ZWEITER TEIL Die Kreuzigung eines Millionärs

»Wenn jemand, der nicht zu den gewöhnlichen Kriminellen zählt, ein Verbrechen begeht, ist der Polizeibeamte gut beraten, äußerste Vorsicht walten zu lassen. Keine der Regeln, die er gelernt hat, wird sich noch anwenden lassen, und der Erfahrungsschatz, den er über die Jahre angesammelt hat, wird ihm rein gar nichts mehr nützen.«

DANILO RIECA


3. Professor Yardley


Und das war es dann. Unglaublich, ungeheuerlich -aber das war es.

Die geheimnisvolle Verbindung, die Ellery vor der versammelten Gemeinde Weirton gezogen hatte, half nicht, Licht in die Angelegenheit zu bringen; im Gegenteil -der Fall erschien um so rätselhafter.

Was Ellery selbst betraf, so tröstete er sich mit dem Gedanken, daß Wahnsinnstaten sich ohnehin jeder Logik entzogen.

Wenn er dem Fall schon nicht gewachsen war, dann galt das in gesteigertem Maße für Coroner Stapleton, Staatsanwalt Crumit, Colonel Pickett, die Geschworenen, die Bürger von Arroyo und Weirton und die Reporterschwärme, die sich am Verhandlungstag in der Stadt eingefunden hatten. Angeleitet vom Coroner, der mannhaft der Versuchung widerstand, sich für eine zwar naheliegende, aber völlig unbewiesene Lösung zu entscheiden, kratzte sich die Jury verlegen den kollektiven Kopf und fällte das Urteil: »Tod durch einen oder mehrere Unbekannte.«

Die Reporter schlichen noch ein, zwei Tage in der Stadt herum; Colonel Pickett und Staatsanwalt Crumit sah man immer seltener, und schließlich nahm auch die Presse keine Notiz mehr von dem Mord - das Todesurteil über den Fall war gesprochen.

Ellery kehrte mit einem stoischen Achselzucken nach New York zurück. Je länger er über dem Rätsel brütete, desto mehr neigte er der Ansicht zu, daß die Lösung verblüffend einfach sein mußte. Es gab keinen Grund, den zahlreichen Indizien zu mißtrauen; sie verwiesen sicher nicht auf den Kern des Geschehens, waren aber auch keinesfalls einfach so abzutun. Es mußte ihn geben, diesen englischsprechenden Ausländer Velja Krosac, eine Art Scharlatan, der sich aus dunklen Beweggründen das Ziel gesetzt hatte, den ebenfalls fremdstämmigen Schulmeister ums Leben zu bringen. Seiner Vorgehensweise war nicht unbedingt Bedeutung beizumessen, so interessant sie auch aus kriminologischer Sicht sein mochte. Sie war nichts als der zwar grauenerregende, aber kranke Ausdruck einer zerstörten Seele, in der der Wahnsinn loderte. Das genaue Motiv, das den Mörder zu der Bluttat getrieben hatte -ob es sich nun vollkommen in der abseitigen Fantasie eines Psychopathen verlor, ob es in religiösem Fanatismus oder Blutrache begründet war -würde sich wohl nie mehr klären lassen. Krosac, der seine schaurige Mission erfüllt hatte, war natürlich über alle Berge und hatte vermutlich auf dem Seeweg Kurs auf sein Heimatland genommen. Ja, und Kling, der Hausangestellte? Der war ohne Zweifel zum Opfer der Umstände geworden; der Mörder hatte ihn vermutlich gleich miterledigt, weil der Unglückliche zum Tatzeugen geworden war oder Krosacs Gesicht gesehen hatte. Wie dem auch immer sein mochte -Krosac mußte einen einschlägigen Grund gehabt haben, ihn zum Schweigen zu bringen. Es war ja kaum anzunehmen, daß jemand, der nicht einmal davor zurückschreckte, seinem Opfer den Kopf abzuschlagen, um seiner Rache die angestrebte Symbolik zu verleihen, zu zimperlich war, einen Zufallszeugen zu beseitigen.

Mit derlei Gedanken kehrte Ellery schließlich nach New York zurück, um sich den spitzen Bemerkungen und Sticheleien seines Vaters auszusetzen.

»Daß ich‘s so hab‘ kommen sehen, brauche ich ja nicht eigens zu erwähnen«, sagte der alte Mann mit einem Grinsen über den Tisch hinweg, während sie am Abend von Ellerys Heimkehr ihr Dinner einnahmen, »aber die Moral von der Geschicht -«

»Wäre?« entgegnete Ellery, indem er ein Kotelett in Angriff nahm.

»Folgendes: Mord ist Mord; und 99,9 Prozent aller Morde, die auf der Erdkugel begangen werden, du Grünschnabel, sind kinderleicht zu erklären. Da ist nichts Geheimnisumwittertes, falls du verstehst, was ich meine.« Der Inspector strahlte. »Ich weiß wirklich nicht, was du in dieser gottverlassenen Gegend erreichen wolltest. Jeder einfache Streifenpolizist hätte dir gleich sagen können, wie die Sache ausgehen wird.«

Ellery legte die Gabel neben den Teller. »Aber mit logischem ...«

»Alles hirnrissig«, schnaubte der Inspector. »Sieh lieber zu, daß du etwas Schlaf bekommst.«

Ein halbes Jahr später hatte Ellery den bizarren Mord von Arroyo vollkommen aus dem Blick verloren. Schließlich gab es eine Menge zu tun. Im Gegensatz zur Schwesterstadt Philadelphia war New York nicht gerade ein Hort brüderlicher Nächstenliebe; Tötungsdelikte fielen zuhauf an, der Inspector ermittelte fieberhaft und hatte seinen Sohn dabei stets im Schlepptau. Der brachte seine einzigartigen Fähigkeiten zum Einsatz, sobald ein Fall sein spezielles Interesse geweckt hatte.

Erst im Juni, sechs Monate nach der Kreuzigung von Andrew Van in West Virginia, trat das damalige Geschehen wieder mit Macht in sein Bewußtsein.

Am Mittwoch, dem zweiundzwanzigsten Juni, saßen Ellery und Inspector Queen gerade beim Frühstück, als es an der Tür läutete und Djuna, Haushaltshilfe der Queens, ein Telegramm für Ellery in Empfang nahm, das der Bote ihm präsentierte.

»Merkwürdig«, murmelte Ellery, während er das gelbe Kuvert öffnete. »Wer zum Teufel schreibt mir so früh am Morgen?«

»Von wem isses?« fragte der Inspector, der gerade auf einem Bissen Toast herumkaute.

»Es ist von -« Ellery faltete das Blatt Papier auf und starrte auf die getippte Unterschrift. »Von Yardley!« rief er freudig überrascht und grinste seinen Vater an. »Professor Yardley, du weißt doch. Einer von meinen Profs an der Uni.«

»Ich weiß, wen du meinst. Das war doch dieser Altertumsfritze, nicht wahr? Der war doch mal ein Wochenende bei uns zu Besuch. Ein ziemlich häßlicher alter Knabe mit Kinnbart, wenn ich mich recht entsinne.«

»Eine absolute Kapazität! Solche wie den gibt‘s heutzutage kaum noch«, sagte Ellery. »Mein Gott, das muß Jahre her sein, daß ich das letzte Mal von ihm gehört habe! Aber warum schreibt -«

»Schlage vor, daß du erst einmal den Text liest«, unterbrach der alte Herr milde. »Es ist die allgemein übliche Methode herauszufinden, warum dir jemand schreibt. Also manchmal bist du wirklich dümmer, als die Polizei erlaubt!«

Während der Inspector jedoch Ellerys Gesicht beobachtete, verlor sich sein Augenzwinkern. Dem jungen Herrn war der Unterkiefer heruntergefallen.

»Was ist los?« fragte der Inspector besorgt. »Jemand gestorben?« Er hatte den kleinbürgerlichen Aberglauben bewahrt, daß Telegramme nichts Gutes verhießen.

Ellery schob den gelben Zettel über den Tisch, sprang vom Stuhl auf, warf Djuna seine Serviette zu und stürzte ins Schlafzimmer, wobei er sich bereits seinen Morgenrock vom Leibe riß.

Der Inspector las:


DACHTE NACH ALL DEN JAHREN JETZT IST DER ZEITPUNKT DAS ANGENEHME MIT DEM NUTZLICHEN ZU VERBINDEN STOP STATTEN SIE MIR DOCH DEN LANGVERSPROCHENEN BESUCH AB STOP SAFTIGER MORD DIREKT GEGENÜBER STOP HEUTE MORGEN PASSIERT UND ÖRTLICHE POLIZEI NOCH NICHT HIER STOP HÖCHST INTERESSANT STOP MEIN NACHBAR AN TOTEMPFAHL AUF SEINEM GRUNDSTÜCK GEKREUZIGT STOP KOPF FEHLT STOP ICH ERWARTE SIE HEUTE

YARDLEY


4. Bradwood


Lange bevor der alte Duesenberg sein Ziel erreichte, war unübersehbar, daß etwas Außergewöhnliches vorging. Den Long Island Highway, auf dem Ellery in gewohnt halsbrecherischer Geschwindigkeit entlangraste, teilte er sich mit Schwärmen von uniformierten Polizisten, die ausnahmsweise überhaupt keine Notiz von dem ernsten, großen jungen Mann nahmen, der mit hundert Sachen an ihnen vorbeidonnerte. Ellery hoffte, daß ihn endlich jemand anhalten möge, damit er seinem Widersacher auf zwei Rädern ein hämisches »Spezialeinsatz!« entgegenschleudern konnte; denn er hatte seinen Vater so lange bearbeitet, bis der sich telefonisch nach dem Leichenfund erkundigt und Inspector Vaughn von der Bezirkspolizei Nassau mitgeteilt hatte, daß sein »berühmter Sohn«, wie er raffiniert unaufdringlich formuliert hatte, bereits unterwegs sei und er doch hoffe, daß man dem jungen Helden entsprechende Freiheiten einräumen würde, zumal dieser im Besitz hochbrisanter Informationen sei, wie sich der alte Herr ausdrückte, die für Inspector Vaughn und den Staatsanwalt sicherlich von Interesse seien. Mit Bezirksstaatsanwalt Isham hatte er ebenfalls telefoniert, seine Laudatio wiederholt und die damit verbundenen Hoffnungen bekräftigt. Ein offenbar sehr mitgenommener Isham hatte gemurmelt: »Für mich ist jede Nachricht eine gute Nachricht; schicken Sie ihn vorbei!« und versprochen, daß man am Tatort nichts verändern würde, bevor Ellery dort aufkreuzte.

Es war um die Mittagszeit, als der Duesenberg schließlich in eine der gepflegten Privatstraßen von Long Island einbog und prompt von einer Motorradstreife zum Geschwindigkeitsduell gefordert wurde.

»Bradwood hier entlang?« brüllte Ellery.

»Kann schon sein«, brüllte der Polizist zurück. »Aber für Sie ist die Reise hier zu Ende! Drehen Sie um, und fahren Sie nach Hause, und zwar dalli!«

»Inspector Vaughn und Staatsanwalt Isham erwarten mich!« parierte Ellery grinsend.

»Oh! Sie sind Mr. Queen? Entschuldigen Sie, Sir. Fahren Sie weiter!« Ellery gönnte sich den Triumph, gab unverzüglich Gas und hielt fünf Minuten später zwischen zwei Anwesen. Der mit Polizeifahrzeugen vollgestellten Einfahrt nach zu schließen, handelte es sich bei dem einen um Bradwood, wo der Mord geschehen war; das andere mußte, da es direkt gegenüber lag, folglich seinem Freund und früheren Lehrer Professor Yardley gehören.

Dieser höchstselbst, ein häßlicher, schlaksiger Mann, der stark an Abraham Lincoln erinnerte, eilte Ellery, der gerade aus seinem Duesenberg sprang, entgegen und ergriff seine Hand.

»Queen! Wie schön, Sie wiederzusehen!«

»Ganz meinerseits, Professor! Gott, das ist Jahre her! Was hat Sie denn nach Long Island verschlagen? Zuletzt hieß es noch, Sie leben nach wie vor auf dem Campus und martern die Studenten!«

Der Professor grinste in seinen kurzen schwarzen Bart hinein. »Ich habe diesen Tadsch Mahal da drüben« - Ellery wandte sich um und erblickte Turmspitzen und eine bzyantinische Kuppel, die die Bäume überragten -»von einem völlig verrückten Freund gemietet. Diese Scheußlichkeit hat er sich hingestellt, weil er ’nen Orientfimmel hat. Ist gerade auf einem Streifzug durch Kleinasien. Ich arbeite diesen Sommer hier. Mit hat halt immer die nötige Ruhe gefehlt, mein Werk über die Ursprünge der Atlantis-Sage endlich abzuschließen. Sie erinnern sich an die Ausführungen Platons dazu?«

»Und ob«, schmunzelte Ellery, »auch an Bacons New Atlantis, aber mein Interesse galt immer mehr dem literarischen als dem wissenschaftlichen Aspekt.«

Yardley gab einen Grunzlaut von sich. »Immer noch derselbe vorlaute Grünschnabel, wie ich sehe. So bin ich denn in diese Sache hineingeraten.«

»Was um alles in der Welt hat Sie auf mich gebracht?«

Sie schritten gemeinsam die mit Fahrzeugen vollgestellte Einfahrt von Bradwood hoch. Vor ihnen lag ein großes, im Kolonialstil erbautes Haus, dessen riesige Säulen in der

Mittagssonne schimmerten.

»Der lange Arm des Zufalls«, erwiderte der Professor trocken. »Ich habe Ihren Werdegang interessiert verfolgt, wie Sie sich sicher denken können. Ihre Erfolge haben mich immer sehr fasziniert; und so habe ich denn die Berichte über diesen außergewöhnlichen Mordfall in West Virginia vor fünf oder sechs Monaten auch geradezu verschlungen.«

Ellery sah sich genau um, bevor er reagierte. Bradwood war eine bis ins letzte Detail durchdachte Anlage -der Wohnsitz eines reichen Mannes. »Ich hätte eigentlich wissen sollen, daß Ihren Augen, die Tausende von Papyri und Stelen untersucht haben, so leicht nichts entgeht. Sie haben also den hochdramatischen Bericht über meinen netten kleinen Abstecher nach Arroyo gelesen?«

»Allerdings. Das hochdramatische Scheitern inklusive.« Der Professor lachte. »Zugleich jedoch hat mich zutiefst befriedigt, daß Sie die Grundregel angewandt haben, die ich dem Sturkopf Queen so lange vergeblich gepredigt hatte -immer zum Ursprung zurück! Das ägyptische Kreuz? In diesem Falle, fürchte ich, ist leider der Hang zum Theatralischen mit Ihnen durchgegangen und die wissenschaftliche Wahrheit dabei auf der Strecke geblieben ... Nun, da wären wir.«

»Worauf wollen Sie hinaus?« fragte Ellery und schaute verwirrt. »Das Tau-Kreuz ist doch ein primitives ägyptisches -«

»Das diskutieren wir später. Ich nehme an, Sie möchten mit Isham sprechen. Er ist so freundlich gewesen, mich hier ein bißchen herumschlendern zu lassen.«

Der Bezirksstaatsanwalt von Nassau County, ein gedrungener Mann mittleren Alters mit wässrigen blauen Augen und einem im Schwund begriffenen Kranz grauer Haare auf dem Kopf, stand auf den Stufen der ausladenden Veranda und war offenbar in eine hitzige Debatte mit einem großgewachsenen, muskulösen Mann in Zivil verwickelt.

»Ähm - Mr. Isham«, begann Professor Yardley, »das ist mein Schützling, Ellery Queen.«

Die beiden Männer drehten sich flugs herum. »Ah ja«, sagte Isham in einem Ton, der verriet, daß seine Gedanken woanders waren. »Wie erfreulich, daß Sie dazugestoßen sind, Mr. Queen. Ich wüßte zwar nicht, wie Sie uns im Augenblick behilflich sein könnten, aber -« Er zuckte mit den Schultern. »Darf ich vorstellen -Inspector Vaughn von Nassau County.«

Ellery begrüßte beide mit Handschlag. »Ich habe Ihre Erlaubnis, mich ein wenig umzusehen? Sie haben mein Wort, daß ich Ihnen nicht im Weg sein werde.«

Inspector Vaughn bleckte seine braunen Zähne. »Da gibt‘s nicht viel Weg. Wir treten vollkommen auf der Stelle, Mr. Queen. Möchten Sie sich das Hauptbeweisstück ansehen?«

»Das wäre zumindest so üblich. Kommen Sie, Professor.«

Die vier Männer stiegen die Stufen der Veranda hinab und folgten einem Kiesweg, der um den Ostflügel des Hauses herumführte. Ellery begann zu ahnen, welch ungeheure Ausmaße das Grundstück besaß. Das Hauptgebäude, so sah er nun, lag auf einer Anhöhe genau in der Mitte zwischen der Straße, in der er seinen Duesenberg geparkt hatte, und einer vom Hauptgebäude aus sichtbaren Bucht, in der sich das Wasser sonnenglitzernd kräuselte. Das Gewässer, so erläuterte Staatsanwalt Isham, war ein Nebenarm des Long Island Sound und nannte sich Ketcham‘s Cove. Jenseits der Bucht zeichnete sich die bewaldete Silhouette einer kleinen Insel ab. Oyster Island, bemerkte der Professor, beherberge eine Schar von ...

Ellery sah ihn fragend an, doch Isham winkte gereizt ab: »Später.« Yardley zuckte die Achseln und sah davon ab, seinen Satz zu vollenden.

Der Kiesweg führte sie von dem Kolonialbau fort; und nach nicht einmal zehn Metern waren sie bereits von Wald umgeben. Dreißig Meter weiter gelangten sie zu einer Lichtung, in deren Mitte ein groteskes Objekt stand.

Die Männer hielten schweigend inne, wie Menschen gewöhnlich innehalten, wenn sie direkt mit gewaltsamem Sterben konfrontiert werden. Um das Objekt herum waren Polizeibeamte zugange; Ellery jedoch sah nichts anderes als die schaurige Skulptur.

Es handelte sich um einen etwa drei Meter hohen, holzgeschnitzten Pfahl, der einmal leuchtend bunt bemalt gewesen sein mußte; die Farben waren jedoch verblaßt und das Holz so fleckig und verformt, als habe der Pfahl jahrhundertelang dem Wetter trotzen müssen. Das Schnitzwerk bestand aus fratzenhaften Masken und seltsamen Fabeltieren, über denen ein grob geschnitzter Adler mit gesenktem Kopf und ausgebreiteten Schwingen thronte. Die Schwingen waren so flach, daß der Pfahl samt der ausgebreiteten Schwingen, wie Ellery sofort auffiel, stark an ein großes T erinnerte. Vom Pfahl herab hing die enthauptete Leiche eines Mannes, dessen Arme mit einem dicken Seil an den Adlerschwingen festgebunden waren.

Die Füße waren etwa einen Meter über dem Erdboden in ähnlicher Weise am Längspfahl befestigt. Der markante hölzerne Schnabel des Adlers befand sich nur wenige Zentimeter über dem blutigen Loch zwischen den Schultern des Toten. Der gräßliche Anblick hatte zugleich etwas Pathetisches wie Grauenvolles; und von der verstümmelten Leiche ging eine erschreckende Hilflosigkeit aus -die anrührende Ohnmacht einer geköpften Flickenpuppe.

»Tja«, sagte Ellery mit zittriger Stimme. »Netter Anblick, was?«

»Entsetzlich«, sagte Isham leise. »So was habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen. Da gefriert einem das Blut.« Er schüttelte sich. »Kommen Sie, bringen wir es hinter uns!«

Sie traten näher an den Pfahl heran. Ellery bemerkte auf der Lichtung in ein paar Metern Entfernung ein strohgedecktes Gartenhaus, dessen Eingang ein Polizist bewachte, und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Toten. Es handelte sich um die Leiche eines Mannes mittleren Alters mit ausgeprägtem Schmerbauch und knorrigen alten Händen. Der Tote trug graue Flanellhosen, ein am Halse offenes Seidenhemd, weiße Socken und Schuhe und eine samtene Rauchjacke.

Vom Halsansatz bis zu den Füßen war die Leiche über und über mit Blut beschmiert, als habe man sie in einem Faß voller Blut gebadet.

»Ein Totemsbaum, nicht wahr?« fragte Ellery Professor Yardley, als sie unterhalb der Leiche vorbeigingen.

»Totempfahl ist der gängige Ausdruck«, antwortete Yardley ruhig. »Ich bin zwar kein Totemismus-Experte, aber dieses Exemplar hier ist entweder sehr früh nordamerikanisch oder eine geschickte Nachahmung, habe ein derartiges noch nie gesehen. Der Adler versinnbildlicht den Adler-Clan.«

»Ich nehme an, die Identität der Leiche steht fest?«

»Ja«, entgegnete Inspector Vaughn, »Sie blicken auf die sterblichen Überreste von Thomas Brad, dem Eigentümer von Bradwood, einem millionenschweren Teppichimporteur.“

»Aber die Leiche ist noch nicht abgenommen worden«, wandte Ellery geduldig ein. »Wie können Sie da sicher sein?«

Isham wirkte überrascht. »Das ist okay. Es ist Brad. Wir haben die Kleidung überprüft, und der Bauch ist ja wohl kaum zu übersehen!«

»Stimmt allerdings. Wer hat die Leiche entdeckt?«

Inspector Vaughn erstattete Bericht. »Sie wurde um halb acht in der Frühe von einem Hausangestellten, Fox, gefunden, der hier gärtnert und auch als Chauffeur arbeitet. Fox wohnt in einer Waldhütte auf der anderen Seite des Hauses. Als er heute morgen wie üblich zum Hauptgebäude ging, um den Wagen für Lincoln -Jonah Lincoln gehört zu den Leuten, die hier wohnen - aus der Garage im Rückteil des Hauses zu holen, war Lincoln noch nicht fertig. Fox begab sich in der Zwischenzeit auf diese Seite, um nach ein paar Blumen zu schauen, und stieß so auf die Leiche. Bei dem Anblick ist ihm speiübel geworden, wie er sagt.«

»Kann ich mir gut vorstellen«, bemerkte Professor Yardley, der allerdings selbst erstaunlich wenig Berührungsängste zeigte. Er untersuchte gerade mit konzentrierter Sachlichkeit den Totempfahl samt seiner grausigen Last, als handele es sich um einen historischen Fund.

»Nun«, fuhr Inspector Vaughn fort, »er hat sich dann zusammengerissen und ist zum Haus zurück. Das Übliche halt ­hat das Haus alarmiert, niemand hat etwas angefaßt. Lincoln, ein zwar nervöser, aber auch besonnener Bursche, hat sich um alles gekümmert, bis wir angerückt sind.«

»Und wer ist Lincoln?« fragte Ellery freundlich.

»Der Hauptgeschäftsführer von Brads Firma. Brad & Megara, wissen Sie«, erläuterte Isham, »die Teppichriesen. Lincoln wohnt hier. Soweit ich weiß, hat Brad ihn sehr gemocht.«

»Ein zukünftiger Teppichmagnat, sozusagen. Und Megara ­wohnt der auch hier?«

Isham zuckte die Achseln. »Wenn er nicht gerade auf See ist. Ist irgendwo auf einer Kreuzfahrt, schon seit Monaten unterwegs. Brad war der aktive Partner.«

»Dann ist ja anzunehmen, daß der reisefreudige Mr. Megara für den Totempfahl verantwortlich ist.«

Ein schmächtiger Mann trottete den Weg entlang auf sie zu. Er hatte eine schwarze Tasche bei sich.

»Das ist Doc Rumsen«, sagte Isham sichtlich erleichtert. »Der Gerichtsmediziner von Nassau County. Hi, Doc, na schauen Sie sich das mal an!«

»Mach‘ ich längst«, entgegnete Dr. Rumsen barsch. »Man

könnte glatt meinen, man befände sich in den Schlachthöfen von Chicago.«

Ellery sah sich den Toten näher an. Er schien vollkommen starr zu sein. Dr. Rumsen betrachtete die Leiche mit routiniertem Blick und schnaubte verächtlich. »Los, holen Sie ihn schon runter. Oder erwarten Sie, daß ich zu ihm raufklettere?«

Inspector Vaughn machte zwei Detectives Zeichen, die sich daraufhin mit aufgeklappten Messern in Bewegung setzten. Einer von ihnen verschwand im Gartenhaus und kehrte mit einem stabilen Stuhl zurück, postierte ihn neben dem Totempfahl, stellte sich auf die Sitzfläche und brachte sein Messer in Position.

»Durchschneiden, Chief?« fragte er, bevor er die Klinge ansetzte, um das Seil am rechten Arm zu durchtrennen. »Vielleicht wär‘s günstiger, das Seil ganz zu lassen. Den Knoten krieg‘ ich schon auf.«

»Durchschneiden«, erwiderte der Inspector scharf, »ich will mir den Knoten ansehen. Könnte ein Hinweis sein.«

Weitere Männer kamen dazu. Während sie ihre traurige Pflicht erfüllten, herrschte Totenstille.

»Ganz nebenbei gefragt«, murmelte Ellery, während sie der Kreuzesabnahme zusahen, »wie hat der Mörder es fertiggebracht, die Leiche da hochzuhieven und die Handgelenke in mehr als zweieinhalb Metern Höhe an den Adlerschwingen zu befestigen?«

»Genauso, wie der Kollege es gerade vorexerziert«, erwiderte der Staatsanwalt trocken. »Wir haben einen blutbefleckten Stuhl von derselben Form wie diesen hier im Gartenhaus gefunden. Entweder waren‘s zwei, oder der Kerl, der für das Schlachtfest verantwortlich ist, ist ein Hüne. Die Leiche da hochzuwuchten war sicher kein Kinderspiel, selbst wenn er auf einem Stuhl gestanden hat.«

»Wo haben Sie den Stuhl gefunden?« fragte Ellery nachdenklich. »Im Gartenhaus?«

»Ja. Muß ihn zurückgestellt haben, als er mit der Schweinerei fertig war. Im Gartenhaus befinden sich noch einige andere Gegenstände, Mr. Queen, um die wir uns kümmern sollten.«

»Da wäre noch etwas, was Sie interessieren könnte«, sagte Inspector Vaughn, als der Leichnam endlich von seinen Fesseln befreit im Gras lag. »Das hier.«

Er entnahm seiner Tasche einen kleinen scheibenförmigen roten Gegenstand und drückte ihn Ellery in die Hand. Es handelte sich um einen hölzernen Dame-Spielstein.

»Hm«, murmelte Ellery, »reichlich prosaisch. Wo haben Sie den gefunden, Inspector?«

»Auf dieser Lichtung hier. Im Kies, etwa einen Meter rechts vom Pfahl.«

»Und was macht Sie so sicher, daß der Stein etwas zu sagen hat?« Ellery drehte ihn in seinen Fingern nach allen Seiten.

Vaughn schmunzelte. »Wir haben ihn im Kies gefunden. An seiner Beschaffenheit läßt sich jedoch ablesen, daß er nicht lange dort gelegen haben kann, wie Sie sehen. Außerdem springt einem ein roter Gegenstand auf dem sauberen grauen Kies doch sofort ins Auge! Fox schaut jeden Tag in jedem Winkel des Grundstücks nach dem rechten; folglich ist es sehr unwahrscheinlich, daß der Stein gestern schon tagsüber hier gelegen hat, was Fox seiner Aussage nach für ausgeschlossen hält. Mir war auf Anhieb klar, daß das Ding etwas mit den Vorgängen letzte Nacht zu tun haben muß -im Dunkeln unsichtbar.«

»Hervorragend, Inspector!« schmunzelte Ellery zurück. »Sie sprechen mir aus der Seele.« Als er Vaughn den Spielstein zurückgab, stieß Dr. Rumsen völlig unprofessionell eine Reihe höchst farbiger Flüche aus.

»Was ist los?« fragte Isham, indem er hinzueilte. »Etwas gefunden?«

»Zur Hölle will ich fahren, wenn das nicht das Seltsamste ist, was ich je gesehen habe!« schimpfte der Gerichtsmediziner. »Schauen Sie sich das mal an!«

Der Leichnam von Thomas Brad lag etwa einen Meter vom Totempfahl entfernt wie eine umgestürzte Marmorstatue im Gras. Er war unnatürlich starr. Die Leichenstarre hält noch an, dachte Ellery. Wie der Tote so dalag und seine Arme noch immer ausstreckte, fühlte sich Ellery in erschreckendem Maße an die Leiche von Andrew Van erinnert, die er ein halbes Jahr zuvor in Weirton besichtigt hatte -wenn man einmal von den Kleidern und dem Schmerbauch absah. Beide, so dachte er bitter, waren so zurechtgemetzelt worden, daß sie ein T bildeten ... Ellery schüttelte den Kopf und bückte sich ebenfalls, um nachzusehen, was Dr. Rumsen so verstört hatte.

Der Mediziner hatte die rechte Hand des Toten angehoben und wies auf deren wächsern bläuliche Innenfläche. In der Mitte befand sich ein kreisförmiger roter Abdruck, den ein Stempel kaum exakter hätte prägen können; lediglich an den Rändern war die Farbe ganz leicht verwischt.

»Was zum Teufel soll ich dazu sagen?« brummte Dr. Rumsen. »Blut ist es nicht. Sieht eher wie Farbe aus. Aber fragen Sie mich bitte nicht, wie die dahin kommt!«

»Ihre Vermutung«, sagte Ellery bedächtig. »scheint sich zu bestätigen, Inspector. Der Spielstein - die rechte Seite des Totempfahls - die rechte Hand des Toten ...«

»Herrgott, ja!« entfuhr es Inspector Vaughn. Er holte den Spielstein erneut hervor und drückte ihn dem Toten in die Hand. Stein und Abdruck paßten nahtlos zusammen. Vaughn erhob sich mit einer Mischung aus Triumph und Verwirrung. »Aber was zum Teufel Isham schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß das irgendwas zu sagen hat, Vaughn. Sie haben Brads Bibliothek noch nicht gesehen. Dort haben wir das zugehörige Damespiel gefunden. Aber das werden Sie ja selbst sehen, wenn wir das Haus besichtigen. Aus irgendeinem Grunde hatte Brad zum Zeitpunkt seiner Ermordung eben einen Spielstein in der Hand, ohne daß der Täter das wußte. Als der Tote dann am Pfahl festgezurrt wurde, muß er ihm aus der Hand gefallen sein. Das ist das ganze Geheimnis.«

»Das Verbrechen ist also im Haus verübt worden?« fragte Ellery.

»Aber nein! Im Gartenhaus da drüben. Dafür haben wir genug Beweise. Wie wir gesehen haben, gibt es für den Spielstein eine harmlose Erklärung. Daß er so verblaßt ist, läßt sich ebenfalls erklären. Vermutlich haben Schweiß und Körperwärme dafür gesorgt, daß die rote Farbe in seiner Hand zerlaufen ist.«

Sie ließen Dr. Rumsen, von schweigenden Detectives umringt, neben der grotesken Gestalt im Gras zurück, um das Gartenhaus zu besichtigen. Es lag nur ein paar Schritte vom Totempfahl entfernt. Ellery ließ seine Blicke nach oben und seitwärts schweifen, bevor er durch den niedrigen Eingang trat.

»Hmm, keine elektrische Außenbeleuchtung. Ich frage mich ­«

»Der Täter muß eine Taschenlampe benutzt haben. Vorausgesetzt natürlich«, erläuterte der Inspector, »daß der Mord im Dunkeln verübt worden ist. Sobald Dr. Rumsen die ungefähre Todeszeit ermittelt hat, klärt sich das von selbst.«

Der Wachposten am Eingang salutierte und trat zur Seite. Sie gingen hinein. Das kleine Gartenhaus war rund gebaut und mit seinem unbehauenen Holz, dem zugespitzten Strohdach und den halbhohen Wänden, die in umranktes Gitterwerk übergingen, ländlicher Lebensart nachempfunden. Innen befand sich ein grober Holztisch mit zwei Stühlen. Einer davon war mit Blut befleckt.

»Ziemlich eindeutig«, sagte Staatsanwalt Isham verhalten und wies in die Mitte des Raumes.

Auf dem Holzboden hatten getrocknete Blutmassen einen klumpigen, rötlich braunen Fleck hinterlassen.

Professor Yardley zeigte nun erste Anzeichen von Nervosität.

»Das - äh - ist doch wohl kein menschliches Blut, dieser entsetzliche Matsch -«

»Und ob es das ist«, brummte Vaughn. »Die Riesenlache ist nur dadurch zu erklären, daß hier Brads Kopf abgetrennt worden ist.«

Ellery fixierte mit seinem Adlerblick den Holzboden. Jemand hatte unterhalb des rustikalen Tisches mit kühnem Schwung ein großes T aus Blut auf den Boden geschmiert.

»Nicht gerade eine Augenweide«, sagte er leise und mußte hart schlucken, als er seinen Blick von dem blutigen Symbol abwandte. »Mr. Isham, wie erklären Sie sich das T auf dem Boden?«

Der Staatsanwalt breitete hilflos die Hände auseinander. »Das kann ich Sie genauso fragen, Mr. Queen! Ich bin weiß Gott ein alter Hase, und Sie haben, soweit ich weiß, ebenfalls genug Erfahrung. Zweifeln Sie auch nur im mindesten daran, daß wir es mit der Tat eines Geistesgestörten zu tun haben?«

»Nein, kein vernünftiger Mensch wird daran zweifeln. Sie haben vollkommen recht, Mr. Isham. Ein Totemsbaum! Gut gewählt, nicht wahr, Professor?«

»Pfahl. Sie vermuten eine etwaige religiöse Bedeutung?« Yardley zuckte die Achseln. »Ich befürchte, daß die wilde Mischung aus nordamerikanischem Fetischismus, christlichen Elementen und privatem Phalluskult die Fantasie selbst eines Geisteskranken überstrapaziert.«

Vaughn und Isham starrten den Professor verständnislos an. Weder Ellery noch Yardley klärten sie auf. Ellery bückte sich und betrachtete einen Gegenstand, der am Boden lag. Es handelte sich um eine langstielige Bruyerepfeife, die sich in der Lache aus geronnenem Blut befand.

»Die haben wir uns längst vorgenommen«, sagte Inspector Vaughn. »Fingerabdrücke drauf. Sind Brads. Ist ja auch seine Pfeife. Er hat sich hierhin zurückgezogen, um in Ruhe zu rauchen. Wir haben sie extra für Sie wieder an den Fundort zurückgelegt.«

Ellery nickte. Die Pfeife war von ungewöhnlicher Form; ihren Kopf, halbgefüllt mit kalter Asche, schmückte ein kunstvoll gearbeiteter Neptunskopf mit Dreizack. Auf dem Boden des Gartenhauses, direkt neben dem Pfeifenkopf, hatte sich, wie Vaughn betonte, Asche von ähnlicher Farbe und Beschaffenheit gefunden; als ob die Pfeife heruntergefallen und die Asche sich dabei verstreut hätte.

Ellery streckte seine Hand aus, um nach dem schmucken Kleinod zu greifen, hielt aber plötzlich inne und sah den Inspector an.

»Sind Sie absolut sicher, daß die Pfeife dem Opfer gehört hat? Ich meine, haben Sie die Hausbewohner dazu vernommen?«

»Wenn Sie mich so fragen, nein«, erwiderte Vaughn pikiert. »Ich wüßte allerdings nicht, warum wir Zweifel haben sollten. Immerhin, seine Finger-«

»Und seine Rauchjacke hatte er ebenfalls an«, warf Isham eifrig ein. »Andere Tabakwaren, zum Beispiel Zigaretten und Zigarren, haben wir nicht bei ihm gefunden. Mir ist absolut unverständlich, warum Sie glauben -«

Professor Yardley schmunzelte in seinen Bart hinein, und Ellery antwortete ruhig: »Ich glaube gar nichts. Ist nur so eine Gewohnheit von mir, Mr. Isham. Vielleicht -«

Er hob die Pfeife vom Boden auf und klopfte vorsichtig die Asche auf die Tischfläche. Als sich nichts mehr löste, untersuchte er den Kopf noch einmal und stellte fest, daß eine Schicht angeschmorten Tabaks dort haftengeblieben war. Dann entnahm er seinem Taschenset eine Klarsichthülle und füllte sie mit den Tabakresten aus dem Pfeifenkopf. Die anderen Männer sahen ihm schweigend zu.

»Wie Sie sehen«, sagte er, während er aufstand, »nehme ich nichts so leicht als Selbstverständlichkeit hin. Damit möchte ich nicht andeuten, daß die Pfeife nicht Brad gehört hätte. Der Tabak darin könnte jedoch höchst aufschlußreich sein. Nehmen wir einmal an, daß die Pfeife zwar Brad gehört, er jedoch den Tabak seines Mörders geraucht hätte, was keinesfalls ungewöhnlich wäre. Wie Sie sehen, ist dieser Tabak hier im Gegensatz zum üblichen Verfahren würfelförmig geschnitten, wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist. Nun untersuchen wir Brads Tabakvorräte. Ist würfelförmiger darunter? Wenn ja, dann ist es seiner, und er hatte ihn nicht von seinem Mörder. Verloren haben wir dabei nichts, es ist lediglich unsere Vermutung bestätigt. Finden wir aber keinen würfelförmig geschnittenen Tabak, dann ist mit einiger Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß der Tabak von Brads Mörder stammt. Ein wichtiger Anhaltspunkt ... Oh, entschuldigen Sie bitte meine Geschwätzigkeit.«

»Ausgesprochen interessant«, murmelte Isham.

»Die Detailarbeit der wissenschaftlichen Detektion«, schmunzelte Professor Yardley.

»Was halten Sie bislang von dem Fall?« fragte Vaughn.

Ellery polierte die Gläser seines Pincenez; seine markanten Züge spiegelten Gedankenverlorenheit. »Es wäre lächerlich, zu diesem Zeitpunkt konkretere Überlegungen anzustellen als etwa folgende: Entweder hat der Täter Brad bereits ins Gartenhaus begleitet, oder er hat es nicht; das läßt sich bislang nicht eindeutig feststellen. Wie auch immer -als Brad seine Gärten durchquerte, um zum Gartenhaus zu gelangen, befand sich ein roter Spielstein in seiner Hand, den er aus einem besonderen Grund aus seiner Villa, oder wo auch immer sich der übrige Teil des Spiels befindet, mitgenommen hat. Im Gartenhaus ist er dann angefallen und ermordet worden. Möglicherweise hat sein Mörder ihn angegriffen, während er rauchte; die Pfeife fiel ihm aus dem Mund und zu Boden. Vielleicht spielte er geistesabwesend in einer seiner Hosentaschen mit dem Spielstein. Während er ermordet, enthauptet und schließlich hochgestemmt und festgebunden wurde, blieb der Stein fest in seinem verkrampften Griff. Irgendwann muß dann der Stein heruntergefallen und auf dem Kiesboden davongerollt sein, ohne daß der Mörder es bemerkt hätte ... Warum Brad allerdings den Spielstein überhaupt zum Tatort mitgebracht hat, scheint mir die entscheidende Frage zu sein. Die Antwort darauf dürfte ein Schlaglicht auf den Fall werfen ... Noch keine sehr erhellende Analyse, was, Professor?«

»Wer schon hätte das Wesen des Lichts ergründet?« murmelte Yardley.

Dr. Rumsen betrat wichtigtuerisch das Gartenhaus und verkündete: »Ich bin soweit.«

»Wie lautet das Urteil, Doc?« fragte Isham ungeduldig.

»Keinerlei Anzeichen von Gewalt am Rumpf des Toten«, entgegnete Dr. Rumsen in unangenehmem Ton. »Es ist anzunehmen, daß er eine tödliche Kopfverletzung erlitten hat.«

Ellery fuhr zusammen; er meinte, Dr. Strang zu hören, der vor einem halben Jahr im Gerichtssaal von Weirton ausgesagt hatte.

»Ist es Ihrer Meinung nach möglich, daß er erdrosselt worden ist?« fragte Ellery.

»Kann ich jetzt noch nicht beurteilen. Aber das wird die Obduktion anhand des Lungenbefunds zeigen. Der Körper ist vom simplen rigor mortis so steif. Die Leichenstarre wird auch noch etwa zwölf bis vierundzwanzig Stunden anhalten.«

»Wie lange ist er schon tot?« fragte Inspector Vaughn.

»Seit etwa vierzehn Stunden.«

»Dann war es also schon dunkel!« rief Isham aus. »Der Mord muß um zweiundzwanzig Uhr herum verübt worden sein.«

Dr. Rumsen zuckte die Achseln. »Lassen Sie mich bitte meinen Bericht beenden; ich habe mir schließlich auch meinen Feierabend verdient. Feuermal etwa zwanzig Zentimeter über dem rechten Knie. Das wär‘s.«

Als sie das Gartenhaus verließen, bemerkte Inspector Vaughn: »Mein Gott, das erinnert mich an etwas, Mr. Queen. Hat nicht Ihr Vater am Telefon erwähnt, Sie hätten Informationen für uns?«

Ellery sah Professor Yardley durchdringend an, und Yardley gab den Blick zurück. »Ja«, erwiderte Ellery, »die habe ich, Inspector. Kommt Ihnen irgend etwas an diesem Verbrechen sonderbar vor?«

»Alles an diesem Mord ist verrückt«, knurrte Vaughn. »Aber was genau meinen Sie?«

Ellery kickte gedankenverloren einen Kieselstein aus dem Weg. Schweigend ließen die Männer den Totempfahl hinter sich; die Leiche von Thomas Brad, die nun bedeckt war, wurde gerade auf eine Bahre gehoben und ins Haus getragen.

»Haben Sie jemals darüber nachgedacht«, fuhr Ellery fort, »warum ein Mann geköpft und an einem Totempfahl gekreuzigt worden sein könnte?«

»Sicher«, entgegnete Vaughn gereizt, »aber was bringt uns das? Es ist verrückt, das ist es!«

»Sie haben also«, entgegnete Ellery, »die vielen Ts nicht bemerkt?«

»Die vielen Ts?«

»Zunächst bildet der Pfahl selbst mit seinem Längsbalken und den ausgebreiteten Adlerschwingen ein T.« Die Männer fixierten ihn aus Augenschlitzen. »Ebenso die Leiche: Kopf vom Rumpf abgetrennt, ausgestreckte Arme, Beine zusammen.« Die Schlitze verengten sich weiter. »Und schließlich das T, das der Täter mit dem Blut seines Opfers auf den Boden geschmiert hat.«

»Natürlich ist uns das aufgefallen«, entgegnete Isham skeptisch, »aber -«

»Absurderweise«, fuhr Ellery mit freudlosem Gesichtsausdruck fort, »beginnt auch das Wort Totem mit T.«

»Alles Quatsch«, ereiferte sich der Staatsanwalt. »Bloßer Zufall. Auch der Totempfahl und die Leiche - es ist eben so passiert und nicht anders.«

»Zufall?« Ellery seufzte. »Würden Sie es auch als Zufall bezeichnen, wenn ich Ihnen erzählte, daß vor einem halben Jahr in West Virginia ein Mord verübt worden ist, zu dessen Besonderheiten die Kreuzigung des zuvor enthaupteten Opfers an einem T-förmigen Wegweiser zählte, der wiederum an einer T-förmigen Kreuzung stand. Nicht zu vergessen das T, das der Mörder mit dem Blut des Toten an die Tür seines kaum hundert Meter entfernten Hauses geschmiert hatte?«

Inspector Vaughn schien es die Sprache verschlagen zu haben, und Staatsanwalt Isham wurde sichtlich blasser. »Soll das ein Scherz sein?«

»Ich muß mich schon sehr über Sie wundern«, sagte Professor Yardley ruhig. »Immerhin sind Sie Profis. Sogar ich ­ein blutiger Laie -weiß von dem Fall. Die Meldung sorgte landesweit für Schlagzeilen.«

»Wo Sie das jetzt so sagen«, murmelte Isham, »meine ich, mich vage zu erinnern.«

»Aber -mein Gott, Mr. Queen!« rief Vaughn. »So was ist doch einfach nicht möglich! Das ... das kann einfach nicht sein!«

»Doch, doch«, sagte Ellery leise. »Den Fall hat es wirklich gegeben. Und da gab es auch diesen sonderbaren Alten, der sich Ra-Haracht oder Haracht nannte ...«

»Über genau den wollte ich sowieso noch mit Ihnen sprechen«, bemerkte Professor Yardley.

»Haracht!« entfuhr es Inspector Vaughn. »So heißt doch dieser Verrückte, der auf Oyster Island eine Nudistenhorde um sich geschart hat!«


5. Innere Angelegenheiten


Vaughn hatte den Spieß herumgedreht; nun war es Ellery, der seine Verblüffung nicht zu verbergen vermochte. Der zottelbärtige Fanatiker in der Nachbarschaft! Der heißeste Krosac-Zeuge fand sich in der Nähe des Tatorts eines Verbrechens wieder, das dieselbe unverwechselbare Handschrift aufwies wie der Mord von Arroyo. Das war zu schön, um wahr zu sein.

»Ich frage mich, ob die anderen auch hier sind«, bemerkte er, als sie die Stufen der Veranda betraten. »Es kann nämlich gut sein, daß wir es mit dem zweiten Akt einer tödlichen Tragödie zu tun haben - in derselben Besetzung! Haracht ...“

»Ich habe bisher keine Gelegenheit gefunden, es Ihnen zu sagen«, meinte Yardley niedergeschlagen. »Aber eigentlich müßten Sie mit Ihren ägyptologischen Vorahnungen schon längst zu demselben Schluß gekommen sein wie ich.«

»So schnell?« fragte Ellery zögerlich. »Was meinen Sie?«

Ein einziges Grinsen überzog Yardleys markantes Gesicht.

»Dieser Haracht, so wenig ich auch dazu neige, mit Anschuldigungen um mich zu werfen ... Nun ja, immerhin scheinen Kreuzigungen und Ts den Weg dieses Herrn zu pflastern, oder sehe ich das falsch?«

»Sie vergessen Krosac«, gab Ellery knapp zurück.

»Mein lieber Junge«, protestierte der Professor gekränkt, »Sie sollten mich besser kennen ... Etwas Wesentliches dieser Art vergesse ich nie. Aber inwiefern widerlegt Krosacs Existenz meine Vermutung? Immerhin gibt es doch, soweit ich weiß, so etwas wie Komplizen. Und wir haben da einen großen und kräftigen Burschen der primitiveren Sorte -«

Inspector Vaughn kam zu ihnen auf die Veranda gehetzt und unterbrach das Gespräch, als es gerade interessant zu werden begann.

»Ich lasse Oyster Island jetzt überwachen«, keuchte er. »Das Risiko ist zu groß. Sobald wir hier fertig sind, verhören wir den Haufen da drüben.«

Den Staatsanwalt hatte die rasche Abfolge der Ereignisse in einen Alarmzustand versetzt. »Habe ich richtig verstanden -der Geschäftsführer von diesem Haracht war der Hauptverdächtige im Fall Arroyo? Wie zum Teufel sah der Kerl denn aus?« Isham hatte Ellery während seiner Fallschilderung geradezu an den Lippen gehangen.

»Es liegt eine vage Beschreibung vor, die allerdings nicht ausreichen wird, um ihn ausfindig zu machen; brauchbar ist lediglich die Beobachtung, daß der Mann hinkt. So einfach, Mr. Isham, liegt die Sache nicht; bislang ist der Mann, der sich Haracht nennt, der einzige, der den mysteriösen Krosac identifizieren könnte. Aber wenn unser Freund, der Sonnengott, nicht mitspielt ...

»Lassen Sie uns hineingehen«, brummte Vaughn. »Mir dröhnt ja jetzt schon der Schädel. Ich will endlich konkrete Zeugenaussagen!«

Im Salon der Kolonialvilla erwartete die Männer ein trauerumflortes Häuflein. Die drei Menschen, die sich mühsam erhoben, als Ellery und die Männer den Raum betraten, hatten gerötete Augen, verhärmte Gesichter und waren so nervös, daß ihre Bewegungen aus kontinuierlichen Zuckungen bestanden.

»Ah -kommen Sie herein«, sagte der Mann mit heiserer, gebrochener Stimme. »Wir haben auf Sie gewartet.« Er war groß, schlank und zugleich kräftig und mochte etwa Mitte Dreißig sein. Ein Neuengländer, seinen kantigen Gesichtszügen und dem leichten Näseln nach zu schließen.

»Guten Tag«, sagte Isham bedrückt. »Mrs. Brad, darf ich vorstellen, Ellery Queen, der eigens aus New York gekommen ist, um uns zu assistieren.«

Ellery murmelte die üblichen Kondolenzformeln, ohne daß sie sich die Hand gaben. Margaret Brad bewegte sich, als irre sie durch die Schrecken eines Alptraums. Sie war eine Frau von fünfundvierzig, hatte sich jedoch gut gehalten und konnte mit ihren festen Rundungen durchaus als gereifte Schönheit gelten. Mit unbewegten Lippen antwortete sie: »Ich danke Ihnen ... daß Sie da sind, Mr. Queen. Ich -« Ohne den Satz zu vollenden, wandte sie den Kopf, als hätte sie bereits vergessen, was sie sagen wollte, und setzte sich hin.

»Und das ist die -Mr. Brads Stieftochter«, fuhr der Staatsanwalt fort. »Miss Brad - Mr. Queen.«

Helene Brad schenkte Ellery ein bitteres Lächeln, nickte Professor Yardley zu und gesellte sich schweigend zu ihrer Mutter. Sie war ein junges Mädchen mit klugen, recht schönen Augen, leicht rötlichem Haar und offenen Gesichtszügen.

»Nun?« fragte Lincoln. Seine Stimme hatte sich immer noch nicht gefestigt.

»Wir kommen voran«, murmelte Vaughn. »Mr. Queen -Mr. Lincoln ... Mr. Queen muß noch über einiges ins Bild gesetzt werden, und mit unserer Unterhaltung vorhin waren wir auch noch nicht fertig.« Sie nickten ernst, als spielten sie in einem Drama mit. »Wollen Sie das selbst in die Hand nehmen, Mr. Queen? Legen Sie los!«

»O nein«, antwortete Ellery, »ich melde mich schon zu Wort. wenn ich etwas zu sagen habe. Tun Sie so, als wäre ich gar nicht da.«

Inspector Vaughn stand groß und beherrschend neben dem

Kamin, hatte die Hände hinter dem Rücken und fixierte mit seinen Augen Lincoln. Isham setzte sich hin und wischte sich über die kahle Fläche auf seinem Kopf. Der Professor seufzte, ging leise zu einem der Fenster und schaute auf den Vorgarten und die Einfahrt hinunter. Im Haus war es so still wie nach einem lauten Fest -oder einer Beerdigung. Keine Geschäftigkeit, kein Weinen, keine Hysterie. Außer Mrs. Brad, ihrer Tochter und Jonah Lincoln war kein anderer Angehöriger des Haushalts - das Personal etwa - erschienen.

»Nun, zunächst einmal«, begann Isham müde, »müssen wir die Sache mit den Theaterkarten von gestern Abend klären, Mr. Lincoln. Wenn Sie bitte so freundlich wären, uns die Geschichte von Anfang an zu erzählen!«

»Ach ja ... die Theaterkarten.« Lincoln starrte derart glasig die Wand über Ishams Kopf hinweg an, daß man meinen konnte, einen Soldaten mit akuter Kriegsneurose vor sich zu haben. »Gestern hat Tom Brad von seinem Büro aus Mrs. Brad angerufen und ihr mitgeteilt. daß er Karten für ein Broadwaystück für sie, Helene und mich erstanden habe und ich die Damen in der Stadt treffen solle. Er selbst werde nach Hause fahren. Dasselbe trug er mir persönlich ein paar Minuten später auf. Es schien ihm viel daran zu liegen, daß ich die Damen ausführte. Ich konnte nicht ablehnen.«

»Hätte es denn einen Grund gegeben?« fragte der Inspector zurück.

Lincoln verzog keine Miene. »Es war untypisch für ihn, zu diesem Zeitpunkt einen solchen Auftrag zu erteilen. Es hatte Ärger im Büro gegeben, weil mit der Buchführung etwas nicht stimmte; und ich wollte eigentlich länger bleiben, um die Sache mit unserem Buchprüfer durchzugehen. Ich habe Tom noch daran erinnert, aber er sagte nur, ich solle mir darüber keine Gedanken machen.«

»Und das verstehe ich einfach nicht«, fügte Mrs. Brad tonlos hinzu, »als hätte er uns loswerden wollen.« Plötzlich begann sie zu zittern, woraufhin Helene ihr beruhigend auf die Schulter klopfte.

»Mrs. Brad, Helene und ich haben dann im Longchamps zu Abend gegessen«, fuhr Lincoln angespannt fort. »Danach sind wir dann zum Theater -«

»Zu welchem?« fragte Isham.

»Zum Park-Theater, wo ich die Damen dann allein gelassen habe -«

»Oho!« warf der Inspector dazwischen. »Wollten also doch noch ein bißchen fleißig sein, was?«

»Ganz recht. Ich habe mich von den Damen verabschiedet und ihnen versprochen, sie nach der Vorstellung abzuholen, und bin zum Büro zurück.«

»Wo Sie mit Ihrem Buchprüfer gearbeitet haben, Mr. Lincoln?« fragte Vaughn sanft.

Lincoln starrte ihn an. »Ja ... mein Gott!« Plötzlich warf er den Kopf zurück und schnappte wie ein Ertrinkender nach Luft. Niemand sagte etwas. Dann sprach er ruhig weiter, als sei nichts geschehen. »Ich habe bis zum späten Abend gearbeitet und bin dann zum Theater zu-«

»Ist der Buchprüfer auch so lange geblieben?« fragte der Inspector im selben verhaltenen Ton.

Lincoln fuhr zusammen. »Nein, warum?« Er schüttelte benommen den Kopf. »Wie meinen Sie das? -Nein, er ist um acht herum gegangen. Ich habe allein weitergearbeitet.«

Der Inspector räusperte sich; seine Augen funkelten gefährlich. »Wann haben Sie die Damen vom Theater abgeholt?«

»Um viertel vor zwölf«, entgegnete Helene Brad unvermittelt. Sie klang ruhig und gefaßt. Dennoch sah ihre Mutter sie scharf an.

»Lieber Inspector Vaughn, ich finde Ihre Verhörmethoden

ungeheuerlich! Sie schwärzen hier einfach so Jonah an und versuchen, ihn als Lügner -und weiß der Himmel, was sonst noch - hinzustellen.«

»Die Wahrheit hat noch keinem geschadet«, gab Vaughn kühl zurück. »Fahren Sie fort, Mr. Lincoln.«

»Mrs. Brad und Helene warteten bereits im Foyer auf mich. Wir sind dann nach Hause -«

»Mit dem Wagen?«

»Nein, mit der Long-Island-Bahn. Als wir aus dem Zug stiegen, war Fox nicht mit dem Wagen zur Stelle. Wir sind dann mit dem Taxi nach Hause gefahren.«

»Mit dem Taxi?« murmelte Vaughn. Er stand eine Weile nachdenklich da und verließ dann ohne ein Wort den Raum. Die Frauen des Hauses und Lincoln starrten ihm ängstlich nach.

»Weiter«, drängte Isham, »ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen, als Sie nach Hause kamen? Stimmte etwas nicht? Wie spät war es?«

»Genau kann ich das nicht mehr sagen. Um eins herum, nehme ich an.« Lincoln ließ die Schultern hängen.

»Es war schon nach eins, Jonah«, sagte Helene. »Du erinnerst dich nur nicht mehr genau.«

»Ja. Aber alles schien in Ordnung. Der Pfad zum Gartenhaus -« Lincoln zitterte. »Wir haben einfach keinen Anlaß gehabt, dort nachzusehen. War bei der Stockfinsternis ohnehin nichts zu erkennen. Wir sind einfach zu Bett gegangen.«

Inspector Vaughn kam leise wieder herein.

»Mrs. Brad, wie konnte Ihnen eigentlich entgehen«, fragte Isham, »daß Ihr Mann nicht in seinem Bett geschlafen hat, wie Sie vorhin gesagt haben?«

»Wir schlafen -schliefen in angrenzenden Zimmern«, erwiderte sie mit blutleeren Lippen. »Ich hätte also gar nichts bemerken können, wie Sie sehen. Helene und ich sind auf unsere Zimmer gegangen ... Erst als Fox uns heute morgen

weckte, haben wir erfahren, was - was mit Thomas passiert ist.«

Inspector Vaughn machte ein paar Schritte und beugte sich vor, um Isham etwas ins Ohr zu flüstern. Der Staatsanwalt nickte geistesabwesend.

»Seit wann wohnen Sie hier, Mr. Lincoln?« fragte Vaughn.

»Schon seit langem. Wie lange genau, Helene?« Der hochgewachsene Neuengländer wandte sich um und sah Helene direkt in die Augen. Als sich ihre Blicke trafen, spiegelte sich Zuneigung darin.

Lincoln spannte die Schultern an und atmete tief durch. Sein glasiger Blick verschwand.

»Seit acht Jahren, meine ich, Jonah.« Ihre Stimme zitterte, und zum ersten Mal füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Ich war noch ein Kind, als du und Hester hergekommen seid.«

»Hester?« fragten Vaughn und Isham im gleichen Augenblick. »Wer ist die Dame?«

»Meine Schwester«, entgegnete Lincoln mit nunmehr fester Stimme. »Wir haben früh die Eltern verloren. Seitdem habe ich sie immer im Schlepptau.«

»Wo ist sie? Warum ist sie uns nicht vorgestellt worden?«

»Sie ist auf der Insel«, sagte Lincoln ungerührt.

»Oyster Island?« fragte Ellery träge. »Wie interessant. Sie ist aber nicht zufällig den Sonnenanbetern beigetreten, Mr. Lincoln?«

»Wie -wie haben Sie das herausgefunden?« rief Helene aus. »Jonah, du hast doch nicht etwa -«

»Meine Schwester«, begann Lincoln umständlich, »ist der Typ Frau, der auf so was fliegt. Dieser alte Spinner, der sich Haracht nennt, hat die Insel von den Ketchams gemietet -ältere Leute; sie wohnen auch dort -und diesen Hokuspokus angefangen - eine Art Sonnen- und ähm -Nacktkult ...« Etwas schien ihm die Kehle zuzuschnüren. »Ja, und Hester begann sich für ... die Leute auf der Insel zu interessieren, und wir hatten eine heftige Auseinandersetzung darüber. Aber, stur wie sie ist, ist sie einfach von Bradwood abgehauen und hat sich der Nudistenkolonie angeschlossen. Diese verdammten Scharlatane!« preßte er ungehalten hervor. »Es würde mich nicht im Geringsten wundern, wenn sie etwas mit dieser grauenvollen Angelegenheit zu tun hätten.«

»Schlau kombiniert, Mr. Lincoln«, murmelte Professor Yardley.

Ellery hüstelte höflich und wandte sich an die schreckensstarre Mrs. Brad. »Ich hoffe, es macht Ihnen nicht viel aus, wenn ich Ihnen ein paar persönliche Fragen stelle.« Sie sah zu ihm auf und senkte dann den Blick auf ihre Hände im Schoß. »Soweit wir wissen, ist Miss Brad Ihre Tochter und die Stieftochter Ihres verstorbenen Mannes. Waren Sie in zweiter Ehe verheiratet, Mrs. Brad?«

Die attraktive Frau bejahte.

»War auch Ihr Mann vor Ihnen schon einmal verheiratet?«

Sie biß sich auf die Lippen. »Wir -wir waren zwölf Jahre verheiratet. Tom -er hat nie viel über seine erste Frau gesprochen. Ich weiß nur, daß er sie in Europa geheiratet hat. Sie ist wohl sehr jung gestorben.«

»Ts, ts«, sagte Ellery, der mitfühlend die Stirn runzelte. »In welchem Teil Europas, Mrs. Brad?«

Sie sah ihn an und errötete leicht. »Ich weiß es nicht genau. Thomas war Rumäne. Vermutlich - hat er dort geheiratet.«

Helene Brad machte eine mißbilligende Kopfbewegung. »Also wirklich! Sie traktieren uns hier mit lächerlichen Nebensächlichkeiten. Was macht es schon aus, wo Leute vor Urzeiten hergekommen sind oder wen sie geheiratet haben? Warum kümmern Sie sich nicht darum, den Mörder zu finden?«

»Mir will die Vermutung nicht aus dem Kopf, Miss Brad«, antwortete Ellery mit einem traurigen Lächeln, »daß die Geographie dieses Falles von immenser Wichtigkeit sein könnte

... Ist Mr. Megara ebenfalls Rumäne?«

Mrs. Brad sah ihn verständnislos an. »Grieche«, antwortete Lincoln knapp.

»Was in aller Welt -«, begann der Staatsanwalt hilflos. Inspector Vaughn grinste. »Grieche, so, so. Aber ansonsten sind Sie alle gebürtige Amerikaner?«

Sie nickten. Helenes Augen funkelten wütend; sogar der Rotschimmer in ihrem Haar leuchtete intensiver. Sie sah zu Jonah hinüber, als erwarte sie Protest von ihm. Er jedoch blieb stumm und blickte nur auf seine Fußspitzen hinunter.

»Wo steckt dieser Megara überhaupt?« fuhr Isham fort. »Irgendwer hat doch gesagt, er sei auf einer Kreuzfahrt. Mit ’nem Luxusdampfer um die Welt, oder wie darf ich das verstehen?«

»Nein«, erwiderte Lincoln zögernd. »Nichts dergleichen. Mr. Megara ist eine Art Abenteurer und Hobbyentdecker. Er besitzt eine eigene Jacht, mit der er die meiste Zeit des Jahres über die Meere segelt. Er verabschiedet sich einfach und bleibt dann drei oder vier Monate auf dem Wasser.«

»Wie lange ist er dieses Mal schon unterwegs?« fragte Vaughn.

»Fast ein Jahr.«

»Wo hält er sich auf?«

Lincoln zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung, er schreibt ja nie. Schneit einfach so herein, ohne Ankündigung. Ich habe mich allerdings auch schon gefragt, warum er diesmal so lange fortbleibt.«

»Ich meine mich zu erinnern«, fügte Helene stirnrunzelnd hinzu, »daß er in die Südsee wollte.« Ihre Augen leuchteten, und ihre Lippen bebten. Ellery, der sie aufmerksam beobachtete, fragte sich, warum.

»Wie heißt seine Jacht?«

Helene trat die Röte ins Gesicht. »Die Helene

»Dampfgetrieben?«

»Ja.«

»Befindet sich an Bord ein Funkgerät?« fragte Vaughn.

»Ja.«

Der Inspector kritzelte mit hochbefriedigter Miene etwas in sein Notizbuch. »Und er segelt selbst?« fragte er, während er schrieb.

»Natürlich nicht! Er beschäftigt einen Kapitän mit Besatzung -Captain Swift, mit dem er schon seit Jahren über die Weltmeere segelt.«

Ellery setzte sich unvermittelt hin und streckte seine langen Beine aus. »Hätte mich auch gewundert ... Wie lautet Megaras Vorname?«

»Stephen.«

Isham gab einen Unmutslaut von sich. »Herrgott noch, warum können wir nicht einfach beim Wesentlichen bleiben! Wie lange waren Brad und Megara Geschäftspartner beim Teppichimport?«

»Sechzehn Jahre«, antwortete Jonah. »Haben die Firma zusammen gegründet.«

»Mit einigem Erfolg, nicht wahr? Gab es nie finanzielle Schwierigkeiten?«

Lincoln schüttelte den Kopf. »Beide haben ein beträchtliches Vermögen angehäuft. Die Depression ist zwar auch an unserer Firma nicht spurlos vorbeigegangen, aber das Geschäft ist stabil geblieben.« Er unterbrach seine Rede, und ein seltsamer Ausdruck trat in sein unverbrauchtes schlankes Gesicht. »Ich glaube keinesfalls, daß finanzielle Probleme das Tatmotiv bilden.«

»Schön«, brummte Isham. »Worin könnte dann Ihrer Meinung nach das Tatmotiv bestehen?«

Lincoln schloß den Mund.

»Sie halten aber nicht etwa für möglich«, fragte Ellery lässig,

»daß es religiöser Natur sein könnte?«

Lincoln blickte ihn irritiert an. »Das habe ich so nicht gesagt. Aber das Verbrechen - die Kreuzigung ...«

Ellery setzte sein charmantes Lächeln auf. »Ganz nebenbei gefragt - welcher Konfession hat Brad angehört?«

Mrs. Brad, deren üppiger Rücken noch immer durchgedrückt war -Brust vorgewölbt, Kinn erhoben -antwortete leise: »Er hat einmal erwähnt, daß er griechisch-orthodox erzogen worden sei. Er war allerdings nicht fromm, hielt nicht viel vom kirchlichen Ritus; manche haben ihn für einen Atheisten gehalten.«

»Und Megara?«

»Der glaubt an rein gar nichts.« Etwas in ihrem Tonfall erzeugte bei den anderen warnende Blicke. Doch ihr Gesicht blieb ausdruckslos.

»Griechisch-orthodox«, äußerte Professor Yardley nachdenklich, »das ist mit Rumänien gut vereinbar ...«

»Sie sind auf der Suche nach Unstimmigkeiten?« murmelte Ellery.

Inspector Vaughn hustete, wobei ihn Mrs. Brad angespannt beobachtete. Sie schien die nächste Frage zu wittern. »Wies der Körper Ihres Mannes unveränderliche Kennzeichen auf, Mrs. Brad?«

Helene wandte würgend den Kopf ab. Mrs. Brad stammelte: »Er hatte ein Feuermal am rechten Oberschenkel.«

Der Inspector seufzte erleichtert. »Das hätten wir also. Und nun, Leute, kommen wir zum Kern der Sache. Wie steht es mit Feinden? Wer könnte ein Interesse daran gehabt haben, Brad aus dem Weg zu räumen?«

»Vergessen Sie für den Augenblick mal die Kreuzigung und all das«, fügte der Staatsanwalt hinzu. »Wer hatte ein Mordmotiv?«

Mutter und Tochter sahen einander tief in die Augen und

wandten sich aber fast auf der Stelle wieder voneinander ab. Lincoln starrte weiter stur auf den Orientteppich herab -ein erlesenes Stück. Wenn man die Lebensbaumornamentik dieses Prachtstücks betrachtete, so ergab sich, wie Ellery fand, angesichts des ermordeten Besitzers ein unglücklicher Kontrast zwischen Symbol und Realität

»Nein«, sagte Mrs. Brad, »Thomas war ein glücklicher Mensch. Er hatte keine Feinde.«

»Zählen gelegentlich nahezu Fremde zu Ihren Gästen?«

»Nein, nie. Wir haben hier sehr abgeschieden gelebt, Mr. Isham.« Wieder schwang in ihrer Stimme etwas mit, was bei den anderen scharfe Blicke provozierte.

Ellery stöhnte. »Erinnert sich jemand von Ihnen zufällig an die Anwesenheit eines hinkenden Mannes - als Gast zum Beispiel?«

Sie schüttelten - wie auf Befehl -gleichzeitig die Köpfe. »Mr. Brad kannte niemanden, der hinkte?« Wieder einträchtiges Kopfschütteln.

Mrs. Brad wiederholte dumpf: »Thomas hatte keine Feinde«, als sei es ihr wichtig, diesen Umstand besonders zu betonen.

»Du vergißt da etwas, Margaret«, wandte Lincoln ein. »Romaine.«

Er sah Mrs. Brad durchdringend an. Helene warf Lincoln einen Blick voller Schrecken und Mißbilligung zu; sie biß sich auf die Lippen, und Tränen traten in ihre Augen. Die vier Männer folgten dem Geschehen mit wachsendem Interesse und der Gewißheit, daß in den Zwischentönen Ungutes lauerte, etwas Schwärendes, das den Familienverband befallen hatte.

»Ja, Romaine«, sagte Mrs. Brad, indem sie ihre Lippen befeuchtete; ihre Körperhaltung war seit zehn Minuten wie festgefroren. »Das hatte ich ganz vergessen. Da gab es einen Streit.«

»Wer zum Teufel ist Romaine?« fragte Vaughn.

Lincoln erwiderte mit leiser Stimme: »Paul Romaine. Haracht, der Verrückte von Oyster Island, bezeichnet ihn als seinen ›Ersten Jünger‹.«

»Ah!« sagte Ellery und schaute Yardley an. Der Professor zog vielsagend die Schultern hoch und grinste.

»Sie haben einen Haufen Nudisten um sich geschart. Nudisten!« rief Lincoln verbittert aus. »Haracht ist ein harmloser Spinner und meint es wahrscheinlich ernst; aber dieser Romaine ist ein Scharlatan, die übelste Sorte von Hochstapler. Er blendet durch seinen Körper, der nichts ist als die Maske einer verderbten Seele!«

»Und doch«, murmelte Ellery, »hat Oliver Wendelt Holmes empfohlen: ›Leg dir ein schön‘res Äuß’res, meine Seele, zu!‹«

»Sicher«, sagte Inspector Vaughn, der bemüht war, seinen aufgebrachten Zeugen zu beschwichtigen. »Verstehe. Aber wie war das mit dem Streit, Mr. Lincoln?«

Das hagere Gesicht begann zu zucken. »Romaine kümmert sich um die ›Gäste‹ auf der Insel; er ist derjenige, der den Laden erst in Schwung bringt. Er hat einen Haufen Idioten an der Angel, die ihn entweder als Götzen verehren oder so verklemmt sind, daß der alleinige Gedanke, nackt herumzurennen ...« Er brach seine Rede abrupt ab. »Entschuldigt bitte, Helene -Margaret. Ich sollte nicht reden. Hester ... Die Anwohner hier lassen sie ja in Ruhe, das muß ich zugeben. Aber Tom und Dr. Temple denken genauso wie ich.«

»Hmm«, brummte der Professor. »Mich hat erst gar keiner gefragt.«

»Dr. Temple?«

»Unser östlicher Nachbar. Man hat sie splitternackt auf der Insel herumtollen sehen -wie die Schweine, und, wissen Sie ­wir sind anständige Leute hier.« Ah, dachte Ellery, also sprach der Puritaner. »Tom ist der Eigentümer des gesamten Landstreifens, der die Bucht säumt; und er sah es als seine Pflicht an einzuschreiten. So ist er mit Romaine und Haracht aneinandergeraten. Soweit ich weiß, hatte er vor, sie mit rechtlichen Mitteln von der Insel zu vertreiben, und das hat er ihnen auch angedroht.«

Vaughn und Isham tauschten Blicke, bevor sie zu Ellery hinüberschauten. Die Brads, Mutter und Tochter, waren sehr ruhig; nur Lincoln, der eben seinen ganzen angestauten Haß artikuliert hatte, wirkte unsicher und beschämt.

»Nun, damit werden wir uns später befassen«, sagte Vaughn heiter. »Habe ich das richtig verstanden - diesem Dr. Temple gehört das östlich angrenzende Grundstück?«

»Es gehört ihm nicht, er hat es von Thomas gepachtet.« Mrs. Brad schien erleichtert zu sein. »Er lebt schon lange hier, ein Militärarzt im Ruhestand. Er und Thomas waren gute Freunde.«

»Und wer bewohnt das westlich angrenzende Grundstück?«

»Ein britisches Ehepaar namens Lynn - Percy und Elizabeth.«

Helene murmelte: »Ich habe die beiden letzten Herbst in Rom kennengelernt, und wir haben uns gleich sehr gut verstanden. Als die beiden andeuteten, die Staaten besuchen zu wollen, habe ich ihnen vorgeschlagen, mich in mein Heimatland zu begleiten und für die Dauer ihres Aufenthaltes meine Gäste zu sein.«

»Wann genau sind Sie aus Europa zurückgekehrt, Miss Brad?« fragte Ellery.

»Um Thanksgiving herum. Die Überfahrt haben wir zusammen gemacht, uns dann aber in New York getrennt. Sie sind eine Weile herumgereist, um etwas von Land und Leuten zu sehen. Im Januar sind sie dann bei uns angekommen. Sie waren vollkommen begeistert von der Gegend -« Lincoln brummte, und Helene errötete. »O doch, Jonah! Sogar so sehr, daß sie, um unsere Gastfreundschaft nicht zu strapazieren ­vollkommen unnötig, aber man weiß ja, wie eigensinnig die Briten sein können -darauf bestanden, das Haus im Westen zu mieten, das Vater gehörte. Und seitdem wohnen sie hier.«

»Schön, schön, mit denen werden wir uns auch noch unterhalten«, sagte Isham. »Aber noch einmal zu diesem Dr. Temple. Mrs. Brad, Sie sagten, er und Ihr Mann seien gut miteinander bekannt gewesen. Wahre Freundschaft, hm?«

»In dieser Richtung werden Sie nicht fündig werden, Mr. Isham, falls das eine Anspielung sein sollte. Ich persönlich habe Dr. Temple nie besonders gemocht; aber er ist ein aufrechter Mann, und Thomas, der ein Menschenkenner war, wäre für ihn durchs Feuer gegangen. Sie haben viele Abende beisammen gesessen und Dame gespielt.«

Professor Yardley stöhnte gelangweilt angesichts der feierlich aufgezählten Tugenden und Laster seiner Nachbarn, wo er selbst doch eine wesentlich tiefgreifendere Analyse hätte bieten können.

»Dame!« rief Inspector Vaughn. »Na endlich! Wer hat noch mit Mr. Brad gespielt -oder war dieser Dr. Temple sein einziger Partner?«

»O nein! Wir haben alle hin und wieder mit ihm gespielt.«

Vaughn wirkte enttäuscht. Professor Yardley rieb sich den schwarzen Lincolnbart. »Ich fürchte, da sind Sie auf dem Holzweg, Inspector. Brad war verteufelt gut und hat jeden, der herkam, genötigt, eine Partie mit ihm zu spielen. Beherrschte jemand die Regeln nicht, so bestand er -mit einer Engelsgeduld allerdings - darauf, sie ihm beizubringen. Ich fürchte«, er lachte, »daß ich der einzige Gast war, der seinen Überredungskünsten widerstanden hat.« Ein ernster Ausdruck überschattete seine Züge, und er verstummte.

»Er war ein Ausnahmespieler«, fügte Mrs. Brad mit einem andeutungsweise stolzen Lächeln hinzu. »Der Landesmeister selbst hat mir das einmal gesagt.«

»Sie gehören also auch dieser Spielerklasse an?« fragte Isham.

»Aber nein, Mr. Isham. Wir hatten den Meister letzte Weihnachten zu Gast, und Thomas und er haben ununterbrochen am Brett gesessen. Wie er mir sagte, stand es ständig unentschieden.«

Ellery sprang auf; sein markantes Gesicht verriet innere Anspannung. »Ich habe den Eindruck, daß wir die guten Leute mit unserer endlosen Fragerei sinnlos schikanieren. Ein paar Fragen noch, und wir werden Sie nicht mehr belästigen, Mrs. Brad. Haben Sie jemals den Namen Velja Krosac gehört?«

Mrs. Brad wirkte ehrlich ratlos. »Vel-, was für ein seltsamer Name! Nein, Mr. Queen, habe ich nicht.«

»Sie, Miss Brad?«

»Nein.«

»Sie, Mr. Lincoln?«

»Nein.«

»Haben Sie jemals den Namen Kling gehört?« Alle schüttelten den Kopf.

»Andrew Van?«

Wieder Fehlanzeige.

»Arroyo, West Virginia?«

Lincoln sagte leise: »Was soll das sein? Ein Spiel?«

»In gewisser Weise«, schmunzelte Ellery. »Also keiner von Ihnen?«

»Nein.«

»Gut. Folgende Frage können Sie aber sicher beantworten: Wann genau hat dieser Fanatiker namens Haracht Oyster Island in Beschlag genommen?«

»Ja, das«, sagte Lincoln. »Im März.«

»Hatte er diesen Paul Romaine dabei?«

Ein Schatten fiel über Lincolns Gesicht. »Ja.«

Ellery polierte sein Pincenez, setzte es wieder auf seinen geraden Nasenrücken und lehnte sich nach vorn. »Sagt Ihnen der Buchstabe T etwas?«

Sie starrten ihn entgeistert an. »T?« wiederholte Helene. »Was in aller Welt meinen Sie?«

»Offenbar nicht«, bemerkte Ellery, während Professor Yardley lachte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. »Nun gut. Mrs. Brad, hat Ihr Mann jemals von seiner rumänischen Heimat erzählt?«

»Nein, hat er nie. Ich weiß nur, daß er vor achtzehn Jahren aus Rumänien eingewandert ist, zusammen mit Stephen Megara. Sie waren in ihrem Heimatland Freunde oder Geschäftspartner gewesen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ja, woher schon? Thomas hat es mir erzählt.«

Ellerys Augen begannen zu leuchten. »Entschuldigen Sie bitte meine Neugier, es könnte aber wichtig sein ... War Ihr Mann wohlhabend, als er einwanderte?«

Mrs. Brad wurde rot. »Ich weiß es nicht. Als wir heirateten, war er es.«

Ellery schaute nachdenklich drein. Mehrere Male vernahm man von ihm ein »Hmm«, dann schüttelte er zufrieden den Kopf und wandte sich an den Staatsanwalt: »Mr. Isham, wenn Sie mir einen Atlas besorgen, werde ich Sie für einige Zeit in Ruhe lassen.«

»Einen Atlas!« Der Staatsanwalt ließ den Unterkiefer fallen; sogar Professor Yardley schien verwirrt. Inspector Vaughn stand der Unmut ins Gesicht geschrieben.

»Wir haben einen in der Bibliothek«, antwortete Lincoln tonlos und verließ das Wohnzimmer.

Ellery marschierte auf und ab; ein entrücktes Lächeln belebte seine Lippen. Die anderen beobachteten ihn, ohne folgen zu können. »Mrs. Brad, sprechen Sie Griechisch oder Rumänisch?«

Sie schüttelte den Kopf. Lincoln kam zurück und hielt ein großes, blau eingebundenes Buch in Händen. »Mr. Lincoln«, begann Ellery, »Sie arbeiten in einem Unternehmen mit, dessen Geschäftskontakte sich auf den europäischen und asiatischen Raum erstrecken. Sprechen oder verstehen Sie Griechisch oder Rumänisch?«

»Nein. Es besteht für uns keine Notwendigkeit, Fremdsprachen zu benutzen. Unsere Geschäftsstellen in Europa und Asien verkehren in Englisch mit uns, desgleichen unsere hiesigen Händler.«

»Verstehe.« Ellery wiegte gedankenverloren den Atlas. »Ich bin fürs erste fertig, Mr. Isham.«

Der Staatsanwalt gestikulierte kraftlos mit der Hand. »Mrs. Brad, wir werden unser Möglichstes tun, obwohl es, ehrlich gesagt, verdammt trübe aussieht. Mr. Lincoln und Mrs. Brad, bitte bleiben Sie jederzeit für uns erreichbar, und verlassen Sie das Grundstück bis auf weiteres nicht.«

Die Brads und Jonah zögerten, blickten einander an, erhoben sich und verließen dann schweigend den Raum.

Im selben Augenblick, da sie zur Tür hinaus waren, warf sich Ellery in einen der Sessel und schlug den blauen Atlas auf. Professor Yardley wirkte verdutzt; Isham und Vaughn tauschten hilflose Blicke. Ellery jedoch ließ sich volle fünf Minuten Zeit, den Atlas zu studieren. Er schlug drei verschiedene Karten auf, dann das Register, und untersuchte die aufgeschlagenen Seiten akribisch. Während er suchte, hellte sich seine Miene auf.

Er plazierte den Atlas mit geübter Vorsicht auf der Sessellehne und stand auf. Alle Augen waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet.

»Ha«, lachte er, »hab‘ ich‘s doch gleich vermutet«, und wandte sich dem Professor zu. »Ein erstaunlicher Zufall, falls es einer ist. Aber das mögen Sie entscheiden ... Professor ist Ihnen etwas an den Namen der dramatis personae aufgefallen?«

»An den Namen, Queen?« Yardley schien ehrlich verwirrt.

»Ja, Brad -Megara. Brad -Rumäne. Megara -Grieche. Na, fällt der Groschen?«

Yardley schüttelte den Kopf; Vaughn und Isham zuckten die Schultern.

»Denn sehen Sie«, begann Ellery, während er sein Zigarettenetui hervorholte und sich mit kurzen, kräftigen Zügen eine ansteckte. »Es sind doch immer wieder Kleinigkeiten wie diese, die das Leben erst interessant machen. Ich habe einen Freund, der sich hingebungsvoll einem albernen Hobby widmet -der Geographie. Der Allmächtige allein weiß, warum er zu jeder denkbaren Gelegenheit sein Spiel spielt. Bei Brad war es Dame, bei vielen anderen ist es Golf -nun, bei meinem Freund ist es die Geographie. Er hat es so weit perfektioniert, daß er Tausende von Namen kleinerer Orte auswendig kennt. Neulich zum Beispiel ...«

»Sie halten uns zum Narren!« schnaubte Professor Yardley. »Kommen Sie endlich zur Sache!«

Ellery gönnte sich ein breites Grinsen. »Thomas Brad war Rumäne. In Rumänien gibt es eine Stadt namens Brad. Sagt Ihnen das etwas?«

»Nicht die Bohne!« knurrte Vaughn.

»Stephen Megara ist Grieche. In Griechenland gibt es eine Stadt namens Megara!«

»Und wenn schon«, murmelte Isham.

Ellery faßte Isham am Arm. »Und jetzt stellen Sie sich einmal vor, ich erzähle Ihnen, daß der Mann, der scheinbar in keiner Verbindung zu unserem Teppichmillionär und seinem segelfreudigen Kompagnon steht -der arme Lehrer aus Arroyo, Andrew Van ...«

»Sie wollen doch nicht etwa -«

»Vans Einwanderungspapiere geben als Herkunftsland Armenien an. Dort gibt es eine Stadt namens Van. Und einen See nebenbei auch noch.« Ellerys Anspannung löste sich, und er begann zu lächeln. »Und wenn in drei Fällen - zwei direkt korreliert, der dritte über die Mordmethode -dasselbe Phänomen zu beobachten ist -« Ellery zuckte die Schultern. »Wenn das Zufall ist, dann bin ich die Königin von Saba.«

»Sicherlich bemerkenswert«, murmelte Professor Yardley. »Sieht bei oberflächlicher Betrachtung so aus, als sollten Nationalitäten glaubhaft gemacht werden.«

»Als wären die Namen falsch -einfach einem Atlas entnommen.« Ellery paffte einen Kringel. »Interessant, was? Drei Herren offenbar ausländischer Herkunft haben sich veranlaßt gesehen, ihre wahren Namen abzulegen und, der Sorgfalt nach zu schließen, mit der sie -wie Sie schon sagten ­ihre vermeintliche Staatsangehörigkeit glaubhaft machten, auch ihren jeweiligen Geburtsort zu verschleiern.«

»Himmel«, stöhnte Isham, »und was haben Sie sonst noch auf Lager?«

»Eine noch erstaunlichere Beobachtung«, fuhr Ellery unbekümmert fort. »Wenn Van, Brad und Megara ihre Namen geändert haben, sollte man annehmen, daß sich der vierte Akteur in diesem Mordsdrama, der abgetauchte Krosac, seinen Namen ebenfalls aus dem Atlas herausgepickt hat. Doch nichts dergleichen; zumindest gibt es weder in Europa noch in Nahost eine Stadt namens Krosac. Keine Stadt, keinen See, keinen Berg, nichts. Woraus wir schließen?«

»Drei Decknamen«, murmelte der Professor, »und ein anscheinend echter. Der Inhaber des vermutlich echten Namens hatte nachweislich mit der Ermordung eines der beiden Aliasse zu tun. Vielleicht ... Queen, mein Junge, sieht ganz so aus, als hätten wir bald den Schlüssel zu den Hieroglyphen.«

»Sie«, bemerkte Ellery freudig, »verfolgen also auch mit mir die ägyptische Spur?«

Yardley stutzte. »Also wirklich! Mein lieber Junge, kann man als Lehrer denn keine Metaphern mehr verwenden, ohne direkt wörtlich genommen zu werden?«


6. Dame und Pfeifen


Die Männer hingen schweigend ihren Gedanken nach, während sie das Wohnzimmer verließen und Isham den Weg zum Arbeitszimmer des verstorbenen Hausherrn wies, das im rechten Flügel des Hauses lag. Ein Beamter paradierte auf dem Flur vor der geschlossenen Tür zur Bibliothek auf und ab. Als sie davor stehenblieben, erschien von irgendwo aus dem Rückteil des Gebäudes eine untersetzte Matrone in raschelndem Schwarz.

»Ich bin Mrs. Baxter«, erklärte sie eilfertig. »Möchten sich die Herren vielleicht ein wenig stärken?«

Inspector Vaughn begann zu strahlen. »Sie müssen ein verkleideter Engel sein. Ich selbst hätte das glatt vergessen! Sie sind die Wirtschafterin, nicht wahr?«

»Ja, Sir. Möchten die anderen Gentlemen auch etwas zu sich nehmen?«

Professor Yardley schüttelte den Kopf. »Es würde sich für mich nicht gehören, die Gastfreundschaft des Hauses in Anspruch zu nehmen. Ich wohne direkt gegenüber und bin außerdem sicher, daß die alte Nanny bereits mehr als wütend über meine lange Abwesenheit ist. Ich hör‘ sie schon ›Essen wird kalt‹ maulen. Ich sollte jetzt besser gehen ... Queen, Sie sind mein Gast, vergessen Sie das nicht.«

»Müssen Sie wirklich schon fort?« fragte Ellery. »Ich hatte mich schon auf eine längere Unterredung gefreut ...«

»Bis heute abend dann.« Der Professor winkte mit dem Arm. »Ich nehme erst mal das Gepäck aus Ihrer Rostlaube und stelle sie dann in meine Garage.« Mit einem Lächeln verabschiedete er sich von den beiden Kriminalbeamten und machte sich davon.

Das Mittagessen war eine triste Angelegenheit; aufgetragen wurde in einem freundlichen Eßzimmer, allein für die drei Männer -niemand sonst im Haus schien den Gedanken an Essen einladend zu finden -, und die meiste Zeit kauten sie schweigend vor sich hin. Mrs. Baxter servierte ihnen persönlich.

Ellery kaute mechanisch; sein Gehirn schien sich gleich einem Planeten um die eigene Achse zu drehen und schleuderte dabei den einen oder anderen fruchtbaren Gedanken hervor. Doch er behielt sie für sich. Nur einmal klagte Isham mit Inbrunst über seinen Ischias. Im Haus war es still.

Um zwei verließen sie dann das Eßzimmer und kehrten in den rechten Flügel des Hauses zurück. Die Bibliothek erwies sich als sehr geräumig, der Arbeitsraum eines gebildeten Mannes. Sie war im Grundriß quadratisch; und ihren makellosen Holzboden bedeckte bis auf einen etwa ein Meter breiten Rand ein dicker chinesischer Teppich. Zwei Wände füllten eingebaute Bücherregale vom Boden bis zu den Deckenbalken. In einer Nische, die man aus dem Winkel, den zwei Wände bildeten, ausgespart hatte, stand ein kleiner Flügel mit nachgedunkelter Elfenbeintastatur, die Tastatur offen, der Schalldeckel aufgeklappt -offenbar so, wie Thomas Brad ihn am Abend hinterlassen hatte. Ein niedriger runder Lesetisch, den Zeitschriften und Raucheraccessoires bedeckten, stand in der Mitte des Raumes. Vor einer der Wände streckte sich ein Diwan, dessen vordere Beine auf dem Teppich ruhten; an der Wand gegenüber befand sich ein offener Sekretär. Ellery fiel auf, daß auf seiner Klappe, für alle sichtbar, zwei Tintenfäßchen, rot und schwarz, standen; beide, so registrierte er beiläufig, waren fast voll.

»Ich habe den Sekretär mit einer Lupe untersucht«, sagte Isham, indem er sich auf den Diwan fallen ließ. »War natürlich das erste, was wir gemacht haben. Es war ja denkbar, daß Brads persönlicher Schreibtisch Dokumente enthält, die unsere Ermittlung voranbringen.« Er zuckte mit den Schultern. »Pech. Ist alles so unschuldig wie das Tagebuch einer Nonne. Was den übrigen Raum angeht - doch das sehen Sie ja selbst; sonst nichts Persönliches hier. Aber die Tat ist ja ohnehin im Gartenhaus verübt worden. Das einzig Interessante hier ist das Damebrett.«

»Seit wir«, fügte Inspector Vaughn hinzu, »den roten Spielstein in der Nähe des Totempfahls gefunden haben.«

»Sie haben auch den Rest des Hauses durchsucht, nehme ich an?« fragte Ellery, während er umherspazierte.

»Allerdings! Routinedurchsuchung, Brads Schlafzimmer und so weiter. Absolut nichts von Belang.«

Ellery wandte seine Aufmerksamkeit dem runden Lesetisch zu. Er holte aus seiner Tasche den durchsichtigen Umschlag mit den Tabakresten aus der Pfeife, die man auf dem Boden des Gartenhauses gefunden hatte, schraubte die große Tabakdose auf, die auf dem Tisch stand, und vergrub seine Hand darin. Als er sie wieder herauszog, kam eine Handvoll Tabak zum Vorschein, der in Farbe und Schnitt - der seltene Würfelschnitt ­mit dem Tabak aus der Pfeife übereinstimmte.

Er lachte auf. »Na ja, immerhin gibt es jetzt keine Zweifel mehr, was das Kraut angeht. Schon wieder ein Schuß in den Ofen! Wenn diese Dose Brad gehört hat, dann war es sein Tabak.«

»Hat sie«, fügte Isham hinzu.

Ohne spezielle Absicht zog Ellery eine kleine Schublade auf, die sich unterhalb der runden Tischplatte abgezeichnet hatte. Sie war, wie er feststellte, mit einer ansehnlichen Pfeifensammlung vollgestopft. Alle waren Wertstücke, oft benutzt, aber auch samt und sonders konventionell geformt -die üblichen Köpfe mit geradem oder gebogenem Stiel. Meerschaum-, Bruyere-und Bakelitpfeifen; zwei waren

dünnstielig und sehr lang – alte englische Tonpfeifen.

»Hmm«, murmelte er, »Mr. Brad hat zum Kreis der Kenner gehört. Dame und Pfeifen gehören ja bekanntlich zusammen. Wundert mich nur, daß kein Hund vor dem Kamin liegt. So kommen wir nicht weiter.«

»Ist noch eine solche darunter?« fragte Vaughn und holte die Pfeife mit dem Neptunkopf hervor.

Ellery schüttelte den Kopf. »Wie kommen Sie auf so was? Kein Mann schafft sich zwei davon an. Ein Etui gibt es auch nicht. Wenn man die zwischen den Zähnen hält, muß man ja einen Krampf im Kiefergelenk kriegen. Wird ein Geschenk gewesen sein.«

Ellery wandte sich nun dem Hauptbeweisstück zu. Es befand sich links vom offenen Sekretär an der gleichen Wand, und dem Diwan gegenüber.

Die Vorrichtung war genial zu nennen: Ein Tisch mit Damebrett, den man, wie man sehen konnte, zusammenklappen und in einer flachen Nische in der Wand verschwinden lassen konnte, mit der er durch Scharniere verbunden war. Ein Rolladen, der sich jetzt über der Nische befand, konnte heruntergelassen werden, um die gesamte Vorrichtung zu tarnen. Darüber hinaus gab es zwei Wandsitze, einer an jeder Seite des Tisches, die man ebenso hochklappen konnte.

»Brad muß in der Tat spielsüchtig gewesen sein«, bemerkte Ellery. »Wer sonst würde sich schon so etwas einbauen lassen? Hmm ... Ich nehme an, der Tisch ist so, wie er ihn zurückgelassen hat. Hier ist doch nichts berührt worden?«

»Jedenfalls nicht von uns«, erwiderte Isham gleichgültig. »Sehen Sie selbst, was Sie damit anfangen können.«

In die Tischplatte, ein glänzendes Stück handwerklicher Kunst, waren die üblichen vierundsechzig weißen und schwarzen Quadrate eingelegt, die eine prachtvolle Umrahmung aus Perlmutt umschloß. Auf jeder Spielerseite befand sich ein

breiter Rand als Ablage für die Spielsteine, die nicht im Spiel waren. Auf der Seite zum Sekretär hin lagen neun rote Steine verstreut -die Steine, die Schwarz aus dem Feld geschlagen hatte. Gegenüber fanden sich drei schwarze Steine, die Rot erobert hatte. Auf dem Brett selbst, das den Spielstand erkennen ließ, standen drei schwarze »Damen« -zwei schwarze Steine übereinander -und drei einfache schwarze Steine, ebenso zwei einfache rote Steine; einer davon stand auf der Grundlinie der schwarzen Partei.

Ellery betrachtete sorgsam Brett und Umrandung.

»Wo ist das Kästchen für die Steine?«

Isham wies mit dem Fuß auf den Sekretär. Auf dessen Klappe lag eine billige Pappschachtel, leer.

»Elf rote Steine«, sagte Ellery und starrte an die Wand. »Es müßten natürlich zwölf sein. Einen roten Stein von gleicher Beschaffenheit haben wir in der Nähe des Totempfahls gefunden.«

»Genau«, stöhnte Isham. »Wir haben im Haus kein anderes Damespiel gefunden. Also stammt der einzelne Stein von diesem Spiel hier.«

»Sieht so aus«, murmelte Ellery. »Interessant, hochinteressant.« Er besah sich die Steine von neuem.

»Ach ja?« bemerkte Isham säuerlich. »In spätestens einer Minute werden Sie anders denken. Ich weiß, was Sie vermuten; doch Sie irren sich. Warten Sie, bis wir Brads Butler hier haben.«

Er ging zur Tür und befahl dem Wachposten: »Holen Sie diesen Stallings noch mal. Den Butler.«

Ellery zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Er ging zum Sekretär hinüber und nahm die Schachtel zur Hand. Isham grinste nur. »Und das auch«, sagte er unvermittelt.

»Die Frage verfolgt mich, seit ich den Raum betreten habe«, bemerkte Ellery unbeirrt. »Warum benutzt ein leidenschaftlicher Spieler, der keine Kosten und Mühen scheut, wenn es darum geht, sich eine so raffinierte Mechanik einbauen zu lassen, billige Holzsteine?«

»Das erfahren Sie in einer Minute. Da ist nichts Geheimnisvolles dabei, das kann ich Ihnen versichern.«

Der Wachhabende öffnete die Tür vom Flur aus und ließ einen großen, hageren Mann mit hohlen Wangen und ausdruckslosen Augen hinein. Er war in schlichtem Schwarz gekleidet und strahlte eine gewisse Unterwürfigkeit aus.

»Stallings«, begann Isham ohne Umschweife. »Ich möchte, daß Sie den Herren gegenüber Ihre Aussagen von heute morgen wiederholen.«

»Selbstverständlich, Sir«, erwiderte der Butler mit weicher, angenehmer Stimme.

»Erstens: Wie erklären Sie sich die Tatsache, daß Mr. Brad mit diesen billigen Holzsteinen gespielt hat?«

»Die Erklärung ist sehr einfach, Sir, wie ich vorhin schon sagte. Mr. Brad« -Stallings stieß einen Seufzer aus und hob die Augen zur Decke -»war immer nur das Beste gut genug. Diesen Tisch und die Sitze hier hat er eigens für sich anfertigen und die Wand aushöhlen lassen, um ihn dort montieren zu können. Zur gleichen Zeit hat er ein sehr teures Damespiel, kunstvoll geschnitzte Figuren aus Elfenbein, erstanden, die er schon seit Jahren in Gebrauch hatte. Es ist noch nicht lange her, daß Dr. Temple das Spiel so bewundert hat, daß Mr. Brad, wie er mir eines Tages erzählte« -Stallings seufzte wieder -, »ihm eine Überraschung bereiten wollte, indem er ihm ein Duplikat schenkte. Es ist erst zwei Wochen her, daß er seine Figuren zu einem Spezialisten in Brooklyn gebracht hat, um die vierundzwanzig Figuren duplizieren zu lassen. Sie sind immer noch nicht zurück, und er hat sich in der Zwischenzeit mit den billigen Holzsteinen begnügt.«

»Und nun, Stallings«, sagte der Staatsanwalt, »berichten Sie uns, was gestern abend passiert ist.«

»Jawohl, Sir.«

Stallings befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze. »Bevor ich mich gestern abend auf den Weg machte, wie Mr. Brad mir aufgetragen hatte -«

»Augenblick«, unterbrach Ellery scharf. »Er hat Ihnen gestern abend aufgetragen, das Haus zu verlassen?«

»Ja, Sir. Als Mr. Brad gestern abend aus der Stadt heimgekommen ist, hat er Fox, Mrs. Baxter und mich hierher gerufen.« Stallings mußte, von Erinnerungen überwältigt, schlucken. »Mrs. Brad und Helene waren schon fort -zum Theater, soweit ich mich entsinne. Mr. Lincoln hatte sowieso nicht vor, zum Abendessen nach Hause zu kommen ... Mr. Brad wirkte sehr erschöpft. Er steckte mir zehn Dollar zu und gab Fox, Mrs. Baxter und mir für nach dem Abendessen frei. Er wolle den Abend allein verbringen. Fox könne den kleinen Wagen nehmen. So sind wir dann gefahren.«

»Verstehe«, sagte Ellery leise.

»Und jetzt die Geschichte mit dem Damespiel, Stallings!« soufflierte Isham.

Stallings nickte mit seinem länglichen Kopf. »Bevor ich also das Haus verließ -Fox und Mrs. Baxter warteten bereits im Wagen in der Einfahrt auf mich -bin ich noch einmal in die Bibliothek zurück, um nachzufragen, ob noch etwas zu erledigen wäre, bevor wir losführen. Aber er beharrte auf seinem Nein und befahl mir -sehr nervös, wie mir schien -mit den anderen loszufahren.«

»Sie sind ein guter Beobachter!« sagte Ellery lächelnd.

Stallings schien geschmeichelt. »Ich versuche mein Bestes, Sir. Nun, wie ich Mr. Isham schon heute morgen erzählt habe, fand ich Mr. Brad am Damebrett vor; er spielte sozusagen gegen sich selbst.«

»Dann hatte er also gar keinen Gegner«, brummte Inspector

Vaughn. »Warum zum Teufel haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«

Der Staatsanwalt breitete hilflos seine Hände auseinander, und Ellery fragte: »Wie genau meinen Sie das, Stallings?«

»Nun, Sir, er hatte sowohl die schwarzen als auch die roten Steine aufgestellt; er spielte also beide Seiten und begann gerade mit der Eröffnung. Zuerst machte er einen Zug auf seiner Seite; dann dachte er eine Weile nach und machte einen Zug auf der anderen Seite. Ich habe allerdings nur zwei Züge mitbekommen.«

»Ah ja«, sagte Ellery mit gespitzten Lippen. »Auf welchem Stuhl saß er denn?«

»In dem hier auf der Seite des Sekretärs. Machte er aber einen roten Zug, stand er auf, setzte sich auf den gegenüberliegenden Stuhl und betrachtete das Brett von der anderen Seite aus, wie es seiner Gewohnheit entsprach.« Stallings machte ein schmatzendes Geräusch. »Mr. Brad war ein sehr guter Spieler, sehr konzentriert. Er hat sehr oft auf diese Weise allein geübt.«

»Das wär‘s denn. Diese ganze Dame-Geschichte gibt nichts her!« Isham stöhnte. »Und jetzt zu Ihnen, Stallings.«

»Jawohl, Sir«, antwortete der Butler. »Wir sind also alle in die Stadt gefahren. Fox hat Mrs. Baxter und mich am Roxy abgesetzt und versprochen, daß er uns nach der Vorführung wieder dort abholen würde. Ich weiß nicht, wo er hingegangen ist.«

»Und ist er dann pünktlich zur Stelle gewesen?« fragte Inspector Vaughn, auf einmal sehr aufmerksam.

»Leider nein, Sir. Wir haben eine halbe Stunde auf ihn gewartet; aber als er dann noch immer nicht kam, haben wir gedacht, er muß einen Unfall gehabt haben oder sonstwie aufgehalten worden sein. So haben wir dann den Zug genommen und sind vom Bahnhof aus mit dem Taxi nach

Hause.«

»Aha, mit dem Taxi.«

Der Inspector wirkte amüsiert. »Da haben die Jungs am Bahnhof gestern ja ganz schön Umsatz gemacht, was? Um wieviel Uhr sind Sie zu Hause angekommen?«

»Um Mitternacht, vielleicht auch ein bißchen später. Genauer kann ich das leider nicht mehr sagen. «

»War Fox zurück, als Sie nach Hause kamen?«

Stallings schien peinlich berührt. »Ich fürchte, das entzieht sich meiner Kenntnis, Sir. Er wohnt in der kleinen Hütte am Ufer der Bucht. Selbst wenn dort Licht gewesen wäre, hätten die Bäume uns die Sicht versperrt.«

»Nun, darum kümmern wir uns noch. Sie haben sich Fox noch nicht vorgenommen, Isham, oder?«

»Hatte noch keine Gelegenheit.«

»Einen Augenblick, bitte«, sagte Ellery. »Stallings, hat Mr. Brad gestern abend angedeutet, daß er Besuch erwartet?«

»Nein, Sir. Er hat bloß gesagt, er wolle den Abend allein verbringen.«

»Hat er Sie, Fox und Mrs. Baxter oft auf diese Weise abends entlassen?«

»Nein, Sir. Es war das erste Mal.«

»Eines noch.« Ellery ging zu dem runden Lesetisch und klopfte mit den Fingerspitzen auf die große Dose »Wissen Sie, was hier drin ist?«

Stallings wirkte erstaunt. »Aber sicher, Sir! Mr. Brads Tabak.«

»Gut! Ist dies der einzige Vorrat an Pfeifentabak im Haus?«

»Ja, Sir. Mr. Brad war mit seinem Tabak sehr eigen; er hat sich seine Sorte extra in England mischen lassen und von dort importiert. Etwas anderes hat er nie geraucht. Und wenn Sie es genau wissen wollen«, sagte Stallings in einem Anfall von Vertraulichkeit, »Mr. Brad hat immer darüber geklagt, daß es keinen amerikanischen Tabak gebe, der sein Geld wert sei.«

In Ellery blitzte ein abwegiger Gedanke auf. Andrew Van und sein Kaviar; Thomas Brad und sein importierter Tabak ... Er schüttelte den Kopf.

»Noch etwas, Stallings. Inspector, würden Sie Stallings bitte die Pfeife mit dem Neptunkopf zeigen?«

Vaughn zog die kunstvoll geschnitzte Pfeife erneut hervor. Stallings betrachtete sie einen Moment und nickte dann. »Ja, Sir, die habe ich hier schon gesehen.«

Die drei Männer stöhnten unisono. Die Schicksalsgöttin schien sich mit der Schuld gegen die Sühne verbündet zu haben. »Aber natürlich«, knurrte Isham. »Hat wohl Brad gehört, oder?«

»Da bin ich ganz sicher, Sir«, antwortete der Butler. »Es ist allerdings nicht so, daß er eine Pfeife, welche auch immer, sehr lange am Stück geraucht hätte. Er pflegte zu sagen, daß eine Pfeife, ähnlich einem Menschen, ab und zu einen Urlaub brauche. Seine Schublade ist voll von wertvollen Pfeifen, Sir. Diese hier erkenne ich aber sofort wieder, Sir. Habe sie schon oft gesehen, allerdings nicht in letzter Zeit, wenn ich mich recht besinne.«

»Gut, gut. Wir sind mit Ihnen fertig.« Stallings verbeugte sich einmal steif, war wieder ganz Butler und verließ den Raum.

»Das mit dem Damespiel wäre also geklärt«, murmelte der Inspector, »das mit den Pfeifen und dem Tabak auch. Reine Zeitverschwendung. Aber immerhin haben wir eine interessante Spur, was Fox betrifft.« Er rieb sich die Hände. »Sieht doch eigentlich gar nicht so schlecht aus. Den Haufen von Oyster Island nehmen wir uns gleich vor. Gibt viel zu tun heute, Männer!«

»Schätze, morgen auch noch«, schmunzelte Ellery. »Wie in den guten alten Zeiten.«

Jemand klopfte, Inspector Vaughn ging zur Tür und unterhielt sich minutenlang im Flüsterton mit einem seiner Leute und nickte wiederholt. Endlich schloß der Inspector die Tür und kehrte zu den anderen zurück.

»Was ist los?« fragte Isham.

»Nichts. Lauter Fehlanzeigen, fürchte ich. Meine Männer berichten, daß sie auf dem Grundstück nichts gefunden habe. Nichts und wieder nichts. Mensch, das gibt es doch gar nicht!«

»Wonach haben Sie denn gesucht?« fragte Ellery.

»Nach dem Kopf, Mann, nach dem Kopf!«

Eine längere Zeit sagte niemand etwas, und der kalte Hauch der Tragödie wehte sie wieder an. Wenn man in den sonnendurchfluteten Garten blickte, war es kaum zu glauben, daß der Herr dieser luxuriösen, friedvollen Idylle wie ausgeblutetes Vieh in der Bezirksleichenhalle lag und sich in nichts mehr von einem aus dem Long Island Sound gefischten Landstreicher unterschied.

»Und sonst?«

»Meine Männer haben die Leute von der Eisenbahn vernommen«, sagte Vaughn ruhig. »Und jeden Anwohner im Umkreis von acht Kilometern. Es geht um mögliche Besucher, Mr. Queen. Nach den Aussagen von Lincoln und Stallings zum gestrigen Abend scheint es ja mehr als wahrscheinlich, daß Brad gestern abend Besuch erwartet hat. Ein Mann schickt doch nicht einfach so Ehefrau, Stieftochter, seinen Geschäftsführer und das Personal fort, wenn da nicht was faul ist. Und außerdem ist das vorher nie vorgekommen!«

»Allzu wahr«, sagte Ellery. »Sie haben vollkommen recht, Inspector. Brad muß gestern abend Besuch erwartet haben, das steht außer Frage.«

»Aber nicht einer der Befragten konnte uns einen Anhaltspunkt liefern. Selbst die Schaffner und die Bahnhofsbeamten erinnern sich an keinen Fremden, der gestern abend um neun herum mit dem Zug angekommen wäre.

Nachbarn?« Der Inspector zuckte die Schultern. »Davon konnten wir uns sowieso nichts versprechen. Hier kann jeder kommen und gehen, ohne eine Spur zu hinterlassen.«

»Aber das war doch klar«, unterbrach der Staatsanwalt. »Sie versuchen das Unmögliche, Vaughn. Niemand, der krumme Sachen vorhatte, wäre so dumm gewesen, hier auszusteigen. Er wäre eine Station früher oder später ausgestiegen und den Rest gelaufen.«

»Und wenn der Mörder mit dem Wagen gekommen wäre?« fragte Ellery.

Vaughn schüttelte den Kopf. »Das haben wir schon heute morgen untersucht. Aber auf dem Grundstück liegt Kies; und die Schnellstraßen sind asphaltiert, was uns nicht die Bohne weiterhilft; es hat auch nicht geregnet oder so. Die Möglichkeit besteht natürlich trotzdem.«

Ellery dachte angestrengt nach. »Es gibt da noch eine andere Möglichkeit, Inspector, den Sound, die Meerenge!«

Der Inspector starrte aus dem Fenster. »Daran haben wir natürlich nicht gedacht«, sagte er mit einem häßlichen Lachen. »Welch ein Kinderspiel! Da mietet jemand ein Boot in Connecticut oder in New York -ein Motorboot ... Zwei meiner Leute verfolgen die Spur gerade.«

Ellery begann zu grinsen. »Quodfugit, usque sequar, was, Inspector?«

»Häh?«

Isham stand auf. »Laßt uns verdammt noch mal weitermachen. Wir haben genug Arbeit vor uns!«


7. Fox und die Engländer


Sie gerieten immer tiefer in den Nebel hinein. Von nirgendwo kam ein Licht.

Es war nicht zu erwarten, daß Mrs. Baxter, die Wirtschafterin, etwas Bedeutsames beizutragen hatte. Und doch war es im Namen der Gründlichkeit notwendig, sie zu verhören. Sie kehrten also zum Arbeitszimmer zurück und brachten die unangenehme Pflicht hinter sich. Mrs. Baxter bestätigte lediglich Stallings Aussage. Nein, Mr. Brad hatte nichts von Besuch gesagt. Nein, als sie Mr. Brad allein das Abendessen serviert habe, habe er nicht besonders aufgeregt gewirkt. Vielleicht ein wenig geistesabwesend. Ja, Fox habe sie am Roxy abgesetzt. Ja, sie und Stallings seien mit der Bahn und dann mit dem Taxi nach Bradwood zurückgekehrt und kurz nach Mitternacht angekommen. Nein, sie glaube nicht, daß Mrs. Brad und die anderen schon zu Hause gewesen seien, aber da sei sie sich nicht sicher. War das Haus dunkel? Ja, Sir. Haben Sie etwas Ungewöhnliches beobachtet? Nein, Sir.

Gut, Mrs. Baxter ... Die ältliche Wirtschaftern entschuldigte sich eilig, und der Inspector stieß einige Flüche aus.

Ellery sah dem Schauspiel zu und schien zur Unzeit fasziniert von einem weißen Fleck auf einem seiner Fingernägel. Der Name Andrew Van ging ihm nicht aus dem Kopf.

»Mir reicht‘s«, sagte Isham. »Laßt uns Fox vernehmen!«

Isham und Vaughn stürzten aus dem Haus; Ellery schlenderte hinterdrein, schnupperte nach den Junirosen und fragte sich, wann seine Kollegen mit der Schattenboxerei aufhören würden, um endlich den vielversprechenden, bewaldeten Flecken Erde ­Oyster Island - in Angriff zu nehmen.

Isham führte die Männer auf einem schmalen Kiespfad um den linken Flügel des Hauses herum; bald waren sie von einem wild belassenen Wäldchen umgeben. Noch ein paar Schritte, und die Bäume wichen einer Lichtung, auf deren Mitte ein freundliches kleines Blockhaus stand. Ein Polizist vor der Hütte nahm ein Sonnenbad.

Isham klopfte an die schwere Holztür, und eine dunkle Männerstimme rief. »Kommen Sie schon herein!«

Als sie eintraten, stand er vor ihnen aufgepflanzt und ballte die Fäuste. Sein Gesicht war von blassen Flecken geradezu marmoriert. Er war groß, hager und gerade gewachsen. Als er jedoch sah, wer seine Besucher waren, ließ er die Schultern hängen, löste die Fäuste und griff nach der Lehne des selbstgebauten Stuhls, vor dem er stand.

»Fox«, begann Isham in Kommandoton. »Ich hatte heute morgen noch keine Gelegenheit, mit Ihnen zu sprechen.«

»Ja, Sir«, antwortete Fox. Seine Blässe war, wie Ellery erstaunt feststellte, keine vorübergehende, sondern die natürliche Gesichtsfarbe des Mannes.

»Wir wissen, wie Sie die Leiche gefunden haben«, fuhr der Staatsanwalt fort, indem er sich in den einzigen anderen Stuhl fallen ließ, den es in der Hütte gab.

»Ja, Sir«, stammelte Fox, »es war einfach entsetz-«

»Wir möchten noch ein paar Dinge von Ihnen wissen«, sagte Isham tonlos. »Warum haben Sie Stallings und Mrs. Baxter gestern draufgesetzt, wo sind Sie hingegangen, und wann waren Sie wieder zu Hause?«

Seltsamerweise wurde der Mann nicht noch fahler im Gesicht, er wich auch nicht zurück. »Ich bin nur ein bißchen in der Stadt herumgefahren«, sagte er, »um kurz vor Mitternacht war ich wieder in Bradwood.«

Inspector Vaughn baute sich vor Fox auf und packte mit einer Hand seinen schlaffen Arm. »Schauen Sie«, sagte er beinahe freundlich. »Wir haben kein Interesse daran, Ihnen Dinge zu unterstellen, die Sie nicht getan haben. Wenn Sie jetzt schön brav die Wahrheit erzählen, lassen wir Sie auch in Ruhe.«

»Die Wahrheit können Sie haben«, erwiderte Fox. Ellery meinte, in Tonfall und Aussprache des Mannes Spuren höherer Bildung herausgehört zu haben, und beobachtete ihn mit wachsendem Interesse.

»Na also«, lobte Vaughn. »Wie vernünftig von Ihnen. Und jetzt vergessen Sie einmal das Märchen vom Herumfahren. Geben Sie sich ’nen Ruck, Mann, und spucken Sie‘s aus! Wo sind Sie hingefahren?«

»Also gut«, erwiderte Fox mit derselben tonlosen Stimme. »Ich bin die Fifth Avenue herunter, durch den Park und dann längere Zeit auf dem Riverside Drive geblieben. Es war schön draußen, und ich habe die frische Luft genossen.«

Der Inspector ließ seinen Arm fallen und grinste zu Isham hinüber. »Er hat die frische Luft genossen! Warum haben Sie dann Stallings und Mrs. Baxter nicht vom Kino abgeholt?«

Fox‘ breite Schultern zuckten nur eine Spur. »Weil mich keiner drum gebeten hat.«

Isham sah zu Vaughn hinüber, und der zu Isham. Ellery jedoch behielt Fox im Auge, und er staunte nicht schlecht, als er sah -unglaublich, aber wahr -, daß dem Mann Tränen in die Augen schossen.

»Okay«, sagte Isham schließlich, »dann bleiben Sie eben bei der Geschichte. Aber gnade Ihnen Gott, wenn wir Ihnen etwas anderes nachweisen können! Wie lange arbeiten Sie schon hier?«

»Seit dem Ersten des Jahres, Sir.«

»Referenzen?«

»Ja, Sir.« Schweigend drehte er sich um und ging zu einer alten Kommode. Er wühlte in einer der Schubladen und kehrte mit einem blütenweißen, offensichtlich sorgfältig aufbewahrten Umschlag zurück.

Der Staatsanwalt riß ihn auf, überflog den Brief und reichte ihn Vaughn. Der Inspector las ihn gründlicher, schnipste ihn schließlich auf den Tisch und verließ überraschend die Hütte.

»Scheint in Ordnung zu sein«, sagte Isham, als er aufstand. »Ach, noch etwas. Sind Sie, Stallings und Mrs. Baxter die

einzigen Hausangestellten hier?«

»Ja, Sir«, antwortete Fox, ohne den Blick zu heben. Er nahm den Umschlag und den Brief und drehte sie wieder und wieder in seinen Fingern.

»Ähm -Fox«, begann Ellery. »Haben Sie gestern nacht, als Sie zurückkamen, irgend etwas Ungewöhnliches bemerkt?«

»Nein, Sir.«

»Sie bewegen sich fürs erste nicht vom Fleck, verstanden?« sagte Isham und verließ die Hütte. Vaughn schloß sich ihm an, doch Ellery blieb noch einen Moment im Türrahmen stehen. Fox hatte sich nicht gerührt.

»Der lügt, daß sich die Balken biegen«, sagte Vaughn so laut, daß Fox es in seiner Hütte hören mußte. »Wir überprüfen das mit gestern abend sofort.« Ellery zuckte zusammen. Das Vorgehen der beiden Beamten fand er ausgesprochen rücksichtslos; und er konnte die Tränen in Fox‘ Augen nicht vergessen.

Schweigend gingen sie in westliche Richtung. Fox‘ Hütte lag nicht weit von der Ketcham‘s Bay; durch die Bäume hindurch sahen sie, während sie sich vorarbeiteten, bereits das in der Sonne glitzernde Blau. Nicht weit von der Hütte kamen sie auf eine schmale Straße. Nirgendwo waren Zäune.

»Gehört alles noch Brad«, brummte Isham. »Hat es aber nicht für notwendig gehalten, sein Grundstück einzuzäunen. Das Haus, das diese Lynns gemietet haben, muß hinter der Straße liegen.«

Sie überquerten die Straße und kämpften sich durch den dunklen, hohen Wald. Es dauerte geschlagene fünf Minuten, bis Vaughn endlich den Fußweg fand, der sie durchs dichte Unterholz nach Westen führte.

Als der Weg sich nach einer Weile verbreiterte, wurde der Baumbewuchs spärlicher; und bald sahen sie ein halb zugewachsenes, flaches Steinhaus, das einsam inmitten der

Bäume stand. Ein Mann und eine Frau saßen auf der offenen Veranda. Der Mann stand hastig auf, als er die drei Besucher erblickte.

»Mr. und Mrs. Lynn?« fragte der Staatsanwalt und blieb vor der Veranda stehen.

»Höchstpersönlich«, antwortete der Mann. »Mein Name ist Percy Lynn. Das ist meine Frau ... Kommen die Herren von Bradwood?«

Lynn war ein großer brünetter Engländer mit markanten Gesichtszügen, kurzgeschnittenem, pomadiertem Haar und verschmitzten Augen. Elizabeth Lynn war blond und fett, das permanente Lächeln in ihrem Gesicht wirkte wie angeklebt.

Isham nickte, und Lynn fragte: »Nun, meine Herren, wollen Sie nicht zu uns herauflommen?«

»Danke«, antwortete der Inspector. »Aber wir müssen gleich weiter. Die Neuigkeiten haben Sie schon gehört?«

Der Engländer nickte ernst; das Lächeln seiner Frau allerdings verblaßte keinen Augenblick. »Furchtbar«, sagte Lynn. »Ich weiß es von einem Polizisten, auf den ich getroffen bin, als ich die Straße entlangging. Er hat mir von der Tragödie erzählt.«

»Natürlich«, fügte Mrs. Lynn mit schriller Stimme hinzu, »haben wir bislang noch keinen Besuch dort gemacht.«

»Natürlich nicht«, stimmte ihr Mann zu.

Einen Augenblick herrschte Schweigen; Isham und Vaughn verständigten sich mit den Augen. Die Lynns rührten sich nicht; von der Pfeife, die der Mann in der Hand hielt, kräuselte sich eine kleine Rauchfahne zu seinem Gesicht hoch.

Plötzlich begann er mit der Pfeife zu gestikulieren. »Tun Sie schon Ihre Arbeit, Gentlemen. Ich weiß genau, wie verdammt unangenehm das alles ist. Sie sind von der Polizei, nehme ich an?«

»Sind wir«, erwiderte Isham. Es schien ihm zu passen, daß

Lynn das Gespräch an sich riß; Vaughn hielt sich schweigend im Hintergrund.

Ellery hingegen war vollkommen fasziniert von dem widerwärtigen Dauerlächeln im Gesicht der Frau. Dann mußte er schmunzeln; er wußte nun, warum sie so penetrant lächelte -Mrs. Lynn trug ein Gebiß.

»Ich nehme an, daß Sie unsere Pässe sehen wollen«, fuhr Lynn leise fort. »Überprüfen der Nachbarn und Freunde und so, nicht wahr?«

Die Pässe waren in Ordnung.

»Sie möchten bestimmt auch wissen, wie es kommt, daß wir -Mrs. Lynn und ich -hier wohnen ...« bemerkte der Engländer, als Isham ihm die Pässe zurückgab.

»Das hat uns bereits Miss Brad erzählt«, sagte Isham und machte plötzlich zwei Schritte auf sie zu. Die Haltung der Engländer wurde steifer. »Wo sind Sie gestern abend gewesen?«

Lynn räusperte sich geräuschvoll. »Ja -natürlich. Nun, wir waren in der Stadt ...«

»New York?«

»Genau. Wir haben dort zu Abend gegessen und uns dann ein ziemlich idiotisches Stück angeschaut.«

»Wann waren Sie wieder daheim?«

Mrs. Lynn schrillte unerwartet: »Oh, überhaupt nicht. Wir haben in einem Hotel übernachtet. Es war schon viel zu spät, um -«

»Wie hieß das Hotel?«

»Das Roosevelt.«

Isham grinste. »Und wie spät war es da?«

»Oh, schon nach Mitternacht«, antwortete der Engländer. »Wir haben nach der Vorstellung noch eine Kleinigkeit gegessen und -«

»Schon in Ordnung«, sagte Isham. »Kennen Sie die Leute hier in der Umgebung?«

Sie schüttelten gleichzeitig die Köpfe. »Kaum jemanden«, sagte Lynn. »Außer den Brads, diesem interessanten Professor Yardley und Dr. Temple. Sonst niemanden.«

Ellery setzte ein schmeichlerisches Lächeln auf. »War einer von Ihnen zufällig einmal auf Oyster Island?«

Der Brite lächelte zurück. »Daneben, Sportsfreund. Nudismus ist für uns nichts Neues. Haben wir seinerzeit in Deutschland ausgelebt.«

»Außerdem«, fügte Mrs. Lynn hinzu, »diese Leute auf der Insel ...« Sie schüttelte sich angewidert. »Ich war ganz einer Meinung mit dem armen Mr. Brad, daß sie von der Insel verschwinden sollten.«

»Hmm«, brummte Isham. »Haben Sie irgendeine Theorie, wie es zu dem Mord kommen konnte?«

»Bedaure, nein. Wir haben nicht die geringste Ahnung. Kann einem angst und bange von werden. Dieses -ähm ­unzivilisierte Benehmen entspricht leider ganz dem Bild, das man sich in Europa ohnehin von Ihrem großartigen Land macht.«

»Tja, leider«, sagte Isham trocken. »Ich danke Ihnen ... Kommen Sie.«


8. Oyster Island


Ketcham‘s Cove war wie ein unregelmäßiger Halbkreis aus dem Ufer von Thomas Brads Grundstück herausgebrochen. In der Mitte der halbmondförmigen Bucht schaukelte ein Ponton auf dem Wasser, an dem einige Motorboote und eine Barkasse festgetäut waren. Ellery, der mit den Männern zusammen der Straße in westlicher Richtung bis zum Ufer gefolgt war, stand nun auf einem kleineren Anlegesteg mehrere hundert Meter von

der Hauptanlegestelle entfernt. In wenig mehr als einem Kilometer Entfernung ragte Oyster Island aus dem Wasser. Das Ufer der Insel sah aus, als hätte man sie gewaltsam dem Festland entrissen und als hätte sie sich bei diesem Prozeß ein wenig verformt. Ellery konnte zwar die Rückseite der Insel nicht sehen, aber es war anzunehmen, daß sie ihren Namen ihrer Muschelform verdankte.

Oyster Island hob sich wie ein grünes Juwel vom türkisfarbenen Wasser des Long Island Sound ab. Soweit man aus der Entfernung erkennen konnte, schien sie dicht bewaldet zu sein. Die wilden Bäume und Sträucher reichten beinahe bis ans Wasser heran. Doch nein ... Dort war ein kleiner Anlegesteg auszumachen. Wenn er sich sehr konzentrierte, konnte Ellery seine verwitterten grauen Konturen erkennen. Doch weitere Spuren menschlicher Besiedelung waren nicht zu sehen.

Isham stieg zu Ellery auf den Steg und rief eine Polizeibarkasse herbei, die in mäßigem Tempo zwischen der Insel und dem Festland hin und her tuckerte. Westlich davon sah Ellery das Heck eines weiteren Polizeibootes; es patrouillierte, wie Ellery schloß, an der Rückseite der Insel entlang.

Die Barkasse, der Isham Zeichen gegeben hatte, schoß auf das Festland zu und machte an der Anlegestelle fest.

»Nun, dann mal los!« Vaughn stieg voller Tatendrang ins Boot. »Kommen Sie, Mr. Queen! Gut möglich, daß der Spuk hier bald ein Ende hat!«

Kaum waren Ellery und Isham ins Boot gesprungen, da drehte es in großem Bogen und nahm direkten Kurs auf die große Auster.

Während sie näher kamen, konnten sie die Insel deutlicher erkennen; auch das Festland ließ sich vom Wasser aus besser überblicken. Nicht weit von ihrem Anlegesteg lag, wie sie jetzt sahen, ein weiterer im Westen, den offenbar die Lynns

benutzten. Ein Ruderboot, das dort festgemacht war, blich in der Sonne vor sich hin. Im Osten befand sich in gleicher Entfernung ebenfalls ein Steg.

»Dort wohnt Dr. Temple, nicht wahr?« fragte Ellery.

»Ja. Das muß seine Anlegestelle sein.« Die allerdings war verwaist.

Die Barkasse durchpflügte das Wasser mit hoher Geschwindigkeit. Während sie nun den kleinen Hafen der Insel ansteuerten, ließen sich bereits Einzelheiten erkennen. Sie beobachteten schweigend, wie Oyster Island größer und größer wurde.

Plötzlich sprang Inspector Vaughn auf und brüllte: »Da drüben ist was im Gange!«

Entgeistert starrten sie auf die Anlegestelle. Gerade war ein Mann mit einer Frau auf den Armen, die hilflos zappelte und schwache Schreie ausstieß, aus dem Unterholz gewankt und in einen kleinen Außenborder gesprungen, der, wie nun sichtbar wurde, an der Westseite des baufälligen Stegs festgemacht war. Der Mann setzte die Frau ruppig auf die Sitzbank im Bug, ließ den Motor an, legte ab und steuerte direkt auf die Polizeibarkasse zu. Die Frau war zusammengesackt und gab keinen Laut mehr von sich. Einen Augenblick lang, als der Mann noch einmal zur Insel zurücksah, war sein tiefgebräuntes Gesicht zu erkennen.

Keine zehn Sekunden nach dieser überstürzten Flucht -wenn es überhaupt eine solche gewesen war -sprang ein zweiter Mann aus dem Gebüsch hervor und nahm die Verfolgung auf.

Der Mann war nackt -ein großer, breiter, braungebrannter Kerl mit kräftiger Muskulatur und wehender schwarzer Mähne. Tarzan, dachte Ellery, und er wäre absurderweise kaum erstaunt gewesen, wenn er im Buschwerk auch seinen schwerfälligen berüsselten Begleiter erspäht hätte. Doch wo war nur der Lendenschurz geblieben? Sie hörten ihn nun vor Enttäuschung fluchen, als er am Ufer angelangt war und ihm nichts weiter übrig blieb, als dem davonstiebenden Boot wütend hinterherzustarren. So blieb er eine Weile mit hängenden Armen stehen; er schien sich seiner Nacktheit nicht im geringsten zu schämen; das einzige, was ihn zu interessieren schien, war das Motorboot. Auch der Mann im Boot schaute zurück und bemerkte offenbar gar nicht, wo er hinsteuerte.

Der Nackte verschwand so plötzlich, daß Ellery zweimal hinsehen mußte. Er hatte sich mit einem schnellen Sprung vom Rand der Anlegestelle abgestoßen und war wie eine Harpune ins Meer geglitten. Als er einen Moment später wieder auftauchte, sah man ihn wie verrückt in Richtung Motorboot zu kraulen.

»Dieser Idiot!« brüllte Isham. »Glaubt er, er kann das Motorboot einholen, oder was?«

»Der Motor ist ausgefallen«, bemerkte Ellery trocken.

Isham, plötzlich verunsichert, starrte angestrengt auf das kleine Boot. Es trieb etwa einhundert Meter vom Ufer entfernt hilflos auf dem Wasser, und der Mann werkelte wie ein Besessener an seinem verstummten Motor herum.

»Schnell!« rief Inspector Vaughn dem Kapitän der Polizeibarkasse zu. »Dem Kerl da hinten trau‘ ich nicht!«

Der Motor des Polizeibootes brummte auf, und die Sirene schickte ein tiefes Heulen übers Wasser. Hinter der Insel hörte man das Echo. Der Mann im Boot schien die Barkasse erst jetzt zu bemerken; sowohl er als auch der Mann im Wasser hielten inne, um das Sirenengeheul zu orten. Der Schwimmer, der sich nicht mehr vom Fleck bewegt hatte, starrte einen Moment lang auf das Polizeiboot, schüttelte wild das Wasser aus seinen langen Haaren und tauchte ab. Als er kurze Zeit später wieder an die Oberfläche kam, begann er erneut zu kraulen; doch nun schwamm er zurück zur Insel, als wäre der Teufel hinter ihm her.

Das Mädchen auf der Ruderbank richtete sich auf und blickte sich um. Der Mann sank erschöpft gegen die Heckplanken und winkte dem Polizeiboot zu.

Im selben Augenblick, in dem Barkasse und Motorboot endlich Seite an Seite lagen, erreichte der Schwimmer das Ufer der Insel. Ohne sich noch einmal umzusehen, verschwand er im Gestrüpp.

Als das Polizeiboot gerade am antriebslosen Außenborder anhakte, warf der Mann seinen Kopf in den Nacken und begann lauthals zu lachen -es war ein volles, herzhaftes Lachen, das Erleichterung und Freude verriet.

Der Mann, dessen Alter man schwer schätzen konnte, war dünn und drahtig, hatte bräunliches Haar und ein Gesicht, das nur die tropische Sonne viele Jahre lang so dunkel, ja fast purpurfarben gebrannt haben konnte. Seine Augen wirkten wie ausgebleicht -wassergrau, fast ohne Farbe. Sein Mund wirkte eisern; die Kiefermuskeln zeichneten sich unter seinen purpurnen Wangen wie Stählträger ab. Insgesamt eine beeindruckende Persönlichkeit trotz seiner Flucht, befand Ellery, als er dem Mann zusah, wie er sich in seiner ekstatischen Freude auf den Holzplanken wälzte.

Das Mädchen, das der Mann entführt hatte, konnte nur Jonah Lincolns aufsässige Schwester Hester sein; die junge Frau sah ihm sehr ähnlich. Sie war nicht hübsch, hatte aber eine blendende Figur, wie die verlegenen Männer vom Polizeieinsatz gezwungen waren festzustellen, obwohl sie eine Herrenjacke um ihre Schultern drapiert hatte. Der fröhliche Bootsbesitzer hatte, wie Ellery bemerkte, keine an. Unter der Jacke war sie notdürftig mit schmutzigem Leinen bedeckt, als hätte jemand den ersten greifbaren Stoffetzen über ihre Blöße geworfen.

Sie erwiderte die Blicke der Männer aus beunruhigten blauen Augen, wurde plötzlich rot, ließ ihren Kopf hängen und begann zu zittern. Ihre Hände rutschten kraftlos in ihren Schoß.

»Worüber, verdammt noch mal, lachen Sie eigentlich?« fragte der Inspector gereizt. »Wer sind Sie überhaupt? Und was haben Sie sich dabei gedacht, diese Frau hier zu entführen?«

Der Mann ohne Jacke wischte sich eine Träne von der Wange. »Ich kann Ihnen Ihr Mißtrauen nicht verdenken«, japste er. »Himmel, war das komisch!« Er schüttelte die letzten Spuren von Heiterkeit aus seinem dunklen Gesicht und stand auf. »Entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Temple; das ist Miss Hester Lincoln. Ich danke Ihnen für unsere Errettung!«

»Kommen Sie an Bord«, brummte Vaughn.

Isham und Ellery halfen der stummen Frau ins Polizeiboot.

»Augenblick mal«, fuhr Temple dazwischen, und sein Blick verriet aufkeimenden Argwohn. »Wer sind Sie überhaupt?«

»Polizei! Kommen Sie schon!«

»Polizei!« Temple verengte skeptisch die Augen, während er in die Barkasse stieg. Einer der Beamten befestigte die Fangleine an Temples Außenborder. Dr. Temple schaute von Vaughn zu Isham und dann zu Ellery hinüber. Die junge Frau war in einen der Sitze gerutscht und starrte auf den Boden.

»Sagen Sie, was ist denn passiert?«

Staatsanwalt Isham klärte ihn auf. Dr. Temple wurde leichenblaß; und Hester Lincoln riß entsetzt die Augen auf.

»Brad!« wiederholte Dr. Temple leise. »Ermordet ... Das gibt‘s doch nicht ... Gestern morgen noch habe ich ihn gesehen, und -«

»Jonah«, stammelte das zitternde Mädchen. »Ist er okay?«

Keiner antwortete ihr. Dr. Temple nagte auf seiner Unterlippe herum; seine farblosen Augen schienen auf einmal nachdenklich. »Waren Sie schon - bei den Lynns?« fragte er mit einem seltsamen Unterton.

»Warum sollten wir?«

Temple zögerte, dann lächelte er und zuckte die Achseln. »Ach, nur so. War nur so eine Frage ... Der arme Tom.« Er

setzte sich hin und ließ seinen Blick über das Wasser zur Insel gleiten.

»Kurs auf Brads Anlegestelle!« befahl Vaughn. Sofort beschrieb die Barkasse eine scharfe Kurve und steuerte wieder auf das Festland zu.

Ellery entdeckte die eigenwillige Silhouette des Professors, der auf dem Anlegesteg stand, und winkte ihm zu. Professor Yardley winkte schlaksig zurück.

»Und jetzt, Dr. Temple«, sagte der Staatsanwalt, »reden wir einmal Tacheles! Was sollte das ganze Theater mit der Entführung, und wer zum Henker ist der nackte Idiot, der Sie verfolgt hat?«

»Zu dumm auch ... Na ja ... Es ist vielleicht besser, wenn ich direkt mit der Wahrheit herausrücke. Hester, bitte verzeih mir!«

Das Mädchen sagte nichts; die Nachricht vom Tod des Thomas Brad schien sie gelähmt zu haben.

»Miss Lincoln«, fuhr der braungebrannte Mann fort, »ist, sagen wir, ein wenig kopflos gewesen. Sie ist noch sehr jung; und junge Menschen sind leicht zu verführen.«

»Ach, Victor«, stöhnte das Mädchen unendlich traurig.

»Jonah Lincoln«, fuhr Dr. Temple angestrengt fort, »hat sich nicht -wie soll ich das sagen -hat gegenüber seiner Schwester ­wie ich es sehe -versagt.«

»Wie du es siehst«, ergänzte das Mädchen erbittert.

»Ja, Hester, weil ich -« Er nagte wieder auf seiner Lippe herum. »Auf jeden Fall war ich, als eine Woche verstrichen und Hester immer noch nicht von der verdammten Insel zurück war, zu dem Schluß gekommen, daß jemand sie schleunigst zur Vernunft bringen müsse. Da kein anderer sich dazu berufen fühlte, habe ich die Aufgabe übernommen. Nudismus!« schnaubte er verächtlich. »Pervers so was; erst recht, wie die Leute drüben ihn praktizieren. Schließlich hat man als Arzt so seine Erfahrungen. Das ist ein Haufen von Betrügern, die sich mit dem Schamgefühl anständiger Leute eine goldene Nase verdienen.«

»Victor Temple!« fauchte das Mädchen. »Ist dir eigentlich klar, was du da sagst?«

»Entschuldigen Sie bitte«, wandte der Inspector ein. »Aber es würde mich schon interessieren, was Sie das angeht, wenn Miss Lincoln beschließt, nackt auf der Insel herumzulaufen. Immerhin dürfte sie volljährig sein.«

Dr. Temple verzog den Mund. »Wenn Sie es unbedingt wissen wollen«, antwortete er zornig, »dann nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß ich mich berechtigt sehe einzugreifen, weil sie in geistiger und seelischer Hinsicht noch ein Kind, eine Heranwachsende ist. Sie hat sich von seiner Tarzanmasche und seinen schmierigen Schmeicheleien verführen lassen.«

»Sie sprechen von Paul Romaine, nehme ich an?« fragte Ellery mit einem nüchternen Lächeln.

Der Arzt nickte. »Dreckskerl! Er ist das lebende Aushängeschild dieser hirnverbrannten Sonnenanbeter -nichts gegen die Sonne als solche, aber ... Nun ja, ich bin also heute morgen rüber, um die Insel auszukundschaften. Zwischen Romaine und mir gab es ein kleines Gerangel. Wie die Wilden! Das muß zum Schreien komisch gewesen sein! Zunächst einmal sah es jedoch verdammt ernst aus, schließlich ist er viel kräftiger als ich. Als ich merkte, daß ich nicht gegen ihn ankam, habe ich mir Miss Lincoln geschnappt und gemacht, daß ich fort kam.« Er grinste ironisch. »Wenn Romaine nicht gestolpert und mit seinem Dickschädel gegen einen Felsen gekracht wäre, hätte ich, fürchte ich, eine ordentliche Tracht Prügel bezogen. Soweit also die Geschichte von der rätselhaften Entführung.«

Hester starrte ihn düster an; sie zitterte immer noch vor Schrecken.

»Trotzdem sehe ich immer noch nicht ein«, begann Isham, »mit welchem Recht -«

Dr. Temple erhob sich und blickte Isham böse an. »Das geht Sie nun wirklich nichts an, wer immer Sie auch sein mögen! Aber bitte: Ich beabsichtige, die junge Dame eines Tages zum Traualtar zu führen; da kann ich doch nicht tatenlos zusehen, wenn dieser -« Er schluckte. »Sie liebt mich, weiß es nur noch nicht. Aber, das schwöre ich Ihnen, ich werde dafür sorgen, daß sie es merkt!«

Er sah sie eindringlich an, und einen Augenblick lang schien in ihren Augen ein bestätigendes Funkeln zu liegen.

»Das«, sagte Ellery trocken, »ist wahre Leidenschaft.«

Isham schüttelte den Kopf.

Ein Polizist holte die Leinen der Barkasse ein. Professor Yardley rief: »Hallo, Queen! Bin noch mal zurück, um zu sehen, wie Sie vorankommen ... Tag, Temple. Stimmt was nicht?«

Dr. Temple nickte. »Ich habe gerade Hester gekidnappt. Die Herren hier wollen mich dafür hängen.«

Yardleys Lächeln verblaßte. »Oh, das tut mir aber leid ...«

»Professor -Sie kommen besser mit«, sagte Ellery. »Wir werden auf der Insel Ihre Hilfe brauchen.«

»Großartige Idee!« befand Vaughn. »Dr. Temple, Sie haben Brad gestern noch gesehen?«

»Nur ganz flüchtig, als er gerade in Richtung Stadt losfuhr. Auch Montag abend, vorgestern, habe ich ihn gesehen. Er war so wie immer. Ich begreife es einfach nicht! Haben Sie denn schon einen Verdacht?«

»Die Fragen stelle ich«, brummte Vaughn. »Wie haben Sie den gestrigen Abend verbracht, Doktor?«

Temple schmunzelte. »Ich hoffe, ich bin nicht der erste, den Sie vernehmen! Ich war den ganzen Abend zu Hause; ich lebe allein. Eine Zugehfrau kommt jeden Tag zum Kochen und Putzen.«

»Wir haben ein paar Fragen zu Ihrer Person«, erklärte Isham.

»Reine Formsache.«

Temple winkte ab. »Schießen Sie schon los!«

»Seit wann wohnen Sie hier?«

»Seit 1921. Ich bin aus dem Dienst ausgeschiedener Offizier; Truppenarzt, um genauer zu sein. Als der Krieg ausbrach, war ich in Italien und bin ganz in eine italienische Sanitätseinheit eingetreten. Ich war gerade aus den Windeln raus und mit dem Studium fertig. Ich habe es bis zum Major gebracht; zwei-oder dreimal verwundet -ich war im Balkankrieg dabei, und bin dort in Kriegsgefangenschaft geraten. Das war nicht lustig.« Er lächelte flüchtig. »Damit war meine Militärlaufbahn beendet. Für die Dauer des Krieges kam ich dann in ein österreichisches Internierungslager bei Graz.«

»Und nach Ende des Krieges sind Sie in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt?« »Ich bin erst noch ein paar Jahre herumgezogen -ich war im Krieg zu einer beträchtlichen Erbschaft gekommen -und dann erst in die Heimat zurückgekehrt. Sie wissen ja, wie es vielen von uns ergangen ist -Freunde verloren, keine Familie, das Übliche halt. Ich habe mich hier niedergelassen und spiele seitdem den Großgrundbesitzer.«

»Ich danke Ihnen, Doktor«, sagte Isham deutlich herzlicher. »Wir setzen Sie hier ab und -« Ihm schien plötzlich ein Gedanke gekommen zu sein. »Sie, Miss Lincoln, kehren besser zu Brads Villa zurück. Könnte sein, daß es auf der Insel gleich ordentlich kracht. Ich werde aber dafür sorgen, daß Sie Ihre Sachen wiederbekommen.«

Hester Lincoln hielt ihren Blick gesenkt, ihre Stimme verriet jedoch unnachgiebige Sturheit: »Ich werde nicht hierbleiben. Ich gehe zurück!«

Dr. Temple hörte auf zu lächeln.

»Zurück!« brüllte er. »Hast du den Verstand verloren, Hester? Nach allem, was gewe-«

Sie warf mit einer plötzlichen Bewegung das Jackett ab. Die Sonne brannte auf ihre nackten, gebräunten Schultern nieder, und ihr Blick loderte nicht minder heiß. »Ich werde mir weder von dir noch von sonst jemandem vorschreiben lassen, was ich zu tun oder zu lassen habe, Dr. Temple! Ich gehe zurück; und Sie werden mich nicht daran hindern. Wagen Sie es ja nicht!«

Vaughn blickte hilflos zu Isham, der leise vor sich hin schimpfte.

Ellery beschwichtigte: »Immer ruhig Blut! Ich schlage vor, daß wir alle zurückfahren. Wird bestimmt amüsant!«

Und so durchpflügte die Barkasse einmal mehr die Wasser der Ketcham‘s Bay, diesmal allerdings erreichte sie das kleine Dock ohne Zwischenfall. Sie gingen an Land, wobei Hester jede Hilfestellung verweigerte, und erschraken. Vor ihnen stand ein Gespenst.

Ein greisenhafter Zwerg mit verfilztem Haar und braunem Bart, dessen ausgemergelten Körper ein leuchtend weißes Gewand umhüllte, fixierte sie mit fanatischen Augen. Seine Füße steckten in eigenartigen Sandalen. In seiner rechten Hand hielt er einen kuriosen Stab, den eine primitive, grob geschnitzte Schlange krönte ... Er trat aus dem Busch hervor, drückte die mageren Schultern durch und sah die Neuankömmlinge hoheitsvoll an.

Hinter ihm tauchte der muskulöse Schwimmer auf; er hatte in der Zwischenzeit eine kurze weiße Hose und ein Unterhemd übergestreift. Seine Füße waren noch nackt.

Einen Augenblick lang beäugte man sich feindselig; dann jedoch lächelte Ellery in freundlicher Ehrerbietung. »Na, wenn das nicht der erhabene Haracht persönlich ist!«

Professor Yardley schmunzelte in seinen Bart hinein.

Der schmächtige Geist fuhr zusammen. Seine Augen wandten sich Ellery zu; es spiegelte sich jedoch keinerlei Erkennen darin.

»Ja, so lautet mein Name«, verkündete er mit schneidender Krächzstimme. »Seid ihr gekommen, um vor dem Altar zu beten?«

»So sehe ich aus, du armseliger Spinner!« fauchte Inspector Vaughn, machte einen Schritt vorwärts und packte Haracht beim Arm. »Du bist der Oberboß von diesem Zirkus, Freundchen, stimmt‘s? Wo ist deine Hütte? Wir müssen mit dir reden!«

Haracht sah sich ratlos nach seinem Begleiter um. »Paul, siehst du nicht? Paul!«

»Der Name muß es ihm angetan haben«, murmelte der Professor. »Was für ein Jünger!«

Paul Romaine stierte Dr. Temple haßerfüllt an; dieser ließ sich nicht lumpen und gab den Blick ebenso liebevoll zurück. Hester hatte sich, wie Ellery nun auffiel, seitwärts in die Büsche geschlagen.

Haracht wandte sich wieder um. »Wer seid ihr? In welcher Mission seid ihr hier? Wir sind eine friedliche Gemeinschaft!«

Isham schnaubte verächtlich, und Vaughn höhnte: »Kann kein Wässerchen trüben! -Jetzt hör mal zu, Opa! Wir sind von der Polizei -klar? - und wir ermitteln in einer Mordsache!«

Der kleine Greis zuckte zurück, als ob Vaughn ihn geschlagen hätte, und keuchte: »Wieder, wieder und wieder!«

Nun erwachte Paul Romaine zum Leben; er fegte Haracht achtlos zur Seite und baute sich vor dem Inspector auf. »Sie reden mit mir, klar? Der Alte ist ein bißchen überspannt. Sie suchen einen Mörder? Tun Sie das von mir aus! Aber was hat das, bitteschön, mit uns zu tun?«

Ellery sah ihn bewundernd an; der Mann besaß den geschmeidigen, kraftvollen Körper eines Raubtiers. Angesichts seiner Virilität erübrigte sich die Frage, warum frustrierte Frauen reihenweise ihr Herz an ihn verloren.

»Wo sind Sie und dieser Spinner gestern abend gewesen?«

fragte Isham in ruhigem Ton.

»Hier auf der Insel natürlich. Wer ist ermordet worden?«

»Das wissen Sie nicht?«

»Nein! Wer?«

»Thomas Brad.«

Romaine verengte die Lider. »Brad! Nun ja, das hat er vielleicht nicht anders verdient ... Aber was wollen Sie von uns? Uns betrifft das nicht. Wir haben nichts mit den alten Heulsusen vom Festland zu tun. Wir wollen einfach nur unsere Ruhe!«

Inspector Vaughn schob Isham sanft beiseite. Der Inspector war ebenfalls ein ordentliches Kaliber von einem Mann; seine und Romaines Augen trafen sich auf gleicher Höhe, während sie sich gegenseitig taxierten. »Uns gefällt Ihr Ton nicht, mein Lieber«, knurrte Vaughn, während er seine Fingernägel in Romaines linkes Handgelenk grub. »Sie haben das Vergnügen mit dem Bezirksstaatsanwalt und dem Polizeichef von Nassau County persönlich! Und jetzt sind Sie ein braver Junge und beantworten höflich unsere Fragen!«

Romaine wollte sich losreißen, aber Vaughns Griff blieb eisern. »Also gut«, zischte er, »wenn Sie dann besser schlafen können. Ich frage mich nur, wann man uns endlich in Ruhe läßt! Was wollen Sie wissen?«

»Wann haben Sie und dieser Schrumpfkopf hinter Ihnen zum letzten Mal die Insel verlassen?«

Haracht heulte auf: »Paul, komm da weg! Das sind Ungläubige!«

»Sei still! ... Der Herr hier hat die Insel nicht verlassen, seit wir hier sind. Ich selbst bin vor einer Woche das letzte Mal rübergefahren, um Vorräte heranzuschaffen.«

»Na, also! Warum denn nicht gleich?« Der Inspector ließ Romaine los. »Und jetzt vorwärts, Marsch! Wir wollen uns euren Tempel ansehen, oder euer Hauptquartier, oder wie immer ihr dazu sagt!«

Im Gänsemarsch folgten sie der schrägen Gestalt des Alten auf einem Fußweg, der direkt vom Ufer durch das Unterholz ins Herz der Insel führte. Es war unnatürlich still; es schien kaum Insekten noch Vögel auf der Insel zu geben; geschweige denn Menschen. Romaine stapfte gleichgültig durch das Gehölz und schien Dr. Temple vollkommen vergessen zu haben. Der folgte ihm, ohne einmal den Blick von seinem muskulösen Rücken abzuwenden.

Offenbar hatte Romaine vor Ankunft der Polizei die anderen Sonnenanbeter gewarnt; denn als sie aus dem Wald auf eine große Lichtung kamen, auf der ihr Haus stand -ein mit losen Latten verkleideter, riesiger Holzbau -, wurden sie bereits von den Mitgliedern des Nudistenvereins erwartet, doch alle waren bekleidet. Die Warnung mußte jedoch kurzfristig erfolgt sein, denn die Novizen -etwa zwanzig Männer und Frauen jeden Alters und Typs -trugen nur Kleiderfetzen am Leibe. Romaine gab einen unverständlichen Befehl; und wie eine Horde Höhlenmenschen verkrochen sie sich in verschiedenen Winkeln des Holzbaus.

Der Inspector sagte nichts; Verletzungen des öffentlichen Anstands interessierten ihn im Moment nicht.

Haracht schwebte unbekümmert voraus, hielt seinen hausgemachten Uräus hoch und murmelte Gebetsformeln. Er führte die Besucher die Stufen des Hauptgebäudes zum Allerheiligsten hinauf. Es handelte sich um eine Anlage von ungeheuren Ausmaßen, die mit astronomischen Karten, Gipsstatuen der falkenköpfigen ägyptischen Gottheit Horus, Rindergehörn, einem Sistrum, einer emblematischen Weltscheibe, die den Sockel eines Throns bildete, sowie einer Art Kanzel ausgestattet war. Um diese Kanzel standen seltsame Holzliegen herum, auf die sich zumindest Ellery keinen Reim machen konnte ... Die Anlage war nicht überdacht, und die

späte Nachmittagssonne malte lange Schatten an die Wände. Haracht steuerte direkt auf seinen Altar zu, als ob er dort Sicherheit fände. Ohne die Besucher zu beachten, begann er, seine knochigen fleischlosen Arme zum Himmel reckend, eine seltsame Sprache zu murmeln.

Ellery sah Professor Yardley fragend an, der, hochgewachsen und häßlich, wie er war, ein wenig seitab stand und aufmerksam lauschte. »Ganz außergewöhnlich«, murmelte er. »Der Mann ist ein lebender Anachronismus. Einen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts fließend Altägyptisch sprechen zu hören ...«

Ellery war verblüfft. »Wollen Sie damit sagen, daß der Mann weiß, was er da redet?«

Yardley lächelte melancholisch und flüsterte: »Er ist zwar geisteskrank, aber die Gebete sind authentisch ... Er selbst nennt sich Ra-Haracht. In Wirklichkeit ist -oder war -er einer der bedeutendsten Ägyptologen der Welt!«

Je länger er der sonoren Stimme lauschte, desto heftiger schüttelte Ellery den Kopf.

»Ich hatte Ihnen das eigentlich schon länger sagen wollen; aber ich hatte ja noch keinerlei Gelegenheit, Sie unter vier Augen zu sprechen. Ich habe ihn sofort wiedererkannt, als ich vor einigen Wochen aus reiner Neugier rübergerudert bin ... Sonderbare Geschichte. Sein Name ist Stryker ... Er hat einen schweren Sonnenstich erlitten, während er im Tal der Könige Ausgrabungen leitete, und sich nie wieder davon erholt. Was für ein Schicksal!«

»Und was soll das sein, was er da murmelt?« fragte Ellery ungläubig.

»Er intoniert gerade ein priesterliches Gebet an Horus - in der hieratischen Sprache. Dieser Mann«, betonte Yardley ernst, »war eine absolute Koryphäe. Natürlich wirft er jetzt alles durcheinander; und sein Gedächtnis ist auch nicht mehr, was es einmal war. Die Geisteskrankheit hat seine einmaligen

Kenntnisse zu einem abenteuerlichen Konglomerat verschmolzen. Im streng wissenschaftlichen Sinne gibt es einen solchen Sakralraum gar nicht -alles ist durcheinandergewürfelt. Das Sistrum und das Rindergehörn sind Isis geweiht, der Uräus ist das Wahrzeichen der Gottheit; aber es finden sich auch Horuselemente. Was das übrige Inventar angeht, so nehme ich zum Beispiel an, daß die Gläubigen während der Gottesdienste auf den Holzliegen ruhen ...« Der Professor zuckte die Schultern. »Die unmotivierten Zusammenstellungen sind der Nachhall einer zerstörten Intelligenz.«

Haracht ließ die Arme wieder sinken und nahm aus einer Nische hinter dem Altar ein sonderbares Gefäß, besprengte seine Lider mit dem Inhalt und stieg schweigend von der Kanzel herunter. Er lächelte sogar ein wenig und schien klarer zu sein als sonst.

Ellery beobachtete ihn aus gänzlich neuer Perspektive. Ob nun krank oder nicht -seit Haracht als ehemalige Kapazität gelten mußte, stellten sich die Probleme ganz neu. Während er sein Gedächtnis durchforstete, tauchten vage Bilder darin auf. Vor Jahren, als er noch zur Schule ging ... Ja, das war derselbe Mann, über den er gelesen hatte. Stryker, der Ägyptologe! Murmelte nun eine Sprache vor sich hin, die seit Jahrtausenden ausgestorben war ...

Als Ellery sich herumdrehte, sah er schräg gegenüber, auf der anderen Seite des Altarraums in einer Tür, Hester Lincoln, nun mit Bluse und kurzem Rock angetan. Ihr derbes, doch weißes Gesicht verriet eiserne Entschlossenheit. Ohne Dr. Temple eines Blickes zu würdigen, durchquerte sie den Raum und gesellte sich offen zu Paul Romaine. Sie nahm Romaines Hand. Der jedoch lief zu aller Erstaunen krebsrot an und tat einen Schritt zur Seite. Dr. Temple schmunzelte.

Inspector Vaughn verlor allmählich die Geduld; entschlossen marschierte er auf Stryker zu, doch Ra-Haracht blieb vollkommen ruhig und musterte ihn neugierig. »Können Sie mir ein paar einfache Fragen beantworten?«

Der alte Mann nickte kurz. »Fragen Sie!«

»Wann haben Sie Weirton, West Virginia, verlassen?«

Sein Blick flackerte. »Nach dem Kuphi-Ritus vor fünf Monden.«

»Wann?« brüllte Vaughn.

Professor Yardley hustete höflich. »Ich glaube, ich kann Ihnen erklären, was er meint. Der Kuphi-Ritus, wie er ihn nennt, wurde von den pharaonischen Priestern bei Sonnenuntergang vollzogen. Es handelte sich um eine ausgefeilte Zeremonie, bei der Kuphi, aus etwa sechzehn Zutaten wie Honig, Wein, Harz, Myrrhe und so weiter hergestellt, in einem bronzenen Räuchergefäß zusammengerührt wurde, während die heiligen Schriften verlesen wurden. Er bezieht sich wohl auf eine ähnliche Sitzung, die vor etwa fünf Monden abgehalten worden ist - im Januar also.«

Professor Vaughn nickte, und Stryker lächelte dem Professor anerkennend zu.

»Krosac!« rief Ellery so plötzlich in die Stille hinein, daß alle zusammenfuhren.

Seine Augen leuchteten erwartungsvoll, während er die Reaktion des Sonnengottes und seines Geschäftsführers abwartete.

Strykers Lächeln erstarb, die Muskeln um seinen Mund herum begannen zu zucken, und er strebte zu seinem Altar zurück. Romaine blieb ungerührt; seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er gar erstaunt.

»Tut mir leid«, sagte Ellery leise. »Ich habe das manchmal. Fahren Sie fort, Inspector.«

»Das war gar keine schlechte Idee«, grinste Vaughn. »Haracht, wo ist Velja Krosac?«

Stryker leckte sich die Lippen. »Krosac ... Nein, Nein! Ich weiß es nicht. Er ist vom Glauben abgefallen. Er ist fortgelaufen.«

»Wann haben Sie sich denn diesem Spinner angeschlossen?« fragte Isham und wies mit dem Zeigefinger auf Romaine.

»Wer zum Teufel ist Krosac?« grollte Romaine. »Ich weiß nur, daß ich im Februar auf den Alten getroffen bin und von seiner Idee fasziniert war.«

»Wo war das?«

»In Pittsburgh. Das war meine Chance«, fuhr Romaine mit einem Achselzucken fort. »Wenn man einmal«, er senkte seine Stimme, »von dem esoterischen Quatsch absieht ... Der zieht zwar bei den simplen Gemütern, aber mir geht es nur darum, Leute dazu zu kriegen, ihre muffigen Kleider auszuziehen und Sonne an ihre Haut zu lassen. Schauen Sie mich doch einmal an!« Er atmete tief ein, und seine breite Brust blähte sich auf wie ein Ballon. »Wie Sie sehen, bin ich kerngesund. Nichts ist wohltuender, als die Sonnenstrahlen auf und unter die Haut zu lassen ...«

»Ja, ja«, winkte der Inspector ab, »ich kenn‘ das Reklamegeschwätz. Hören Sie, ich trage Kleider, seit ich die Wiege verlassen habe und könnte Sie trotzdem so umpusten, wenn ich wollte! Wie genau sind Sie nach Oyster Island gekommen?«

»Mich umpusten -daß ich nicht lache!« Romaines Muskeln schwollen an. »Kommen Sie schon, probieren Sie‘s mal! Ich -«

»Es war der Wille der Götter!« krächzte Stryker eifrig.

»Der Wille der Götter?« Isham runzelte die Stirn. »Was meint er denn jetzt schon wieder?«

Stryker wich zurück. »Der Wille der Götter!«

»Hören Sie nicht hin!« sagte Romaine. »Wenn er anfängt zu bocken, bekommen Sie kein vernünftiges Wort aus ihm heraus. Als ich mich ihm anschloß, hat er dasselbe Zeug gefaselt. Es sei der Wille der Götter, daß wir auf die Insel gehen.«

»Das war, bevor er Sie zur -äh -Vizegottheit gekürt hat, wie?« fragte Ellery.

»Ja.«

Das Gespräch war in eine Sackgasse geraten. Es war unübersehbar, daß von dem sonnenversengten Ägyptologen keine verwertbaren Aussagen mehr zu erwarten waren. Romaine wußte nichts von den Ereignissen, die ein halbes Jahr zurücklagen - oder gab vor, nichts davon zu wissen.

Die weiteren Ermittlungen ergaben, daß dreiundzwanzig Nudisten auf der Insel lebten, zum größten Teil aus New York, die sich von diesem zweifelhaften Arkadien aufgrund raffiniert aufgemachter Anzeigen und der persönlichen Missionsarbeit Romaines hatten ködern lassen. Die Anreisemöglichkeiten stellte die örtliche Eisenbahn; mit dem Taxi ging es dann weiter zu einem öffentlichen Anlegesteg am äußeren Ende von Dr. Temples Grundstück. Ketcham, der Eigentümer der Insel, setzte sie dann für ein geringes Fährgeld in einem altertümlichen Ruderboot über.

Der alte Ketcham lebte offenbar mit seiner Frau auf dem östlichen Zipfel der Insel.

Der Inspector machte die Runde bei den dreiundzwanzig nunmehr verängstigten, zum Sonnen-und Nacktkult Neubekehrten -und Angst war noch eine gelinde Untertreibung! Nun, da ihr Ausflug ins verbotene Reich der Sinnlichkeit durch die polizeilichen Ermittlungen ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt war, schienen sich die meisten ihrer selbst aufs Äußerste zu schämen. Einige erschienen in voller Montur und zogen ihr Handgepäck hinter sich her. Der Inspector jedoch schüttelte mit grimmiger Miene den Kopf; keiner durfte die Insel verlassen, bevor er nicht persönlich die Erlaubnis dazu erteilt hatte. Während er die Smiths, Johnsons und Browns an sich vorbei paradieren ließ und deren Namen und Adressen notierte, gönnte er sich ein süffisantes Grinsen.

»Hat jemand von Ihnen gestern die Insel verlassen?« fragte Isham.

Alle schüttelten kurz den Kopf; seit Tagen, so schien es, hatte niemand einen Fuß von der Insel gesetzt.

Als die Ermittler sich zum Gehen wandten, stand Hester Lincoln noch immer neben Romaine. Dr. Temple, der dem ganzen Schauspiel schweigend zugesehen hatte, flehte: »Hester, komm mit!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Jetzt sei doch nicht so dickköpfig. Ich kenne dich, Hester. Sei vernünftig -komm weg von dieser Bande von Gaunern, Gangstern und verklemmten Idioten!«

Romaine machte einen Satz nach vom. »Hab‘ ich da recht gehört?« brummte Romaine. »Wie haben Sie uns genannt?«

»Oh, das war noch nicht alles!« Die Stimme des sonst so wohlanständigen Doktors überschlug sich vor Zorn; sein rechter Arm holte aus und traf mit einem dumpfen Knacken Romaines Kiefer.

Hester stand wie vom Donner gerührt da; ihre Lippen begannen zu beben. Dann wandte sie sich ab und lief, von Weinkrämpfen geschüttelt, in den Wald zurück.

Inspector Vaughn sprang auf; doch Romaine warf nach einem Moment der Verblüffung die Schultern zurück und lachte nur. »Mehr haben Sie nicht zu bieten? ... Ich warne Sie, Temple; wenn ich Sie noch einmal auf dieser Insel erwische, brech‘ ich jeden ihrer verdammten Schnüfflerknochen! Und jetzt weg hier!«

Ellery schüttelte nur den Kopf.


9. Die 100-Dollar-Kaution


Der Nebel um den Fall wurde immer dichter. Die »alles entscheidenden« Verhöre der Freizeitinsulaner waren vorüber.

Die Männer verließen die Insel mit einem Gefühl der Trostlosigkeit. Ein Psychopath mit der üblichen Mischung von wirren Reden und lichten Momenten; die verwischte Spur eines verschwundenen Mannes

Das Rätsel war unauflösbarer denn je. Alle waren der Ansicht, daß die Anwesenheit des Mannes, der sich Haracht nannte, in der Nachbarschaft von Bradwood kein Zufall war. Doch welche Verbindung konnte es zwischen dem Mord an einem Schulmeister und dem an einem Millionär, der etliche hundert Kilometer entfernt davon verübt worden war, überhaupt geben?

Die Polizeibarkasse legte ab und tuckerte am grünen Uferstreifen entlang. Am östlichsten Zipfel der Insel war ein zweiter Anlegesteg auszumachen.

»Das muß der private Anlegesteg der Ketchams sein«, sagte Vaughn, »macht sie hier fest.«

Die Insel wirkte auf der östlichen Seite noch trostloser als im Westen. Von der hölzernen Plattform, auf der sie standen, hatten sie freie Sicht auf den Sound und die New Yorker Küste im Norden. Rauher, salziger Wind wehte um ihre Nasen.

Dr. Temple, der apathisch wirkte, blieb mit Professor Yardley im Boot zurück. Staatsanwalt Isham, Vaughn und Ellery stiegen von der morschen Plattform herunter und folgten einem krummen Pfad durch den Wald. Es war kühl dort; und wenn man von dem Pfad absah -der so aussah, als habe ihn zum letzten Mal ein Indianer begangen -, wähnten sie sich in vollkommen unberührter Natur. Nach etwa einhundertfünfzig Metern jedoch trafen sie auf ein primitives Zeugnis menschlicher Zivilisation -ein Blockhaus, das aus sonnengebleichten, grob behauenen Baumstämmen gezimmert war. Neben dem Eingang saß ein großer, braungebrannter alter Mann, der friedlich eine Maiskolbenpfeife rauchte. Als er seine

Besucher sah, stand er hastig auf; seine weißen Augenbrauen bauschten sich über erstaunlich klaren Augen.

»Was machen Sie hier?« fragte er unfreundlich. »Wissense nich‘, daß die ganze Insel Privateigentum is‘?«

»Polizei«, erwiderte Vaughn knapp. »Sie sind Mr. Ketcham?«

Der Alte nickte. »Polizei, wie? Ich wette, Se sin‘ den Nackedeis hinterher. Meine Frau und ich ham nix damit zu tun, verstehnse? Das Stückchen Land hier gehört mir nur zufällig. Wenn meine Pächter Mist gebaut haben, is‘ das denen ihr Pech ...«

»Kein Mensch will Sie für irgend etwas belangen«, brummte Isham. »Aber haben Sie denn noch gar nicht gehört, daß auf dem Festland drüben ein Verbrechen begangen worden ist, genauer gesagt in Bradwood?«

»Was Se nich‘ sagen!« Ketcham fiel der Unterkiefer herunter; die Pfeife zwischen seinen braunen Zähnen wippte auf und ab. »Haste das gehört, Ma?« Er schaute ins Innere des Blockhauses, in dem das faltige Gesicht eines alten Weibes zwischen seinem ausgestreckten Arm und dem Türpfosten zu erkennen war. »Hat drüben in Bradwood ’n Verbrechen gegeben Is‘ das nich‘ schrecklich! Aber was ham wir damit zu tun?«

»Nichts - hoffe ich«, antwortete Isham düster. »Thomas Brad ist ermordet worden.«

»Aber doch nicht der gute Mr. Brad!« schrie die Stimme der Greisin in dem Blockhaus auf. Ihr Gesicht erschien im Türrahmen. »Ist das nicht schauderhaft! Aber hab‘ ich nich‘ immer gesagt -«

»Halt dich da raus, Ma«, befahl der alte Ketcham mit kaltem Blick. Der Kopf der alten Frau verschwand. »Na ja, meine Herren, ich kann nich‘ grad‘ sagen, dasses mich überrascht.«

»So!« sagte Vaughn. »Warum nicht?«

»Nu ja, da hat‘s schon so Sachen gegeben.«

»Wie meinen Sie das? Was für Sachen?«

Mr. Ketcham kniff ein Auge zu. »Mr. Brad un‘ der Bekloppte« -er wies mit einem schmutzverkrusteten Daumen über die Schulter hinter sich -, »ham sich inner Wolle gehabt, seit die Leute die Insel für die Sommersaison gepachtet ham. Die Insel gehört uns Ketchams, wissense, seit vier Generationen jetz‘. Seit den alten Indianertagen, nehm‘ ich an.«

»Ja, das wissen wir jetzt«, unterbrach Vaughn ungeduldig. »Also hat es Brad gar nicht gepaßt, daß Haracht und seine Horde so nah an seinem Grundstück kampiert haben, was? Haben Sie -«

»Einen Moment bitte, Inspector«, sagte Ellery mit leuchtenden Augen. »Mr. Ketcham, wer hat die Insel gepachtet?«

Ketchams Maiskolben spuckte gelblichen Rauch in die Luft. »Nich‘ der Bekloppte. War‘n Mann mit ’nem verdammt komischen ausländischen Namen. Kro-sac«, antwortete er mit einigen Schwierigkeiten, den fremden Namen auszusprechen.

Die drei Männer tauschten Blicke. Krosac -also doch noch eine Spur. Der mysteriöse hinkende Mann von Arroyo.

»Hinkte der Mann?« fragte Ellery eifrig.

»Schaunse«, sagte Ketcham, »ich hab‘n nie gesehn und kann das also nich‘ sagen. Aber wartense mal ’n Augenblick -ich hab‘ da was, wasse interessieren könnte.« Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in seiner Hütte.

»Nun, Mr. Queen«, begann der Staatsanwalt nachdenklich, »sieht ganz so aus, als hätten Sie das Blatt gewendet. Krosac ... Wenn man bedenkt, daß Van Armenier und Brad Rumäne war ­zumindest sind sie Mitteleuropäer gewesen -und daß Krosac untergetaucht ist, nachdem er zuletzt am Tatort des ersten Mordes gesehen worden ist ... Das ist verdammt heiß, Vaughn.«

»Sieht ganz so aus«, brummte Vaughn. »Wir müssen dringend was unternehmen ... Da ist er wieder.«

Der alte Ketcham kehrte mit rotem, schweißüberströmtem Gesicht zurück und wedelte triumphierend mit einem schmutzigen, abgegriffenen Blatt Papier in der Luft herum.

»Der Brief hier«, sagte er, »is‘ von diesem Kro-sac. Schaunse selbst.«

Vaughn schnappte sich den Brief; Ellery und Isham sahen ihm über die Schulter. Es handelte sich um eine maschinengeschriebene Mitteilung auf gewöhnlichem Briefpapier; als Datum war der dreißigste Oktober des vorangegangenen Jahres angegeben. Das Schreiben antwortete, wie zu entnehmen war, auf eine Anzeige in einer New Yorker Zeitung, in der Oyster Island für die Sommermonate zur Pacht angeboten worden war. Der Verfasser des Briefes hatte eine Postanweisung über 100 Dollar beigefügt als Kaution bis zum Pachtantritt, welcher am ersten März des nächsten Jahres erfolge. Die Unterschrift - Velja Krosac - war ebenfalls getippt.

»Die Postanweisung hat auch tatsächlich beigelegen, Mr. Ketcham?« fragte Vaughn sofort.

»Hatse.«

»Sehr gut«, sagte Isham händereibend. »Das Postamt, von dem der Brief abgeschickt worden ist, läßt sich ermitteln; und so kriegen wir auch den Wisch in die Finger, den Krosac dort ausgefüllt haben muß -mitsamt seiner Unterschrift. Und damit hätten wir schon ’ne ganze Menge.«

»Ich fürchte«, murmelte Ellery, »wenn Krosac, unsere ebenso geschätzte wie hakenschlagende Beute, so gerissen ist, wie sein bisheriges Vorgehen suggeriert, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn auf dem Postanweisungsformular die Unterschrift von Freund Haracht prangt. Schon während der Ermittlungen im Fall Van hat sich ja keine einzige Probe von Krosacs Handschrift gefunden.«

»Ist dieser Krosac am ersten März persönlich erschienen?« fragte der Staatsanwalt.

»Nein, Sir. Ein Kro-sac hat sich hier nie blicken lassen. Aber der spinnerte Alte da drüben -Har-Haracht, oder wie er sich schimpft -der is‘ zusammen mit diesem Romaine gekommen; se ha‘m dann den Rest bar bezahlt un‘ ham sich drüben breitgemacht.«

Vaughn und Isham ließen das Thema Krosac fallen; es war allzu offensichtlich, daß der alte Mann nichts über ihn wußte. Der Inspector steckte den Brief ein und begann, Fragen zum Streit zwischen Brad und Haracht zu stellen. Es kam heraus, daß Brad, sobald feststand, daß die Leute wirklich splitternackt auf der Insel herumliefen, persönlich auf der Insel erschienen war, um dem einmütigen Protest der Nachbarn auf dem Festland Ausdruck zu verleihen. Haracht hatte jedoch allen Versuchen, ihn zu beschwatzen oder ihm zu drohen, eisern widerstanden; und Romaine hatte lediglich die Zähne gebleckt. Brad hatte ihnen dann in seiner Verzweiflung eine stattliche Summe in Aussicht gestellt, wenn sie ihre Zelte abbrächen.

»Wer hat den Pachtvertrag eigentlich unterschrieben?« fragte Isham.

»Das alte Stinktier«, antwortete Ketcham.

Haracht und Romaine hatten Brads Angebot abgelehnt. Schließlich hatte Brad gedroht, rechtliche Schritte gegen die Männer einzuleiten, die mit ihrem Pulk seiner Meinung nach ein öffentliches Ärgernis darstellten. Romaine hatte dagegengehalten, daß sie niemandem schadeten, daß die Insel fernab öffentlicher Verkehrswege liege und das Eiland für die Dauer des Vertrages gewissermaßen ihnen gehöre. Daraufhin hatte Brad versucht, Ketcham dazu zu bewegen, die Störenfriede unter Berufung auf nämliches Gesetz mit rechtlichen Mitteln zu vertreiben.

»Aber mir un‘ Mrs. Ketcham hamse ja nix getan«, lamentierte der alte Mann. »Mr. Brad hat mir dann ’nen Riesen

geboten, wenn ich‘s mach‘. Nee, Sir, sag‘ ich, der alte Ketcham macht so was nich‘, der alte Ketcham geht nich‘ vor‘n Kadi.«

Der letzte Streit, fuhr Ketcham fort, hatte vor drei Tagen stattgefunden -am Sonntag. Brad war wie Menelaos auf seiner Fahrt nach Troja übers Wasser gebraust und hatte Stryker im Wald zur Rede gestellt. Es hatte eine hitzige Auseinandersetzung gegeben, in deren Verlauf der kleine Zottelbart sich in einen Tobsuchtsanfall hineingesteigert hatte. »Dachte schon, den trifft der Schlag«, erinnerte sich Ketcham. »Dieser Romaine -is‘ ja ‘n ziemlicher Bär von Kerl -geht dann dazwischen und brüllt Mr. Brad an, er soll abhauen. Ich hab‘ das nur hinterm Baum mitgekriegt, ging mich ja ‘n Dreck an. Mr. Brad sagt dann, er geht nich‘, un‘ Romaine packt‘n beim Kragen un‘ sagt: ›Jetzt hauen Sie ab, oder ich verpass‘ Ihnen dermaßen eine, daß Ihre Alte Sie nich‘ mehr wiedererkennt!‹ un‘ Mr. Brad brüllt zurück, dasser se kleinkriegt, auch wenn’s ihn den letzten Penny kostet.«

Isham rieb sich erneut die Hände. »Sie sind in Ordnung, Ketcham, ich wünschte, es gäb‘ hier mehr von Ihrem Schlag. Aber jetzt verraten Sie uns noch - hat noch sonst irgendwer vom Festland Streit mit Haracht und Romaine gehabt?«

»Worauf Se Gift nehm‘ könn‘.« Ketcham strahlte vor Wichtigkeit. »Dieser Jonah Lincoln -wohnt auch in Bradwood. Der hat sich letzte Woche hier auf der Insel mit Romaine gekloppt.« Seine eingetrockneten Lippen gaben ein Schmatzgeräusch von sich. »Mann, das war‘n Kampf! Wie bei den Boxmeisterschaften. Lincoln is‘ rüber, um seine Schwester nach Hause zu holen. Die war nämlich grad hier angekomm.«

»Und dann?«

Der Alte wiegte den Kopf unmißverständlich; seine Augen blitzten. »Hat ja ’ne gute Figur, die Kleine. Kommt hier her un‘ reißt sich die Kleider vom Leib, so wahr ich Ketcham heiß‘, un‘ das vor den zwei‘n. War total hysterisch, weil ihr Bruder sich

eingemischt hat. Er hätt‘ se unter der Knute gehabt, seit se laufen kann, aber jetz‘ könnt‘ se machen, was ihr paßt ... Das war‘n Theater, sag‘ ich Ihnen. Hab‘ durch die Bäume gespingst ...«

»Ketcham, du alter Bock!« krächzte eine Stimme aus dem Inneren des Blockhauses. »Du solltest dich was schämen!«

»Mm«, grunzte Ketcham ernüchtert. »Nu ja, als Lincoln dann klar wird, seine Schwester geht nich‘ zurück, un‘ sieht se da völlig nackich stehn -stellnse sich das bloß ma‘ vor -, un‘ Romaine glotzt se nich‘ grad unschuldig an, da schmiert er Romaine eine, un‘s gibt ’n Gerangel. Romaine prügelt Lincoln windelweich, aber der nimmt‘s hin wie‘n Mann. Mut hatter ja, muß man ihm lassen. Un‘ dann schmeißt Romaine den armen Jung‘ doch einfach -platsch! -ins Wasser! Hat Bärenkräfte, der Kerl, sag‘ ich Ihnen!«

Von dem geschwätzigen Alten war nun endgültig nichts Interessantes mehr zu erwarten.

Die Männer kehrten zur Barkasse zurück. Sie fanden einen friedlich paffenden Professor Yardley vor, während Dr. Temple mit hochrotem Kopf an Deck auf und ab paradierte; sein Gemütsbarometer stand auf Sturm.

»Was Neues herausgefunden?« fragte Yardley träge.

»Wenig.«

Als die Barkasse schließlich losknatterte und Kurs aufs Festland nahm, herrschte unter den Männern ein tiefes, gedankenverlorenes Schweigen.


10. Dr. Temples Abenteuer


Der Nachmittag war vorangeschritten. Staatsanwalt Isham verabschiedete sich. Der Strom der unergiebigen Aufträge, die Inspector Vaughn erteilte, und der ebenso unergiebigen Berichte, die ihn erreichten, wollte nicht abreißen. Auf Oyster Island schien alles still zu sein. Mrs. Brad hatte sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen -krank, wie es hieß -, und ihre Tochter Helene kümmerte sich um sie. Jonah Lincoln wanderte unruhig über das Grundstück. Überall sah man gähnende Polizisten.

Reporterschwärme kamen und gingen und erfüllten den milden Abend mit ihren Blitzlichtgewittern.

Ellery, der sich noch sehr wach fühlte, folgte Professor Yardley über die Hauptstraße und durch ein hohes Steintor auf der anderen Seite. Sie kamen auf einen Kiesweg, der sie zu Yardleys Haus führte. Beide waren sie gedämpfter Stimmung und mit ihren Gedanken beschäftigt.

Die Dämmerung setzte ein; langsam breitete sich über die Gegend eine kohlschwarze, sternlose Finsternis. Oyster Island schien in den dunklen fluten zu versinken.

In stillschweigendem Einvernehmen berührten weder Ellery noch sein Gastgeber das heikle Thema, das sie so sehr beschäftigte. So plauderten sie über angenehmere Dinge -über die alten Zeiten an der Uni, den verkalkten Rektor, Ellerys erste Ausflüge in die Welt des Verbrechens; Yardleys gemächliche Karriere, seit sie sich aus den Augen verloren hatten ... Um elf schließlich hüllte Ellery seine Lenden in einen Flanellpyjama und legte sich schlafen. Der Professor saß noch eine Stunde in seinem Arbeitszimmer, rauchte Pfeife und schrieb ein paar Briefe. Dann ging auch er zu Bett.

Es war bereits Mitternacht, als sich auf der Veranda von Dr. Temples Steinhaus etwas regte: Der Doktor persönlich, in schwarzen Hosen, schwarzem Hemd und schwarzen Mokassins, machte seine Pfeife aus, schlich lautlos von seiner Veranda herunter und verschwand im düsteren Wald zwischen seinem Haus und der östlichen Grenze von Bradwood.

Außer den unermüdlich zirpenden Grillen schien alles fest zu schlafen. Vor dem schwarzen Hintergrund des nächtlichen Waldes war er unsichtbar -ein konturloser, verstohlener Schatten -, nicht einmal seine Haut verriet ihn. Wenige Meter von der östlichen Straße entfernt, verharrte er hinter einem Baum. Jemand stampfte die Straße entlang -in seine Richtung. Dr. Temple erkannte vage die Silhouette eines uniformierten Bezirkspolizisten, der die Straße entlang patrouillierte. Der Polizist stampfte an ihm vorbei auf die Ketcham‘s Bay zu.

Als seine Schritte nicht mehr zu hören waren, überquerte Dr. Temple flink und leichtfüßig die Straße, fand zwischen den Bäumen Bradwoods sogleich wieder Schutz und arbeitete sich weiter lautlos in westliche Richtung vor. Er brauchte eine halbe Stunde, um das eigentliche Bradwood zu durchqueren, ohne die Aufmerksamkeit der verstreut lauernden Wachen auf sich zu lenken. Er strich am Gartenhaus, dem Totempfahl, an einem hohen Drahtzaun, der einen Tennisplatz umsäumte, an der Villa und dem Hauptweg, der zu Brads Anleger führte, und Fox‘ Wohnhütte vorbei, bis er an die Straße im Westen gelangte, die Bradwood vom Grundstück der Lynns trennte.

Jede Faser seines Körpers war bis zum Zerreißen gespannt. Er schlüpfte nun in den Wald hinein und arbeitete sich mit doppelter Vorsicht in dieselbe Richtung vor, bis das Haus der Lynns schwarz und bedrohlich frontal vor ihm aufragte. Temple tastete sich auf die Nordseite, wo die Bäume sehr dicht standen und fast bis ans Haus heranreichten.

Das Fenster in seiner Nähe war erleuchtet -er hockte keine zwei Meter davon entfernt hinter einer alten Platane -, die Jalousie war jedoch ganz heruntergezogen. Schlurfende Geräusche drangen aus dem Zimmer an sein Ohr. Es war das Schlafzimmer. Einmal wanderte Mrs. Lynns breiter Schatten am Fenster vorbei. Dr. Temple kroch nun, indem er vorsichtig Zentimeter um Zentimeter ertastete, auf den Knien vorwärts, bis er direkt unter dem Fenster lag.

Im selben Augenblick hörte er, wie eine Tür geschlossen wurde, und dann hörte er die Piepsstimme von Mrs. Lynn, schriller als sonst: »Percy! Hast du ihn verbuddelt?«

Dr. Temple biß die Zähne zusammen; der Schweiß lief an seinen Schläfen herunter, doch er gab keinen Laut von sich.

»Um Himmels willen, Beth, nicht so laut!« Percy Lynn klang sehr nervös. »Hier wimmelt es nur so von Bullen!«

Schritte kamen in die Nähe des Fensters; Temple schmiegte sich eng an die Hauswand und hielt den Atem an. Die Jalousie wurde hochgezogen. Lynn schaute hinaus. Sofort wurde die Jalousie wieder heruntergelassen.

»Wo?« flüsterte Elizabeth Lynn.

Dr. Temple spannte die Muskeln an und spitzte mit höchster Konzentration die Ohren. Er zitterte vor Anstrengung. Doch so aufmerksam er auch horchte, die geflüsterte Antwort konnte er nicht verstehen ...

Dann -etwas lauter -»Sie werden ihn nie finden. Wenn wir abhauen, sind wir aus dem Schneider.«

»Aber Dr. Temple - ich hab‘ Angst, Percy!«

Lynn fluchte leise. »Ist ja gut, ich erinnere mich. Das war in Budapest direkt nach dem Krieg. Die Bundelein-Affäre ... Ja, verdammt, es ist derselbe Mann, das könnt‘ ich beschwören.«

»Er hat aber bisher den Mund gehalten«, flüsterte Mrs. Lynn. »Vielleicht hat er‘s ja vergessen.«

»Der nicht! Letzte Woche bei den Brads hat er mich pausenlos fixiert. Wir müssen extrem vorsichtig sein, Beth. Wir stecken verdammt tief drin.«

Das Licht ging aus, eine Sprungfeder quietschte; die Stimmen wurden zu einem unverständlichen Gemurmel. Dr. Temple verharrte noch lange regungslos unter dem Fenster, es war jedoch nichts mehr zu hören. Die Lynns hatten sich schlafen gelegt.

Er richtete sich zu voller Größe auf, horchte ein paar Sekunden und stahl sich dann in den Wald zurück. Ein geisterhafter Schatten, der von Baum zu Baum glitt ...

Als er durch den Wald kam, der die mondsichelförmige Ketcham‘s Bay säumte, konnte er hören, wie die Wellen am Steg leckten. Einmal mehr verharrte er hinter einem Baum; schwache Stimmen drangen von der Bucht her an sein Ohr. Mit übermenschlicher Vorsicht schlich er sich näher an den Strand heran, bis das nachtschwarze Wasser zu seinen Füßen gluckste. Er kniff die Augen zusammen: Etwa drei Meter vom Steg entfernt schaukelte ein Ruderboot. Es ließen sich vage zwei Gestalten ausmachen, die in der Mitte des Bootes saßen -ein Mann und eine Frau. Die Frau hatte ihre Arme um den Mann geschlungen und flehte ihn verzweifelt an.

»Warum bist du so kalt zu mir? Nimm mich mit auf die Insel, dort sind wir sicherer - unter den Bäumen ...«

Die Stimme des Mannes antwortete gedämpft: »Du benimmst dich wie ein dummes Huhn! Es ist zu gefährlich, sag‘ ich dir. Ausgerechnet heute! Hast du den Verstand verloren oder was? Irgendwer wird dich vermissen, und dann sind wir dran. Ich hab‘ dir so oft gesagt, daß wir uns nicht mehr sehen dürfen, zumindest bis der ganze Spuk vorbei ist.«

Die Frau riß ihre Arme von dem Mann los und begann verzweifelt zu schluchzen: »Ich hab‘s ja gleich gewußt! Du liebst mich nicht mehr! Oh, es ist so -«

Er preßte eine Hand auf ihren Mund und flüsterte wütend: »Halt den Mund! Hier sind überall Bullen!«

Einen Moment lang entspannte sie sich in seinen Armen. Dann stieß sie ihn mit beiden Händen von sich und setzte sich langsam wieder auf. »Nein, du kriegst sie nicht! Dafür werde ich sorgen!«

Der Mann schwieg. Dann nahm er eins der Ruder und stakte das Boot an Land. Die Frau stand auf. Er schubste sie grob aus dem Boot, stieß sich hastig ab und begann, nach Leibeskräften zu rudern - in Richtung Oyster Island.

Als der Mond die Szenerie in sein Licht tauchte, erkannte Dr. Temple in dem davonrudernden Mann Paul Romaine.

Und die Frau, die zitternd und totenbleich am Ufer stand, war niemand anders als Mrs. Brad.

Dr. Temple schüttelte fassungslos den Kopf und verschwand im Wald.


11. Hussa!


Als Ellery am nächsten Morgen den Kiesweg nach Bradwood hinaufging, sah er schon von weitem den Dienstwagen des Staatsanwalts in der Einfahrt parken. Die Mienen der Beamten, die darum herumstanden, spiegelten erwartungsvolle Spannung. Da offenbar etwas Besonderes im Gänge war, beschleunigte er seinen Schritt und eilte die Treppen der herrschaftlichen Veranda hinauf ins Haus.

Er fegte an einem bleichen Stallings vorbei ins Arbeitszimmer. Dort stieß er auf einen hyänenhaft grinsenden Isham und einen Inspector mit geschwollenem Kamm; beide fixierten Fox, den gärtnernden Chauffeur. Fox stand mit zusammengepreßten Händen vor Isham, wirkte jedoch sehr ruhig. Lediglich seine Augen verrieten innere Aufwühlung. Mrs. Brad, Helene und Jonah Lincoln standen wie die drei Parzen neben ihm.

»Kommen Sie nur herein, Mr. Queen«, bat Isham herzlich. »Sie kommen gerade noch rechtzeitig. Fox, wir haben Sie sowieso. Sie können also ruhig den Schnabel aufmachen.«

Ellery trat leise nach vorn. Fox rührte sich nicht. Selbst seine Lippen blieben unbewegt.

»Ich verstehe das alles nicht«, gab er schließlich schwach

zurück; es war jedoch nur zu deutlich, daß er sehr wohl verstand und sich auf das Unvermeidliche gefaßt machte.

Vaughn bleckte die Zähne. »Das Theater können Sie sich sparen. Sie haben Dienstag nacht Patsy Malone aufgesucht -in der Nacht, in der Brad ermordet wurde!«

»In der Nacht, in der Sie Stallings und Mrs. Baxter am Roxy abgesetzt haben«, half Isham nach. »Das war um acht, Fox.«

Fox war wie versteinert. Seine Lippen wurden weiß.

»Nun?« höhnte der Inspector. »Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen, Freundchen? Was könnte ein unschuldiger kleiner Chauffeur wohl in der Hauptzentrale eines New Yorker Obergangsters zu suchen haben, hm?«

Fox flatterte kurz mit den Augenlidern, sagte jedoch noch immer nichts.

»Sie kriegen wohl die Zähne nicht auseinander, wie?« Der Inspector ging zur Tür. »Mike, das Abdruckset!«

Auf der Stelle erschien ein Mann in Zivil. Er hatte Stempelkissen und Papier bei sich. Fox stieß einen würgenden Laut aus und stürzte zur Tür. Geistesgegenwärtig ließ der Beamte in Zivil Stempelkissen und Papier fallen und packte Fox bei den Armen; der Inspector bekam ihn an den Beinen zu fassen und brachte den wild strampelnden Mann zu Boden. Als er sah, daß alle Gegenwehr zwecklos war, ließ er sich von Vaughn wieder hochziehen, ohne weiteren Widerstand zu leisten.

Helene folgte dem Spektakel mit Entsetzen. Mrs. Brad schien ungerührt. Lincoln stand auf und drehte den anderen den Rücken zu.

»Nimm seine Abdrücke«, befahl Vaughn übellaunig. Der Zivilbeamte nahm Fox‘ rechte Hand, drückte seine Finger erst auf das Stempelkissen, dann mit geübten Bewegungen auf das Papier, um schließlich die Prozedur mit der linken Hand zu wiederholen. Fox wirkte sterbenskrank.

»Sofort überprüfen!« Der Zivilbeamte eilte aus dem Zimmer. »Nun, mein Lieber -nennen wir Sie vorläufig noch Fox, obwohl wir verdammt genau wissen, daß Sie anders heißen -, ich schlage vor, Sie werden jetzt endlich vernünftig und beantworten unsere Fragen. Was haben Sie bei Malone gewollt?«

Keine Antwort.

»Wie heißen Sie wirklich? Wo kommen Sie her?«

Keine Antwort. Der Inspector trat wieder zur Tür und winkte zwei Beamte zu sich, die draußen im Flur standen. »Bringen Sie ihn in seine Hütte, und lassen Sie ihn dort schmoren. Wir kümmern uns später um ihn.«

Fox hielt den Kopf gesenkt, während er zwischen den beiden Beamten hinausschlurfte. Er vermied es, Mrs. Brad oder Helene in die Augen zu sehen.

»Tja.« Der Inspector wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Es tut mir leid, Mrs. Brad, daß wir ein bißchen grob werden mußten. Aber, das kann ich Ihnen sagen, den Unschuldsengel mimt er nur, und das auch noch schlecht.«

Mrs. Brad schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das einfach nicht. Er ist immer ein so zuvorkommender junger Mann gewesen. So höflich. So zuverlässig. Sie glauben doch nicht etwa, daß er derjenige war, der ...«

»Wenn er‘s war, dann gnade ihm Gott!«

»Er war‘s nicht, da bin ich absolut sicher«, sagte Helene schroff; sie schien Mitleid mit ihm zu haben. »Fox ist kein Gangster. Er war zwar immer sehr verschlossen, das stimmt, aber er war nie betrunken oder unfreundlich und hat auch sonst nie etwas zu wünschen übriggelassen. Außerdem ist er gebildet; ich habe ihn oft dabei überrascht, wie er anspruchsvolle Literatur gelesen hat, Lyrik und solche Sachen.«

»Die Jungs sind manchmal ganz schön gewieft, Miss Brad«, entgegnete Isham. »So, wie es aussieht, hat er Ihnen von Anfang an etwas vorgespielt. Seine Referenzen haben wir geprüft, und die waren in Ordnung. Allerdings hat er für den Mann nur ein paar Monate gearbeitet. «

»Hat den Job vielleicht nur angenommen, um eine Empfehlung zu bekommen«, sagte Vaughn. »Die beherrschen die unterschiedlichsten Tricks.« Er wandte sich Ellery zu. »Fox geht auf das Konto Ihres Vaters, Mr. Queen. Kein anderer Kollege in New York hat so viele Spitzel und Informanten wie er.«

»War mir klar, daß Dad seine Finger drin hat«, murmelte Ellery. »War der Tip denn so zuverlässig?«

»Der Informant hat Fox in Malones Zentrale hineingehen sehen, das war alles. Reicht aber vollkommen.«

Ellery zuckte die Achseln. Helene schimpfte. »Das Schlimme an euch Polizisten ist, daß ihr immer nur das Schlechteste von den Menschen denkt!«

Lincoln setzte sich und steckte sich eine Zigarette an. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns da raushalten, Helene.«

»Vielleicht, Jonah, wäre es noch besser, wenn du dich um deinen eigenen Kram kümmern würdest.«

»Kinder«, begann Mrs. Brad schwach.

Ellery entfuhr ein Seufzer. »Gibt es etwas Neues, Mr. Isham? Ich habe einen Heißhunger auf Informationen.«

Der Inspector begann zu grinsen. »Da haben Sie was zu kauen!« Er zog einen Stapel vollgetippter Blätter hervor und reichte sie Ellery. »Wenn Sie damit was anfangen können, sind Sie genial. Moment ...« fügte er scharf hinzu und drehte sich zu Lincoln herum, der sich gerade erhoben hatte, um den Raum zu verlassen. »Wir brauchen Sie noch, Mr. Lincoln. Ich -äh -hätte da noch eine Frage an Sie.«

Der Inspector verstand es immer, den richtigen Zeitpunkt abzupassen; Ellery bewunderte seine Verhörmethoden. Lincoln blieb wie angewurzelt stehen; Röte stieg in sein Gesicht. Die beiden Frauen richteten sich in ihren Stühlen steif auf. Auf einmal war die Atmosphäre im Raum wie zum Zerreißen gespannt; ein Schwelbrand, der nur noch mühsam unter Kontrolle zu halten war, drohte in ein offenes Feuer auszubrechen.

»Was wollen Sie noch?« fragte Lincoln gequält.

»Warum«, entgegnete Vaughn in freundlichem Tonfall, »haben Sie uns gestern belogen, als Sie behaupteten, daß Sie, Miss Brad und ihre Mutter in der Mordnacht zusammen nach Hause gekommen seien?«

»Ich - ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

Isham wandte sich an Mrs. Brad: »Man gewinnt den Eindruck, Sie tun alles, um die Aufklärung des Mordes an Ihrem Mann zu behindern, anstatt uns dabei behilflich zu sein, Mrs. Brad! Die Männer von Inspector Vaughn haben den Taxifahrer vernommen, der in der fraglichen Nacht zwei von Ihnen vom Bahnhof nach Bradwood gefahren hat.«

»Nur zwei?« murmelte Ellery.

»Und der hat zu Protokoll gegeben, daß lediglich Mr. Lincoln und Miss Brad in seinem Wagen saßen, Mrs. Brad!«

Helene sprang auf. Mrs. Brad hatte es die Sprache verschlagen. »Sag nichts mehr, Mama. Das ist absolut infam! Wollen Sie vielleicht andeuten, daß etwa einer von uns in den Mordfall verstrickt wäre, Mr. Isham?«

Lincoln stammelte. »Sieh mal, Helene, vielleicht sollten wir besser -«

»Jonah!« Sie starrte ihn nieder. »Wenn du es wagst, den Mund aufzumachen, dann -dann rede ich nie wieder ein Wort mit dir!«

Er biß sich auf die Unterlippe, wich ihrem Blick aus und verließ den Raum. Mrs. Brad stieß einen kleinen spitzen Schrei aus. Helene baute sich vor ihrer Mutter auf, als wollte sie sie gegen weitere Angriffe abschirmen.

»Ja«, jammerte Isham, »da haben Sie‘s, Mr. Queen. Mit so was muß sich unsereiner andauernd herumschlagen! Wie Sie wollen, Miss Brad. Dennoch muß ich Ihnen mitteilen, daß von nun ab jeder, ohne Ausnahme jeder, unter Verdacht steht, Thomas Brad ermordet zu haben!«


12. Der Professor erzählt


Mit dem Eifer eines Hundes, der einen Knochen im Maul trägt, kehrte Mr. Ellery Queen, der mittlerweile leicht irritierte Sonderbeauftragte, zum Haus seines Gastgebers auf der anderen Seite der Straße zurück; die Polizeiberichte hatte er bei sich. Die Mittagssonne brannte erbarmungslos auf das Pflaster. Es war zu heiß für die Kleidung, die er trug; aber das kühle Innere des Hauses versprach baldige Erlösung. Er fand den Professor in einer Umgebung vor, die aus Tausendundeinernacht zu kommen schien, eine Art Atrium mit Marmormosaiken und türkischen Arabesken, die an den Innenhof einer Zenana erinnerte; zu Ellerys besonderer Freude gehörte zur Ausstattung ein bis zum Rand mit kostbarem Naß gefüllter Swimmingpool, den ebenfalls ein Mosaikboden zierte. Der Professor, in engen kurzen Hosen, ließ seine langen Beine ins Wasser baumeln, während er friedlich an seiner Pfeife zog.

»Puh!« stöhnte Ellery. »Ich bin mehr als dankbar für Ihren kleinen Harem, Professor.«

»Wie immer«, erwiderte der Professor streng, »ist ihre Wortwahl, gelinde gesagt, sehr nachlässig. Sagen Sie bloß, Sie wissen nicht, daß man die Wohnbereiche für Männer Selamik nennt. Steigen Sie schon aus Ihren Kleidern, Queen, und setzen Sie sich zu mir an den Pool. Was haben Sie denn da?«

»Eine Nachricht von Garcia. Rühren Sie sich nicht von der

Stelle, wir gehen die Blätter zusammen durch. Bin sofort wieder da!«

Kurze Zeit später kam Ellery ebenfalls in der Badehose zurück. Sein glatter Oberkörper glänzte vor Schweiß. Er sprang mit einem flachen Kopfsprung in den Pool und erzeugte damit eine Welle, die über den Professor hinwegschwappte und dabei seine Pfeife löschte; doch Ellery plantschte unbekümmert weiter.

»Das haben Sie -wie alles -großartig hingekriegt!« maulte Yardley. »Sie sind schon immer ein schlechter Schwimmer gewesen. Kommen Sie raus, bevor Sie mich ersäufen!«

Ellery grinste, kletterte aus dem Pool, streckte sich zu voller Länge auf dem Marmorboden aus und griff nach dem Stapel mit Berichten, den Vaughn ihm in die Hand gedrückt hatte.

»Was haben wir denn hier?« Er überflog das oberste Blatt. »Hmm. Das gibt wohl nichts her. Aber alle Achtung -der Inspector ist nicht gerade faul gewesen! Informationsaustausch mit den Kollegen von Hancock County.«

»Aha«, sagte der Professor, während er versuchte, seine Pfeife wieder anzuzünden. »So, so. Und was ist da unten seither passiert?«

Ellery stöhnte. »Zunächst einmal haben wir da den Bericht von der Obduktion der Leiche Andrew Vans; absolut uninteressant. Wenn man so viele Obduktionsberichte gelesen hat wie ich, sieht man das auf den ersten Blick ... Hier eine ausführliche Zusammenfassung der Ermittlungen im Fall Van. Nichts dabei, was ich nicht bereits gewußt hätte, oder was Sie nicht von Ihrer Zeitungslektüre her wüßten ... Ha! Was ist das? ›Auf die Anfrage‹ - lassen Sie sich das mal im Munde zergehen, klingt ganz nach unserem Freund Crumit -, ›Auf die Anfrage von Bezirksstaatsanwalt Isham hin, eine mögliche Verbindung zwischen den Mordopfern Andrew Van, dem Schulmeister von Arroyo, und Thomas Brad, einem auf Long Island ansässigen

Millionär, aufzudecken, müssen wir bedauernd feststellen, daß eine solche nicht existiert; zumindest nicht, soweit sich das mittels einer sorgfältigen Überprüfung der Korrespondenz des Verstorbenen hat aufklären lassen etc. etc.‹ Sauber, was?«

»Ein Lehrbeispiel für Rhetorik!« grinste der Professor.

»Aber das wär‘s auch schon. Alors, verlassen wir Arroyo und kehren wir zur Ketcham‘s Bay zurück.« Ellery warf einen Blick auf das vierte Blatt. »Dr. Rumsens Obduktionsbericht zur Leiche von Thomas Brad. Auch hier nichts dabei, was wir nicht schon wüßten. Keinerlei Hinweise auf Gewalteinwirkung, keinerlei Spuren von Gift in den inneren Organen, und so weiter und so fort ad nauseam. Die üblichen Nebensächlichkeiten.«

»Sie haben doch Dr. Rumsen am Tag nach dem Mord gefragt, ob Brad nicht erwürgt worden sein könnte. Äußert er sich in seinem Bericht dazu?«

»Ja. Lungen zeigen keine Anzeichen eines Erstickungstodes. Ergo ist er nicht erwürgt worden.«

»Warum haben Sie eigentlich ursprünglich danach gefragt?«

Ellery machte eine wegwerfende Geste. »Nichts Weltbewegendes. Da die Leiche keine Spuren von Gewalteinwirkung zeigte, schien es mir wichtig zu wissen, wie der Mann genau gestorben ist. Schließlich muß der Kopf betroffen gewesen sein, und da liegt Erwürgen doch nahe. Rumsen sagt in seinem Bericht jedoch, daß nur ein Schlag mit einem stumpfen Gegenstand direkt auf den Schädel oder ein Kopfschuß in Frage kommen. Ersteres halte ich alles in allem für wahrscheinlicher. «

Der Professor warf mit dem Fuß eine Welle auf. »Da werden Sie wohl richtig liegen. Noch etwas?«

»Der Versuch, die Route, auf der der Mörder sein Ziel erreicht hat, zu ermitteln. Sinnlos, absolut sinnlos.« Ellery schüttelte den Kopf. »Unmöglich, eine Liste aller Personen zu erstellen, die im fraglichen Zeitraum in der Umgebung von

Ketcham‘s Cove Züge bestiegen oder verlassen haben. Weder Streifenbeamte auf den Hauptstraßen noch Anwohner derselben haben Beobachtungen gemacht. Der Versuch, Personen ausfindig zu machen, die sich in der Mordnacht in der Nähe der Bucht aufgehalten haben, ist ebenso gescheitert ... Auch Jachtbesitzer, die Dienstag nachmittag auf dem Sund gesegelt sind, haben keine rätselhaften oder verdächtigen Vorgänge auf dem Wasser oder ein unbekanntes Boot, das den Mörder auf dem Wasserweg nach Bradwood gebracht haben könnte, beobachtet.«

»Wie Sie sagen - ein sinnloses Unterfangen.« Der Professor stöhnte. »Er kann per Zug, per Wagen oder mit einem Boot gekommen sein, und wir werden es niemals genau wissen. Vielleicht war‘s ja auch ein Wasserflugzeug, um das Ganze ad absurdum zu führen.«

»Warum eigentlich nicht?« schmunzelte Ellery. »Machen Sie nicht den Fehler, Unwahrscheinliches direkt für absurd zu erklären. Ich habe schon einiges Ausgefallenes erlebt. Versuchen wir es einmal hiermit.« Er überflog das nächste Blatt. »Wieder Nichtigkeiten. Bei dem Seil, mit dem Brad am Totemsbaum festgezurrt wurde -«

»Ich vermute, es ist ebenso sinnlos zu erwarten, daß Sie Totempfahl sagen«, brummte Yardley.

»Totempfahl«, fuhr Ellery gehorsam fort, »handelt es sich um eine gewöhnliche, billige Wäscheleine, die man in jedem Gemischt-oder Haushaltswarenladen bekommt. Kein Händler im Umkreis von dreißig Kilometern hat Aussagen gemacht, die auf eine heiße Spur hoffen ließen. Immerhin will Isham die Befragung von Vaughns Männern in einem größeren Radius fortsetzen lassen.«

»Gründlich sind sie ja, diese Leute«, murmelte der Professor.

»So unangenehm es mir ist, dies zuzugeben«, erwiderte Ellery mit einem breiten Grinsen. »Doch gerade solcher

Routinearbeit verdanken die allermeisten Fälle ihre Aufklärung ... Der Knoten, Vaughns Lieblingsidee. Resultat gleich Null. Unfachmännisch gemacht, doch für seine Zwecke ausreichend, wie Vaughns Fachmann berichtet. Also genau die Art Knoten, die auch Sie oder ich hinbekommen würden.«

»Sie vielleicht, aber nicht ich«, sagte Yardley. »Sie wissen doch, ich bin eine Seeratte. Taue, Steks und was nicht alles.«

»H20 haben Sie ja jetzt wieder genug um sich - im nautischen Sinne, meine ich ... Ah, Paul Romaine. Interessanter Kerl. Der selbstsichere Verführer mit der praktischen Ader.«

»Ihre Neigung, die Sprache zu vergewaltigen«, sagte der Professor, »ist wirklich beklagenswert.«

»Seine Herkunft, sagt Vaughns kurzer Bericht, ließ sich leider nicht ermitteln. Mit Ausnahme der Tatsache, daß er sich unserer ägyptischen Inkarnation im Februar in Pittsburgh angeschlossen hat, wie er selbst sagt, hat sich seine Vergangenheit nicht erhellen lassen. Der Mann bleibt ein Rätsel.«

»Und die Lynns?«

Ellery legte für einen Augenblick das Blatt hin. »Ja, die Lynns«, wiederholte er leise. »Was wissen Sie über die Leute?«

Der Professor strich sich durch den Bart. »Mißtrauisch, mein Junge? Aber ich hätte mir ja denken können, daß Ihnen das auch auffällt. Sie haben einfach etwas Unechtes, Aufgesetztes an sich, obwohl ihr Betragen immer tadellos war, soweit mir bekannt ist.«

Ellery nahm das Blatt wieder zur Hand. »Na, ich vermute doch schwer, Scotland Yard findet das Betragen der Lynns nicht ganz so tadellos wie Sie ... Isham hat Scotland Yard telegrafiert und bekam die Antwort -so steht es im Bericht -, daß zu einem Ehepaar namens Percy und Elizabeth Lynn, auf die die vorliegende Beschreibung passen würde, keine Daten vorliegen. Ihre Pässe sind ebenfalls überprüft worden, scheinen aber -wie zu erwarten - in Ordnung zu sein. Na ja, vielleicht tun wir ihnen ja unrecht ... Scotland Yard will überprüfen, ob sie zivil-oder strafrechtlich aktenkundig sind, in der Hoffnung, auf Informationen über Aktivitäten auf englischem Boden zu stoßen. Die Lynns behaupten ja immerhin, Engländer zu sein.«

»Gott, was für ein Durcheinander!«

Ellery stand der Unmut ins Gesicht geschrieben. »Sie sprechen mir aus der Seele! Ich bin in meiner zwar kurzen, aber nicht unbedingt erfolglosen Laufbahn auf manch einen komplizierten Fall gestoßen; aber so verdammt verfahren war noch keiner ... Wie ich annehme, haben Sie die neuesten Entwicklungen, soweit sie Fox, den Chauffeur, und Brad betreffen, noch gar nicht mitbekommen.« Der Professor zog die Augenbrauen hoch, und Ellery erzählte ihm, was sich eine Stunde zuvor im Arbeitszimmer von Bradwood zugetragen hatte. »Klar, oder?«

»So klar wie die Fluten des Ganges«, brummte Yardley. »Ich muß schon sagen, ich frage mich langsam ...«

»Was?«

Der Professor zuckte die Schultern. »Ich mißtraue voreiligen Schlüssen grundsätzlich. Was verraten uns die gesammelten Weisheiten in Ihren Händen sonst noch?«

»Vaughn hat schnelle Arbeit geleistet. Der Portier des Park-Theater hat zu Protokoll gegeben, daß eine Frau, auf die Mrs. Brads Beschreibung zutrifft, letzten Dienstag abend das Theater während des ersten Aktes verlassen hat -um einundzwanzig Uhr etwa.«

»Allein?«

»Ja ... Aber hier haben wir noch etwas anderes. Vaughns Männer haben das Original des Postanweisungsformulars über 100 Dollar aufgetrieben, dessen Kopie in Ketchams Besitz ist. Es ist in einem Postamt in Peoria, Illinois, ausgestellt worden ­auf den Namen Velja Krosac.«

»Was Sie nicht sagen!« Der Professor machte große Augen. »Dann haben sie also eine Probe seiner Handschrift!«

Ellery stöhnte. »So viel zum Thema voreilige Schlüsse, denen Sie angeblich so mißtrauen! Es war Druckschrift. Als Adresse war schlicht Peoria angegeben -offenbar hatte Strykers reisender Mannaspender dort einen Zwischenstopp eingelegt, um bei den Einheimischen ein bißchen die Werbetrommel zu rühren ... Noch etwas. Vaughns Experten sind dabei, die Bücher von Brad & Megara zu durchforsten. Klar, liegt auf der Hand. Scheint aber soweit alles korrekt zu sein. Die Firma ist renommiert und sehr wohlhabend, die Finanzen völlig in Ordnung ... Ach, übrigens -unser Globetrotter-Freund Stephen Megara, der sich‘s zur Zeit irgendwo in der Südsee gutgehen läßt, ist seit fünf Jahren nicht mehr aktiv am Geschäft beteiligt. Brad guckt Jonah Lincoln zwar über die Schulter, aber im Grunde schmeißt der junge Mann den Laden allein. Würde mich ja sehr interessieren, was den so nervös macht.«

»Schwierigkeiten mit seiner zukünftigen Schwiegermutter, nehme ich einmal an«, bemerkte der Professor trocken.

Ellery warf den Stapel Papier gelangweilt auf den Marmorboden des Selamik, wie Yardley die Anlage zu nennen pflegte, bückte sich jedoch auf der Stelle, um ihn wieder aufzuheben. Ein bislang übersehenes Blatt war hinten rausgefallen. »Was ist denn das?« Er überflog es mit gierigem Blick. »Bingo! Hier haben wir was!«

Yardleys Pfeife blieb in der Luft schweben. »Was?«

Ellery war aufgekratzt. »Informationen über Krosac! Dem Datum nach ein jüngerer Bericht. Offenbar hatte Crumit ihn bei seinem ersten Schreiben zurückgehalten, dann aber beschlossen, sich ganz aus der Affäre zu ziehen und den Fall dem armen Isham aufzuhalsen ... Ermittlungsergebnisse über einen Zeitraum von sechs Monaten ... Informationen in Hülle und Fülle ... Velja Krosac stammt aus Montenegro!«

»Montenegro? Sie meinen gebürtig? Montenegro existiert als Staat nicht mehr, wie Sie sicher wissen«, erklärte Yardley. »Es gehört heute zu Jugoslawien. Im Jahre 1922 haben sich die Serben, die Kroaten und die Slowenen offiziell zusammengeschlossen.«

»Hmm. Crumits Nachforschungen haben ergeben, daß Krosac zu den ersten Emigranten aus Montenegro nach dem Friedensschluß von 1918 gehörte. In seinem Paß, den er bei der Einreise vorlegen mußte, war unter anderem vermerkt, daß er in Montenegro geboren wurde. Beim Grab des Pharao, der Mann nimmt endlich Gestalt an!«

»Hat Crumit seinen Werdegang seit der Einwanderung in die Vereinigten Staaten rekonstruieren können?«

»Ja, wenn auch eher abrißhaft. Er scheint von Stadt zu Stadt gereist zu sein, vermutlich um sich mit den Leuten und der Landessprache vertraut zu machen. Ein paar Jahre lang hat er dann für ein schäbiges kleines Unternehmen den Hausierer gemacht, legal allerdings, wie es scheint. Er verkaufte kitschige Handarbeitsartikel, gewebte Deckchen und andere Nippsachen.«

»Das machen sie alle«, bemerkte der Professor.

Ellery führte sich den nächsten Absatz zu Gemüte. »Vor vier Jahren ist er dann in Chattanooga, Tennessee, auf unseren Freund Haracht -oder Stryker -gestoßen, und die beiden haben sich zusammengetan. Stryker verkaufte zu der Zeit gerade seine ›Sonnenmedizin‹ -abgefülltes Dorschleberöl mit selbstgemaltem Etikett. Krosac erledigte von da an das Geschäftliche, ließ sich der Publikumswirksamkeit halber auch gleich zu seinem ›Jünger‹ machen und half dem armen Irren schließlich dabei, als Straßenprediger den Sonnen-und Gesundheitskult anzukurbeln.«

»Irgend etwas über Krosacs Bewegungen nach dem Mord von Arroyo?«

Ellerys Gesicht wurde ernst. »Nein. Er ist einfach verschwunden. Und zwar spurlos.«

»Und Kling, Vans Faktotum?«

»Auch von ihm keine Spur. Beide wie vom Erdboden verschluckt. Diese Geschichte mit Kling gefällt mir nicht. Wo zum Teufel steckt er? Wenn Krosac ihn ins Jenseits befördert hat, was ist dann aus der Leiche geworden? Wo hat Krosac sie verscharrt? Eines sage ich Ihnen, Professor, wir werden diesen Fall nicht lösen, bevor wir nicht wissen, was aus Kling geworden ist ... Crumit hat einige Anstrengungen unternommen, eine etwaige Verbindung zwischen Kling und Krosac aufzudecken, aufgrund der hypothetischen Annahme natürlich, sie könnten Komplizen gewesen sein. Aber er hat keine gefunden.«

»Was nicht notwendig bedeutet, daß eine solche nicht existiert.«

»Natürlich nicht. Und wir haben auch keine Möglichkeit festzustellen, ob Krosac noch mit Stryker in Kontakt steht oder nicht.«

»Stryker ... Man könnte meinen, den hätte der göttliche Zorn getroffen«, murmelte Yardley. »Der arme Kerl.«

Ellery grinste. »Sentimentalitäten beiseite, Professor, wir haben es mit Mord zu tun! Diesem Bericht hier zufolge haben die Leute aus West Virginia Haracht identifiziert -als einen Herrn Alva Stryker, wie Crumit schreibt, ein bedeutender Ägyptologe, der -wie Sie mir ja bereits erzählt hatten -vor vielen Jahren im Tal der Könige einen Sonnenstich erlitten hat und seither geisteskrank ist. Soweit sich feststellen läßt, hat er keine Angehörigen und gilt als vollkommen harmlos. Jetzt hören Sie sich das einmal an -Crumit schreibt: ›Der Bezirksstaatsanwalt von Hancock County ist der Auffassung, daß Alva Stryker, der sich Haracht respektive Ra-Haracht nennt, im Mordfall Van nicht zum Kreis der Verdächtigen gehört, jedoch seit Jahren von skrupellosen Opportunisten umgeben ist, die seine ungewöhnliche Erscheinung sowie seine Besessenheit von einer okkulten Sonnenreligion auf perfide Art ausbeuten. Wir sind des weiteren der Auffassung, daß eine Person dieses Typs mit bislang unbekanntem Motiv für den Tod von Andrew Van verantwortlich ist. Indizien und Zeugenaussagen weisen darauf hin, daß es sich bei dieser Person nur um Velja Krosac handeln kann.‹ Sauber!«

»Sieht nach einem Indizienprozeß gegen Krosac aus!« bemerkte der Professor.

Ellery schüttelte den Kopf. »Wie auch immer -wenn Crumit sagt, Krosac ist der Mörder von Andrew Van, hat er den Nagel auf den Kopf getroffen.«

»Was macht Sie da so sicher?«

»Die Fakten. Doch die Erkenntnis, daß nur Velja Krosac als Täter in Frage kommt, ist nicht das entscheidende Puzzleteilchen in unserem Spiel. Die Crux ist« -Ellery beugte sich vor -»Wer ist Krosac?«

»Wie meinen Sie das?« fragte der Professor.

»Nur ein einziger Zeuge kennt Krosac von Angesicht zu Angesicht«, antwortete Ellery ernst, »nämlich Stryker, auf dessen Aussage kein Verlaß ist. Wer also ist Krosac? Wer ist Krosac jetzt? Er könnte jeder von uns sein.«

»Unsinn!« brummte der Professor beklommen. »Ein Jugoslawe, vermutlich mit kroatischem Akzent, der dazu noch das linke Bein nachzieht ...«

»So unsinnig ist das gar nicht, Professor. Nationalitäten verschmelzen in diesem Land sehr schnell; und wir wissen mit Sicherheit, daß Krosac während seiner Unterhaltung mit Croker, dem Tankstellenbetreiber von Weirton, fließend und akzentfrei Englisch sprach. Ich wiederhole: Er könnte mitten unter uns sein! Sie haben den Mordfall Brad nicht gründlich genug analysiert.«

»Ach nein?« zischte Yardley. »Kann ja sein. Aber eines sage ich Ihnen, junger Mann! Sie ziehen voreilige Schlüsse!«

»Das habe ich schon oft getan.« Ellery stand auf und sprang zum zweiten Mal in den Pool. Das Wasser tropfte ihm von der Stirn ins Gesicht, als er wieder auftauchte. »Ich werde ja nicht so unfair sein, darauf hinzuweisen, daß es Krosac war, der dafür gesorgt hat, daß die Sonnenanbeter in der Nachbarschaft von Bradwood kampieren -und zwar noch vor dem Mord an Van ... Netter Zufall, was? -Also könnte er sehr wohl in unserer Nähe sein Jetzt haben Sie sich mal nicht so!« Er kletterte wieder aus dem Becken, legte sich auf den Boden und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Lassen Sie uns das Ganze noch einmal durchgehen. Beginnen wir mit Krosac, Jugoslawe, der einen, sagen wir, Mitteleuropäer mit angeblich rumänischer Herkunft sowie einen anderen Mitteleuropäer mit angeblich armenischer Herkunft umbringt. Drei Mitteleuropäer also, vermutlich alle aus demselben Land; denn wie die Dinge liegen, bringt mich keiner von der Überzeugung ab, daß Van und Brad ihre wahre Herkunft verschleiert haben.«

Der Professor brummte leise und brauchte zwei Streichhölzer, um seine Pfeife anzuzünden. Ellery, auf dem warmen Marmorboden ausgestreckt, zündete sich eine Zigarette an und schloß die Augen. »Was für Tatmotive kommen da in Frage? Mitteleuropa? Der Balkan -wie jeder weiß, traditionelle Brutstätte von Aberglauben und Gewalt! Fällt Ihnen dazu etwas ein?«

»Meine Kenntnisse, den Balkan betreffend, sind weniger als rudimentär«, antwortete der Professor gleichgültig. »Die einzige Assoziation, die das Wort ›Balkan‹ bei mir auslöst, ist die Vorstellung von jenem absonderlichen, skurril anmutenden Volksglauben, der seit Jahrhunderten diesen Teil der Welt beherrscht. Muß wohl die Folge minderer Intelligenz und des Lebens in verlassenen Berggegenden sein.«

»Ha! Da sagen Sie was«, schmunzelte Ellery, »Vampirismus! Erinnern Sie sich an Dracula, Bram Stokers unsterblichen Beitrag zu den Alpträumen rechtschaffener Bürgersleute -die Geschichte eines Vampirs in Menschengestalt, die in Mitteleuropa spielt? Mit Enthauptungen und allem?«

»Hirngespinste«, erwiderte Yardley mit unsicherem Blick.

»Ganz recht«, entgegnete Ellery prompt. »Allein schon deshalb, weil Van und Brad keine Pflöcke ins Herz getrieben wurden. Kein Vampirist, der etwas auf sich hält, würde auf dieses nette Detail verzichten. Wären die Opfer jedoch gepfählt worden, dann wäre ich beinahe überzeugt, daß wir es mit einem abergläubischen Psychopathen zu tun hätten, der Menschen tötet, weil er sie für Vampire hält.«

»Das meinen Sie aber jetzt nicht ernst!« protestierte Yardley.

Ellery zog schweigend an seiner Zigarette. »Wenn ich das bloß wüßte! Wissen Sie, Professor, wir Kinder der Aufklärung mögen den Gedanken an Gestalten aus dem Gruselkabinett ja als indiskutabel abtun; wenn aber nun unser Mr. Krosac an Vampire glaubt und hier und da mal jemandem den Kopf abschlägt, können wir doch nicht ernsthaft die Augen vor der Realität seiner Wahnvorstellungen schließen. Das ist eine Frage des Pragmatismus. Wenn er daran glaubt ...«

»Was macht eigentlich Ihr ›Ägyptisches Kreuz‹?« fragte der Professor ernst; indem er sich höher aufrichtete und herumrutschte, bis er eine bequemere Haltung gefunden hatte, als erwarte er eine längere Diskussion.

Ellery setzte sich auf und umklammerte mit den Händen seine braunen Knie. »Was soll schon damit sein? Sie haben einen Ihrer Trümpfe noch nicht ausgespielt, soviel haben Sie ja gestern schon angedeutet. Habe ich, um mich klassisch auszudrücken, einen Bock geschossen?«

Der Professor klopfte wirkungsvoll den Pfeifenkopf aus, legte die Pfeife auf den Beckenrand, wühlte in seinem schwarzen Bart und wurde auf einmal unglaublich professoral. »Mein Junge«, begann er feierlich, »Sie haben einen Narren aus sich gemacht.«

Ellery runzelte die Stirn. »Sie meinen, das Tau-Kreuz ist kein ägyptisches Kreuz?«

»Sie haben es erfaßt.«

Ellery wiegte sich sanft hin und her. »Die Stimme der Autorität ... hmm. Sie hätten nicht zufällig Lust auf eine kleine Wette, Professor?«

»Ich gehe grundsätzlich keine Wetten ein, dazu ist mein Portemonnaie nicht dick genug Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, daß die crux commissa auch als ›Ägyptisches Kreuz‹ bekannt sein soll?«

»Steht in der Encyclopaedia Britannica. Vor etwa einem Jahr habe ich im Zusammenhang mit einem Roman, an dem ich saß, über Kreuze im allgemeinen recherchiert. Ich meine, gelesen zu haben, das Tau-oder T-Kreuz sei ein im alten Ägypten übliches Symbol gewesen und werde daher auch gelegentlich als ›Ägyptisches Kreuz‹ bezeichnet, oder so ähnlich. Nun, wie auch immer; ich erinnere mich jedenfalls ganz klar, daß in dem Artikel über das fragliche Kreuz die Begriffe Tau und ägyptisch in Beziehung gesetzt wurden. Wir können das gerne nachschlagen.«

Der Professor lachte. »Ich glaub‘s Ihnen auch so. Ich weiß ja nicht, wer den Artikel verfaßt hat; aller Wahrscheinlichkeit nach ein hochgelehrter Mann. Dennoch ist die Encyclopaedia Britannica wie alles Menschenwerk nicht unfehlbar; außerdem ist sie nicht immer die letzte Autorität. Ich persönlich bin zwar auch kein Ägyptenexperte, verstehen Sie mich da also nicht falsch, aber ich habe mich dennoch einige Zeit mit dem pharaonischen Ägypten beschäftigt und kann Ihnen versichern, daß ich über eine Bezeichnung wie ›Ägyptisches Kreuz‹ nie in meinem Leben gestolpert bin. Es muß sich um einen Irrtum handeln. Und doch gibt es ja etwas Ägyptisches mit T-Form ...«

Ellery war verwirrt. »Ja, warum behaupten Sie dann, das Tau sei kein -«

»Weil es das nicht ist.« Yardley schmunzelte. »Ein bestimmter Sakralgegenstand der alten Ägypter besaß in etwa die Form eines griechischen T; in der Fachliteratur wird recht häufig auf ihn Bezug genommen; das macht ihn allerdings noch lange nicht zu einem Tau-Kreuz, das nämlich wiederum ein altes christliches Symbol ist. Es gibt viele Zufälle dieser Art. Beispielsweise wird das Tau-Kreuz auch als Antoniuskreuz bezeichnet -ganz einfach deshalb, weil es den Krücken ähnelt, mit denen der heilige Antonius üblicherweise dargestellt wird. Es ist also im gleichen Maße das Kreuz des heiligen Antonius, wie es das Ihre oder das meine ist.«

»Dann habe ich mich also komplett geirrt und das T ist gar kein ägyptisches Kreuz«, murmelte Ellery leise. »Verdammt! Daß das ausgerechnet mir passieren mußte!«

»Wir alle machen einmal Fehler«, erwiderte der Professor gönnerhaft. »Man muß allerdings fairerweise dazusagen, daß das Kreuz seit Jahrtausenden zu den gebräuchlichsten Symbolen der Menschheit gehört -und von Anbeginn in unzähligen Varianten verwendet worden ist. Ich könnte Ihnen zum Beispiel etliche ausschließlich indianische Beispiele geben, die lange vor der Invasion der Spanier datieren, aber das interessiert uns ja jetzt nicht. Entscheidend aber ist folgendes.« Der Professor kniff ein Auge zusammen. »Wenn es überhaupt ein kruziformes Symbol gibt, das man bei einiger Großzügigkeit als ›Ägyptisches Kreuz‹ bezeichnen könnte, dann ist es das Anch.«

»Das Anch?« Ellery dachte nach. »Vielleicht war es ja das, was ich die ganze Zeit im Kopf hatte. Ist das nicht das T-Kreuz mit dem Kreis obendrauf?«

Yardley schüttelte den Kopf. »Kein Kreis, mein Junge, sondern ein tropfen-oder birnenförmiges Gebilde; das Anch insgesamt ähnelt folglich einem Schlüssel. Man bezeichnet es als crux ansata. Es erscheint sehr häufig in ägyptischen Inschriften und steht für Göttlichkeit oder Königswürde und kurioserweise auch für die Macht, Leben zu erschaffen.«

»Leben zu erschaffen?« Ellerys Blick verriet, daß er etwas ausbrütete. »Guter Gott! Das ist es! Also doch ein ägyptisches Kreuz! Irgend etwas sagt mir, daß wir endgültig auf der richtigen Spur sind!«

»Reden Sie Klartext, junger Mann!«

»Ja, verstehen Sie denn nicht? -Mensch, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche!« rief Ellery. »Das Anch-Symbol des Lebens. Aufrecht -der Körper. Der T-Balken -die Arme. Das birnenförmige Dingsbums obendrauf -der Kopf. Und der Kopf ist abgehackt worden! Eins sage ich Ihnen, das hat etwas zu bedeuten! Krosac hat das Symbol des Lebens absichtlich in ein Symbol des Todes verkehrt!«

Der Professor starrte Ellery einen Moment lang an, um dann in minutenlanges Hohngelächter auszubrechen. »Genial, mein Junge, teuflisch genial! Aber meilenweit daneben!«

Ellerys Begeisterung legte sich augenblicklich. »Was stimmt denn jetzt schon wieder nicht?«

»Ihre fantasievolle Theorie zu Krosacs Enthauptungsmotiv wäre allenfalls dann haltbar, wenn das Anch oder die crux ansata die menschliche Gestalt darstellte. Nur ist das leider nicht der Fall, Queen. Der Ursprung des Symbols ist erheblich prosaischer.« Der Professor gab einen Seufzer von sich. »Erinnern Sie sich an die Sandalen, die Stryker trägt? Es handelt sich dabei um Nachahmungen der typischen ägyptischen Fußbekleidung ... Nun, nageln Sie mich bitte nicht darauf fest, ich bin schließlich weder Anthropologe noch Ägyptologe -doch gehen die Experten, denke ich, davon aus, daß das Anch die Riemen solcher Sandalen darstellt, wie

Stryker sie trägt. Die Tropfenform oben käme der Schlaufe um die Knöchel gleich, der Längsbalken dem Riemenstück, das über den Fuß hinweg zwischen der großen Zehe und den anderen verläuft und vorne schließlich mit der Sohle verbunden ist -und der Querbalken den kürzeren Riemen, die zu beiden Seiten des Fußes in die Sohle übergehen.«

Ellery wirkte zutiefst geknickt. »Ich verstehe allerdings immer noch nicht, wie es dazu gekommen sein soll, daß eine Sandale die Erschaffung des Lebens darstellt, nicht einmal in einem übertragenen Sinne.«

Der Professor zuckte die Schultern. »Wort-oder Begriffsursprünge sind dem modernen Verstand nicht immer ohne weiteres zugänglich. Auch aus wissenschaftlicher Sicht ist der Punkt ungeklärt. Da aber das Anch-Zeichen sehr häufig in Wörtern vorkommt, die vom Verbstamm mit der Bedeutung ›leben‹ abgeleitet sind, hat sich das Kreuz allmählich zu einem Symbol für ›leben‹ bzw. ›Leben‹ entwickelt. In einem solchen Maße sogar, daß alle Ägypter das Zeichen als Schmuck trugen, Amulette aus starren Materialien wie Holz, Keramik und dergleichen -obwohl es sich bei dem ursprünglichen Material, aus dem die Sandalenriemen gefertigt waren, um speziell bearbeiteten, biegsamen Papyrus handelte. Es steht jedoch außer Frage, daß das Kreuz selbst niemals die menschliche Gestalt symbolisierte.«

Ellery polierte die beschlagenen Gläser seines Pincenez und sah dabei nachdenklich auf das sonnendurchflutete Wasser. »Nun gut«, seufzte er theatralisch, »geben wir die Anch-Theorie auf ... Sagen Sie, Professor, gab es im alten Ägypten eigentlich Kreuzigungen?«

»Sie geben wohl nie auf, wie? ... Nein, nicht, daß ich wüßte.«

Ellery setzte die Gläser wieder auf seinen Nasenrücken zurück. »Dann müssen wir die ägyptologische Theorie ganz aufgeben Ich zumindest gebe sie auf. Ich habe mir einen

ziemlichen Schuß in den Ofen geleistet, Professor. In letzter Zeit häuft sich das unangenehm. Bin offenbar ein wenig aus der Übung.«

»Halbwissen, mein Junge«, bemerkte der Professor, »ist, wie Pope schon sagte, eine gefährliche Angelegenheit.«

»Es gilt aber auch«, gab Ellery zurück, »faciunt nae intelligendo, ut nihil intelligant ... Gerade indem sie Wissen anhäufen, laufen sie Gefahr, am Ende nichts zu verstehen. Das meine ich natürlich keineswegs persönlich -«

»Natürlich nicht«, erwiderte Yardley gravitätisch. »Genausowenig wie Terenz seinerzeit ... Wie auch immer, meiner Meinung nach haben Sie den Fakten Gewalt angetan, sobald Sie es sich in Ihren sturen Kopf gesetzt hatten, den Fall ägyptologisch anzugehen. Sie hatten immer einen Hang zur Phantasterei, auch im Seminar schon. Als wir einmal die Ausführungen Platons und Herodots zum Ursprung der Atlantissage diskutierten -«

»Wenn ich den großen Gelehrten einmal unterbrechen darf«, fiel ihm Ellery säuerlich ins Wort, »ich versuche mich gerade an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, und Sie haben nichts Besseres zu tun, als den Altphilologen herauszuhängen und klug daher zu schwätzen! -Entschuldigen Sie bitte -Wenn also Krosac, indem er seinen Opfern den Kopf abschlug und beide Tatorte mit Ts vollschmierte, ein Kreuzsymbol hinterlassen wollte, dann kann er dabei nicht das Anch-Kreuz, sondern lediglich das Tau-Kreuz im Sinn gehabt haben. Da jedoch das Tau-Kreuz im pharaonischen Ägypten so gut wie keine Bedeutung hatte, ist es unwahrscheinlich, daß Krosac in diese Richtung gedacht hat, obwohl er mit einem Verrückten herumzog, der einem neoägyptischen Kult frönt ... Bestätigung? Ja. Thomas Brad wurde an einen Totemsbaum ­pardon, Totempfahl festgebunden - ein weiteres religiöses Symbol; doch liegen Welten zwischen Indianern und

Altägypten. Weitere Bestätigung: Hätte Krosac das Anch gemeint, hätte er seine Opfer sicher nicht geköpft ... Wir müssen also die ägyptologische Theorie in Zweifel ziehen; auch für die Totem-Version spricht nichts außer der Tatsache, daß Brads Leiche an einem solchen Pfahl gekreuzigt worden ist ­der vermutlich allein wegen seiner T-Form dazu herhalten mußte, und nicht obskurer religiöser Beweggründe wegen. Wir können ja nicht einmal die Kreuz-Theorie im allgemeinen Sinne erhärten ... Das Tau-Kreuz im Christentum ... Da mir nicht bekannt ist, daß Märtyrer jemals enthauptet worden wären ­wieder Fehlanzeige ... Ergo begraben wir am besten alle religiösen Theorien ...«

»Ihr Glaubensbekenntnis«, schmunzelte der Professor, »ähnelt stark dem von Rabelais: Er glaubte an das ›große Vielleicht‹.«

»-und konzentrieren uns auf meine ursprüngliche Annahme«, fuhr Ellery mit einem reumütigen Lächeln fort.

»Und die wäre?«

»Ganz einfach, daß T wahrscheinlich T bedeutet, und nichts sonst. T im alphabetischen Sinne, T, T ...« Plötzlich hielt er inne; der Professor blickte ihn erwartungsvoll an. Ellery starrte in den Pool; seine Augen jedoch sahen nichts Unschuldiges als blaues Wasser und den Sonnenschein.

»Was ist los?« wollte Yardley wissen.

»Wäre das denn möglich?« murmelte Ellery. »Nein ... das wäre zu glatt. Und nicht zu belegen. Obwohl ich ja schon einmal an diese Möglichkeit ...« Ellery verstummte; er hatte nicht einmal Yardleys Frage gehört. Der Professor stöhnte und griff nach seiner Pfeife. Beide schwiegen sie längere Zeit.

So saßen die beiden Männer nun da -zwei halbnackte Gestalten im idyllischen Innenhof der Villa, als plötzlich eine alte Negerin hereintrippelte. Ihr glänzendes schwarzes Gesicht verriet Empörung.

»Mr. Yaadley«, sagte sie mit sanfter, weinerlicher Stimme, »da haut uns gleich einer de Türe ein, weiler umbedink rein will.«

»Häh?« Der Professor erwachte jäh aus seinen Gedanken. »Wer ist es denn?«

»Na, der Herr vonner Polizei. Is‘ total aus‘m Häuschen, sach ich Ihn‘!«

»In Ordnung, Nanny. Laß ihn herein.«

Einen Augenblick später platzte Vaughn herein und wedelte mit einem kleinen Blatt Papier herum. »Queen!« brüllte er hochrot vor Aufregung. »Großartige Neuigkeiten!«

Ellery begann sich zu regen, doch sein Blick verriet völlige Geistesabwesenheit. »Häh? Oh, Tag Inspector. Was gibt‘s?«

»Da! Lesen Sie selbst!« Der lnspector schleuderte das Blatt auf den Marmorboden und ließ sich nun -brennend vor Ungeduld -am Beckenrand nieder; er schnaufte vor Erwartung wie ein Eindringling in einem seraglio.

Ellery und der Professor tauschten Blicke, bevor sie sich der Lektüre widmeten. Es handelte sich um einen Funkspruch von der Insel Jamaika.


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Unter der Mitteilung prangte die Unterschrift: Stephen Megara.


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