Kapitel 1


Es war der Tag des traditionellen Fußnägelrauchens, der erste Tag des Frühlings; doch in diesem Jahr würden die Pfeifen kalt und die Zehnägel unversehrt bleiben.

Zum ersten Mal seit Wochen roch die Luft nicht mehr nach Leichen. Das war eine prächtige Neuigkeit, fand Obbo, der Wirt des Wolfswinkel, eine wahrlich wunderbare Neuigkeit - wenn auch die einzig erfreuliche. In Jahrzehnten waren die Feierlichkeiten rund um das Fußnägelrauchen nicht abgesagt worden, doch diesmal war Obbo gar keine andere Wahl geblieben. Die meisten Teilnehmer lebten nicht mehr, ihre Körper waren verbrannt, ihre Asche bestattet.

Seit der Leichenqualm erstmals über den Fluß und die Wälder getrieben war, waren im Schankraum des Wolfswinkel viele Pfeifen mit starkem Kraut geraucht worden. Die Gäste hatten ihr Bestes getan, den Gestank zu vertreiben, hatten sich in Wolken ihres Pfeifenkrauts gehüllt, bis Obbo kaum mehr sehen konnte, wer Bier und wer Eier-im-Schmalz bestellte. Denn Eier-im-Schmalz waren Obbos Lieblingsspeise, die Spezialität seiner Küche - und, nebenbei bemerkt, das einzige Gericht, das im Wolfswinkel angeboten wurde.

Doch an jenem ersten Frühlingsmorgen war die Luft so klar wie schon lange nicht mehr, keine Spur mehr vom Odem der Totenfeuer, und Obbo hätte die Pracht seines Gartens, die Schönheit der Bäume und Sträucher und das reine Blau des Himmels gar nicht herrlicher empfinden können. Er zog seine lederne Schürze glatt - sie schien ihm nach all den Kummertagen ein wenig straffer über dem Kugelbauch zu liegen - und stiefelte auf kurzen Beinen hinaus in den Garten. Schankgäste waren um diese Tageszeit noch keine in Aussicht, und der Gast des einzigen Bettzimmers, das es im Wolfswinkel gab, war schon in der Dämmerung hinaus in den Wald gewandert. Wie jeden Morgen seit dreizehn Jahren. Ach, seufzte Obbo, das alte Mütterchen Mitternacht - immer als erste auf den Beinen.

Aber dies war nicht die Zeit und nicht der Ort, um an Mütterchen Mitternacht zu denken. Obbo überquerte die kleine Wiese, umrundete die weiße Hecke aus Kupferfelsenbirnen und verweilte einen Moment am Froschweiher. Ein wildes Quaken begrüßte ihn; zumindest stellte Obbo sich vor, es sei ein Gruß. Er sah sein Spiegelbild in der Oberfläche und tippte eilig mit dem Finger hinein. Sein pausbäckiges Antlitz zerstob in sanften Ringen.

Über ihm schwatzten die Vögel beim Nestbau, ein Trillern und Pfeifen und Zwitschern erscholl aus den Wäldern. Obbo trat durch den Vorhang der Weidenzweige, durchquerte eine Reihe hoher Weißbirken und stieg schließlich den Hügel am Ende des Gartens hinauf. Er glaubte nicht, daß es wirklich etwas zu sehen gab, aber es war eine alte Gewohnheit, frühmorgens von dort aus zum Fluß zu blicken. Zum Fluß und hinüber zum Hohlen Berg.

Ächzend erklomm er die Hügelkuppe und blieb inmitten hoher Hasenglöckchen stehen. Bald schon würden sie in blauer Pracht erblühen, ein feiner Anblick, ganz gewiß.

Auf der anderen Seite fiel der Hügel steiler ab und verschwand im Schatten des Kiefernwaldes. Hundert Schritte weiter endeten die grünen Wipfel abrupt am Ufer des Rheins. Blau und glucksend strömten die Fluten vorüber und umspülten die Halbinsel, deren Zwillingsgipfel weithin die Landschaft überragten.

Zwei hohe Berge, durch einen bewaldeten Steg mit dem Ufer verbunden. Der eine kahl und felsig, der andere gekrönt von einer mächtigen Burg. Es war die Burg der Fürsten Nibelung und Schilbung. Beide tot. Tot wie viele ihrer besten Männer, hingemäht vom Schlächter Siegfried.

Obbos gute Laune ging dahin, und Düsternis umfing sein Denken. Kein Fußnägelrauchen in diesem Jahr. Es war ein schwarzer Tag gewesen, als Siegfried von Xanten die Halbinsel betreten hatte, angelockt vom unermeßlichen Reichtum im Hohlen Berg. Der Recke hatte die beiden Fürstenerben hingeschlachtet, und niedergemacht hatte er auch ihre Garden; dann hatte er den Hort für sich beansprucht. Keiner wagte mehr zu widersprechen, auch dann nicht, als der Sieger mit wehendem Goldhaar von dannen ritt. Den Schatz, so hatte er verkündet, wolle er später holen lassen. So lange sollte der Hort im Hohlen Berg bleiben, in den unergründlichen Schatzkammern und Hallen tief in seinem Inneren, behütet von seinem einzigen Wächter.

Seitdem waren einige Wochen vergangen, und die Totenfeuer hatten unermüdlich die Leichen all jener Recken verzehrt, die sich dem Xantener entgegengeworfen hatten. Es war eine schlechte Zeit gewesen für Obbo und den Wolfswinkel. Zwar hatten es die Krieger ohnehin vorgezogen, ihre Feste und Zechereien in der Burg abzuhalten, doch hatten sie sich stets zum ersten Tag des Frühlings in Obbos Schänke eingefunden. Wer die meisten Fußnägel in seiner Pfeife rauchte, der durfte mit seinen Freunden auf Kosten des Hauses trinken - bis zum nächsten Hahnenschrei. Ein verlockendes Angebot.

Jetzt aber kamen kaum noch zahlende Gäste, und vor allem einer, der verläßlichste Stammgast von allen, hatte sich seither nicht mehr blicken lassen. Er war der Wächter vom Hohlen Berg, der Horthüter, und es schien, als hätte er der Geselligkeit abgeschworen.

Obbo seufzte tief und beklagte innerlich das Schicksal, das der Xantener über das Nibelungenreich gebracht hatte. Gerade wollte er sich abwenden und zurück zum Wirtshaus laufen - und vielleicht unterwegs noch hier und da im Garten verweilen und den Fröschen bei der Fliegenjagd zusehen -, als etwas Unverhofftes geschah.

Zum ersten Mal seit Wochen stieg Rauch aus den Schloten des Hohlen Berges. Nicht der fettig schwarze Qualm der Leichenbrände, der die Burg so lange umlagert hatte - nein, dies war feiner, weißer Rauch, ausgepafft in kleinen runden Wölkchen. Das Signal.

Das Signal! durchfuhr es Obbo noch einmal, und vor Schreck stolperte er über die eigenen Füße. Fluchend und keuchend kippte er nach hinten und kugelte den Hang hinunter, abwärts in den Garten, mit wedelnden Armen und schmerzenden Knien. Hinter ihm blieb eine breite Schneise aus abgeknickten Hasenglöckchen zurück.

Unten rappelte er sich auf, schüttelte Halme und Schmutz aus seinem lichten Haar und schimpfte lauthals. Dann besann er sich.

Himmelsapperlot, das Signal! Nach all den Tagen war es wieder aufgestiegen! Und er hätte es beinah übersehen. Unverzeihlich, un-ver-zeih-lich!

Auf seinen Stummelbeinen wackelte er durch den Garten zum Wirtshaus, riß die Hintertür auf und stürmte in die Küche. Wo waren nur die frischen Eier? Wo das ausgelassene Schmalz? Wo die Zunderbüchse und wo das Salz? Verteufelt nochmal, solche Aufregung, solch ein Durcheinander!

Er schürte das Feuer unterm Bratstein, schlug die Eier auf - sie standen hinter den Würzdosen, der Teufel selbst mußte sie dort verborgen haben - und goß sie in eine Holzschale. Dann beschmierte er den kühlen Stein mit Schmalz. Es würde ewig dauern, bis die Oberfläche erhitzt war. Verflixt, verteufelt und verdammt!

Wieviel Zeit blieb ihm noch? Das Signal war erst vor kurzem aufgestiegen. Alberich würde sich gleich auf den Weg machen. Nicht ein einziges Mal war es vorgekommen, daß die Eier-im-Schmalz noch nicht fertig waren, wenn Alberich zur Schänke kam. Seit Jahren - wie vielen eigentlich? Siebzig, achtzig? - war der Horthüter Stammgast im Wolfswinkel, war es schon gewesen, als noch Obbos Großvater die Fässer anschlug. Und in all der Zeit hatte das Signal bedeutet: Alberich kommt, laßt die Eier brutzeln! Niemals war er enttäuscht worden, niemals.

Und nun das!

Der Stein war so kalt wie der Hintern einer Wasserleiche. Obbo begann zu schwitzen. Was würde Alberich tun, wenn die Eier noch nicht fertig waren? Wüten und schreien, zweifellos. Die Einrichtung der Schänke zerschlagen - es wäre nicht das erste Mal -, Obbo an den Kragen gehen, das Bier für viele Taler verschütten. Vielleicht sogar Mütterchen Mitternacht aufstacheln, es ihm gleichzutun.

O nein, o nein, o nein! Obbo schlug die Hände vors Gesicht und lief schwitzend in der Küche auf und ab. Wäre nur der Knecht zur Hand, er hätte ihn verdreschen können. Alles hätte gleich viel freundlicher ausgesehen. Aber der Knecht war im Stall, lag wahrscheinlich im Stroh und schnarchte seinen Rausch aus. Der faule Sack, der erbärmliche!

Immer wieder befühlte Obbo den Stein, verrieb das Schmalz mit den Fingern, in der Hoffnung, das könne den Vorgang beschleunigen. Aber, Schimpf und Schande, das tat es nicht. Das Feuer loderte und zischte, fauchte wie ein wildes Tier, doch der Stein blieb kalt.

Wochenlang, seit dem Blutbad des Xanteners, hatte Alberich nichts von sich hören lassen. Kein Signal, keine morgendlichen Eier-im-Schmalz. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten war das Ritual des Frühstücks vernachlässigt worden. Durfte er da verlangen, daß der Stein schon vorgeheizt, das Schmalz zerlaufen war?

Ob er durfte oder nicht, er würde es verlangen. Denn das war die Natur des Horthüters, ein Wüterich, wie es nur einen gab.

Ein Krachen ertönte. Die Schanktür flog auf.

Obbo schrak zusammen. Jetzt schon? So schnell? Das war unerhört, unbegreiflich, ungeheuer. So flink vom Hohlen Berg herab, über den Landsteg zum Ufer und durch den Wald zum Wolfswinkel? In so kurzer Zeit?

Er eilte beflissen zur Küchentür, um hinaus in den Schankraum zu blicken. Schon erwartete er, den Horthüter vor sich zu sehen, eine Augenbraue hochgerutscht, mißmutig wie immer, die übliche Frage auf den dürren Lippen: »Wo sind meine Eier-im-Schmalz? Wo sind sie, Obbo

Wie groß war sein Aufatmen, als es nicht Alberich war, der zur Tür hereinkam. Vor Erleichterung setzte gar sein Herz aus, und Obbo griff sich seufzend an die Brust.

»Laß mich raten«, krächzte eine alte Stimme, »die Eier sind noch nicht fertig.«

»Woher -«

»Ich sah das Signal, und ich sehe dein Gesicht.«

Eine kleine alte Frau, so dürr wie ein verbrannter Holzscheit und nicht weniger runzlig, war hereingekommen. Sie warf ihr Bündel auf einen Tisch und schüttelte das graue Haar, das glatt bis zu ihren Hüften fiel. Ihr Hexengesicht, einst als das schönste der Wälder gerühmt, entspannte sich, als sie erschöpft auf den Hocker sank. Der Lederbesatz ihrer Waldläuferkleidung knirschte leise.

Mütterchen Mitternacht hieb die hutzelige Faust auf den Tisch. »Ein Bier, Obbo! Und ein paar Eier, wenn sie dann fertig sind.«

Weinerlich ließ Obbo die Schultern hängen. »Du hast recht, Mütterchen. Sie sind nicht fertig. Und sie werden es nicht sein, wenn er kommt.«

»O je«, machte sie und gähnte. »Dann bring mir schon das Bier.«

»Eine Geschichte als Bezahlung?« fragte er ergeben.

»Eine Geschichte als Bezahlung«, bestätigte sie, »wie üblich.«

Denn Geschichten waren das bevorzugte Zahlungsmittel im Wolfswinkel, waren es immer gewesen und würden es auch in Zukunft sein. Vorausgesetzt, es waren gute Geschichten, denen es zu lauschen lohnte.

Mütterchen Mitternacht wohnte seit nunmehr dreizehn Jahren in Obbos Wirtshaus, seit sie das Räuberdasein aufgegeben hatte (abgesehen von einem kleinen Diebstahl hier und da). Einstmals war sie die Anführerin der gefürchtetsten Räuberbande diesseits und jenseits des Flusses gewesen, ein Überweib, das es mit jedem Mann aufnahm, mit dem Schwert und mit den Fäusten. Noch dazu galt sie als das schönste Frauenzimmer im ganzen Land, und es hieß, sie habe ebenso viele Männerherzen gebrochen wie mit der Klinge durchbohrt.

Nun aber war sie uralt, und nur das wallende Grauhaar kündete noch von ihrem einstigen Zauber. Wie viele Winter sie wirklich gesehen hatte, wußte keiner. Man munkelte, jeder, der es in Erfahrung gebracht hatte, habe sein Wissen mit dem Leben bezahlt. Als sie sich zur Ruhe setzte, ließ sie sich im Wolfswinkel nieder, und kaum ein Tag verging, an dem sie die Zeche nicht mit einem Garn voller Wunder und Heldentaten beglich - zu Obbos Leidwesen, denn klingende Münze hatte er bitter nötig. Aber er respektierte die Gesetze seiner Ahnen. Der Wolfswinkel stand jedem offen, der um eine prachtvolle Geschichte wußte, und die Abende am Kaminfeuer, bei Pfeifenrauch und starkem Bier waren längst schon legendär.

Obbo brachte einen schweren Holzkrug mit Schaumkrone an Mütterchens Tisch. Sie reichte ihm im Gegenzug ihr Schwert, eine Klinge so groß, daß Obbo sie kaum zu heben vermochte. Wie die Alte damit focht, war ihm ein Rätsel. Eines von vielen, die Mütterchen Mitternacht umgaben.

»Schließ es weg«, sagte sie, weil es ihr gefiel, auch Befehle für Selbstverständliches zu erteilen. Es war seit jeher Brauch in der Schänke, alle Waffen vom Wirt einschließen zu lassen.

Obbo brachte das Schwert zur eisernen Waffentruhe neben der Küchentür und legte es hinein. Der Deckel fiel mit einem Scheppern.

»Was die Geschichte angeht -«, begann Mütterchen Mitternacht, doch Obbo winkte ab.

»Einen Augenblick.«

Er eilte wieder in die Küche und befühlte den Stein. Warm, aber noch weit von wirklicher Hitze entfernt. Wenn es so weiterging, würde das Schmalz ranzig werden, bevor es heiß war. Obbo atmete tief durch und begann, sich damit abzufinden, daß Alberichs Zorn verheerend sein würde, ein wahres Zornesgewitter.

Er überlegte, ob er die wertvollsten Gegenstände im Schankraum, den alten Wandteppich und einige fein bemalte Krüge, forträumen sollte. Ob es nutzte, wenn Alberichs Bier gezapft für ihn bereitstand? Nein, er würde nur über die niedrige Schaumkrone fluchen.

Zurück in der Schänke nahm Obbo bei Mütterchen Platz. Es blieb ihm nichts übrig, als abzuwarten.

Die alte Räuberin stopfte Kraut in ihre Pfeife, ein monströses Ding, so lang wie Obbos Unterarm. Obbo reichte ihr einen glühenden Span, den er vom Ofenfeuer mitgebracht hatte, dann war sie bereit. Würziger Pfeifenduft wehte durchs Zimmer.

»Nun, nun«, murmelte Mütterchen Mitternacht, denn damit begann sie seit dreizehn Jahren jede ihrer Geschichten, »es ist etwas ganz Besonderes, das mir heute zu Ohren kam. Ein fetter Händler, fetter noch als du, Obbo, erzählte mir davon.«

»Du hast im Wald einen Händler getroffen?«

»Eine Geschichte war alles, was er bei sich trug.«

»Dann muß sie so gut sein wie Golddukaten.«

»Besser noch, mein Lieber, besser noch.« Sie hatte hellblaue Augen, die Obbo jetzt vergnügt anblinzelten. Manchmal wirkten sie fast weiß, vor allem im Winter. Mochte der Leibhaftige wissen, was der Grund dafür war. »Es ist eine Geschichte vom Helden Siegfried«, fuhr sie fort.

Obbo wurde bleich. »Gott bewahre, der Schlächter! Laß das nicht Alberich hören.«

»Was soll er schon tun?«

»Dir den Kopf abreißen.«

»Ach, das würde er nicht tun.« Sie kicherte schnarrend.

»Er könnte meine Tische zerschlagen.«

»Das wird er so oder so tun, wenn kein Ei für ihn bereitsteht.« Sie lachte laut auf, ein trockenes, brüchiges Rasseln. »Und wer weiß, vielleicht helfe ich ihm dabei, wenn auch das meine auf sich warten läßt.«

»Du bist grausam.«

»So nannte man mich einst - die Grausame.«

Obbo atmete leidvoll durch. »Los nun, die Geschichte.«

»Also«, wollte sie fortfahren, als die Tür zum zweitenmal an diesem Morgen aufflog.

Obbo wurde winzig klein auf seinem Hocker. »Alberich!« entfuhr es ihm flüsternd.

Der Schatten des Gastes fiel bis zur Küchentür.

»Das ist nicht Alberich«, stellte Mütterchen fest.

»Nicht?« fragte Obbo hoffnungsvoll.

»Nein.«

Und tatsächlich: Statt des Horthüters trat ein anderer zur Tür herein, ein Mann, den keiner der beiden je gesehen hatte.

»Holla!« brummte er mit brunnentiefer Stimme. »Bier für einen Gast. Und gebratenes Ei, wenn’s recht ist.«

Es war ein Hüne von einem Kerl. Gebückt kam er vom Wald herein, und gebückt stand er im Schankraum. Sein Kopf ragte höher als die Balkendecke, und seine Schultern waren breit wie die Tür. Ein schwarzer Haarschopf, wirr und starr wie Stroh, wucherte ihm über Stirn und Nacken, und auch sein Bart war rabenschwarz. Seine Kleidung war aus dunklem Fell und Eisen, aus hartem Leder und Bronzeschuppen - die Kleidung eines Kriegers. Einen furchtbaren Zweihänder hielt er in den Pranken. Viel zu groß für die Waffentruhe, wie Obbo sorgenvoll bemerkte.

Dann sah er die Augen des Riesen. Sie standen schräg.

»Ein Hunne!« schrie Mütterchen Mitternacht und sprang erstaunlich flink vom Hocker. »Schnell, Obbo, mein Schwert!«

»Laß gut sein, alte Vettel«, grunzte der Hüne oder Hunne oder was immer er auch sein mochte. »Keinen Streit bring’ ich in diese Mauern.« Er redete sehr langsam und gedehnt, und Obbo hatte den Eindruck, daß er ein wenig blöde war. »Stark und tödlich bin ich wie der Zahn des Löwen. Deshalb nennt man mich Löwenzahn.« Er straffte sich, schob heldenhaft die Brust nach vorne - und stieß prompt mit dem Schädel an die Decke. »Löwenzahn, der Grausame.«

Zwei von der Sorte, dachte Obbo freudlos.

»Löwenzahn?« fragte Mütterchen und gab Obbo einen Tritt. »Das Schwert!« zischte sie leise.

»Löwenzahn, jawohl. Aber dein Zittern ist unbegründet, Weib.«

»Mein Zittern?« Das war zuviel. Erst »Vettel« und nun das! »Ich zittere nicht, schon gar nicht vor dir, Hunne.«

Obbo trat an die Waffentruhe und dachte bei sich: Hunnen haben keine solchen Bärte. Und sie sind klein und gelb wie Senf. Dieser hier ist nichts von beidem.

Er zögerte noch, Mütterchen das Schwert herauszugeben. So lange der Kerl keinen Ärger machte, würde er keinen Kampf im Wolfswinkel dulden. Wiewohl, welche Wahl hatte er schon? Vielleicht sollte er einfach in die Küche gehen und nach dem Bratstein sehen.

Als hätte er Obbos Gedanken gelesen - was ausgeschlossen war, denn lesen konnte keiner der drei -, sagte der Riese: »Ich bin kein Hunne, Vettel. Mein Vater war einer, aber nicht meine Mutter. Sie war eine Frau wie du, wenngleich auch jünger und schöner.«

»Jünger und... schöner?« Mütterchen schloß mit einem Krächzen den Mund.

Löwenzahn, wenn das denn wirklich sein Name war, legte das Gigantenschwert auf einen Tisch. Er nickte. »Sie war ein Prachtweib, groß und blond wie die Sonne selbst. Und jetzt, Wirt, bring mir Bier!«

Obbo füllte flugs einen Krug, den größten, den er besaß, und schleppte ihn an den Tisch des Kriegers. Kleinlaut sagte er: »Euer Schwert, Herr - ich muß es wegschließen. Das ist hier Gesetz.«

»Wessen Gesetz?« gröhlte der Recke Löwenzahn.

»Äh«, machte Obbo verdrießlich, »das meine.«

»So, so.« Plötzlich grinste Löwenzahn. Hinter seiner Oberlippe klaffte eine Zahnlücke. »Nun, Gesetzgeber, Wirt, oder wie immer du dich nennen magst, so nimm denn mein Schwert und schließe es ein.«

Obbo zögerte noch einen Augenblick, dann hob er die mächtige Waffe mit aller Kraft vom Tisch. Ächzend und stöhnend schleppte er den Bihänder zur Waffenkiste. Seine Befürchtung war richtig gewesen: Die Klinge war zu lang. Er mußte den Deckel offenstehen lassen. Fast die Hälfte des Schwertes ragte heraus.

Die Tatsache, daß der Hüne nun kein Schwert mehr am Leib trug, schien Mütterchens Wut zu besänftigen. Sie setzte sich, nahm wieder ihre Pfeife auf und beobachtete den Fremden durch graue Krautschwaden.

»Gib acht, Hunne, bald kommt einer, der es nicht so gut mit dir meint wie ich«, brummte sie mißmutig. Ihre Sanftmut überraschte Obbo; für gewöhnlich ging sie keinem Kampf aus dem Weg. Doch auch Räuberbräute wurden alt, und Mütterchen hatte noch nicht gefrühstückt.

»Sie spricht die Wahrheit«, sagte Obbo an Löwenzahn gewandt. »Der Horthüter Alberich haßt alles, was auch nur hunnisch aussieht, ganz gleich, ob Ihr ein ganzer, ein halber oder nur zu einem Viertel Hunne seid.«

»Soll er kommen«, prahlte der Krieger über sein Bier hinweg. »Ich will ihn zurechtstutzen, bis er aufrecht durch die Zwergenstollen unter den Bergen gehen kann.«

»Aber er ist ein Zwerg«, bemerkte Obbo.

Löwenzahn lachte gröhlend auf und sagte nichts mehr.

»Wartet nur ab«, sagte Obbo leise und lief in die Küche. Noch immer war die Steinplatte nicht heiß genug, um Schmalz und Eier zum Braten zu bringen. Ein schwarzer Tag für den Wolfswinkel. Kein Ei für Alberich Horthüter, ein Raufbold im Schankraum und soviel Eile und Aufregung, daß Mütterchen nicht dazu kam, ihre Geschichte zu erzählen. Ein wahrlich übler Morgen. Und übler noch, wenn erst Alberich den Hunnen entdecken würde. Das mußte schrecklich enden, ein Gemetzel ohnegleichen.

Zurück im Schankraum nahm Obbo abermals an Mütterchens Tisch Platz und forderte sie auf, es erneut mit ihrer Geschichte zu versuchen.

Als sie begann, lehnte auch Löwenzahn sich zurück und hörte schweigend zu.

»Nun, nun«, setzte sie wieder an den Anfang, »es heißt, einige Tage, nachdem Siegfried von Xanten dem Geschlecht der Nibelungen den Garaus machte, kam er an eine mächtige Klippe über dem Rhein. Dort, so erfuhr er von einem verängstigten Köhler, hauste ein mächtiger Drache, ein Lindwurm, größer als alle, die bislang das Antlitz der Welt beschmutzten.«

»Aber die Lindwürmer sind ausgestorben«, stieß Löwenzahn hervor. »Seit Monaten schon suche ich einen, um ihm den Schädel zu spalten.«

»Du bist auf der Suche nach Heldentaten, Dummkopf?« fragte Mütterchen verächtlich. »Dann solltest du wissen, daß es lange schon Gerüchte gab, ein einziger Lindwurm, der letzte, lebe irgendwo in diesen Landen. Viel wurde davon gemunkelt, und so wie es aussieht, hat der Xantener ihn gefunden. Auf einer weiten Heide, hoch über dem Rhein, da soll er hausen, so hieß es, und -«

Wieder war es Mütterchen nicht vergönnt, ihr Garn zu Ende zu spinnen. Denn nun ertönte von draußen eine Stimme. Heftige Flüche drangen durch die Tür, schlimmer als alle, die Obbo bislang vernommen hatte. Dabei war er stolz auf jene, die er kannte, kam einem Wirt doch mancher Schimpf zu Ohren.

Die Tür flog auf, und herein kam Alberich.

»Wo sind meine Eier-im-Schmalz? Wo sind sie, Obbo

Der Wirt rutschte vor Schreck vom Hocker. Mit eingezogenem Kopf landete er auf dem Hinterteil am Boden, inmitten der Sägespäne, die überall die Bohlen bedeckten. Die Beine lang ausgestreckt, hockte er da und bemühte sich, dem lodernden Zorn des Zwerges zu entgehen.

»Sie sind... sie sind...«

»Was sind sie?« grollte der Horthüter.

»Sie... sie...«

»Was?«

»Nicht fertig.« Schützend schlug Obbo die Arme vors Gesicht.

Alberich stand da, gerüstet mit goldenem Helm und goldener Brünne, in seiner Hand eine goldene Geißel. Daran baumelten sieben Stachelkugeln, gleichfalls vergoldet. Er war klein, wie es so Sache der Zwerge ist, und selbst Obbo, der ja am Boden saß, mußte nicht zu ihm aufschauen; vielmehr befanden sich ihre Augen auf gleicher Höhe. Alberichs Gesicht war so faltig wie ein Bratapfel, seine Augen groß und schwarz, die Nase gewaltig. Ein eisgrauer Bart reichte ihm bis hinab zum Bauchnabel. Gewöhnlich trug er braune Gewänder und einen riesigen Hut mit breiter Krempe. Weshalb er sich heute in Rüstmontur geworfen hatte, wußte Obbo nicht. Er würde doch wegen ein paar Eiern kaum mit der Geißel auf ihn einschlagen?

Die breiten Nasenflügel des Horthüters zitterten, als sie sich mühten, den Duft gebratener Eier einzufangen. Doch da war nichts dergleichen. Nur Mütterchens Pfeifenrauch und der Gestank von verlaustem Fell.

»Nicht... fertig?« Die Erkenntnis traf Alberich wie ein Schlag. Sein Gesicht färbte sich rot.

Obbo versuchte, die Katastrophe abzuwenden. »Nicht ganz.« Und geschwind sprang er auf, eilte in die Küche, fort aus dem Blickfeld des zürnenden Zwerges, und befühlte die Bratplatte. Prompt verbrannte er sich die Fingerkuppen und sprang fluchend im Kreis. Dann erst kippte er die Eier über das zerlaufene Schmalz. Es zischte.

»Obbo!« schrie es von draußen.

Zu seiner Überraschung war es nicht Alberich, der seinen Namen rief. Statt seiner war es Mütterchen Mitternacht.

Zögernd näherte er sich der Küchentür, blickte zaghaft hinterm Rahmen hervor. »Ja, bitte?«

Der Anblick hätte ihn nicht unvermuteter treffen können.

Alberich lag zusammengesunken am Boden, kaum mehr bei Besinnung. Mütterchen kniete neben ihm und hielt seinen Kopf. Mit den Fingern träufelte sie Bier aus Löwenzahns Humpen auf die farblosen Lippen des Zwerges. Der Krieger stand dabei und beobachtete das Schauspiel halb mitfühlend, halb blöde. Er war wohl lange nicht so kampflustig, wie er tat.

»Bring kaltes Wasser!« rief Mütterchen, ohne in Obbos Richtung zu blicken. »Und irgendwas zu essen! Der kleine Mann ist halb verhungert.«

Halb verhungert? Alberich?

Obbo holte Wasser und einen Kanten Brot und brachte beides in den Schankraum. Wenig später war der Zwerg wieder klar genug, um die drei Gestalten zu erkennen, die sich über ihn beugten. Und er sah auch die schrägstehenden Augen des Riesen.

»Ein Hunne!« entfuhr es ihm, doch er war zu schwach, um sich zu erheben und den Fremden anzugreifen.

Der Krieger grinste und entblößte seine Zahnlücke. »Löwenzahn zu Euren Diensten, Herr Horthüter.«

»Zu meinen Diensten

»Ich bin hier, um Euch beizustehen.«

Alberich riß die Augen auf, als müßte er abermals in Ohnmacht fallen. »Wie das?«

Obbo wunderte sich, wie ruhig der Zwerg blieb. Er verabscheute Hilfe jeglicher Art, fast so sehr wie Hunnen. Daß er Löwenzahn nicht gleich an die Kehle ging, konnte nur an seiner üblen Verfassung liegen.

»Man hört weithin vom Schicksal der Fürsten Nibelung und Schilbung«, erklärte der Riese mit schwerer Zunge; es klang ein wenig, als lalle er im Suff. »Überall erzählt man sich, wie die Fürsten den Helden Siegfried baten, das Erbe ihres Vaters für sie aufzuteilen. Der Xantener aber erschlug sie beide und ihre Männer noch dazu und erhob eigens Anspruch auf den Schatz. Es heißt, er habe Euch, Herr Horthüter, im Kampf besiegt und Euch die Tarnkappe entrissen.«

Alberichs Miene wurde noch verkniffener, als sie von Natur aus war. »Das erzählt man sich? Von Alberich, dem Verlierer?«

»Nein«, widersprach Löwenzahn erstaunlich flink. »Nicht vom Verlierer, sondern von Alberich dem Tapferen, der den Listen des Xanteners unterlag. Es heißt, ohne Tarnkappe werde es Euch schwerfallen, den unermeßlichen Hort der Nibelungen zu bewachen. Deshalb bin ich hier, um mit Euch neue Heldentaten zu vollbringen.«

Mütterchen Mitternacht lachte krächzend auf. »Du willst dich in die Lieder einschleichen, die man über Alberich Horthüter singt.«

»Ich will meinen Platz darin verdienen, alte Vettel.«

»Wer gab dir diesen dämlichen Namen, Hunne?« fragte Alberich und setzte sich auf. Noch immer machte er keine Anstalten, den Riesen zu erschlagen.

Ehe jener antworten konnte, erklärte Mütterchen schnippisch: »Stark und tödlich wie der Zahn eines Löwen. Hah!«

»Was ist daran so lustig, Weib?« grollte der Krieger.

Obbo wollte es ihm erklären, ihm gar einen Löwenzahn aus dem Garten pflücken, doch Alberich ging dazwischen.

»Ich will deine Hilfe nicht, Hunne. Alberich braucht niemandes Hilfe.«

»Vielleicht doch.«

Der Blick des Zwerges wurde lauernd. »Wie meinst du das?«

»Es heißt, Räuber aus dem ganzen Land seien unterwegs hierher, um den Hort zu gewinnen.«

Alberich schnaubte. »Sie werden sich am Horthüter die Zähne ausbeißen.«

Jetzt war es Mütterchen, die sagte: »Mit Verlaub, mein Freund, aber im Augenblick siehst du aus, als könnte sogar Obbo dir mit der Bratpfanne eins überziehen.«

Alberich ballte die Faust vorm Gesicht des verdutzten Wirtes. »Soll er’s doch versuchen!«

»Aber ich wollte doch gar nicht...« stammelte Obbo, ehe Mütterchen dazwischenging.

»Gemach, Alberich Horthüter. Es ist nicht Obbos Pfanne, die du zu fürchten hast.«

»Nichts fürchte ich!« schimpfte der Zwerg erregt. »Nichts auf der Welt!«

»Ja, ja«, besänftigte ihn Mütterchen. »Sag’ uns lieber, was dich so geschwächt hat.«

»Der Hunger«, entgegnete der grimmige Zwerg. »Hab’ seit Wochen nichts gegessen.«

»Gold kaut sich wohl schlecht«, bemerkte die Räuberin.

»In der Tat«, brummte Alberich durch seinen Bart. »Mußte achtgeben, daß keine Räuber und Hunnen meine Schätze stehlen.«

Mütterchen und Löwenzahn wechselten vielsagende Blicke.

»Hatte keine Zeit zum Essen«, fuhr der Zwerg fort. »Mußte Ausschau halten nach Feinden vorm Tor des Hohlen Berges. Erst heute ging es nicht mehr anders, ich mußte kommen und gebratene Eier essen.« Dabei zitterten seine empfindlichen Nasenflügel erneut. Auch die anderen bemerkten jetzt den Geruch nach Verbranntem.

Obbo schluckte, sein Kopf ruckte hoch. »Herrgott, die Eier!« Er rannte los, stolperte über einen Hocker, fing sich gerade noch und verschwand in der Küche.

Ein Blick auf den Bratstein zeigte, daß er zu spät kam. Die Eier waren restlos verkohlt. Ein weiteres erstes Mal an diesem Tag. Fluchend machte er sich daran, die Überreste vom Stein zu schaben und neue Eier aufzuschlagen.

Derweil wurde Alberich von Mütterchen und Löwenzahn auf einen Hocker gehievt. Die goldene Rüstung wog schwer, aber er weigerte sich strikt, sie abzulegen. Beide entdeckten den großen Schlüssel, der unter der Brünne an einer Kette um seinen Hals hing.

Alberich bemerkte ihre Blicke. »Der Schlüssel zum Tor. Wer sich daran vergreift, der stirbt tausend Tode.«

»Niemand wird sich an deinem Schlüssel vergreifen«, besänftigte ihn Mütterchen.

»Das will ich hoffen.«

»Dann ist der Berg jetzt unbewacht?« fragte Löwenzahn.

»Unbewacht?« schrie der Zwerg im Zorn. »Warum willst du das wissen? Tausend Feuerdrachen hüten das Gold.«

»O ja, natürlich«, seufzte Mütterchen.

Obbo kehrte zurück. »Neue Eier sind unterwegs.«

Seine drei Gäste murmelten Flüche, denn allen knurrte der Magen, am allermeisten Alberich.

»Womit willst du die Eier bezahlen?« fragte Obbo den Zwerg, weil es seine Pflicht als Wirt war.

»Mit Gold, wie immer«, keifte Alberich zurück. Der Horthüter hatte in all den Jahrzehnten nicht eine einzige Geschichte erzählt. Abgesehen von seinen Schimpftiraden sprach er überhaupt nicht viel.

»Was ist nun?« erkundigte sich Löwenzahn. »Nehmt Ihr mich als Kampfgefährten an, Herr Horthüter?«

»Pah«, schnauzte Alberich. »Geh’ von mir aus zum Teufel, Hunne.«

»Ihr habt ein vorlautes Mundwerk, Zwergling.«

Alberich starrte ihn mit offenem Mund an. Kein Zwerg schätzt es, wenn man ihn »Zwergling« nennt. Aber den edlen Alberich mußte ein solches Wort besonders treffen.

»Wenn ich nicht so hungrig wäre, würde ich dir die Frechheiten austreiben!«

»Es wäre wenig heldenhaft, den großen Alberich mit leerem Magen zu erschlagen«, entgegnete Löwenzahn schulterzuckend. Manchmal war er schlagfertiger, als sein tumber Gesichtsausdruck und die lallende Sprache vermuten ließen.

Obbo unterbrach den Streit, als er drei Holzschüsseln in den Schankraum balancierte. Er stellte sie vor den drei Gästen ab und legte Alberichs Goldgeißel in die Waffentruhe.

Alle fielen mit Heißhunger über ihre Eier-im-Schmalz her, bestellten mehr Bier und vergaßen für eine Weile ihren Zank. Auch Obbo setzte sich schließlich dazu, aß selbst ein wenig Ei und genehmigte sich einen halbvollen Krug.

Löwenzahn wandte sich an Alberich. »Warum hat Siegfried dich eigentlich erst besiegt und dann doch wieder zum Horthüter ernannt?« fragte er kauend und verzichtete fortan auf die Anrede »Ihr«.

»Damit ich allen Hunnen den Schädel einschlage«, raunzte der Zwerg.

Mütterchen wischte sich Bierschaum vom Mund. »Im Ernst, Alberich. Wieso nahm er dir die Tarnkappe und trug dir trotzdem auf, auch in Zukunft den Schatz zu bewachen?«

»Weil ich der einzige bin, der sich in den Schatzkammern und Hallen im Hohlen Berg auskennt. Der verfluchte Xantener würde sich verlaufen und bis ans Ende seiner Tage durch den Berg kriechen, würde ich ihn nicht führen.«

»Dann sollte es dir nicht schwerfallen, ihn loszuwerden, wenn er zurückkehrt.«

Wütend blinzelte Alberich sie an. »Es betrügt sich schlecht, wenn man eine Klinge am Hals spürt.«

»Das muß allerdings schmerzlich für dich gewesen sein, Zwergling«, bemerkte Löwenzahn grinsend. »Wahrscheinlich hat er dich hochgehoben, du hast mit den Beinen gestrampelt und dich -«

»Schluß damit!« Alberich sah aus, als wolle er ihm seinen Holzlöffel - oder Schlimmeres - um die Ohren hauen. »Ich lasse mich nicht von einem stinkenden Hunnen beleidigen.«

»Ich kam als Bittsteller, und du hast mich beleidigt«, erinnerte ihn Löwenzahn.

Obbo fühlte sich einmal mehr in die Rolle des Schlichters gedrängt. »Was haltet ihr davon, wenn Mütterchen uns endlich ihre Geschichte erzählt?«

Löwenzahn hob seinen Krug und prostete in die Runde. »Ein Hoch auf die Kunst des Geschichtenerzählens.«

»Es geht um Siegfried«, warnte Mütterchen und sah dabei Alberich an.

Der knallte die Faust auf den Tisch. »Der Verfluchte!«

»Ein Held«, widersprach Löwenzahn, »ohne Zweifel. Er nahm es mit einem Drachen auf.«

»So, tat er das?« tobte der Zwerg. »Kein Wunder, mit meiner Tarnkappe. Auch ein Drache besiegt keinen Unsichtbaren.«

»Er hat sie nicht benutzt«, sagte Mütterchen. »Er hat das Untier allein mit dem Schwert bezwungen.«

»Zweifellos eine Lüge.«

»Ein Held ist er trotzdem.« Löwenzahn hob abermals den Krug und prostete ins Leere, als stünde der unsichtbare Siegfried neben ihm. »Soviel Respekt muß sein.«

»Auch ich bin ein Held!« zeterte Alberich.

»Ohne die Magie der Tarnkappe scheinst du mir ein gewöhnlicher Zwergling zu sein.«

»Ich zeig’ dir, wer ein Zwergling -«

Mütterchen hielt Alberich zurück und drückte ihn mit erstaunlicher Kraft auf seinen Hocker. »Warte ab, alter Freund. Höre meine Geschichte, und es mag sich ein Weg aufzeigen, wie du neue Magie gewinnen kannst, um deinen Hort zu hüten.«

»Neue Magie?« fragte er zweifelnd. »Ist das dein Ernst?«

»Allerdings.«

Alberich klammerte beide Hände um seinen Bierkrug und starrte verkniffen in den Schaum. »Dann laß hören...«

Endlich! dachte Obbo.

Mütterchen Mitternacht nahm einen heftigen Zug aus ihrem Humpen, dann sagte sie: »Nun, nun.« Obbo rückte sich auf seinem Hocker zurecht.

Die Räuberin schloß dort an, wo sie durch Alberichs Ankunft unterbrochen worden war. »Von einem Köhler also erfuhr der Xantener vom entsetzlichen Lindwurm, der hoch über dem Rhein auf seine Opfer lauert. Jeden Tag, so erzählte der verstörte Mann dem Recken, wälze sich das Untier aus seiner Höhle und liege auf einer hohen Klippe. Von dort aus strecke es sein Maul in die Fluten, um zu trinken.«

»Ich hörte, sie trinken nur flüssiges Gestein aus dem Glutschlund der Erde«, warf Löwenzahn ein.

»Dummes Geschwätz«, fuhr Mütterchen ihm über den Mund. »Das sind Ammenmärchen. Aber unterbrich mich nicht noch einmal.«

Löwenzahn schnitt eine Grimasse und schwieg fortan.

Mütterchen paffte einen gewaltigen Rauchring, der eine Weile über ihrem Kopf schwebte und schließlich zerstob. »Am frühen Morgen ritt Siegfried den Berg hinauf. Unweit der Klippe ließ er sein Pferd zurück, band es aber nicht fest, damit es entkommen konnte, falls ihm selbst etwas zustieße. Er erklomm den letzten Felswall und betrat die verfluchte Heide, die den oberen Teil der Klippe bedeckt. Schon von weitem sah er den schwarzen Rauch, der aus einem gewaltigen Höhlenloch aufstieg, denn darin lag der Drache und schlief. Siegfried entdeckte auch die breite Spur, die das Untier durch die Heide gezogen hatte, verriet sie doch den Weg, den der Lindwurm allmorgendlich zur Tränke nahm.

Der Xantener faßte sogleich einen kühnen Plan. In Windeseile grub er mit seinen übermenschlichen Kräften ein tiefes Loch, mitten in die Wälzspur des Drachen. Er hockte sich hinein, das mächtige Schwert Balmung im Anschlag, bereit, es dem Untier ins Herz zu stoßen, so es denn über die Grube hinwegkroch.«

»Balmung, der Nibelungenschlächter«, flüsterte Alberich tonlos.

Mütterchen nickte. »Siegfried mußte nicht lange warten. Bald schon kroch der stinkende Wurm nach dem Wasser, und ein furchtbares Erdbeben hob an, so daß Siegfried fürchtete, die Grube würde zusammenstürzen und ihn lebendig begraben. Das Untier spie Feuer und Gift vor sich her, ohne den Feind zu bemerken. Schon wälzte sich sein Schuppenleib über das Loch hinweg, da rammte der Recke die Klinge nach oben und grub sie tief in die Eingeweide der Bestie. Der Drache wälzte sich im Todeskampf, und immer mehr Blut pumpte aus seinem Körper in das Versteck seines Gegners. Es gelang Siegfried gerade noch, das Loch zu verlassen, ehe das Untier sich abermals darüber wälzen und ihn zermalmen konnte. Schwanz und Schädel schlugen wild in alle Richtungen, die riesigen Kiefer schnappten ins Leere.

Endlich aber lag der Drache still. Doch immer noch war ein Hauch von Leben in ihm. Mit tiefer Stimme fragte er: ›Wer bist du, und welches ist dein Geschlecht, daß du es wagst, mir mit solcher Kühnheit entgegenzutreten?‹ Und Siegfried sprach: ›Man nennt mich Siegfried, und ich wurde den Herrschern von Xanten als einziger Sohn geboren, den Fürsten Siegmund und Sieglinde.‹ Der Drache gab sich damit nicht zufrieden: ›Was trieb dich zu diesem Kampf? Weißt du nicht, daß alles Volk mich fürchtet?‹ ›Mein Mut, meine Kraft und meine starke Rechte verlangten, sich mit dir zu messen‹, erwiderte Siegfried stolz. ›Mein Schwert Balmung tat das seine, dir all deinen Schrecken zu nehmen.‹ «

Alberich zog eine Grimasse. »Solch ein Großmaul! Nur das Schwert war es, nur Balmung, das ihn den Drachen bezwingen ließ. Das Schwert, das er aus meinem Hort gestohlen hat!«

»Balmung gehörte den Nibelungen?« fragte Löwenzahn überrascht, bekam aber keine Antwort.

Mütterchen holte Luft. »Endlich war der Drache tot. Das Feuer in seinen Augen verging, und kein Gift und keine Glut schossen mehr aus seinem Maul. Allein sein Blut, viele, viele Fässer voll, ergoß sich hinab in die Grube des Recken, und Siegfried selbst war über und über davon besudelt. Er erinnerte sich an die alte Mär vom Drachenblut, und daß es dem, der darin badet, die Unverwundbarkeit schenkt. Flugs entstieg er seiner Kleidung und sank in die rote warme Flut, benetzte sich von oben bis unten. Und bald schon spürte er, wie sich ein unsichtbarer Hornpanzer über seine Haut legte, und keine Klinge, nicht einmal Balmungs scharfe Spitze, vermochte sie zu ritzen. So zog der Xantener glücklich von dannen, in der Gewißheit, daß keiner es je mit ihm aufnehmen könnte.«

Alberich schlug vor Zorn mit der Faust gegen seinen Krug. Das Gefäß flog in weitem Bogen vom Tisch und zerbrach am Boden. »Das darf nicht wahr sein! Unverwundbar soll er sein, der Hund? Einst wird er lernen, wie unverwundbar er ist, wenn erst Alberichs Klinge ihn spaltet.«

Obbo sah finster auf die Splitter des Tonkrugs, blieb aber auf seinem Platz. Wer mochte wissen, wie viele Krüge noch zerbrechen würden, ehe der Zwerg zur Ruhe kam?

Löwenzahn runzelte unter seiner schwarzen Mähne die Stirn. »Wie aber soll diese Geschichte unserem Horthüter zugute kommen?«

»Das würde ich auch gern wissen!« keifte der Zwerg.

Mütterchen lächelte geheimnisvoll. »Fällt es euch wirklich so schwer zu begreifen?«

Erstaunlicherweise war es Obbo, der sagte: »Das Blut! Du meinst das Blut, nicht wahr?«

»Aber ja doch!« rief sogar Löwenzahn.

Nur Alberich schaute verständnislos von einem zum anderen. »Blut?« fragte er verdutzt.

»Es ist doch ganz einfach«, erklärte Mütterchen geduldig und machte dabei ihrem Namen alle Ehre. »Der Schutz der Tarnkappe ist dir verlorengegangen. Um den Hohlen Berg aber gegen die wilden Horden verteidigen zu können, die bald schon hier auftauchen werden, bedarf es einer neuen Magie.« Sie grinste. »Du, Alberich, mußt unverwundbar werden - genau wie dein Erzfeind Siegfried!«

»Unverwundbar...?« Der Zwerg schnappte nach Luft. Er sah aus, als würde er gleich ein zweites Mal zusammenbrechen.

»Natürlich!« meinte auch Löwenzahn. »Ich werde dich auf der Reise begleiten.«

»Begleiten...?« stammelte der Horthüter fassungslos. »Reise?«

»Zur Drachenheide«, sagte Mütterchen erregt. »Und auch ich will mit euch kommen. Es heißt, das Blut eines Lindwurms habe heilende Kräfte. Meine Gicht macht mir neuerdings zu schaffen.«

»Ihr meint...«, keuchte Alberich, »ihr meint wirklich... ich soll in Blut baden? In Drachenblut

»Warum nicht?« fragte Löwenzahn.

»Ja«, sagte auch Mütterchen, »warum eigentlich nicht?«

Alberich verzog kleinlaut das Gesicht. »Es stinkt.«

Mütterchen lächelte gutherzig. »Sicher bist du bei all den Blutbädern, die du unter deinen Feinden angerichtet hast, schon das ein oder andere Mal im Blut gewatet.«

»Natürlich, natürlich«, ereiferte sich Alberich eilig.

»Dann sehe ich keine Schwierigkeit.«

Alberich, dem der Gedanke noch immer sichtliches Unbehagen bereitete, suchte nach einem anderen Ausweg. »Ich kann den Hohlen Berg nicht unbewacht lassen.«

»Nur einige Tage«, widersprach Mütterchen. »Es kann nicht weit von hier sein. Und bis die ersten Räuber hier eintreffen, mag gut und gern noch eine Weile vergehen. Niemand wird den Hohlen Berg und den Nibelungenhort aufs Geratewohl angreifen. Das erfordert Vorbereitungen, Pläne und Ränke. Nein«, schloß sie, »ich glaube, in den nächsten Tagen ist der Hort noch sicher, auch ohne dich. Außerdem hast du selbst gesagt, daß jeder Räuber sich in den Hallen der Berges unweigerlich verirren muß.«

»Aber es ist mein Auftrag, den Schatz zu bewachen«, knurrte der Zwerg.

»Ein Auftrag, den dir zuletzt dein Feind Siegfried erteilte. Sollte es dir nicht Gefallen bereiten, dich ihm zu widersetzen?«

»Ich war schon Horthüter, als dieses Schwein noch gar nicht lebte.«

»Doch heute bist du es nach seinem Willen.«

Alberich verschränkte mürrisch die Arme. Er zog den goldbehelmten Kopf zwischen die Schultern und grummelte leise vor sich hin. »Drachenblut... der Xantener... hasse Reisen... aber die Magie«, war alles, was Mütterchen und die anderen verstehen konnten.

Löwenzahn ergriff das Wort. »Auch ich will im Blute des Untiers baden. Dann werde ich Siegfried zum Schwertkampf fordern. Wir werden sehen, wer von uns der Stärkere ist.«

»Überschätze dich nicht«, warnte Mütterchen. »Außerdem sollte es das Ziel unserer Reise sein, den Blutsee zu finden, nicht den Xantener zu jagen.«

Alle versanken in brütendem Schweigen, unterbrochen nur von Alberichs brummelndem Selbstgespräch. Dabei starrte er verkniffen auf die leere Stelle auf dem Tisch, wo eben noch sein Krug gestanden hatte.

Obbo erhob sich. »Noch ein Bier?« fragte er, denn er besann sich auf seine Pflichten als Wirt. Mütterchens Geschichte und der wagemutige Plan hatten ihn gründlich verwirrt.

»Eines für mich«, sagte Löwenzahn, und auch Mütterchen bat um einen zweiten Krug.

Alberich hielt sich zurück. Er schien das Für und Wider abzuwägen, denn sein Mienenspiel wirkte noch abweisender als sonst. Schließlich aber, als Obbo die verlangten Krüge brachte, sagte der Zwerg: »Nein!«

»Nein!« fragten Mütterchen und Löwenzahn wie aus einem Mund.

»Es geht nicht«, entgegnete Alberich. »Was, wenn all das nur Geschwätz ist? Wer weiß, ob der Xantener den Drachen wirklich besiegt hat? Mir bleibt keine Zeit, einem Hirngespinst nachzujagen.«

Mütterchen seufzte. »Es ist kein Hirngespinst, und das weißt du. Uralt sind die Geschichten vom Drachen am Rhein und älter noch die Legenden vom Bad in seinem Blut. Außerdem hast du selbst erfahren, was für ein Gegner der Xantener ist. Nur ihm allein konnte es gelingen, das Untier zu schlagen.«

»Es gibt viele Geschichten über Siegfried«, setzte er dagegen, »und nicht alle sind wahr.«

»Die meisten sind es«, erwiderte Mütterchen. »Mag er dich und die Nibelungen geschlagen haben, durch Tücke oder Kraft, so ist er doch nicht weniger Held.«

»Ein Held, pah!« spie Alberich aus. Und dann verfiel er wieder in leises Grummeln, was bedeuten mochte, daß er abermals grübelte.

Im selben Moment schrie Löwenzahn: »Dort, am Fenster!«

Er sprang auf und stürzte zur Waffenkiste. Die drei anderen blickten alarmiert nach draußen. Einen Moment lang war ein Schemen zu sehen, ein Gesicht vielleicht. Dann huschte es davon und war verschwunden.

Löwenzahn hatte derweil seinen Bihänder aus der Truhe gerissen und stürmte damit zur Tür. Fluchend bückte er sich unter dem niedrigen Rahmen hindurch und rannte ins Freie.

Die drei anderen blickten sich ratlos an.

»Aber das war nur der Geist«, meinte Obbo gelassen.

»Vielleicht hätten wir Löwenzahn davon erzählen sollen«, sagte Mütterchen.

»Er hat nicht mehr Hirn in seinem Hunnenschädel als der niederste Erdwurm«, schimpfte Alberich.

Dann saßen sie wortlos da und warteten auf Löwenzahns Rückkehr.

Der Riese ließ nicht lange auf sich warten. »Jemand hat gelauscht«, keuchte er atemlos. »Aber er ist mir entwischt.«

»Er entwischt jedem«, sagte Obbo. »Wir nennen ihn den Geist.«

»Ein Geist?« Löwenzahn wurde bleich. Unter seinen schwarzen Haarzotteln war seine Blässe noch auffälliger.

»Kein echter - glauben wir zumindest.« Mütterchen war sichtlich erfreut über die Furcht des Kriegers vor Gespenstern. Sie hatte ihm das »alte Vettel« noch lange nicht vergeben. »Es ist irgendein Wesen, wahrscheinlich gar ein Mensch wie wir alle, der draußen im Wald lebt. Er zeigt sich niemandem, nur hin und wieder bemerkte man, wie er hinter Bäumen und Fenstern einherhuscht. Immer ist er vermummt, in irgendwelche Gewänder oder Bandagen. Eine traurige, einsame Kreatur. Obbo stellt ihm gelegentlich etwas zu essen an den Waldrand.«

Löwenzahn legte den Bihänder zu Boden und setzte sich wieder. »Hm-hm«, machte er, ohne es näher zu erläutern.

Alberich stand auf.

»Wo willst du hin?« fragte Mütterchen. »Wir sollten uns alle fertigmachen für die Reise.«

Der Zwerg ging zur Truhe und fischte seine Geißel hervor. »Ich gehe zum Berg«, knurrte er. »Laßt den Drachen Drachen sein. Ich brauche seinen Zauber nicht.«

Und noch ehe einer der anderen widersprechen konnte, war er bereits zur Tür hinaus und tauchte in die Schatten des Waldes.



Der Hohle Berg war die niedrigere der beiden Erhebungen, die von der Halbinsel des Nibelungengeschlechts hoch auf in den Himmel ragten. Der Rhein umspülte strudelnd ihre Klippen, und uralt war die Legende von den Rheintöchtern, die aus den Tiefen des Flusses die Insel bewachten. Doch auch sie hatten Siegfried, dem Nibelungentöter, keinen Einhalt bieten können, als er die Erben des Hortes niedermachte. Weder hatten sie den Versuch unternommen, noch hatten sie nur ihre blonden Schöpfe aus den Fluten gereckt. Genaugenommen hatte niemand sie seit vielen Jahrhunderten gesehen, nicht einmal Alberich, der länger auf der Halbinsel hauste als jeder andere. Wahrscheinlich, so vermutete er, waren die Rheintöchter längst weitergezogen und trieben ihren Schabernack anderswo an den Ufern des Stroms. Ihm sollte es recht sein. Er verabscheute das tändelnde Pack, das in der Dunkelheit der Rheinklüfte von Sonne und Liebesglück träumte.

Der bewaldete Landsteg, der Ufer und Insel miteinander verband, war an die hundert Schritte breit. Alberich, der das Wasser nicht mochte, hielt sich so gut es nur ging in seiner Mitte, um den Wogen nicht zu nahe zu kommen. Das ewige Brausen der Wellen drang durch die Büsche und Äste, und ihr Seufzen ließ den Horthüter schaudern.

Nicht, daß er Wald weit über Wasser schätzte! Sein Element war der Stein, die Kühle der schwarzen Bergestiefen, die dom-hohen Hallen und verwinkelten Stollen. Der Hohle Berg war sein Zuhause, seit er denken konnte, und er würde nicht zulassen, daß Räuberpack und Hunnenhorden ihn von hier vertrieben. Niemandem war das gelungen, nicht einmal den Dienern der Götter, die gelegentlich übers Weltenantlitz streiften.

Aber das war lange her, und stets war ihm dabei der Zauber der Tarnkappe zu Diensten gewesen. Jetzt aber war er nur noch ein Zwerg, kraftvoll zwar, mit kurzem, starkem Schwertarm, aber er mußte sich eingestehen, daß er einer Übermacht von tausend oder vielleicht zweitausend Gegnern kaum gewachsen war. Mütterchen Mitternacht hatte recht. Eine neue Magie mußte her.

Er stieg den Pfad zum Hohlen Berg hinauf, ein zerklüfteter Felsenturm, dessen Hänge nur spärlich mit Wald und Buschwerk bewachsen waren. Allein das hohe Tor aus Eisen, hergestellt von Albenschmieden, den Ahnen des Zwergengeschlechts, lag inmitten eines Tannenhains. Die Baumwipfel schützten es vor neugierigen Blicken vom Flußufer.

Alberich steckte seinen Schlüssel ins Schloß, sprach die nötigen Wunderworte und schob das Tor nach innen, so leicht, als sei es aus Papier. Hinter ihm schloß es sich wieder mit dumpfem Donner.

Durch ein Labyrinth von Stollen und Gängen, durch Hallen aus Granit und Lavagestein, über schmale Felsbrücken, die schwarze Abgründe überspannten, und unter Kuppeln aus purem Bergkristall stieg Alberich in die untersten Ebenen des Berges. Vorbei an alten Zwergenschmieden, die seit Jahrhunderten ungenutzt blieben, vorüber an alten Wohnkammern und Speisesälen, alle verlassen, suchte er sich seinen Weg zur Halle des Hortes, weit, weit unter dem Rhein und den Landen an seinen Ufern. Hoch über ihm, jenseits des Gipfels, überquerte die Sonne fast den halben Himmel, ehe Alberich sein Ziel erreichte. Dann aber lag er vor ihm, der Hort des Fürsten Nibelung, der goldene Schatz der Schätze.

Am Grunde eines Felsendoms befand sich ein Gebirge aus Gold und Geschmeide, aus Edelsteinen und Kristall. Der Stollen, der zur Horthalle führte, mündete hoch oben in die Wand des Doms. Es gab keine Balustrade, nicht das schlichteste Geländer. Der Gang brach einfach ab, und dahinter lag der Abgrund des Felsendoms. Nur über eine schmale Treppe, rund um die Halle in die Wände gehauen, konnte man bis hinab in die Goldberge steigen. Alberich war seit Jahrzehnten nicht mehr dort unten gewesen. Selbst der verfluchte Siegfried hatte sich mit einem Blick von hier oben zufriedengegeben. Der Abstieg über die Treppe allein dauerte mehr als einen halben Tag, denn es waren Tausende und Abertausende von Stufen, die sich um die Halle schlängelten.

Alberich setzte sich an die Kante und ließ die dürren Beine baumeln. Er nahm den Helm vom Kopf und schüttelte sein lichtes Haar. Auch die Brünne drückte ihn, aber er wagte nicht, sie abzulegen.

Ach, dachte er wehmütig, wie einfach war alles doch damals gewesen.

Damals, als es noch andere wie ihn hier unten gab, ein ganzes Zwergenvolk, das in emsiger Arbeit schuf, was jetzt am Grunde der Horthalle lag. Treu ergeben den Urahnen Nibelungs, und ihm verpflichtet bis zum Tod. Doch die Zwerge waren allmählich verschwunden, viele starben, einige gingen auch fort und schlossen sich verwandten Völkern an, hoch oben im Norden, wo die Nächte lang und die Winde so eisig wie Felsquellen waren.

Alberich war geblieben, gebunden an den Treueeid der Nibelungen. Was immer seine Vorfahren im Berg dahingerafft hatte, Krankheit oder Feind oder beides, es traf ihn nicht. Er lebte ganz allein hier unten, und fort ging er nie, außer an manchen Morgen, wenn er im Wolfswinkel Obbos Eier-im-Schmalz aß. Er verabscheute Reisen, wohl weil er nie eine gemacht hatte, und die Vorstellung, seinen Hort für Tage oder Wochen sich selbst zu überlassen, wäre für ihn nie in Frage gekommen, wenn nicht, ja, wenn nicht der Xantener aufgetaucht wäre.

Jetzt saß er da, ohne Tarnkappe, ohne Hoffnung, und er wußte, daß die Reise unumgänglich war. Er unternahm sie besser heute als morgen, noch dazu an der Seite von Mütterchen Mitternacht, der er wenigstens trauen konnte. Was aber diesen Löwenzahn anging - allein der Name! -, so hatte er erhebliche Zweifel. Ein Hunnen-Bastard auf der Suche nach Ruhm. Es war beinahe lächerlich.

Er grübelte lange und genau, und das leise Brummeln, das dabei über seine Lippen kroch, hallte von den Felsklüften wider. Immer wieder ließ er seine Blinke über die Hortberge schweifen, über die endlosen Hügel aus Gold, die aus sich heraus zu leuchten schienen. Es gab keine Fackeln hier unten. Der Hort erfüllte auf wundersame Weise den ganzen Berg mit seinem Glanz, selbst die abgelegensten Stollen und Kammern. Für Alberich war es das größte Wunder der Welt, und ihm galt seine ganze Liebe.

Es war eine einsame, traurige Liebe, das wußte er, aber es war die beste, die er hatte. Niemand würde sich an seinem Hort vergreifen, kein Unsterblicher und kein Kind einer Menschenmutter.

Und so kam er nach schmerzlichen Stunden des Abwägens und Nachdenkens zu einer Entscheidung, an der er doch in Wahrheit nie gezweifelt hatte.


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