Kapitel 5


Mit versteinerter Miene stand Alberich am Fuß der hohen Seilwinde und beobachtete die Vorbereitungen der Krieger. Eben noch hatten sie geflucht über die geringe Menge von Drachenblut, die sich im Auffangbecken gesammelt hatte; jetzt aber schienen sie ihre Enttäuschung vergessen zu haben und machten einen von ihnen für den Abstieg in die Tiefe bereit. Sie legten ihm eine Seilschlinge um, die ihn sicher tragen sollte, dann schwangen sie ihn über die Kante und ließen ihn langsam an der Winde hinab.

Der Geweihte stand einige Schritte abseits seiner Männer und beobachtete erhobenen Hauptes deren Mühen. Äußerlich wirkte er überlegen und ruhig, aber Alberich spürte, wie verzehrend die Gier in ihm brannte.

Die Männer hatten nicht auf den Befehl ihres Anführers gewartet, sondern auf eigene Faust mit den Vorbereitungen für den Abstieg begonnen. Alberich hatte den Geist der Rebellion gefühlt, der in der Luft lag. Und er hatte begriffen, daß der Geweihte die Sklaven nur aus einem einzigen Grund geopfert hatte: um seine Männer auf andere Gedanken zu bringen und ihre Wut von ihm selbst abzulenken. Er konnte nicht riskieren, daß sie ihn der Lüge überführten - denn nichts anderes war es gewesen, als er jedem von ihnen ein Bad im Drachenblut versprochen hatte. Eine Meuterei aber war das letzte, das er in diesem Augenblick gebrauchen konnte.

Trotzdem verstand Alberich noch immer nicht die weiteren Pläne des Geweihten. Warum der Tunnel in den Kadaver des Drachen? Und was hatte er, Alberich Horthüter, damit zu schaffen?

»Langsamer!« rief einer der Krieger, der auf dem Bauch am Rand der Klippe lag und über sie hinaus in den Abgrund blickte. »Er ist gleich da.«

Andere gesellten sich neugierig neben ihn und schauten gleichfalls hinunter. »Jetzt steigt er ins Becken«, brüllte einer erwartungsvoll den Zurückgebliebenen an der Seilwinde zu.

Alberich sah, daß ein bitteres Lächeln über das Gesicht des Geweihten zuckte. Oder war es wieder nur ein Schattenspiel der Hornspitzen? Nein, er war ganz sicher: Etwas erheiterte den Geweihten.

Ein qualvoller Schrei drang aus der Tiefe empor, erst nur verhalten, dann in plötzlichem Begreifen so gellend, daß einige der Männer die Hände vor die Ohren schlugen. Er wurde nicht leiser, ganz im Gegenteil; der Mann stürzte also nicht. Irgend etwas anderes war geschehen.

Alberich sprang vor, robbte an die Felskante und blickte nach unten.

Zum ersten Mal sah er das Becken und das Blut darin.

Er sah auch das, was das Blut aus dem Mann gemacht hatte.

Der Krieger hatte sich am Seil direkt in das rechteckige Becken geschwungen und war mit den Stiefeln darin zum Stehen gekommen. Das dunkelrote Blut des Drachen reichte ihm bis zu den Knöcheln. Wie unsichtbares Feuer hatte es sich in Windeseile durch Leder, Fleisch und Knochen gebrannt und die Füße des kreischenden Mannes verzehrt. Alberich sah noch, wie der Krieger nach vorne stürzte, sich mit Knien und Fingern im Blut aufstützte. Seine Hände und Unterschenkel zerfielen zu braunem Schlamm. Er begann in höchster Qual zu strampeln und um sich zu schlagen, rollte dabei mit Brust und Gesicht in die zähe Brühe. Seine Schreie verstummten, als das Drachenblut seine Kiefer zerfraß.

Augenblicke später erinnerten nur noch blasige Schlieren auf der Oberfläche an den Mann.

Einige Atemzüge lang herrschte völlige Stille. Niemand rührte sich, keiner wagte zu sprechen.

Dann, auf einen Schlag, brachen Chaos und Entsetzen über die Krieger herein. Jähes Begreifen zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab. Die an der Kante gelegen hatten sprangen auf, einer zog gar sein Schwert, als wolle er seinen Zorn damit in Stücke schlagen. Allmählich ordnete sich das wilde Durcheinander zu einer einzigen Anschuldigung: »Betrug!« rief einer und deutete dabei auf den Geweihten.

Alberich dachte, dies sei ein feiner Weg, alle seine Sorgen loszuwerden. Die Krieger würden ihren eigenen Herrn angreifen, einige würden sich auf seine Seite stellen, und am Ende meuchelten sich alle gegenseitig. Ja, das wäre eine gute Sache gewesen.

Aber natürlich war das Schicksal anderer Ansicht.

»Haltet ein!« rief der Geweihte; ihm waren wohl ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen. »Ihr laßt euch von eurer Ungeduld leiten. Warum mußte einer von euch dort hinuntersteigen, ohne meinen Befehl abzuwarten? Warum verzehrt euch die Gier nach etwas, das ihr längst besitzt? Das Blut des Drachen ist unser, und niemand kann daran etwas ändern.«

»Aber es tötet uns!« brüllte einer erzürnt, fuhr aber zusammen, als der Blick des Geweihten ihn traf.

»Nein! Es ist eure Ungeduld, die euch tötet. Das Blut muß behandelt werden, mit der Magie des Alten Volkes. Mit einer Magie, die allein unser Zwerg hier besitzt!« Dabei deutete er triumphierend auf den verwirrten Alberich, der gleich den Kopf zwischen die Schultern zog.

Aller Augen richteten sich auf ihn. Einige abschätzig, andere mit unverhohlener Wut. Aus manchen sprach sogar Neid, und es waren jene, die Alberich die größte Furcht einflößten.

»Was wollt ihr von mir?« fragte er kleinlaut. Wenn er seine Geißel noch gehabt hätte, dann hätte er ihnen gezeigt, was in ihm steckte. Aber unbewaffnet, einer vielfachen Übermacht von Menschen ausgeliefert, die allesamt doppelt so groß waren wie er selbst - was blieb ihm da schon, als klein beizugeben?

Zwei Krieger sprangen vor und packten ihn grob an den Armen. »Was sollen wir mit ihm tun, Herr?«

Ihr Vertrauen in die Worte des Geweihten schien nach wie vor unerschütterlich. Alberich wehrte sich nur halbherzig. Von einem Augenblick zum nächsten war die Treue der Männer wiederhergestellt, keiner schien die Worte des Geweihten in Frage zu stellen. Jeder Gedanke an Meuterei war wie ausgelöscht.

Statt dessen richteten sich Zorn und Gier der Krieger nun auf den Zwerg.

Der Geweihte bemerkte es mit Genugtuung. »Bindet ihn an die Seilwinde. Dann laßt ihn hinunter. Er soll uns einen Krug voll Drachenblut heraufbringen.«

»Ihr wollt, daß es mir ebenso ergeht wie Eurem Krieger?« rief Alberich voller Entsetzen aus, doch die Worte gingen im Lärm der Kriegerschar unter, die gleich mit einer Vielzahl von Händen daran ging, den Befehl ihres Herrn in die Tat umzusetzen.

Wenige Augenblicke später wurde er mit einem hölzernen Eimer in der Hand über die Kante gestoßen. Er schrie auf, als er die ersten zwei Schritte in freiem Fall in die Tiefe sauste, dann hielt ihn die Seilschlaufe mit einem grausamen Ruck in der Schwebe. Seine Brust und seine Schultern schienen in Flammen zu stehen, so schrecklich war der Schmerz, als sich der Strick um seine Glieder zusammenzog. Einen Moment lang fürchtete er, sein ganzer Leib würde auseinandergerissen, doch dann ließ der Schmerz schlagartig nach. Mit strampelnden Beinen wurde Alberich in den Abgrund herabgelassen.

Sein Verstand arbeitete fieberhaft. Geist hatte recht gehabt mit ihrem Vergleich, daß die Klippe wie ein Vogelschnabel vorsprang. Die Felswand fiel nicht gerade nach unten ab, sie wölbte sich vielmehr unterhalb des Plateaus nach innen. Alberich würde am Seil hin- und herschwingen müssen, um den Rand des Auffangbeckens zu erreichen. Das Schwindelgefühl machte ihn ganz verrückt, die Landschaft um ihn herum verschwamm zu grellem Farbflackern. Weit, weit unter ihm umspülte der Rhein den Fuß der Klippe. Die Leichen der Sklaven waren verschwunden, die Strömung mußte sie fortgerissen haben.

Und wenn sie doch noch da waren, gleich unter der Oberfläche? Wenn Alberich in die Tiefe stürzte und den Aufprall überlebte - nur um dann von eisigen Totenhänden zum Grund des Flusses gezerrt zu werden? Diese Vorstellung nahm auf einmal sein ganzes Denken ein. Immer wieder sah er sich in der düsteren Tiefe, während die Leichen mit schnappenden Klauen um ihn in der Dunkelheit schwebten.

Auch die Melodie stellte sich wieder ein, ein schrilles Auf und Ab von Tönen, das sich immer tiefer in seine Erinnerung brannte.

Als die Krieger bemerkten, daß der Zwerg nicht von selbst die Kraft aufbrachte, vor und zurück zu schaukeln, brachten sie selbst die Seile zum Schwingen. Die plötzliche Bewegung riß Alberich aus dem panischen Taumel seiner Schreckensbilder. Der Beckenrand kam näher, er versuchte, ihn zu fassen, doch seine freie Hand griff ins Nichts. Schon schwang er wieder zurück, fort von der Felswand, in die absolute Leere über dem Fluß. Wieder vor, wieder zurück.

So ging es mehrmals, und dabei gelang es ihm zum ersten Mal, die Konstruktion des Beckens genauer zu betrachten. Es war ein viereckiges Gebilde aus Balken, von einem Spinnenetz aus Brettern und Stämmen waagerecht in der Steilwand gehalten. Eine Brüstung, die Alberich fast bis zur Schulter reichte, umgab das eigentliche Becken, das mit einer schwarzen Schicht, augenscheinlich Pech, abgedichtet war. Wenn er sich nicht täuschte, maß es mindestens sechs mal vier Menschenschritte.

Er fragte sich, wie viele Sklaven beim Bau dieser Konstruktion ihr Leben gelassen hatten. Er stellte sich vor, wie sie an Stricken vor den Felsen gebaumelt hatten wie ein Heer von emsigen Spinnen, bewaffnet mit Hämmern und Nägeln und Balken.

Wieder raste er mit Schwung auf das Becken zu, und diesmal gelang es ihm, sich mit beiden Armen daran festzuklammern. Der Eimer schepperte aus seiner Hand lautstark in die Mitte des Beckens. Von oben erklangen aufmunternde Rufe, der schlimmste Hohn von allem.

Ächzend kämpfte Alberich sich auf den oberen Rand der Brüstung und blieb dort sitzen. Vor ihm lag das rote Rechteck des Beckenbodens, doppelt handbreit mit dem Blut des Drachen bedeckt. Er blickte an der Steilwand nach oben und entdeckte den Stollen, der zwei Schritte über dem Becken in den Fels führte. Der Blutstrom war längst versiegt. Unterhalb der Öffnung war ein Rinnsal am Stein zu brauner Schlacke geronnen.

Was war mit den Männern geschehen, die sich im Stollen befunden hatten, als der Durchbruch zum Grund des Blutsees gelang? Hatte das hervorschießende Blut sie in den Rhein gespült? Oder war es ihnen ebenso ergangen wie dem Krieger? Letzteres, vermutete Alberich - und wurde sich im selben Augenblick erneut seiner Lage bewußt. Die Anstrengung, das Becken zu erreichen, hatte ihn eine Weile lang so sehr beschäftigt, daß alles andere nebensächlich geworden war. Jetzt aber, da er auf dem Balkenrand kauerte und auf die Oberfläche des Drachenblutes hinabstarrte, traten ihm wieder die Bilder des zerfressenen Mannes vor Augen.

Oben wurden abermals Rufe laut. Die Krieger forderten ihn auf, endlich hinab ins Blut zu steigen und einen Eimer voll herauszuschöpfen.

Der Eimer! Da lag er, inmitten des Beckens. Unversehrt!

Wie war das möglich? Das Blut hatte auch die Kleidung des Kriegers zersetzt. Nichts war übriggeblieben. Warum also blieb der Eimer heil? Und, überhaupt, weshalb konnte das Becken selbst der zerstörerischen Macht des Blutes widerstehen?

Alberich glaubte nicht, daß es am Holz lag. Der Krieger hatte Fell und Leder und Eisen getragen, und sicher auch den einen oder anderen Holzknopf. Wären sie unbeschädigt geblieben, hätten sie an der Oberfläche schwimmen müssen. Aber da war nichts, gar nichts!

Ein heftiger Ruck an den Seilen ließ ihn beinahe wieder nach hinten stürzen. Gerade noch gelang es ihm, sich am Balken festzuklammern und seinen Fall zu verhindern. Die Krieger an der Winde wurden ungeduldig. Mehr als das: Sie schrien und fluchten vor Zorn, drohten ihm mit Höllenqualen und Schlimmerem. (Das war es tatsächlich, was sie riefen - »Schlimmeres« -, was auch immer sie darunter verstehen mochten; Alberich war allerdings nicht begierig darauf, es am eigenen Leibe zu erfahren.)

Instinktiv zerrte er an den Knoten und Schlaufen, die ihn hielten. Doch jeder Versuch, sie zu lösen, war vergebens. Die Männer hatten ganze Arbeit geleistet, als sie ihn derart verschnürten. Auch besaß er kein Messer, mit dem er das Seil hätte kappen können. Die Erkenntnis, daß er ihnen auf Gedeih und Verderben ausgeliefert war, warf ihn in tiefe Verzweiflung. Er mußte tun, was sie verlangten. Mit den Füßen ins Blut steigen.

Er versuchte, ein Stück Stoff aus seinem Wams zu reißen, um es versuchsweise unterzutauchen, aber selbst das wollte ihm nicht gelingen. Seine Finger zitterten - allein von der Höhe, sagte er sich wieder und wieder -, und er fürchtete, seine Füße würden ihn nicht tragen, wenn er sie ins Becken stellte. Vorausgesetzt, das Blut zerfraß sie nicht innerhalb eines einzigen Herzschlags.

Wieder wurde an den Seilen gezerrt, und das gab den Ausschlag. Alberich schloß die Augen und ließ sich vom Rand ins Becken gleiten. Das Blut umschloß seine Füße, reichte ihm bis zu den Waden.

Wenigstens tut es nicht weh, dachte er.

Als er zaghaft die Augen öffnete, waren seine Füße noch da, wo sie hingehörten. Kein unsichtbares Feuer, das sie verzehrte. Nur das allmählich dickflüssig werdende Blut, das sie aufgesogen hatte wie roter Morast. Die Krieger oben auf der Klippe machten schäbige Witze über ihn; jedenfalls lachten sie grob. Vielleicht war es auch nur ein Zeichen ihrer Erleichterung.

Einen Augenblick lang fragte er sich, was der Geweihte gerade tat. Er schien nicht bei ihnen zu sein, denn er hörte seine Stimme nicht mehr. Möglicherweise stand er wieder stumm im Hintergrund, ein dräuender Schatten, halb Mensch, halb Zauberwesen.

Angewidert stapfte Alberich vorwärts, packte den Eimer und schabte damit über den Beckenboden. Er füllte sich zu zwei Dritteln.

»Und nun?« brüllte er mit schwankender Stimme nach oben.

Zu seinem jähen Schrecken schwankte nicht allein seine Stimme - auch das Becken hatte unter seinen Schritten zu beben begonnen. Offenbar war es weniger fest verankert, als er angenommen hatte.

Als Antwort auf seine Frage sauste ein einzelnes Seilende in die Tiefe, beschwert mit einem Stein. Hastig wurde es drei-, viermal vor und zurück geschwungen, dann gelang es Alberich, den Stein zu packen. Er war viel schwerer, als er vermutet hatte, und so groß wie sein Kopf. Das Gewicht ließ ihn stolpern. Mit den Knien fiel er mitten ins Blut. Wieder wackelte die ganze Konstruktion.

Auf der Klippe wurde neuerliches Lachen laut. Die Gesichter, die sich über die Felskante reckten, grinsten schadenfroh.

»Binde den Eimer am Seil fest!« rief eine Stimme von oben. »Aber gib acht! Wehe, du vergießt einen Tropfen!«

Was willst du dann tun? dachte er wütend. Runterkommen und mich erschlagen? Aber er sagte nichts und versuchte, den Stein vom Seil loszubinden.

»Es geht nicht!« rief er schließlich hinauf. »Ihr habt die Knoten zu fest gemacht.« Das war die Wahrheit; der Stein ließ sich mit aller Mühe nicht von dem Strick lösen.

»Dann knote das Seil eben mit dem Stein am Eimer fest!« kam die ungeduldige Antwort.

»Unmöglich. Der Stein paßt nicht unter den Griff. Ich muß ihn abschneiden.«

Was er selbst nicht für möglich gehalten hatte, geschah: In weitem Bogen wurde etwas auf ihn zugeschleudert und fiel unweit von ihm ins Blut. So dumm konnten sie nicht sein! durchfuhr es Alberich ungläubig. Aber als er die Hand ins Blut tauchte und mit den Fingern über den Grund des Beckens tastete, bewahrheitete sich seine Hoffnung. Es war ein Dolch!

Über ihm brach ein Streit aus. Der Krieger, der seine Klinge hinabgeworfen hatte, wurde lautstark gescholten.

Schließlich brüllte eine Stimme: »Paß auf, was du tust, Zwerg! Wir haben dich schneller hochgezogen, als du glaubst!«

Damit mochten sie wohl recht haben. Tatsächlich aber beschäftigte Alberich in diesem Moment etwas völlig anderes. Immer noch steckte seine Hand im dickflüssigen Blut des Drachen. Es war das erste Mal, daß es direkt mit seiner nackten Haut in Berührung kam.

Die Melodie überkam ihn mit solcher Wucht, daß er abermals zurücktaumelte, aufs Hinterteil fiel und sich mit beiden Händen abstützen mußte. Das Blut umschloß zäh seine Finger, kroch an seinen Armen hinauf bis zu den Ellbogen. Kroch wie ein lebendes Wesen!

Diesmal war die Melodie nicht irgendwo in den Weiten seines Hirns, sondern direkt hinter der Stirn, auch in seinen Ohren. Und sie klang mehr und mehr wie Hilferufe.

Es lebt! schoß es ihm durch den Kopf.

Nur deshalb war noch immer ein Teil davon flüssig. Nur deshalb vermochte es selbst zu entscheiden, wen oder was es zersetzte und wer davon unberührt blieb.

Das Blut, in dessen Mitte er saß, lebte!

Doch warum verschonte es gerade ihn?

Die Melodie trat abermals hinter seine eigenen Gedanken zurück. Sie war nicht fort, aber doch leise genug, daß er versuchen konnte, wieder zu klarem Verstand zu kommen.

Die Rufe und Drohungen der Krieger wurden lauter. Eilig machte er sich daran, den Stein vom Seil zu schneiden. Dann knotete er das Ende um den Eimergriff und gab den Kriegern zu verstehen, sie sollten ihn vorsichtig hinaufziehen.

Aller Augen waren auf den Eimer gerichtet, der jetzt langsam und pendelnd nach oben schwebte.

Das war genau die Ablenkung, auf die Alberich gewartet hatte. Eilig machte er sich daran, das Seil, das sie ihm um Brust und Schultern geschlungen hatten, zu zerschneiden. Es ging viel schwerer, als er gehofft hatte, denn der Strick war dicker und fester gedreht als jener, der den Eimer trug. Jeden Moment konnten sie bemerken, was er tat. Sie würden ihn aus dem Becken zerren, bevor er sich gänzlich befreien konnte. Wenn er Pech hatte, würde das Seil gerade dann reißen, wenn er frei in der Luft hing.

Der Eimer hatte die Felskante fast erreicht, als das Unvermeidliche geschah.

»Zieht den kleinen Bastard hoch!« schrie einer. »Er zerschneidet den Strick!«

Sogleich straffte sich die Schlaufe um Alberichs Körper. Noch immer hielt das Seil, war etwa bis zur Hälfte durchgesägt. Der Ruck zerrte den Zwerg quer durch das Drachenblut, bis er von oben bis unten damit bedeckt war. Sein Kopf prallte gegen die Brüstung, doch immer noch schnitt er tiefer und tiefer ins Seil. Seine Schultern glitten an den Balken empor, als die Seilwinde sich unaufhaltsam drehte und ihn nach oben zog. Schon blickte er über den Rand hinweg in den Abgrund, wieder schwindelte ihm - und da endlich riß das Seil. Peitschend lösten sich die Schlaufen, schnitten heiß in seine Haut. Mit einem Klatschen fiel er zurück ins Becken. Die Seilenden tanzten wie zappelnde Schlangen über dem Abgrund.

Der Eimer hingegen gelangte nach oben und wurde über die Kante gehoben. Alberich hörte, wie der Geweihte Befehle schrie, konnte sie aber nicht verstehen.

Beinahe gleichzeitig ging ein Pfeilhagel auf das Becken nieder, doch keines der Geschosse kam ihm näher als zwei Schritte. Die Krieger hatten beträchtliche Mühe mit dem Zielen, während sie mit dem Oberkörper über der Kante hingen. Daß sie dabei ihr Leben ihren Kameraden anvertrauen mußten, die sie an den Beinen festhielten, war ihrem Geschick nicht eben zuträglich.

Alberich ging hinter der Brüstung in Deckung, blutbesudelt von den Zehen bis zur Nasenspitze. Ein wahnwitziger Gedanke durchfuhr ihn: War er jetzt unverletzlich? Hatte er bereits die gleiche Panzerhaut, wie Siegfried sie angeblich sein eigen nannte?

Er war versucht, die Dolchspitze gegen sich selbst zu richten und es einfach auszuprobieren, als er bemerkte, daß die Bogenschützen ihre sinnlosen Mühen aufgegeben hatten. Statt dessen wurde ein einzelner Krieger an einem Seil heruntergelassen, bewaffnet mit Schwert und Dolch und einer Axt im Gürtel.

Alberich erhob sich und wurde sich gleichzeitig bewußt, daß er eine furchterregende Erscheinung abgeben mußte. Das Blut war bereits so zäh geworden, daß es sich wie eine dunkelrote Haut um ihn legte. Für den Krieger mußte es aussehen, als habe das Drachenblut selbst Form angenommen, das Zerrbild eines Menschen. Trotzdem schwirrte er näher und näher, begann bereits hin und her zu schaukeln, um den Beckenrand zu fassen zu bekommen.

Alberich war unbewaffnet bis auf den Dolch, und der mochte ihm kaum eine Hilfe sein. Aber er hatte einen besseren Einfall.

Ungeduldig wartete er, bis der Krieger sich auf seiner Höhe befand und dem Becken gefährlich nahe kam. Beim nächsten Schwung mußte er es erreichen.

Da packte Alberich mit beiden Händen den Stein, den er vom Seil geschnitten hatte, stemmte ihn so schnell er konnte in die Höhe und schleuderte ihn dem heranschwingenden Krieger entgegen.

Er hätte gar nicht besser zielen können. Der Stein krachte im selben Moment in die entsetzte Grimasse des Kriegers, als er Alberichs Absicht erkannte, zerschmetterte sein Gesicht und stürzte in die Tiefe. Zuckend pendelte der Krieger hin und her, verlor Schwert und Dolch und war schließlich nicht mehr als lebloser Ballast am Ende des Seiles.

Alberich achtete nicht auf die Drohungen und Verwünschungen von oben.

Statt dessen nahm er endlich in Angriff, was er die ganze Zeit über vorgehabt hatte.

Er zerstörte das Becken.



Geist lag flach im Heidekraut und beobachtete, wie der Geweihte den Bluteimer entgegennahm. Ihre Haut hatte die braungrüne Farbe des Untergrunds angenommen, und sie preßte sich eng in die niedrigen Büsche; so hoffte sie, unbemerkt zu bleiben. Zumal die Krieger kaum damit rechnen würden, daß sie hierher zurückgekehrt war.

Der Geweihte gab seinen Männern Befehl, den Zwerg, egal mit welchen Mitteln, wieder nach oben zu holen. Dann sollten sie ein Faß aufstellen, und es von Alberich Eimer um Eimer auffüllen lassen. Danach wollte der Geweihte selbst, so sagte er, mit Hilfe Alberichs den Zauber durchführen, der dem Blut die Gefährlichkeit nehmen sollte.

Ein vages Mißtrauen ließ Geist an den Worten des Geweihten zweifeln. Vermochte er wirklich, was er behauptete, oder wollte er nur Zeit gewinnen und seine Männer ablenken? Die Krieger jedenfalls schenkten ihm Glauben, und das konnte auch Geist nur recht sein. Die Gefahr, entdeckt zu werden, verringerte sich dadurch beträchtlich.

Sie sah, wie der Geweihte sich vom Klippenrand abwandte und mit dem Bluteimer in Händen auf den Drachenkadaver zuschritt. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie mußte in Erfahrung bringen, was er vorhatte, selbst wenn es nötig war, sich dafür in seine Nähe zu begeben.

So flach am Boden wie nur möglich kroch sie durch das Heidekraut auf den versteinerten Leib des Untiers zu. Die Büsche kratzten und schnitten in ihr Fleisch, vereinzelte Brennesseln und Disteln schienen ihren Körper in Flammen zu setzen. Noch zehn Schritte, dann würde sie den klaffenden Schlund des Drachen erreichen. Der Schädel lag kopfüber da, Stirn und Oberkiefer ruhten im Heidekraut. Die zahnlosen Kiefer standen offen wie ein furchterregendes Tor.

Der Geweihte war hinter dem Kadaver verschwunden, das Schuppengebirge des Drachen schützte ihn vor Geists Blicken. Schnell kroch sie am Drachen vorbei und bemühte sich, ihren Blick von den Augen der Bestie fernzuhalten. Die gelben Pupillen machten ihr angst, mehr noch als das riesige Maul, denn es schien, als seien sie von der Versteinerung ausgeschlossen. Es war, als sei immer noch Leben in ihnen, ganz tief in ihrem Inneren. Vielleicht, so versuchte Geist sich zu beruhigen, waren es auch nur die Strahlen der Morgensonne, die sich in der glasigen Oberfläche brachen.

Als sie die andere Seite des Kadavers erreichte, hatte sich der Geweihte in Luft aufgelöst. Aber sie hatte doch genau gesehen, wie er den gewaltigen Schuppenschwanz des Leichnams umrundet hatte! Wo, verflucht, war er jetzt hin?

Sie entdeckte ihn, als er sich nur wenige Schritte von ihr entfernt hinter einer breiten Hautfalte des Untiers erhob. Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte sie, er habe ihr aufgelauert; dann aber erkannte sie, daß er sich nur nach etwas gebückt hatte, das verborgen hinter der Falte lag.

Es war ein Horn, deutlich größer als jene der Krieger und mit einem Spinnennetz haarfeiner Runen überzogen.

Wenn sie sich ihm noch weiter näherte, war die Gefahr, von ihm erspäht zu werden, kaum noch abzuschätzen. Einen Augenblick lang erwog sie allen Ernstes, ins Maul des Drachen zu kriechen und den Geweihten über den aufgerissenen Kiefer der Bestie hinweg zu beobachten. Er ist versteinert, sagte sie sich immer wieder; nichts als ein Felsbrocken, der nur noch aussieht wie ein Drache.

Letztlich überwogen Angst und Ekel, und sie beschloß, noch ein wenig weiter um die Kiefer herumzukriechen, bis sich ihr ein besserer Blick auf die verdrehte Flanke des Tieres bot. Aus dem Maul wehte ein furchtbarer Gestank ins Freie und umschloß sie wie eine giftige Wolke.

Der Geweihte ging mit ehrfurchtsvollen Schritten auf ein großes Loch in der Seite des Drachen zu. Seine Bewegungen waren langsam, fast zögernd. Das Schleifen der Geweihenden klang leiser als sonst.

Geist fragte sich, ob er sich fürchtete. Die Zurückhaltung, mit der er seine Schritte setzte, die angedeutete Demut seiner Körperhaltung, all das sprach für eine tiefe Unruhe.

Hatte er Angst vor dem Drachen? Nein, dachte sie, nicht vor dem versteinerten Koloß selbst - vielmehr scheute er den Blick in das Innere der Öffnung. Es war das Bewußtsein um den Weg, den er offenbar gehen wollte, denn nun blieb er vor dem Loch in der Drachenflanke stehen, überlegte noch einen Augenblick, dann setzte er einen Fuß auf den Steinrand der Wunde. In der linken Hand hielt er den Bluteimer, in der anderen das Horn.

Geist fluchte im stillen. Von ihrer Lage aus konnte sie nicht in die Öffnung hineinsehen.

Zögernd, aber in der Gewißheit, daß es nun einmal ihr Schicksal war, schob Geist sich weiter vorwärts. Sie verließ jetzt den Schutz des Kadavers, und sie war sich bewußt, daß der Geweihte sie entdecken würde, wenn er den Blick zufällig in ihre Richtung wandte. Ihre Chamäleonhaut war eine gute Tarnung, aber mehr als einem flüchtigen Blick hielt sie nicht stand. Und immerhin wußte der Geweihte, daß sie noch irgendwo hier draußen war.

Andererseits schien ihn die bevorstehende Aufgabe völlig für sich einzunehmen. Er blickte nicht nach links, nicht nach rechts, nur geradewegs in die dunkle Wunde, die als niedriger Tunnel ins Innere des Drachen führte. Zwei freigeschabte Rippen umrahmten die Öffnung wie bleiche Säulen.

Ein wildes Brüllen ertönte aus der Richtung des Waldrandes. Der Geweihte wirbelte herum. Der Schrecken auf seinen Zügen wollte so gar nicht zu seiner furchterregenden Erscheinung passen, und Geist wurde zum ersten Mal bewußt, wie angespannt er wirklich war.

Das Brüllen kam näher. Geist mußte sich zusammenreißen, um sich nicht ebenfalls umzudrehen. Jede hastige Bewegung mochte sie verraten.

Doch die Moosfräulein sind bekannt für ihre kindliche Neugier, und Geist war keine Ausnahme. Schließlich gab sie ihrem angeborenen Vorwitz nach, hob die Schultern vom Heidekraut und drehte ihren Kopf.

Ein Koloß stürmte vom Waldrand über die Heide. Schwertschwingend stieß er eine Reihe wilder Schreie aus und rannte auf die Krieger am Klippenrand zu.

Es war Löwenzahn, und sein Gesicht brannte.

Nicht sein Gesicht! erkannte Geist mit kaltem Schrecken. Sein Bart stand in Flammen, ein lodernder Feuerball, der eine schwarze Spur aus Rauch hinter sich herzog. Für die Krieger mußte es aussehen, als sei der Feuergott selbst vom Himmel herabgestiegen.

Der Schmerz mußte grauenvoll sein, aber gleichzeitig schien er Löwenzahn anzutreiben, stürzte ihn in einen Berserkerzorn, dem keiner der zwanzig Drachenkrieger entrinnen konnte.

Die ersten ließen von der Seilwinde ab und liefen dem Riesen mit zögernden Schritten entgegen. Auf halbem Weg zwischen Wald und Klippe trafen sie aufeinander. Löwenzahns Schreie wurden immer grauenvoller, er fällte die beiden ersten Gegner mit einem einzigen Schlag und riß die Klinge empor, um sich den nächsten entgegenzustellen. Einer brach zusammen, bevor er den Koloß überhaupt erreichte; ein Pfeilschaft mit schwarzen Rabenfedern ragte aus seiner Kehle.

Löwenzahn nutzte die Atempause, um die Flammen vor seiner Brust mit dem Umhang des Toten zu löschen. Sein Gesicht rauchte, und sein Kinn war von Blasen entstellt, doch er schien die Schmerzen nicht mehr zu spüren. Immer mehr Krieger warfen sich ihm nun entgegen, einige wurden von Pfeilen gefällt, doch viele kamen bis zu ihm durch. Ein wildes Gerangel aus blitzenden Schwertern, blutigen Leibern und dem Schreien der Verwundeten nahm seinen Anfang, immer wieder übertönt von Löwenzahns Gebrüll.

Am Waldrand erkannte Geist eine Gestalt mit wallendem grauem Haar, die einen Langbogen in Händen hielt. Pfeil um Pfeil sandte sie zu Löwenzahns Unterstützung über die Heide. Ein finsteres Lächeln spielte um Mütterchens Lippen, als sie feststellte, daß ihre Zielsicherheit in den vergangenen Jahren kaum nachgelassen hatte.

Und noch jemanden entdeckte das Moosfräulein. Ein finsterer Krieger, ganz in Schwarz gekleidet, mit flatterndem Umhang und einem Kragen aus Rabenfedern, pirschte in weitem Bogen um die Kämpfenden herum und näherte sich der Seilwinde. Hagen von Tronje zog das verletzte Bein noch stärker nach als vor wenigen Stunden, als sie den dreien im Wald begegnet war. Mit verbissener Miene näherte er sich seinem Ziel. Auch die letzten Drachenkrieger hatten ihren Platz an der Klippe verlassen und waren dem wütenden Löwenzahn entgegengestürmt. Die Winde war unbewacht.

In all der Aufregung hatte Geist fast vergessen, in welcher Gefahr sie selbst sich befand. Als sie nun hastig zurück zum Drachen schaute, wurde ihr der Blick von den Beinen des Geweihten versperrt. Er hatte Horn und Bluteimer am Kadaver zurückgelassen und stand nur noch einen Schritt vor ihr, starrte kalt zu ihr herab. Im gleichen Moment schossen seine Hände vor, die Finger zu Klauen gekrümmt.

Geist wälzte sich blitzschnell herum, um seinem Griff zu entgehen. Flink wollte sie auf die Beine springen und die Flucht ergreifen, doch der Geweihte entwickelte eine unerhörte Schnelligkeit und Kraft. Seine Hände packten das nackte Mädchen am linken Arm. Ein seltsames Kribbeln durchfuhr sie, wo seine Finger sie berührten. Ein bestimmter Teil ihrer selbst schien etwas in ihm zu erkennen, seine Gleichartigkeit zu begreifen, die Verwandtschaft zu akzeptieren. Doch als seine Hände fester zudrückten und sie mit Gewalt vom Boden rissen, da verflüchtigten sich solche Gedanken. Was blieb, waren Furcht und tiefempfundene Abscheu.

Sie versuchte, ihn zu treten und mit den Zähnen nach ihm zu schnappen, doch der Geweihte lachte nur leise über ihre vergebliche Gegenwehr. Wie ein unwilliges Stück Vieh zerrte er sie zur offenen Flanke des Drachen, direkt vor den Spalt zwischen den Rippen. Der Tunnel durch die Eingeweide der Bestie war pechschwarz.

»Du wirst etwas für mich tun«, zischte der Geweihte ihr ins Ohr. »Ich will, daß du -«

Geists Aufschrei unterbrach ihn. Gellend rief sie nach Löwenzahn und Mütterchen, bis sich die Hand des Geweihten auf ihren Mund legte und sie zum Schweigen brachte.

»Dein Freund, der Zwerg, hat sich verkrochen. Bedank dich bei ihm, daß es nun dich trifft, mein Kind.« Sein starrer Blick senkte sich böse in das unschuldige Blau ihrer Augen. »Du wirst mir gehorchen! Deine Gefährten werden dir nicht zu Hilfe kommen. Du bist kein Mensch wie sie, du bedeutest ihnen nicht mehr als der Baum, den sie fällen, damit es warm wird in ihren Stuben. Begreif das endlich! Wir sind anders als sie, vollkommen anders.«

Es gelang Geist, ihre Zähne in seine Finger zu schlagen. Ruckartig zog er seine Hand von ihrem Mund. »Irgendwann werde ich ein Mensch sein«, spie sie ihm verächtlich entgegen. »Ich bin jetzt schon menschlicher als du.«

Er lächelte. »In deinen Träumen und Hoffnungen. Gleich wird sich erweisen, ob wirklich etwas Menschliches in dir steckt. Ich wollte es selbst wagen, aber besser ist, du gehst voraus.«

»Was hast du vor?« Sie überlegte, ob sie abermals um Hilfe rufen sollte, als sie plötzlich die Melodie hörte. Sie hatte sie schon vorher vernommen, auf ihrem Weg hierher, einmal sogar daheim, in den Wäldern rund um Obbos Wirtshaus. Ihr war nie der Gedanke gekommen, daß die Folge klingender Töne eine Lockruf, ein Wegweiser sein könnte.

»Jetzt hörst du es wieder, nicht wahr?« wisperte der Geweihte ihr ins Ohr. »Ich kann es auch hören, leiser als du, aber ich höre es. Willst du ihm nicht helfen? Spürst du nicht auch das Verlangen, die Qualen dieser Kreatur zu beenden?«

»Welcher Kreatur?« stammelte sie verwirrt, obgleich sie es ahnte.

Der Geweihte deutete auf den Kadaver. »Sieh ihn dir an! Schau, wie er daliegt, verstümmelt, entstellt.«

»Deine Männer waren es, die ihm die Zähne aus den Kiefern rissen, und die ihm... das hier antaten.« Sie zeigte auf das klaffende Loch in der Flanke.

»In seinem Auftrag«, widersprach der Geweihte, »zu seinem Besten.«

»Du willst ihn zurück ins Leben rufen?«

»Ihn befreien aus den Ketten des Todes, ihm das Leben geben, das sein war, länger als jedem anderen Wesen. Er ist so alt wie die Berge selbst, älter als der Fluß und die Reiche an seinen Ufern. Und er ist der letzte seiner Art. Er hat es nicht verdient zu sterben. Seine Stärke, seine Klugheit, die List, die er in sich trägt - kein Wesen kommt ihm darin gleich. Er ist der Drache, von dem wir alle irgendwann gehört haben, in Legenden und den Geschichten der Alten. Und jetzt liegt er vor dir, du hörst seine Hilfeschreie, und du willst dich ihm verweigern? Ist das wirklich dein Ernst?«

Sie zitterte am ganzen Leib, hatte keine Gewalt mehr über ihre Glieder. »Warum tust du es nicht selbst, so wie du es vorgehabt hast?«

»Weil mir an seiner Dankbarkeit liegt. Was nutzt sie mir, wenn ich tot bin? Wird er den Zauber in mir erkennen, wenn ich seinen Leib betrete? Oder wird er mich verschlingen, so wie jene, die diesen Tunnel gruben? Niemand weiß es. Wir allein, die wir das magische Blut der Alten in uns tragen - der Zwerg und du und ich -, vermögen seinen Ruf zu hören. Er schadet nicht jenen, die von seiner Art sind, so wie ihr beiden. Du wirst in ihn eindringen und seinem Herzen das eigene Blut darbringen, während ich das Drachenlied spiele, als Antwort auf seine Klagegesänge. Und der Lindwurm wird zu neuem Leben erwachen, geschwächt zwar, aber mächtiger als jede Kreatur diesseits und jenseits des Stroms.« Ein schwarzes Lodern zuckte in seinen Augen. »Er wird wissen, wem er Dankbarkeit und Demut schuldet.«

Geist fragte sich, was aus Mütterchen, Löwenzahn und dem Ritter geworden war. Sie hatten ihre Hilfeschreie nicht gehört. Oder wollten sie sie nicht hören? Das Klirren aufeinanderschmetternder Klingen dröhnte über den Kadaver hinweg an ihr Ohr. Löwenzahn schien den Gegnern immer noch standzuhalten.

»Du wirst es tun!« sagte der Geweihte noch einmal. Wieder schien es, als bewegten sich die Schatten der Geweihmaske über sein Gesicht. Was immer an Menschlichem noch in ihm war, es hatte den Widerstand gegen den Zauber längst aufgegeben. Geist fragte sich, ob ein Großteil dieses Zaubers nicht schlichter Wahnsinn war, von uralten Mächten verdreht und verrenkt, bis er den Anschein von etwas Magischem hatte.

Als er seinen Griff um ihre Oberarme lockerte, da war ihr, als weiche ein Gespenst aus ihrem Denken, ein Hauch von Kälte, der alle ihre Sinne erbeben ließ. An seine Stelle trat wieder die Melodie, die Qual des Drachen, die sich mehr und mehr auf sie selbst übertrug. Sie mußte es beenden, mußte ihm geben, was er verlangte, damit die Pein dieses Wesens vorüberging.

Sie nickte dem Geweihten zu, mit der Selbstverständlichkeit eines Traumes. Ja, sie würde in den Drachen eindringen. Und sie würde tun, was nötig war, seinen Leib mit neuem Leben zu befruchten.

Er war ihresgleichen, sie war wie er. Sie spürte diese Verwandtschaft mit jedem Augenblick deutlicher, und sie erfüllte sie mit heißem Glück.

Geist akzeptierte ihr eigenes Wesen gemeinsam mit dem seinen, sie wußte, wer sie war.

Endlich war sie bereit.

Für den Drachen, für sich selbst.



Kreischend brach der erste Balken aus seiner Verankerung. Alberich trat und stampfte, bis das Drachenblut über seinen Kopf hinaus spritzte, sprang voller Wut umher, bis abzusehen war, daß die gesamte wacklige Konstruktion in den nächsten Augenblicken aus der Wand splittern würde. Da stieß er sich mit beiden Füßen ab, bekam den Rand der Stollenöffnung zu fassen und zog sich mit letzter Kraft nach oben. Unter ihm gaben die Stützbalken nach, Seile rissen, und Nägel wurden aus dem Holz gezerrt. Einen Augenblick lang sah es aus, als wollte sich das ganze Becken zusammenfalten wie ein Stück Pergament, dann ertönte ein Knirschen, und das sperrige Gebilde stürzte taumelnd in die Tiefe. Immer wieder prallten seine Ecken unter Getöse an die Felswand, weitere Bretter lösten sich, und eine dunkelrote Blutfontäne ergoß sich in den Abgrund. Als das Becken auf dem Fluß zerschellte, breitete sich rundherum ein Strudel aus rotem Schaum aus, der eilig von den Wogen davongetragen wurde. Innerhalb weniger Herzschläge waren nur noch ein paar Latten zu sehen, die wie Spuren eines Schiffsuntergangs nach Norden trieben, schwarzes, splittriges Treibholz.

Alberich kauerte im Eingang des Stollens und blickte den Trümmern mit wilder Befriedigung nach. Der Geweihte und seine Männer würden das Drachenblut nicht mehr mißbrauchen. Die Melodie in seinem Schädel setzte einen Moment lang aus, kehrte aber wieder, als er durch den Stollen ins Innere der Felswand blickte. Es war noch nicht vorüber.

Erst allmählich dämmerte ihm die Ausweglosigkeit seiner Lage. Der Stollen mußte im leeren Hohlraum des Blutsees enden, unterhalb der oberen, versteinerten Schichten. Von dort aus gab es keinen Ausgang. Oben an der Kante wiederum lauerten die Krieger des Geweihten, und er sah bereits bildhaft vor sich, wonach ihnen der Sinn stehen würde, wenn sie ihn in die Finger bekämen.

Eines aber stimmte ihn nachdenklich. Eine ganze Weile schon war kein Versuch mehr unternommen worden, ihn von seinem Zerstörungswerk abzuhalten. Keine Pfeile und Armbrustbolzen mehr, keine weiteren Männer, die abgeseilt wurden. Der Tote baumelte noch immer auf Höhe des Stollens im Wind, sein zertrümmertes Gesicht war Alberich anklagend zugewandt. Niemand schien es für nötig zu halten, ihn abzuschneiden oder hochzuziehen.

Reichte dem Geweihten ein einziger Eimer mit Drachenblut? Seine Männer zumindest würden sich kaum damit zufrieden-geben.

Ein eiskalter Wind peitschte um die Klippe. Der zugige Stolleneingang wurde von tückischen Böen heimgesucht, die Alberich fast in den Abgrund rissen. Gerade wollte er sich tiefer in den Gang zurückziehen, als er einer Bewegung am oberen Felsrand gewahr wurde.

Ein hageres Gesicht schob sich über die Kante. Der Mann hatte nur ein Auge. Ein Windstoß trieb einen Kranz aus Rabenfedern um seinen Hinterkopf; es sah aus wie ein schwarzer Heiligenschein.

Alberich begann am ganzen Leib zu zittern, als er sich an die Gestalt aus der Sturmnacht erinnerte. An Wodan, den Herrn aller Götter. An den Rabengott.

Die Erscheinung riß den Mund auf, brüllte gegen den tosenden Wind etwas zu ihm herunter und zog sich wieder zurück. Wenig später wurde eine Seilschlaufe herabgelassen, abermals beschwert mit einem Stein. Alberich bekam sie zu fassen, fragte sich verzweifelt, auf was er sich da einließ, und schlang sich den Strick um den Leib. Er zog und zerrte, bis die Schlaufe fest um seine Brust und Achseln lag.

Dann stieß er sich mit geschlossenen Augen von der Felswand ab und raste hinaus in den Abgrund.



Das blutrote Licht des Morgens verblaßte, als das Moosfräulein den ersten Schritt ins Innere des Drachen tat. Fremde Gerüche umwogten sie. Ihre Haut verfärbte sich unkontrolliert in rasender Folge, mal braun, mal grün, mal schwarz, dann wieder alle Farben zugleich, ohne daß sie selbst einen Einfluß darauf hatte. Rote Muster zuckten über ihre Glieder, vermischt mit Gelb und Blau und Weiß - Farben, die ihr früher fremd gewesen waren. Seltsame Linien und Zeichen erschienen, manche wie Runen, andere wie die Kritzelei eines Kindes. Etwas geschah mit ihr, mit ihrem Körper, und schließlich begriff sie, was es war.

Sie erblühte.

Die gelben und roten Schlieren und Punkte waren wie Knospen auf ihrem Leib, als sei der Weg des Heranreifens abgeschlossen und zeige nun stolz seine Früchte.

Ein seltsames Gefühl ergriff von ihr Besitz. Zum ersten Mal glaubte sie sich selbst als vollendetes Wesen zu begreifen, nicht als Anschein von etwas, das sie nicht war. Nicht als Mensch, der sich durch Krankheit von allen übrigen unterschied und sich schamvoll vor ihnen versteckte, sondern als ein Geschöpf aus gestaltgewordenem Zauber. Sie wollte nie wieder etwas anderes sein.

Blind tastete sich das blühende Moosfräulein durch den Tunnel im Leib des Drachen, fühlte mit der einen Hand über Wände aus versteinerten Muskeln und Eingeweiden, hielt mit der anderen den Eimer voller Blut. Von weit, weit hinten rief ihr der Geweihte etwas zu, doch es war längst unwichtig geworden. Seine Worte, seine Gesten - ohne Bedeutung. Alles, was zählte, war ihre Dankbarkeit, ihre Ehrfurcht vor dem Drachen für das, was er ihr schenkte. Er hatte es verdient, zu leben; und es war nur recht, daß sie diejenige war, die seine Auferstehung vollbrachte. Ein Akt des gegenseitigen Gebens stand kurz vor der Vollendung.

Der Drache war eine Kreatur wie sie selbst, der schwindende Schatten eines vergangenen Zeitalters. Vielleicht war es ja das, was ihnen allen bevorstand, ihr selbst, Alberich und dem Geweihten: das Verblassen im Morgengrauen einer neuen Zeit. Sie waren die letzten Rätsel einer Nacht, in der Geheimnis und Dunkel regiert hatten, und die Dämmerung drohte sie ein für allemal zu vertreiben.

Der Tunnel erstreckte sich länger und länger, schlängelte sich um blasigen Hüllen, die zu Stein erstarrte Organe sein mochten, kalt wie Kuppeln aus Eis. Geist hatte das Gefühl, sich längst nicht mehr im Inneren des Drachen zu befinden, denn obgleich er groß und massig war, so war dieser Stollen doch viel zu lang, um in dem Kadaver Platz zu finden. Die Rippensäulen am Eingang waren ein Tor zum gestaltgewordenen Dilemma ihrer Art. Geists Eintreten in den Leichnam war gleichzeitig ihr Einlaß in eine andere Welt. Sie tastete sich nicht durch den Drachen, sondern durch das, für was er stand, und in seinem Zentrum lag das Herz seiner Magie, das nur von einer wie ihr aus seiner Starre erweckt werden konnte.

Sie spürte, daß ihr Ziel nicht mehr fern war, irgendwo vor ihr in der Schwärze. Die Finsternis erfüllte sie mit einem Gefühl von Vertrautheit, denn es war die Finsternis des Mutterleibs, der sie geboren, nein, geschaffen hatte.

Und dann lag das Herz vor ihr, ohne Form, ohne Körper, nur Erinnerung und Wärme. Geist versprühte das Drachenblut in die Dunkelheit, längst in der Gewißheit, daß es ein leerer, bedeutungsloser Akt war. War es nicht vielmehr ihre Anwesenheit, die den Zauber zu neuem Leben erweckte? Wieder dachte sie an den Vorgang der Befruchtung, und sie verstand, daß alles, was sie tat, damit im Einklang stand. Der Geweihte hatte nichts begriffen. Instinktiv hatte er bestimmte Dinge erkannt, etwa den Eintritt in den Drachen und was er verursachen würde, doch seine Mittel waren sinnlos. Das Blut, die Hörner - sie waren nur Wegweiser wie das Drachenlied selbst, die Melodie, die sie hierhergeführt hatte. Am Ende aber waren sie unwichtig.

Vor ihren Augen löste sich auch das letzte Rätsel, das sie mehr als alle anderen beschäftigt hatte: Warum hatte der Drache dem Xantener, nachdem dieser ihn doch erschlagen hatte, das Geschenk der Unverwundbarkeit gemacht? Die Frage hatte ihr während der ganzen Reise keine Ruhe gelassen. Jetzt aber stand ihr die Antwort so klar und deutlich vor Augen, daß es ihr wie ein Wunder erschien, daß sie sie nicht vorher erkannt hatte: Sogar der Tod des Drachen war nur eine Stufe auf dem Weg. Denn nicht der Lindwurm war es, der die Fäden der Ereignisse zog. Es war der Zauber selbst, die Magie, die im Gefängnis des uralten Drachen geschlummert hatte und nach einem neuen, frischen Körper verlangte.

Jemand mußte kommen und sie zu neuer Blüte bringen. Es war eine Befruchtung, im einfachsten, natürlichen Sinne. Die Magie war eine Blume, die nach langem Winter zu neuer Pracht gedeihen wollte. Alles, was es brauchte, war die Biene, die den Samen in ihre Herz trug.

Vielleicht hätte der Geweihte selbst es vollbringen können, mit Sicherheit aber Alberich. Doch Geist war glücklich, daß die Wahl auf sie gefallen war.

Und nun war sie hier. Im Mittelpunkt dessen, wo alles begonnen hatte und von neuem beginnen würde.

Um sie herum erstrahlte die Dunkelheit in neuem Leben, Farben schlugen wie Meereswogen empor. Die Magie, so lange im Leib des greisen Drachen gefangen, war erwacht und gedieh mit der Macht des jungen Frühlings.



Es begann, als Alberich und Hagen gemeinsam zum Drachen eilten. Wie ein Spinnennetz rasten Risse über die Schuppenhaut, schwarze Blitze, vielfach verästelt.

Alberich sah, wie der Geweihte mit einem Horn in der Hand zurücktaumelte, bevor er noch die Zeit fand, hineinzustoßen. Der Drachenzahn entglitt seiner Hand und fiel achtlos zu Boden.

Jene Drachenkrieger, die nicht Löwenzahns Hieben oder Mütterchens Pfeilen zum Opfer gefallen waren, stolperten verwirrt auseinander, die Blicke gebannt auf den Kadaver gerichtet. Löwenzahn erschlug sie der Reihe nach, ohne Gnade und ohne zu begreifen, was vor sich ging. Dann erst folgte er ihren letzten Blicken und erstarrte.

Mütterchen taumelte aus dem Unterholz des Waldes und ließ Hagens Bogen fallen. Sie zog den schwarzen Köcher vom Rücken und schleuderte ihn beiseite; die letzten Pfeile wurden über die Heide verstreut. Mit offenem Mund kam sie näher, unfähig ihren Blick vom Leichnam des Untiers zu wenden.

Hagen blieb schlagartig stehen, das verwundete Bein drohte einzuknicken. Sein schwarzer Handschuh spannte sich über den Fingerknöcheln, als seine Faust sich immer fester um den Schwertgriff krallte. Sein einzelnes Auge weitete sich.

Alberich lief einige Schritte weiter als der Ritter. Er mußte aus der Nähe sehen, was geschah. Ihm war, als sei nicht er ein Teil der Ereignisse, sondern vielmehr das Ereignis ein Teil von ihm selbst. Tief in sich spürte er, wie sich etwas regte, veränderte.

Die Steinkruste des Drachen zersplitterte.

»Er erwacht!« schrie Löwenzahn.

Doch Alberich dachte: Nein, nicht er, nicht der Drache. Etwas anderes stieg aus todesähnlichem Schlaf empor, aber es war nichts Schlechtes, nichts Böses.

Es ist wie ich, durchfuhr es den Zwerg.

Um sie herum begann die Heide zu blühen, in Rosa, Weiß und Lila.

Der Drache zerbarst in einer Eruption aus Staub und Gestein. Eine graue Wolke legte sich über die Klippe, und winzige Teilchen rieselten wie Asche eines Scheiterhaufens vom Himmel herab.

Und dort, wo eben noch der Drache gelegen hatte, in einem kargen Trümmerfeld wie Lavagestein, kauerte Geist mit angezogenen Knien, fest zusammengerollt und nackt wie ein Neugeborenes. Ihre Haut war rosa, weiß und lila, ein farbenprächtiges Abbild der Heide. Das Moosfräulein regte sich, streckte sich und schaute sich mit zusammengekniffenen Augen um.

Alberich rappelte sich von der Stelle auf, an die ihn der Druck der Eruption gestoßen hatte. So schnell ihn seine Beine trugen, rannte er auf das Mädchen zu.

Aus den grauen Wogen der Staubwolke brach eine weitere Gestalt hervor. Der Geweihte hatte das Drachenhorn mit beiden Händen gepackt, hielt es mit der Spitze nach unten über den Kopf. Schreiend schleppte er sich auf das Moosfräulein zu, um es mit dem Horn zu durchbohren.

Ein schwarzer Wirbel fuhr neben Alberich durch den Dunst, schoß an ihm vorüber auf den Geweihten zu. Stahl schimmerte blaß durch Aschewolken.

Es gab keinen Endkampf.

Hagen holte noch im Humpeln aus, traf auf den Geweihten, bevor der seinerseits das Mädchen erreichen konnte. Die Klinge wirbelte in weitem Bogen herum, brach durch die Hornrüstung wie durch morsches Geäst und schlug dem Geweihten den Kopf von den Schultern. Sein Torso wurde von der Wucht herumgestoßen, wirbelte zuckend zu Boden. Hagen brach neben ihm in die Knie.

Alberich und Mütterchen trafen gleichzeitig bei dem Moosfräulein ein, nahmen es sanft bei den Armen und führten es aus dem Trümmerfeld. Seine Farben flimmerten und flirrten, kamen erst zur Ruhe, als seine Füße die Heide berührten.

»Es ist vorbei«, sagte Mütterchen leise.

Geist sah aus, als wollte sie widersprechen, doch dann senkte sie nur ihren Blick und schwieg.



Als der Staub sich legte, ließen sie die Heide hinter sich. Ihr Weg führte sie entlang der Felskante nach Süden. Mütterchen ging neben Löwenzahn. An einer Hand führte sie das Pony. Sie hatte das Gesicht des Riesen dick mit Salbe und Kräutern bestrichen. Es sah aus, als sei ihm ein neuer Bart aus Unkraut gewachsen. Er klagte nicht über Schmerzen, obgleich sie doch alle wußten, wie weh seine Brandwunden tun mußten. Sie waren stolz auf ihn, und da war keiner, der es ihm nicht mehrfach versichert hatte.

»Sie werden Lieder über deine Heldentat singen«, sagte Mütterchen, und unter der Salbe verzog sich Löwenzahns Mund zu einem glücklichen Grinsen.

Alberich und Geist gingen schweigend, als dem Zwerg etwas einfiel. Er griff unter sein schmutziges Wams und zog ein Knäuel aus Binden und Tüchern hervor.

»Das gehört dir«, sagte er und reichte es dem Mädchen.

Das Moosfräulein zögerte einen Augenblick, dann nahm sie die Verbände widerstrebend entgegen. Als sie sie vor ihren schillernden Körper hielt, vor das Bunt des Frühlings auf ihrer Haut, da wirkten die Stoffe ungleich grauer und häßlicher.

Wortlos trat sie an den Rand der Felswand und warf die Verbände in den Abgrund. Flatternd schwebten sie in die Tiefe, wurden von Böen hin- und hergeschüttelt, von Aufwinden wieder empor getragen, um dann schließlich doch noch unten im Rhein zu landen. Eine Weile tanzten sie auf der Oberfläche, dann riß der Sog sie davon.

Die vier Gefährten standen am Abhang, blickten stumm auf den Fluß, und jeder hing stillen Gedanken nach, als Mütterchen plötzlich rief:

»Seht nur, der Ritter!« Ihre Hand deutete zurück zur Heide, hoch oben auf der Klippe.

Hagen von Tronje stand an der Felsenkante, ein dräuender schwarzer Scherenschnitt, gestützt auf eine Krücke. Neben ihm erkannten sie den Pferdekarren. Die Hinterräder standen unweit des Abgrunds. Darüber funkelte und glitzerte es. Das Gold auf der Ladefläche war nicht mehr mit Erde bedeckt, es war um ein Vielfaches höher als zuvor. Hagen mußte den restlichen Schatz aus der Drachenhöhle aufgeladen haben.

Jetzt wandte der Ritter sich dem Karren zu, doch statt auf den Bock zu steigen und die Pferde voranzutreiben, löste er eine Klappe an der Rückseite. Das Holz kippte nach unten, und von der Ladefläche sanken Gold und Edelsteine, eine gleißende Flut, die sich an der Felswand hinunter in die Wogen des Rheins ergoß.

»Er ist wahnsinnig!« rief Mütterchen aufgebracht und wollte schon den Weg zurücklaufen, doch Alberich hielt sie zurück.

»Laß ihn.« Er wunderte sich ebenso wie die anderen, doch er ahnte auch, daß die grimmige Maskerade des Ritters ein tieferes Geheimnis barg.

»Er versenkt all das schöne Gold im Rhein«, jammerte Mütterchen; es war die Räuberin, die aus ihr sprach.

Löwenzahn deutete lächelnd auf zwei Säcke, die er auf dem Rücken des Ponys befestigt hatte. »Nicht alles.«

»Aber...«, wollte Mütterchen widersprechen, doch ihr Ringen nach Worten blieb vergeblich. Der Anblick verschlug ihr schlichtweg die Sprache.

Alberich grinste verhalten und ging voraus, den Weg hinab nach Süden. »Laßt ihn in Ruhe«, sagte er noch einmal, und Geist sprang frohgemut an seine Seite. »Er ist Hagen von Tronje, und er allein kennt seine Gründe.«

Als sich auch die anderen abgewandt hatten, erschien ein Schatten auf der Wasseroberfläche und schob sich träge auf die Klippe zu, dorthin, wo das Gold versank.

Keiner von ihnen bemerkte es.

Vielleicht war es nur eine Wolke, die sich auf den Wellen spiegelte.


Загрузка...