VIERTER TEIL Die Kreuzigung eines Toten

»Der Erfolg vieler Ermittlungen steht und fällt mit der Gabe des Detektivs, winzige Unstimmigkeiten zu registrieren. Einer der schwierigsten Fälle der Prager Polizei verdankte seine Lösung nach sechs Wochen völliger Ratlosigkeit dem Gedächtnis eines jungen Sergeanten, der sich des scheinbar belanglosen Details entsann, daß man vier Reiskörner im Hosenaufschlag des Opfers gefunden hatte.«

VITTORIO MALENGHI

24. Noch mehr Ts


Ein Nebel der Sprachlosigkeit hüllte alle diejenigen ein, die

an diesem Morgen vom Festland zur Helene übersetzten. Es war das Schweigen von Männern, die man nach langen, ereignislosen Tagen mit dieser unerhörten Bluttat jäh aus ihrer Lethargie gerissen hatte. Ellery, dessen Teint so blaß war wie sein Leinenanzug, stand nervös an der Reling der großen Polizeibarkasse und starrte auf die Jacht, die vor ihnen ankerte. Selbst bei hohem Seegang wäre ihm nicht so übel geworden wie bei diesem Anblick; sein Magen hatte sich zusammengezogen, er mußte würgen und schmeckte gallige Säure auf seiner trockenen Zunge.

Der Professor stand neben ihm und murmelte unaufhörlich: »Unfaßbar! Entsetzlich!« Selbst die Polizisten, die sie begleiteten, waren gedrückter Stimmung. Sie betrachteten die schmucken Umrisse der Helene, als sähen sie sie zum ersten Mal.

An Deck hasteten Gestalten hin und her. Das Zentrum ihrer Aktivitäten schien der mittschiffs gelegene Aufbau zu sein; dort stand eine ganze Gruppe von Männern, die ständig anwuchs. Polizeiboote legten längsseits an, und die Beamten kletterten von Bord.

Vor dem friedvollen Morgenhimmel zeichnete sich das gespenstische, fleischgewordene T-Symbol ab. Der Schlafanzug des Toten war blutdurchtränkt. Die starre Leiche hing festgebunden am ersten der beiden Antennenmasten und erinnerte in nichts mehr an etwas Menschliches, am allerwenigsten an den vitalen, energischen Mann, mit dem sie vor gerade einmal zwölf Stunden noch gesprochen hatten. Megaras Anblick war der reinste Hohn; seine Beine, die der Mörder am Mast festgezurrt hatte, waren unnatürlich verdreht; und dennoch vermittelte dieses grauenvolle Sinnbild von Fleisch und Blut die Illusion heroischer Größe.

»Christus auf Golgatha«, flüsterte Professor Yardley. »Kaum zu fassen, kaum zu fassen, o Gott.« Aus seinen Lippen war jegliche Farbe gewichen.

»Ich bin zwar kein religiöser Mensch«, sagte Ellery gedämpft. »Aber, um Gottes willen, lassen Sie solche Blasphemien. Nein, es ist kaum zu fassen! Sie haben die düsteren Kapitel der Geschichte doch auch im Kopf -Caligula, die Wandalen, Moloch, die Assassinen, die Inquisition ... Zerstückelte, aufgespießte, gehäutete Leichen. Seitenweise Blut ... Sie lesen, nehmen die Greuel mit dem Verstand zur Kenntnis, aber Sie machen sich keine Vorstellung von dem brutalen Schrecken, der von einer bestialisch zugerichteten Leiche ausgeht, wenn man direkt mit ihr konfrontiert wird. Den meisten von uns ist auch der Einfallsreichtum unheimlich, mit dem besessene Schlächter ans Werk gehen, wenn sie sich einmal in den Kopf gesetzt haben, das Lebenslicht eines Menschen auszulöschen ... Selbst im zwanzigsten Jahrhundert haben wir trotz unserer heimischen Bandenkriege, dem Weltkrieg und den Pogromen in Europa noch immer keine klare Vorstellung von den wahren Abgründen menschlicher Zerstörungswut ...«

»Worte, nichts als Worte«, entgegnete der Professor steif. »Sie kennen sie nicht, und ich kenne sie auch nicht. Aber ich habe von Kriegsheimkehrern so manche Schauergeschichte -«

»Abwegig«, murmelte Ellery. »Zu unpersönlich. Massenpsychosen sind nie so erschreckend und satanisch wie die Blutorgien eines pathologischen Individuums. Aber mir ist ­beim Leibhaftigen -schon schlecht genug. Das muß ein Ende haben!«

Keiner der beiden sagte noch etwas, bevor sie mit der Helene Bord an Bord lagen und schließlich die Schiffsleiter hinaufstiegen.

Von allen Männern, die sich an diesem Morgen an Deck der Helene aufhielten, zeigte sich Inspector Vaughn am wenigsten beeindruckt von der unwirklichen; alptraumhaften Szenerie. Für ihn waren auch solche Morde nichts als häßliche Routine, fantastische und blutige Routine, gewiß, aber so etwas gehörte halt zu seinen Pflichten. Wenn er die Augen verdrehte und leise Flüche ausstieß, dann tat er es nicht deshalb, weil Stephen Megara -in dessen lebendige Augen er noch am Vorabend gesehen hatte -wie eine schwarzrot angemalte, verstümmelte Wachsfigur am Antennenmast hing, sondern weil er außer sich war über das - wie er offenbar glaubte -schockierende Versagen seiner Untergebenen.

Er stürmte auf einen Leutnant der Wasserschutzpolizei zu. »Letzte Nacht hat sich niemand der Jacht genähert, sagen Sie?«

»Nein, Inspector. Das kann ich beschwören.«

»Jetzt mal ehrlich, Bürschchen! Jemandem muß es gelungen sein!«

»Wir haben die ganze Nacht Wache gehalten, Inspector. Aber natürlich hatten wir nur vier Boote. Theoretisch wäre es also möglich -«

»Theoretisch möglich?« spottete Vaughn. »Sie Schussel! Mensch, er war da!«

Dem Leutnant -einem sehr jungen Mann -stieg die Röte ins Gesicht. »Wir konnten nur die Nordseite bewachen, Inspector. Er könnte ja auch von Bradwood gekommen sein.«

»Wenn ich Ihre Meinung hören will, Leutnant, dann werde ich Sie vorher darum bitten!« Der Inspector erhob die Stimme. »Bill!«

Ein Mann in Zivil trat aus einer Gruppe schweigender Polizisten hervor.

»Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen?«

Bill kratzte sich an seinem unrasierten Kinn und versuchte, unterwürfig dreinzuschauen. »Wir müssen ein recht großes Areal bewachen, Chief. Wenn er wirklich vom Festland gekommen ist -nun ja, Sie wissen ja selbst, wie schwer es ist, jemanden nachts im Wald zu stellen -«

»Hört zu, Leute!« Der Inspector trat einen Schritt zurück und ballte eine Faust, um sich das rechte Gehör zu verschaffen. »Ich kann jetzt keine Ausflüchte oder Grundsatzdebatten gebrauchen, klar? Alles, was ich will, sind Fakten. Wir müssen herausfinden, wie er zur Jacht gelangt ist! Wenn er von New York über den Sund gekommen ist, gut. Wenn er von Long Island gekommen ist, auch gut -obwohl es eher unwahrscheinlich ist. Er wußte ja, daß wir dort massenhaft Leute hatten. Bill, ich will, daß -«

Eine der Barkassen schoß plötzlich auf die Helene zu. Sie hatte ein Ruderboot im Schlepptau, das Ellery durch die blutigen Schleier vor seinen Augen hindurch vage erkannte. Ein Polizist stand auf und brüllte: »Wir haben es!«

Wie auf Befehl stürmten alle zur Reling. »Was für‘n Boot ist das?« brüllte Vaughn zurück.

»Es hat herrenlos im Sund getrieben. Scheint, der Kennzeichnung nach, zum Nachbargrundstück von Bradwood zu gehören!«

Dem Inspector ging ein Licht auf. »Das Boot der Lynns! Klar doch, das muß es sein! Haben Sie irgend etwas darin gefunden, Officer?«

»Nur die Ruder.«

Vaughn redete auf den Mann, den er Bill nannte, in militärischem Stakkato ein: »Nimm zwei Jungs mit, und fahr rüber zum Grundstück der Lynns. Alles durchkämmen, besonderes Augenmerk auf den Anlegesteg und das Gelände drum herum. Auf Fußspuren achten. Sucht jeden Zentimeter ab! Schaut nach Spuren, die der Kerl auf seinem Weg zur Bucht hinterlassen hat!«

Ellery stöhnte schwach. Eine Welle der Geschäftigkeit erfaßte die Männer um ihn herum. Befehle wurden gebrüllt, und die Polizisten kletterten über Bord. Professor Yardley lehnte an der Funkkabine, über der die Antennenmasten mit Megaras

Überresten aufragten. Staatsanwalt Isham hing mit grünlich angelaufenem Gesicht über der Reling. Dr. Temple rauschte in einem kleinen Motorboot auf die Jacht zu; und auf dem Kai, der zu Bradwood gehörte, hatten sich einige Männer und -den weißen Röcken nach zu schließen - auch Frauen versammelt.

Bald herrschte wieder Stille. Der Inspector gesellte sich zu Ellery und Yardley, lehnte sich mit einem Ellenbogen gegen die Kabinentür, steckte sich eine Zigarre in den Mund und schaute nachdenklich zu der hoch über ihnen schwebenden, brettsteifen Leiche auf.

»Nun, meine Herren«, sagte er. »Was sagen Sie dazu?«

»Grauenerregend«, stammelte der Professor. »Der schiere Wahnsinn. Schon wieder diese Ts.«

Ellery war überrascht. Natürlich. Vor lauter Übelkeit hatte er die Bedeutung des Antennenmastes als Instrument der Kreuzigung glatt übersehen. Der himmelwärts aufragende Stahlmast bildete mit seinem oben aufliegenden Querbalken, von dem aus die Drähte zum Gegenstück auf der gegenüberliegenden Seite des Kabinendachs verliefen, das unvermeidliche große T ... Erst jetzt sah er die beiden Männer auf dem Dach, direkt hinter dem Gekreuzigten. Einen der beiden erkannte er als Doc Rumsen, den Gerichtsmediziner; den anderen -einen dunkelhaarigen Alten, der nach Seemann aussah -kannte er nicht.

»Sie holen ihn gleich runter«, bemerkte Vaughn. »Der Mann da drüben ist ein alter Seemann und versteht ’ne Menge von Knoten. Ich wollte, daß er ’nen Blick auf die festgebundenen Gelenke wirft, bevor sie ihn abnehmen ... Na, Rollins? Wie sieht‘s aus?«

Der Knotenexperte schüttelte den Kopf und stand auf. »Also das kann ich Ihn‘ sagen; so‘n Murks stammt von kei‘m Seemann nich‘, Inspector! So was macht nur‘n Anfänger. Und noch was: Das sin‘ dieselben Knoten wie in der Wäscheleine, die Se mir vor drei Wochen gegeben ham!«

»Sehr gut!« sagte Vaughn heiter. »Sie können ihn abnehmen, Doc.« Er wandte sich um. »Er hat wieder seine Wäscheleine benutzt -wollte wahrscheinlich keine Zeit verschwenden und nach ’nem anständigen Seil suchen; auf modernen Schiffen liegt so was nicht einfach rum. Auf jeden Fall sind die Knoten die gleichen, mit denen man auch Brad am Totempfahl festgemacht hat. Derselbe Knoten, derselbe Mann.«

»Das eine ergibt sich nicht notwendig aus dem anderen«, bemerkte Ellery. »Aber sonst haben Sie sicher recht. Was ist eigentlich genau passiert, Inspector? Soweit ich mitbekommen habe, soll auch Captain Swift betroffen sein?«

»Allerdings. Die alte Wasserratte ist noch immer nicht zu sich gekommen. Vielleicht kann er sich ja an etwas erinnern ... Kommen Sie zu uns rauf, Doc!« rief Vaughn Dr. Temple zu, der noch immer -Bord an Bord mit der Jacht -zögerlich in seinem Motorboot stand. »Wir werden Sie brauchen!« Dr. Temple nickte schließlich und erklomm die Schiffsleiter.

»Gott!« entfuhr es ihm, als sein Blick auf den Toten fiel ­halb war er abgestoßen, halb gebannt -und gesellte sich zu den anderen neben der Funkkabine. Vaughn wies auf eine ihrer Wände, von wo eine Leiter zum Kabinendach hinaufführte. Dr. Temple stieg hinauf.

Ellery überkam ein irrationales Kichern; der Schock hatte sein Nervenkostüm derart angegriffen, daß er die unregelmäßig verkleckerte Blutspur an Deck vollkommen übersehen hatte. Geronnene Klumpen und Spritzer zogen sich von Megaras Kabine nach achtern zur Leiter hin, die zum Dach der Funkerkabine hinaufführte ... Auf dem Dach angelangt, wurde Dr. Temple von Dr. Rumsen und dem alten Seemann in Empfang genommen; die drei übernahmen routiniert die undankbare Aufgabe, die Leiche aus ihren Fesseln zu lösen.

»Passiert ist folgendes«, nahm Vaughn den Gesprächsfaden wieder auf. »Einer meiner Männer hat heute morgen die Leiche vom Anlegesteg in Bradwood aus erspäht. Wir sind, so schnell wir konnten, übe-gesetzt und haben Captain Swift zusammengebunden wie‘n Suppenhuhn in seiner Kabine vorgefunden; sein Hinterkopf war voll von getrocknetem Blut. Wir haben die Wunde dann, so gut wir konnten, versorgt und ihn so hingelegt, daß er sich in Ruhe von dem bösen Schlag erholen kann. Schauen Sie doch ruhig einmal bei ihm vorbei, Doc!« brüllte er zu Dr. Temple hoch. »Sobald Sie hier durch sind, meine ich!« Temple nickte kurz, und der Inspector fuhr mit seinem Bericht fort. »Dr. Rumsen hat vorhin, als wir ankamen, schon Erste Hilfe geleistet. Soweit ich die Sache überblicke, sieht alles verdammt eindeutig aus. Gestern abend war außer Megara und Captain Swift niemand an Bord. Krosac muß es irgendwie gelungen sein, auf das Grundstück der Lynns zu gelangen, das Boot loszumachen und zur Jacht hinauszurudern. Letzte Nacht war es ausgesprochen dunkel; nur die Ankerlichter waren an. Er ist also heimlich an Bord gegangen, hat dem alten Captain eins übergebraten und ihn gefesselt. Dann ist er in Megaras Zimmer geschlichen und hat ihn einen Kopf kürzer gemacht. Megaras Kabine ist genauso blutbesudelt wie Brads Gartenhaus.«

»Irgendwo befindet sich auch ein T aus Blut, nehme ich an?« fragte Ellery.

»An der Kabinentür.« Vaughn kratzte sich an seinem Eintagebart. »Wenn ich genau drüber nachdenke, kommt es mir absolut unglaublich vor. Ich habe weiß Gott genug davon gesehen; aber etwas so Dreistes leisten sich nicht einmal die Camorra-Killer, die ihre Opfer ja immerhin auch recht appetitlich zu tranchieren und anzurichten pflegen. Aber gehen Sie doch hinein, und sehen Sie sich die Schweinerei selbst an! Oder vielleicht besser nicht. Es sieht wie im Schlachthaus aus. Er hat Megara da drinnen den Kopf abgeschlagen; und es ist genug Blut geflossen, um die ganze Jacht rot zu streichen.« Nachdenklich fügte er hinzu: »Mann, das war keine Kleinigkeit, Megaras Leiche von seiner Kabine die Leiter hoch auf das Dach des Funkerkabäuschens zu stemmen. Aber Brad an den Totempfahl zu hieven war auch nicht gerade ein Kinderspiel. Dieser Krosac muß ein ziemlicher Brocken sein!«

»Konnte er es eigentlich vermeiden, sich mit dem Blut seines Opfers zu besudeln, Inspector?« fragte Professor Yardley. »Ich meine, könnte nicht die Spur zu einem Mann in blutbefleckten Kleidern führen?«

»Nein«, sagte Ellery, bevor Vaughn antworten konnte. »Dieser Mord ist genauso wie der an Kling und der an Brad lange im voraus geplant worden. Krosac wußte, daß Massen von Blut fließen würden; also hatte er jedesmal frische Sachen dabei, um sich nach vollendeter Tat umzuziehen ... Elementare Regeln der Logik, Professor. Ich vermute eher, daß wir nach einem hinkenden Mann suchen müssen, Inspector, der ein Bündel oder eine kleine Reisetasche bei sich trug. Es ist wohl kaum anzunehmen, daß er seine Ersatzkleider unter den anderen getragen hat, die mit Sicherheit Blut abbekommen würden.«

»Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht«, gestand Vaughn. »Absolut überzeugend. Aber ich kalkuliere besser beides ein; sicher ist sicher!« Er lehnte sich zur Seite und brüllte einem Mann in einem Polizeiboot mehrere Befehle zu; das Boot rauschte umgehend davon.

Mittlerweile hatte man den Toten abgenommen; Dr. Rumsen kniete unter dem nunmehr nackten Antennenmast und untersuchte die Leiche. Dr. Temple war schon einige Minuten zuvor vom Dach heruntergestiegen, unterhielt sich kurz mit Isham und ging dann nach achtern zu Captain Swifts Kabine. Wenig später folgten auch die anderen.

Sie fanden Dr. Temple über den bäuchlings ausgestreckten Captain gebeugt. Er lag mit geschlossenen Augen in seiner Koje. Sein zerzaustes Haar war von getrocknetem Blut auf dem Schädel ganz steif.

»Er kommt jeden Moment zu sich«, sagte der Doktor. »Hat ihn schon bös‘ erwischt; schlimmer als mich damals. Er kann von Glück sagen, daß er so‘n zähes altes Rauhbein ist; bei zarterer Konstitution hätte das leicht eine schwere Gehirnerschütterung geben können.«

Swifts Kabine war nicht im geringsten verwüstet; der Mörder war hier offenbar auf wenig Widerstand gestoßen. Ellery bemerkte eine kleine Automatic; die in Reichweite der Koje auf einem Tisch lag.

»Magazin voll«, erklärte Vaughn, dem Ellerys Blickrichtung nicht entgangen war. »Swift hatte wohl keine Chance, schnell genug dranzukommen.«

Der alte Mann gab kehlige, würgende Laute von sich; und seine Lider hoben sich zuckend, um blicklose, glasige Augen freizugeben; sie fixierten einen Moment lang Dr. Temple; dann drehte der Captain langsam den Kopf, um die ganze Runde in Augenschein zu nehmen. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper; er zuckte krampfartig zusammen und schloß die Augen wieder. Als er sie erneut aufschlug, war der glasige Ausdruck aus seinem Blick gewichen.

»Ganz ruhig, Captain«, sagte der Doktor. »Bewegen Sie sich nicht; wir müssen Ihnen erst noch ’nen hübschen Kopfschmuck verpassen.« Wie sie feststellten, war die Wunde bereits versorgt worden. Dr. Temple kramte im Medizinschrank herum, fand schließlich Verbandszeug und begann den Alten vor schweigendem Publikum so gründlich zu bandagieren, daß er zuletzt einem Kriegsverletzten ähnelte.

»Fühlen Sie sich jetzt besser, Captain?« fragte der Staatsanwalt, er schwitzte und schnaufte vor Ungeduld, den Captain endlich vernehmen zu können.

»Glaub‘ schon«, brummte der. »Was zum Teufel is‘n bloß

passiert?«

»Megara ist ermordet worden«, sagte Vaughn tonlos.

Der Captain kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit seiner Zunge über die trockenen Lippen. »Hatter ihn also doch gekriegt?«

»Ja. Bitte erzählen Sie uns, woran Sie sich erinnern.«

»Is‘ schon morgen?«

Niemand lachte; alle wußten, was er meinte. »Ja, Captain.«

Captain Swift starrte an die Decke seiner Kabine. »Mr. Megara un‘ ich; wir sin‘ gestern abend zur Helene zurück. Soweit ich mich erinnern kann, war alles tipptopp. Wir ham noch‘n bißchen geplaudert -Mr. Megara sagte was von ’ner Fahrt nach Afrika, wenn alles vorbei wär‘. Dann sind wir in unsre Kojen gegangen - er in seine un‘ ich in meine. Zuerst hab‘ ich aber noch ’ne Runde an Deck gedreht; war‘n schließlich keine Wachen da; un‘ ich geh‘ lieber auf Nummer Sicher.«

»Es gab keine Anzeichen dafür, daß sich ein Fremder an Bord aufhielt?« fragte Ellery.

»Nee«, krächzte der Captain. »Aber sicher weiß ich das natürlich nich‘. Könnte sich ja auch in ’ner Kabine versteckt ham, oder auf‘m Deck drunter.«

»Sie sind also schlafen gegangen«, sagte Isham ermunternd. »Wann etwa war das, Captain?«

»Um sieben Glas.«

»Also um halb zwölf«, murmelte Ellery.

»Genau. Aber ich hab‘ ’nen festen Schlaf. Un‘ ich weiß nu‘ wirklich nich‘, wie spät es war, als ich aus‘m Schlaf hochgeschreckt bin. Hab‘ das Gefühl gehabt, daß was nich‘ stimmt. Hörte jemanden neben der Koje schwer atmen. Ich hab‘ noch nach der Pistole gegriffen, aber dann hab‘ ich so‘n Schlag auf n Kopf abgekriegt, daß mir die Lichter ausgegang‘ sind. Das is‘ alles, was ich noch weiß.«

»Nicht gerade ergiebig«, sagte Isham leise. »Sie haben also

nicht gesehen, wer Sie niedergeschlagen hat?«

Der Captain schüttelte den Kopf. »Ne, ehrlich nich‘. War stockfinster hier drinnen. Ich hab‘ Sternchen gesehen un‘ war weg.«

Die Männer ließen den alten Captain in Dr. Temples Obhut und gingen zurück an Deck. Ellery war in Gedanken versunken und suchte verzweifelt nach einem zündenden Einfall, der Erfolg blieb ihm jedoch versagt. Schließlich schüttelte er angewidert den Kopf und gab auf.

Dr. Rumsen erwartete sie bereits an Deck unterhalb des Antennenmastes. Der knotenkundige Seemann war gegangen. »Nun, Doc?« fragte Vaughn.

Der Gerichtsmediziner zuckte gelangweilt mit den Schultern. »Absolut uninteressant. Wenn Sie sich noch erinnern, was ich Ihnen damals zu Brad gesagt habe, kann ich mir jedes weitere Wort sparen.«

»Auch diesmal keine Anzeichen von Gewalt?«

»Nicht unterhalb des Halses. Und darüber -« Er zuckte wieder mit den Schultern. »Bei der Leiche handelt es sich um Stephen Megara. Dieser Dr. Temple war vorhin hier oben und hat mir erzählt, daß Megara kürzlich eine Hernia testis gehabt habe. Wissen Sie da etwas von?«

»Megara hat uns selbst davon erzählt. Alles klar, Doc.«

»Die Leiche weist Anzeichen einer Hernia auf. Auf eine Sektion können wir verzichten. Dr. Temple hat ihn sich angesehen, direkt nachdem wir ihn abgenommen hatten. Er sagte mir, er habe Megaras Unterleib gründlich untersucht und könne eindeutig bestätigen, daß der Tote Megara sei.«

»Schön. Wann ungefähr ist der Tod eingetreten?«

Dr. Rumsen kniff ein Auge zusammen. »Alles in allem würde ich sagen, zwischen ein Uhr nachts und halb zwei.«

»Okay, Doc. Wir kümmern uns um die Leiche. Ich danke Ihnen.«

»Nichts zu danken.« Der Pathologe schnaubte verächtlich und stieg die Leiter hinunter. Unten wartete bereits eine Barkasse auf ihn.

»Ist irgend etwas gestohlen worden, Inspector?« fragte Ellery.

»Nein. In Megaras Brieftasche befand sich ein wenig Bargeld. Der Mörder hat es nicht mitgehen lassen. Auch den Wandsafe hat er nicht angerührt.«

»Noch etwas -«, begann Ellery, als plötzlich ein Polizeiboot auf sie zu schoß und ein Trupp schwitzender Männer an Bord der Jacht ging.

»Und?« fragte Vaughn. »Habt ihr ihn?«

Der Verantwortliche schüttelte den Kopf. »Leider nein, Chief. Und dabei haben wir das Gelände im Umkreis von drei Kilometern systematisch durchgekämmt.«

»Hat ihn wahrscheinlich im Sund versenkt«, murmelte Vaughn.

»Wovon sprechen Sie überhaupt?« fragte Isham gereizt.

»Von Megaras Kopf. Nicht, daß ich mir davon auch nur das Geringste verspräche. Ich werde auch den Sund nicht danach abfischen.«

»Ich an Ihrer Stelle«, entgegnete Ellery, »würde mir das noch einmal überlegen. Ich wollte Sie gerade fragen, wie die Suchaktion läuft.«

»Hm, wenn Sie meinen ... Sie da, rufen Sie an und sagen Sie, daß wir die Schleppnetze brauchen!«

»Versprechen Sie sich wirklich etwas davon?« fragte Professor Yardley leise.

Ellery riß in einer für ihn untypischen, theatralischen Verzweiflungsgeste die Arme hoch. »Ich wäre heilfroh, wenn ich wüßte, wovon ich mir etwas verspreche und wovon nicht! Mir spukt da so ein Gedanke im Kopf herum, aber er entwischt mir immer wieder! Ich weiß, daß ich etwas Bestimmtes tun

sollte ... ich spüre es ganz deutlich!« Er hielt inne und steckte sich eine Zigarette in den Mund. »Sie haben schon recht«, befand er nach einer Weile. »Ich gehöre zu den jämmerlichsten Vertretern meiner Zunft.«

»Erkenne dich selbst«, erwiderte der Professor trocken.


25. Der hinkende Mann


Einer von Vaughns Leuten kam an Bord der Helene und übergab dem Inspector einen Umschlag.

»Was ist das?« fragte Vaughn.

»Ein Telegramm, gerade reingekommen.«

»Ein Telegramm«, wiederholte Ellery wie in Trance. »Etwa aus Belgrad, Inspector?«

Vaughn riß das Kuvert auf. »Ja ...« Er übrflog den Inhalt und nickte düster.

»Gerade früh genug«, bemerkte Isham, »um uns nichts mehr zu nützen. Was steht drin?«

Der Inspector drückte dem Staatsanwalt das Blatt in die Hand. Der las laut vor:


ALTE DOKUMENTE ZUR TVAR-KROSAC-FEHDE AUFGETAUCHT STEFAN ANDREJA UND TOMISLAV IVAR HABEN KROSACS VATER UND ZWEI ONKEL VÄTERLICHERSEITS AUS HINTERHALT ERSCHLAGEN DAS HAUS AUSGERAUBT UND GRÖSSERE SUMME GESTOHLEN DANACH FLUCHT AUS MONTENEGRO STOP KLAGE VON KROSACS WITWE STOP ZU SPÄT UM TVARBRÜDER NOCH ZU ERGREIFEN SEITDEM KEINE SPUR VON TVARS BZW WITWE MIT MINDERJÄHRIGEM SOHN VELJA VOLLSTÄNDIGE ÜBERSICHT ÜBER MEHRERE GENERATIONEN LIEGT

VOR BITTE ANFORDERN


Unter dem Telegramm prangte die Unterschrift des Polizeiministers der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad.

»Na«, sagte der Professor giftig. »Dann haben Sie ja wenigstens in diesem Punkt recht behalten, Queen. Nichts als gemeine Diebe.«

Ellery lachte verbittert. »Was für ein schaler Triumph! Es bedeutet lediglich, daß Velja Krosac ein zusätzliches Motiv hatte, sich an den Tvars zu rächen -seine Familie war ausgelöscht, man hatte ihm alles Geld gestohlen. Aber dieser Punkt ist völlig unbedeutend ... Und Megaras Geschichte von den Agenten, die sie auf Krosac angesetzt haben wollen -na ja, die stimmt vermutlich, wenn sie die Männer auch sicher nicht von Montenegro, sondern von Amerika aus per Post beauftragt haben.«

»Der arme Teufel. Irgendwie tut er mir beinahe leid.«

»Dieser Bluthund verdient kein Mitleid, Professor!« fuhr Vaughn ihn scharf an. »Natürlich hatte er ein starkes Motiv; aber ohne Motiv bringt man schließlich keinen um! Wir können doch keinen Mörder ungeschoren davonkommen lassen, bloß weil er ein nachvollziehbares Motiv hatte! ... Was haben Sie da?«

Ein anderer von Vaughns Männern überbrachte dem Inspector einen Stapel von offiziell aussehenden Briefen und Telegrammen. »Vom Sergeant, Inspector. Die Berichte von gestern nacht.«

»Hmm.« Vaughn ging die Briefe in Windeseile durch. »Über die Lynns.«

»Neuigkeiten?« fragte Isham.

»Kaum. Natürlich glauben mal wieder alle Amerikaner, die Lynns gesehen zu haben. Eine Spur kommt sogar aus Arizona! Sie bleiben dran. Eine andere aus Florida -ein Mann und eine

Frau einschlägiger Beschreibung sollen in einem Auto in der Nähe von Tampa gesehen worden sein. Na ja, vielleicht ist ja was dran.« Er stopfte sich die Berichte achtlos in eine seiner Jackentaschen. »Aber ich wette, die sind in New York untergetaucht; es wäre verdammt dumm von denen, offen durch die Lande zu ziehen. Die kanadische und die mexikanische Grenze scheinen in Ordnung zu sein. Und über‘n großen Teich sind sie vermutlich auch nicht ... Huhu! Bill scheint etwas gefunden zu haben!«

Der Polizist namens Bill stand auf einem Außenborder, winkte mit seiner Mütze, rief ihnen etwas Unverständliches zu und kletterte an Bord. Er strahlte wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum.

»Chief«, rief er, sobald er an Deck war, »Sie haben mal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen! Ziemliche Ausbeute da drüben!«

»Lassen Sie hören!«

»Zuerst haben wir das Ruderboot überprüft. Es gehört, wie Sie schon vermutet haben, zu dem Grundstück da drüben. Das Seil ist mit einem scharfen Messer durchtrennt worden. Der Knoten hängt noch immer am Anlegesteg; und das Seilstück im Boot paßt genau mit dem anderen Ende zusammen.«

»Gut, gut«, sagte Vaughn ungeduldig. »Er hat das Ruderboot genommen, das wissen wir. Haben Sie am Anlegesteg noch etwas gefunden?«

»Und ob wir das haben! Fußspuren!«

»Fußspuren?« echoten alle und spitzten erwartungsvoll die Ohren.

Bill nickte. »Direkt hinter dem Kai ist der Boden sehr weich. Wir haben dort fünf Abdrücke gefunden -drei linke und zwei rechte derselben Schuhgröße -Männerschuhe, Größe achteinhalb etwa. Wer auch immer diese Spuren hinterlassen hat, hinkt!«

»Hinkt?« fragte Yardley. »Woher wollen Sie das denn wissen?«

Bill warf dem großen häßlichen Professor einen mitleidigen Blick zu. »Also ich muß schon - Hören Sie, das ist die dümmste Frage, die ich je gehört habe! Lesen Sie keine Heftchen? Die Abdrücke des rechten Schuhs waren viel tiefer als die des linken. Sehr viel tiefer! Die rechte Ferse hatte sich regelrecht in den Boden gebohrt, während die Abdrücke des linken Schuhs nur schwach zu erkennen waren. Also hinkt er auf dem linken Bein - und zwar schwer!«

»Gute Arbeit, Bill«, sagte Vaughn, während er grimmig zum Antennenmast hochstarrte. »Sollten wir uns im Jenseits wiedertreffen, Mr. Megara, dann hören Sie bitte das nächste Mal auf mich! Keine Bewachung, was? Sie haben ja gesehen, wie weit Sie gekommen sind! Noch etwas, Bill?«

»Nein. Auf dem Kiesweg zwischen dem Grundstück der Lynns und auf der Schotterstraße waren natürlich keine weiteren Fußspuren mehr zu erkennen. Die Jungs verfolgen die Spur des hinkenden Mannes aber sowieso; die Fußabdrücke haben uns darin nur bekräftigt.«

Die »Jungs« hatten in der Tat nicht geschlafen. Eine neue Abordnung junger Beamter jagte über das blaue Wasser der Ketcham‘s Bay zur Jacht; als sie näher heran waren, erkannte man einen stark verängstigten Mann mittleren Alters, den mehrere Beamte umgaben. Er saß auf der Ruderbank und umklammerte deren Kanten fest mit beiden Händen.

»Wen zum Teufel haben die‘n da aufgelesen?« brummte Vaughn.

»Kommt an Bord! Wer ist das?« brüllte er über die immer schmaler werdende Rinne zwischen den beiden Booten hinweg.

»Große Neuigkeiten, Chief!« brüllte einer der Männer in Zivil zurück. »Ein heißer Tip!«

Er half seinem Gefangenen mit einem angedeuteten Tritt sanft die Leiter hinauf; oben angekommen, zog der Mann mit einem matten Lächeln seinen leichten Sommerhut, als sei er zu einem Empfang beim Hochadel geladen. Sie begafften ihren Gast mit unverhohlener Neugier; es handelte sich um einen eher farblosen Zeitgenossen mit Goldzähnen und der Aura heruntergekommener Vornehmheit.

»Wer ist das, Pickard?« fragte der Inspector eindringlich.

»Erzählen Sie Ihre Geschichte, Mr. Darling«, erwiderte der Beamte. »Das ist der Boss.«

Mr. Darling wirkte ehrfürchtig und scheu. »Angenehm, Captain. Nun, viel gibt es da nicht zu erzählen. Ich bin Elias Darling aus Huntington, Captain. Ich besitze ein Tabak-und Schreibwarengeschäft auf der Main Street. Als ich gestern um Mitternacht den Laden schließen wollte, habe ich zufällig vor meiner Tür etwas beobachtet. Ein paar Minuten lang hatte dort eine Limousine geparkt -ein Buick, glaube ich, ja, ein Buick Sedan. Ich hatte zufällig auch beobachtet, wer den Wagen dort abgestellt hatte -ein schmächtiger Bursche mit einem Mädchen im Arm. Als ich gerade den Laden schloß, sah ich einen Mann ­ziemlich groß war der -auf den Wagen zu gehen und hineinschauen. Da fiel mir auf, daß das vordere Fenster offen war, der Wagen nicht abgeschlossen. Prompt öffnete der Mann die Tür, stieg ein, ließ den Motor an und fuhr in Richtung Centerport davon.«

»Na und?« knurrte Vaughn. »Kann doch der Vater des Jungen gewesen sein -oder der Bruder, der Freund, oder irgendwer! Vielleicht war er auch von der Kreditbank und hat den Wagen gepfändet, weil der Junge mit seinen Zahlungen im Rückstand war!«

Mr. Elias Darling fiel die Panik an. »Du meine Güte«, flüsterte er. »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht! Und dann beschuldige ich einfach ... Aber bitte verstehen Sie, Captain -«

»Inspector!« brüllte Vaughn.

»Verstehen Sie, Inspector, mir kam das Ganze einfach nicht koscher vor! Ich wollte erst zur Polizei gehen, aber dann dachte ich mir, das geht dich im Grunde überhaupt nichts an. Aber ich erinnere mich genau daran, daß der Mann auf dem linken Bein gehinkt hat, und da dachte ich -«

»Was?« donnerte Vaughn. »Moment! Er hinkte, sagen Sie? Wie sah der Mann aus?«

Als Mr. Darling zu antworten begann, hingen ihm die Männer förmlich an den Lippen; alle glaubten sie, das langersehnte Wunder sei endlich geschehen. Eine Beschreibung von Krosacs Gesicht! ... Doch Pickard schüttelte betrübt den Kopf, und Ellery wußte im voraus, daß Darlings Beschreibung nicht aufschlußreicher ausfallen würde als die von Croker, dem Tankstellenbesitzer von Weirton.

»Ich habe dem Herrn hier schon gesagt«, begann der Kaufmann aus Huntington, »daß ich sein Gesicht nicht gesehen habe. Aber er war groß und breitschultrig, und er hatte eine kleine Reisetasche dabei.«

Isham und Vaughn fiel ein Stein vom Herzen; der Professor schüttelte nur den Kopf. »In Ordnung, Mr. Darling«, sagte Vaughn. »Wir danken Ihnen für Ihre Mühen. Bringt Mr. Darling mit dem Polizeiwagen nach Huntington zurück, Pickard.« Pickard half dem Ladenbesitzer die Leiter hinunter und kehrte zurück, als die Barkasse Richtung Festland glitt.

»Was ist mit dem gestohlenen Wagen, Pickard?« fragte Isham.

»Na ja«, antwortete der Beamte zögerlich. »Da sind wir noch nicht viel weitergekommen. Ein Pärchen, das der Beschreibung von Darling entspricht, hat um zwei Uhr morgens einen Buick Sedan bei der Polizei von Huntington als gestohlen gemeldet ­weiß Gott, wo die gesteckt haben; ich jedenfalls habe keine Ahnung! Der Junge muß wegen seiner Mieze so aufgeregt gewesen sein, daß er glatt vergessen hat, den Zündschlüssel abzuziehen.«

»Habt ihr eine Beschreibung des Wagens rausgeschickt?«

»Jawohl, Chief. Mit Nummernschild und allem.«

»Das wird uns ’nen Dreck nützen«, grummelte Isham. »Ist doch klar, daß Krosac für seine Flucht gestern nacht einen Wagen brauchte -es wäre viel zu riskant für ihn gewesen, um zwei oder drei Uhr morgens mit dem Zug zu fahren, wo sich leicht jemand an ihn hätte erinnern können!«

»Sie glauben also mit anderen Worten«, sagte Ellery, »daß Krosac den Wagen gestohlen, ihn die ganze Nacht gefahren und schließlich irgendwo abgestellt hat?«

»Er wäre jedenfalls ein verdammter Idiot, wenn er immer noch damit herumkutschieren würde!« fauchte Vaughn. »Natürlich hat er ihn abgestellt. Was haben Sie denn jetzt schon wieder daran auszusetzen, Mr. Queen?«

Ellery zuckte mit den Schultern. »Kann man hier denn keine einfachen Fragen mehr stellen, ohne daß Sie einem gleich ins Gesicht springen, Inspector? Nichts habe ich auszusetzen, soweit ich die Sache überblicke.«

»Mir scheint«, bemerkte der Professor geistesgegenwärtig, »Krosac ist ein hohes Risiko eingegangen, indem er sich darauf verließ, in der fraglichen Zeit in der Nähe des Tatorts einen Wagen stehlen zu können.«

»Das einzige Risiko hier sind ahnungslose Laien«, erwiderte Vaughn knapp. »Unser Problem ist die unverbesserliche Gutgläubigkeit der Leute. Sie könnten allein in der nächsten Stunde ein ganzes Dutzend Autos stehlen, wenn Sie es wirklich darauf anlegen - besonders hier auf Long Island!«

»Gut kombiniert, Professor«, bemerkte Ellery hilflos. »Aber ich befürchte, der Inspector hat recht.« Er verstummte und lauschte den schlurfenden Geräuschen über ihnen. Sie blickten auf und sahen, wie der in Tücher gehüllte Körper des Ermordeten vom Dach der Funkerkabine heruntergelassen wurde. An der Reling stand wie versteinert Captain Swift in einem ausgeblichenen alten Südwester, den er über seinen Schlafanzug gezogen hatte, und folgte mit versteinertem Blick dem makabren Vorgang. Neben ihm stand schweigend Dr. Temple und sog an seiner erloschenen Pfeife.

Ellery, Vaughn, Isham und der Professor stiegen nacheinander die Leiter hinunter und gingen an Bord der großen Barkasse, die unten auf sie wartete. Als sie losbrausten, sahen sie noch lange der Helene nach, die sanft auf dem Wasser schaukelte, und beobachteten, wie man Megaras Leiche auf ein anderes Boot verfrachtete. Von weitem schon konnten sie Jonah Lincolns große Gestalt an Land ausmachen; die Frauen waren verschwunden.

»Was meinen Sie, Mr. Queen?« fragte Isham nach langem Schweigen mit pathetischer Wißbegier.

Ellery wand sich verlegen und starrte zur Jacht zurück. »Ich meine, daß wir von der Lösung des Falles genauso weit entfernt sind wie vor drei Wochen. Ich zumindest bin, wie ich gestehen muß, vollkommen ratlos. Der Mörder ist Velja Krosac -das Phantom eines Mannes, der nähezu jeder von uns sein könnte. Noch immer stehen wir vor der Frage: Wer ist er wirklich?« Er nahm sein Pincenez ab und rieb sich die Augen. »Er hat unverwechselbare Spuren hinterlassen ... ja, geradezu zur Schau gestellt!« Seine Gesichtszüge verhärteten sich, und er verstummte.

»Was ist los mit Ihnen?« fragte Professor Yardley, dem der untröstliche Gesichtsausdruck seines Schützlings nicht entgangen war.

Ellery ballte eine seiner Fäuste. »Verflixt noch mal -warum komme ich bloß nicht drauf?«


26. Ellery spricht


Zügig marschierten sie durch Bradwood, um Begegnungen mit den vom Grauen gezeichneten Gestalten zu vermeiden, die sich marionettenhaft durch die Szenerie bewegten. Jonah Lincoln sagte kein einziges Wort; die jüngste Tragödie hatte ihm die Sprache verschlagen. So beschränkte er sich darauf, den anderen den Pfad hinauf zu folgen, obwohl man seiner Miene ansah, daß ihm jedwede Aktivitäten beliebig und sinnlos vorkamen. Megaras Tod schien ein unsichtbares Leichentuch über die Landschaft geworfen zu haben; makabererweise wirkte Bradwood noch trostloser als nach der Ermordung des Hausherrn. Ein kreidebleicher Fox kauerte mit dem Kopf auf den Knien auf den Stufen der Veranda. Helene saß in einem Schaukelstuhl und starrte in die Gewitterwolken, die sich am Himmel zusammenzogen, ohne auch nur eine von ihnen wahrzunehmen. Mrs. Brad war zusammengebrochen; Stallings murmelte, Dr. Temple solle doch einmal nach ihr schauen. Sie war oben in ihrem Zimmer und wurde von hysterischen Weinkrämpfen geschüttelt; doch nicht einmal Helene brachte die Kraft auf, sich um ihre Mutter zu kümmern. Aus dem hinteren Teil des Gebäudes drang Mrs. Baxters Jammern und Stöhnen.

In der Einfahrt zögerten sie kurz, setzten ihren Weg dann jedoch fort. Lincoln folgte ihnen benommen bis zum äußeren Tor und blieb dort -gegen eine Steinsäule gelehnt -zurück. Der Inspector und Isham schritten unbeirrt weiter und waren bald außer Sichtweite.

Die alte Nanny öffnete Ellery und Yardley zitternd die Vordertür. »Das is‘ Teufelswerk, is‘ das, Mister, Sie wer‘n noch an meine Worte denken!«

Der Professor stürzte, ohne etwas zu erwidern, zu seiner Bibliothek, und Ellery folgte ihm, als wäre sie der einzige Zufluchtsort auf Erden.

Sie setzten sich. Doch auch hier schien eine unsichtbare Macht ihre Zungen zu lähmen. Wenn man von den Spuren absah, die der Schock auf Yardleys zerklüftetem Gesicht hinterlassen hatte, war der Ausdruck herausfordernder Gereiztheit nicht zu übersehen. Ellery sank tiefer in seinen Sessel und durchsuchte fahrig seine Taschen nach einer Zigarette, bis Yardley ihm einen großen Kasten aus Elfenbein über den Tisch schob. »Entspannen Sie sich erst einmal«, sagte er sanft. »Sie werden schon noch drauf kommen!«

Ellery zog hektisch an seiner Zigarette. »Kennen Sie diese diffusen Gedanken, die Ihnen -ewig auf der Flucht -durch den Hinterkopf schwirren, und Sie kriegen sie doch nie zu fassen? Ein verschwommenes Bild nach dem anderen zieht an Ihnen vorbei, und es wird niemals klar? Dann wissen Sie, wie mir zumute ist. Wenn ich es bloß endlich klar vor Augen hätte ... Es ist wichtig. Ich habe das bestimmte Gefühl, daß es von überwältigender Wichtigkeit ist.«

Der Professor stopfte Tabak in seinen Pfeifenkopf. »Ein verbreitetes Phänomen. Ich habe an mir selbst beobachtet, daß es in einer solchen Situation vollkommen sinnlos ist, sich verzweifelt zu konzentrieren. Viel erfolgversprechender ist es, den vagen Gedanken vorläufig aus dem Gedächtnis zu verbannen und von ganz anderen Dingen zu sprechen. Ich bin immer noch jedesmal erstaunt darüber, wie zuverlässig diese Methode funktioniert. Es scheint fast, als könne der Gedanke es nicht ertragen, ignoriert zu werden, und als müsse er um jeden Preis wieder auf sich aufmerksam machen. Und dann erscheint aus dem Nichts, aus Nebensächlichkeiten heraus, das vollständige, klare Bild, dem Sie so lange vergeblich hinterhergejagt sind.«

Ellery äußerte einen Laut, der sich jeder Deutung entzog. Plötzlich erschütterte ein Donnerschlag das Gemäuer.

»Gerade eben noch - vor einer Viertelstunde«, fuhr der Professor mit einem melancholischen Lächeln fort, »sagten Sie, Sie seien von der Lösung genauso weit entfernt wie vor drei Wochen. Nun gut, sieht ganz so aus, als hätten Sie gründlich versagt. Dennoch haben Sie immer wieder auf ominöse Schlußfolgerungen angespielt, zu denen Sie gelangt seien, ohne daß Isham, Vaughn oder ich irgendeine Ahnung gehabt hätten, wovon Sie sprachen. Warum gehen wir sie nicht gemeinsam durch? Vielleicht hat Ihre Versteifung auf den einen Gedanken dazu geführt, daß Sie den Wald vor Bäumen nicht mehr sehen und den Überblick erst dann zurückgewinnen, wenn Sie versuchen, Ihre Gedankengänge in Worte zu fassen? Sie haben mein Wort drauf -ich habe diese Erfahrung in meinem Leben immer wieder gemacht -, es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen der Leblosigkeit einsamer Grübeleien und angeregten Diskussionen mit einem lebendigen, denkenden Gegenüber! Sie haben zum Beispiel von den Damesteinen gesprochen. Offenbar hat Brads Arbeitszimmer, der Dametisch, die Verteilung der Steine auf dem Brett Saiten in Ihnen zum Klingen gebracht, die bei uns anderen stumm blieben. Erklären Sie mir, woran Sie da gedacht haben!«

Unter dem Einfluß der sanften dunklen Stimme des Professors beruhigten sich Ellerys bis zum Zerreißen gespannte Nerven wieder. Er zog nun gelassener an seiner Zigarette, und die Runzeln, die sich in seine junge Stirn gefressen hatten, glätteten sich.

»Keine schlechte Idee, Professor.« Er nähm eine bequemere Sitzhaltung ein und schloß halb die Augen. »Lassen Sie es uns einmal so angehen. Was für eine Theorie haben Sie sich aus den Aussagen von Stallings und dem Dametisch, wie wir ihn vorfanden, zusammengebastelt?«

Der Professor paffte ein paar Rauchkringel zur Decke. In der Bibliothek war es deutlich dunkler geworden; die Sonne versteckte sich hinter einer grauschwarzen Wolkenbank. »Mir ist so mancher Gedanke durch den Kopf gegangen; keine meiner Theorien hätte sich jedoch durch konkrete Fakten stützen lassen. Ich sehe allerdings keinen zwingenden Grund, dem äußeren Erscheinungsbild zu mißtrauen.«

»Und das wäre?«

»Als Stallings Brad zum letzten Mal sah -und er war vermutlich der letzte, der Brad lebend gesehen hat -, saß Brad am Dametisch und spielte gegen sich selbst. Das war nichts Ungewöhnliches; Stallings hat uns bestätigt, daß Brad oft gegen sich selbst spielte und genüßlich am jeweils nächsten Zug herumknobelte -wie es nur leidenschaftliche Spieler tun -, und auch ich selbst kann das bestätigen. Es sieht so aus, als wäre es Krosac gelungen, sich Zugang zu Brads Arbeitszimmer zu verschaffen, nachdem Stallings gegangen war. Brad spielte noch immer gegen sich selbst, als der Mörder ihn angriff und tötete und so weiter. Zum Zeitpunkt seiner Ermordung hatte Brad einen der roten Steine in der Hand, womit erklärt wäre, warum wir ihn in der Nähe des Totempfahls gefunden haben.«

Ellery rieb sich müde die Stirn. »Sie sagten gerade, ›er verschaffte sich Zugang zum Arbeitszimmer‹. Was genau verstehen Sie darunter?«

Yardley grinste. »Genau diesen Punkt wollte ich gerade ausführen. Ich sagte eben, ich hätte viele, leider unbeweisbare Theorien gehabt. Eine davon war die, daß Krosac - der sich, wie Sie wiederholt betont haben, möglicherweise in allernächster Nähe aufhielt -mit dem Gast identisch war, den Brad an diesem Abend erwartete. Das würde erklären, wie er ins Haus gelangt ist. Brad wußte natürlich nicht, daß jemand, den er für einen guten Freund oder Bekannten hielt, in Wirklichkeit sein Todfeind war.«

»Unbewiesen!« Ellery stöhnte auf. »Ich kann Ihnen jederzeit eine vollständige, beweisbare Theorie konstruieren, ohne albern herumzuraten und es auf gut Glück mit der einen oder anderen Annahme zu probieren! Nein, meine Theorien basieren auf einer Kette von Schlußfolgerungen, von denen keine einzige wackelt! -Der Haken daran ist nur, daß wir damit vorerst auch nicht weiterkommen.«

Der Professor sog nachdenklich an seiner Pfeife. »Augenblick, bitte, das war noch nicht alles, was ich sagen wollte. Ich hätte da auch noch eine andere Theorie, die sich leider auch nicht mit konkreten Fakten belegen läßt, aber deswegen nicht weniger unwahrscheinlich ist als die andere. Und die wäre, daß Brad an jenem Abend zwei Gäste hatte: die Person, die er erwartete, und deretwegen er Frau, Stieftochter und Personal fortgeschickt hatte, und seinen Mörder Krosac. In diesem Fall wäre auch leicht zu erklären, warum der geladene Gast, ob er nun vor oder nach Krosac kam, als Brad bereits tot war, seinen Besuch verschwiegen hat -weil er nicht mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht werden wollte. Ich bin sehr erstaunt darüber, daß bislang niemand an diese Möglichkeit gedacht hat. Ich warte seit drei Wochen darauf, daß Sie sie ansprechen.«

»So?« Ellery nahm sein Pincenez ab und legte es auf den Tisch; seine Augen waren rot gerändert und von Aderchen durchzogen. Plötzlich erhellte ein Blitz den Raum und tauchte die Gesichter der beiden Männer in ein gespenstisches Blau. »Große Erwartungen!«

»Jetzt sagen Sie mir bloß nicht, Sie sind tatsächlich nicht drauf gekommen! «

»O doch. Aber ich habe diesen Gedanken sofort verworfen, weil er nichts taugt.«

»Ha«, protestierte der Professor lustvoll. »Das müßten Sie schon etwas genauer ausführen! Wollen Sie mir im Ernst weismachen, Sie könnten beweisen, daß in der Mordnacht nur ein Besucher das Haus betreten hat?«

Ellery lächelte matt. »Sie bringen mich in eine unangenehme Lage, wenn Sie so fragen. Die Stichhaltigkeit einer Beweisführung hängt immerhin stärker von demjenigen ab, der sie beurteilt, als von demjenigen, der sie vorträgt ... Es wird jetzt ein wenig kompliziert. Sie erinnern sich ja sicher, was dieser französische Moralist mit dem unmöglichen Namen Luc de Clapier de Vauvenargues gesagt hat: ›Lorsqu’une penstée est trop faible paur porter une expression simple, c’est la marque pour la rejeter.‹ (Wenn ein Gedanke zu diffus ist, um ihn einfach und präzise auszudrücken, sollte man ihn fallenlassen.) Aber darauf werde ich zu gegebenem Zeitpunkt noch zurückkommen.«

Der Professor lehnte sich erwartungsvoll vor; Ellery setzte sein Pincenez zurück auf seinen Nasenrücken und fuhr dann fort: »Meine Argumentation hängt von zwei Elementen ab -von der Position der Damesteine auf dem Brett und der Psychologie von Meisterspielern. Verstehen Sie etwas davon, Professor? Ich meine mich zu erinnern, Sie hätten einmal dem Sinne nach bemerkt, Sie hätten nie mit Brad gespielt.«

»Das stimmt. Die Dameregeln beherrsche ich allerdings schon. Ich habe nur seit Jahren keine Übung mehr.« »Dann werden Sie auch meiner Analyse folgen können. Als Stallings das Arbeitszimmer betrat, sah er Brad mit sich selbst spielen, genauer gesagt, sah er die Eröffnungszüge. Diese Aussage war es, die unsere Freunde in die Irre geführt hat. Sie nahmen einfach an, daß Brad immer noch gegen sich selbst spielte, als er ermordet wurde, weil er gegen sich selbst spielte, als Stallings ihn zum letzten Mal sah. Auch Sie sind darauf hereingefallen. Die Steine auf dem Brett erzählten jedoch eine ganz andere Geschichte. Wie war noch einmal die Verteilung nicht nur der Steine im Spiel, sondern auch derer, die aus dem Feld geschlagen worden waren? Sie erinnern sich: Schwarz hatte neun rote Steine geschlagen, die in der Ablage zwischen dem Brett und dem Tisch lagen. Rot hingegen hatte nur drei schwarze Steine geschlagen, die in der Ablage gegenüber lagen. Schwarz war Rot also weit überlegen. Auf dem Brett selbst befanden sich drei schwarze Damen oder Doppelsteine und drei schwarze Einzelsteine. Rot hingegen hatte nur noch zwei armselige Einzelsteine.«

»Und wenn schon!« sagte der Professor. »Ich kann darin noch immer nichts anderes entdecken, als daß Brad gegen sich selbst spielte und ein paar Züge gemacht hatte, die sehr zum Nachteil seines imaginären Gegners waren.«

»Eine unhaltbare Folgerung«, entgegnete Ellery. »Soweit es einsame Experimente betrifft, sind Meisterspieler grundsätzlich nur an Eröffnung und Endspiel interessiert; das gilt für Dame ebenso wie für Schach, und es gilt wahrscheinlich für alle Spiele, bei denen der Scharfsinn herausgefordert ist und bei denen die Entscheidung über Sieg oder Niederlage allein vom Können des einzelnen Spielers abhängt. Warum sollte Brad, der nur zu Trainingszwecken gegen sich selbst spielte, sich mit einem solch ungleichen Spielstand befassen, in dem Schwarz um drei Damen und einen Stein im Vorteil war? Ein reines Übungsspiel hätte er lange vorher abgebrochen. Experten können Ihnen selbst bei geringerer Ungleichheit in der Anzahl der Steine oder des strategischen Vorteils auf den ersten Blick sagen, wie die Partie ausgehen wird, wenn keiner mehr einen Fehler macht. Hätte Brad diese Partie ernsthaft zu Ende gespielt, wäre das mit einem Aljechin zu vergleichen, der eine Schachpartie gegen sich selbst weiterspielt, obwohl Schwarz mit einer Dame, zwei Läufern und einem Springer im Vorteil ist! Daraus ergibt sich folgendes: Während Brad mit einer Trainingspartie begann, als Stallings ihn sah, spielte er später am Abend keinesfalls mehr gegen einen ernstzunehmenden Gegner wie zum Beispiel sich selbst. Ein Meister würde niemals mit einem solch ungleichen Spielstand herumexperimentieren; der Spielstand läßt sich nur damit erklären, daß er einen konkreten Gegner hatte.«

Draußen hatte es wolkenbruchartig zu schütten begonnen; das Wasser prasselte schmutziggrau gegen die Fensterscheiben.

Yardleys weiße Zähne blitzten über seinem schwarzen Bart auf, und er begann zu lachen. »Gut, gut! In diesem Punkt gebe ich mich geschlagen. Die Möglichkeit, daß Brad mit seinem geladenen Gast spielte und das Brett so hinterließ, wie wir es gefunden haben, bevor er von Krosac ermordet wurde ­möglicherweise nachdem der Gast gegangen war, besteht allerdings immer noch.«

»Alle Achtung!« schmunzelte Ellery. »Sie sind verdammt zäh! Und zwingen mich, aus doppeltem Lauf zu feuern -mit Logik und gesundem Menschenverstand! Betrachten Sie es doch einmal so: Können wir etwas über die Tatzeit im Verhältnis zur Spieldauer aussagen? Ich behaupte ja. Denn in der Grundreihe von Schwarz befand sich ein roter Stein. Im Damespiel darf man jedoch seinen Stein in eine Dame umwandeln, das heißt, wie Sie wissen, einen anderen Stein darauflegen, sobald man die Grundreihe des Gegners erreicht hat. Wie kommt es nun, daß Rot einen Stein in der schwarzen Grundreihe hatte, ohne ihn jedoch in eine Dame umzuwandeln?«

»Langsam begreife ich«, murmelte Yardley.

»Die Partie muß an diesem Punkt unterbrochen worden sein, denn man hätte sie nicht fortsetzen können, solange Rot diesen Schritt nicht ausführte!« Ellery sprach nun immer schneller. »Gibt es weitere Anhaltspunkte dafür, daß die Partie an diesem Punkt unterbrochen wurde? Ja! Die erste Frage, die wir klären müssen, lautet: Hat Brad in seiner letzten Partie Schwarz oder Rot gespielt? Wir können es als gegeben bewachten, daß Brad ein meisterlicher Spieler war; immerhin hatte er einmal den Landesmeister zu Gast und konnte sich mit einem beachtlichen

Unentschieden gegen ihn behaupten. Ist es dann wahrscheinlich, daß er Rot spielte, wenn Rot um drei fatale Damen und einen Einzelstein unterlegen war? Wohl kaum; wir können also davon ausgehen, daß er Schwarz spielte ... Lassen Sie mich der Vollständigkeit halber noch einfügen, was wir inzwischen wissen: Die Überlegenheit von Schwarz war nicht ganz so vernichtend wie zunächst angenommen -zwei Damen und zwei Steine im Gegensatz zu drei Damen und einem Stein ­, denn Rot war gerade im Begriff, eine Dame zu machen. Dennoch war der Vorteil in jedem Fall spielentscheidend. Wenn Brad jedoch Schwarz spielte, muß er während der Partie auf der Seite des Sekretärs gesessen haben; sein Gast und Gegner muß folglich gegenüber gesessen und auf den Sekretär geblickt haben, während Brad mit dem Rücken dazu saß.«

»Aber wohin soll uns das -«

Ellery schloß die Augen. »Sollten Sie als Amateurdetektiv höhere Ambitionen haben oder gar als genial gelten wollen, dann wäre es klug, Disraelis Rat zu verinnerlichen und Geduld zu üben. Rache ist süß, verehrter Professor! Wie oft habe ich brütend in Ihrem Seminar gesessen und vergeblich versucht, Ihre lässig vorgetragenen Argumentationsschritte vorwegzunehmen! Denken Sie nur an Xenophon und die Zehntausend, Philippus oder Jesus ... Doch wo war ich stehengeblieben? Ach ja! Ein roter Spielstein fehlte; wir haben ihn später draußen in der Nähe der Kreuzigungsstätte gefunden. In Brads Handinnenfläche fand sich der Abdruck eines roten Steins, den er also in der Hand gehalten haben muß, als er starb. Doch warum einen roten? Theoretisch gäbe es dafür viele Erklärungen, doch nur eine läßt sich auch belegen.«

»So?« fragte der Professor gespannt.

»Nämlich mit Hilfe der Tatsache, daß ein roter Stein sich auf Brads Grundreihe befand, ohne zu einer Dame umgewandelt worden zu sein. Den einzigen roten Stein, der fehlte, hielt Brad in der Hand. Wir kommen nicht umhin anzunehmen«, sagte Ellery pointiert, »daß es Rot, Brads Gegner, gelungen war, einen seiner Steine zu Brads Grundlinie durchzubringen, und Brad einen der geschlagenen roten Steine aus seiner Ablage nahm, um ihn auf den roten Stein zu setzen, und daß dann etwas geschehen ist, was die Partie jäh beendet hat. Anders gesagt ­die Tatsache, daß Brad einen roten Stein genommen hat, um seinem Gegner zu einer Dame zu verhelfen, ohne dies auch de facto zu tun, zeigt uns nicht nur, wann die Partie unterbrochen wurde, sondern indirekt auch, warum.«

Yardley lauschte schweigend.

»Brad hat seine letzte Aktion nicht mehr vollendet, weil er nicht mehr in der Lage dazu war.« Ellery machte eine Pause und seufzte leise. »Er ist in diesem Moment angegriffen und, um es milde zu formulieren, der Fähigkeit, eine Dame zu machen, beraubt worden.«

»Der Blutfleck«, murmelte der Professor.

»Genau. Die Bestätigung dafür liefert der Blutfleck auf dem Teppich -der Fleck etwa sechzig Zentimeter hinter dem Sitz, auf dem Schwarz -oder Brad -saß. Wir haben schon vor einiger Zeit nachgewiesen, daß der Mord im Arbeitszimmer begangen worden ist. Und der Blutfleck auf dem Teppich ist der einzige, den wir in diesem Raum gefunden haben. Wenn der Mörder Brad von vorn den Schädel eingeschlagen hat, während er am Tisch saß und für Rot gerade eine Dame machen wollte, dann muß er rückwärts gefallen sein -zwischen seinen Sitz und den Sekretär. Genau dort haben wir den Blutfleck gefunden ... Dr. Rumsen sagte, Brad müsse ursprünglich einen Schlag auf dem Kopf erlitten haben, da andere Zeichen von Gewalteinwirkung an seinem Körper nicht festzustellen waren. Das Blut sickerte ungehindert in den Teppich, bevor der Mörder Brad ins Gartenhaus trug und so weiter und so fort. Alle Details stimmen überein. Eines jedoch geht aus den Fakten klar hervor:

Brad wurde von seinem Mörder angegriffen, während er mit ihm Dame spielte -mit anderen Worten: Sein Mörder ist identisch mit seinem Damegegner ... Sie haben Einwände?«

»Natürlich, Sie kennen mich doch«, erwiderte Yardley scharf. Er zündete sich die erloschene Pfeife wieder an und zog energisch daran. »Widerlegen Sie bitte mit Hilfe Ihrer Argumentationskette folgendes: Brads Damegegner war entweder unschuldig oder Krosacs Komplize. Und während der ahnungslose Gast mit Brad spielte, oder der Komplize, um ihn abzulenken, schlich Krosac ins Arbeitszimmer und schlug Brad von hinten auf den Kopf, wie ich bereits sagte, als wir den Blutfleck entdeckten.«

»Ich muß schon sagen, Professor -eine Annahme absurder als die andere!« Ellerys Augen funkelten gefährlich. »Den Komplizen haben wir schon vor einiger Zeit eliminiert. Wir haben es mit Verbrechen aus Rachsucht zu tun -es fehlte jeder finanzielle Anreiz für einen potentiellen Komplizen. Und die Annahme, es wären die ganze Zeit zwei Personen im Spiel gewesen -einer von ihnen Krosac, der andere ein ahnungsloser Gast Brads, mit dem er Dame spielte? ... Bitte führen Sie sich vor Augen, was das hieße. Es hieße, daß Krosac in der Anwesenheit eines unbeteiligten Zeugen auf Brad losgegangen wäre! Grotesk! Krosac hätte in jedem Falle gewartet, bis der Gast gegangen wäre. Aber nehmen wir einmal an, er hat Brad im Beisein eines Zeugen niedergeschlagen. Müßte er nicht alles daransetzen, ihn zum Schweigen zu bringen? Einem Mann wie Krosac, der bereits mehrere Menschenleben auf dem Gewissen hat, wird es auf eines mehr oder weniger ja wohl kaum ankommen! Und doch scheint er unserem Zeugen kein Haar gekrümmt zu haben ... Nein, Professor, ich fürchte, den Zeugen müssen wir begraben.«

»Was aber wäre, wenn unser Zeuge vor Krosac gekommen und auch wieder gegangen wäre -und doch zwischendrin mit

Brad gespielt hätte?« beharrte der Professor.

»Du meine Güte! Ich fürchte, ich habe Sie zu stark beansprucht, Professor! Wenn Ihr Zeuge vor oder nach Krosac kam, dann war er keiner!« Ellery lachte amüsiert. »Doch Scherz beiseite; es besteht kein Zweifel daran, daß Brad gegen Krosac gespielt hat. Selbst wenn es einen früheren oder späteren Besucher gegeben hätte, würde das die Tatsache nicht widerlegen, daß der Mörder - Krosac -mit Brad gespielt hat.«

»Und wozu all die Spitzfindigkeiten?« brummte Yardley

»Wie ich bereits sagte: Um zu beweisen, daß Brad mit Krosac Dame gespielt hat und daß er ihm wohlbekannt war, obwohl er ihn natürlich für jemand anders gehalten haben muß.«

»Ha!« Der Professor klatschte sich vor Vergnügen auf die Schenkel. »Jetzt hab‘ ich Sie, junger Mann! Warum ›wohlbekannt‹, bitte? Soll das Ihre vielbeschworene Logik sein? Ein Mann wie Brad spielt mit jemandem Dame. Wollen Sie mir im Ernst weismachen, es habe sich dabei notwendig um einen Freund handeln müssen? Kompletter Unsinn! Er hätte mit jedem Kanalarbeiter gespielt, solange er die Regeln beherrschte! Er fiel über jeden her; ich habe volle drei Wochen gebraucht, um ihm klarzumachen, daß ich kein Interesse an einem Spiel hatte!«

»Bitte, Professor, meine Nerven! Sollte ich fälschlich den Eindruck erweckt haben, von der Damepartie her ableiten zu wollen, daß Brad mit seinem Gegner befreundet war, dann tut mir dies aufrichtig leid; es lag keinesfalls in meiner Absicht. Es gibt einen viel stichhaltigeren Grund. Wußte Brad, daß Krosac, Erzfeind der Tvars, in blutiger Mission nach Amerika gekommen war?«

»Ja, natürlich. Erstens geht es aus der Nachricht hervor, die er hinterließ, zweitens hat Van ihn schriftlich vor Krosac gewarnt.«

»Bien assurément! Hätte Brad sich denn -in dem Wissen, daß er mit einem Anschlag rechnen mußte -mit einem Fremden verabredet und sich ihm vollkommen schutzlos ausgeliefert, indem er Familie und Personal fortschickte?«

»Hmm, klingt unwahrscheinlich.«

»Wie Sie sehen«, sagte Ellery mit einem erleichterten Seufzer, »können Sie alles beweisen, wenn Sie nur genug Fakten zueinander in Beziehung setzen. Nehmen wir einmal den extremsten Fall. Angenommen der Gast, den Brad erwartete, kam, sie erledigten, was sie zu erledigen hatten, und er ging wieder. Dann kam Krosac, ein, wie wir annehmen, vollkommen Fremder. Wir haben jedoch nachgewiesen, daß Krosac, Brads Mörder, Dame mit ihm spielte. Das würde bedeuten, daß Brad freiwillig einen wildfremden Mann in sein unbewachtes Haus gelassen hätte ... Absurd! Also muß Brad Krosac gut gekannt haben, ob er nun der erwartete Gast war oder ihm nur einen Überraschungsbesuch abstattete. Die Antwort auf diese Frage ist jedoch uninteressant ... Ich persönlich glaube, daß sich in der Mordnacht außer Brad nur eine weitere Person im Arbeitszimmer aufhielt -Krosac. Aber selbst wenn es zwei, drei oder gar ein ganzes Dutzend waren ­der Beweis, daß Brad Krosac -in welcher Maske auch immer ­kannte, daß sie Dame spielten und Brad mitten im Spiel umgebracht wurde, steht!«

»Und was haben Sie davon?«

»Nichts«, erwiderte Ellery zerknirscht. »Genau das habe ich gemeint, als ich vorhin sagte, ich träte seit drei Wochen auf der Stelle ... Aber wo ich schon einmal dabei bin -es ist mir gelungen, aus der trüben Brühe der Ungewißheit ein weiteres Faktum herauszufischen. Dumm von mir, daß ich nicht sofort drauf gekommen bin.«

Der Professor stand auf und klopfte seine Pfeife am Kamin aus. »Sie stecken heute abend voller Überraschungen«, sagte er, ohne sich umzublicken. »Ich höre.«

»Ich behaupte mit hundertprozentiger Sicherheit, daß Krosac nicht hinkt.«

»Das wissen wir doch längst«, entgegnete Yardley. »Ach, halt, nein. Wir haben uns nur darauf geeinigt, daß es so, aber auch so sein könnte. Aber wie -«

Ellery sprang auf, streckte sich und begann, auf und ab zu schreiten. Die Luft in der Bibliothek war schwül, und der Regen draußen hämmerte immer wütender gegen die Scheiben. »Krosac, als wer auch immer er sich ausgab, war Brad gut bekannt. Brad kannte jedoch niemanden näher, der hinkt. Krosac hinkt also in Wirklichkeit nicht mehr, hat jedoch auf sein längst behobenes Jugendleiden zurückgegriffen, um die Polizei in die Irre zu führen.«

»Ach, deshalb«, murmelte Yardley, »hat er sein vermeintliches Hinken nicht kaschiert. Aber ja! Er hört auf zu hinken, sobald er Gefahr riecht. Kein Wunder, daß es so schien, als hätte er sich in Luft aufgelöst! Da hätte ich drauf kommen müssen!«

Yardley wippte hin und her, die erkaltete Pfeife hing ihm vom Mundwinkel herab. »Und damit wären wir wieder am Ausgangspunkt angelangt.« Er betrachtete Ellery aufmerksam. »Noch immer keine Spur von dem flüchtigen Gedanken?«

Ellery schüttelte den Kopf. »Er versteckt sich noch immer hinter irgendeiner Gehirnwindung ... Lassen Sie mich nachdenken. Den Mord an Kling haben wir hinreichend erklärt. Krosac, mit vorgetäuschtem Hinken, in der direkten Nachbarschaft; Motiv, Umgebung, Methodik des Verbrechens ­paßt alles. Es handelt sich um Blutfehde. Krosac glaubt, er habe Andreja, einen der Tvar-Brüder, getötet. Wie aber ist es ihm gelungen, gerade Van aufzustöbern, der sich am geschicktesten getarnt hat? Frage vorerst nicht zu beantworten ... Krosac schlägt wieder zu, diesmal muß Brad dran glauben. Woher

kennt er dessen Identität? Wieder nicht zu beantworten. Die Fäden ziehen sich zusammen; Krosac findet Brads Mitteilung an die Polizei und weiß nun, daß er in Arroyo den Falschen erwischt hat und Van noch am Leben ist. Doch wo ist Van? Egal, ich muß ihn finden, sagt sich Krosac, sonst ist meine Rache unvollendet -sehr melodramatisch. Vorhang ... Dritter Akt: Megara kehrt zurück, worauf Krosac vorbereitet ist. Vorhang auf für den einsamen Wahrer des großen Geheimnisses. Wie in der Mitteilung stand, weiß nur Megara, wo und in welcher Maske Van sich aufhält. Pause. Eine leichte Verzögerung. Und dann ... Um Gottes willen!«

Der Professor saß regungslos in seinem Sessel und hielt die Luft an. Alle Zeichen deuteten darauf hin, daß es Ellery gelungen war, den flüchtigen Gedanken endlich zu fassen; er stand wie angewurzelt mitten im Raum und strahlte in der ersten Euphorie seiner Entdeckung.

»Gott«, rief Ellery und sprang einen halben Meter in die schwüle Luft. »Was für ein Idiot muß ich gewesen sein! Was für ein blödsinniger Esel! Was für ein gnadenloser Schwachkopf! Ich hab‘s!«

»Ich sage doch, es funktioniert immer«, sagte Yardley schmunzelnd und lehnte sich entspannt zurück. »Was ... Junge! Was haben Sie denn jetzt schon wieder?«

Er verstummte alarmiert. Ellerys Gesichtsausdruck hatte eine dramatische Wandlung durchgemacht; sein Mund stand offen, sein Blick verfinsterte sich, und er zuckte zusammen, wie Menschen bei der bloßen Vorstellung tödlicher Hiebe zusammenzucken.

Die seltsamen Erscheinungen verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren. »Hören Sie«, sagte er hektisch. »Wir haben keine Zeit mehr für ausgedehnte Analysen! Das folgende muß reichen: Worauf haben wir gewartet? Worauf hat Krosac gewartet? Wir haben darauf gewartet, daß Krosac einen Versuch unternimmt, über Megara, die einzige Informationsquelle, herauszufinden, wo sich Van aufhält. Krosac hat abgewartet, bis ihm der Zeitpunkt günstig erschien. Und dann hat er Megara umgebracht! Das kann nur eines bedeuten!«

»Er hat es herausgefunden!« krächzte Yardley, dessen dunkle Stimme unter dem Gewicht dieser Erkenntnis gebrochen war. »Mein Gott, Queen, wie blind müssen wir gewesen sein! Hoffentlich ist es noch nicht zu spät!«

Ellery verzichtete, um Zeit zu sparen, auf einen Kommentar, und hastete statt dessen zum Telefon. »Western Union ... Ich möchte ein Telegramm aufgeben. Bitte so schnell wie möglich. Adressiert an Constable Luden in Arroyo, West Virginia ... Ja. Text: ›Steigen Sie sofort mit zuverlässigem Trupp zu Old Petes Hütte hoch. Schützen Sie ihn, bis ich da bin. Benachrichtigen Sie Crumit. Krosac kehrt zurück. Falls es bereits zu spät ist, verfolgen Sie Krosacs Spur, aber rühren Sie am Tatort nichts an.‹ Absender Ellery Queen. Bitte wiederholen Sie ... Krosac. K-r-o-s-a-c. Genau ... Danke.«

Er knallte den Hörer auf die Gabel, überlegte es sich jedoch noch einmal anders und nahm ihn wieder ab. Er rief im Nachbarhaus an, um mit Inspector Vaughn zu sprechen, erfuhr jedoch von Stallings, daß der Inspector Bradwood vor kurzem überstürzt verlassen hatte; Ellery ließ Stallings kaum zu Wort kommen, sondern verlangte gereizt, einen seiner Männer an den Apparat zu holen. Wo, bitte, war Vaughn? Der Mann am anderen Ende bedauerte, keine Auskunft geben zu können, er wisse es auch nicht. Der Inspector hatte eine Nachricht erhalten und war zusammen mit Staatsanwalt Isham unverzüglich aufgebrochen.

»Verflucht«, stöhnte Ellery, als er den Hörer einhängte. »Was machen wir jetzt bloß? Wir dürfen auf keinen Fall Zeit verschwenden!« Er stürzte ans Fenster und schaute hinaus. Das

Unwetter war noch schlimmer geworden; es regnete sintflutartig, Blitze zuckten am dunkelgrauen Himmel, und das Donnergrollen nahm kein Ende mehr. »Hören Sie«, sagte Ellery, indem er sich umwandte. »Sie müssen zurückbleiben, Professor!«

»Ich lasse Sie nicht allein hinaus«, entgegnete Yardley gekränkt. »Besonders bei diesem Sturm. Wie wollen Sie denn überhaupt da hinkommen?«

»Machen Sie sich darum keine Sorgen. Sie bleiben hier und versuchen Ihr Möglichstes, um Vaughn und Isham zu kontaktieren!« Ellery sprang erneut zum Telefon. »Den Flugplatz von Mineola. Schnell, bitte!«

Der Professor strich sich beklommen durch seinen Bart, während Ellery wartete. »Queen, Junge, jetzt nehmen Sie bitte augenblicklich Vernunft an! Sie können doch bei dem Wetter unmöglich fliegen!«

Doch Ellery winkte nur ab. »Hallo? Hallo? Mineola? Bitte eine schnelle Maschine für einen Sofortflug nach Südwesten! Was?« Ellery machte ein enttäuschtes Gesicht und legte auf. »Sogar die Elemente haben sich gegen mich verschworen! Über dem Atlantik ist ein Sturm aufgezogen, der in südwestliche Richtung zieht. In den Alleghenies soll es besonders schlimm werden, sagt der Mann vom Flugplatz, es wird in absehbarer Zeit keine Starterlaubnis gegeben. Was zum Teufel soll ich bloß machen?«

»Fahren Sie mit der Bahn«, schlug Yardley vor.

»Ach was! Ich vertrau‘ einfach dem alten Duesie! Könnten Sie mir einen Regenmantel borgen, Professor?«

Sie eilten in den Flur; Yardley öffnete einen Schrank, holte eine lange Regenjacke heraus und half Ellery hinein. »Und seien Sie nicht leichtsinnig! Es ist ein offener Wagen, die Straßen werden in einem unmöglichen Zustand sein, Sie haben eine furchtbar lange Fahrt ...«

»Ich pass‘ schon auf. Außerdem ist Luden vor Ort.« Er öffnete entschlossen die Tür, und Yardley folgte ihm in die Vorhalle. Ellery hielt dem Professor die Hand hin. »Wünschen Sie mir Glück, Sie alter Miesepeter. Oder vielmehr Van!«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, brummelte der Professor, während er Ellery Ewigkeiten die Hand drückte. »Ich werde alles daransetzen, Vaughn und Isham zu finden. Passen Sie auf sich auf, Junge. Sind Sie wirklich sicher, daß es sein muß? Daß Sie sich nicht umsonst den Naturgewalten preisgeben?«

Ellery erwiderte verbissen: »Krosac hat Megara in den vergangenen Wochen nur aus einem Grund verschont -er wußte nicht, wo sich Van aufhält. Wenn er Megara schließlich doch umgebracht hat, dann heißt das, er weiß nun, daß Van sich als Old Pete verkleidet und sich in einer bestimmten Hütte in den Bergen versteckt. Vermutlich hat er Megara diese Information entlockt, bevor er ihn tötete. Ich habe die moralische Pflicht, einen vierten Mord zu verhindern. Krosac ist mit Sicherheit in diesem Moment unterwegs nach West Virginia. Bleibt nur zu hoffen, daß er sich gestern nacht ein bißchen Schlaf gegönnt hat. Wenn nicht -« Er zuckte mit den Schultern, lächelte Yardley aufmunternd zu und flitzte, von Blitzen in unwirkliches Licht getaucht, durch den Regen in die seitliche Einfahrt zu der Garage, in der der alte Sportwagen stand.

Yardley sah ihm traurig nach und schaute mechanisch auf seine Armbanduhr. Es war genau ein Uhr.


27. Auf und davon


Ellerys Duesenberg schlängelte sich durch New York City, jagte durch den Holland-Tunnel, wich dem Verkehr in Jersey City aus, raste durch ein Gewirr von Städten in New Jersey und kam schließlich auf die gerade, nahezu verlassene Hauptstraße nach Harrisburg, auf der er pfeilschnell entlangschoß. Der Sturm war noch immer nicht abgeflaut; Ellery flehte Fortuna um Gnade an, während er gleichzeitig die Gesetze der Geschwindigkeit vergewaltigte. Die Göttin war ihm hold; in Pennsylvania passierte er eine Stadt nach der anderen, ohne von Motorrädern der Polizei behelligt zu werden.

In dem alten Wagen, der keinerlei Schutz vor dem Regen bot, stand längst das Wasser; in Ellerys Schuhen gluckste es, und von seinem Hut tropfte es ihm ständig ins Gesicht. Zum Glück hatte er im Wagen eine Rennfahrerbrille gefunden. Mit der Regenjacke über dem Leinenanzug, dem hellen Filzhut, der schlapp über seinen Ohren hing, der gelben Rennfahrerbrille über seinem Pincenez und dem verbissenen Gesichtsausdruck, mit dem er hinter dem riesigen Lenkrad kauerte und den Duesenberg durch die sturmgepeitschte Landschaft Pennsylvanias steuerte, gab er eine groteske Figur ab. Gegen Abend, es war ein paar Minuten vor sieben, erreichte er endlich Harrisburg. Es schüttete immer noch, er schien im Gefolge des Regenschauers zu fahren.

Sein leerer Magen erinnerte ihn nachdrücklich daran, daß er nicht zu Mittag gegessen hatte. Er parkte den Duesenberg in einer Garage, gab dem Mechaniker seine Anweisungen und machte sich auf die Suche nach einem Restaurant. Es dauerte keine Stunde, bis er wieder zurück war. Öl und Reifen waren überprüft und der Tank gefüllt. Schon jagte er stadtauswärts; während er klamm und fröstelnd hinter dem Steuer saß, war er doch froh, sich die Route so genau gemerkt zu haben. Zehn Kilometer weiter hatte er Rockville passiert, überquerte bald den Susquehanna River und holte aus dem alten Wagen heraus, was er nur hergab. Zwei Stunden später kreuzte er den Lincoln Highway, blieb jedoch stur auf seiner Route. Der starke Regen

hielt an.

Als er um Mitternacht völlig durchgefroren und erschöpft war und ihm ständig die Augen zufielen, fuhr er nach Hollidaysburg hinein. Wieder stoppte er zuerst bei einer Tankstelle; nach einer lebhaften Auseinandersetzung mit dem grinsenden Mechaniker machte er sich zu Fuß auf die Suche nach einem Hotel. Der Regen peitschte gegen seine durchnäßten Beine.

»Eine Übernachtung bitte«, stotterte er mit steifen Lippen an der Rezeption des kleinen Hotels, das er schließlich gefunden hatte. »Wäre es auch möglich, meine Kleider zu trocknen und mich morgen um sieben Uhr zu wecken?«

»Selbstverständlich, Mr. Queen«, erwiderte der Mann an der Rezeption, nachdem er einen Blick auf Ellerys Unterschrift geworfen hatte.

Am nächsten Morgen trat ein erholter Ellery mit trockenen Kleidern und einer großen Portion Eiern mit Schinken im Magen den letzten Abschnitt seiner langen Reise an. Wenn er zur Seite schaute, zogen die Verwüstungen an ihm vorbei, die der Sturm angerichtet hatte - entwurzelte Bäume, über die Ufer getretene Flüsse, Autowracks am Straßenrand. In den frühen Morgenstunden war der Sturm, nachdem er die ganze Nacht gewütet hatte, unerwartet abgeflaut. Doch noch immer bedeckten schwere graue Wolken das Land.

Um Viertel nach zehn fuhr Ellery durch Pittsburgh. Um halb zwölf schließlich hielt er mit quietschenden Reifen vor dem Rathaus von Arroyo, während die Sonne zaghaft durch die Wolken brach und die Gipfel der Alleghenies in ihr Licht tauchte.

Ein Mann in blauem Jeansanzug, an den Ellery sich vage erinnerte, fegte vor dem Eingang des Gebäudes den Bürgersteig.

»Moment mal, Mister«, protestierte der Einheimische, ließ

seinen Besen fallen und packte Ellery beim Arm, bevor er vorbeistürmen konnte. »Wo wollnse hin? Wen wollnse sprechen?«

Statt zu antworten, riß Ellery sich los und eilte mit großen Schritten durch die düstere Eingangshalle hindurch zum hinteren Teil des Gebäudes, in dem sich Constable Ludens Büro befand, doch die Tür war geschlossen; und soweit er sehen konnte, hielt auch sonst niemand in Arroyos Stadtzitadelle die Stellung. Er drückte die Klinke herunter -die Tür war nicht abgeschlossen. Der Mann mit dem sturen Bauerngesicht war hinter ihm her geschlurft.

Constable Ludens Büro war leer.

»Wo ist der Constable?« fragte Ellery.

»Genau das wollt‘ ich Ihn‘ eben schon sagen. Er is‘ nich‘ da.«

»Aha!« Ellery nickte wissend. Luden war also in den Bergen. »Und seit wann ist er fort?«

»Seit Montach morgen.«

»Was?« Ellerys Stimme überschlug sich vor Entsetzen. Er glaubte, die Katastrophe bereits zu wittern. »Um Himmels willen, dann hat er auch mein Telegramm nicht -« Er machte einen Satz zu Ludens Schreibtisch, auf dem sich ungeordnete Blätter stapelten. Der Mann in Jeans machte eine hilflose Handbewegung, als Ellery Ludens offizielle Korrespondenz durchwühlte, sofern von solcher die Rede sein konnte. Wie befürchtet, lag der gelbe Umschlag ungeöffnet da. Er riß ihn mit zitternden Fingern auf und las:

CONSTABLE LUDEN ARROYO WEST VIRGINIA

STEIGEN SIE MIT ZUVERLASSIGEM TRUPP ZU OLD PETES HÜTTE HOCH SCHÜTZEN SIE IHN BIS ICH DA BIN BENACHRICHTIGEN SIE CRUMIT FALLS ES BEREITS ZU SPÄT IST VERFOLGEN SIE KROSACS SPUR

ABER RÜHREN SIE AM TATORT NICHTS AN ELLERY QUEEN

In den krassesten Farben entstand vor Ellerys innerem Auge das Schreckensbild; ein fataler Zufall hatte alle seine Mühen zunichte gemacht, das Telegramm hatte er umsonst abgeschickt. Der Mann in Jeans erklärte ihm geduldig, daß der Constable und der Bürgermeister Mat Hollis vor zwei Tagen auf ihre alljährliche Angeltour gegangen waren; normalerweise blieben sie eine Woche fort, schlugen irgendwo ihr Zelt auf und angelten im Ohio und seinen Nebenflüssen. Vor Sonntag war nicht mit ihnen zu rechnen. Das Telegramm war am Vortag um kurz nach drei angekommen; der Mann in Jeans, nach eigener Auskunft Hausmeister und Mädchen für alles, hatte es in Empfang genommen, unterschrieben und auf Ludens Schreibtisch gelegt, wo es eine Woche gelegen hätte, wenn Ellery nicht nach Arroyo gekommen wäre. Der Hausmeister setzte gerade zu einem längeren Vortrag an, doch Ellery fegte ihn mit einem Anflug des Entsetzens in den Augen zur Seite, lief zu Arroyos Hauptstraße zurück und sprang in den Duesenberg.

Er bog mit brüllendem Motor um die Ecke und nahm die Route, die er von seiner ersten Exkursion mit Isham und Luden noch rekonstruieren konnte. Er hatte keine Zeit mehr, sich mit Bezirksstaatsanwalt Crumit von Hancock County oder Colonel Pickett in Verbindung zu setzen. Wenn das Befürchtete noch nicht eingetreten war, würde er mit jeder Situation fertig werden; in der Seitentasche des Sportwagens steckte eine geladene Automatic. Wenn es aber zu spät war ...

Er ließ den Duesenberg in dem Gebüsch zurück -die Spuren seines letzten Ausfluges waren trotz des Regens noch schwach zu erkennen -und begann mit der Automatic in der Hand den mühsamen Aufstieg zur Hütte auf den bis zur Unkenntlichkeit zugewachsenen Pfad, dem Constable Luden damals gefolgt war. Er schlug sich geschwind, doch vorsichtig durchs Gebüsch und war finster entschlossen, sich nicht unangenehm überraschen zu lassen. Doch in dem dichten Wald herrschte vollkommene Stille. So stieg er höher und höher, betete, daß er noch rechtzeitig kam, doch alle Zeiger standen auf Alarm. Wahrscheinlich kam er zu spät.

Er versteckte sich hinter einem Baum und ließ einen Blick über die Lichtung schweifen. Der Zaun war intakt. Obwohl die Eingangstür geschlossen war, spürte er frischen Mut in seinen Adern. Dennoch wollte er keinerlei Risiken eingehen. Er entsicherte die Automatic und kroch lautlos hinter dem Baum vor. Hatte er da am stacheldrahtbewehrten Fenster das vertraute bärtige Gesicht von Old Pete gesehen? Nein, seine überreizten Nerven gaukelten ihm Wahnbilder vor. Er kletterte mit linkischen Bewegungen über den Zaun, die Waffe fest in der Hand. Dann bemerkte er die Fußspuren.

Er blieb ewige drei Minuten stehen, während die Abdrücke in der feuchten Erde ihm ihre Geschichte erzählten. Schließlich wandte er seinen Blick von den unheimlichen Fußspuren ab und machte einen großen Bogen um sie.

Die Tür der Hütte war, wie er jetzt erst sah, nur angelehnt und stand einen Spaltbreit offen.

Mit der Automatic in der rechten Hand beugte er sich vor und horchte. Aus dem Innern der Hütte drang kein einziger Laut. Er richtete sich wieder auf und drückte mit einer heftigen, schnellen Bewegung die Tür auf, so daß sie knarrend zurückschwang und den Blick ins Innere freigab

Ein paar Herzschläge lang stand er so da, mit seiner Waffe in der rechten Hand, und starrte auf die grauenvolle Szene vor ihm. Dann sprang er über die Schwelle und verriegelte die Tür hinter sich.

Um zehn vor eins hielt der Duesenberg wieder vor dem Rathaus, und Ellery sprang auf den Bürgersteig. Was für ein seltsamer junger Mann, mußte der Hausmeister bei sich gedacht haben, denn Ellerys Haar war zerzaust, in seinen Augen loderte ein unheimliches Feuer, und er kam mit einer solchen Fratze auf ihn zu, daß einem angst und bange werden konnte.

»Hallo«, sagte der Mann in Jeans unsicher. Noch immer fegte er in der staubigen Hitze den Bürgersteig. »Gut, dasse wiedergekomm sin‘, Mister. Ich wollt‘s Ihnen vorhin schon sagen, aber ich bin einfach nich‘ dazu gekomm‘. Sie heißen nich‘ zufällig -«

»Hören Sie«, keuchte Ellery. »Sie scheinen der einzige von all den pflichtbewußten Ordnungshütern dieser Stadt zu sein, der zur Zeit nicht gerade zufällig angelt! Ich habe einen dringenden Auftrag für Sie! Es müßten bald ein paar Männer aus New York hier eintreffen. Selbst wenn es noch Stunden dauert - warten Sie hier! Haben Sie verstanden?«

»Ähm, schon«, erwiderte der Hausmeister und stützte sich auf seinen Besen. »Aber ich weiß nich‘ so recht. Sagense, Se heißen nich‘ zufällig Queen, oder?«

Ellery war verdutzt. »Doch. Wieso?«

Der Hausmeister hielt kurz inne, spie einen Strahl brauner Flüssigkeit aus und fischte dann aus den Tiefen seiner geräumigen Jeanstaschen ein gefaltetes Blatt Papier. »Ich wollt‘ Ihn‘ das schon die ganze Zeit geben, aber Sie ham mir ja einfach nich‘ zugehört, Mr. Queen. So‘n großer, häßlicher Kerl hat mir den Brief für Sie gegeben. Sah aus wie der alte Abe Lincoln, so wahr ich hier stehe!«

»Yardley!« rief Ellery freudig und schnappte dem Hausmeister das Blatt aus der Hand. »Mann, warum zum Teufel haben Sie mir das nicht früher gesagt?« In seiner Eile, das Blatt zu entfalten, zerriß er es fast.

Es handelte sich um eine eilig mit Bleistift hingekritzelte

Nachricht mit der Unterschrift des Professors.

Lieber Queen!

Moderne Magie hat mir dazu verholfen, Ihnen zuvorzukommen. Erklärung wie folgt: Sowie Sie aus der Tür waren, habe ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Vaughn oder Isham an den Apparat zu bekommen. Leider vergeblich. Dennoch habe ich in Erfahrung gebracht, daß sie gerade einem vielversprechenden Hinweis aus Massachusetts zum Aufenthaltsort der Lynns nachgehen. Ihre Nachricht habe ich Vaughns Leuten anvertraut. Der Gedanke daran, daß Sie im Alleingang einen zu allem entschlossenen Irren stellen, war mir von vornherein unerträglich. In Bradwood tut sich ohnehin nichts. Dr. Temple ist auf dem Weg nach New York, um seine widerspenstige Braut zu zähmen, wie ich annehme.

Habe in der Sturmnacht kein Auge zugetan. Als das Unwetter dann um sechs herum nachließ, bin ich nach Mineola aufgebrochen. Ein Privatmann, der in südwestlicher Richtung flog, war so freundlich, mich mitzunehmen und in der Nähe von Arroyo zwischenzulanden. Das war heute morgen um zehn (habe den Brief zum größten Teil im Flugzeug geschrieben).

Später: Ich finde einfach niemanden, der von einer Hütte in den Bergen wüßte! Luden ist nicht da, und die Stadt ist wie ausgestorben.

Ihr Telegramm hat ihn vermutlich nicht mehr rechtzeitig erreicht. Befürchten Sie das Schlimmste, zumal hier um halb zwölf ein hinkender Mann gesehen worden ist.

Er soll eine kleine Tasche dabei gehabt haben (es muß sich um Krosac handeln -die Beschreibung ist sehr vage, weil der Mann vermummt war) und um halb zwölf letzte Nacht in Yellow Creek -von Arroyo aus gesehen anderes Ufer des Ohio ­jemanden beauftragt haben, ihn nach Steubenville, Ohio, zu bringen. Ich habe mit dem Fahrer gesprochen, er hat Krosac an

einem Hotel abgesetzt ... Ich werde seine Spur persönlich verfolgen; damit Sie im Bilde sind, habe ich meine Nachricht für Sie diesem Intelligenzwunder von Hausmeister gegeben. Bitte kommen Sie sofort nach Steubenville! Sollte sich zwischenzeitlich eine weitere Spur auftun, hinterlasse ich Ihnen im Fort-Steuben-Hotel eine Nachricht. In Eile,

Yardley

Ellery verdrehte verärgert die Augen. »Wann hat Ihr Freund Abraham Lincoln diese Nachricht hinterlassen?«

»Um elf oder so«, murmelte der Mann in Blau. »Jedenfalls nich‘ lange, bevor Sie da war‘n.«

»Ich begreife langsam«, grollte Ellery, »was in Menschen vorgeht, bevor sie zu Mördern werden ... Wann hat letzte Nacht der Regen aufgehört?«

»Ne Stunde oder so vor Mitternacht. Überm Fluß aber hat‘s noch bis zum Morgengrauen geschüttet. Aber hörense, Mr. Queen, meinense nich -«

»Nein«, erwiderte Ellery bestimmt. »Händigen Sie diese Nachricht den Männern aus New York aus, sobald sie hier eintreffen.« Er kritzelte eine zusätzliche Notiz auf die Rückseite des Blattes und drückte es dem Hausmeister in die Hand. »Bleiben Sie hier -fegen Sie den Bürgersteig, kauen Sie Ihren Tabak -, aber bleiben Sie genau hier, bis die Polizei da ist. Isham. Vaughn. Polizei. Verstanden? Soll Ihr Schaden nicht sein.«

Er steckte dem Mann einen Schein zu, sprang in seinen Duesenberg und raste Arroyos Hauptstraße hinunter. Übrig blieben nur Wolken aus Staub.


28. Zum zweiten Mal tot


Am Mittwoch morgen, um acht Uhr in der Frühe, rollte ein Polizeiwagen die Einfahrt von Bradwood hoch. Vaughn und Isham, der einen seiner Männer dabei hatte, waren erschöpft, aber in Hochstimmung. Auf den Rücksitzen saßen mißmutig und mit finsteren Mienen Percy und Elizabeth Lynn.

Das britische Diebespaar wurde unter strenger Bewachung nach Mineola gebracht. Der Inspector streckte gerade genüßlich seine Glieder, als sein Leutnant Bill armewedelnd auf sie zu stürmte und schneller sprach, als er Luft holen konnte. Während er Professor Yardleys Nachricht las, wich seine Sonntagslaune nervöser Sorge. Isham stieß ein paar halbherzige Flüche aus.

»Was machen wir jetzt?«

»Hinfliegen natürlich!« brummte Vaughn und kletterte in den Polizeiwagen zurück. Isham kratzte sich an der kahlen Stelle seines Hinterkopfes und folgte ihm resigniert.

Am Flugplatz von Mineola erfuhren sie, daß Yardley um sechs Uhr morgens ein Flugzeug gechartert hatte und in südwestliche Richtung geflogen war. Zehn Minuten später waren sie in der Luft und ließen sich von der dreimotorigen Maschine mit demselben Ziel in südwestliche Richtung fliegen.

Um halb zwei trotteten sie endlich nach Arroyo hinein. Die Maschine war einen knappen Kilometer außerhalb des Städtchens auf einer Weide gelandet und hatte ihre Passagiere dort abgesetzt. Zielstrebig gingen sie auf das Rathaus zu. Ein Mann in blauem Jeansanzug saß friedlich schnarchend auf den Eingangsstufen; zu seinen Füßen lag ein ausgefranster Besen. Als der Inspector ihn anstieß, erhob er sich taumelnd.

»Kommse aus New York?«

»Ja.«

»Vaughn und Ish‘m oder so ähnlich?«

»Ja.«

»Dann hab‘ ich ‘ne Nachricht für Sie.« Der Hausmeister öffnete seine riesige Faust; darin lag -zerknittert, schmutzig,

feucht, aber vollständig - die Nachricht des Professors.

Sie lasen schweigend und drehten das Blatt herum. Ellery hatte einen Nachtrag dazugekritzelt:

Yardleys Zeilen sprechen für sich. Ich war in der Hütte. Furchtbare Schweinerei da oben. Gehen Sie sofort hoch. Die kreisförmig verlaufenden Fußspuren sind meine, die anderen allerdings ... Schauen Sie es sich selbst an.

Beeilen Sie sich, Q.

»Es ist passiert«, stöhnte Isham.

»Wann hat Mr. Queen Arroyo verlassen?« fauchte Vaughn.

»So um eins«, antwortete der Hausmeister schläfrig. »Sagense ma‘, Captain, was is‘n eigentlich hier los? Alle schnüffelnse auf emma‘ hier rum.«

»Kommen Sie, Isham«, sagte der Inspector. »Zeigen Sie mir den Weg. Wir müssen zuerst zur Hütte rauf.«

Sie bogen um die nächste Ecke und ließen den Mann in Jeans kopfschüttelnd zurück.

Die Tür war geschlossen.

Isham und Vaughn kletterten umständlich über den Stacheldrahtzaun. »Nicht über die Abdrücke laufen«, mahnte Vaughn. »Aha ... Die hier, die im Halbkreis verlaufen, sind von Queen. Und die anderen ...«

Sprachlos standen sie da und folgten mit den Augen den Spuren, die Ellery erst eine Stunde zuvor aufgefallen waren. Es handelte sich um zwei Spurenabschnitte, die von denselben Schuhen stammten. Ellerys Fußabdrücke waren die einzigen, die andere Spuren hinterlassen hatten. Die beiden Doppelspuren waren klar zu deuten: Die erste führte vom Zaun zur Hütte, die andere leicht abweichend zurück zum Zaun. Hinter dem Zaun endeten sie -der felsige Untergrund war härter als jeder Schuh.

Die Abdrücke, die der Mörder auf dem Weg zur Hütte hinterlassen hatte, waren tiefer als diejenigen, die entstanden waren, als er sie wieder verließ; ebenso war der Abdruck des rechten Fußes durchgängig tiefer als der des linken.

»Klares Hinken«, murmelte Vaughn. »Aber die erste Spur ­seltsam.« Er machte wie Ellery einen Bogen darum und öffnete die Tür. Isham tapste vorsichtig hinterher.

Blankes Entsetzen erfüllte sie angesichts der Szenerie.

An der gegenüberliegenden Holzwand hing die Leiche eines Mannes -und wirkte vor dem rustikalen Hintergrund wie eine Jagdtrophäe. Der Kopf fehlte; die Beine hatte man nebeneinander ans Holz genagelt. Der zerlumpten Kleidung Old Petes nach zu urteilen, war es die Leiche des unglücklichen Schulmeisters.

Blut war auf den Steinfußboden getropft, Blut war überall an die Wände gespritzt. Der vormals saubere, gemütliche Innenraum glich dem Allerheiligsten eines Schlachthofes. Die Schilfmatten waren von dicken roten Flecken übersät; selbst den Boden zierten verschmierte Streifen. Die Platte des stabilen alten Tisches, der zuvor freigeräumt worden war, hatte als Tafel gedient, und auf ihr prangte ein überdimensionaler Buchstabe aus Blut - das vertraute große T, mit dem Krosac seine Morde zu signieren pflegte.

»Jesus«, stammelte Vaughn. »Das dreht einem den Magen um! Wenn ich diese Bestie in die Finger kriege, werde ich ihm mit meinen bloßen Händen die Kehle zudrücken, bis er krepiert, auch wenn es mich meine Marke kostet!«

»Ich muß mal eben raus«, keuchte Isham heiser. »Mir ist flau.« Er taumelte aus der Hütte und lehnte sich, von Würgekrämpfen geschüttelt, gegen die Außenwand.

Vaughn kniff ein Auge zu, atmete tief durch und ging quer durch den Raum, vermied es jedoch, in eine der verkrusteten Blutlachen zu treten. Er berührte die Leiche; sie war stocksteif.

Dunkle Streifen rannen rötlich aus den Wunden, die die Nägel ins Fleisch gebohrt hatten. »Seit fünfzehn Stunden tot«, dachte Vaughn und ballte die Fäuste. Mit bleichem Gesicht starrte er auf den Gekreuzigten. Ein dunkelrotes Loch, dort, wo der Kopf gewesen war, die Arme hilflos ausgebreitet, die Beine gestreckt und zusammengebunden, war der Körper zu jenem monströsen T aus Menschenfleisch verformt ... Eine Choreographie des Grauens, die auch dem Leibhaftigen Respekt abnötigte.

Vaughn versuchte, den Schwindel abzuschütteln, und machte einen Schritt rückwärts. Wie durch Nebelschwaden hindurch registrierte er, daß es einen Kampf gegeben haben mußte. In der Nähe des Tisches lagen einige Gegenstände auf dem Boden, die keine andere Deutung zuließen. Eine schwere Axt, an deren Griff und Klinge getrocknetes Blut klebte, hatte offenbar dazu gedient, Andreja Tvar den Kopf abzuschlagen. Daneben lag ein Kranz aus Verbandszeug wie ein platter Doughnut, der sich auf einer Seite mit bräunlich-roter Flüssigkeit vollgesogen hatte. Der Inspector bückte sich und hob ihn auf. Er fiel auseinander, und er sah zu seinem Erstaunen, daß die Gaze mit einem scharfen Gegenstand durchgeschnitten worden war. Mit einer Schere, dachte Vaughn und ließ seinen Blick suchend über den Boden gleiten ... Zwei Meter entfernt lag eine große Schere, als wäre sie in großer Eile achtlos dorthin geschleudert worden.

Vaughn ging zum Eingang zurück; Isham sah zwar blaß und elend aus, schien sich aber zumindest partiell erholt zu haben. »Was halten Sie davon?« fragte Vaughn, indem er Isham den durchtrennten Kranz aus Verbandszeug hinhielt. »Mensch, reißen Sie sich zusammen, Isham, wir haben zu tun!«

Der Staatsanwalt rümpfte angewidert die Nase. »Sieht so aus, als hätte sich jemand damit das Handgelenk verbunden. Muß eine größere Wunde gewesen sein, bei all dem Blut und dem Jod.«

»Genau«, sagte Vaughn. »Das Handgelenk. Jedenfalls wüßte

ich keinen anderen Körperteil mit so geringem Durchmesser; nicht einmal die Fußgelenke kommen in Frage. Mr. Krosac läuft zur Zeit mit einem ordentlichen Katscher am Handgelenk herum.«

»Entweder hat es einen Kampf gegeben, oder er hat sich aus Versehen geschnitten, während -während er die Leiche bearbeitet hat«, mutmaßte Isham und schüttelte sich. »Aber warum hat er den Verband hier liegenlassen, wo wir ihn mit Sicherheit finden?«

»Ganz einfach. Schauen Sie sich an, wie blutig er ist. Krosac muß sich zu Beginn des Kampfes, oder was immer hier stattgefunden hat, verletzt und stark geblutet haben. Den alten Verband hat er später abgeschnitten und sich einen neuen angelegt ... Er hat ihn hier liegenlassen, weil er es verdammt eilig hatte, aus der Gegend zu verschwinden. Und riskiert hat er dabei auch nichts. Wahrscheinlich hat er sich an einer Stelle verletzt, die sich gut verbergen läßt -unter Manschetten zum Beispiel. Lassen Sie uns wieder reingehen.«

Isham schluckte und folgte dem Inspector tapfer in die Hütte. Vaughn wies stumm auf die Axt, auf die Schere und auf eine große Flasche aus undurchsichtigem blauen Glas, die neben der Stelle lag, an der Vaughn den benutzten Verband gefunden hatte. Die Flasche hatte kein Etikett; ihr Inhalt war zum größten Teil auf den Boden ausgelaufen. Der Verschlußkorken lag neben einer angebrochenen Rolle frischen Verbandszeugs. »Jod«, sagte Vaughn. »Damit wäre der Hergang klar. Er hat die Flasche von dem Medizinregal da drüben genommen, als er sich verletzt hatte, und sie dann einfach auf dem Tisch stehenlassen. Später hat er sie dann aus Versehen umgeworfen oder einfach fallen lassen -was kümmerte ihn schon die Jodflasche. Das dicke Glas hat standgehalten und ist nicht zerbrochen.«

Sie gingen zusammen zu der Wand hinüber, an der der Tote hing; einen guten Meter neben ihm, in einer Ecke, befand sich über dem Waschgestell mit Pumpvorrichtung jenes Regal, das Isham bereits bei seinem ersten Besuch aufgefallen war. Bis auf zwei leere Stellen war das Regal voll; darauf standen eine große blaue Packung mit Watte, eine Tube Zahnpasta, Pflaster, je eine Rolle Verbandszeug und Mullbinde, zwei kleine Fläschchen ­eines mit der Aufschrift »Jod«, das andere mit der Aufschrift »Mercurochrom«; diverse weitere Flaschen und Dosen ­Abführmittel, Aspirin, Zinksalbe, Vaseline und ähnliches.

»Klarer Fall«, sagte Vaughn, »er hat Vans Hausapotheke geplündert. Das Verbandszeug und die große Jodflasche hat er aus dem Regal genommen - und war mit Wichtigerem beschäftigt, als die Sachen wieder zurückzuräumen.«

»Augenblick mal«, protestierte Isham. »Ist es nicht voreilig anzunehmen, daß es Krosac war, der verletzt worden ist? Könnte es nicht auch der arme Kerl an der Wand gewesen sein? Ich meine -wenn nicht Krosac sich verletzt hätte, wäre es doch ziemlich sinnlos, nach einem Mann mit einer Wunde am Handgelenk zu suchen.«

»Gar nicht so dumm«, murmelte Vaughn. »Auf diese Möglichkeit war ich gar nicht gekommen. Aber -« Er warf seine kräftigen Schultern zurück. »Das läßt sich leicht feststellen. Wir müssen dafür allerdings die Leiche runterholen.« Er ging mit forschen Schritten zur Wand.

»Oh, Inspector«, winselte Isham. »Ich -ich glaube, ich meine, mir ist schon so schlecht -«

»Hören Sie«, schnauzte Vaughn. »Ich mache das genauso ungern wie Sie, aber es ist Teil unserer gottverdammten Pflicht! Jetzt kommen Sie schon!«

Zehn Minuten später lag der verstümmelte Körper auf dem Boden. Die Nägel hatten sie ihm aus Handflächen und Füßen gezogen und dem Toten die Lumpen vom Leib gerissen. Nun lag er nackt und fahl vor ihnen -Gottes Ebenbild war zur Farce geworden. Isham lehnte an der Wand und preßte die Hände gegen seinen Bauch. Allein der Inspector brachte die Kraft auf, das nackte Fleisch nach Wunden abzusuchen und das starre Ding schließlich umzudrehen, um seine Untersuchungen fortzusetzen.

»Nein«, sagte er, als er wieder aufstand. »Keine Wunden außer den Löchern in Händen und Füßen. Die Verletzung am Handgelenk hat Krosac sich zugezogen.«

»Bitte, Vaughn, ich muß hier raus!«

Die Männer kehrten in tiefem Schweigen nach Arroyo zurück und schnappten gierig nach der frischen Luft. Vaughn suchte ein Telefonhäuschen, ließ sich mit der Bezirkshauptstadt Weirton verbinden und sprach fünf Minuten mit Staatsanwalt Crumit. Dann hängte er ein und gesellte sich wieder zu Isham.

»Crumit hält dicht«, sagte Vaughn voller Hohn. »Der ist aus allen Wolken gefallen! Aber er hält dicht, und das ist alles, was mich interessiert. Er kommt mit Colonel Pickett und dem Coroner runter. Ich hab‘ ihm gleich gesagt, das wir uns, was die neueste Leiche von Hancock County angeht, ein paar Freiheiten herausgenommen haben.« Er lachte sarkastisch, während sie auf dem Weg zu der kleinen Garage Arroyos Hauptstraße hinuntergingen. »Jetzt müssen sie den Tod Andrew Vans zum zweiten Mal gerichtlich untersuchen.«

Isham sagte nichts, noch immer hatte die Übelkeit seinen Magen fest im Griff. Sie mieteten einen schnellen Wagen und jagten -etwa anderthalb Stunden später als Ellery -aus der Stadt in Richtung Ohio, der Brücke und Steubenville. Auch sie hinterließen nichts als eine Wolke aus Staub.


HERAUSFORDERUNG AN DEN LESER

Wer ist der Mörder? Ich habe es in meinen Romanen bislang immer so gehalten,

den Leser an jenem Punkt zum geistigen Duell herauszufordern, an dem er im Besitz sämtlicher Informationen ist, die er benötigt, um den Fall -oder die Fälle -zu lösen. Das ägyptische Kreuz ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme: Leiten Sie aus den gegebenen Fakten die logischen Schlußfolgerungen ab, und Sie sind in der Lage, die Identität des Mörders nicht nur zu erraten, sondern zu beweisen -und zwar ohne Wenn und Aber!

Die einzig mögliche Lösung erfahren Sie im Schlußkapitel.

Die hohe Kunst des logischen Deduzierens erfordert zwar das Wohlwollen Fortunas nicht -dennoch wünsche ich Ihnen viel

Glück bei der Auflösung!

ELLERY QUEEN


29. Umwege


Dieser Mittwoch war der Auftakt zu einer beispiellosen Menschenjagd; in keinem der vier beteiligten Bundesstaaten hatte man hei der Aufklärung eines Serienmordes je ein solches Finale erlebt. Die Strecke, die dabei mit Autos, Schnellzügen und Flugzeugen im Zickzackkurs zurückgelegt wurde, umfaßte fast tausend Kilometer. Fünf Männer nahmen daran teil -und ein sechster, mit dem niemand gerechnet hatte. Neun Stunden dauerte sie von dem Augenblick an, in dem Ellery Steubenville erreichte, neun Stunden, die allen -außer dem Anführer -wie neun Jahrhunderte erschienen.

Es war eine Jagd in dreifachem Sinne ... Kurios, wie sie sich gegenseitig verfolgten, während der Gejagte immer knapp außer Reichweite blieb und keiner es sich leisten konnte, zu schlafen oder seinen Hunger zu stillen.

Am Mittwoch nachmittag um halb zwei - während Staatsanwalt Isham und Inspector Vaughn zum Rathaus von Arroyo trotteten - brauste Ellery in seinem Duesenberg in das geschäftige Steubenville, erkundigte sich bei einem Schutzmann nach dem Weg und fuhr schließlich vor dem Fort-Steuben-Hotel vor.

Sein Pincenez saß schief auf seiner Nase, und sein Hut war weit in den Nacken gerutscht; offenbar kam er dem Filmklischee eines Reporters so nahe, daß der Mann an der Rezeption sich auf ein Grinsen beschränkte und keine Anstalten machte, ihm das Gästebuch zur Unterschrift zu reichen.

»Sie sind nicht zufällig Mr. Ellery Queen, oder?« fragte er, bevor Ellery Luft holen konnte.

»Doch! Aber - woher wissen Sie?«

»Mr. Yardley hat Sie mir beschrieben«, klärte ihn der Mann an der Rezeption auf, »und mir mitgeteilt, daß Sie heute nachmittag hier eintreffen würden. Er hat eine Nachricht für Sie hinterlegt!«

»Sie sind ein Goldstück!« rief Ellery. »Her damit!«

Die Nachricht war, soweit die Schrift verriet, in großer Eile höchst unprofessoral zu Papier gebracht worden:

Queen: Halten Sie sich nicht damit auf den Mann an der Rezeption zu befragen. Hier alle Informationen, die Sie brauchen: Mann, der Ks Beschreibung entspricht, um Mitternacht hier abgestiegen und um halb acht mit Mietwagen wieder losgefahren. Hat das Hinken gegen bandagierten Arm ausgetauscht (Kopfzerbrechen!). Scheint sich nicht verfolgt zu fühlen, hat sogar verlauten lassen, er führe nach Zanesville. Werde ihm mit Auto folgen. Vage Beschreibung von K. liegt vor. Hinterlasse im Clarendon-Hotel, Zanesville, weitere Nachrichten für Sie.

Yardley

Als Ellery die Nachricht in seiner Westentasche verstaute, strahlte er übers ganze Gesicht. »Wann, bitte, ist Mr. Yardley von hier aufgebrochen?«

»Um die Mittagszeit, mit einem Mietwagen.«

»Nach Zanesville, nicht wahr?« Ellery griff nachdenklich zu einem Telefonhörer: »Den Polizeichef von Zanesville, bitte ... Hallo? Bitte verbinden Sie mich sofort mit dem Chief ... Bitte beeilen Sie sich, es ist dringend! Wer ich bin, tut nichts zur Sache! ... Hallo! Ellery Queen aus New York am Apparat, der Sohn von Inspector Richard Queen -Mordkommission New York ... Ja! Ich befinde mich jetzt in Steubenville und bin einem großen brünetten Mann mit verbundenem Handgelenk auf der Spur, der mit einem Mietwagen unterwegs ist und von einem anderen großen Mann mit Bart verfolgt wird, der ebenfalls einen Mietwagen fährt ... Der erste Mann ist ein gesuchter Mörder ... Ja! Er hat Steubenville um halb acht heute morgen verlassen ... Hm. Da haben Sie wahrscheinlich recht; da wird er längst durch sein. Aber halten Sie bitte trotzdem die Augen offen! Der zweite Mann kann aber noch nicht in Zanesville sein ... Bleiben Sie in Verbindung mit dem Portier des Clarendon-Hotels. Ich werde sobald wie möglich dort sein.«

Er hängte ein und spurtete aus dem Fort-Steuben-Hotel zu seinem Duesenberg, der -wie der Pony Express - unverzüglich in Richtung Westen losklapperte.

Es dauerte nicht lange, bis Ellery das Clarendon-Hotel gefunden hatte, doch begrüßte ihn nicht nur der Portier des Hotels, sondern auch ein gedrungener Mann in Polizeiuniform, der ihm mit ausgestreckter Hand und einem breiten Rotariergrinsen entgegenkam.

»Ja?« fragte Ellery.

»Ich bin Hardy, der Chief hier«, erwiderte der untersetzte Polizist. »Ihr Mann mit dem Kinnbart hat vor kurzem hier angerufen, zumindest hat er sich als solcher ausgegeben. Sieht so aus, als hätte der erste Mann seine Route geändert. Soll nach

Columbus gefahren sein.«

»Himmel, nein!« rief Ellery. »Ich wußte ja, daß er mir am Ende noch die Tour vermasselt. Haben Sie Columbus benachrichtigt?«

»Selbstverständlich. Großer Fisch, Mr. Queen?«

»Groß genug«, gab Ellery kurz zurück. »Ich danke Ihnen, Chief. Ich bin dann -«

»Entschuldigen Sie bitte«, unterbrach der Portier schüchtern. »Der Herr, der heute bei uns war, sagte mir, er werde eine Nachricht im Seneca-Hotel in Columbus hinterlegen. Ich bin mit dem Mann an der Rezeption dort befreundet.«

Ellery verabschiedete sich eilig und ließ ratlose Gesichter zurück.

Um sieben Uhr früh -während Vaughn und Isham sich durch das unübersichtliche Landstraßengeflecht zwischen Steubenville und Columbus quälten -, hielt Ellery, der nach einer halsbrecherischen Fahrt durch Zanesville in Columbus angekommen war, entlang der East Broad Street nach dem Seneca-Hotel Ausschau.

Diesmal stellte sich ihm kein Hindernis in den Weg; unverzüglich händigte ihm der Mann an der Rezeption Yardleys Nachricht aus:

Queen: Hätte mich beinahe abgeschüttelt, der Hund, aber ich bin ihm wieder auf der Spur. War wahrscheinlich keine Absicht, hat es sich wohl anders überlegt und ist nach Columbus gefahren. Ich habe leider unnütz Zeit vergeudet; aber eines ist sicher: K. hat den Ein-Uhr-Zug nach Indianapolis genommen. Versuche gerade, verlorene Zeit mit dem Flieger wettzumachen. Hebe gleich ab! Macht enormen Spaß! Wo bleiben Sie, junger Mann? Vielleicht stelle ich den Fuchs ja in Indianapolis, auch wenn Sie mir dafür den Hals rumdrehen!

y.

Wenn er versucht zu scherzen, dachte Ellery zähneknirschend, wird er vollends unausstehlich ... »Wann hat der Herr die Nachricht geschrieben?« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Um halb sechs, Sir.«

Ellery schnappte sich ein Telefon und verlangte, nach Indianapolis durchgestellt zu werden. Kurze Zeit später sprach er mit dem Polizeihauptquartier. Kaum hatte er seinen Namen genannt, da erfuhr er, dass die Polizei von Columbus Indianapolis bereits informiert hatte; aufgrund der dürftigen Beschreibung hatte sich jedoch nichts ergeben; von dem gesuchten Mann fehlte leider jede Spur.

Ellery hängte kopfschüttelnd ein. »Hat Mr. Yardley sonst nichts für mich hinterlegt?«

»Doch, Sir. Am Flughafen von Indianapolis wartet eine weitere Nachricht auf Sie.«

Ellery zog seine Brieftasche hervor. »Ich schätze prompte Bedienung. Könnten Sie mir sofort eine Maschine chartern?«

Der Mann hinter der Theke lächelte. »Mr. Yardley hat gesagt, Sie würden eine brauchen. Ich habe mir erlaubt, eine für Sie zu chartern, Sir. Die Maschine wartet auf der Rollbahn.«

»Soll der Teufel ihn persönlich holen!« fluchte Ellery, indem er dem Mann einen Schein hinüberschob. »Der verpatzt mir am Ende noch die Pointe! Wessen Fall ist das eigentlich?« Dann begann er zu grinsen und sagte leise: »Gute Arbeit. Habe ich dem Alten gar nicht zugetraut, soviel Geistesgegenwart. Mein Wagen steht draußen -ein alter Duesenberg. Bitte kümmern Sie sich um ihn. Ich komme zurück -wann auch immer das sein mag!«

Ellery stürmte auf die Straße, winkte ein Taxi herbei und rief dem Fahrer ein »Zum Flughafen, schnell!« entgegen.

Um kurz nach acht -eine Stunde, nachdem Ellery, und fast drei Stunden, nachdem Yardley gestartet war, und sieben Stunden, nachdem Krosac Columbus auf dem Schienenweg verlassen hatte -rasten Vaughn und Isham, zwei sichtlich müde Gestalten, nach Columbus hinein. Vaughns Polizeirang hatte ihnen Flügel verliehen und dafür gesorgt, daß aus Zanesville alles blitzschnell weitergeleitet worden war. In Columbus wartete bereits eine Maschine auf sie. Bevor Staatsanwalt Isham dreimal stöhnen konnte, waren sie in der Luft.

Wäre der Anlaß nicht so ernst gewesen, hätte die abenteuerliche Verfolgungsjagd durchaus ihre komischen Züge gehabt. Ellery entspannte sich auf seinem Sitz und überließ sich seinen Gedanken. So vieles, was sieben Monate lang rätselhaft und widersprüchlich geblieben war, hatte sich endlich geklärt! Im Geiste ging er noch einmal den ganzen Fall durch; als er schließlich beim Mord an Andrew Van angelangt war, lehnte er sich zurück, betrachtete das Ergebnis seiner Mühen -und sah, daß es gut war.

Das Flugzeug segelte weiter durch die Lüfte; fast schien es, als hinge es in den flockigen Wolken, ohne sich von der Stelle zu bewegen; lediglich das Land weit unter ihm zerstörte mit seinen dahinkriechen den winzigen Städten die Illusion der vollkommenen Ruhe. Indianapolis ... Würde es Yardley gelingen, den Fuchs zu stellen? Zeitlich war es, wie Ellery flüchtig kalkuliert hatte, durchaus möglich. Der Mann, der sich unter der Maske Krosacs verbarg, reiste mit dem Zug; vor sechs konnte er nicht in Indianapolis ankommen, wahrscheinlich sogar etwas später. Fünf Stunden mindestens dauerte die Fahrt mit dem Zug. Yardley hingegen, der um halb sechs in Columbus gestartet war, würde bei der vergleichsweise kurzen Flugstrecke nicht länger als anderthalb Stunden in der Luft sein und gegen sieben landen. Die Flugbedingungen konnten besser nicht sein, wie Ellery sah und spürte. Wenn Krosacs Zug auch nur die geringste Verspätung hatte oder es in Indianapolis Verzögerungen gab und Krosac daran gehindert wurde, seine Reise zügig fortzusetzen, konnte der Professor ihn leicht einholen.

Ellery entfuhr ein Seufzer; wenn er ganz ehrlich mit sich war, wünschte er, Krosac möge den unerfahrenen Fängen des Professors entwischen. Nicht, daß Yardley für einen Anfänger schlechte Arbeit geleistet hätte!

Sie fegten über die Landebahn von Indianapolis wie ein Blatt im Abendwind. Ellery sah auf seine Armbanduhr. Es war halb neun.

Als drei Männer vom Flughafen die Maschine bei den Tragflächen faßten und Bremsklötze unter ihre Räder schoben, rannte ein junger Mann in Uniform auf das Cockpit zu. Ellery stieg aus und sah sich um.

»Mr. Queen?«

Er nickte. »Nachrichten für mich?«

»Ja, Sir. Von einem Herrn namens Yardley, der vor etwa anderthalb Stunden hier war. Er sagte, es sei wichtig.«

»Dezent ausgedrückt.« Ellery griff nach dem kleinen Kuvert. Das große Finale, befand Ellery mißmutig, während er den Umschlag öffnete, verkam langsam zur Farce. Immer nur hetzte er der nächsten Nachricht hinterher.

Q.: Sieht aus, als geht‘s in die letzte Runde! Habe versucht, ihn einzuholen, aber leider ganz knapp verfehlt. Bin im selben Augenblick hier gelandet, in dem der Mann, auf den Ks Beschreibung paßt, in eine Maschine nach Chicago gestiegen ist! Das war um sieben. Vor Viertel nach kriege ich keine Maschine. K. kommt zwischen Viertel vor neun und neun in Chi an. Schlage für den Fall, daß Sie vor Viertel vor neun hier angekommen sind, vor, der Chicagoer Polizei mitzuteilen, daß sie unseren »fliegenden Ausländer« direkt auf der Landebahn greifen sollen! Und schon bin ich wieder fort!

y.

»Mr. Yardley ist um Viertel nach sieben gestartet?« fragte Ellery säuerlich.

»Jawohl, Sir.«

»Dann wird er dort also voraussichtlich zwischen neun und Viertel nach neun landen?«

»Ja, Sir.«

Ellery drückte dem jungen Mann einen kleinen Schein in die Hand. »Führen Sie mich zu einem Telefon, und ich werde Ihnen mein Leben lang dankbar dafür sein!«

Der Mann lief grinsend los; Ellery sprang hinterher.

Im Terminal des Flughafens von Indianapolis angelangt, verlangte Ellery verzweifelt, nach Chicago durchgestellt zu werden. »Polizeihauptquartier? Den Commissioner, bitte ... Ja, den Commissioner! Schnell, Sie Idiot, es geht um Leben und Tod ... Commissioner? Was? ... Hören Sie, hier spricht Ellery Queen aus New York City, und ich habe dem Commissioner eine dringende persönliche Mitteilung zu machen. Absolut dringend!« Er stampfte -rasend vor Ungeduld -mit dem Fuß auf, während der übervorsichtige Mensch am anderen Ende ihm eine Frage nach der anderen stellte. So verstrichen fünf Minuten mit Beschimpfungen und Betteleien, bis die sonore Stimme des Herrn über die Chicagoer Polizei ertönte.

»Commissioner? Sie erinnern sich sicher an mich -Inspector Richard Queens Sohn ... Um die Aufklärung der Long-Island-Morde. Ja! ... Ein großer, brünetter Mann mit bandagiertem Handgelenk landet heute zwischen Viertel vor neun und neun in Chicago, in einer Maschine aus Indianapolis ... Nein! Nicht auf der Landebahn festnehmen! ... Da ist noch eine persönliche

Rechnung zu begleichen! Lassen Sie ihn beschatten, wohin auch immer er geht, und umstellen Sie den Ort ... Ja. Nur verhaften, wenn er versucht, die Stadt zu verlassen. Es ist möglich, daß er über die kanadische Grenze will ... ja, oder zur Pazifikküste ... Nein, er weiß nicht, daß er verfolgt wird ... Ach ja, wenn Sie bitte auch nach einem großen Mann mit Bart, Professor Yardley -ähnelt auffallend Abe Lincoln -Ausschau halten würden, der auf derselben Piste ankommen wird! Instruieren Sie Ihre Leute, ihn zuvorkommend zu behandeln ... Danke vielmals, auf Wiederhören!«

»Und nun«, rief Ellery dem grinsenden jungen Mann zu, der vor der Telefonzelle auf und ab ging, »besorgen Sie mir ein Flugzeug!«

»Wohin soll es denn gehen?«

»Nach Chicago.«

Um fünf vor halb elf umkreiste der Eindecker schließlich die hellerleuchtete Landepiste von Chicago. Ellery preßte die Stirn ans Fenster und konnte verstreute Gebäude, die Hangars, die Landebahn, eine Reihe von Maschinen und umherhuschende Gestalten erkennen. Als der Pilot im Sturzflug herunterging -Ellery hatte dem Piloten eine Sonderprämie für einen extra schnellen Flug zugesteckt -schwanden ihm plötzlich die Sinne. Als er wieder Luft bekam und das flaue Gefühl in der Magengegend sich gelegt hatte, waren sie schon nah am Boden und sausten auf die Piste zu. Er schloß die Augen und spürte, wie die Räder ruckartig aufsetzten, und als er die Augen wieder öffnete, rollten sie mit hoher Geschwindigkeit auf dem Beton entlang.

Ellery erhob sich unentschlossen und nestelte nervös an seiner Krawatte. Das Ende ... Der Motor schickte ein letztes Triumphgeheul in die Nacht, und die Maschine blieb stehen. Der Pilot drehte sich zu Ellery herum und brüllte. »Da wären wir, Mr. Queen! Schneller ging‘s nicht!«

»Hervorragend«, erwiderte Ellery mit einer Grimasse und taumelte zur Tür. Man konnte auch alles übertreiben ... Die Tür wurde von außen geöffnet, und Ellery sprang ungelenk auf die Landebahn. Obwohl das gleißende Licht der Scheinwerfer ihn blendete, sah er in etwa vier Metern Entfernung eine Gruppe von Männern, die ihre Blicke auf ihn richteten.

Er schaute genauer hin und erkannte die gewollt düstere Silhouette des Professors, während die fast horizontale Ausrichtung seines Kinnbarts auf schamlosestes Grinsen schließen ließ; er erkannte die untersetzte Gestalt des Commissioners von Chicago und besann sich auf den kleinen Ausflug zur Windy City, den er mit seinem Vater sieben Monate zuvor gemacht hatte und der ihn mit dem spektakulären Mord von Arroyo in Verbindung gebracht hatte; er sah weitere unbekannte Gesichter, die er Polizisten zuordnete, und ... Wer war denn das? Dieser kleine Mann im adretten grauen Anzug mit dem adretten grauen Hut auf dem Kopf und den adretten grauen Handschuhen -der zierliche Mann mit dem zerfurchten Gesicht und dem notorisch schief gehaltenen Kopf ...?

»Dad!« rief er, machte einen Satz nach vorn und ergriff die behandschuhten Hände seines Vaters Inspector Richard Queen. »Wie in aller Welt bist du denn hierhergekommen?«

»Tach, Junge«, erwiderte der Inspector trocken, konnte jedoch ein Schmunzeln nicht unterdrücken. »Willst der größte Detektiv der Welt sein und kriegst nicht einmal das heraus! Dein Freund Hardy von der Polizei Zanesville hat mich, nachdem du ihn aufgescheucht hattest, in New York angerufen, um sicherzugehen, daß du auch wirklich mein Sohn bist. Da habe ich zwei und zwei zusammengezählt, mir gedacht, daß du mal wieder einen Fall gelöst hast, weiter kombiniert, daß dein Mann entweder nach Chicago oder St. Louis geht, bin um zwei in New York in so ‘ne Kiste gestiegen und vor einer

Viertelstunde hier gelandet - und da bin ich!«

Ellery schlang seine Arme um die knochigen Schultern seines Vaters. »Du wirst mir ewig ein Rätsel bleiben! Mein Gott, was bin ich froh, daß du hier bist! Das faßt man ja nicht, auf welchen Schleichpfaden ihr alten Krieger noch unterwegs seid ... N‘ Abend Professor!«

Yardley zwinkerte Ellery zu, während sie sich die Hand gaben. »Ich nehme an, Sie zählen mich ebenfalls zu den rüstigen Alten? Ihr Vater und ich haben uns länger über Sie unterhalten, junger Mann, er glaubt, daß Sie noch einen Trumpf im Ärmel haben.«

»Ah«, sagte Ellery, während er langsam zu sich kam. »Glaubt er das, ja? Wie geht‘s, Commissioner? Tausend Dank noch einmal, daß Sie mir trotz meines Benehmens am Telefon Gehör geschenkt haben. Aber ich hatte es auch entsetzlich eilig ... Nun, Sir, wie sieht es aus?«

Sie verließen die Landebahn und betraten das Terminal. »Sieht gut aus«, sagte der Präsident. »Ihr Mann ist um fünf vor neun gelandet; wir hatten Mühe, ihn rechtzeitig ins Visier zu nehmen. Aber er ist vollkommen arglos.«

»Ich war nur zwanzig Minuten zu spät«, klagte der Professor, »und habe mich zu Tode erschreckt, als ich mit meinen müden alten Knochen aus der Maschine stieg und einer Ihrer Leute mich beim Arm packte und in wenig einladendem Ton ›Yardley?‹ brüllte. Aber, mein Junge, wie Sie sehen ...«

»Hmm, ja«, sagte Ellery. »Commissioner, wo ist -ähm -Krosac jetzt eigentlich?«

»Er hat sich Zeit gelassen; erst um fünf nach neun hat er sich per Taxi zu einem drittklassigen Hotel im Loop, dem Rockford, bringen lassen und nicht im geringsten bemerkt, daß ihm eine Polizeieskorte von vier Wagen gefolgt ist. Er ist jetzt auf seinem Zimmer.«

»Und es gibt keine Fluchtmöglichkeit?«

»Mr. Queen«, protestierte der Commissioner.

Der Inspeetor schmunzelte. »Soweit ich informiert bin, hecheln dir Vaughn und Isham von Nassau County hinterher, mein Sohn. Willst du nicht wenigstens auf sie warten?«

Ellery war wie vom Donner gerührt. »Himmel, die hab‘ ich ja ganz vergessen! Commissioner, wären Sie bitte so freundlich, einige Männer abzustellen, um sich um Inspector Vaughn und Bezirksstaatsanwalt Isham zu kümmern? Sie müßten in etwa einer Stunde hier sein. Bitte lassen Sie sie zum Rockford-Hotel bringen. Es wäre eine Schande, wenn sie den letzten Akt verpaßten!«

Doch Isham und Vaughn waren Ellery dichter auf den Fersen als gedacht. Um genau elf Uhr entließ ihre Maschine sie auf dem Flughafen von Chicago in die Nacht. Mehrere Beamte geleiteten sie in Polizeiwagen zum Loop.

Die Wiedervereinigung der einsamen Pilger wurde ausgelassen gefeiert. Man hatte sich in einer Privatsuite des Rockford versammelt, in der man vor Polizei kaum treten konnte. Ellery lag - Jackett an der Garderobe - auf dem Bett und streckte genüßlich alle viere von sich. Inspector Queen und der Commissioner hatten sich in eine Ecke des Raumes zurückgezogen und unterhielten sich leise. Professor Yardley hatte sich in den Waschraum geflüchtet, um die Schmutzschichten, die seine Reise durch mehrere Staaten hinterlassen hatte, vorsichtig abzutragen ... Die beiden gebeutelten Neuankömmlinge sahen sich erschöpft um.

»Hören Sie«, brummte Vaughn. »Haben wir‘s jetzt bald, oder jagen wir uns weiter im Kreis rum, bis wir in Alaska erfrieren? Wer ist dieser Kerl überhaupt - ein Marathonläufer?«

»Hier«, schmunzelte Ellery, »ist Endstation, Inspector. Nehmen Sie ruhig Platz; Sie auch, Mr. Isham. Gönnen Sie Ihren müden Gliedern die wohlverdiente Erholung! Der Abend ist

noch jung, und Mr. Krosac kann uns nicht entkommen. Wie wär‘s mit einem kleinen Happen?«

Während des Essens stellte man sich einander vor, scherzte und weidete sich an wildesten Spekulationen. Nur Ellery blieb auffallend wortkarg und schien in Gedanken ganz woanders zu sein. Ab und zu betrat einer der Beamten den Raum und erstattete Bericht. So erfuhren sie, daß der Herr aus Zimmer 643 -der sich als John Chase aus Indianapolis eingetragen hatte ­die Rezeption beauftragt hatte, einen sehr frühen transkontinentalen Flug nach San Francisco zu buchen, was sofort hitzige Debatten auslöste. Es war offensichtlich, daß Mr. Chase -oder Mr. Krosac -plante, Amerika zu verlassen und eine ausgedehnte Reise in den Orient zu unternehmen; es war kaum anzunehmen, daß er sich in San Francisco niederlassen wollte.

»Ganz nebenbei«, fragte Ellery ein paar Minuten vor zwölf. »Wen, Professor, glauben Sie, werden wir vorfinden, wenn wir das Zimmer 643 von Mr. John Chase aus Indianapolis stürmen?«

Der alte Inspector sah seinen Sohn irritiert an. Yardley schaute ebenfalls verwirrt drein. »Velja Krosac natürlich. Wen denn sonst?«

»So?« erwiderte Ellery, indem er einen Rauchkringel in die Luft blies.

Der Professor fuhr hoch. »Wie meinen Sie das? Ich meine, wenn ich Krosac sage, dann beziehe ich mich auf den Mann, der als Krosac geboren wurde, uns aber unter einem anderen Namen bekannt ist.«

»So?« wiederholte Ellery. »Nun, meine Herren«, sagte er, während er sich ausgiebig streckte. »Ich glaube, es ist Zeit, Mr. -Krosac auf den Boden der Tatsachen herunterzuholen. Sind wir bereit, Commissioner?«

»Absolut startklar. Wir warten nur noch -«

»Einen Moment, bitte«, bat Inspector Vaughn. »Wollen Sie etwa behaupten, Sie kennen die wahre Identität des Herrn von Zimmer 643?«

»Aber natürlich! Ich muß schon sagen, Inspector, ich bin erstaunt über Ihren Mangel an Scharfsinn! Was muß denn noch alles passieren, damit Sie endlich drauf kommen?«

»Drauf kommen? Auf was denn?«

Ellery stöhnte. »Ist jetzt nicht mehr von Bedeutung. Aber das eine kann ich Ihnen versprechen, meine Herren -Es wartet eine Mordsüberraschung auf Sie! Wollen wir? En avant!«

Fünf Minuten später schien sich das fünfte Stockwerk des Rockford-Hotels in ein einziges Truppenübungsgelände verwandelt zu haben; überall wimmelte es von Uniformierten und Polizei in Zivil; die Stockwerke darüber und darunter waren abgeriegelt, auch die Aufzüge waren unauffällig außer Betrieb gesetzt worden. Zimmer 643 hatte nur eine Tür - sie öffnete sich zum Flur hin.

Ein verängstigter kleiner Page war abkommandiert worden, den Köder zu spielen. Hilflos stand er vor der Tür und wartete auf seinen Einsatzbefehl; Ellery, sein Vater, Vaughn, Isham, der Commissioner und Yardley umringten ihn: Ellery sah sich um ­außer Atemgeräuschen war kein Laut zu hören - und nickte dem Pagen zu.

Der Junge schluckte und trat näher zur Tür. Zwei Beamte drückten sich mit gezogenen Revolvern zu beiden Seiten flach gegen die Wand. Einer der beiden klopfte energisch an die Tür. Niemand antwortete; wäre der Raum erleuchtet gewesen, so wäre durch den Türspalt ein wenig Licht gedrungen; doch alles war dunkel, und der Zimmerbewohner schien fest zu schlafen.

Der Beamte klopfte noch einmal. Diesmal hörten sie ein leises Geräusch und das Quietschen von Bettfedern. Eine tiefe Männerstimme brummte unfreundlich: »Wer ist da?«

Der Hoteljunge schluckte noch einmal und rief: »Zimmerservice, Mr. Chase!«

»Was -« Der Mann schnaubte wieder, und die Bettfedern quietschten erneut. »Ich habe keinen Zimmerservice bestellt. Das muß ein Irrtum -« Die Tür öffnete sich, und ein Kopf mit zerwühltem Haar erschien im Türrahmen

An alles, was nun geschah, erinnerte Ellery sich im nachhinein nur verschwommen -an den sekundenschnellen Zugriff der beiden Polizisten, an den Pagen, der sich leise davonstahl, an den heftigen Kampf auf der Türschwelle. Dieser eine Augenblick jedoch, dieser Sekundenbruchteil vollkommener Stille, in dem der Mann in die vielen Gesichter starrte -in die Gesichter der Polizisten, in die Gesichter von Ellery Queen, Staatsanwalt Isham und Inspector Vaughn -, dieser Augenblick hatte sich unauslöschlich in Ellerys Gedächtnis eingebrannt. Der Ausdruck völliger Verblüffung auf dem kreidebleichen Gesicht. Die aufgerissenen Augen. Der Verband am Gelenk der rechten Hand, mit der er sich am Türpfosten festkrallte

»Nein, das -das -« Professor Yardley leckte sich zweimal über die Lippen, ohne Worte für das zu finden, was er sah.

»Genau, wie ich dachte«, sagte Ellery, während er den verzweifelten Kampf beobachtete. »Als ich die Hütte in den Bergen inspizierte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.«

Nachdem sie Mr. John Chase aus Zimmer 643 niedergerungen hatten, troff Speichel von einem seiner Mundwinkel herab, und seine Augen leuchteten im Wahnsinn. Es waren die Augen des Schulmeisters aus Arroyo -die Augen von Andrew Van.


30. Ein Blick zurück


»Ich glaub‘s nicht, ich glaub‘s einfach nicht«, brummte Vaughn. »Mir will nicht in den Kopf, daß es möglich gewesen sein soll, den Fall allein aufgrund von Indizien zu lösen, Mr. Queen. Ich fürchte, Sie werden mir beweisen müssen, daß Sie nicht nur geraten und zufällig ins Schwarze getroffen haben!«

»Ein Queen«, erwiderte Ellery streng, »rät nicht.«

Es war Donnerstag; die Männer -Yardley, Ellery, Inspeetor Queen, Isham und Vaughn -saßen im Konferenzabteil des Twentieth Century Limited nach New York, und trotz großer Erschöpfung herrschte in der Runde keinesfalls schlechte Stimmung. Ihre Gesichter waren von den Strapazen gezeichnet -mit Ausnahme von Inspector Queen natürlich, der sich unaufdringlich, aber herzlich zu freuen schien.

»Sie sind nicht der erste, der dumm aus der Wäsche guckt«, sagte der alte Mann und schmunzelte. »Bisher hat er‘s noch immer hingekriegt. Und jedesmal, wenn er einen sensationellen Fall gelöst hat, behauptet irgend jemand, das sei ein reiner Glückstreffer gewesen, und will genau wissen, wie der Junge das gemacht hat. Ich komme auch nie so recht dahinter, selbst wenn er‘s mir bis ins letzte Detail erklärt hat!«

»Ich stehe vor einem völligen Rätsel«, gestand Isham.

Professor Yardley konnte den indirekten Angriff auf seinen Intellekt kaum ertragen. »Ich bin ein geistig sicher nicht ganz unbedarfter Mensch«, sagte er gereizt, »aber ich lasse mich aufknüpfen, wenn dieser Fall durch reine Anwendung von Logik zu lösen ist! Von Anfang an bestand er aus nichts als einer langen Kette von Ungereimtheiten und Widersprüchen!«

»Falsch«, entgegnete Ellery kühl. »Ihre lange Kette von Ungereimtheiten und Widersprüchen reichte nur bis zum vierten Mord. An diesem Punkt jedoch klärte sich alles von selbst. Wissen Sie«, fuhr er mit zusammengezogenen Brauen fort, »ich hatte ständig das Gefühl, ich brauchte nur ein einziges Detail in die zentrale Position zu rücken, und alle anderen - so rätselhaft und zusammenhanglos sie auch erscheinen mochten ­würden sich wie von selbst zu einem klaren Muster ordnen. Dieses eine Detail sprang mir sofort ins Auge, als ich Old Petes Hütte nach dem vierten Mord betrat.«

»Das sagten Sie gestern abend bereits«, sagte der Professor. »Nur sehe ich immer noch nicht -«

»Können Sie auch nicht. Sie waren nie in der Hütte.«

»Ich allerdings schon!« fauchte Vaughn. »Nur müßten Sie mir freundlicherweise noch verraten, welches verdammte Ding -«

»Eine Herausforderung, die ich gern annehme.« Ellery blies Rauch an die niedrige Decke des Abteils. »Lassen Sie uns ein wenig ausholen. Bevor Dienstag nacht der zweite Mord in Arroyo geschah, konnte ich mir selbst auf kaum etwas einen Reim machen. Der erste Mordfall von Arroyo war mir ein vollständiges Rätsel -bis Andrew Van auftauchte und uns erzählte, sein Faktotum Kling sei damals irrtümlich einem rachebesessenen Mann namens Velja Krosac zum Opfer gefallen. Thomas Brad, Vans Bruder, starb durch die Hand des Rächers; Stephen Megara, ebenfalls Vans Bruder, wurde das nächste Opfer. Megara und die jugoslawische Polizei hatten Vans Geschichte bestätigt. In seinen groben Zügen schien der Fall klar zu sein: Ein Einzeltäter mit Vergeltungsmanie, der nun gegen die Mörder seines Vaters und seiner Onkel Amok lief. Als wir erfuhren, daß die Tvars ihn auch noch um sein Erbe gebracht hatten, stützte ein zusätzliches Motiv unsere Annahme. Professor Yardley hatte ich bereits dargelegt, daß sich aus den Umständen, unter denen Brad gestorben ist, zwei zwingende Folgerungen ergeben: erstens, daß er seinen Mörder kannte, und zweitens, daß Brads Mörder nicht hinkte. Richtig, Professor?« Yardley nickte, und Ellery faßte kurz zusammen, was sich aus der Position der Damesteine auf dem Brett und anderen Beobachtungen ergab, die auch Vaughn und Isham gemacht hatten.

»Aber damit war nichts gewonnen; wir waren ohnehin von dem ausgegangen, was ich nun -überflüssigerweise -auch bewiesen hatte. Bevor ich den Toten in der Hütte fand, konnte ich mir den bizarren Charakter der ersten drei Morde -das Abtrennen der Köpfe, die Ts aus verschmiertem Blut, die T­förmigen Kreuzigungsinstrumente -nur mit Krosacs biografisch bedingter T-Manie erklären.«

Ellery lächelte beinahe nostalgisch und betrachtete versonnen die Zigarette in seiner Hand. »Erstaunlicherweise war mir sehr früh schon -vor sieben Monaten nämlich, als ich die entsetzlich zugerichtete Leiche im Gerichtsgebäude von Weirton besichtigte -ein Gedanke gekommen, den ich nur hätte weiterspinnen müssen, um den Fall vielleicht schon damals lösen zu können: eine alternative Erklärung der Ts. Es war nur so eine vage Idee, eine Folge meiner logischen Schulung vielleicht. Damals jedoch schien mir der Gedanke so abwegig, daß ich ihn vorläufig verwarf; und als nichts geschah, was auch nur entfernt in diese Richtung wies, verwarf ich ihn endgültig. Und doch rumorte er weiter in meinem Hinterkopf ...«

»Wie bitte?« fragte der Professor irritiert. »Sie erinnern sich doch, junger Mann, als wir das ägyptische ...«

»Das gehört jetzt nicht hierher«, fiel Ellery ihm hastig ins Wort. »Dazu komme ich noch. Lassen Sie uns erst noch einmal die Umstände des vierten Mordes ins Gedächtnis rufen.« Er schilderte plastisch und detailliert, was er vorgefunden hatte, als er am Vortag über die Schwelle der eingezäunten Waldhütte getreten war. Yardley und Inspector Queen lauschten ihm mit äußerster Konzentration; doch als Ellery sein Wortgemälde vollendet hatte, blickten sie einander ratlos an.

»Fehlanzeige, soweit es mich betrifft«, gestand der Professor.

»Mir ist auch nichts aufgefallen«, sagte der Inspector.

Vaughn und Isham beäugten Ellery argwöhnisch.

»Herr im Himmel«, rief Ellery und warf seine Zigarettenkippe mit Verve aus dem Fenster. »Klarer geht‘s doch nicht mehr! Diese Hütte erzählt einen ganzen Roman! Wie lautet noch einmal das Motto in den Seminarräumen der Polizeiakademie im Palais de Justice, Dad? ›Das Auge sieht nur, wonach es sucht, und es sucht nur nach dem, was es schon zu wissen glaubt.‹ Die amerikanische Polizei sollte sich das endlich einmal hinter die Ohren schreiben, Inspector Vaughn! Die Fußspuren außerhalb der Hütte haben Sie doch sicher gründlich untersucht, nicht wahr?«

Vaughn und Isham nickten.

»Dann muß Ihnen auch sofort klargewesen sein, daß nur zwei Personen an diesem Mord beteiligt waren. Es gab lediglich zwei Spurenabschnitte -einer führte in die Hütte hinein, der andere hinaus. Form und Größe der Abdrücke waren beide Male gleich, stammten also von denselben Schuhen. Ebenfalls war es möglich, ungefähr zu ermitteln, wann die Abdrücke entstanden waren. Der heftige Regen hatte am Abend zuvor um elf aufgehört. Wären die Spuren entstanden, bevor es zu schütten aufhörte, wären sie bis zur Unkenntlichkeit vom Regen fortgewaschen worden. Also kam nur ein Zeitraum um oder nach elf in Frage. Der Zustand der Leiche an der Hüttenwand nun ließ darauf schließen, daß der Tod vor etwa vierzehn Stunden eingetreten war -ungefähr um elf. Die Fußspuren -die einzigen, wohlgemerkt -waren also um die Tatzeit herum entstanden.«

Ellery steckte sich eine neue Zigarette in den Mund. »Was also verrieten uns die Spuren? Daß im fraglichen Zeitraum nur eine Person die Hütte betreten und wieder verlassen hatte, die wiederum nur einen Ein-beziehungsweise Ausgang aufwies ­die Tür; während das Fenster mit Stacheldraht gesichert war.«

Ellery zündete sich die Zigarette mit einem Streichholz an und nahm einen tiefen Zug. »Es gab einen Mörder und ein Opfer. Das Opfer hatten wir gefunden. Also stammten die Fußspuren im aufgeweichten Boden vom Mörder, der offenbar hinkte. So weit, so gut. Auf dem Steinfußboden der Hütte lagen einige höchst aufschlußreiche Gegenstände.

Beweisstück Nr. 1: Mit Jodflecken durchtränktes, offenbar gebrauchtes Verbandszeug, das nach Form und Umfang nur um ein Handgelenk gewickelt worden sein konnte. Daneben teilweise abgewickeltes, unbenutztes Verbandszeug.

Beweisstück Nr. 2: Eine große Jodflasche aus blauem Glas, deren Verschlußkorken nicht weit entfernt davon auf dem Boden lag. Das Glas war undurchsichtig, und die Flasche hatte kein Etikett.

Ich fragte mich: Um wessen Handgelenk war der Verband gewickelt worden? Zwei Personen kamen in Frage: Opfer und Täter. Hätte das Opfer den Verband getragen, dann hätten wir an einem seiner Handgelenke eine Verletzung finden müssen. Ich habe die Leiche untersucht und keine derartigen Verletzungen gefunden. Schlußfolgerung: Der Mörder war am Handgelenk verletzt worden -während er mit der Axt den Kopf seines Opfers abhackte, oder möglicherweise auch, während er mit dem sich verzweifelt wehrenden Opfer rang. Wenn nun der Mörder verletzt worden war, dann muß er es auch gewesen sein, der Jod und Verbandszeug gebraucht hatte. Die Tatsache, daß er seinen Verband später entfernt hat, spielt keine Rolle. Die Wunde muß, wie der Verband zeigte, stark geblutet haben, und er hat ihn lediglich erneuert, bevor er die Hütte verließ.«

Ellery fuchtelte mit seiner brennenden Zigarette in der Luft herum. »Das aber brachte eine bedeutungsvolle Tatsache zutage! Wenn er nämlich das Jod benutzt hatte, was folgte dann daraus? Kommen Sie, das ist doch jetzt wirklich nur noch ein Kinderspiel! Noch immer nichts? Keiner?«

So sehr sie sich auch die Köpfe zermarterten, die Stirn in Falten legten und auf ihren Nägeln herumkauten -am Ende mußten sie alle passen.

Ellery ließ sich in den Sitz zurückfallen. »Das gibt es doch nicht! Für mich ist das sonnenklar. Durch welche Eigenschaften zeichnete sich denn die Jodflasche aus, die der Mörder auf dem Boden zurückgelassen hatte? Erstens: Sie war aus undurchsichtigem blauem Glas. Zweitens: Ihr fehlte ein Etikett. Woher wußte der Mörder dann, daß sie Jod enthielt?«

Professor Yardley fiel der Unterkiefer herunter, und er faßte sich in einer Weise an die Stirn, die Ellery an Bezirksstaatsanwalt Sampson, diesen tüchtigen Ankläger, erinnerte, mit dessen Hilfe er und sein Vater schon so manchen Großstadthalunken zur Strecke gebracht hatten. »Ich Idiot!« stöhnte er. »Natürlich, natürlich!«

Vaughn war vollkommen überrascht. »Und dabei ist es so verflucht einfach«, stammelte er, als könne er nicht begreifen, wie er so etwas hatte übersehen können.

»Das ist es meistens«, erwiderte Ellery schulterzuckend. »Der Mörder konnte also, wenn ich das bitte eben zu Ende führen darf, an der Flasche selbst nicht erkennen, was sie enthielt, da sie weder durchsichtig noch etikettiert war. Es gab nur zwei Erklärungen dafür, daß er ihren Inhalt kannte: Entweder wußte er, daß sie Jod enthielt, oder er entkorkte sie, um nachzusehen. Wie Sie sicher noch wissen, wies das Medizinregal über Old Petes komfortablem Waschgestell zwei Lücken auf; und es war deutlich zu erkennen, daß die beiden Gegenstände auf dem Boden -die Jodflasche und das Verbandszeug -normalerweise dort hingehörten. Der Mörder war also, nachdem er sich verwundet hatte und nun heftig blutete, gezwungen, in diesem Regal nach Verbandszeug und Jod zu suchen.«

Ellery grinste. »Anstatt jedoch eine der beiden deutlich beschrifteten Fläschchen mit Jod beziehungsweise Mercurochrom zu nehmen, die zusammen mit verschiedenen anderen Artikeln auf dem Regal standen, um damit seine Wunde zu versorgen, bevorzugte er die Flasche mit unbekanntem Inhalt. Warum in aller Welt tat er das, wenn zwei beschriftete Antiseptika direkt vor ihm auf dem Regal standen? Für ein solches Verhalten gibt es keinen vernünftigen Grund; kein Fremder -der zudem in höchster Eile war -hätte die Zeit und Nerven aufgebracht, den Inhalt einer unbeschrifteten Flasche zu untersuchen, wenn alles, was er brauchte, direkt vor seiner Nase stand. Folglich traf die erste der beiden Möglichkeiten zu: Der Mörder kannte die Flasche und wußte, daß sie Jod enthielt. Wer aber konnte über solches Wissen verfügen?« Ellery seufzte lustvoll. »Da hatten wir‘s! Aus den generellen Umständen und Vans eigener Geschichte vom einsamen Versteck in den Bergen konnten wir ableiten, daß nur eine einzige Person den Inhalt der mysteriösen Flasche kennen konnte - der Bewohner der Hütte.«

»Hab‘ ich‘s dir nicht gesagt?« fügte Inspector Queen aufgeregt hinzu und griff nach seiner alten braunen Tabakdose.

»Wir haben vorhin gezeigt, daß nur zwei Personen an dem Mord beteiligt waren -Täter und Opfer -und daß der Mörder sich am Handgelenk verletzt und die Wunde mit Jod versorgt hatte. Wenn also der Bewohner der Hütte, Andreja Tvar alias Andrew Van, alias Old Pete, der einzige war, der im voraus wissen konnte, was in der Flasche war, dann war es auch Andrew Van, der sich am Handgelenk verletzt hatte; und der arme Teufel an der Holzwand war demnach nicht Andrew Van, sondern sein Opfer.«

Er schwieg einen Augenblick. Als Inspector Vaughn sich räusperte, fragte Staatsanwalt Isham: »Ja, und die anderen Morde? Sie sagten doch gestern, nachdem wir Van verhaftet hatten, Ihnen sei ab dem vierten Mord der gesamte Ablauf von Anfang bis Ende klargewesen. Mir jedoch leuchtet noch immer nicht ein, warum Van, selbst wenn er den Unbekannten in der Hütte auf dem Gewissen hat, auch die anderen Morde begangen haben sollte? Wie wollen Sie das beweisen?«

»Mein lieber Isham!« Ellery zog die Augenbrauen hoch. »Der Rest ist doch nun wirklich simpel! Mehr als ein wenig logisches Geschick und eine Portion gesunden Menschenverstandes braucht es dazu nicht! Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja. Ich wußte also, daß Andrew Van selbst der Mörder war und auch die hinkenden Fußspuren hinterlassen hatte. Das Faktum allein, daß er der Mörder war, reichte noch nicht. Er konnte ja zum Beispiel Krosac in Notwehr erschlagen haben, in welchem Falle er als Mörder der drei ersten Opfer aus dem Rennen gewesen wäre. Eines war jedoch nicht zu übersehen: Andrew Van hatte jemanden getötet und diesen Unbekannten als Old Pete und damit als sich selbst verkleidet. Er spielte also mit gezinkten Karten! Von da an wußte ich endgültig, daß ich auf der richtigen Spur war. Doch wer konnte der vierte Tote sein? Van war es nicht. Den Gedanken, es könnte sich um Brad handeln, verwarf ich sofort: Seine Witwe hatte ihn anhand des Feuermals auf dem rechten Oberschenkel eindeutig identifiziert. Aus rein formalen Gründen fragte ich mich, ob der Tote Megara sein konnte. Die Antwort lautete natürlich ebenfalls nein, Dr. Temple hatte bei Megara eine besondere Form von Hernia diagnostiziert, die nach dem Ergebnis von Dr. Rumsens Untersuchung auch der Tote am Antennenmast der Helene aufwies; mit anderen Worten: Brads Leiche war echt, Megaras Leiche ebenso. Übrig blieben nur zwei Personen, die, wenn man einmal von der entfernten Möglichkeit absah, Van hätte einen vollkommen Unbeteiligten getötet, in Frage kamen: Velja Krosac und Kling, Vans Faktotum.«

Ellery machte eine Pause, um Luft zu holen. »Konnte der Tote Krosac sein, wie man zunächst annehmen mußte? Doch in diesem Falle hätte Van nur die Polizei holen und zu erzählen brauchen, er habe in Notwehr gehandelt, und man hätte angesichts der Vorgeschichte keine Sekunde an seiner Geschichte gezweifelt. Wenn er unschuldig gewesen wäre, hätte er ohne Frage so und nicht anders gehandelt. Er machte jedoch keinen Gebrauch von dieser Chance, was nahelegt, daß er es nicht konnte. Warum konnte er nicht? Weil der Tote nicht Krosac war! Also mußte es sich bei dem letzten Mordopfer um Kling handeln. Doch hatte Kling nicht schon vor sieben Monaten als irrtümliches Opfer Krosacs tot am Wegweiser gehangen? Woher wußten wir, daß der erste Tote Kling war? Nur durch die Erzählungen Vans -eines Mörders und ausgekochten Betrügers, wie wir nun wußten. Wir konnten guten Gewissens am Wahrheitsgehalt jeder unbestätigten Aussage Vans zweifeln und unter den gegebenen Umständen Kling zum vierten Mordopfer erklären.«

Ellery fuhr eifrig fort. »Und auf einmal paßte alles zusammen. Wenn Kling der letzte Tote war, wo steckte dann Krosac? Die Morde an Brad und Megara hatten wir bereits abgehandelt; also konnte nur Krosac Opfer des ersten Mordes geworden sein. Die ›Bestie‹, nach der die Polizei sieben Monate lang in achtundvierzig Staaten und drei Ländern vergeblich gefahndet hatte, war von Anfang an tot. Kein Wunder, daß er uns zeitweilig wie ein Phantom erscheinen wollte ...«

»Das darf doch alles nicht wahr sein«, stammelte der Professor.

»Dem Jungen können Sie stundenlang zuhören«, strahlte Inspector Queen, »er steckt voller Überraschungen.«


Ein schwarzer Schaffner erschien mit einem Tablett voll eisgekühlter Getränke. Sie tranken schweigend und schauten aus dem Fenster, in dem die sich ständig wandelnde Landschaft an ihnen vorbeizog. Als der Schaffner das Abteil verlassen hatte, fuhr Ellery fort. »Wer aber ermordete Krosac in Arroyo? Der Mörder, soviel war uns schon länger klar, mußte von der Krosac-Tvar-Blutfehde gewußt und dieses Wissen in Gestalt seiner T-Symbolik angewandt haben. Wer aber kannte die Geschichte der beiden montenegrinischen Familien? Den Aussagen von Van und Megara zufolge war die europäische Vorgeschichte nur Van, Megara, Brad und Krosac bekannt. Konnte also Megara die T-Symbolik verwandt haben? Nein, schon aus geographischen Gründen nicht -er befand sich am anderen Ende der Welt. Brad? Ebenfalls unmöglich; Mrs. Brad hatte in der Gegenwart von Personen, die im Falle der Unwahrheit hätten widersprechen können, ausgesagt, der Landesmeister im Damespiel sei an Heiligabend bei ihnen zu Gast gewesen und ihr Mann habe den ganzen Abend mit ihm am Brett gesessen. Krosac als Opfer fiel ebenfalls fort. Kling vielleicht? Nein, denn abgesehen von der Tatsache, daß er von der Geschichte der Tvars nichts wußte und den Buchstaben T folglich nicht in seiner fatalen Bedeutung verwandt haben konnte, war er wiederholt als halbdebil beschrieben worden; ihm war eine derart intelligente Vorgehensweise nicht zuzutrauen. Übrig blieb als einziger, der alle erforderlichen Kriterien erfüllte, Andrew Van. So war es also. Van hatte Krosac getötet. Es blieb nur die Frage: Wie? Auch das ließ sich rekonstruieren. Er wußte ja, daß Krosac ihm und seinen Brüdern nach dem Leben trachtete, und mußte irgendwie erfahren haben, daß Krosac mit dem verrückten Alten, Stryker, durch die Lande zog, und ihn mit einem anonymen Schreiben geködert haben. Krosac, der sich kurz vor dem Ziel seiner Rache wähnte, biß an -ohne in seinem Eifer nach der Herkunft des Briefes zu fragen -und verstand es, den willfährigen Alten mit seiner Karavane in die Nähe von Arroyo zu manövrieren. Schließlich heuerte er -der erste und letzte Auftritt des echten Krosac im gesamten Drama -Croker, den Tankstellenbesitzer aus Weirton an, ihn zur Kreuzung zu fahren. Wie Sie sich erinnern, hatte Krosac in Weirton kein Gepäck dabei ­

bezeichnenderweise war der Mörder jedoch später stets mit Reisetasche unterwegs. Warum hatte Krosac das erste -und für ihn einzige -Mal keine Tasche dabei? Weil er nicht die Absicht hatte, sein Opfer zu Hackfleisch zu verarbeiten; wahrscheinlich war er ein zu allem entschlossener, aber keinesfalls geisteskranker Rächer, dem der bloße Tod seiner Erzfeinde genügt hätte. Wäre Krosacs Plan an jenem Heiligabend nicht vereitelt worden, dann hätten wir die Leiche des Lehrers von Arroyo in unversehrtem Zustand gefunden -wahrscheinlich erschossen.

Doch es kam anders. Van, der Initiator dieser Kette von Grausamkeiten, lag auf der Lauer, um seinen arglosen Todfeind zu erschlagen, sobald er das Haus betrat. Den armen Kling hatte Van zuvor gefesselt und lebend an einen geheimen Ort gebracht. Nach vollendeter Tat zog er Krosac seine eigenen Kleider an, schlug dem Toten den Kopf ab und so weiter und so fort. Van -oder Andreja Tvar -mußte alles von Beginn an im voraus geplant und viel Zeit darauf verwendet haben, seine Morde als Blutrache jenes Krosac zu tarnen, der in Jahren einsamen Brütens wahnsinnig geworden war. Kling versteckte er, um am Schluß mit dessen Leiche seine eigene Ermordung vortäuschen zu können. Es sollte so aussehen, als habe Krosac, nachdem er zunächst den Falschen erwischt hatte, zwei der Tvar-Brüder und schließlich -nachdem er seinen Fehler erkannt hatte -auch den dritten umgebracht. Van, der dem Psychopathen Krosac scheinbar doch noch zum Opfer gefallen war, konnte unbehelligt -da tot -mit seinen Ersparnissen und der stattlichen Summe, die er seinem Bruder Stephen abgeluchst hatte, entkommen, während die Polizei bis in alle Ewigkeit einem Phantom nachjagte ... Er war nicht sonderlich schwer, die Toten so zu präparieren, daß sie für jemand anders gehalten wurden; denken Sie nur daran, daß Van sich seinen Hausangestellten Kling selbst im Waisenhaus ausgesucht hatte ­aufgrund seiner physischen Ähnlichkeit mit sich selbst. Auch Krosac muß ihm einigermaßen ähnlich gesehen haben ­Voraussetzung dafür, daß er als Van identifiziert werden konnte. Wahrscheinlich hat ihn diese oberflächliche Ähnlichkeit -die er entdeckte, als er auf Stryker und seinen Begleiter stieß, noch bevor er den anonymen Brief abschickte -erst auf die entscheidende Idee gebracht.«

»Du sagtest vorhin«, bemerkte der Inspector, während er sich eine weitere Prise Schnupftabak genehmigte, »du hättest am Anfang den richtigen Riecher gehabt, wärst aber nicht drangeblieben oder so ähnlich. Wie hast du das gemeint?«

»Zu meiner Schande nicht nur am Anfang«, erwiderte Ellery beschämt. »Immer wieder kam mir der Gedanke, aber jedesmal habe ich ihn verworfen, weil die alternative Erklärung die plausiblere zu sein schien ... Denn schau: Schon beim ersten Mord fiel doch eines sofort auf -der Kopf war abgetrennt worden und blieb verschwunden. Warum? Es schien die spezielle Marotte des Geisteskranken zu sein, seine Opfer zu köpfen. Später erfuhren wir die Geschichte der Tvars, interpretierten die Ts folgerichtig als Rachesymbole und nahmen an, der Mörder hätte seine Opfer enthauptet, um ihre gekreuzigten Leichen T-förmig zu machen. Doch letzte Zweifel wollten nicht verstummen ... Es gab nämlich auch eine andere Erklärung dafür: Daß die T-förmige Leiche, die T-Kreuzung, der Wegweiser, das T an der Haustür im ersten Mord; der Totempfahl im zweiten und der Antennenmast im dritten (auch die hingeschmierten Ts kehrten regelmäßig wieder) -, daß der jeweilige Tatort nur zu einem Zweck so verschwenderisch mit T-Symbolen dekoriert worden war: um davon abzulenken, daß der Leiche jedesmal der Kopf fehlte. Der Kopf, das Gesicht, ist oft der einzige Körperteil, anhand dessen sich eine Leiche identifizieren läßt. Also, sagte ich mir, war es theoretisch möglich, daß wir es nicht mit den Verbrechen eines T­ Besessenen zu tun hatten, sondern mit jemandem, der trotz aller Mordlust sachlich genug vorging, die Toten zu köpfen, um ihre Identität zu verschleiern. Ein Umstand schien für diese Variante zu sprechen: Keiner der Köpfe war je gefunden worden. Warum hatte der Mörder die Köpfe nicht einfach am Tatort oder in unmittelbarer Nähe liegenlassen, um die schaurigen Zeugen seiner Taten so bald wie möglich los zu sein -was gewöhnlichen Mördern, ob wahnsinnig oder nicht, erfahrungsgemäß ein Bedürfnis ist? Die T-Manie hätte ja auch so ihre Befriedigung gefunden. Aber die Köpfe blieben verschollen; und ich hatte stets das ungute Gefühl, daß hier etwas nicht stimmte.

Doch solche Gedanken waren reine Spekulation; die anderen Indizien verwiesen so eindeutig auf einen besessenen Rächer, daß ich immer wieder von der richtigen Spur abkam. Als ich jedoch den vierten Mord untersuchte, fand ich heraus, daß Andrew Van hinter allem steckte -und auf einmal lösten sich auch alle Widersprüche in Wohlgefallen auf. Bei seinem ersten Mord -dem an Krosac -war er gezwungen gewesen, sein Opfer zu köpfen, um eine Identifizierung zu verhindern und gleichzeitig plausibel zu machen, daß es sich um seine eigene, respektive Klings Leiche handele beziehungsweise gehandelt habe, je nach dem von ihm selbst manipulierten Erkenntnisstand der Ermittler. Es reichte jedoch nicht aus, einfach nur den Kopf abzuhacken -die Polizei hätte sofort Verdacht geschöpft und wäre Van möglicherweise auf die Schliche gekommen. Also tüftelte Van die schreiend irrationale T-Symbolik aus, um vorzugaukeln, es handelte sich um das Werk eines Wahnsinnigen mit T-Manie. Das Fehlen der Köpfe ging im Gesamtszenarium unter und lenkte die Polizei zuverlässig von seinem wahren Zweck ab, der darin bestand, jeden Zweifel an der Identität der ersten und der letzten Leiche im Keim zu ersticken. Als er einmal damit angefangen hatte, war er natürlich gezwungen, die Schreckensprozedur jedesmal zu wiederholen; auch seine Brüder Brad und Megara mußte er enthaupten, um die Kontinuität der T-Manie zu wahren. Als er das letzte Mal mordete, diente die Enthauptung jedoch wieder einem echten Zweck. Wir hatten es mit einem Teufelsplan zu tun, der in Entwurf und Ausführung gleichermaßen genial war.«

»Ich würde gern noch einmal auf den letzten Mord zu sprechen kommen«, sagte Isham und schluckte. »Habe ich mir das nur eingebildet, oder waren die - äh - Fußspuren, die zur Hütte führten, tatsächlich tiefer als diejenigen, die von ihr fortführten?«

»Alle Achtung, Mr. Isham!« erwiderte Ellery. »Wie gut, daß Sie mich daran erinnern! Diese Beobachtung hat mir als Bestätigung gedient, als ich den ganzen Fall im Geiste noch einmal rekapitulierte. Ich hatte beobachtet, daß sich -wie Sie gerade sagten -die Fußspuren, die von der Hütte wegführten, weniger tief eingeprägt hatten als diejenigen, die zu ihr hinführten. Die Erklärung? Ein einfacher Syllogismus. Warum sollten die gleichen Abdrücke im gleichen Boden einmal tiefer sein als ein anderes Mal? Weil der Mörder im ersten Fall etwas Schweres transportierte und im zweiten nicht -die einzig logische Erklärung dafür, daß derselbe Mensch in so kurzer Zeit plötzlich schwerer geworden war. Das paßte außerdem wunderbar. Ich wußte, daß es sich bei dem letzten Toten, den wir gefunden hatten, um Kling handelte. Wo hatte Van Kling gefangengehalten? In der Hütte selbst nicht, also irgendwo in der Umgebung. Constable Luden hatte einmal erwähnt, daß es in den Bergen von West Virginia zahlreiche Höhlen gibt; und Van selbst hatte uns erzählt, er sei auf die verlassene Hütte während einer Höhlenexpedition gestoßen, die er vermutlich nur zu diesem Zweck unternommen hatte. Van holte Kling aus der Höhle, in der er ihn monatelang gefangengehalten hatte, und trug ihn zur Hütte. Der Regen mußte aufgehört haben, nachdem er sich zur Höhle aufgemacht hatte, aber bevor er mit seiner lebendigen Last zurückgekehrt war; der Regen hatte die Abdrücke fortgewaschen, die er auf dem Hinweg hinterlassen hatte, diejenigen aber, die sich nach seiner Rückkehr in den nassen Boden eingeprägt hatten, waren erhalten geblieben. Die tiefen Abdrücke waren also entstanden, als er Kling in die Hütte schleppte, und die weniger tiefen, als er sie nach dem Mord zum letzten Mal verließ.«

»Warum hatte er Kling nicht zu Fuß mitgeschleift?« fragte Isham.

»Weil er von Anfang an vorhatte, die Spur eines hinkenden Mannes zu legen. Indem er Kling trug und gleichzeitig hinkte, schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe und erweckte dennoch den Eindruck, nur ein Mann -Krosac -habe die Hütte betreten. Indem er die Hütte hinkend verließ, täuschte er Krosacs Flucht vor. Er machte jedoch einen Fehler: Er vergaß, daß seine Fußabdrücke in dem weichen Boden auf dem Hinweg tiefer als auf dem Rückweg ausfallen mußten.«

»Mir will das alles einfach nicht in den Schädel«, murmelte der Professor. »Der Mann muß ein Genie sein! Auch wenn seine Verbrechen noch so abartig sind -so einen Plan ersinnt nur ein extrem kluger Kopf!«

»Warum auch nicht?« fragte Ellery trocken. »Wir haben es mit einem gebildeten Mann zu tun, der die Zeit hatte, jahrelang an seinem Plan zu feilen. Aber ohne jeden Zweifel ein brillanter Kopf. Sein Genie zeigte sich allein schon darin, daß er es verstand, die Motive Krosacs auf seine eigenen abzustimmen. Nehmen wir allein die Sache mit der Pfeife, dem herumgedrehten Teppich und Brads Brief an die Polizei. Ich hatte Ihnen bereits Krosacs Grund erläutert, den wahren Tatort zu vertuschen; er mußte Zeit schinden und abwarten, bis Megara auf den Plan rückte und ihm den Weg zu Van wies, der -wie er mittlerweile wußte -noch am Leben war. Van jedoch, der sein Phantom Krosac mit denkbar einleuchtenden Gründen ausgestattet hatte, Zeit zu schinden, war selbst -als der wahre Mörder - noch viel dringender darauf angewiesen. Wenn die Polizei die Bibliothek sofort durchsucht und lange vor Megaras Rückkehr Brads Brief gefunden hätte -zu dem Van zweifellos seinen Bruder animiert hatte -, dann wäre sie zu früh darauf gekommen, daß Van noch lebte. In dieser Situation hätte ein Patzer genügt, um die Polizei auf seine Doppelidentität aufmerksam zu machen -womit er in eine äußerst prekäre Lage geraten wäre. Stellen Sie sich bloß einmal vor, Megara wäre mit seiner Jacht gekentert und nie zurückgekehrt. In diesem Fall hätte niemand mehr bezeugen können, daß Old Pete alias Van wirklich ein Bruder von Brad und Megara war. Indem er jedoch die Verzögerung einbaute, stellte er sicher, daß Megara Vans Bruderschaft nach seiner Rückkehr bestätigte. Ohne eine solche Bestätigung wäre schnell Verdacht auf ihn gefallen; mit Megara als Zeugen jedoch konnte er sich problemlos zum Unschuldslamm stilisieren.

Was aber brachte ihn überhaupt dazu, in Erscheinung zu treten? Vans Kunstgriff diente in Wahrheit nur einem Zweck: Indem er dafür sorgte, daß Brad der Polizei die Nachricht hinterließ, setzte er eine komplizierte Ereignisfolge in Gang, die es ihm schließlich ermöglichte, als anerkannter Tvar-Bruder aufzutreten und sein Erbe einzufordern. Er hätte die Polizei ja auch in dem Glauben lassen können, er wäre Krosac zum Opfer gefallen. So hätte er offiziell als tot gelten und ›Krosac‹ losschicken können, um seine beiden Brüder zu töten. Wenn er jedoch offiziell tot war -wie kam er dann an das Geld, das Brad ihn in seinem Testament vermacht hatte? Er mußte in Erscheinung treten -lebend. Und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem Megara bezeugen konnte, daß Van tatsächlich sein Bruder war. Nur so kam er gefahrlos an die fünftausend Dollar. Nichts hat er so glänzend gespielt wie diesen Part; erinnern Sie sich an die Szene, in der Megara -den ohnehin Gewissensbisse plagten -über das entsagungsvolle Leben seines ›verängstigten‹ Bruders so erschüttert war, daß er ihm die doppelte Summe anbot? Und wie Van ›bescheiden‹ ablehnte? Er wolle nur, was ihm zustehe, sagte er ... Was für ein Schlitzohr! Auf das zusätzliche Geld verzichtete er, um den weltabgewandten Sonderling um so glaubhafter verkörpern zu können! Doch das war noch nicht alles. Indem er im Beisein Megaras seine Geschichte erzählte, bereitete er seine eigene Ermordung vor; die Polizei ›wußte‹ nun, daß der wahnsinnige Rächer, der nicht ruhen würde, bis alle Tvars unter der Erde waren, herausgefunden hatte, daß er den Falschen erwischt hatte und Van noch lebte. Teuflisch clever!«

»Mir zu hoch«, brummte Vaughn kopfschüttelnd.

»Und mit so etwas muß ich mich herumschlagen, seit ich Vater bin!« murmelte Inspector Queen. Er seufzte leise und schaute mit entrückter Miene aus dem Fenster.

Professor Yardley konnte sein Ego nicht damit trösten, Erzeuger solchen Scharfsinns zu sein; und schien demzufolge nicht die geringsten Glücksgefühle zu empfinden. Mürrisch zupfte er an seinem Spitzbart. »Angenommen, alles war genau so, wie Sie sagen«, grummelte er schließlich. »Wie Sie wissen, habe ich mein Leben damit verbracht, knifflige Rätsel zu lösen, wenn auch, wie ich einräumen muß, vorwiegend historische. Ein weiteres Zeugnis menschlicher Genialität erstaunt mich daher keinesfalls. Eines allerdings erstaunt mich doch ... Wie Sie soeben ausführten, soll Andreja Tvar, leiblicher Bruder von Stefan und Tomislav Tvar, über Jahre hinweg minuziös geplant haben, selbige Brüder umzubringen. Aber warum? In Gottes Namen - warum?«

»Ich glaube, ich weiß, was Ihnen aufstößt«, erwiderte Ellery nachdenklich. »Der besonders abscheuliche Charakter der Verbrechen und das, was er impliziert. Aber auch diese Frage läßt sich beantworten, ohne ein Motiv zu bemühen. Zweierlei können wir als gegeben betrachten: Erstens mußte Andreja Tvar, sofern sein Plan gelingen sollte, einige höchst unangenehme Tätigkeiten verrichten -vier Menschen (unter anderem seinen Brüdern) den Kopf abschlagen; tote Hände und Füße an behelfsmäßige Kreuze nageln, ungewöhnlich viel Blut vergießen ... Zweitens muß Andreja Tvar von einem Wahn befallen sein; selbst wenn er normal war, als er den Plan erdachte -er war krank, als er ihn zur Ausführung brachte. Ein Wahnsinniger, der Unmengen von Blut verspritzt -auch das seiner eigenen Brüder.« Ellery sah Yardley direkt in die Augen. »Worin liegt der Unterschied? Warum sollte Van nicht genauso verrückt sein wie unser imaginärer Krosac? Der kleine, aber feine Unterschied besteht offenbar darin, daß er anstelle von Erzfeinden seine eigenen Brüder getötet und grausam verstümmelt hat. Aber selbst Sie werden schon von Männern gehört oder gelesen haben, die ihre Frauen verbrennen, von Schwestern, die ihre Brüder zu Hackfleisch verarbeiten, von Söhnen, die ihren Müttern den Schädel zertrümmern; von Inzest und allerlei sonstigen Verbrechen, die innerhalb der Familie geschehen. Unsereiner mag so etwas kaum glauben wollen ­aber fragen Sie nur meinen Vater oder Inspector Vaughn; Ihnen werden die Haare zu Berge stehen, wenn Sie zu hören bekommen, zu welchen Wahnsinnstaten Menschen imstande sind!«

»Konzediere«, erwiderte Yardley. »Solch viehische Auswüchse lassen sich sicher mit verdrängtem Sadismus erklären. Aber das Motiv, mein Junge, das Motiv! Woher wollen Sie denn Vans Motiv kennen, wenn Sie bis zum vierten Mord Velja Krosac für den Täter gehalten haben?«

»Einfache Anwort: Ich kenne sein Motiv bis heute nicht. Aber was macht das schon? Das Motiv eines Wahnsinnigen kann so abwegig oder pervers sein, daß es sich aller Logik

entzieht. Wenn ich Van als Wahnsinnigen bezeichne, dann meine ich damit selbstverständlich nicht, daß er den Verstand verloren hätte; ganz im Gegenteil, wie wir wiederholt festgestellt haben, verfügt er über einen außerordentlich scharfen Verstand und ist -bis auf diesen krankhaften Tick, der sich verselbständigt und zur Manie ausgewachsen hat -völlig normal. Meinem Vater und Inspector Vaughn fallen sicherlich Dutzende von Fällen ein, in denen der Täter so normal wirkte wie Sie oder ich, in Wirklichkeit aber zu den gefährlichsten Psychopathen zählte.«

»Das Motiv kennen wir inzwischen«, sagte Inspector Queen. »Schade, daß du gestern abend nicht dabei warst, Junge, oder Sie Professor, als der Commissioner und Vaughn Freund Van in die Mangel genommen haben. War das spannendste Verhör, das ich je erlebt habe! Wir dachten erst, der kriegt ’nen epileptischen Anfall; aber dann wurde er auf einmal ruhig und hat -während er die scheußlichsten Verwünschungen auf die Häupter seiner Brüder häufte - schließlich ausgepackt.«

»Die er real übrigens mit Bleigewichten im Sund versenkt hat«, fügte Isham hinzu. »Die anderen hat er in den Bergen verbuddelt.«

»Im Falle seines Bruders Tomis-Tomis-Tom«, fuhr lnspector Queen fort, »war es das Übliche - eine Frau. Van hatte in seiner alten Heimat wohl eine Freundin, die Tom ihm ausspannte und heiratete. Brad soll seine Frau grausam gequält haben. An seinen Mißhandlungen soll sie auch gestorben sein. Ob da etwas dran ist oder nicht, werden wir nie mehr herausfinden; Van jedenfalls behauptet, daß es so war.«

»Und was hatte Megara verbrochen?« fragte Ellery. »Mir schien er ein äußerst liebenswürdiger, wenn auch verschlossener Mensch zu sein.«

»Das ist alles etwas vage«, antwortete Vaughn. »Es sieht so aus, als hätte Van als der Jüngste der drei Brüder keinen rechtlichen Anspruch auf das Erbe des alten Tvar gehabt, und als hätten sich seine älteren Brüder prompt alles unter den Nagel gerissen, ohne Van etwas davon abzugeben. Megara war der Älteste und hatte die Finger auf dem Geld. Als sie Krosacs Erbe an sich gebracht hatten, gaben sie ihm wieder nichts ab ­mit der Begründung, er sei noch zu jung oder irgend so was. Denen hat er‘s gezeigt, was?« Vaughns Gesicht überzog ein sardonisches Grinsen. »Er konnte seine Brüder natürlich nicht verpfeifen, weil er mit drin hing. Aber all das erklärt, warum Van sich, sobald sie hierherkamen, von den anderen abgesondert hat. Brad muß immerhin Gewissensbisse gehabt haben, sonst hätte er seinem kleinen Bruder kaum die fünf Riesen vermacht. Als ob ihm das noch etwas genützt hätte!«

Die Männer schwiegen längere Zeit, während der Twentieth Century durch New York State donnerte.

Nur Professor Yardley hatte sich so in den Fall verbissen, daß er nicht lockerließ. Minutenlang kaute er auf seinem Pfeifenstiel herum, bevor er sich an Ellery wandte: »Sagt mir, o Allwissenheit, glaubt Ihr an Zufälle?«

Ellery streckte sich und paffte Rauchkringel an die Decke. »Der Herr Professor hat offenbar noch etwas auf dem Herzen ... Nein, mein Lieber, wenn es um Mord geht, gibt es für mich keine Zufälle.«

»Wie erklären Sie sich dann die beunruhigende Tatsache«, fragte Yardley, während seine Pfeife rhythmisch auf und ab wippte, »daß sich unser Freund Stryker -noch ein Irrer, Himmel! Ein Zufall in sich! -zur jeweiligen Tatzeit sowohl im Falle des ersten als auch, soweit wir wissen, der folgenden Morde immer in der Nähe des Tatorts aufhielt? Wenn Van der Mörder ist, muß Ra-Haracht, der alte Sonnengott, unschuldig sein ... Ist sein Auftauchen am zweiten Tatort nicht ein sehr merkwürdiger Zufall?«

»Vorbildlich, wie Sie mitdenken, Professor! Ich danke Ihnen für das Stichwort«, erwiderte Ellery forsch. »Natürlich handelte es sich auch dabei nicht um einen Zufall, wie ich schon während unserer ersten Unterhaltung im Selamik Ihres Freundes -ich liebe dieses Wort -indirekt angedeutet hatte. Die Fakten sprechen für sich; Krosac war kein Mythos, sondern Realität! -Krosac erfährt also durch ein anonymes Schreiben, daß sich einer der Tvar-Brüder in Arroyo aufhält; man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, daß in demselben anonymen Brief ebenfalls stehen wird, wo die beiden anderen Brüder leben -auf Long Island. Van weiß, daß Krosac mit Stryker durch Illinois zieht und sich auf seinem Weg nach Osten logischerweise zuerst den Schulmeister vornehmen wird. Krosac ist, wie wir höflicherweise annehmen, auch nicht völlig auf den Kopf gefallen. Er plant, zuerst den Tvar zu erledigen, der sich Andrew Van nennt, und dann die beiden anderen, die inzwischen Brad und Megara heißen. Er weiß, daß der Mord an dem unverdächtigen Lehrer erhebliches Aufsehen erregen wird und er danach untertauchen muß. Warum eigentlich nicht gleich in der Nachbarschaft seiner nächsten beiden Opfer? Er studiert die New Yorker Zeitungen, stößt auf die Anzeige von Ketcham, der Oyster Island zur Pacht anbietet, überredet Stryker, dort hinzuziehen und einen Sonnenkult aufzumachen, zahlt die Pachtgebühr für Oyster Island lange im voraus per Post ... Ist doch sonnenklar, was dann passiert, oder? Krosac wird ermordet. Stryker, le pauvre innocent, der von nichts etwas ahnt, tut sich mit dem ebenfalls unschuldigen Romaine zusammen, zeigt Romaine den Pachtvertrag, und sie machen sich auf den Weg. Womit die Anwesenheit der Sonnenanbeter auf der Insel erklärt wäre!«

»Du lieber Gott«, rief der alte Inspector. »Van hätte es selbst nicht besser arrangieren können, um den Hauptverdacht auf Stryker zu lenken!«

»Oh, das erinnert mich jetzt an etwas«, sagte der Professor nachdenklich. »Die Sache mit dem ägyptischen Dingsbums, Queen. Sie wollen aber nicht etwa darauf hinaus, Van hätte mit seinen Kreuzigungen Strykers Ägyptenfimmel ausschlachten wollen?«

»Danke!« parierte Ellery grinsend. »Ich will auf nichts dergleichen hinaus. Habe ich mich mit meinem Geschwafel vom ›ägyptischen Kreuz‹ noch immer nicht genug blamiert, Professor?« Plötzlich richtete er sich auf und schlug sich auf die Schenkel. »Dad! Das ist die Idee!«

»Jetzt hör mir erst einmal gut zu, Bürschchen!« fuhr ihn der Inspector gereizt an; seine gute Laune hatte sich offenkundig verflüchtigt. »Weißt du, was mir gerade einfällt? Das muß uns unser halbes Vermögen gekostet haben, Flugzeuge und was nicht alles für deine idiotische Verfolgungsjagd quer durch ganz Amerika zu chartern! Wer bitte soll das alles bezahlen?«

»Wenn ich das Problem logisch betrachte, habe ich drei Möglichkeiten. Die erste wäre, Nassau County für die Ausgaben aufkommen zu lassen.« Er fixierte Staatsanwalt Isham, der aufschreckte, zu reden begann und schließlich mit einem verschämten, ausgesprochen dummen Grinsen auf seinen Sitz zurücksank. »Nein, ich sehe ein, daß dies -um es vorsichtig zu formulieren -wohl nicht zu machen ist. Die zweite Möglichkeit: Ich begleiche die Rechnungen persönlich.« Er schüttelte den Kopf und verzog den Mund. »Nein, so menschenfreundlich bin ich nun auch wieder nicht ... Aber sagte ich nicht gerade eben, ich hätte einen großartigen Einfall gehabt?«

»Also, ich fürchte«, murmelte Inspector Vaughn, »wenn Sie keinen Spesenbetrug beabsichtigen und auch nicht selbst dafür geradestehen wollen, dann sehe ich nicht -«

»Mein lieber Inspector«, entgegnete Ellery triumphierend. »Ich werde aus unserem Abenteuer einfach ein Buch machen, es eingedenk meiner zuweilen blühenden Fantasie ›Das ägyptische Kreuz‹ nennen und die Leser zur Kasse bitten!«

Si finis bonus est;

Totum bonum erit.

GESTA ROMANORUM


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