. Keiner sagte ein Wort, denn der Flintenlauf war noch immer auf die ungebetenen Gäste gerichtet.

Sie spurteten auf den Alten los und verschwanden mit Old Pete in der Hütte. Isham warf die schwere Tür hinter sich zu und verriegelte sie. Die Behausung war äußerst primitiv, aber mit Bedacht eingerichtet worden. Den Felsboden bedeckten Strohmatten. In einer Ecke befand sich ein gut gefülltes Vorratslager; und neben dem Feuerplatz war Brennholz aufgeschichtet. Eine bassinähnliche Einrichtung an der Hinterwand der Hütte -genau gegenüber der Tür -diente offenbar als Waschgelegenheit; darüber war ein Regal angebracht, auf dem diverse Medizinfläschchen standen. Direkt über dem Becken befand sich eine kleine Handpumpe; der Brunnen lag offenbar direkt darunter.

»Den Brief!« befahl Old Pete harsch.

Isham zog ein Stück Papier hervor. Der Bergmensch hielt die Waffe noch immer so, daß die Mündung direkt auf seine Besucher zielte. Er las die Nachricht in Etappen, um sie im Auge zu behalten; nie schaute er länger als ein paar Sekunden auf das Papier. Während er las, veränderte sich jedoch sein Gebaren so sehr, daß nur noch der Bart und die zerlumpten Kleider an Old Pete erinnerten. Er lehnte die Flinte langsam gegen den Tisch und setzte sich. Den Brief hielt er noch immer in Händen.

»Dann ist Tomislav also tot«, sagte er. Seine Gäste erschraken, so verwandelt klang seine Stimme. Das hohe Krächzen des alten Einsiedlers war einem tiefen, ruhigen Bariton gewichen - der Stimme eines gebildeten Mannes in der Blüte seiner Jahre.

»Ja, ermordet«, erwiderte Isham. »Er hat eine Nachricht hinterlassen, die Sie ebenfalls lesen sollten.«

»Ich bitte darum.« Er nahm Isham den Brief aus der Hand und las ihn schnell herunter, ohne Regungen zu zeigen. Dann nickte er. »Verstehe ... Nun, meine Herren, hier bin ich. Andrew Van, vormals Andreja Tvar. Und noch immer am Leben, während Tom, der alte Sturkopf -«

Seine Augen blitzten kurz, dann sprang er auf und lief zum Waschbecken. Ellery und Isham tauschten Blicke. Ein seltsamer Vogel, dieser Mann! Van riß sich den Rauschebart ab, nahm die verfilzte weiße Perücke ab und wusch sich den Klebstoff vom Gesicht ... Als er zurückkam, war er nicht mehr als der alte Kauz wiederzuerkennen, der sie noch Minuten zuvor mit der Flinte bedroht hatte; er war groß, hielt sich sehr gerade, hatte dichtes dunkles Haar und das von Entbehrungen gezeichnete Gesicht eines Asketen. Die Lumpen hingen von seinem kraftvollen Körper herab, dachte Ellery -»unpassend, völlig daneben und wie ausgerenkt«, wie Rabelais es ausgedrückt hatte. »Es tut mir leid, Gentlemen, daß ich nur einen Stuhl habe. Sie sind Staatsanwalt Isham, nehme ich an, und Sie ... Ich meine, mich zu erinnern, daß Sie, Mr. Queen, am Verhandlungstag im Gerichtssaal von Weirton in der ersten Reihe gesessen haben.«

»Stimmt.«

Was für ein Exzentriker! Obwohl er sich gerade dafür entschuldigt hatte, nur einen einzigen Stuhl zu besitzen, fand er offenbar überhaupt nichts dabei, selbst darauf sitzenzubleiben und seine Gäste stehen zu lassen. »Willkommen in meinem

Reich! Gemütlich, was?« Sein Ton verriet Bitterkeit. »Krosac, nicht wahr?«

»Sieht ganz danach aus«, antwortete Isham leise. Sowohl er als auch Ellery waren überwältigt von der starken Familienähnlichkeit zwischen Van und Megara. »Stephen schreibt« - Van begann zu zittern -, »daß er das T benutzt hat.«

»Allerdings. Und den Toten den Kopf abgetrennt. Entsetzlich. -Ihr richtiger Name lautet also Andrew Tvar.«

Der Schulmeister lächelte matt. »In unserer Heimat hieß ich Andreja, meine Brüder Stefan und Tomislav. Als wir rüberkamen, in der Hoffnung -« Er zuckte die Schultern, richtete sich auf seinem Stuhl sehr gerade auf und klammerte sich mit beiden Händen an der ungleichmäßigen Sitzfläche fest. Er verdrehte wie ein verängstigtes Tier die Augen und ließ seinen Blick an der schweren Tür und dem stacheldrahtbewehrten Fenster entlangwandern. »Sind Sie ganz sicher«, stieß er hervor, »daß Ihnen niemand gefolgt ist?«

Isham bemühte sich, beruhigend zu klingen. »Absolut. Wir haben jede nur erdenkliche Vorsichtsmaßnahme ergriffen, Mr. Tvar. Ihr Bruder Stephen ist offen mit einer Polizeieskorte auf einer der Schnellstraßen von Long Island nach New York City gebracht worden - übrigens in Begleitung von Inspector Vaughn, der für den Bezirk Nassau zuständig ist.« Der Lehrer nickte zögerlich. »Sollte Krosac ihnen -in welcher Verkleidung auch immer -gefolgt sein, sind ihm einige unserer Männer, die überall entlang der Strecke postiert waren, längst auf der Spur. Mr. Queen und ich sind gestern nacht heimlich losgefahren.«

Andreja Tvar nagte an seiner schmalen Oberlippe. »Es hat uns eingeholt ... Es -Es reichen keine Worte, um Ihnen begreiflich zu machen, wie entsetzlich es ist, nach Jahren unbestimmter Angst endlich das Gespenst vor sich zu sehen ... Wollen Sie unsere Geschichte hören?«

»Meinen Sie nicht auch«, erwiderte Ellery trocken, »daß wir angesichts der Umstände sogar ein Recht darauf haben?«

»Doch, doch«, antwortete der Lehrer. »Stephen und ich brauchen jede nur mögliche Hilfe ... Was hat er Ihnen bisher erzählt?«

»Lediglich, daß Sie, Brad und er Brüder sind«, antwortete Isham. »Nicht aber, was uns eigentlich interessiert -«

Andrew Van stand auf; seine Augen wurden hart. »Ich sage kein Wort mehr! Ich sage gar nichts mehr, solange ich Stephen nicht gesehen habe.«

Die Veränderung in seiner Mimik und Haltung war so plötzlich eingetreten, daß Ellery und Isham völlig verdutzt waren. »Aber, Mann, warum?« stöhnte Isham. »Wir haben viele hundert Kilometer zurückgelegt, um herzukommen -«

Der Mann schnappte sich seine Flinte, und Isham machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts. »Ich behaupte nicht, daß Sie die Unwahrheit sagen. Stephens Handschrift ist echt, und die von Tom ebenfalls. Trotzdem läßt sich so etwas arrangieren. Ich habe mir nicht die komplizierte Doppelidentität und all das ausgedacht, um am Ende auf einen dummen Trick hereinzufallen. Wo ist Stephen jetzt?«

»In Bradwood«, erwiderte Ellery ruhig. »Wir spielen hier nicht Räuber und Gendarm, Mr. Van. Lassen Sie doch endlich die alberne Knarre! Mr. Megara hat gleich vermutet, daß Sie erst reden, wenn Sie Ihren Bruder wiedersehen; und wir haben entsprechend vorgesorgt. Wir haben vollstes Verständnis für Ihr Mißtrauen und stehen allen Vorschlägen Ihrerseits offen gegenüber, nicht wahr, Mr. Isham?«

»Es ist genauso, wie er sagt«, brummte der Staatsanwalt und nahm das Bündel an sich, das er den Berg hochgeschleppt hatte. »Was sagen Sie dazu, Mr. Tvar?«

Der Mann betrachtete unsicher das Bündel; man sah, daß er eine Weile mühsam gegen seine Neugier ankämpfte -und schließlich verlor.

»Machen Sie es auf!«

Isham riß das braune Packpapier auf: Das Bündel enthielt eine vollständige Polizeiuniform des Bezirks Nassau mitsamt Schuhen und Revolver.

»Vollkommen unverdächtig«, bemerkte Ellery. »Wenn wir in Bradwood ankommen, gehören Sie zur Polizei. Da wimmelt‘s nur so von Beamten; und ein Mann in Uniform ist sowieso immer nur ein Mann in Uniform, Mr. Tvar.«

Der Lehrer schritt seinen Steinfußboden nervös auf und ab. »Die Hütte aufgeben ...«, murmelte er. »Ich bin hier monatelang sicher gewesen. Ich -«

»Der Revolver ist geladen«, erwiderte Isham. »Und Sie haben genug Ersatzmunition im Gürtel. Was kann Ihnen denn schon zustoßen, wenn Sie eine Waffe mit sich führen und außerdem von zwei erfahrenen Männern begleitet werden?«

Van wirkte verlegen. »Sie müssen mich für einen Feigling halten, Gentlemen ... Also gut.«

Er begann, sich die Lumpen vom Körper zu reißen -darunter trug er saubere Unterwäsche, wie sie bemerkten, ohne von solchen Absonderlichkeiten noch überrascht zu sein. Recht unbeholfen begann er dann, sich die Uniform anzuziehen.

»Paßt«, bemerkte Ellery. »Megara hatte recht mit der Größe.«

Der Schulmeister sagte nichts ... Als er nun endlich in voller Montur dastand und der Revolver im Halfter schwer von seiner Hüfte herabhing, hatte er eine ganz andere Präsenz: Er war groß, kräftig und sah sogar ausgesprochen gut aus. Mit einer Hand tastete er nach seiner Waffe und streichelte sie, als flöße sie ihm Zuversicht ein.

»Ich bin soweit«, verkündete er schließlich mit fester Stimme.

»Gut!« Isham ging zur Tür; Ellery schaute aus dem verdrahteten Fenster. »Luft rein, Mr. Queen?«

»Sieht so aus.« Isham entriegelte die Tür, und sie huschten ins Freie ... Die Lichtung wirkte friedlich und verlassen; gerade übergoß die Sonne die bereits nebelverhangenen Bergrücken mit ihrem letzten Gold. Ellery kroch zwischen den unteren Drahtsträngen hindurch, und Isham folgte ihm unbeholfen. Nun standen sie da und beobachteten, wie ihr uniformierter Schützling mit -wie Ellery sich eingestehen mußte ­beneidenswerter Behendigkeit über den Zaun kletterte.

Andrew Tvar hatte die Tür verriegelt. Noch immer schlängelte sich die graue Rauchfahne aus dem Kamin. Jeder, der sich in den Wäldern herumtrieb, mußte die kleine Festung für bewohnt und uneinnehmbar halten.

Die drei Männer spurteten auf den Wald zu, dessen Dunkel sie bald gnädig umfing, und stiegen entlang der verwilderten Fährte vorsichtig den Hang hinunter, bis sie bei den Büschen anlangten, hinter denen der alte Duesenberg wie ein treuer Hund auf sie gewartet hatte. Sie begegneten niemandem mehr.


18. Fox bricht sein Schweigen


Ellery und Isham hatten sich zwar Freitag nacht heimlich aus dem Staub gemacht und waren auch den ganzen Samstag über fortgeblieben; das bedeutete jedoch nicht, daß in Bradwood alles ruhig geblieben wäre. Als Inspector Vaughn und Megara mit unbekanntem Ziel losgefahren waren, schien die ganze Nachbarschaft hinter den Gardinen gestanden zu haben; jedenfalls war ihr plötzlicher Aufbruch in aller Munde. Selbst Oyster Island war aufgeschreckt; Hester Lincoln hatte den langen, mühseligen Weg durch den Wildwuchs von Harachts »Tempel« bis zur Ostspitze der Insel zurückgelegt, um den alten Ketcham zu fragen, was eigentlich vor sich ging.

In Bradwood jedoch regte sich bis zur Rückkehr von Vaughn und Megara nichts. Professor Yardley hatte sein Versprechen gehalten, sich hinter den Mauern seines bizarren Palastes zu verschanzen.

Am Samstag mittag -Ellery und Isham waren zu diesem Zeitpunkt zwischen Harrisburg und Pittsburgh mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den Süden von Pennsylvania gebraust, um möglichst früh in Arroyo einzutreffen -war die aufsehenerregende Kavalkade -Vorhut und Flanken bildeten Motorräder; die zweite Limousine gab Rückendeckung -in die Einfahrt von Bradwood eingebogen und zum Halten gekommen. Die Wagentür flog auf, und Inspector Vaughn sprang heraus. Megara folgte langsam nach und sah sich argwöhnisch um. Sofort schirmten ihn seine Leibwachen ab, und die Prozession setzte sich in Bewegung. Als sie an Bradwoods Anlegesteg ankamen, wartete bereits sein eigenes Boot auf ihn. Ein Polizeiboot lotste Megara zur Helene, der nun die Leiter hochstieg und im Innern des Schiffes verschwand. Das Polizeiboot begann Runden um die Jacht zu drehen.

Ein Polizist, der zuvor noch faul im Schaukelstuhl auf der Veranda der Kolonialvilla gesessen hatte, sprang auf und übergab dem Inspector einen Umschlag. Vaughn, der an diesem Morgen besonders hilflos gewirkt hatte, schnappte nach dem Umschlag wie nach einem Rettungsring. Während er las, überzog ein Grinsen sein Gesicht; alle Zweifel waren von ihm gewichen.

»Vor einer halben Stunde per Eilbote gebracht worden«, erklärte der Polizist.

In der Eingangstür erschien Helene Brad, und der Inspector stopfte sich den Umschlag hastig in seine Jackentasche.

»Was geht hier eigentlich vor?« fragte sie aufgebracht. »Wo ist Stephen? Nach all dieser Geheimniskrämerei sind Sie uns einige Erklärungen schuldig, Inspector!«

»Mr. Megara ist auf seiner Jacht«, blaffte Vaughn. »Und im übrigen bin ich Ihnen gar nichts schuldig. Wenn Sie mich bitte ent-«

»Gar nichts werde ich ...« Helene war außer sich. »Sie und Ihre Meute sind die reinsten Rüpel! Wo sind Sie und Megara heute morgen hingefahren?«

»Tut mir leid«, sagte Vaughn. »Bitte, Miss -«

»Stephen sieht krank aus. Haben Sie ihn Ihren berüchtigten Verhörmethoden unterzogen?«

Vaughn grinste. »Na, na! Sie müssen nicht alles glauben, was die Zeitungen schreiben! Alles Quatsch. Krank sieht er aus, sagen Sie. Stimmt. Er klagt über starke Schmerzen in der Leistengegend.«

Helene stampfte mit dem Fuß auf. »Unmenschen, allesamt! Ich werde sofort Dr. Temple bitten, zur Jacht rauszufahren und ihn zu untersuchen! «

»Von mir aus, bitte«, erwiderte der Inspector. »Vielleicht gar keine so schlechte Idee.« Er wirkte zutiefst erleichtert, als er die Veranda verließ, um den schmalen Pfad einzuschlagen, der an dem Totempfahl vorbeiführte. »Komm mit, Johnny. Gibt Arbeit.«

Vaughn und der Polizist marschierten durch den Wald, bis sie die Hütte erreicht hatten, in der Fox, der gärtnernde Chauffeur, eingesperrt war. Ein Mann in Zivil lehnte lässig an der Eingangstür.

»Und?« fragte Vaughn.

»Gibt keinen Mucks von sich.«

Vaughn drückte ohne viel Federlesens die Tür auf und trat ein. Seine Männer folgten ihm. Fox sah erwartungsvoll auf; sein Gesicht war blaß, verhärmt, voller Bartstoppeln, und seine Augen zierten tiefviolette Ränder. Seit Tagen war er wie ein Häftling in seiner Zelle auf und ab gegangen; als er jedoch seinen Besucher erkannte, verzog er das Gesicht, senkte den

Kopf und setzte seine Runden fort.

»Ich gebe Ihnen eine letzte Chance«, sagte der Inspector barsch. »Haben Sie mir etwas zu sagen?«

Fox setzte stur einen Fuß vor den anderen, ohne einmal innezuhalten.

»Sie wollen mir also noch immer nicht erzählen, was Sie bei Patsy Malone zu suchen hatten?« Keine Antwort.

»Also gut.« Vaughn setzte sich betont lässig. »Das ist Ihr Bier - Pendleton!«

Fox stolperte kurz, fand jedoch Wieder in seinen Rhythmus hinein. Sein Gesicht indes blieb ausdruckslos.

»Ist er nicht tapfer?« bemerkte Vaughn sarkastisch. »Mensch, die Nerven möcht‘ ich haben! Schade nur, daß Ihnen das Theater überhaupt nichts mehr nützt, Pendleton. Wir wissen alles über Sie.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, murmelte Fox.

»Sie haben gesessen!«

»Ich verstehe nicht.«

»Rede ich chinesisch oder was? -Aber gut.« Der Inspector setzte sein wohlwollendes Lächeln auf. »Reiten Sie sich nur tiefer rein, Pendleton! Ich mache Ihnen ja nicht zum Vorwurf, daß Ihnen längere Zeit Eisengitter als Vorhänge gedient haben ...« Sein Lächeln verschwand. »Ich mein‘s ernst, Pendleton. Leugnen macht alles nur noch schlimmer! Sie sitzen in der Patsche. Bei Ihren Vorstrafen kann ich Ihnen nur dringend raten, endlich den Schnabel aufzumachen!«

Fox schien zu Tode geängstigt. »Ich habe nichts zu sagen.«

»Ach nein? Gut, dann machen wir es anders. Stellen Sie sich vor, gerade ist der Tresor eines Juwelierladens geknackt worden. Zufällig streunt ein der Polizei bekannter Gauner in der Gegend herum. Meinen Sie nicht, daß der uns einige Erklärungen schuldig ist? - Versuchen Sie es noch einmal!«

Der große Mann blieb stehen, stützte sich auf die Knöchel seiner Finger, die sich hell von der schwarzen Tischplatte abhoben. »Um Himmels willen, hören Sie endlich auf, Inspector! Also gut, ich bin Pendleton. Mit diesem Fall aber habe ich nichts zu tun! Ich bin absolut unschuldig! Lassen Sie mich hier-«

»Hmm«, murmelte der Inspector. »Schon besser. Jetzt wissen wir wenigstens, worüber wir uns unterhalten. Sie heißen Phil Pendleton und sind wegen Raubes zu fünf Jahren Haft verurteilt worden, die Sie im Staatsgefangnis Vandalia, Illinois, zum größten Teil abgesessen haben. Als Mithäftlinge letztes Jahr einen Ausbruchsversuch unternahmen, haben Sie den Helden gespielt und einem Gefängniswärter das Leben gerettet. Der Gouverneur von Illinois hat Ihnen daraufhin die Reststrafe erlassen. Ebenfalls gesessen haben Sie wegen Körperverletzung in Kalifornien und Einbruchs in Michigan ... Wenn Sie uns die Wahrheit erzählt haben, gut. Wenn nicht, dann würde ich Ihnen dringend empfehlen, dies auf der Stelle nachzuholen. Wir machen es Ihnen so leicht wie möglich. Haben Sie Thomas Brad umgelegt?«

Der Mann, der sich Fox nannte, ließ sich resigniert in einen Stuhl fallen. »Nein«, flüsterte er. »So wahr mir Gott helfe, Inspector.«

»Wie haben Sie Ihre letzte Anstellung bekommen bei dem Mann, der Ihnen die Referenzen ausgestellt hat?«

Er antwortete, ohne aufzublicken. »Ich wollte noch einmal von vorne anfangen. Er -er hat keine Fragen gestellt. Aber das Geschäft lief schlecht, und er hat mich gefeuert. Das ist alles.«

»Sie hatten also keinen speziellen Grund, hier als Gärtner und Chauffeur anzufangen?«

»Nein. Wissen Sie, die frische Luft und die gute Bezahlung ­«

»Schön, schön. Wenn wir Ihnen entgegenkommen sollen, dann müssen Sie uns allerdings verraten, was Sie bei Patsy

Malone wollten. Wenn Sie keine Dinger mehr drehen -was haben Sie dann mit Malones Bande zu tun?«

Fox schwieg eine längere Weile. Dann stand er auf; sein Gesicht hatte sich wieder verfinstert. »Ich habe ein Recht, zu tun und zu lassen -«

»Natürlich haben Sie das, Pendleton«, sagte der Inspector freundlich. »Na also. Wir helfen Ihnen.«

Fox redete schnell und starrte dabei auf den Beamten im Türpfosten, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. »Ein -ein uralter Knastkumpan hat mich hier aufgespürt. Das war Dienstag morgen. Er hat drauf bestanden, mich zu treffen. Ich sagte: ›Nein -damit will ich nichts mehr zu tun haben.‹ Da sagte er: ›Du willst doch wohl nicht, daß ich deinem Boß einen Tip gebe?‹ Also hab‘ ich‘s gemacht.«

Vaughn nickte; er hörte äußerst aufmerksam zu. »Weiter, Junge, weiter.«

»Er hat mir dann eine Adresse in New York genannt. Keine Namen. Dienstag abend, nachdem ich Stallings und Mrs. Baxter am Roxy abgesetzt hatte, bin ich hingefahren und habe den Wagen einen Block weiter abgestellt. Einer mit ‘ner Knarre hat mich reingelassen. Dann kam -jemand hat mir einen -einen Vorschlag gemacht. Ich habe abgelehnt und gesagt, daß ich mit der Vergangenheit abgeschlossen hätte und keine Aufträge mehr annehmen wollte. Er gab mir einen Tag Bedenkzeit. Wenn ich‘s nicht machte, drohte er, würde er dafür sorgen, daß Mr. Brad erfährt, wer ich bin. Ich bin gegangen -das Übrige wissen Sie ja.«

»Er hat natürlich von Ihnen abgelassen, als er von dem Mord hörte«, murmelte Vaughn. »Patsy Malone, nicht wahr?«

»Ich - ich kann es nicht sagen.«

Vaughn nickte. »Wollen wohl noch immer nicht singen, hm? Was war das für ein Vorschlag?«

Fox schüttelte den Kopf. »Mehr kann ich Ihnen beim besten

Willen nicht sagen, Inspector. Ich weiß ja, Sie wollen‘s mir leichtmachen und so - aber das wäre mein Todesurteil.«

Der Inspector erhob sich. »Verstehe. Ganz unter uns gesagt ­ich würde unter diesen Umständen auch dichthalten. Klingt gar nicht gut ... Ach, wo wir schon dabei sind, Fox ...« Der Mann schaute plötzlich auf; auf seinem Gesicht spiegelten sich Überraschung und Dankbarkeit. »Wo waren Sie letzte Weihnachten?«

»In New York, Inspector, auf der Suche nach Arbeit. Ich habe auf Brads Anzeige geschrieben, und am zweiten Januar habe ich hier angefangen. «

»Gut.« Der Inspector seufzte. »Nun, Fox, ich kann in Ihrem Interesse nur hoffen, daß Sie uns kein Märchen aufgetischt haben. Aber meine Hände sind gebunden. Sie müssen sich weiter zur Verfügung halten -ohne Bewachung, ohne Arrest, wenn Sie verstehen. Wir werden Sie jedoch observieren; Sie brauchen‘s also gar nicht erst zu versuchen.«

»Eher hack‘ ich mir‘n Bein ab, Inspeetor!« rief Fox voll neuerwachter Hoffnung.

»Tun Sie so, als wäre nichts gewesen. Wenn Sie wirklich sauber sind, erzähle ich Mrs. Brad nichts von unserer Unterhaltung. Von Ihren Vorstrafen erfährt sie auch nichts.«

Fox verschlug es angesichts solch unerwarteter Großzügigkeit die Sprache. Der Inspector gab den Polizisten ein Zeichen und verließ die Hütte. Fox stolperte langsam hinterher, blieb im Türrahmen stehen und sah zu, wie der Inspector mit seinen zwei Männern den Weg zum Wald zurücklief. Sein Brustkorb hob sich, und er inhalierte die warme Luft in tiefen Zügen.

Helene saß auf der Veranda des großen Hauses.

»Mußten Sie den armen Fox wieder quälen!« sagte sie trotzig und zog die Nase hoch.

»Fox geht‘s gut«, erwiderte Vaughn knapp; Erschöpfung und Ratlosigkeit hatten in seinem Gesicht tiefe Spuren hinterlassen. »Haben Sie Dr. Temple gefunden?«

»Dr. Temple war nicht zu Hause. Man sagte mir, er sei mit dem Motorboot draußen auf dem Wasser. Ich habe eine Nachricht hinterlassen, daß er sich bitte Stephen anschauen soll, sobald er zurück ist.«

»Draußen, sagen Sie?«

Vaughn blickte in Richtung Oyster Island und nickte melancholisch.


19. T


Um viertel nach neun am Sonntag morgen wurde Inspector Vaughn, der die Nacht in Bradwood verbracht hatte, von Stallings zum Telefon gerufen. Er schien den Anruf erwartet zu haben, tat jedoch ahnungslos und murmelte laut: »Wer das wohl sein mag.« Ob Stallings nun darauf hereinfiel oder nicht, Vaughns einsilbige Antworten -»Hmm ... Ja ... Nein ... In Ordnung« -waren nicht gerade geeignet, seiner Fantasie Brücken zu bauen. Der Inspector hängte ein und stürzte aus dem Haus.

Um viertel vor zehn bog eine Polizeilimousine mit Staatsanwalt Isham und drei Polizisten in Bradwoods Einfahrt ein. Als die Insassen ausgestiegen waren, stürmte Vaughn auf Isham zu, ergriff seine Hände und redete im Flüsterton auf ihn ein.

Im Schatten dieses Spektakels rollte Ellerys Duesenberg ein paar Augenblicke später unbemerkt auf Yardleys Grundstück.

Auch schien niemand zu bemerken, daß einer der Polizisten, die den Staatsanwalt begleitet hatten, sich nicht so zackig bewegte wie die anderen. Er sonderte sich ab und stieß zu einer größeren Gruppe von Uniformierten, die sich nun in alle Himmelsrichtungen verstreuten.

Professor Yardley, in Hemd und Freizeithose und mit der unvermeidlichen Pfeife im Mundwinkel, begrüßte Ellery mit einem Freudenschrei im Selamik seines Hauses. »Da ist ja unser wichtigster Gast wieder!« rief er. »Verloren hatte ich dich gegeben, Sohn!«

»Wenn Sie schon in Zitierlaune sind«, schmunzelte Ellery, während er seinen Mantel abstreifte und sich auf dem marmornen Mosaikboden niederließ, »sollten Sie auch bedenken: hospes nullus fam in amici hospitium diverti potest ... odiosus sit.«

»Warum Placitus vergewaltigen? Sie sind immerhin volle drei Tage fortgewesen!« Die Augen des Professors funkelten neugierig. »Und?«

»Wir haben ihn dabei.«

»Nein!« Yardley wurde nachdenklich. »Einer der Uniformierten? - Was für ein Coup!«

»Die Einzelheiten haben wir heute morgen in Mineola abgesprochen. Isham hat zwei Beamte und einen offiziellen Dienstwagen angefordert, Vaughn benachrichtigt; und dann haben wir uns auf den Weg nach Bradwood gemacht.« Ellery stöhnte schwach; unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. »Die Fahrt! Van war etwa so mitteilsam wie eine Schlaftablette. Mensch, bin ich erledigt. Aber es bleibt einem ja nichts erspart. Sie brennen sicher darauf, dabeizusein, wenn‘s spannend wird!«

Der Professor stand auf. »Und ob! Auf die Folter gespannt haben Sie mich jetzt lange genug! Schon gefrühstückt?«

»Wir haben uns erst in Mineola die Bäuche vollgeschlagen. Kommen Sie!«

Sie verließen das Haus und schlenderten die Straße nach Bradwood hinunter. Als sie an der Veranda ankamen,

diskutierte Vaughn noch immer mit Isham. »Ich berichte dem

Staatsanwalt gerade, was wir über Fox ausgegraben haben.«

»Über Fox?«

Der Inspector faßte knapp zusammen, was die Ermittlungen über das Vorleben des Mannes erbracht hatten.

Ellery zuckte die Achseln. »Armer Teufel ... Wo ist Megara?«

»Auf seiner Jacht.« Vaughn senkte seine Stimme. »Er ist zum Anlegesteg runter ... Megara hatte gestern Leistenschmerzen. Miss Brad hat versucht, Dr. Temple zu holen; doch der war den ganzen Tag außer Haus. Vermutlich hat er aber heute morgen nach Megara gesehen.«

»Hat das Verhör von gestern irgend etwas gebracht?«

»Fehlanzeige. Hat nicht angebissen. Keine Namen. -Aber kommen Sie, wir sollten uns auf den Weg machen, bevor die Leute aufwachen. Noch schlafen sie offenbar alle; jedenfalls bin ich noch keinem der Herrschaften begegnet.«

Sie folgten dem Pfad, der an der Villa vorbei zum Ufer führte. Auf dem Kai standen drei Polizisten bereit; dahinter wartete eine Barkasse auf ihren Einsatz.

Niemand schenkte dem dritten Polizisten auch nur die geringste Beachtung, während Isham, Vaughn, Yardley und Ellery -gefolgt von den drei Beamten -in das Boot kletterten, das umgehend ablegte. Die Jacht lag etwa achthundert Meter entfernt.

Das Schauspiel wiederholte sich, als sie an Bord gingen: Die vier Männer stiegen die Leiter hoch; die drei Uniformierten folgten. Die in makelloses Weiß gekleideten Besatzungsmitglieder der Helene, die auf Deck herumstanden, hatten nur Augen für Inspector Vaughn, der ungestümen Schrittes an ihnen vorbeirauschte, als wolle er jemanden verhaften.

Captain Swift öffnete seine Kabinentür, als sie dort vorbeikamen. »Wie lange -«, begann er.

Doch Vaughn war auf beiden Ohren taub und stapfte weiter, ohne zu reagieren. Die anderen stapften brav hinterdrein. Mit geschwollenen Schläfen starrte ihnen der Captain nach, begann wortreich zu fluchen und verschwand türenschlagend wieder in seiner Kabine.

Der Inspector klopfte an die Tür der Hauptkabine. Die Tür öffnete sich nach innen; im Türspalt erschien Dr. Temples straffes, tiefgebräuntes Gesicht.

»Hallo!« sagte er. »Oh, starker Aufmarsch! Ich habe nur gerade Mr. Megara verarztet.«

»Dürfen wir hereinkommen?« fragte Isham.

»Selbstverständlich!« vernahmen sie Megaras angespannte Stimme aus dem Inneren der Kabine. Die Männer drückten sich einer nach dem anderen durch die enge Tür, ohne einen Ton von sich zu geben. Stephen Megara lag in einer schlichten Koje; er war nackt bis auf ein Tuch, das seine Lenden bedeckte. Er sah blaß und erschöpft aus, auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gesammelt. Er krümmte sich und preßte die Hände gegen eine Leiste. Die Polizisten würdigte er keines Blickes, sondern fixierte mit schmerzverzerrtem Gesicht Dr. Temple.

»Was hat er, Doktor?« fragte Ellery.

»Hernia testis«, erwiderte Dr. Temple. »Kein ganz unkomplizierter Fall. Aber wir brauchen uns im Augenblick keine Sorgen zu machen. Ich habe ihm etwas gegen die Schmerzen gegeben; die Wirkung wird er gleich spüren.«

»Hab‘ ich mir auf dieser verdammten letzten Fahrt eingehandelt«, keuchte Megara. »Ich danke Ihnen Doktor, es geht schon besser. Bitte lassen Sie uns jetzt allein. Die Herren möchten etwas mit mir besprechen.«

Temple sah ihn einen Moment lang verständnislos an, zuckte dann mit den Schultern und nahm seine Arzttasche. »Wie Sie

wünschen Aber bitte unterschätzen Sie die Sache nicht; Sie sollten sich in jedem Fall operieren lassen, wenn auch nicht unbedingt sofort.«

Er verbeugte sich steif und verließ unverzüglich den Raum. Der Inspector folgte ihm und kehrte nicht wieder, ehe Dr. Temple in seinem Motorboot aufs Festland zu steuerte.

Vaughn schloß leise die Kabinentür hinter sich. Zwei Polizisten lehnten sich von außen mit dem Rücken dagegen.

Der dritte machte nun einen Schritt vorwärts und sah sich nervös um. Der Mann in der Koje zupfte an seinem Tuch.

Schweigend sahen sie einander an. Die Hand gaben sie sich nicht.

»Stefan«, brachte der Lehrer hervor.

»Andreja.«

Ellery hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken; der Situation haftete etwas Groteskes an, so tragisch sie auch sein mochte. Diese beiden gepflegten, stolzen Männer mit den ausländischen Namen -die Jacht, das Krankenlager, die graue Uniform ... Etwas Ähnliches war Ellery trotz seiner reichen Erfahrung noch nie begegnet.

»Krosac. Krosac, Andreja«, stammelte der kranke Mann. »Er hat uns gefunden, wie du immer prophezeit hast.«

Andreja Tvar entgegnete schroff: »Wenn Tom auf meinen Rat gehört hätte ... Ich habe ihn letzten Dezember per Brief gewarnt. Hat er sich nicht mit dir in Verbindung gesetzt?«

Stefan schüttelte wie in Trance den Kopf. »Nein, er wußte nicht, wo er nach mir suchen sollte. Ich bin kreuz und quer über den Pazifik gesegelt ... Wie geht es dir, Andreja?«

»Soweit gut. Wie lange ist es jetzt her?«

»Jahre ... Fünf - sechs?«

Sie verstummten wieder. Der Inspector beobachtete die beiden aufmerksam; Isham wagte kaum noch zu atmen. Dann warf der Professor Ellery einen Blick zu, und Ellery drängte:

»Die Geschichte, bitte, Gentlemen, die Geschichte. Mr. -Van ...« -er zeigte auf den Schulmeister -»muß Bradwood so schnell wie möglich wieder verlassen. Jede Sekunde, die er sich hier aufhält, verschärft die Gefahr. Krosac -wer immer er auch sein mag -ist verdammt clever. Niemand weiß, ob er auf unsere kleine Modenschau wirklich hereinfällt; und wir müssen um jeden Preis verhindern, daß er Mr. Van nach West Virginia folgt.«

»Ja«, sagte Van schwerfällig. »Da haben Sie recht. Stefan, erzähl es Ihnen.«

Der Segler streckte sich auf seinem Lager aus, als hätten die Schmerzen plötzlich nachgelassen -oder als hätte er sie vor Aufregung vergessen -, und starrte an die niedrige Kabinendecke. »Wo beginne ich da am besten? Es ist alles so verdammt lang her. Tomislav, Andreja und ich waren die letzten Abkömmlinge des stolzen Tvar-Clans, einer wohlhabenden Familie, die in den Bergen Montenegros ansässig war.«

»Und lange ausgelöscht ist«, fügte Van mit eisiger Stimme hinzu.

Der kranke Mann winkte ab, als sei das nebensächlich. »Sie müssen verstehen. Auf dem Balkan sind die Menschen ausgesprochen heißblütig. Das Blut unserer Familie war so heiß, daß es leicht kochte.« Megara lachte kurz. »Unsere Erbfeinde waren die Krosacs, ein anderer Clan. Seit Generationen -«

»Eine Vendetta!« rief Yardley. »Natürlich keine italienische ­aber doch so etwas wie eine Blutfehde. Das Phänomen tritt ja auch bei uns auf, zum Beispiel gibt es in den Bergen von Kentucky solche Fehden. Da hätte ich mal eher dran denken sollen.«

»Ja.« Megaras Stimme wurde schneidend. »Wir wissen bis heute nicht, was der ursprüngliche Anlaß dazu gewesen ist. Wir steckten so tief im blutigen Sumpf, daß unsere Generation gar nicht mehr danach fragte. Denn man hatte uns von Kindesbeinen an eingetrichtert -«

»Vernichtet die Krosacs!« krächzte Van.

»Wir sind die Angreifer gewesen«, fuhr Megara fort. »Dem fanatischen Blutdurst unseres Großvaters und Vaters war es zu verdanken, daß vor zwanzig Jahren nur noch ein männlicher Krosac am Leben war -Velja, der Mann, den Sie suchen ... Damals war er noch ein Kind. Er und seine Mutter waren die einzigen Überlebenden des gesamten Krosac-Clans.«

»Wie im tiefsten Mittelalter«, murmelte Van. »Absolut barbarisch! Du, Tomislav und ich haben den Mord an Vater gerächt, indem wir Krosacs Vater und zwei Onkeln aufgelauert sind und sie in einem Hinterhalt erschlagen haben ... «

»Unfaßbar!« flüsterte Ellery dem Professor zu. »Man möchte ja kaum glauben, daß man es mit zivilisierten Menschen zu tun hat.«

»Was ist aus dem Bengel, aus diesem Krosac, geworden?« fragte Isham.

»Seine Mutter ist mit ihm nach Italien geflohen und hat sich dort versteckt. Kurze Zeit später ist sie gestorben.«

»Und auf Krosac lastete der Fluch, seine Familie rächen zu müssen«, ergänzte Vaughn nachdenklich. »Bestimmt hat ihn seine Mutter noch einmal so richtig auf seine Mission eingeschworen, bevor sie starb. Sie haben die Spur des Jungen verfolgt?«

»Ja. Das mußten wir allein schon aus Selbstschutz tun. Wir wußten ja, daß er für uns eine tödliche Gefahr darstellte, sobald er erwachsen war. Die Agenten, die wir dafür bezahlten, haben ihn an mehreren Orten Europas aufgespürt; bevor er siebzehn wurde, ist er allerdings plötzlich verschwunden, und wir haben nie wieder etwas von ihm gehört - bis jetzt.«

»Sie selbst haben Krosac nie mehr gesehen?«

»Nein. Jedenfalls nicht mehr, seit er unsere alte Heimat verlassen hat. Damals war er elf oder zwölf Jahre alt.«

»Augenblick mal«, bat Ellery und legte die Stirn in Falten. »Was macht Sie eigentlich so sicher, daß Krosac Ihnen nach dem Leben trachtet? Denn - immerhin - ein Kind ...«

»Was uns so sicher macht?« Andrew Van lächelte verbittert. »Einer unserer Agenten hat es geschafft, sich das Vertrauen des Kindes zu erschleichen, während wir den Jungen beschatten ließen, und hat mit eigenen Ohren gehört, wie er bei allen Heiligen schwor, daß er uns auslöschen würde, auch wenn er uns dafür bis ans Ende der Welt verfolgen müßte.«

»Sie wollen uns im Ernst weismachen«, fragte Isham irritiert, »daß Sie nur wegen der Phantastereien eines Kindes Ihre Namen geändert haben und nach Amerika geflohen sind?«

Beiden Männern stieg die Röte ins Gesicht. »Sie haben keine Ahnung von kroatischen Familienfehden«, murmelte Megara und wich allen Blicken aus. »Vor Generationen ist ein Krosac sogar einmal einem Tvar in die Wüsten des südlichen Arabiens gefolgt ...«

»Auf alle Fälle würden Sie also Krosac nicht einmal dann erkennen, wenn Sie ihm Auge in Auge gegenüberständen?« fragte Ellery.

»Nein, das ist es ja ... Wir drei waren die letzten der Familie; Vater und Mutter waren tot. Da haben wir beschlossen, nach Amerika auszuwandern. Wir waren frei; nichts band uns mehr an die Heimat. Andrew und ich waren unverheiratet, und Toms Frau war nach kurzer, kinderloser Ehe gestorben. Wir verkauften unser stattliches Erbe -riesige Güter und unsere gesamte Habe -und wanderten unter falschen Namen getrennt voneinander nach Amerika aus. Vorher hatten wir abgemacht, uns in New York zu treffen. Wir hatten ebenso abgemacht, drei verschiedene Staatsangehörigkeiten vorzutäuschen.« -Ellery fuhr zusammen, dann lächelte er. -»Unsere Namen haben wir sicherheitshalber aus dem Atlas gepickt. Von da an war ich Grieche, Tom Rumäne und Andrew Armenier; wir hätten damals unmöglich als gebürtige Amerikaner durchgehen können; man sah einfach, daß wir aus Südosteuropa stammten. Außerdem konnten wir kaum Englisch.«

»Ich habe euch immer davor gewarnt, Krosac zu vergessen«, warf der Schulmeister düster ein.

»Tom und ich -wir hatten alle eine hervorragende Erziehung genossen -haben uns sofort daran gemacht, ein Unternehmen aufzubauen. Unser Andrew hier war jedoch schon als Kind ruhelos gewesen, ein Einzelgänger; so zog er es vor, sich die Landessprache allein beizubringen und Lehrer zu werden. Alle drei haben wir natürlich die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen, wurden langsam zu Amerikanern und waren, während die Jahre so dahingingen, dabei, Krosac zu vergessen, zumal wir nie wieder etwas von ihm oder über ihn gehört hatten. Zumindest für Tom und mich wurde er zur Legende, zum Mythos. Wir hielten ihn für tot oder wähnten ihn auf der hoffnungslos falschen Fährte.« Megara preßte die Kiefer aufeinander. »Wenn wir nur gewußt hätten ... Wie auch immer, Tom hat bald geheiratet, das Geschäft lief hervorragend, und Andrew ging nach Arroyo.«

»Wenn ihr nur auf mich gehört hättet«, zischte Van, »wäre es nie soweit gekommen, und Tom wäre heute noch am Leben. Ich habe euch immer wieder prophezeit, daß Krosac uns früher oder später finden und Rache nehmen würde!«

»Andr‘, bitte.« Megaras Stimme klang kalt und ungerührt; jedoch in seinen Augen flammte so etwas wie Mitleid auf, als er seinen Bruder ansah. »Ich weiß doch. Und wir haben uns nur noch selten gesehen, was du aber, wie du zugeben mußt, nicht anders gewollt hast. Wenn du ein bißchen mehr Familiensinn gehabt hättest ...«

»Dann wäre ich bei euch geblieben, damit Krosac uns alle drei auf einen Streich auslöschen konnte?« brüllte Van aufgebracht. »Warum habe ich mich wohl in dem Loch verkrochen? Ich hänge auch am Leben, Stephen, und ich war etwas klüger als ihr -«

»So klug nun auch wieder nicht, Andr‘«, sagte Megara barsch. »Immerhin hat Krosac dich zuerst gefunden. Und -«

»Allerdings«, sagte der Inspector unvermittelt. »Das hat er wohl. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mr. Van, lassen Sie uns erst einmal die genauen Umstände des Arroyo-Mordes klären.«

Der Schulmeister schloß, von Erinnerungen überwältigt, die Augen. »Arroyo«, begann er heiser, »war von Anfang an ein Ort des Grauens. Das Leben in ständiger Angst trieb mich vor Jahren dazu, mir eine Geheimidentität -Old Pete -zuzulegen, hinter der ich mich verbergen konnte, falls es Krosac gelingen sollte«, er öffnete die Augen und schnaubte verächtlich, »mich zu finden. Ich habe mir dann diese verlassene Berghütte eingerichtet, die ich bei einer Höhlenwanderung zufällig entdeckt hatte, sie mit Stacheldraht eingezäunt und mir in Pittsburgh die Verkleidungsutensilien gekauft. Wenn ich als Lehrer Ferien hatte oder nicht viel zu tun war, bin ich heimlich zur Hütte hochgestiegen, habe mich als Old Pete verkleidet und bin durch die Straßen von Arroyo geschlendert, um mich in dieser Rolle den Leuten ins Gedächtnis einzuprägen. Tom und Stephen hatten dafür nur Spott übrig und erklärten mich für kindisch. War ich kindisch, Stephen? Oder denkst du da nicht inzwischen anders drüber? Denkst du nicht vielleicht auch, daß Tom in seiner Gruft zutiefst bedauert, daß er meinem Beispiel nicht gefolgt ist?«

»Ist ja gut, Andr‘«, beschwichtigte Megara. »Schweif nicht ab. Erzähl, was passiert ist.«

Der exzentrische Lehrer drehte mit den Händen auf dem Rücken seiner geborgten Uniform eine Runde durch die Kabine ... und erzählte dann eine abenteuerliche Geschichte.

Als das Weihnachtsfest nahte -begann er mit der durchdringenden Stimme, die so typisch für ihn war-, fiel ihm plötzlich auf, daß er über zwei Monate nicht mehr als Old Pete in der Stadt gewesen war. Eine solche lange Abwesenheit mochte jedoch ein paar Einheimische -Constable Luden etwa ­dazu veranlassen, nach dem alten Einsiedler zu suchen und seine Hütte zu durchforsten, was für ihn fatale Folgen gehabt hätte. Alles wäre aufgeflogen ... Zwischen Weihnachten und Neujahr konnte er seine winzige Dorfschule endlich über eine Woche schließen, um wenigstens einige Tage lang als Lumpenmann durch Arroyo zu schlendern. Bei früheren Gelegenheiten hatte er vor seinen Ausflügen ins Eremitendasein immer verlauten lassen, er werde übers Wochenende verreisen.

»Wie haben Sie denn Kling, Ihrem Hausangestellten, Ihre wiederholte Abwesenheit erklärt?« fragte Ellery. »Oder war er eingeweiht?«

»Himmel, nein! Er war strohdumm, halb schwachsinnig eben. Ich habe ihm bloß gesagt, ich führe nach Wheeling oder Pittsburgh.«

An Heiligabend erklärte er Kling, er werde die Festtage in Pittsburgh verbringen, und machte sich auf den Weg zu seiner Hütte, in der er sein Lumpenkostüm aufbewahrte, und verwandelte sich in Old Pete. Am nächsten Morgen -dem Weihnachtsmorgen -war er sehr früh aufgestanden und hinunter nach Arroyo getrottet, um seine leere Speisekammer aufzufüllen. Er wußte, daß er sich bei Bernheim eindecken konnte, obwohl sein Laden über die Festtage eigentlich geschlossen war. Als er an der einschlägigen Kreuzung anlangte, machte er – allein, um halb sieben in der Frühe -die grausige Entdeckung der gekreuzigten Leiche, begriff sofort, was die diversen Ts zu bedeuten hatten, und rannte die gut hundert Meter zu seinem Haus. Das Schlachtfeld, das der Mörder zur allgemeinen Ansicht hinterlassen hatte, jagte ihm

einen Schauer über den Rücken; ihm war allzu klar, daß Krosac aus schierem Zufall in der Nacht zuvor bei ihm aufgetaucht war, den armen Kling -in der Meinung, er sei Andreja Tvar ­niedergemacht, ihm den Kopf abgeschlagen und ihn an dem Wegweiser gekreuzigt hatte.

Er dachte fieberhaft nach. Was tun? Eine unerwartet großzügige Schicksalslaune hatte dazu geführt, daß Krosac nun glauben mußte, seine schauerliche Mission, soweit sie Andreja Tvar betraf, erfüllt zu haben; warum sollte er ihn dieser Illusion berauben? Indem er sich für immer in die Lumpen Old Petes hüllte, konnte es ihm gelingen, nicht nur Krosac, sondern auch die Einheimischen in dieser gottverlassenen Gegend zum Narren zu halten ...

Glücklicherweise handelte es sich bei dem Anzug, den Kiing getragen hatte, als er ermordet wurde, um einen abgetragenen eigenen, den er ein paar Tage zuvor Kling vermacht hatte. Er wußte, daß die Einwohner von Arroyo den Anzug zweifelsfrei ihrem Schulmeister Andrew Van zuordnen würden; wenn er zusätzlich ein paar Gegenstände in die Taschen steckte, die die Leiche als Andrew Van auswiesen. würde er als eindeutig identifiziert gelten.

Nachdem er seine Kleider nach Briefen und Schlüsseln durchsucht hatte, schlich er zur Kreuzung zurück, entfernte aus den Taschen der Leiche alles, was auf Kling hindeutete -der Mann in Uniform zitterte noch immer, wenn er sich dieser grausigen Aufgabe entsann -, stattete den Toten mit Vans Sachen aus und schlug sich dann weiter oben in die Büsche. Dort verbrannte er vorsichtig Klings Habseligkeiten und wartete darauf, daß jemand vorbeikam.

»Warum denn das?« fragte Vaughn. »Warum sind Sie nicht schleunigst zu Ihrer Hütte zurück?«

»Weil ich unbedingt in die Stadt mußte«, antwortete Van mit der allergrößten Selbstverständlichkeit, »um meine Brüder irgendwie zu warnen. Wenn ich jedoch einfach so in die Stadt gegangen wäre, ohne ein Wort über die Leiche an der Kreuzung zu verlieren, hätte ich mich sofort verdächtig gemacht, weil man an der Kreuzung vorbei muß, um in die Stadt zu gelangen. Wenn ich in die Stadt ging und meine Entdeckung allein meldete, zog ich damit vielleicht ebenfalls den Verdacht auf mich. Paßte ich jedoch den nächsten ab, der vorbeikam ­irgendeinen harmlosen Zeitgenossen -, dann konnte ich die Leiche mit ihm zusammen ›entdecken‹ und gefahrlos in die Stadt zurückkehren, um meine Vorräte aufzustocken und gleichzeitig meine Brüder zu benachrichtigen.«

Er brauchte nur etwa eine Stunde zu warten, da tuckerte Michael Orkins, der Farmer, in seinem klapprigen Auto auf die Kreuzung zu. Old Pete winkte Orkins zu, der hielt an und ließ ihn einsteigen. Dann fanden Sie die Leiche ...

»Den Rest«, sagte Van nüchtern, »kennt Mr. Queen von der Gerichtsverhandlung her.«

»Und es ist Ihnen gelungen, Ihre Brüder zu warnen?« fragte Isham.

»Ja. Als ich mich kurz in meinem Haus umsah, nachdem ich Klings Leiche an der Kreuzung gefunden hatte, habe ich hastig einen kurzen Brief an Tomis hingekritzelt -den Mann, den Sie als Thomas Brad kennen. Daß ich etwas in den Briefkasten der Post warf, als wir daran vorbeikamen, blieb in der Aufregung unbemerkt. Ich habe Tom kurz geschildert, was geschehen war, und ihn vor Krosac gewarnt, den ich bereits auf seinem Rachefeldzug gen Osten wähnte. Ich schrieb ihm auch, daß ich von nun an vollständig in die Rolle Old Petes zu schlüpfen gedachte und bitte weder er noch Stephen dieses Geheimnis irgend jemandem preisgeben sollten. Ich zumindest hatte vor, mich vor Krosac zu schützen, denn ich war tot.«

»Verdammtes Glück hast du gehabt«, versetzte Megara bitter. »Als es Tom nicht gelungen war, mich zu kontaktieren, nachdem er deinen Brief erhalten hatte, muß er den Brief an die Polizei geschrieben haben -als eine letzte Warnung an mich für den Fall, daß ihm etwas zustoßen sollte, bevor ich nach Bradwood zurückkehrte.«

Die Brüder waren blaß und angespannt; beiden war die Krise deutlich anzumerken, die sie durchmachten. Auch Megara war vollends in Krosacs Bann geschlagen. Vom Deck dröhnte das schmutzige Lachen eines Mannes herein, das sie in Alarmzustand versetzte, bevor sie merkten, daß lediglich ein Besatzungsmitglied der Helene einen der Polizisten verulkte.

»Schön und gut«, sagte Isham schließlich, ohne seine Hilflosigkeit verbergen zu können. »Nur kommen wir so nicht weiter. Was Krosac angeht, haben wir es immer noch mit einem Phantom zu tun.«

»Aus Ihnen spricht der Pessimist«, bemerkte Ellery, »allerdings nicht ganz zu Unrecht. Gibt es Leute, die von der Tvar-Krosac-Fehde wissen? Meine Herren, ich nehme an, daß Ermittlungen in dieser Richtung den Kreis der Verdächtigen vielleicht etwas einengen können. «

»Gut«, sagte Ellery. »Dann bliebe nur noch Krosac selbst als potentieller Verbreiter der Geschichte übrig. Vorstellbar wäre es, wenn auch nicht wahrscheinlich. Warum hätte er jemanden einweihen sollen? Krosac ist heute ein erwachsener Mann -und zudem vom Vergeltungswahn besessen. Seine Rachepläne betrachtet er doch sicher als persönliche Angelegenheit; so etwas delegiert man nicht, und Komplizen braucht man dazu ebenfalls nicht. Sehe ich das richtig, Mr. Megara?«

»In Montenegro jedenfalls nicht«, antwortete der Segler niedergeschlagen.

»Für jeden, der sich mit der Psychologie der Blutfehde auskennt«, dozierte Professor Yardley, »ist es axiomatisch, daß lediglich ein Mitglied der Familie die Schande beseitigen kann. Das gilt besonders für die alten Balkanfehden, bei denen es noch um einiges bestialischer zuging als bei unseren.«

Ellery nickte. »Hätte also Krosac irgend jemandem in diesem Land etwas verraten? Wohl kaum. Denn dieser Jemand hätte sofort immense Macht über ihn gehabt; zumindest aber hätte es eine unnötige Spur mehr gegeben; und Krosac ist, der Umsicht nach zu urteilen, die er bisher seiner Monomanie zum Trotz bewiesen hat, äußerst vorsichtig ... Wenn wir nun aber -obwohl das unrealistisch ist -einmal annehmen, es gibt einen Komplizen: Was hätte er ihm schon zu bieten?«

»Gute Frage«, räumte Isham ein.

»Allein schon die Tatsache, daß er aus der Blechdose in Mr. Vans Haus alles Bargeld herausgenommen hat -«

»In der Dose waren einhundertvierzig Dollar«, murmelte Van.

»-zeigt, daß Krosac knapp bei Kasse war und mitgehen ließ, was ihm in die Hände fiel. Das Haus Ihres Bruders Tomislav hingegen ist nicht ausgeraubt worden. Krosac hatte also keinen Komplizen, weil der sich die Gelegenheit, Beute zu machen, sicher nicht hätte entgehen lassen. Nicht Habgier, sondern Rachsucht ist Brad zum Opfer gefallen ... Gibt es weitere Anhaltspunkte dafür, daß kein Komplize existiert? Ja. Als Kling ermordet wurde, hat sich nur ein Fremder in der Umgebung der Kreuzung blicken lassen - und das war Velja Krosac.«

»Was wollen Sie damit beweisen?« brummte Vaughn.

»Einfach nur, daß Krosac mit großer Wahrscheinlichkeit allein arbeitet und auch niemanden eingeweiht hat; denn sein Motiv ist absolut persönlich, sein Vorgehen pathologisch, und er hat nicht zu verschleiern versucht, daß er als einsamer Rächer unterwegs ist. Bedenken Sie bitte, daß Krosac seine Morde quasi unterschrieben hat, indem er beide Tatorte mit seinen Ts dekoriert hat. Das muß ihm auch klar gewesen sein, ob er nun bei Sinnen ist oder nicht; und es erscheint wenig glaubhaft, daß sich -besonders nach dem ersten Mord -jemand mit einem solchen Mann verbünden würde -mit einem so durchtriebenen und dreisten Irren.«

»Und wieder ist das Ergebnis gleich Null«, brummte der Inspector. »Was nützt es uns schon, über einen theoretischen Komplizen zu spekulieren, wenn wir bei der Suche nach dem Haupttäter keinen Schritt vorangekommen sind, Mr. Queen?«

Ellery zuckte mit den Schultern; es war offensichtlich, daß seiner Meinung nach die theoretische Eliminierung eines potentiellen Komplizen oder Mitwissers von hochrangiger Bedeutung war.

Staatsanwalt Isham schritt zwischen den Brüdern rastlos auf und ab. »Hören Sie«, sagte er dann. »Wir sollten uns nicht so schnell damit zufriedengeben, daß ein Mann einfach so verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen! Wir müssen Genaueres darüber wissen, wie er aussieht. Gut, Sie können uns nicht sagen, wie Krosac heute aussieht. Aber seine generelle Erscheinung werden Sie uns vielleicht noch beschreiben können - ich denke da zum Beispiel an unveränderliche Merkmale ...« Die Brüder sahen einander an. »Das Hinken«, sagte Van schulterzuckend.

»Das habe ich Ihnen doch schon erzählt«, warf Megara ärgerlich ein. »Als Kind hatte er einen leichten Hüftschaden ­nichts Ernstes, aber er hat ein bleibendes Hinken auf dem linken Bein davon zurückbehalten.«

»Bleibend?« fragte Ellery.

Die Tvars blickten ratlos drein.

»Es ist immerhin nicht auszuschließen, daß er sich in den zwanzig Jahren an der Hüfte hat operieren lassen. Was wiederum ein Beweis seiner Gerissenheit wäre, wenn wir uns die Aussage von Croker, der Garagenbesitzer von Weirton, in Erinnerung rufen. Krosac wußte ja, daß Sie ihn als hinkendes Kind in Erinnerung hatten; er könnte also, wie Professor Yardley vermutet, das Hinken nur vorgetäuscht haben ... vorausgesetzt natürlich, daß es in der Zwischenzeit behoben worden ist.«

»Das Hinken kann auch genausogut echt sein«, protestierte der Inspector. »Warum zum Teufel stellen Sie jeden kleinsten Beweis, den wir haben, in Frage, Mr. Queen -«

»Oh, also gut«, erwiderte Ellery trocken. »Krosac hinkt. Aber was haben Sie davon, Inspector?« Er schmunzelte. »Ob er nun wirklich hinkt oder nicht; er wird es zumindest jedesmal dann tun, wenn er einen seiner seltenen Auftritte wagt.«

»Wir haben genug Zeit verschwendet«, brummte Vaughn. »Doch eines steht fest: Sie, Gentlemen, müssen von jetzt an ganz besonders vorsichtig sein und sich schützen, wo Sie nur können. Mr. Van, Sie kehren am besten umgehend nach Arroyo zurück und verstecken sich da. Ich schicke Ihnen ein halbes Dutzend Männer mit auf den Weg nach West Virginia, die in Ihrer Nähe bleiben werden.«

»Um Himmels willen«, stöhnte Ellery entsetzt. »Ist Ihnen nicht klar, was Sie damit täten? Sie würden Krosac direkt in die Hände arbeiten! Wir können davon ausgehen, daß unser Täuschungsmanöver funktioniert hat und Krosac noch immer nicht weiß, wo Andreja Tvar ist, obwohl er vermutlich raus hat, daß er noch lebt. Wenn wir einen solchen Zirkus machen, wird sich Krosac -sofern er auf der Lauer liegt -seinen Teil denken. Und er wird auf der Lauer liegen.«

»Was also schlagen Sie vor?« fragte Vaughn aggressiv.

»Mr. Van sollte so unauffällig wie möglich zu seiner Hütte eskortiert werden -von einem Mann, nicht sechsen. Dann können Sie auch gleich eine ganze Armee mitschicken! Und er

muß allein gelassen werden. Als Old Pete ist er sicher. Je weniger Aufhebens wir davon machen, desto besser für Mr. Van.«

»Und Mr. Tvar -ich meine -Mr. Megara?« stotterte Isham. Es schien ihm Schwierigkeiten zu bereiten, sich für einen der zwei zur Auswahl stehenden Namen zu entscheiden. »Sollen wir ihn auch sich selbst überlassen?«

»Natürlich nicht! Krosac erwartet doch, daß Megara von uns bewacht wird, also lassen wir ihn bewachen, und zwar so demonstrativ wie möglich!«

Während ihr Schicksal verhandelt wurde, schwiegen die Brüder und tauschten nur gelegentlich verstohlene Blicke; Megaras ernstes Gesicht verfinsterte sich zunehmend, während der Schulmeister mit verkniffenen Augen unruhig hin und her lief.

»Gibt es außerdem noch etwas, was Sie, Gentlemen, besprechen möchten, bevor Sie sich wieder trennen müssen?« fragte Isham. »Die Zeit drängt.«

»Ich habe es mir überlegt«, murmelte Van. »Ich -ich glaube, es wäre sehr unklug, nach West Virginia zurückzukehren. Ich habe das unbestimmte Gefühl, daß Krosac ...« Seine Stimme versagte. »... Ich werde dieses verfluchte Land verlassen und bis ans andere Ende der Welt -«

»Nein!« entgegnete Ellery mit fester Stimme. »Sollte Krosac den Verdacht hegen, daß Sie sich als Old Pete verkleiden, dann würden Sie ihm seine Sache erheblich erleichtern, wenn Sie Ihre Tarnung aufgäben und überstürzt die Flucht anträten. Er bräuchte Ihnen nur zu folgen. Sie müssen sich weiterhin als Old Pete verkleiden, bis wir ihm auf der Spur sind -oder zumindest bis es Hinweise darauf gibt, daß er Ihre Maske durchschaut hat.«

»Ich dachte ...« Van befeuchtete seine Lippen. »Ich bin kein sehr wohlhabender Mann, Mr. Queen. Sie halten mich wahrscheinlich für einen Feigling. Aber ich habe Jahrzehnte in Angst gelebt - in Angst vor dieser Bestie ...« Seine dunklen Augen flackerten unheimlich. »Mein Bruder Tomislav hat mir einiges Geld vermacht. Aber ich werde das Erbe ausschlagen, ich will das Geld nicht. Ich möchte nur noch fort von hier ...« Die Widersprüchlichkeit in Vans Worten rief bei allen Befremden hervor.

»Nein, Andr‘«, beschwichtigte Megara. »Wenn du das Land verlassen willst -gut, das mußt du selber wissen. Das Geld jedoch ... Ich werde es dir vorstrecken; du wirst es brauchen, wo immer du hingehst.«

»Wieviel ist es?« fragte Vaughn argwöhnisch.

»Wenig.« Megaras Züge verhärteten sich. »Fünftausend Dollar. Tom hätte es sich sehr gut leisten können ... Aber Andreja ist eben der Jüngste; und die Vorstellungen von der Erbfolge und solchen Angelegenheiten waren in der alten Heimat sehr rigide. Ich selbst -«

»Ihr Bruder Tom war der Älteste?« fragte Ellery.

Megara wurde rot. »Nein, das bin ich. Ich werde dafür sorgen, daß du einen gerechten Anteil bekommst, Andr‘ -«

»Das können Sie regeln, wie Sie wollen«, brummte Vaughn. »Aber es wäre verdammt leichtsinnig abzuhauen. Da hat Mr. Queen vollkommen recht.«

Der Schulmeister erblaßte. »Ja, wenn Sie wirklich meinen, er weiß nicht -«

»Woher denn, zum Teufel?« fuhr ihn Vaughn gereizt an. »Aber bitte; wenn Sie sich dann wohler fühlen, kann Mr. Megara dafür sorgen, daß Sie Ihr Geld bekommen und es gleich mitnehmen. Wenn Sie irgendwann unbemerkt verschwinden wollen, dann wenigstens nicht ohne einen Pfennig in der Tasche. Mehr können wir nicht für Sie tun.«

»Wenn ich meine Ersparnisse in der Hütte dazurechne«, murmelte Van, »käme da schon ein ordentliches Sümmchen zusammen. Genug, um hinzugeben, wo immer ich will ... Also gut. Ich kehre nach Arroyo zurück. Und -ich danke dir, Stephen.«

»Vielleicht«, begann der Segler lahm, »brauchst du auch mehr. Ich könnte dir ja das Doppelte -«

»Nein.« Der Schulmeister versteifte seine Haltung. »Ich will nur, was mir zusteht. Ich bin, wie du weißt, Stephen, immer meinen eigenen Weg gegangen.«

Megara ächzte, als er aus der Koje kroch, um an seinen Schreibtisch zu gehen. Er setzte sich und begann zu schreiben. Andreja Tvar lief unruhig auf und ab; nun, da man über sein Schicksal verfügt hatte, schien ihn nichts mehr zu halten. Schließlich erhob sich Megara mit einem Scheck in der Hand.

»Du wirst dich bis morgen früh gedulden müssen, Andr‘«, sagte er. »Ich werde den Scheck selbst einlösen. Du kannst dir das Geld morgen auf dem Rückweg nach West Virginia abholen.«

Van blickte sich nervös um. »Ich muß jetzt gehen. Wo kann ich die Nacht über bleiben, Inspector?«

»Meine Leute werden sich um Sie kümmern.«

Die Brüder sahen einander noch einmal lange in die Augen. »Paß gut auf dich auf, Andr‘.«

»Und du auf dich.« Beide hielten den Blick; die unsichtbare Mauer zwischen den beiden versprach einen Augenblick lang in sich zusammenzufallen. Aber sie hielt stand. Megara wandte sich ab, und der Schulmeister schlurfte mit hängenden Schultern zur Tür.

Als sie wieder an Land waren und Andreja Tvar mit einem Trupp Polizeibeamten davonmarschiert war, fragte Ellery: »Ist Ihnen auch etwas aufgefallen? -Natürlich ist es das, überflüssige Frage. Warum waren Sie, Mr. Isham, so irritiert über den Grund, den die Gebrüder Tvar für ihre Flucht aus

Montenegro angegeben haben?«

»Weil die Geschichte lächerlich ist. Fehde oder nicht ­niemand kann mir weismachen, daß drei erwachsene Männer ihre Heimat verlassen und sich falsche Namen zulegen, weil irgendein kleiner Bengel gedroht hat, sie umzubringen.«

»Ganz Ihrer Meinung.« Ellery inhalierte die laue Waldluft in tiefen Zügen. »Ich frage mich, warum Sie, Inspector, die beiden nicht auf der Stelle wegen Falschaussage verhaftet haben.« Vaughn schnaubte nur.

»Sieht ganz so aus, als hätte diese Flucht -obwohl die Krosac-Geschichte zweifellos wahr ist -handfestere Gründe gehabt als die Angst vor der Vergeltung eines Elfjährigen, nicht wahr?«

»Worauf wollen Sie hinaus, Queen?« fragte der Professor irritiert. »Ich verstehe nicht -«

»Aber das liegt doch vollkommen auf der Hand! Warum sollten denn, wie Mr. Isham sagt, drei erwachsene Männer ihr Heimatland verlassen und unter falschen Namen über den großen Teich fliehen? Na?«

»Die Polizei!« dröhnte Vaughn.

»Exakt! Sie sind geflohen, weil sie mußten, und zwar -das sage ich Ihnen -vor einer sehr viel konkreteren Gefahr als dem kleinen Krosac! An Ihrer Stelle, Inspector, würde ich mich schleunigst darum kümmern, was die europäischen Kollegen an Aktenmaterial haben!«

»Ein Telegramm nach Jugoslawien«, sagte der Inspector. »Ausgezeichnete Idee! Erledige ich noch heute abend.«

»Wie Sie sehen«, bemerkte Ellery Professor Yardley gegenüber, »ist das Leben voller absurder Überraschungen. Da fliehen sie vor einer faktischen Gefahr, und zwanzig Jahre später holt sie die potentielle ein.«


20. Zwei Dreiecke


Als Ellery, Professor Yardley, Isham und Vaughn den Ostflügel des Hauses umrundeten, hörten sie jemanden hinter sich rufen. Wie auf Befehl drehten sie sich um: Es war Dr. Temple.

»Na, hat der Kriegsrat erfolgreich getagt?« lachte er; seinen Arztkoffer hatte er irgendwo abgestellt und spazierte nun ein Pfeifchen paffend den Weg hinunter.

»Äh - ja«, erwiderte Isham.

Im selben Augenblick schoß der hochgewachsene Jonah Lincoln um die Ecke und prallte mit Ellery zusammen; Jonah machte vor Schreck einen Satz rückwärts und murmelte eine Entschuldigung.

»Temple!« rief er aufgeregt, ohne die anderen zur Kenntnis zu nehmen. »Was ist mit Megara los?«

»Kein Grund zur Beunruhigung, Mr. Lincoln«, entgegnete der Inspector kühl. »Megara hat einen Leistenbruch, das ist alles. Warum sind Sie denn so außer sich?«

Jonah wischte sich keuchend den Schweiß von der Stirn. »Hören Sie, hier gehen lauter rätselhafte Dinge vor sich, und keiner hält es für nötig, uns aufzuklären! Haben wir überhaupt keine Rechte mehr, oder wie dürfen wir das verstehen? Ich habe mitbekommen, wie Sie mit ihrem Pulk Dr. Temple zur Jacht gefolgt sind, und da dachte ich schon -«

»Daß Mr. Megara etwas zugestoßen sein könnte?« ergänzte Isham. »Nein, es ist so, wie Inspector Vaughn sagt.«

»Gott sei Dank!« Das angestaute Blut wich aus Lincolns scharfen Zügen, und er beruhigte sich etwas. Dr. Temple paffte friedlich und völlig unbeeindruckt vor sich hin. »Man weiß ja nie ... Hier geht es zu wie in einem Gefängnis«, murmelte Jonah. »Sie haben alles versucht, meine Schwester daran zu hindern, Bradwood zu betreten. Sie ist gerade von Oyster Island zurück und der Mann ...«

»Miss Lincoln ist zurückgekommen?« fragte der Inspector.

Dr. Temple nahm die Pfeife aus dem Mund. Gelassen war er nun nicht mehr. »Wann?« fragte er fordernd.

»Vor ein paar Minuten. Der Polizeibeamte wollte nicht -«

»Allein?«

»Ja. Sie -« Lincoln kam nicht dazu, seiner Entrüstung endlich Ausdruck zu verleihen. Sein Mund stand offen und schien sich nie wieder schließen zu wollen. Auch die anderen waren wie gelähmt.

Von irgendwo im Haus kam ein hysterisches, schrilles Lachen.

»Hester!« rief Dr. Temple und schoß, indem er Lincoln unsanft zur Seite stieß, um die Ecke.

»Um Gottes willen«, flüsterte Isham heiser. »Was zum Teufel war das?«

Lincoln rappelte sich hoch und stürzte dem Arzt hinterher. Ellery war ihm augenblicklich auf den Fersen, und auch die anderen hechelten hinterdrein.

Der Schrei war aus dem oberen Stock des Hauses gekommen. Als sie in der Eingangshalle anlangten, ließen sie einen leichenblassen Stallings hinter sich. Der runde Kopf von Mrs. Baxter reckte sich aus einer Hintertür.

Im oberen Stock befanden sich die Schlafzimmer. Als sie dort ankamen, sahen sie gerade noch, wie der drahtige Doktor in einem der Zimmer verschwand. Das hysterische Lachen hielt an; stoßartig preßte es eine Frau aus ihren Lungen hervor.

Sie fanden Dr. Temple, der Hester Lincoln in seinen Armen hielt, ihr zerzaustes Haar glättete und beruhigend auf sie einsprach. Das Gesicht des Mädchens war purpurrot angelaufen; ihre Augen schienen nichts zu sehen. Ihr Mund war aufgerissen und häßlich verzerrt. Das Mädchen schien jegliche Kontrolle über seine Stimmbänder verloren zu haben.

»Ein hysterischer Anfall!« schnaufte der Doktor über seine Schultern hinweg. »Helfen Sie mir, sie aufs Bett zu tragen!«

Vaughn und Jonah sprangen auf die junge Frau zu, woraufhin ihr Gekreisch doppelte Lautstärke annahm und sie sich mit Händen und Füßen zu wehren begann. Im selben Moment gewahrte Ellery tippelnde Schritte im Flur. Als er sich umdrehte, sah er Mrs. Brad im Neglige vor sich stehen; auch Helene erschien im Türrahmen.

»Was ist denn los?« keuchte Mrs. Brad. »Was ist passiert?«

Helene drückte sich an ihrer Mutter vorbei. Dr. Temple zwang das wild strampelnde Mädchen auf das Bett nieder und verpaßte ihr eine heftige Ohrfeige. Ein Schrei noch drang aus ihrer Kehle, bevor sie ganz verstummte. Hester richtete sich halb im Bett auf und starrte in das blasse, schwammige Gesicht von Mrs. Brad. Plötzlich schien sie ihre Umgebung wieder wahrzunehmen, und ein unmenschlicher Haß bemächtigte sich ihrer Züge.

»Ich hasse Sie, hasse Sie und alles, was Ihnen gehört. Raus hier, sage ich, raus hier!«

Mrs. Brads volle Lippen bebten. Ihre Schultern zitterten, während sie Hester fassungslos anstarrte. Dann stöhnte sie auf, drehte sich auf dem Absatz herum und stürzte hinaus.

»Sei still, Hester!« sagte Helene wütend. »Du weißt ja nicht mehr, was du redest! Hast du denn gar keinen Anstand im Leib? Sei jetzt ein braves Kind und gib endlich Ruhe!« Hesters Augen schienen sich in ihren Höhlen um die eigene Achse zu drehen; ihr Kopf fiel zur Seite, und sie sackte auf dem Bett in sich zusammen.

»Hinaus!« brüllte Dr. Temple. »Und zwar alle!«

Er legte das bewußtlose Mädchen behutsam auf den Rücken, während die anderen langsam den Raum verließen. Jonah, der zugleich verlegen und erleichtert schien, schloß leise die Tür hinter ihnen.

»Ich frage mich, was den Anfall ausgelöst hat«, sagte Isham stirnrunzelnd.

»Bei der Hysterie handelt es sich um die gängige weibliche Reaktion auf ein zutiefst aufwühlendes Erlebnis«, dozierte Ellery. »Habe ich das richtig in Erinnerung?«

»Das moralische Gewissen einer Neuengländerin«, murmelte der Professor, »in vollem Ausbruch.«

»Warum hat sie die Insel verlassen?« fragte Vaughn.

Jonah grinste schwach. »Nun, da es sowieso vorbei ist, kann ich es Ihnen auch erzählen. Hester hatte sich in diesen Widerling Romaine von Oyster Island verguckt. Aber jetzt ist sie schleunigst zurückgekommen. Es sieht ganz so aus, als habe er sich ihr -äh -unsittlich genähert.« Sein Gesicht wurde grimmig. »Ein weiteres Hühnchen, das ich mit diesem verdammten Schuft noch zu rupfen habe! Aber andererseits bin ich ihm auch zu Dank verpflichtet: Er hat ihr die Augen geöffnet und unfreiwillig dafür gesorgt, daß sie erkennt, wie weit sie vom rechten Wege abgewichen ist.«

Der Inspector bemerkte trocken: »Geht mich zwar nichts an; aber hat Ihre Schwester im Ernst geglaubt, daß er ihr Gedichte vorliest?«

Die Tür ging auf, und Dr. Temple erschien. »Der akute Anfall ist vorüber. Sie braucht jetzt vor allem viel Ruhe«, erklärte er. »Miss Brad, Sie können hereinkommen.« Helene nickte und schloß sachte die Tür hinter sich. »Sie wird wieder gesund werden. Ich gebe ihr jetzt etwas zur Beruhigung; dafür muß ich aber meine Tasche -« Hastig eilte er die Stufen hinunter.

Jonah starrte ihm nach. »Als sie vorhin zurückkam, hat sie mir versichert, sie wolle mit Romaine und dem verfluchten Nudistenkram nichts mehr zu tun haben. Sie will fort von hier ­nach New York, sagt sie. Will allein sein. Das wird ihr gut tun.«

»Bestimmt«, sagte Isham. »Wo ist Romaine jetzt?«

»Auf der Insel, nehme ich an. Hier hat er sich jedenfalls nicht blicken lassen, der dreckige -« Jonah verkniff sich weitere Kraftausdrücke und zuckte statt dessen mit den Schultern.

»Darf Hester Bradwood verlassen, Mr. Isham?«

»Nun Was meinen Sie, Vaughn?«

Der Inspector massierte sein Kinn. »Spricht nichts wirklich dagegen, solange wir wissen, wo wir sie erreichen können, wenn wir sie brauchen.«

»Übernehmen Sie die Verantwortung dafür, Mr. Lincoln?«

Jonah nickte eifrig. »Sie haben mein Wort darauf!«

»Ganz nebenbei gefragt«, warf Ellery ein. »Was hat Ihre Schwester eigentlich gegen Mrs. Brad?«

Jonahs Lächeln erstarb; es war, als ginge hinter seinen Augen ein Vorhang zu. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte er knapp. »Ich würde dem auch keine weitere Bedeutung beimessen. Sie wußte nicht, was sie sagte.«

»Eigenartig«, sagte Ellery. »Und dabei wollte es mir so scheinen, als hätte sie ganz genau gewußt, wovon sie sprach. Ich denke, Inspector, es wäre sicher nicht verkehrt, wenn wir uns einmal mit Mrs. Brad darüber unterhielten.«

»Ich fürchte -«, begann Lincoln und starrte dann wie gebannt die Stufen hinunter.

Einer von Vaughns Leuten stand am Fuß der Treppe.

»Dieser Romaine und der Alte«, sagte er, »sind unten am Kai und wollen Sie sprechen, Chief.«

Der Inspector rieb sich die Hände.

»Na, wie gefällt uns das? In Ordnung, Bill, ich komme. Den kleinen Plausch mit Mrs. Brad müssen wir leider verschieben, Mr. Queen. Aber die läuft uns ja nicht weg.«

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mitkäme?« fragte Jonah leise. Seine rechte Faust hatte sich bereits geballt.

»Hmm«, erwiderte der Inspector, betrachtete die Faust und grinste breit. »Überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, Mr. Lincoln!«

So machten sie sich auf den Weg - in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. In der Nähe des Tennisplatzes trafen sie auf Dr. Temple, der, offensichtlich in wichtiger Mission, mit seiner Arzttasche und einem flüchtigen Lächeln an ihnen vorbeieilte. Er war offensichtlich von seinem eigenen Grundstück im Osten nach Bradwood herübergekommen und den beiden Besuchern von Oyster Island nicht begegnet.

In Jonahs Gesicht war ein schweres Gewitter aufgezogen.

Bald ragte die mächtige, braungebrannte Gestalt Paul Romaines bedrohlich vor ihnen auf. Der knochige, vergleichsweise winzige Stryker hockte schlotternd in einem kleinen Motorboot, das am Landesteg festgemacht war. Beide Männer waren bekleidet; der unsterbliche Ra-Haracht hatte auf sein weißes Gewand und sein Zepter verzichtet, ganz so als ahne er vage, daß dieser Aufzug ihn eher sterblich denn göttlich erscheinen ließ. Das Polizeiboot schaukelte nicht weit vom Ufer auf dem Wasser, und mehrere Polizisten leisteten Romaine Gesellschaft.

Der brünette Hüne stand breitbeinig auf den Holzplanken; das lebhafte Inselgrün am Horizont und der weiße, schlanke Bootskörper der in den Fluten treibenden Helene bot in gewisser Weise den passenden Hintergrund. Was immer sonst von ihm zu halten war -er war sicher kein Mann, der offene Worte scheute. Dennoch war es nicht schwer, seinem unsicheren Grinsen zu entnehmen, daß er sich zur Abwechslung vorgenommen hatte, freundlich zu sein.

Ohne Umschweife begann er: »Wir wollen Sie nicht lange aufhalten, Inspector. Aber eine Sache möchten wir gerne klären.« Er klang friedfertiger als sonst, und sein Blick war fest auf Vaughn gerichtet. Es gelang ihm, Jonah Lincoln völlig zu ignorieren -der seinerseits ruhig atmete und Romaine beinahe neugierig betrachtete.

»Kommen Sie zur Sache«, brummte der Inspector. »Worum geht’s?«

Romaine sah sich kurz nach der eingefallenen Gestalt hinter ihm um. »Sie haben es bald geschafft, das Geschäft Seiner Herrlichkeit vollends zu ruinieren. Noch immer halten Sie unsere Gäste auf der Insel fest.«

»Kommt Ihnen doch entgegen, oder?«

»Schon«, fuhr Romaine geduldig fort, »aber nicht so, wie wir es gerne hätten. Sie sind total verängstigt, wie ein Haufen Kleinkinder. Die wollen einfach weg, und Sie lassen sie nicht. Trotzdem geht es uns nicht um diese Leute, sondern um die potentiellen Kunden, die Sie uns verscheuchen.«

»So, so.«

»Wir bitten um Erlaubnis, die Insel zu verlassen.«

Plötzlich erhob sich Stryker in seinem Motorboot. »Das ist Verfolgung!« krächzte er. »Der Prophet gilt nirgends weniger als im eigenen Vaterland! Haracht verlangt das Recht, das Evangelium der Sonne zu predigen ...«

»Ruhe!« zischte Romaine. Der verrückte Alte starrte ihn an und setzte sich wieder.

»Schwachsinn«, sagte der Professor leise; er war ganz blaß geworden. »Gesammelter Schwachsinn! Der Mann hat völlig den Verstand verloren. Zitiert Matthäus, bringt ägyptische und christliche Theologie durcheinander ...«

»Die kann ich Ihnen nicht geben«, erwiderte der Inspector ungerührt.

Romaines rassiges Gesicht wurde zur furchterregenden Fratze. Er machte einen Schritt nach vorn und ballte die Fäuste, woraufhin die Polizisten zu beiden Seiten voller Erwartung naher an ihn heranrückten. Doch kurioserweise obsiegte Romaines Bemühen um Friedfertigkeit, und die Zorneswogen glätteten sich wieder.

»Warum nicht?« fragte er und mußte gewaltig schlucken. »Sie haben nichts gegen uns in der Hand, Inspector. Wir haben uns doch mustergültig benommen, oder sehen Sie das anders?«

»Ich wiederhole mich ungern: Ich lasse Sie und den alten Ziegenbock da vorerst nicht ziehen. Klar waren Sie schön brav, aber ich brauche Sie ja nicht erst darauf hinzuweisen, daß Sie sich ohnehin am Rande der Legalität bewegen, Romaine. Wo waren Sie an dem Abend, an dem Thomas Brad ermordet wurde?«

»Wie ich schon sagte: auf der Insel.«

»Ach ja?« erwiderte der Inspector ausgesucht freundlich.

Anstatt erneut aufzubrausen, wurde Romaine -zu Ellerys Erstaunen -auf einmal sehr nachdenklich. Die Nasenflügel des Inspectors bebten; durch schieren Zufall, so schien es, war er auf etwas gestoßen. Isham öffnete den Mund, doch Vaughn stupste ihn an, und so schloß er ihn wieder.

»Nun?« brummte Vaughn. »Ich kann hier nicht bis in alle Ewigkeit rumstehen. Spucken Sie‘s schon aus!«

»Angenommen«, begann Romaine vorsichtig, »ich könnte zweifelsfrei beweisen, wo ich in dieser Nacht war, aufgrund der Aussage eines absolut glaubwürdigen Zeugen -wäre ich damit aus dem Schneider?«

»In einem solchen Fall«, sagte Isham, »würden wir darüber sicher noch einmal nachdenken, Romaine.«

Hinter ihnen regte sich etwas; doch nur Ellery nahm es wahr. Jonah Lincoln konnte sich offenbar nicht mehr zurückhalten; er knurrte leise und versuchte, in den Kern der Gruppe vorzustoßen. Doch ehe er dazu ansetzen konnte, spürte er Ellerys Griff um seinen Bizeps. Der Muskel spannte sich und schwoll, doch Jonah nahm rechtzeitig Vernunft an.

»Also gut«, sagte Romaine. Er war recht blaß um die Nase. »Ich hatte zwar eigentlich nicht vor, darüber zu reden, weil ­nun ja, weil es von manchen Leuten mißverstanden werden könnte. Aber wir müssen endlich hier weg ... Ich war -«

»Romaine!« fauchte Jonah. »Noch ein Wort, und ich bring‘ dich um!«

Vaughn drehte sich verärgert herum. »Na, na! Jetzt machen Sie mal halblang, Lincoln! Halten Sie sich gefälligst da raus!«

»Du hast verstanden, Romaine!«

Romaine schüttelte seinen wuchtigen Kopf und lachte nur, ein hartes, bellendes Lachen, bei dem sich Ellerys Nackenhaare sträubten. »Pah!« bellte er. »Du brauchst wohl mal wieder ‘ne kalte Dusche! Hör zu: Mir verbietet hier keiner das Wort, schon gar nicht so‘n Milchgesicht wie du! -So, und jetzt zu meinem Alibi, Inspector. Zwischen halb elf und halb zwölf in der Mordnacht -«

Ohne ein weiteres Wort machte Jonah einen Satz nach vorn und drosch mit den Armen um sich. Mit einem Ächzen gelang es Ellery gerade noch, mit einem Arm seinen Hals zu umschließen und ihn zurückzureißen, bis einer der Polizisten sich in das Handgemenge einmischte und Jonah in den Würgegriff nahm. Nach kurzem Kampf gab Jonah schließlich auf, er keuchte heftig und fixierte Romaine mit ohnmächtiger Mordlust.

Romaine sagte knapp: »Ich war mit Mrs. Brad auf der Insel.«

Jonah schüttelte Ellerys Arm ab. »Also gut«, sagte er kalt. »Er hat es gewagt. Dann lassen Sie ihn seine dreckige Geschichte eben erzählen.«

»Wie meinen Sie das -mit Mrs. Brad auf der Insel?« hakte der Inspector nach. »Mit ihr allein?«

»Mein Gott, seid ihr Hornochsen schwer von Begriff!« höhnte Romaine. »Genau das habe ich doch gerade gesagt! Wir haben etwa eine Stunde nah beim Ufer verbracht, unter dem Schutz der Bäume.«

»Wie ist Mrs. Brad an dem Abend zur Insel gelangt?«

»Wir waren verabredet. Ich habe am Anlegesteg von

Bradwood in meinem Boot auf sie gewartet. Kurz nachdem ich festgemacht hatte, ist sie auch schon aufgetaucht. Das war kurz vor halb elf.«

Inspector Vaughn entnahm einer seiner Taschen eine traurig zugerichtete Zigarette und stopfte sie sich in den Mund. »Fahren Sie jetzt zurück zur Insel«, sagte er, »wir werden Ihre Aussage überprüfen. Und vergessen Sie Ihren Opa nicht ... Und Sie, Mr. Lincoln«, brummte er, indem er Romaine den Rücken zuwandte, »dürfen dieser stinkenden Hyäne hier jetzt gern ein paar aufs Maul geben, wenn Sie möchten. Ich -äh -gehe zum Haus zurück.«

Romaine stand mit zusammengezogenen Augenbrauen auf dem Kai. Die Polizisten rückten von ihm ab. Jonah zog hastig sein Jackett aus, rollte die Hemdsärmel hoch und trat auf Romaine zu.

»Erstens«, keuchte Jonah, »weil du meine Schwester belästigt hast. Und zweitens, weil du einer sehr törichten Frau den Kopf verdreht hast ... Los, wehr dich, Romaine!«

Der verrückte Alte klammerte sich an das Dollbord des Bootes und kreischte: »Paul, komm da weg!«

Romaine sah langsam in die feindseligen Gesichter um ihn herum. »Zieh mal erst deine Windeln aus!« Er zuckte mit seinen mächtigen Schultern und wollte sich schon zum Gehen abwenden.

Da krachte Jonahs Faust gegen seine Kieferknochen. Es war ein kraftvoller, gut gezielter Schlag; alle Wut, die sich in Jonah über Wochen angestaut hatte, entlud sich darin. Ein Mann von gewöhnlicher Statur wäre ohnmächtig zu Boden gegangen; Romaine jedoch war stark wie ein Bulle. Er schwankte nur leicht. Seine Augen wurden zu Schlitzen, und ein tiefes Fauchen, das ihm alle Menschenähnlichkeit nahm, drang aus seiner Kehle. Seine keulenartige Faust schnellte vor und verpaßte Jonah einen Aufwärtshaken, mit dem er ihn für

Sekundenbruchteile vom Boden hochhob und ihn dann auf die hölzernen Planken krachen ließ, wo er bewußtlos liegenblieb.

Inspector Vaughn hatte seine gute Laune eingebüßt und mochte überdies nicht länger zusehen. »Zurück!« brüllte er und schoß pfeilschnell vor. Doch Romaine sprang mit erstaunlicher Behendigkeit in das Motorboot, in dem Stryker kauerte, brachte es mit seiner Wucht beinahe zum Kentern und stieß es mit einer einzigen Bewegung seiner Pranke vom Ufer ab.

Der Motor knatterte los, und das Boot zischte in Richtung Oyster Island davon.

»Macht die Barkasse klar!« befahl der Inspector ruhig. »Ihr bringt den armen Kerl zum Haus zurück. Ich bin in ein paar Minuten wieder da. Dieser Vogel braucht ‘ne Lektion!«

Während die Barkasse losschäumte und die Verfolgungsjagd aufnahm, kniete Ellery neben dem geschlagenen Gladiator nieder und bearbeitete vorsichtig seine fahlen Wangen. Yardley legte sich bäuchlings auf die Planken und bespritzte sein Gesicht mit Wasser.

Die Polizisten feuerten über das Wasser hinweg den Inspector an, der wie Captain Ahab im Bug der Barkasse stand und sein Jackett abstreifte.

Ellery träufelte Wasser auf Jonahs Gesicht. »Und wieder einmal«, bemerkte er Yardley gegenüber trocken, »hat die Gerechtigkeit gesiegt. -Sie können ruhig aufwachen, Lincoln, der Krieg ist vorbei!«

Sie hatten es sich gerade auf der Veranda der Kolonialvilla bequem gemacht, als Inspector Vaughn nach einer Viertelstunde um die Ecke bog. Jonah Lincoln saß in einem Schaukelstuhl und umklammerte seinen Unterkiefer mit beiden Händen, als sei er überrascht, ihn noch am alten Platz vorzufinden. Ellery, Isham und Yardley beachteten ihn nicht; sie hatten ihm den Rücken zugekehrt und pafften friedlich vor sich hin.

Vaughns Gesicht, obwohl nicht gerade von engelsgleicher Anmut -seine Nase war blutverschmiert, und eine Platzwunde klaffte unter dem rechten Auge -, verriet dennoch, daß er mit dem Ergebnis des Zweikampfes äußerst zufrieden war.

»Hallo!« rief er vergnügt und nahm die Stufen der Veranda zwischen den großen Säulen. »Nun, Mr. Lincoln, ich hab‘ das mal eben für Sie erledigt. War ein harter Kampf, aber eines kann ich Ihnen versichern: Unser Herzensbrecher wird sich in den nächsten Wochen vor keinen Spiegel mehr trauen!«

Jonah stöhnte. »Ich - Himmel, ich habe einfach die Kraft nicht. Ich bin bestimmt keine Memme. Aber dieser Romaine ist - ist ein Goliath.«

»Tja, und ich war sein kleiner David.« Vaughn lutschte an einem verstauchten Fingerknöchel. »Ich hatte schon befürchtet, den Alten trifft der Schlag, schließlich habe ich seinen Lieblingsjünger versohlt! Ketzerei nennt man das, nicht wahr, Professor? Am besten lassen Sie mal Ihre Wunden säubern, Lincoln.« Er begann zu schmunzeln. »Aber zurück zur Arbeit. Sind Sie Mrs. Brad begegnet?«

Jonah stand plötzlich auf und lief ins Haus.

»Sie wird wohl noch oben sein«, erwiderte Isham.

»Dann würde ich mal vorschlagen«, sagte Vaughn, »wir

unterhalten uns mit ihr, bevor Lincoln es tut. Er wirft sich als echter Gentleman vor sie, aber dies ist eine offizielle Untersuchung, und zur Abwechslung sollte uns mal einer die Wahrheit erzählen.«

Helene, so schien es, war noch immer bei Hester Lincoln. Stallings vermutete auch Dr. Temple im oberen Stockwerk; der Doktor war zumindest nicht mehr die Treppe heruntergekommen, seit er mit der Arzttasche in Hesters Zimmer verschwunden war.

Sie waren gerade rechtzeitig oben, um mitzubekommen, wie Jonah in seinem eigenen Schlafzimmer verschwand. Stallings führte sie schließlich zu einem Zimmer ganz am Ende des Flurs. Der Inspector klopfte an.

Mrs. Brad fragte leise: »Wer ist da, bitte?«

»Inspector Vaughn. Dürfen wir hereinkommen?«

»Wer? - Oh, einen Augenblick bitte!« In ihrer Stimme schwang Panik mit. Nach einer Weile öffnete sich die Tür einen Spaltbreit. Mrs. Brads recht reizvolles Gesicht erschien im Türrahmen; ihre Augen waren feucht und angstgeweitet. »Worum geht es, Inspector? Mir - mir geht es nicht gut.«

Vaughn drückte die Tür sanft auf. »Ich weiß. Aber es ist wichtig.«

Sie trat zurück und ließ die Männer herein. Ihr Schlafzimmer strahlte überbordende Weiblichkeit aus: Es roch nach schwerem Parfüm, überall waren Spiegel, die Fenster zierten Rüschengarden, und der Schminktisch war mit Kosmetika übersät. Mrs. Brad wich immer weiter zurück und zog ihr Neglige fester um die Schultern.

»Mrs. Brad«, begann Isham, »wo waren Sie zwischen halb elf und halb zwölf in der Mordnacht?«

Sie ließ ihr Neglige los, hielt inne, schien kaum noch zu atmen. »Wie meinen Sie das?« preßte sie schließlich hervor. »Ich war mit meiner Tochter im Theater, und mit -«

»Paul Romaine«, fiel Vaughn ihr sanft ins Wort, »behauptet, Sie wären mit ihm auf Oyster Island gewesen.«

»Paul ...« Ihre dunklen Augen blickten die Männer gequält an. »Er - er behauptet das?«

»Ja, Mrs. Brad«, erwiderte Isham ernst. »Wir können uns denken, wie unangenehm die Sache für Sie sein muß, und es geht uns auch nichts an, wenn es nur das ist. Sagen Sie uns einfach die Wahrheit, und wir werden nicht mehr darauf zurückkommen.«

»Er lügt!« schrie sie und setzte sich in einen der Chintzstühle.

»Nein, Mrs. Brad. Er sagt die Wahrheit. Seine Aussage stimmt mit der Tatsache überein, daß Sie und Miss Brad zwar zusammen zum Park-Theater gefahren sind, aber nur ihre Tochter und Mr. Lincoln mit dem Taxi von dort zurückgekehrt sind. Sie stimmt ebenso mit der Tatsache überein, daß der Portier des Theaters beobachtet hat, daß eine Frau Ihrer Beschreibung in der Mitte des ersten Aktes -also etwa um neun Uhr -das Haus verlassen hat ... Romaine sagt, er sei mit Ihnen verabredet gewesen, und Sie seien auch pünktlich an der Anlegestelle erschienen.«

Die Frau hielt sich die Ohren zu. »Bitte«, stöhnte sie. »Ich war von Sinnen. Ich weiß auch nicht, wie es soweit kommen konnte. Ich habe mich benommen wie eine dumme Gans ...« Die Männer tauschten Blicke. »Hester haßt mich. Sie wollte ihn auch. Sie dachte, er -er meint es ehrlich -« Auf ihrem Gesicht erschienen Runzeln, als hätte man sie frisch eingeritzt. »Dabei ist er der falscheste Hund, den man sich überhaupt nur vorstellen kann!«

»Er wird sich bei den Damen eine ganze Weile zurückhalten müssen, Mrs. Brad«, bemerkte Vaughn mit einem Unterton der Genugtuung. »Niemand verurteilt Sie. Schließlich ist es Ihr Leben. Und wenn Sie dumm genug waren, sich mit diesem Aufschneider einzulassen, dann sind Sie damit genug gestraft. Alles, was uns interessiert, ist folgendes: Wie sind Sie nach Hause gelangt, und was ist in der betreffenden Nacht geschehen?«

Sie rang ihre Hände und wurde von heiserem Schluchzen geschüttelt. »Ich -ich habe mich zu Beginn der Vorstellung aus dem Theater geschlichen; Helene habe ich nur gesagt, mir ginge es nicht gut, bestand aber darauf, daß sie blieb und auf Jonah wartete ... Dann bin ich zur Pennsylvania Station gelaufen und

habe den ersten Zug zurück genommen. Ich hatte Glück und brauchte nicht lange zu warten. Ich -ich bin dann eine Station zu früh ausgestiegen und mit dem Taxi in die Nahe von Bradwood gefahren. Den Rest bin ich zu Fuß gelaufen. Niemand schien noch auf zu sein, so ...«

»Sie wollten verhindern«, sagte Isham einfühlsam, »daß Mr. Brad ihre Rückkehr bemerkt. Wir verstehen.«

»Ja«, flüsterte sie. Ihr Gesicht war von einem ungesunden Grau-Rot durchtränkt. »Ich habe - ihn dann am Kai getroffen.«

»Wann war das?«

»Kurz vor halb elf.«

»Sind Sie sicher, daß Sie nichts gehört oder gesehen haben? Auch, daß Sie niemandem begegnet sind?«

»Ja.« Erschrocken sah sie auf. »Oh, glauben Sie denn nicht, daß ich Ihnen -das alles -erzählt hätte, wenn ich jemanden gesehen oder etwas beobachtet hätte? Als ich zurückkam, bin ich ins Haus geschlichen und sofort in meinem Zimmer verschwunden.«

Isham wollte gerade noch eine Frage nachschieben, als leise die Tür aufging und Helene Brad erschien. Sie blieb stehen und ließ ihren Blick vom zerknirschten Gesicht ihrer Mutter zu den Männern wandern.

»Was ist hier los, Mama?« fragte sie energisch.

Mrs. Brad vergrub ihr Gesicht in den Händen und begann zu weinen.

»Also ist es heraus«, flüsterte Helene und schloß die Tür hinter sich. »Du hast es nicht für dich behalten können.« Voller Verachtung blickte sie von Vaughn zu Isham und ging zu der schluchzenden Frau hinüber. »Hör auf zu weinen, Mama. Wenn es raus ist, ist es raus; und nur der Himmel weiß, wie viele andere Frauen es schon gegeben hat, die versucht haben, romantische Gefühle wiederzubeleben und damit genauso kläglich gescheitert sind ...«

»Lassen Sie uns weitermachen«, sagte Vaughn. »Uns ist die Angelegenheit genauso unangenehm wie Ihnen, meine Damen. Woher haben Sie, Miss Brad, und Lincoln eigentlich gewußt, wo Ihre Mutter sich nachts aufgehalten hat?«

Helene setzte sich neben ihre Mutter und begann, ihren breiten Rücken zu tätscheln. »Tut mir leid, Mama ... Als meine Mutter an dem Abend aus dem Theater verschwand, da -nun ja, da wußte ich es bereits, was sie aber wiederum nicht wußte. Ich hätte ja auch etwas sagen können ...« Sie blickte zu Boden. »Ich beschloß, auf Jonah zu warten; uns beiden waren gewisse - äh ­Dinge aufgefallen. Als er dann kam, habe ich ihm meine Beobachtung mitgeteilt, und wir sind nach Hause gefahren. Ich habe sofort hier nachgesehen, doch Mutter lag in ihrem Bett und schlief fest ... Am nächsten Morgen jedoch, als Sie die -die Leiche fanden ...«

»Hat Sie Ihnen alles gebeichtet?«

»Ja.«

»Wenn ich noch zwei Fragen stellen dürfte«, begann Ellery sachlich. Die großen Augen des Mädchens, die sie eindeutig von der Mutter hatte, richteten sich erstaunt auf ihn. »Wann haben Sie zum ersten Mal bezüglich ihrer Mutter Verdacht geschöpft, Miss Brad?«

»Oh!« Sie schüttelte den Kopf, als hätte sie heftige Schmerzen. »Das liegt viele Wochen zurück.«

»Glauben Sie, Ihr Stiefvater hat davon gewußt?«

Plötzlich hob Mrs. Brad den Kopf, das rotfleckige Gesicht von Tränen übersät. »Nein!« schrie sie. »Nein!«

Helene flüsterte: »Ich bin sicher, daß er nichts geahnt hat.«

»Ich denke, das reicht«, verkündete Isham und ging zur Tür. »Kommen Sie.« Er trat auf den Flur.

Benommen folgten ihm Inspector Vaughn, Professor Yardley und Ellery.


21. Der Streit der Liebenden


»Ein Meer von Nichtigkeiten«, klagte Ellery am Abend, als er mit Yardley auf dem Rasen vor dessen Haus saß, von wo sie zum sternklaren Nachthimmel über Long Island aufblickten.

»Hmm«, brummte der Professor, und seine Pfeife spie glühenden Tabak aufs Gras. »Um ehrlich zu sein, Queen«, stichelte er, »hatte ich gehofft, daß Sie jetzt endlich eines Ihrer berühmten Feuerwerke abfackeln.«

»Immer mit der Geduld. Aber wenn Sie unbedingt ein Feuerwerk sehen wollen, haben Sie heute gar nicht so schlechte Karten, denn heute ist der Tag der Unabhängigkeit Da! Eine Leuchtkugel!«

Schweigend beobachteten sie einen langen, gleißenden Lichtpfeil, der senkrecht in den schwarzen Himmel schoß, zerbarst und in leuchtenden Farben niederregnete. Als wäre damit ein Startsignal gefallen, explodierte plötzlich ganz Long Island; und eine Zeitlang saßen sie nur da und bewunderten die Farbenpracht über der Nordküste. Jenseits des Sundes konnte man im Himmel über dem fernen New York einzelne Lichtblitze wie winzige Leuchtkäfer erkennen.

Der Professor grantelte: »Ich habe so viel überschwengliches Lob über Ihr pyrotechnisches Geschick bei Kriminalfällen gehört, daß die Realität sich vergleichsweise - entschuldigen Sie bitte das Sakrileg -ernüchternd ausnimmt. Wann legen Sie endlich los, Queen? Ich meine -wann macht Sherlock Holmes endlich Simsalabim und läßt die Handschellen klicken?«

Ellery starrte finster auf die verrückten Lichterspiele über dem großen Teich. Manchmal denke ich, ein solches Loslegen wird es nicht geben - und damit auch keine Lösung.«

»Sieht jedenfalls nicht so aus.« Yardley nahm die Pfeife aus dem Mund. »War meines Erachtens auch falsch, die Polizisten

abzuziehen. Temple hat mir heute morgen davon berichtet; er sagte, der Colonel der County Polizei habe den Befehl dazu erteilt. Ich sehe noch immer nicht ein, warum.«

Ellery zuckte die Achseln. »Warum nicht? Krosac ist lediglich hinter zwei Personen her - Stephen Megara und Andrew Van, oder den Tvars, oder wie auch immer Sie sie nennen mögen; Megara ist durch die isolierte Lage auf dem Wasser und Vaughns Leute ausreichend geschützt; und Van verschanzt sich als Old Pete in den Bergen. Im Zusammenhang mit Brads Ermordung habe ich Beobachtungen gemacht, die recht aufschlußreich sein könnten, wenn man sie einander richtig zuordnete. Aber bislang fehlt mir der rote Faden.«

»Was für Beobachtungen? Ich wüßte nicht -«

»Wirklich nicht?« Ellery hielt inne, als sich ein Goldregen in den Himmel ergoß. »Sie haben also übersehen, welch ungemein interessante Geschichte allein die Damesteine erzählen?«

»Die Damesteine?« Yardleys kurzer Bart zeichnete sich umrißhaft vor dem glühenden Pfeifenkopf ab. »Ich muß zugeben, daß keines der Details, die Brads letztes Abendmahl betreffen -wenn ich so sagen darf -, mein spezifisches Interesse geweckt hätte.«

»Dann habe ich vielleicht die Chance, einen Teil meiner verlorenen Selbstachtung wiederzugewinnen«, murmelte Ellery. »Die Geschichte ist klar. Doch verflixterweise ist sie, obwohl sie schlüssiger ist als die spontanen Vermutungen von Vaughn und Isham ...« Er stand auf und rammte seine Hände in die Hosentaschen. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen? Ich muß an die Luft, meinen Kopf klar kriegen.«

»Aber natürlich.« Der Professor lehnte sich zurück, zog an seiner Pfeife und stan7te Ellery mit neugieriger Verwunderung nach.

Ellery wandelte einsam im Licht der Sterne und der künstlichen Lichtblitze, die nur noch vereinzelt den Himmel erhellten. Sonst war es stockfinster, so finster wie es nur fernab der Städte wurde. Er überquerte die Straße, die Yardleys Grundstück von Bradwood trennte, tappte im Dunkeln herum, inhalierte die frische Abendluft, lauschte den Geräuschen, die von den festlich erleuchteten Booten auf dem Wasser herüberschallten und verzweifelte immer mehr an sich selbst.

Bradwood -Ellery sah zwei rauchende Polizisten, als er die Einfahrt hochstolperte -wirkte trostlos und verlassen; lediglich die Nachtleuchte auf der Veranda verriet, daß die Villa bewohnt war. Direkt zu seiner Rechten und in einigem Abstand zu seiner Linken ragten Bäume wie schwarze Riesen auf. Als er sich am Haus entlangschleichen wollte, brüllte eine der Wachen: »Halt! Wer da?«

Ellery hielt sich die Hände vors Gesicht, um den blendenden Strahl der Taschenlampe abzuwehren.

»Oh«, sagte der Polizist. »Verzeihung, Mr. Queen.« Das Licht ging aus.

»Junge, wie wachsam!« murmelte Ellery und setzte seinen Weg um das Gebäude herum fort.

Er fragte sich, warum er spontan in diese Richtung gegangen war, denn er näherte sich dem schmalen Pfad, der zu dem schaurigen Totempfahl und dem Gartenhaus führte. Angst lauerte in allen Winkeln -vielleicht war es auch nur die unbewußte menschliche Reaktion auf Schreckensstätten -und griff mit ihren langen Fingern nach ihm; er beschleunigte seinen Schritt und eilte daran vorbei. Dunkel lag der Hauptweg vor ihm.

Plötzlich hielt er inne. Nicht weit von ihm, etwa auf Höhe des Tennisplatzes, hörte er Stimmen.

Ellery Queen war zwar ein Gentleman, wie er im Buche steht, doch eines hatte er vom alten Inspector, seinem Vater, gelernt, der zwar die Sanftmut in Person war, jedoch zynisch wurde, sobald er es mit Verbrechen zu tun hatte: »Gespräche grundsätzlich belauschen!« pflegte Inspector Queen zu sagen. »Die einzigen Indizien, die wirklich etwas taugen, mein Sohn, sind Gespräche von Leuten, die sich unbeobachtet glauben. Sperr die Ohren auf, und du erfährst mehr als in hundert Verhören!«

Also blieb Ellery, der ein gehorsamer Sohn war, stehen und lauschte. Es waren ein Mann und eine Frau, die sich unterhielten. Obwohl ihm die Stimmen bekannt vorkamen, konnte er nichts verstehen. Doch wenn er sich schon in solche Niederungen begeben hatte, dachte er bei sich, mußte auch etwas dabei herausspringen! Mit der Gewandtheit eines Indianers sprang er vom geräuschvollen Kies auf den grasbewachsenen Wegesrand und arbeitete sich auf leisen Sohlen in die Richtung vor, aus der die Stimmen kamen.

Bald wußte er, wem sie gehörten: Jonah Lincoln und Helene Brad.

Sie saßen wohl -Ellery rief sich mühsam den Grundriß der Anlage ins Gedächtnis -an einem Gartentisch auf der Westseite des Tennisplatzes. Er schlich sich bis auf einen Abstand von anderthalb Metern an sie heran und verharrte regungslos hinter einem Baum.

»Es nützt dir nichts, es abzustreiten, Jonah Lincoln«, hörte er Helene frostig sagen.

»Aber, Helene«, erwiderte Jonah gereizt. »Ich habe dir schon hundertmal versichert, daß Romaine -«

»Unsinn! So geschwätzig ist der nicht. Nur du, ja du mit deinen verschrobenen Vorstellungen und deiner -deiner jämmerlichen Feigheit ...«

»Helene!« Jonah war tödlich verletzt. »Wie kannst du nur so etwas sagen? Es stimmt zwar, daß ich mich ritterlich zeigen und es ihm tüchtig geben wollte und daß er mich dann zusammengeschlagen hat, aber ich ...«

»Schon gut«, sagte sie, »vielleicht bin ich ungerecht, Jonah.« Es entstand eine Pause, in der, da war Ellery sicher, die junge Frau mit den Tränen kämpfte. »Man kann dir nicht vorwerfen, daß du es nicht wenigstens versucht hättest. Aber warum mußt du dich auch ständig einmischen!«

Ellery hatte die Szene so klar vor Augen, als wäre hellichter Tag. Der junge Mann hatte eine abweisende Haltung eingenommen.

»So ist das also!« sagte er verbittert. »Nun, mehr wollte ich gar nicht wissen. Ich mische mich also in alles ein! Und das auch noch, obwohl ich nicht zur Familie gehöre und nicht das geringste Recht dazu habe! Also gut, Helene. In Zukunft mische ich mich in nichts mehr ein. Ich gehe -«

»Jonah!« Panik erfaßte ihre Stimme. »Was soll das heißen? Ich wollte dich nicht -«

»Ich meine es ernst«, grollte Jonah. »Jahrelang hab‘ ich jetzt geschuftet wie ein Tier -für einen Mann, der sein Leben auf See verbringt und für einen anderen, der nur zu Hause gehockt und Dame gespielt hat! Doch damit ist es jetzt vorbei! Mit mir nicht mehr! Die verdammten Gehaltsschecks sind es nicht wert, daß ich mich weiter zum Affen mache! Ich gehe mit Hester nach New York, und das habe ich deinem verehrten Megara heute nachmittag auf seiner Jacht auch mitgeteilt! Soll er zur Abwechslung mal selber die Ärmel hochkrempeln; ich bin es leid, seine Arbeit zu tun!«

Es entstand eine kurze Pause, in der keiner der beiden etwas sagte. Ellery hinter seinem Baum seufzte. Er wußte, was nun kam.

Er hörte Helene leise ausatmen und sah im Geiste Jonahs trotzigen Gesichtsausdruck.

»Immerhin«, flüsterte sie, »kannst du nicht leugnen, daß du ­Vater einiges schuldig bist. Er - er hat unendlich viel für dich getan!« Mr. Lincoln schwieg eisern. »Und Stephen -diesmal hast du es zwar nicht angesprochen, aber ich habe dir schon tausendmal versichert, daß zwischen uns nichts ist. Warum nur mußt du dauernd so gegen ihn hetzen?«

»Ich hetze gegen niemanden«, sagte Jonah.

»Und ob du das tust! Ach, Jonah ...« Wieder Stille. Ellery hatte vor Augen, wie die junge Dame mit dem Stuhl näher rückte und sich wie Calypso über ihr Opfer beugte. »Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis.«

»Hm?« Jonah war verunsichert. Doch dann winkte er ab. »Behalt es für dich, Helene; ich will darüber überhaupt nichts wissen, Helene - wenn es um Megara geht, wie ich annehme.«

»Laß die dummen Bemerkungen, Joe. Was glaubst du wohl, warum Stephen ein ganzes Jahr auf See geblieben ist?«

»Woher sollte ich das wohl wissen? Vielleicht hat ihm auf Hawaii eine Hula-Hula-Tänzerin den Kopf verdreht?«

»Jonah! Das ist unter deiner Würde! Stephen ist keiner von diesen Kerlen, und das weißt du auch ... Nein, ich werde dir sagen warum: Weil er mir einen Heiratsantrag gemacht hat! So, jetzt weißt du‘s!«

»So, so!« grollte Jonah. »Na ja, so kann man seine junge Braut natürlich auch behandeln -einfach abhauen und ein ganzes Jahr nichts von sich hören lassen. Na, meinen Glückwunsch!«

»Aber ich - ich habe den Antrag abgelehnt!«

Ellery stöhnte leise und schlich zum Weg zurück. Die nächtliche Kulisse fand zumindest er noch immer beklemmend. Was Mr. Lincoln und Miss Brad betraf ... herrschte völlige Stille. Ellery konnte sich denken, warum.


22. Post aus Europa


»Ich habe immer stärker den Eindruck«, sagte Ellery zwei

Tage später, an einem Mittwoch, zu Professor Yardley, »daß

der Arm des Gesetzes langsam erlahmt.«

»So?«

»Die Polizei ist mit ihrem Latein am Ende. Ich kenne die Symptome. Ich habe schließlich mein bisheriges Leben mit einem Herrn Inspector verbracht, wie Sie wissen ... Inspector Vaughn ist, gelinde gesagt, überfordert. Er hat überhaupt nichts Konkretes in der Hand. Also wirft er sich in die Pose des peitschenknallenden Gesetzeshüters, scheucht Leute herum, zwingt seine Männer zu sinnlosen Aktivitäten, schnauzt seine Freunde an, ignoriert seine Kollegen -kurz: Man könnte meinen, er hat die Tollwut.«

Der Professor lachte. »An Ihrer Stelle würde ich den Fall aufgeben. Entspannen Sie sich, und schmökern Sie ein wenig in der Ilias oder sonst etwas Poetischem. Sie sitzen doch mit Vaughn in einem Boot, und das einzige, was Sie von ihm unterscheidet, ist die Eleganz, mit der Sie sich um die Tatsache herumlügen, daß es sinkt!«

Ellery gab einen unartikulierten Laut von sich und schnipste seine Zigarette ins Gras.

Er war tief bekümmert; ja, er war verzweifelt. Daß der Fall sich hartnäckig jedem logischen Lösungsansatz entzog, machte ihn nur halb so krank wie die Tatsache, daß er an Ereignislosigkeit zu ersticken drohte. Wo war Krosac? Worauf wartete er?

Mrs. Brad weinte sich in der Abgeschiedenheit ihres Boudoirs die Augen rot; Jonah Lincoln war entgegen seiner Ankündigungen in die Büros von Brad & Megara zurückgekehrt und versorgte das teppichbewußte Amerika weiter mit Importen. Helene Brad schwebte entrückt durch die Szenerie und schien kaum je den Boden zu berühren. Hester Lincoln war nach einer heftigen Auseinandersetzung mit Dr. Temple mit Sack und Pack nach New York entschwunden. Dr. Temple schlich seitdem mit seiner Pfeife im Mund durch die Anlagen von Bradwood; seine Gesichtsfarbe war dunkler denn je. Auf Oyster Island war alles still; lediglich der alte Ketcham kam gelegentlich in seinem alten Kahn herübergerudert, versorgte sich mit Lebensmitteln und nahm die Post mit auf die Insel. Fox hatte seine Arbeit wieder aufgenommen; unaufdringlich mähte er den Rasen und chauffierte die Brads.

Andrew Van hockte irgendwo in den Bergen West Virginias, und Stephen Megara blieb auf seiner Jacht. Seine Crew hatte er ausgezahlt und mit Vaughns Erlaubnis bis auf Captain Swift entlassen. Die beiden rauchenden, trinkenden, kartenspielenden Männer, die abkommandiert waren, Megara auf der Helene zu bewachen, hatte er mit der Begründung fortgeschickt, er könne bestens auf sich selbst aufpassen. Die Wasserpolizei patrouillierte jedoch noch immer den Sund.

Auch ein Telegramm von Scotland Yard vermochte die quälende Eintönigkeit nicht zu durchbrechen:


WEITERE NACHFORSCHUNGEN ZU PERCY UND ELIZABETH LYNN ERGEBNISLOS EMPFEHLEN DIE KOLLEGEN AUF DEM KONTINENT EINZUSCHALTEN


Also führte sich Inspector Vaughn weiterhin auf, als hätte er die Tollwut; und Staatsanwalt Isham zog sich einfach aus der Affäre, indem er sein Büro nicht mehr verließ. Ellery verschaffte sich in Yardleys Pool die nötige Abkühlung, wilderte in dessen Bibliothek und dankte den Göttern für die Gelegenheit, sich körperlich und geistig erholen zu können. Dennoch behielt er die Villa auf der anderen Straßenseite ständig im Auge.

Am Donnerstag morgen schlenderte Ellery zur Villa hinüber und sah Inspector Vaughn auf der Veranda sitzen. Er tupfte sich mit einem Taschentuch den Nacken, fächerte sich Luft zu und verfluchte die Hitze, die Polizei, Bradwood, den ganzen Fall und sich selbst in einem einzigen Atemzug.

»Noch immer nichts, Inspector?«

»Überall Fehlanzeigen.«

Helene Brad trat aus dem Haus; in ihrem weißen Organdy-Kleid wirkte sie frisch wie der Frühlingswind. Sie murmelte »Guten Morgen« und entschwand in westlicher Richtung.

»Der Presse hab‘ ich grad‘ zum soundsovielten Mal den alten Kram aufgetischt. Laufende Ermittlungen. Fortschritte. Wir ersticken noch an lauter Fortschritten, Mr. Queen! Wo zum Henker steckt Krosac?«

»Eine rhetorische Frage.« Ellery legte seine Stirn in Falten und zog an seiner Zigarette. »Offen gestanden bin ich genauso ratlos wie Sie. Hat er aufgegeben? Nein. Ein Psychopath von diesem Kaliber gibt niemals auf. Wartet er vielleicht darauf, daß wir aufgeben und uns zurückziehen?«

»Fragen Sie mich doch so was nicht«, sagte Vaughn leise und dann lauter: »Ich kriege ihn, und wenn ich bis zum Jüngsten Tag hier hocken bleiben muß!«

Beide schwiegen. In dem Gärtchen, das von der Einfahrt gesäumt wurde, war Fox in Kordsamthosen mit einem ratternden Rasenmäher zugange.

Plötzlich schreckte der Inspector auf, und auch Ellery, der mit halbgeschlossenen Augen und einer Zigarette im Mund vor sich hin gedämmert hatte, war sofort wieder wach. Das Rattern hatte aufgehört. Fox horchte -regungslos wie ein Indianer -, ließ den Rasenmäher fallen, übersprang ein Blumenbeet und spurtete los.

Ellery und Vaughn standen irritiert auf. Der Inspector brüllte: »Fox! Was ist los?«

Doch Fox rannte gestikulierend weiter, zeigte auf die Bäume und brüllte etwas Unverständliches zurück.

Dann hörten sie es auch. Ein schwacher Schrei. Er kam vom

Grundstück der Lynns.

»Helene Brad«, schrie Vaughn. »Kommen Sie!«

Als sie auf die Lichtung vor dem Haus der Lynns kamen, kniete Fox am Boden und hielt den Kopf eines bewußtlosen Mannes. Helene, weiß wie ihr Kleid, stand daneben und griff sich an die Brust.

»Was ist passiert?« keuchte Vaughn. »Gott, das ist ja Temple!«

»Er - ich dachte, er ist tot«, wimmerte Helene.

Dr. Temple lag mit geschlossenen Augen im Gras. Sein Gesicht war aschfahl, und ein tiefer, blutiger Striemen zog sich über seine Stirn.

»Sieht nicht gut aus, Inspector«, sagte Fox ernst. »Er kommt einfach nicht zu sich.«

»Wir tragen ihn ins Haus«, beschloß Vaughn. »Fox, besorgen Sie einen Arzt. Und Sie, Mr. Queen, helfen mir bitte, ihn rüberzutragen.«

Fox sprang auf und eilte die Steinstufen des Hauses der Lynns hoch. Ellery und Vaughn hoben den Bewußtlosen vorsichtig an und folgten ihm. Sie betraten ein gemütliches kleines Wohnzimmer -oder was davon übrig war. Der Raum sah aus, als wären wilde Horden durchgezogen. Zwei Stühle waren umgekippt; die Schubladen des Sekretärs waren herausgezogen; die Wanduhr war umgestoßen und das Glas eingeschlagen worden ... Helene eilte aus dem Raum, während Ellery und Vaughn den Bewußtlosen auf das Sofa betteten, und kehrte mit einer Schüssel Wasser zurück.

Fox telefonierte wie wild. »Ich kriege Dr. Marsh, den nächsten Arzt, einfach nicht dran. Aber ich versuche -«

»Augenblick«, sagte Vaughn. »Ich glaube, er kommt zu sich.«

Helene benetzte Dr. Temples Stirn und träufelte Wasser auf seine Lippen. Er stöhnte auf, seine Augenlider zuckten; er stöhnte wieder, seine Arme zitterten, und er machte einen schwachen Versuch, sich aufzusetzen.

»Ich -«

»Nicht sprechen«, sagte Helene sanft. »Legen Sie sich wieder hin, und ruhen Sie ein wenig.« Dr. Temple sank ächzend zurück und schloß die Augen.

»Na, das ist ja ’ne schöne Bescherung«, brummte der Inspector. »Wo zum Teufel stecken die Lynns bloß?«

»Dem Zustand ihres Wohnzimmers nach zu urteilen«, erwiderte Ellery trocken, »dürften sie das Weite gesucht haben.«

Vaughn stürmte in den Nebenraum. Ellery beobachtete, wie Helene Dr. Temples Schläfen streichelte. Bald hörte man die schweren Schritte des Inspectors im ganzen Haus. Fox trat an die Vordertür und blieb dort zögernd stehen.

Vaughn kam zurück, hastete zum Telefon und rief in der Villa der Brads an. »Stallings? Inspector Vaughn. Holen Sie bitte einen meiner Männer an den Apparat ... Bill? Hören Sie zu. Die Lynns haben ’nen Abgang gemacht. Sie haben die Beschreibungen. Gesucht wegen Körperverletzung. An die Arbeit! Später mehr.«

Er drückte auf die Gabel. »Verbinden Sie mich bitte mit Staatsanwalt Ishams Büro in Mineola ... Isham? Vaughn. Alles anleiern. Die Lynns sind weg.«

Er hängte ein und ging zum Sofa hinüber. Dr. Temple schlug die Augen auf und grinste schwach.

»Gott, hat der mich bös‘ erwischt! Hab‘ ich Glück gehabt, daß er mir nicht den Schädel eingeschlagen hat!«

Helene stammelte: »Ich -ich bin rübergelaufen, um den Lynns einen Morgenbesuch abzustatten.« Ihre Stimme setzte aus. »Ich verstehe das alles nicht. Als ich hier ankam, habe ich Dr. Temple da so liegen sehen ...«

»Wie spät ist es?« fragte der Verletzte und richtete sich auf.

»Halb elf.«

Temple sackte wieder in sich zusammen. »Zweieinhalb Stunden lang war ich weg. Unglaublich! Ich erinnere mich, daß ich schon einmal kurz zu mir gekommen war und auf das Haus zu gekrochen bin -oder es zumindest versucht habe. Aber dann muß ich das Bewußtsein wieder verloren haben.«

Als Inspector Vaughn erneut zum Hörer griff, um seinem Oberleutnant die neuen Details durchzugeben, fragte Ellery: »Sie sind gekrochen? Dann sind Sie also gar nicht an der Stelle niedergeschlagen worden, an der wir Sie gefunden haben?«

»Woher soll ich denn wissen, wo Sie mich gefunden haben?« stöhnte Temple. »Aber wenn Sie so fragen -nein. Das ist eine lange Geschichte.« Er wartete, bis Vaughn eingehängt hatte. »Ich hatte Gründe anzunehmen, daß die Lynns nicht so harmlos waren, wie sie taten. Von dem Augenblick an, als ich sie zum ersten Mal sah, wußte ich, daß mit ihnen etwas nicht stimmte. Vor zwei Wochen habe ich mich im Dunkeln hergeschlichen und sie miteinander reden hören. Was ich aufschnappen konnte, bestärkte mich in meinem Verdacht. Lynn hatte gerade etwas vergraben ...«

»Etwas vergraben!« frohlockte Vaughn. Ellery zog die Augenbrauen zusammen und sah zum Inspector hinüber; beide dachten dasselbe. »Um Gottes willen, Temple! Warum haben Sie uns das nicht gleich gesagt? War Ihnen denn nicht klar, was das gewesen sein muß, was Lynn da vergraben hat?«

»Mir klar?« Temple starrte ihn ausdruckslos an, stöhnte auf, als der Schmerz erneut gegen seine Schläfen hämmerte. »Aber natürlich! Sie wissen es auch?«

»Ob wir es auch wissen! -Na, der Kopf! Brads Kopf!«

Dr. Temple war verblüfft. »Der Kopf«, wiederholte er langsam. »Auf den Gedanken war ich gar nicht gekommen ... Nein, ich dachte an etwas ganz anderes.«

»Woran?« fragte Ellery.

»Es war ein paar Jahre nach dem Krieg. Ich war endlich aus dem österreichischen Internierungslager entlassen worden und streifte durch Europa, um ein wenig den freien Auslauf zu genießen. In Budapest ... ja, da machte ich dann die Bekanntschaft eines gewissen Ehepaares. Wir wohnten im selben Hotel. Eines Tages fand man einen weiteren Gast des Hotels, einen deutschen Juwelier mit Namen Bundelein, gefesselt und geknebelt in seinem Zimmer; und eine wertvolle Kollektion, die er nach Berlin bringen wollte, war verschwunden. Er beschuldigte besagtes Ehepaar, das jedoch spurlos verschwunden war ... Als ich diesen Lynns hier vorgestellt wurde, war ich so gut wie sicher, daß es sich um dasselbe Paar handelte. Damals nannten sie sich Truxton -Mr. und Mrs. Percy Truxton ... Oh, mein Schädel! Gott, ich seh‘ immer noch Sterne. Könnte glatt als Teleskop durchgehen!«

»Ich kann es einfach nicht glauben«, murmelte Helene. »So reizende Leute! In Rom haben wir uns sofort wunderbar verstanden. Gebildet, offensichtlich wohlhabend, feine Umgangsformen ...«

»Wenn die Lynns das sind, wofür Dr. Temple sie hält«, sagte Ellery, »dann hatten sie ihre Gründe, freundlich zu Ihnen zu sein, Miss Brad. War ein Kinderspiel für die, Nachforschungen anzustellen und herauszukriegen, daß Sie die Tochter eines amerikanischen Millionärs sind. Vielleicht haben sie in Europa gerade ein Ding gedreht und ...«

»Sie haben sozusagen das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden«, fügte der Inspector hinzu. »Wahrscheinlich haben Sie recht, Doc, und sie haben Diebesgut vergraben. Was ist heute morgen passiert?«

Dr. Temple rang sich zu einem dünnen Lächeln durch. »Heute morgen? Nun, ich habe in den vergangenen zwei Wochen immer wieder einmal hier herumgeschnüffelt ... Heute morgen bin ich hergekommen, weil ich endlich zu wissen glaubte, wo sie das Zeug verbuddelt haben; ich habe schließlich die ganze Zeit danach gesucht. Ich bin also genau zu der Stelle hin, wo ich den Schatz vermutete, und habe zu graben begonnen, als dieser Kerl plötzlich vor mir stand. Dann spürte ich nur noch einen dumpfen Schlag; ich sah einen Blitz, und dann wurde mir schwarz vor Augen -das ist alles, was ich noch weiß. Ich nehme an, Lynn, oder Truxton, oder wie auch immer er heißen mag, war mir auf die Schliche gekommen. Er wußte, das Spiel war aus. Da hat er mir eins drübergegeben, die Beute ausgegraben und sich mit seiner Alten aus dem Staub gemacht.«

Als alter Soldat wollte Dr. Temple selbstverständlich selbst laufen. Auf Fox gestützt, stolperte er aus dem Haus in den Wald; die anderen folgten. Nur knapp einhundert Meter vom Waldrand entfernt stießen sie auf ein frisch ausgehobenes, nahezu quadratisches Loch von etwa fünfunddreißig Zentimetern Seitenlänge im weichen Waldboden.

»Kein Wunder, daß Scotland Yard ihnen nicht auf die Spur gekommen ist«, bemerkte Vaughn, als sie nach Bradwood zurückliefen. »Falsche Namen ... Mit Ihnen, Temple, habe ich noch ein saftiges Hühnchen zu rupfen. Warum, bitteschön, haben Sie mir die Geschichte nicht gleich erzählt?«

»Es war mein verdammter Stolz«, murmelte der Doktor kleinlaut. »Ich wollte den Triumph allein einheimsen. Außerdem war ich nicht restlos sicher. Ich wollte schließlich keine unschuldigen Leute ans Messer liefern. Aber -lassen Sie sie nicht ungeschoren davonkommen, das ertrage ich nicht!«

»Keine Sorge. Die sind noch heute abend hinter Schloß und Riegel.« Es stellte sich heraus, daß Inspector Vaughn den Mund etwas zu voll genommen hatte. Als die Dämmerung hereinbrach, befanden sich die Lynns noch immer in Freiheit. Sie waren spurlos verschwunden; niemand hatte ein Paar gesehen, das ihnen auch nur entfernt ähnelte.

»Müssen sich getrennt und maskiert haben«, knurrte Vaughn und sandte Telegramme an die Polizei in Paris, Berlin, Budapest und Wien.

Den ganzen Freitag über herrschte ebenfalls Flaute. Von den entflohenen Engländern fehlte noch immer jede Spur. Ihre Personenbeschreibungen wurden landesweit mitsamt ihren Paßbildern in Tausenden von Sheriffbüros und Polizeiwachen ausgehängt. Die Grenzen zu Mexiko und zu Kanada wurden besonders gut bewacht. Doch die Lynns bewiesen einmal mehr, wie schwierig es war, eine Stecknadel im Heuhaufen zu finden.

»Die müssen einen Unterschlupf für den Notfall gehabt haben«, kommentierte Inspector Vaughn niedergeschlagen. »Aber früher oder später gehen sie uns ins Netz. Sie können sich nicht ewig verstecken.«

Am Samstag morgen erreichten sie drei Telegramme aus Europa. Das erste hatte der Polizeipräfekt von Paris geschickt.


EHEPAAR IHRER BESCHREIBUNG VON PARISER POLIZEI WEGEN RAUBES UND KORPERVERLETZUNG SEIT 1925 ALS MR UND MRS STRANG GESUCHT

Das zweite kam aus Budapest:


PERCY TRUXTON UND EHEFRAU SEIT 1920 WEGEN JUWELENRAUB IN UNGARN GESUCHT BESCHREIBUNG PASST

Das dritte - und aufschlußreichste - hatte Wien geschickt:


EHEPAAR IHRER BESCHREIBUNG IN ÖSTERREICH ALS PERCY UND BETH ANNIXTER BEKANNT HABEN FRANZÖSISCHEN TOURISTEN UM 50.000 FRANCS BETROGEN UND LETZTES FRÜHJAHR WERTVOLLE

JUWELEN GESTOHLEN BEANTRAGEN SOFORTIGE AUSLIEFERUNG SOLLTEN DIE BESCHULDIGTEN SICH IN DER GEWALT DER AMERIKANISCHEN POLIZEI BEFINDEN DIEBESGUT VERSCHOLLEN


Es folgte eine detaillierte Beschreibung der gestohlenen Juwelen.

»Wir kriegen noch internationalen Ärger, wenn wir sie endlich gefaßt haben«, brummte der Inspector, während er mit Ellery und Professor Yardley auf der Veranda der Villa Bradwood saß. »Frankreich, Ungarn und Österreich!«

»Vielleicht wird der Weltgerichtshof ja eine Sondersitzung einberufen«, bemerkte Ellery.

Der Professor verzog das Gesicht. »Sie bringen mich mit Ihrer ständigen Schludrigkeit noch ins Grab! Es gibt nur einen Internationalen Gerichtshof, und es würde sich um eine außerordentliche Sitzung handeln.«

»Mein Gott«, stöhnte Ellery und verdrehte die Augen.

»Wahrscheinlich ist Budapest zuerst dran«, murmelte Vaughn, »1920.«

»Würde mich sehr wundern«, mutmaßte der Professor, »wenn Scotland Yard die nicht auch im Visier hätte.«

»Unwahrscheinlich. Die sind verdammt gründlich. Wenn die nichts Passendes haben, können Sie Gift drauf nehmen, daß in London nichts gegen sie vorliegt.«

»Wenn sie wirklich Engländer sind«, sagte Ellery, »werden sie ihre Dinger natürlich vorzugsweise im Ausland gedreht haben. Obwohl der Mann ebensogut Mitteleuropäer sein könnte, und nichts kann man sich so mühelos zulegen wie einen Oxfordakzent.«

»Eines immerhin steht fest«, befand der Inspector. »In dem würfelförmigen Kasten, den sie verbuddelt hatten, befand sich der Schmuck aus Wien. Wir verständigen sofort die Kollegen und den Verband der Juweliere. Reine Zeitverschwendung zwar, weil die beiden sicher kaum Kontakt zu amerikanischen Hehlern haben und es erst recht nicht wagen werden, sich an saubere Schmuckhändler zu wenden -außer natürlich, sie brauchen dringend Bares.«

»Ich frage mich«, sagte Ellery mit geistesabwesendem Blick, »warum Ihr Kollege in Jugoslawien noch nicht geantwortet hat.«

Im Laufe des Tages stellte sich heraus, daß die Saumseligkeit der Jugoslawen ihre Gründe hatte. Vaughn und seine Männer waren gerade damit beschäftigt, Fahndungsberichte zum Fall Lynn durchzugehen, die alle paar Minuten telefonisch oder per Telegramm eintrafen.

Bis einer der Männer mit einem weiteren Kuvert in der Hand hereinstürmte. »Telegramm, Chief!«

»Na, endlich«, murmelte Vaughn. »War auch höchste Zeit.«

In dem Telegramm jedoch, daß der Polizeiminister von Belgrad geschickt hatte, stand lediglich:


BEDAUERN VERZÖGERUNG DER RECHERCHEN ZU DEN GEBRÜDERN TVAR UND VELJA KROSAC DIE NACH ZWANZIG JAHREN DADURCH ERSCHWERT WURDEN DASS MONTENEGRO ALS SELBSTÄNDIGER STAAT NICHT MEHR EXISTIERT DIE EXISTENZ BEIDER FAMILIEN IST VERBÜRGT AUCH DIE BLUTFEHDE WIR VERFOLGEN DIE SPUR WEITER UND WERDEN SIE INNERHALB VON VIERZEHN TAGEN ÜBER DAS ERGEBNIS UNSERER ERMITITLUNGEN UNTERRICHTEN


23. Der Kriegsrat


Sonntag. Montag ... Es war kaum zu glauben, wie wenig die Ermittlungen erbracht hatten, wie wenig die blutige Handschrift des Mörders letztlich hergab.

Dem Inspector, soviel war Ellery klar, drohte ein Schlaganfall, wenn es ihm nicht bald gelang, die weltläufigen Briten hinter Schloß und Riegel zu bringen. Um immer dieselben Fragen drehten sich die trüben Polizeikonferenzen, auf denen man Strategien erwog und sogleich wieder verwarf. Wo war Krosac? Oder -wer war der phantomhafte Hauptdarsteller dieser Schmierenkomödie, und warum schlug er nicht wieder zu? Er war weit von seinem Ziel entfernt; und es war unwahrscheinlich, daß die ständige Gegenwart der Polizei ihn davon abhielt, die beiden überlebenden Tvar-Brüder zu attackieren, zumal erwiesen schien, daß er von seiner Mission besessen war.

»Unsere Schutzmaßnahmen zugunsten von Andreja«, erklärte Ellery am Montag abend dem Professor, »waren zu perfekt. Krosacs Wartestellung ist nur noch dadurch zu erklären, daß er noch immer nicht herausgefunden hat, wo -und in welcher Maske - Van sich aufhält. Es ist uns gelungen, ihn zu täuschen -«

»Und damit auch uns selbst«, bemerkte der Professor. »Ich muß gestehen, daß ich mich inzwischen gehörig langweile, Queen. Wenn das Ihre aufregende Verbrecherjagd sein soll, dann bin ich in Zukunft vollauf damit zufrieden, historischen Quellen nachzuspüren -als Schreibtischtäter, versteht sich. Ich kann Sie nur dazu einladen; Sie werden die Rätsel der Menschheitsgeschichte unendlich viel spannender finden als schlechte Krimis wie diesen! Habe ich Ihnen jemals davon erzählt, wie Boussard, der französische Offizier, die berühmte Basaltstele -den Rosetta-Stein -im unteren Ägypten fand und damit die Ägyptologie revolutionierte? Und daß es zweiunddreißig Jahre gedauert hat, bis es Champollion gelungen ist, ihre dreifache Botschaft aus dem Zeitalter von Ptolemäus dem Fünften zu entziffern, wobei sich nämlich heraus -«

»All dies wiegt nichts«, wandte Ellery erbittert ein, »gegen Krosac. Wells muß ihn zum Vorbild gehabt haben, als er den Unsichtbaren schrieb.«

Gegen Abend erwachte Stephen Megara zum Leben. Er stand in der Mitte des Arbeitszimmers seines ermordeten Bruders und fixierte unversöhnlich seine Zuhörerschaft. Inspector Vaughn war ebenfalls anwesend, er saß in einem der Sheraton-Sessel, rauchte und kaute gequält an seinen Fingernägeln. Ellery saß neben Professor Yardley und fühlte sich unter den anklagenden Blicken von Stephen Megara äußerst unwohl. Helene Brad und Jonah Lincoln teilten sich die Couch; beide wirkten nervös; sie hatten ihre Hände ineinander verschlungen. Staatsanwalt Isham, den Megara aus Mineola herbeizitiert hatte, war im Türrahmen stehengeblieben, drehte Däumchen und hustete ununterbrochen. Captain Swift stand hinter seinem Arbeitgeber und fummelte unausgesetzt an seiner Mütze, während sich sein sehniger Hals an seinem steifen Kragen scheuerte. Dr. Temple, den niemand eingeladen hatte, war dennoch gebeten worden zu bleiben und hatte vor dem Kamin Stellung bezogen.

»Jetzt hören Sie bitte alle einmal zu«, begann Megara mit schneidender Stimme, »Sie ganz besonders, Inspector Vaughn und Mr. Isham! Es sind jetzt drei Wochen vergangen, seit mein - seit Brad ermordet wurde; und ich bin vor zehn Tagen nach Bradwood zurückgekehrt. Bitte teilen Sie mir Ihre Ermittlungsergebnisse mit.«

Inspector Vaughn wand sich in seinem Sheraton-Sessel. »Mir gefällt Ihr Ton nicht, Mister. Sie wissen genau, daß wir alles versucht haben, was in unseren Möglichkeiten -«

»Nicht alles«, widersprach Megara. »Nicht annähernd, Inspector. Sie kennen die Identität des Mörders. Sie haben sogar eine partielle Beschreibung von ihm. Man hätte erwartet, daß es für Sie bei Ihren Möglichkeiten ein Klacks wäre, ihn zu fassen.«

»Das -äh -ist auch nur noch eine Frage der Zeit, Mr. Megara«, versuchte Isham zu schlichten. Die kahle Stelle auf seinem Hinterkopf, die graues Haar umkränzte, war rötlich feucht. »So einfach, wie Sie denken, ist das aber leider nicht!«

Vaughn wurde sarkastisch: »Und wie Sie wissen, haben es hier nicht alle mit der Wahrheit so sonderlich genau genommen, wodurch es vermeidbare Verzögerungen gegeben hat! Keiner hat es für nötig gehalten, uns in seine miesen kleinen Geheimnisse einzuweihen!«

»Unsinn!«

Vaughn erhob sich. »Und das«, sagte er zähnefletschend, »gilt nicht zuletzt auch für Sie, Megara!«

Der Segler verzog keine Miene. Hinter ihm fuhr sich Captain Swift mit einem seiner blauen Ärmel über den Mund und stopfte seine verstümmelte Hand in eine seiner ausgebeulten Taschen. »Was soll das heißen?«

»Hören Sie, Vaughn«, begann der Staatsanwalt beunruhigt.

»Nichts ›Hören Sie, Vaughn‹! Das regle ich, Isham!«

Der Inspector machte einen Schritt vorwärts, baute sich - eine einzige Drohgebärde -vor Megara auf und kam ihm so nahe, daß sie Brust an Brust standen.

»Sie spielen mit dem Feuer, Megara. Aber bitte, ganz wie Sie wollen! Mrs. Brad hat uns ein ziemlich dreistes Märchen aufgetischt; Mr. Lincoln und ihre Tochter haben sie gedeckt. Fox‘ Schwindeleien haben uns ebenfalls Zeit und Nerven gekostet. Und unser Dr. Temple« - der Doktor fuhr zusammen und begann, sich mit nervösen Fingern eine Pfeife zu stopfen ­»war im Besitz brisanter Informationen, wollte aber unbedingt den Helden spielen und zwei Gauner im Alleingang stellen ­nicht auszudenken, was hätte passieren können! Ergebnis: Sie hauen ab, und er kriegt ordentlich eins drüber. Was er sich redlich verdient hat!«

»Sie haben«, erwiderte Megara ruhig, während er dem Inspector fest in die Augen sah, »gerade auch meine Person erwähnt. Inwiefern habe ich Ihre Ermittlungen behindert?«

»Inspector Vaughn«, begann Ellery sachte. »Meinen Sie nicht, daß Sie -ähm -vielleicht ein wenig übers Ziel hinausschießen?«

»Sie halten sich da jetzt brav raus!« brüllte Vaughn, ohne sich zu Ellery herumzudrehen. Er war zornesrot; während sich seine Halssehnen anspannten, schienen ihm die Augen beinahe aus dem Kopf zu treten. »Nun gut, Megara. Sie haben uns da neulich so eine Geschichte erzählt ...«

Megara zeigte keinerlei Regung. »So?«

Vaughn bemühte sein schmutzigstes Grinsen. »Noch können Sie mich umstimmen.«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, erwiderte Megara kühl. »Werden Sie deutlicher!«

»Vaughn!« flehte Isham.

»Ich werde so deutlich, wie es mir, verdammt noch mal, paßt! Sie wissen nur zu gut, wovon ich rede. Drei Männer haben sich vor ein paar Jahren fluchtartig ins Ausland abgesetzt. Warum?«

Megara senkte den Blick für den Bruchteil einer Sekunde. Als er jedoch zu sprechen begann, konnte er seine Verunsicherung nicht länger verbergen.

»Das habe ich Ihnen bereits erzählt.«

»Allerdings. Allerdings haben Sie das. Es geht mir jedoch nicht darum, was Sie uns erzählt haben. Es geht mir darum, was Sie uns verschwiegen haben!«

Megara trat einen Schritt zurück, zuckte mit den Schultern und schmunzelte. »Also, ich muß schon sagen, Inspector; die Ermittlungen haben Ihrem Verstand offenbar etwas zugesetzt. Ich habe Ihnen die Wahrheit erzählt. Natürlich hatte ich nicht die Zeit, Ihnen eine komplette Biografie zu liefern. Sollte ich also ein Detail vergessen haben -«

»Dann deshalb, weil Sie es für unwichtig hielten?« Vaughn lachte. »Das höre ich nicht zum ersten Mal.«

Er wandte sich um und wollte sich setzen; dann überlegte er es sich jedoch anders und drehte sich wieder zu Megara herum. »Bitte machen Sie sich klar -wenn Sie uns hier schon zur Rechenschaft ziehen -, daß unser Beruf nicht nur darin besteht, einen Mörder zu suchen. Wir müssen uns auch durch ein Wirrwarr von Motiven, verheimlichten Tatsachen und dreisten Lügen wühlen! Bitte vergessen Sie das nicht!« Er setzte sich. Seine hohlen Wangen schienen sich vor lauter Aufregung fast zu blähen.

Megara zuckte mit seinen breiten Schultern. »Ich fürchte, wir sind vom Eigentlichen abgekommen. Ich habe diesen Kriegsrat nicht einberufen, um mich herumzustreiten; und wenn ich einen solchen Eindruck erweckt haben sollte, Inspector, dann bitte ich vielmals um Entschuldigung.« Vaughn brummte unwirsch. »Ich möchte Ihnen einen konkreten Vorschlag machen.«

»Na, wunderbar«, sagte Isham herzlich und trat vor. »Großartig, Mr. Megara. Ganz in unserem Sinne. Einen konstruktiven Vorschlag können wir hervorragend gebrauchen!«

»Nun, wie konstruktiv er ist -darüber müssen Sie entscheiden!« Megara stellte sich breitbeinig in den Raum. »Wir warten alle darauf, daß Krosac wieder zuschlägt. Genau das hat er bislang nicht getan. Aber Sie haben mein Wort drauf, daß er es tun wird!«

»Wollen Sie ihm vielleicht«, höhnte der Inspector, »eine Einladung schicken?«

»Genau!« Megara sah Vaughn scharf an. »Könnten wir ihm nicht eine Falle stellen?«

Vaughn schwieg eine Weile. »Eine Falle? Wie sollte die aussehen?«

Megaras weiße Zähne blitzten auf. »So genau habe ich mir das noch nicht überlegt, Inspector. Außerdem sind Sie der Fachmann für solche Finessen ... Wir verlieren nichts dabei; Krosac kommt so oder so. Auf mich hat er es abgesehen, nicht wahr? Nun, soll er mich haben ... Ich nehme an, daß die ständige Polizeipräsenz ihn davon abhält, einen Versuch zu wagen. Er lauert irgendwo. Wenn Sie einen weiteren Monat hier bleiben, wird er einen weiteren Monat in seinem Versteck lauern. Wenn Sie sich aber geschlagen geben und abziehen ...«

»Großartige Idee!« rief der Staatsanwalt. »Mr. Megara, ich gratuliere Ihnen zu diesem grandiosen Einfall! Wie beschämend für uns, daß wir nicht selbst darauf gekommen sind! Krosac wird nicht zuschlagen, solange die Polizei sein Opfer belagert, vollkommen klar -«

»Aber er wird den Teufel tun und sofort aktiv werden, sobald die Polizei auffallend plötzlich verschwunden ist«, brummte Vaughn. Nur seine Augen verrieten, daß er fieberhaft nachdachte. »Er ist ein verdammt cleverer Bursche, der riecht Lunte, da bin ich sicher ... Trotzdem ist das gar nicht so dumm, was Sie sagen«, fügte er widerstrebend hinzu. »Ich muß mir das einmal in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen.«

Ellery rutschte auf die Stuhlkante. »Ihr Mut ist bewundernswert, Mr. Megara. Ich nehmen an, Sie sind sich im klaren darüber, welche Folgen ein Scheitern Ihres Plans hätte?«

»Es wäre nicht das erste Risiko, das ich in meinem Leben eingehe«, erwiderte er verbittert. »Keine Angst, ich unterschätze diesen Bastard bestimmt nicht, aber da kann kaum etwas schiefgehen. Wenn wir es richtig anstellen, wird er versuchen, mich umzubringen. Und darauf werden wir vorbereitet sein, was, Captain?«

Der alte Seebär brummte: »Sie sin‘ noch immer mit jedem fertig geworden, notfalls mit ’nem Belegnagel. Das war mal, haha! Jetz‘ hab‘ ich ja Gott sei Dank ne hübsche neue Knarre, un‘ Sie auch, Mr. Megara. Dem Dreckskerl jagen wir ordentlich Blei in‘ Bauch!«

»Stephen«, flehte Helene; sie hatte ihre Hand aus der Lincolns gezogen und schaute den Segler fassungslos an. »Du kannst dich doch nicht vollkommen schutzlos diesem blutrünstigen Irren ausliefern! Bitte, mach -«

»Ich passe schon auf mich auf, Helene ... Was meinen Sie, Inspector?«

Vaughn stand auf. »Mir ist die Sache zu riskant. Verantworten könnte ich das Ganze nur, wenn wir eine Finte anwenden ... Ich würde meine Männer vom Festland und dem Sund abziehen, aber welche auf dem Boot lassen, die im Notfall -«

Megara machte eine abwehrende Geste. »Viel zu plump, Inspector. Das riecht der.«

»Hmm«, brummte Vaughn unwillig. »Geben Sie mir Zeit nachzudenken. Für den Augenblick bleibt alles beim alten. Morgen früh gebe ich Ihnen Bescheid.«

»Gut.« Megara betastete eine Tasche seiner Segeljacke. »Ich bin zu allem bereit. Ich habe nämlich nicht vor, mich für den Rest meines Lebens wie ein feiger Waschlappen auf der Helene zu verschanzen. Ich will endlich wieder leben! Je eher Krosac mich angreift, desto besser!«

»Was denken Sie?« fragte Professor Yardley später, als er und Ellery am Ostflügel des Hauses standen und Megara und seinem Kapitän nachsahen, die im schwachen Licht der erleuchteten Fenster auf ihrem eiligen Weg zur Bucht gerade noch zu erkennen waren.

»Ich werde Ihnen sagen, was ich denke«, sagte Ellery voller Unmut. »Stephen Megara ist ein ausgemachter Dummkopf.«

Stephen Megara blieb nicht mehr viel Zeit, seinen Mut - oder seine Dummheit - unter Beweis zu stellen.

Als Ellery und der Professor am nächsten Morgen, einem Dienstag, in Yardleys Eßzimmer beim Frühstück saßen, kam dem lautstarken Protest der alten Nanny zum Trotz ein Mann hereingestürmt. Er hatte eine Nachricht von Vaughn dabei.

Captain Swift war ein paar Minuten zuvor gefesselt und - von einem bösen Schlag auf den Hinterkopf getroffen - bewußtlos in seiner Kabine aufgefunden worden.

Auch Stephen Megara hatte man gefunden; grausig entstellt hatte man ihn an einem der Antennenmasten oberhalb der Aufbauten gefunden - ohne Kopf.


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