Drittes Kapitel.

Von Petersburg hatte Klim sich unmerklich die für den Provinzialen typische ablehnende und sogar ein wenig feindselige Vorstellung gebildet, diese Stadt sei keine russische Stadt, sie sei eine Stadt herzloser, mißtrauischer und sehr scharfsinniger Menschen. Dieses Haupt des ungetümen Körpers Rußland sei angefüllt mit einem kalten und bösen Gehirn. Nachts im Wagen dachte Klim an Gogol und Dostojewski.

In der Hauptstadt traf er ein mit dem festen Entschluß, im Verkehr mit den Menschen Vorsicht walten zu lassen, überzeugt, daß sie ihn sogleich auf Herz und Nieren prüfen, analysieren und mit ihren Glaubensmeinungen anstecken würden.

Dichter Nebel hüllte die Stadt ein. Obwohl es nicht später als drei Uhr mittags war, strengten sich die an gigantischen Pusteblumen erinnernden regenbogenfarbigen Blasen der Laternen an, den Newski Prospekt zu erhellen. Klebrige Feuchtigkeit netzte die Gesichtshaut, bitterer Geruch von Rauch kitzelte die Nase. Klim zog den Kopf ein und blickte nach rechts und links in die nassen Scheiben der Läden, die innen so hell erleuchtet waren, als würde in ihnen mit den Sonnenstrahlen sommerlicher Tage gehandelt. Ungewohnt war der gedämpfte Lärm der Stadt, zu weich und stumpf der Schlag der Hufe auf das Holzpflaster, das Schleifen der Gummi- und Eisenreifen an den Rädern der Equipagen hatte fast den gleichen Klang, auch die Stimmen der Menschen tönten gleichförmig hohl. Seltsam berührte es, kein Klirren der Hufeisen auf dem Steinpflaster, kein Knarren und Rattern der Chaisen, keine durchdringend hellen Rufe der Händler zu hören. Auch das Läuten der Glocken fehlte.

Auf den mit flüssigem Kot beschmierten Trottoirs strebten die Menschen übertrieben eilig vorwärts, und sie waren unnatürlich farblos. Die gleichfalls farblos grauen Steinhäuser, von keinem Zaun auseinandergerückt und dicht aneinander geschmiegt, erschienen dem Auge als ein einziges, unendlich langes Gebäude, dessen hell erleuchtetes unteres Stockwerk an die Erde gedrückt war, während die oberen dunkel in einen grauen Nebel hinaufragten, hinter dem man keinen Himmel fühlte.

Inmitten dieser Häuser waren Menschen, Pferde und Polizisten kleiner und unbedeutender, sie waren stiller und gehorsamer als in der Provinz. Klim bemerkte an ihnen etwas Fischähnliches, lautlos Schnellendes, als wären sie darauf bedacht, möglichst schnell an die Oberfläche des tiefen, mit Wasserstaub und dem Geruch faulenden Holzes angefüllten Kanals emporzutauchen.

In kleinen Gruppen stauten die Leute sich sekundenlang unter den Laternen und zeigten einander unter schwarzen Hüten und Schirmen hervor die gelben Flecke ihrer Physiognomien.

Der eilige Schritt der Menschen rief in Klim einen melancholischen Gedanken hervor. Alle diese Hunderte und Tausende von kleinen Willen liefen, einander begegnend und sich trennend, ihren wahrscheinlich nichtigen, doch jedem von ihnen klaren Zielen zu. Man konnte sich vorstellen, der beißende Nebel sei der heiße Atem dieser Menschen, und alles in der Stadt sei schweißnaß nur von ihrer Hast. Furcht beschlich ihn, sich in der Masse kleiner Menschen zu verlieren, und ihm fiel eine der zahllosen Glossen Warawkas ein:

»Die meisten Menschen haben die Pflicht, sich gehorsam in ihr Los, Rohstoff der Geschichte zu sein, zu ergeben. Genau so wenig wie etwa die Hanffasern haben sie darüber nachzudenken, von welcher Stärke und Festigkeit das Seil, das man aus ihnen knüpft, und welches seine Bestimmung sein wird.«

»Ganz überflüssigerweise habe ich den Vorstellungen Mamas und Warawkas nachgegeben, ganz überflüssigerweise bin ich in diese erstickende Stadt gefahren«, dachte Klim gereizt gegen sich selbst. »Vielleicht versteckt sich hinter den Ratschlägen der Mutter der Wunsch, zu vereiteln, daß ich mit Lida in einer Stadt lebe? Wenn es so ist, dann ist es dumm. Sie haben Lida in Makarows Hände gegeben.«

Am weiteren Denken hinderten ihn die heftig zitternden, gleichsam zum Platzen bereiten opalenen Ballons um die Laternen herum. Sie bildeten sich aus Nebelstäubchen, die unaufhörlich ihre Sphäre dringend, ebenso unaufhörlich aus ihr heraussprangen, ohne ihren Umfang zu vergrößern oder zu verringern. Dieses seltsame Spiel der Regenbogenstäubchen war fast unerträglich für das Auge und löste den Wunsch aus, es mit etwas in Vergleich zu setzen, mit Worten auszulöschen und nicht weiter zu beachten.

Klim nahm die beschlagene Brille ab, die ungeheuren Kugeln flüssigen Opals wurden etwas weniger grell, verdichteten sich, trafen aber nur noch unangenehmer das Auge, während das Licht trüber wurde und immer tiefer in seinen Brennpunkt zurücktrat. Warawkas verwaschener Vergleich zwischen der Stadt und dem Bienenkorb war unbrauchbar. Mit mehr Glück konnten diese undurchsichtigen Lichter mittels der Worte des großköpfigen Verfassers populärwissenschaftlicher Broschüren gelöscht werden: er hatte einmal in Katins Flügel mit flammender Beredsamkeit bewiesen, Denken und Wille des Menschen seien elektrochemische Erscheinungen, und die Konzentration der Willen in der Idee könne Wunder wirken. Mit solchen Konzentrationen seien auch die bewegtesten Epochen der Geschichte, die Kreuzzüge, die Renaissance, die große Französische Revolution und ähnliche Ausbrüche der Willensenergie zu erklären.

Auf dem Senatsplatz beleuchteten ebensolche opalene Ballons das dunkle ölig gleißende Standbild des tollen Zaren. Mit seiner Bronzehand wies der Zar den Weg nach Westen, jenseits des breiten Flusses. Über dem Fluß war der Nebel noch dicker und kälter. Klim fühlte sich verpflichtet, an die Verse aus dem »Bronzenen Reiter« zu denken. Statt dessen fielen ihm die aus dem Gedicht »Poltawa« ein:

Und mit drohendem Wink der Hand


Gegen die Schweden rückt er seine Völker.

Darauf inspirierte sein Gedächtnis ihm merkwürdigerweise Goethes Erlkönig;

»Wer reitet so spät durch Nacht und Wind ...«

Die Hufe der Pferde pochten gegen das Holz der Brücke über dem schwarzen, ruhelosen Fluß. Endlich brachte der Kutscher das Pferd, das sich heiß galoppiert hatte, vor einem ausdruckslosen Haus in einer der »Linien« der Wassiliinsel zum Stehen und sagte in rauhem Ton:

»Sie müssen zulegen, kleiner Herr.«

»Weshalb kleiner Herr?« dachte Klim und legte nicht zu.

Ein alter Portier mit einem chinesischen Schnurrbart, Medaillen auf der eingefallenen Brust und einem schwarzen Käppchen auf dem nackten Schädel, sagte dienstmäßig:

»Die Wohnung der Frau Premirow zweiter Stock, vierte Tür.«

Er wackelte mit seinen roten Ohren und wies mit dem Finger heftig in eine Ecke. Die Steintreppe herab, die rot gemalt und mit einem grauen rotgesäumten Läufer belegt war, flatterte hauchleicht ein kleines Stubenmädchen in einer weißen Schürze. Die Treppe erinnerte Klim an das Gymnasium, das Dienstmädchen an die Porzellanschäferin aus Andersens Märchen.

Mit feiner Stimme sagte sie:

»Ihr Zimmer ist im Korridor rechts die erste Tür, das Zimmer ihres Bruders rechts das Eckzimmer.«

»Meines Bruders?« fragte Klim befremdet.

»Dmitri Iwanowitschs«, sagte gleichsam sich entschuldigend das Dienstmädchen, nahm in jede Hand einen Koffer und reckte sich zwischen ihnen auf. »Sie sind doch Herr Samgin?«

»Ja«, antwortet Klim mürrisch. Er dachte darüber nach, weshalb seine Mutter ihm verschwiegen hatte, daß er mit seinem Bruder die Wohnung teilen würde.

Bevor er sein Zimmer aufsuchte, klopfte er wütend und herausfordernd an Dmitris Tür. Hinter der Tür wurde fröhlich: »Bitte!« gerufen.

Dmitri lag auf dem Bett. Sein linker Fuß war bandagiert. In blauer Hose und gesticktem Hemd, sah er wie ein Mitglied einer kleinrussischen Schauspielertruppe aus. Er hob den Kopf, wobei er sich mit dem Arm auf das Bett stützte, verzog das Gesicht und stammelte:

»Das ... das ist Klim? Du?«

Und dem Bruder beide Hände hinstreckend, rief er fröhlich aus:

»Aha, das also war die Überraschung!«

Samgin sah sich einem Unbekannten gegenüber: nur Dmitris Augen erinnerten an den Jüngling, der er vor vier Jahren gewesen war, sie strahlten noch immer in demselben Lächeln, das Klim weibisch zu nennen pflegte. Dmitris rundes, weiches Gesicht umrahmte ein lichter Bart, seine langen Haare kräuselten sich an den Spitzen, Lustig und rasch erzählte er, daß er vor fünf Tagen hierher gezogen sei, weil er sich den Fuß zerschlagen und Marina ihn hergebracht hatte.

»Sie hat mir seit langem schon einen Schreck eingejagt: »Machen Sie sich auf eine Überraschung gefaßt!« Wer Marina ist? Frau Premirows Nichte. Ihre Tante ist auch sehr lieb. Eine Liberale. Sie ist eine entfernte Verwandte Warawkas.«

Dmitris Gehobenheit verschwand, als er sich nach der Mutter, nach Warawka und Lida erkundigte. Klim spürte einen bitteren Geschmack im Munde, Schwere im Kopf. Es war ermüdend und langweilig, die respektvoll gleichgültigen Fragen des Bruders zu beantworten. Der gelbliche Nebel vor dem Fenster, von Telegraphendrähten liniiert, erinnerte an altes Notenpapier. Aus dem Nebel zeichnete sich die rostfarbene Wand eines dreistöckigen Hauses ab, dicht besetzt mit den Flicken zahlreicher Aushängeschilder.

»Nun, wie geht es Onkel Jakow? Krank? Hm. Neulich, in einer Abendgesellschaft, erzählte ein Schriftsteller, ein Narodnik, sehr fesselnd von ihm. Ein solches Dasein, weißt du. Eben Dasein, nicht Leben. Du weißt natürlich, daß sie ihn in Saratow wieder verhaftet haben?«

Klim wußte es nicht, aber er nickte bejahend.

»Die Volkstümler rühren sich wieder«, sagte Dmitri so beifällig, daß Klim ein Lächeln anwandelte. Er musterte den Bruder gleichgültig wie einen Fremden, während sein Bruder seinerseits vom Vater wie von einem fremden, aber spaßigen Menschen redete.

»Du würdest ihn nicht wiedererkennen. Er ist jetzt gesetzt und versucht sogar, im Bariton zu sprechen. Er verkauft Faßdauben an die Franzosen und Spanier, bummelt in Europa herum und ißt schrecklich viel. Im Frühling war er hier, jetzt hält er sich in Dijon auf.«

Er hüpfte auf einem Bein im Zimmer umher, wobei er sich an den Stuhllehnen festhielt, schüttelte heftig sein Haar, und seine weichen, dicken Lippen lächelten. Die Krücke unter die Achsel schiebend, sagte er:

»Wir wollen Tee trinken. Du willst dich umziehen? Nicht nötig, du bist auch so gut lackiert.«

Trotzdem ging Klim in sein Zimmer. Der Bruder begleitete ihn, er stieß mit dem Krückstock auf und redete mit einer Freude drauf los, die Klim nicht verstand und die ihn verwirrte:

»Na, fertig. Du bist bezaubernd. Gehen wir!«

In der warmen, wohligen Dämmerung eines kleinen Zimmers, am Tisch vor dem Samowar saß eine kleine alte Dame mit glattgekämmtem Haar und einer goldgefaßten Brille auf dem spitzen, rosigen Näschen. Sie streckte Klim ein graues, am Knöchel von einem roten Pulswärmer umhülltes Affenpfötchen hin und sagte, nach Art kleiner Mädchen das »r« vermeidend:

»Seh efheut.«

Als Klim ihr die Hand drückte, stöhnte sie leise auf und erklärte ihm, daß sie an Rheumatismus leide. Eilig, mit hastigen Worten, schickte sie sich an, ihn über Warawka auszufragen, als ein üppiges junges Mädchen, das sich das Gesicht mit dem Ende ihres dicken goldblonden Zopfs fächelte, ins Zimmer trat und mit tiefer Altstimme sagte:

»Marina Premirow.«

Sie setzte sich an Dmitris Seite und meldete:

»Auf der Straße liegt allerdurchlauchtigster und mächtigster Dreck!«

Wie es Klim schien, wurde es eng im Zimmer. Marina nahm mit schroffer Geste unter seiner Nase vorbei einen Zwieback von einem Teller, bestrich ihn dick mit Butter und Konfitüre und knabberte, wobei sie den Mund weit aufriß, um ihre prallen Himbeerlippen nicht zu beflecken. Aus ihrem Mund glänzten grimmig große, dicht aneinandergereihte Zähne. Sie war so erhitzt und rot im Gesicht, als käme sie nicht von der Straße, sondern aus einem heißen Bad, und beinahe unnatürlich üppig. Klim fühlte sich erdrückt von dieser Fleischmasse, die straff von gelbem Jersey umspannt war, der ihn an Tolstois »Kreutzersonate« erinnerte. Innerhalb von fünf Minuten wußte Klim, daß Marina ein ganzes Jahr an einem Hebammenkursus teilgenommen hatte, gegenwärtig aber singen lernte, daß ihr Vater, ein Botaniker, nach den Kanarischen Inseln entsandt worden und dort verstorben war und daß es eine sehr komische Operette »Die Geheimnisse der Kanarischen Inseln« gab, die aber leider nicht gespielt wurde.

»Darin kommen spaßige Generäle vor – Pataquez, Bombardos ...«

Sie brach ihren Satz in der Mitte ab und sagte Dmitri:

»Heute kommt Kutusow und mit ihm dieser ...«

Sie zeigte mit den Augen auf die Decke. Ihre Augen waren groß, gewölbt und bernsteingelb. Ihr Blick unangenehm direkt und zurückstoßend.

»Du wirst einem Bekannten begegnen«, unterrichtete ihn zwinkernd Dmitri.

»Wem?«

»Das verrate ich nicht.«

Über den Tisch huschten die Affenpfötchen der alten Dame, die sicher und behende die Schüsseln hin und her rückten. Ohne zu verstummen, raschelten ihre flinken gaumigen Worte, die niemand beachtete. In mausgraues Tuch gekleidet, erinnerte sie doppelt stark an einen Affen. Die Falten ihres dunklen Gesichtchens entlang huschte jeden Augenblick ein feines Lächeln, Klim fand dieses Lächeln verschmitzt und die ganze Alte unnatürlich. Ihr Stimmchen ertrank in der groben und dummen Dmitris:

»Die Eigenschaften der Rasse werden durch das Blut der Frau bestimmt, das steht fest. So haben die Autochthonen Chiles und Boliviens ...«

Fräulein Premirow wurde plötzlich zornig.

»Was heißt das – Autochthone? Wozu gebrauchen Sie unverständliche Ausdrücke?«

Neben der gewaltigen Marina erschien der plumpe, aus breiten Knochen und schlecht anliegenden Muskeln zusammengesetzte Dmitri klein und unglücklich. Er war offensichtlich beglückt, Schulter an Schulter mit Marina sitzen zu dürfen, während sie Klim unaufhörlich mit ihren zurückstoßenden Blicken musterte und in der Tiefe ihrer Pupillen grellrote Funken sprühten.

»Verzogen und launenhaft«, konstatierte Klim.

»Die Tante hat recht«, sagte Marina mit ihrer saftigen Stimme, laut und im singenden Tonfall eines Bauernmädchens. »Die Stadt ist faul und ihre Menschen nüchtern. Und geizig! Sie schneiden die Zitrone zum Tee in zwölf Scheiben!«

Klim wählte einen günstigen Augenblick, um Müdigkeit vorzuschützen und fortzugehen. Sein Bruder, der ihn begleitete, setzte ihm zu:

»Nette Leute, was?«

»Ja.«

»Na, ruh dich nur aus.«

Klim warf wütend Jacke und Stiefel ab, streckte sich auf dem Bett aus und schlief ein, entschlossen, auf keinen Fall hier zu bleiben, sondern aus Höflichkeit eine oder zwei Wochen auszuhalten und sich dann nach einer neuen Wohnung umzusehen.

Drei Stunden später wurde er von seinem Bruder geweckt, der ihn nötigte, sich zu waschen, und ihn abermals zu den Premirows führte. Klim folgte willenlos, nur damit beschäftigt, seine Gereiztheit zu verbergen. Im Eßzimmer war es eng. Die Akkorde eines Flügels erklangen. Marina schrie dazu, mit dem Fuß aufstampfend:

»Das arme Schlachtroß fiel im Feld ...«

Ein Student der Universität mit grauen Augen und einem faltigen bäurischen Bart, in einem langen kaftanähnlichen Rock, stand mitten im Zimmer einem geckenhaft in elegantes Schwarz gekleideten Mann mit bleichem Gesicht gegenüber. Dieser Mensch sprach, während er die Stuhllehne, an der er sich festhielte, hin und her schaukelte, mit betonter Liebenswürdigkeit, hinter der Klim sofort die Ironie heraushörte:

»Ich kann mir keinen freien Menschen vorstellen, ohne das Recht und den Wunsch, Macht über andere auszuüben.«

»Ja, wozu denn noch Macht, wenn das persönliche Eigentum abgeschafft ist?« rief mit einer schönen Baritonstimme der bärtige Student, blickte flüchtig zu Klim hin, hielt ihm eine breite Hand hin und nannte mit unverhohlenem Verdruß seinen Namen:

»Kutusow.«

Der schwarzgekleidete Mann fragte lächelnd:

»Erkennen Sie mich nicht, Samgin?«

Dmitri brach in ein albernes Lachen aus:

»Das ist doch Turobojew! Staunst du?«

Zum Staunen hatte Klim nicht mehr Zeit, denn Marina wirbelte ihn im Zimmer umher, wobei sie ihn wie einen kleinen Jungen gängelte.

»Noch ein Samgin, er ist furchtbar ernst«, sagte sie zu einer hochgewachsenen Dame mit einem Katzengesicht. »Das ist Jelisaweta Lwowna, und dies ist ihr Mann.«

Am Flügel saß, mit dem Ordnen von Noten beschäftigt, ein kleines, stark gebücktes Männchen mit einem Helm krauser schwarzer Haare, die blau schillerten. Auf den Backenknochen seines fahlen Gesichts schimmerten hektische Flecke.

»Spiwak«, sagte er mit hohler Stimme. »Sie singen?«

Die verneinende Antwort wunderte ihn. Er nahm den rauchgrauen Kneifer von der melancholischen Nase und sah hüstelnd und mit seinen entzündeten. Augen zwinkernd in Klims Gesicht, als frage er:

»Ja, was wollen Sie dann hier?«

»Gehen wir, er versteht nichts außer Noten!«

Auf dem Sofa ruhte in halbliegender Pose ein mageres Mädchen in einem dunklen Reformkleid, das wie eine Mönchskutte aussah. Über sie neigte sich Dmitri und summte:

»Ergilla, ein Freund des Cervantes, Verfasser des Poems ›Araucana‹.«

»Genug mit den Spaniern!« schrie Marina. »Samgin – Serafima Nechajew. Das sind alle.«

Sie ließ Klim stehen und stürzte zum Flügel. Die Nechajew nickte lässig, zog ihre schmächtigen Füßchen an sich und verhüllte sie mit dem Saum ihres Kleides. Klim faßte dies als Einladung auf, sich neben sie zu setzen.

Er ärgerte sich. Ihn irritierte Marinas geräuschvolle Lebhaftigkeit, und die Begegnung mit Turobojew war ihm peinlich. Es war schwer, gerade in diesem Menschen mit dem blutleeren Gesicht und den schreienden Augen jenen Knaben wiederzuerkennen, der einst vor Warawka gestanden und mit heller Stimme seine Liebe zu Lida bekannt hatte. Unangenehm war auch der bärtige Student.

Dieser sang mit Jelisaweta Spiwak ein Duett, das Klim nicht kannte. Der kleine Musiker begleitete vortrefflich. Musik übte immer eine beruhigende Wirkung auf Klim aus, genauer, sie machte ihn leer, indem sie alle Gedanken und Empfindungen vertrieb. Beim Anhören der Musik fühlte er nichts als eine milde Trauer. Die Dame sang seelenvoll. Sie hatte einen kleinen, aber geschulten Sopran. Ihr Gesicht verlor die Ähnlichkeit mit einer Katze, es wurde geadelt durch Trauer. Ihre schlanke Gestalt erschien noch größer und feiner. Kutusow hatte einen sehr schönen Bariton, er sang leicht und sicher. Besonders ergreifend sangen sie das Finale:

»O Nacht, hülle rascher in deinen


Durchsichtigen Schleier,


In deine Vergessen spendende Schale


Die sehnsuchtgequälte Seele


Stille sie, wie die Mutter ihr Kind.«

Klim schien, daß die Sehnsucht, von der hier gesungen wurde, ihm längst bekannt sei. Doch jetzt erst fühlte er sich bis zum Ersticken und bis zu Tränen mit ihr angefüllt.

Als der Gesang zu Ende war, ging die Dame an den Tisch, nahm aus einer Vase einen Apfel, streichelte ihn sinnend mit ihrer kleinen Hand und legte ihn dann in die Vase zurück.

»Haben Sie es bemerkt?« fragte seine Nachbarin Klim.

»Was?« fragte er zurück und warf einen Blick auf ihren glatten Dohlenkopf und ihr Vogelgesicht, das winzig wie das eines halbwüchsigen Mädchens war.

»Haben Sie bemerkt, wie sie den Apfel genommen hat?«

»Na ja, ich hab's gesehen.«

»Welche Anmut, nicht wahr?«

Klim nickte zustimmend, dachte aber:

»Ein Institutsmädel vermutlich.«

In seinem Gedächtnis erhielt sich der sonderbare, gleichsam fehlende Ausdruck ihrer schmalen Augen, die von unbestimmter grünlich-grauer Tönung waren.

Dmitri, mit seiner Krücke bewaffnet, machte sich umständlich zu schaffen. Neckend sagte er:

»Ihr Verlaine ist doch schlechter als Fofanow.«

Vom Flügel her klang Kutusows angenehme Stimme:

»Schon Gallin wußte, daß das Gehirn der Sitz der Seele ist.«

»Singen Sie mit dem Gehirn so beseelt?« witzelte Turobojew.

»Wie überall«, dachte Klim. »Es gibt nichts, worüber sie nicht streiten würden.«

Marina ergriff Kutusow beim Ärmel, schleppte ihn zum Flügel, und beide sangen »Versuche mich nicht!« Klim fand den Gesang des Bärtigen allzu gefühlvoll, was mit seiner knorrigen Gestalt und seinem derben Bauerngesicht schlecht harmonierte, ja, ein wenig lächerlich wirkte. Marinas starke und reiche Stimme betäubte. Sie hatte sie schlecht in der Gewalt, in den höheren Lagen klang sie schrill, kreischend. Klim war sehr zufrieden, als Kutusow ihr nach dem Duett rücksichtslos sagte:

»Nein, Mädchen, das ist nicht für Sie geschrieben.«

Marina und Dmitri samt seinem Krückstock nahmen mehr Raum im Zimmer ein als alle anderen. Dmitri folgte dem Mädchen wie der Kahn dem Schleppdampfer. Der unruhige Gang Marinas hatte etwas Aufreizendes, er sprach von einem Überschuß an tierischer Energie und verwirrte Klim, indem er in ihm unzüchtige, für das Mädchen wenig ehrende Gefühle erregte. Man erwartete schon aus der Entfernung, daß sie einen mit ihren prallen hohen Brüsten oder mit ihrer Hüfte streifen würde. Klim beobachtete sie feindselig und dachte sich, daß sie wahrscheinlich nach Schweiß, Küche und Bad roch. Da stand sie, stemmte sich mit ihrer Brust gegen Kutusow und sagte schreiend und, wie es schien, beleidigt:

»Na ja, ich trage Jersey, weil ich Tolstois Predigten nicht ausstehen kann.«

»Hu«, machte Kutusow und schloß die Augen so fest, daß sein ganzes Gesicht sich greisenhaft verzerrte.

Die Frau des Pianisten irrte gleichfalls im Zimmer umher, wie eine Katze, die sich in eine fremde Wohnung verlaufen hat. Ihr wiegender Gang, der zerstreute Ausdruck ihrer blauen Augen, ihre Manier, Gegenstände zu berühren, das alles zog Klims Aufmerksamkeit an. Das Lächeln ihrer straff gespannten Lippen schien gezwungen, ihre Schweigsamkeit verdächtig.

»Sie ist schlau«, dachte Klim.

Die Nechajew war unsympathisch. Sie nahm eine gekrümmte Haltung ein. Ein betäubender Geruch von starkem Parfüm ging von ihr aus. Man mochte meinen, die Schatten in ihren Augenhöhlen seien künstlich, ebenso die Röte ihrer Wangen und die unnatürliche Grellheit ihrer Lippen. Das über die Ohren gekämmte Haar machte ihr Gesicht schmal und spitz, doch Klim fand das Mädchen schon nicht mehr so garstig, wie sie ihm auf den ersten Blick erschienen war. Ihre Augen blickten traurig auf die Menschen, sie sah so aus, als fühle sie sich ernster als alle in dem Zimmer.

Unvermittelt fiel Klim ein, wie empörend Lida sich von ihm verabschiedet hatte, als sie nach Moskau reiste.

»Ich glaube daran, daß du mit dem Schild und nicht auf dem Schild heimkehren wirst«, hatte sie mit einem bösen Lächeln gesagt.

Jetzt trat sein Bruder hinzu, streckte sich neben Klim aus und nach einer Minute hörte Klim die Nechajew gleichsam die Namen der Kalenderheiligen abbeten:

»Mallarmé, Rolina, René Giles, Peladan ...«

»Max Nordau hat sie glänzend abgefertigt«, sagte Dmitri in neckendem Ton.

Kutusow zischte und drohte ihm mit dem Finger, denn Spiwak begann Mozart zu spielen. Behutsam trat Turobojew herein und hockte sich, mit einem Lächeln für Klim, auf die Sofalehne. Aus der Nähe betrachtet, erschien er zu alt für seine Jahre. Das eigentümliche Weiß seines Teints schien gepudert, unter den Augen zeichneten sich blaue Schatten ab, die Mundwinkel hingen müde herab. Als Spiwak aufgehört hatte zu spielen, sagte Turobojew:

»Sie haben sich sehr verändert, Samgin. Ich erinnere mich Ihrer als eines kleinen Pedanten, der es liebte, alle zu belehren.«

Klim biß fest die Zähne zusammen und überlegte, was er diesem Menschen antworten sollte, unter dessen beharrlichem Blick er sich beengt fühlte. Dmitri begann unpassend und viel zu laut über Konservativismus zu reden. Turobojew sah ihn mit zugekniffenen Augen an und versetzte gleichgültig:

»Mir dagegen gefällt Beständigkeit des Geschmacks und der Anschauungen.«

»Das Dorf ist noch beständiger.«

»Ich kann darin nichts Schlechtes sehen«, meinte Turobojew, der sich eine Zigarette angesteckt hatte. »Hier hingegen haben alle Erscheinungen und die Menschen selbst etwas in höherem Maße Vergängliches, ich würde sogar sagen: sie scheinen sterblicher zu sein.«

»Das ist sehr richtig«, stimmte die Nechajew zu. Turobojew lächelte ironisch. Seine Lippen waren ungleich, die untere war bedeutend dicker als die obere, die dunklen Augen schön geschnitten, aber ihr Blick unangenehm vieldeutig und unergründlich. Samgin schloß, daß es die schreienden Augen eines Menschen waren, der krank war und bemüht, seine Leiden zu verbergen, und daß Turobojew ein frühzeitig verlebter Mensch war. Der Bruder stritt mit der Nechajew über den Symbolismus. Sie wies ihn ein wenig gereizt zurecht:

»Sie bringen die Sachen durcheinander. Beim Symbolismus muß man von den Ideen Platons ausgehen.«

»Erinnern Sie sich Lida Warawkas?« fragte Klim. Turobojew antwortete nicht gleich. Er starrte auf den Rauch seiner Zigarette.

»Natürlich. So ein frisches Zigeunermädel? Was ... wie geht es ihr? Sie will Schauspielerin werden? Eine wahrhaft weibliche Wahl«, schloß er, lächelte Klim ins Gesicht und sah zur Spiwak hinüber. Sie stand, über die Schulter ihres Mannes auf die Klaviatur geneigt und fragte Marina:

»Hörst du? E, B, Moll.«

»Und das ist alles?« fragte Klim, innerlich zu Lida gewandt. Dieser Gedanke sollte schadenfroh sein, war aber ein trauriger.

Wieder begann man zu singen, und wieder mochte Klim kaum glauben, daß dieser bärtige Mensch mit dem groben Gesicht und den roten Fäusten so geschult und schön singen konnte. Marina ergoß sich stürmisch, riß aber beim Detonieren den Mund weit auf, runzelte ihre goldenen Brauen, und die Hügel ihrer Brüste spannten sich unschicklich.

Gegen Mitternacht zog Klim sich unauffällig zurück, entkleidete sich gleich und ging betäubt und müde zu Bett. Aber er hatte vergessen, die Tür abzuschließen, und einige Augenblicke später drang Dmitri ein, ließ sich auf dem Bettrand nieder und sagte mit einem seligen Lächeln:

»Das gibt es jeden Sonnabend bei ihnen. Du mußt dir Kutusow genau ansehen, ein außerordentlich kluger Mensch. Turobojew ist auch ein Original, aber in anderer Art. Er hat die Rechtsakademie mit der Universität vertauscht, hört aber keine Vorlesungen und trägt keine Uniform.«

»Trinkt er?«

»Das auch. Überhaupt leben viele hier in einer quälenden Spannung. Es ist eine seelische Krise!« fuhr Dmitri mit der gleichen Seligkeit fort. »Ich dagegen scheine Dronow nachgeraten zu sein: ich will alles wissen und schaffe nichts. Bin Naturwissenschaftler und Philologe dazu ...«

Klim fragte nach der Nechajew, obwohl er eigentlich nach der Spiwak fragen wollte.

»Die Nechajew? Sie ist komisch, übrigens auch bemerkenswert. Die französischen Decadents haben ihr den Kopf verdreht. Aber die Spiwak, mein Lieber, das ist eine Erscheinung! Sie ist schwer zu verstehen. Turobojew macht ihr den Hof und, wie es scheint, nicht ohne Hoffnung. Ich weiß übrigens nichts darüber ...«

»Ich will schlafen«, sagte Klim unliebenswürdig, und als der Bruder hinausgegangen war, erinnerte er sich noch einmal:

»Gleich morgen suche ich mir eine andere Wohnung.«

Aber er hatte kein Glück damit, denn gleich am anderen Morgen fiel er in die festen Hände Marinas.

»Nun, kommen Sie, sehen Sie sich die Stadt an«, befahl sie mehr, als daß sie vorschlug. Klim hielt es für unhöflich, abzulehnen, und streifte drei Stunden mit ihr durch den Nebel, über schlüpfrige Trottoirs, die mit einem besonders widerwärtigen Dreck, der gar nicht dem fetten Schmutz der Kleinstadt glich, überzogen waren. Marina schritt gleichmäßig rasch und hart aus wie ein Soldat, ihr Gang war ebenso stürmisch wie ihre Worte, aber ihre Naivität nahm Klim ein wenig für sie ein.

»Petersburg hat hundert Gesichter. Sehen Sie, heute hat es ein geheimnisvolles und ängstigendes Gesicht. In den weißen Nächten ist es bezaubernd lustig. Es ist eine lebendige, tief empfindende Stadt.«

»Gestern mußte ich annehmen, daß Sie es nicht lieben.«

»Gestern hatte ich mich mit ihm gezankt. Zanken heißt nicht – nicht lieben.«

Klim fand, daß die Antwort nicht dumm war.

Durch den Nebel sah Klim den bleigrauen Glanz des Wassers, die eisernen Gitter der Kais, plumpe Kähne, die tief in das schwarze Wasser tauchten, wie Schweine in den Kot. Diese Kähne paßten empörend schlecht zu den herrlichen Bauten. Die trüben Scheiben unzähliger Fenster erweckten den seltsamen Eindruck, als seien die Häuser inwendig mit unsauberem Eis vollgepfropft. Die nassen Bäume waren unerhört mißgestaltet und jammervoll nackt, die Sperlinge unlustig, ja stumm. Stumm ragten die Glockentürme zahlreicher Kirchen, es schien, daß Glockentürme überflüssig waren in dieser Stadt. Über der Newa mischte sich der schwarze Rauch der Dampfschiffe träge mit den Nebelschwaden, Fabrikschlote durchbohrten sie mit steinernen Fingern. Trist war der gepreßte Lärm dieser seltsamen Stadt und demütigend klein in der Masse riesenhafter Häuser waren die grauen Menschen, und alles ließ die Bemerkbarkeit der eigenen Existenz angsterregend zusammenschrumpfen. Klim ließ sich willenlos, aber in einem Zustand der Selbstvergessenheit, fortziehen. Er dachte nichts und hörte nur Marinas tiefen Alt:

»Der wahnsinnige Paul wollte ein schöneres Denkmal bauen als das von Falkonetow, aber es ist ein Dreck daraus geworden.«

Das Mädchen holte so rasch aus, als müsse sie unbedingt müde werden, und Klim empfand den Wunsch, sich in einen trockenen, hellen Winkel zu verkriechen und dort ungestört alles zu überdenken, was, von Blei und Vergoldung glitzernd, bronze- und kupferschimmernd, an seinen Augen vorüberschwamm.

»Weshalb schweigen Sie?« fragte streng Marina, und als Klim antwortete, daß die Stadt ihm die Sprache raube, rief sie triumphierend:

»Aha!«

Ganze Tage führte sie ihn durch Museen, und Klim sah, daß es ihr Vergnügen machte, wie einer Hausfrau, die mit ihrer Wirtschaft prahlt.

Als Samgin abends seinen Bruder aufsuchte, fand er bei ihm Kutusow und Turobojew. Sie saßen einander am Tisch gegenüber in der Haltung von Damespielern. Turobojew sagte, sich eine Zigarette anbrennend:

»Und wenn sich plötzlich erweist, daß der Zufall nur ein Pseudonym des Teufels ist?«

»Ich glaube nicht an Teufel«, sagte ernst Kutusow. Er drückte Klim die Hand.

Turobojew, der die Zigarette an der soeben zu Ende gerauchten Kippe angebrannt hatte, stellte diese in eine Reihe von sechs weiteren, bereits erloschenen. Turobojew hatte getrunken, sein welliges, dünnes Haar war zerwühlt, die Schläfen feucht. Sein bleiches Gesicht war dunkel geworden, aber seine Augen, die das rauchende Mundstück beobachteten, leuchteten blendend. Kutusow sah ihn mit tadelnden Blicken an. Dmitri hockte auf dem Bett und dozierte:

»Die Anschauung von der Schädlichkeit des Einflusses der Wissenschaft auf die Sitten ist ein alter, schäbig gewordener Gedanke. Zum letztenmal wurde er im Jahre 1750 sehr geschickt von Rousseau vorgetragen in seiner Antwort an die Akademie von Dijon. Unser Tolstoi hat sie wahrscheinlich aus den »Discours« des Jean Jacques abgelesen. Und was für ein Tolstoianer sind Sie auch, Turobojew! Sie sind einfach ein spleeniger Mensch.«

Ohne ihm zu antworten, lächelte Turobojew spöttisch, während Kutusow Klim fragte:

»Was halten Sie vom Tolstoianismus?«

»Es ist der Versuch, wieder dumm zu werden«, antwortete Klim mutig, dem im Gesicht und in den Augen Turobojews eine gewisse Ähnlichkeit mit Makarow, wie er vor dem Selbstmordversuch gewesen war, auffiel.

»Wieder dumm zu werden, das ist nicht schlecht gesagt. Ich glaube, das wird sich nicht vermeiden lassen, ob wir nun von Leo Tolstoi oder Nikolai Michailowski ausgehen.«

»Und wenn wir von Marx ausgehen?« fragte heiter Kutusow.

»An die erlösende Kraft des Fabrikkessels für Rußland glaube ich nicht.«

Klim blickte Kutusow zweifelnd an. Dieser Bauer, der sich als Student herausgeputzt hatte, wollte Marxist sein? Die schöne Stimme Kutusows harmonierte nicht mit dem lesenden Tonfall, womit er langweilige Worte und Zahlen vortrug. Dmitri störte Klim beim Zuhören.

»Ich habe ein Billett für die Oper – willst du hingehen? Ich habe es für mich genommen, bin aber verhindert. Marina und Kutusow gehen hin.«

Darauf berichtete er entrüstet, daß die Zensur endgültig die Aufführung der Oper »Der Kaufmann Kalaschnikow« verboten habe.

Turobojew stand auf, preßte die Stirn an die Fensterscheibe und sah hinaus und ging dann plötzlich fort, ohne sich von jemandem zu verabschieden.

»Ein kluger Junge«, sagte Kutusow, gleichsam bedauernd, seufzte und fügte hinzu:

»Und giftig ...«

Er knipste die Reihe der Zigarettenstummel mit den Fingernägeln vom Tisch und begann Klim eingehend auszuforschen, wie man in seiner Vaterstadt lebe, erklärte aber bald, sich durch den Bart hindurch am Kinn kratzend und eine Grimasse schneidend:

»Dasselbe wie bei uns in Wologda.«

Klim merkte, je zurückhaltender er antwortete, desto freundlicher und aufmerksamer betrachtete ihn Kutusow. Er beschloß, vor dem bärtigen Marxisten ein wenig zu glänzen, und sagte bescheiden:

»Im Grunde steht uns schwerlich das Recht zu, so bestimmte Schlüsse aus dem Leben der Menschen zu ziehen. Unter zehntausend wissen wir im besten Fall, wie hundert leben, reden aber so, als hätten wir das Leben aller erforscht.«

Sein Bruder gab ihm recht.

»Ein zutreffender Gedanke.«

Aber Kutusow fragte:

»Wirklich?« Und verbreitete sich von neuem über den Prozeß der Klassenbildung und die entscheidende Rolle des ökonomischen Faktors. Er redete schon nicht mehr so langweilig wie zu Turobojew, sondern mit gewinnendem Feingefühl, womit er Klim besonders in Erstaunen setzte. Samgin hörte seine Rede aufmerksam an, flocht vorsichtige Bemerkungen ein, die Kutusows Schlüsse bestätigten, gefiel sich und fühlte, daß sich in ihm Sympathie für den Marxisten regte.

Er suchte sein Zimmer mit der Gewißheit auf, den ersten Grundstein zu dem Piedestal gelegt zu haben, auf dem er, Samgin, mit der Zeit monumental ragen werde. Im Zimmer staute sich ein schwerer Ölgeruch. Am Morgen hatte der Glaser für den Winter die Fensterrahmen verkittet. Klim schnupperte, öffnete die Luftklappe und sagte gnädig mit leiser Stimme:

»Man wird es hier vielleicht doch aushalten können.«

Nach zwei Wochen überzeugte er sich endgültig davon, daß das Leben bei den Premirows unterhaltsam sei. Hier schien jedermann ihn nach Gebühr zu schätzen, und es setzte ihn sogar in einige Verlegenheit, wie wenig Anstrengung es ihn kostete. Aus all dem Scharfen, das er den Glossen Warawkas, den Betrachtungen Tomilins entnommen hatte, flocht er wohlabgerundete Urteile, die er mit der Miene eines Menschen vortrug, der Worten nicht recht glaubt. Er bemerkte schon, daß die derbe Marina ihn mit schmeichelhafter Aufmerksamkeit fixierte, während die Nechajew lieber und vertraulicher mit ihm plauderte als mit allen anderen. Es war deutlich zu sehen, daß auch Dmitri, der stets in die Lektüre umfangreicher Bücher versunken war, auf seinen klugen Bruder stolz war. Klim seinerseits war bereit, auf die kolossale Belesenheit Dmitris stolz zu sein, der als Lexikon für die verschiedensten Wissensgebiete diente. Er zeigte der alten Premirow, wie man Eier auf »Björnburger« Art zubereitete, und erklärte Spiwak den Unterschied zwischen einem echten Volkslied und den süßlichen Nachahmungen eines Zyganow, Weltmann und anderer. Sogar Kutusow fragte ihn:

»Samgin, wer war es doch, der den Grafen Jakow Tolstoi der Spionage überführte?«

Worauf Dmitri eingehend über ein niemand bekanntes Buch Iwan Golowins, erschienen im Jahre 1846, Bericht erstattete. Er liebte es, sehr ausführlich zu erzählen und im Ton eines Professors, doch immer so, als ob er es sich selbst erzähle.

Die maßgeblichste Person bei den Premirows war Kutusow, aber versteht sich, nicht weil er viel und eindringlich von Politik sprach, sondern weil er künstlerisch sang. Er besaß einen unerschöpflichen Vorrat derber Gutherzigkeit, wurde niemals unwillig während der endlosen Diskussionen mit Turobojew, und oft sah Klim, daß dieser schlecht zugeschnittene, aber fest genähte Mensch alle mit einem eigentümlich sinnenden und gleichsam bedauernden Ausdruck seiner hellgrauen Augen betrachtete. Klim befremdete sein wegwerfendes, mitunter schroffes Benehmen gegen Marina, in seinen Augen schien dieses junge Mädchen ein tiefstehendes Wesen zu sein. Einmal abends, beim Tee, sagte sie wütend:

»Wenn Sie singen, Kutusow, mochte man glauben, daß Sie Gefühl haben, aber ...«

Kutusow ließ sie nicht zu Ende reden.

»Wenn ich singe, kann ich mich nicht verstellen. Wenn ich aber mit jungen Damen spreche, fürchte ich, daß das alles bei mir zu einfach herauskommt, und nehme aus Furcht falsche Noten. So wollten Sie doch sagen?«

Schweigend wandte Marina sich von ihm ab.

Mit Jelisaweta sprach Kutusow selten und wenig, verkehrte aber in freundschaftlichem Ton mit ihr. Er duzte sie und nannte sie manchmal Tante Lisa, obwohl sie höchstens zwei oder drei Jahre älter war als er. Die Nechajew übersah er, lauschte aber aufmerksam und stets aus der Ferne ihrem Streit mit Dmitri, der das Mädchen unermüdlich aufzog.

Kutusows Derbheit faßte Klim als die Gutmütigkeit eines wenig kultivierten Menschen auf und entschuldigte sie, da er in ihr nichts Erklügeltes sah. Es war ihm angenehm, die Nachdenklichkeit auf dem bärtigen Gesicht des Studenten zu sehen, wenn Kutusow Musik hörte. Angenehm war das mitleidige Lächeln, der traurige auf einen Punkt gerichtete, die Menschen und die Wand durchdringende Blick. Dmitri erzählte ihm, daß Kutusow der Sohn eines kleinen, zugrunde gerichteten Dorfmüllers war. Er war zwei Jahre Dorflehrer gewesen und hatte sich während dieser Zeit für die Universität vorbereitet, von der man ihn ein Jahr später wegen seiner Teilnahme an Studentenunruhen entfernte. Doch nach einem weiteren Jahr gelang es ihm mit Hilfe des Vaters von Jelisaweta Spiwak, des Adelsmarschalls seines Distrikts, von neuem die Universität zu beziehen.

Turobojew begegnete man in unbestimmter Weise. Bald betreute man ihn wie einen Kranken, bald äußerte man für ihn eine Art ärgerliche Furcht. Klim begriff nicht, wozu Turobojew überhaupt bei den Premirows verkehrte. Marina behandelte ihn mit ehrlicher Feindseligkeit, die Nechajew pflichtete nur unwirsch seinen Urteilen bei, während die Spiwak selten und immer mit gedämpfter Stimme mit ihm plauderte. Alles in allem war dieser Kreis recht interessant und regte an, zu ergründen, was diese so verschiedenartigen Menschen einte, wozu die derbe und allzu fleischliche Marina die beinahe körperlose Nechajew brauchte und warum Marina ihr so offenkundig und komisch den Hof machte.

»Iß! Du mußt mehr essen!« predigte sie ihr. »Wenn du auch nicht magst, iß trotzdem! Deine schwarzen Gedanken kommen davon, daß du dich schlecht nährst. Samgin Senior, wie heißt es auf Latein? In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist ...?«

Marinas Fürsorge, die die Nechajew verlegen lächeln machte, rührte sie, was Klim am dankbaren Aufleuchten der Augen dieses mageren und dürftigen Mädchens sah. Mit durchsichtiger Hand streichelte die Nechajew die blühende Wange ihrer Freundin, und auf ihrem blaßen Handrücken verschwanden die blutunterlaufenen Äderchen.

Klim fand, daß die Nechajew und Turobojew unter allen am wenigsten in diese Umgebung paßten, wohl überhaupt in jedem Haus und zwischen allen Leuten den Eindruck von Menschen erwecken mußten, die sich verirrt haben. Er fühlte seine Abneigung gegen Turobojew ständig wachsen. Dieser Mensch hatte etwas Verdächtiges, eisig Kaltes, der durchdringende Blick seiner schreienden Augen war der Blick eines Spions, der Verborgenes ans Licht bringen will. Zuweilen blickten seine Augen boshaft. Klim ertappte ihn häufig dabei, daß er gerade ihn mit diesem aufreizenden und unverschämten Blick fixierte. Turobojews Worte bestärkten Klim in seinem Argwohn: kein Zweifel, dieser Mensch war durch irgend etwas erbittert, verbarg seine Wut hinter ironischer Blasiertheit und sprach nur, um seinen Partner zu ärgern. Manchmal schien Turobojew Klim unausstehlich, das geschah immer mehr während seiner Gespräche mit Kutusow und Dmitri, Es war Klim unfaßbar, wie Kutusow gutmütig lachen konnte, wenn er die blasierten Meinungen dieses Gecken hörte.

»Sie prophezeien, Kutusow. Nach meiner Ansicht reden die Propheten nur zu dem Zweck von der Zukunft, um die Gegenwart abzulehnen.«

Kutusow lachte saftig, während Dmitri Turobojew auf alle jene Fälle hinwies, wo soziale Prophezeiungen eingetroffen waren.

Was Marina betraf, so pflegte Turobojew sie offenkundig zu hänseln.

»Das ist nicht wahr!« schrie sie, über etwas aufgebracht, und er entgegnete ernsthaft:

»Möglich. Aber ich bin kein Souffleur, und nur Souffleure sind verpflichtet, die Wahrheit zu sagen.«

»Warum die Souffleure?« fragte Marina und riß ihre ohnehin großen Augen auf.

»Nun ja, wenn der Souffleur lügt, verdirbt er Ihnen das Spiel.«

»Was für ein Unsinn!« sagte das Mädchen voll Verdruß und entfernte sich von ihm.

Ja, alles war fesselnd, und Klim fühlte, daß in ihm die Begierde, die Menschen zu ergründen, wuchs.

Die Universität ließ Klim völlig kalt. Die einführenden Vorlesungen des Historikers erinnerten ihn an den ersten Tag im Gymnasium. Große Ansammlungen von Menschen drückten ihn stets nieder. In der Menge zog er sich innerlich zusammen und büßte die Fähigkeit ein, seinen eigenen Gedanken zu folgen. Unter den uniform gekleideten und gewissermaßen ihrer individuellen Gesichter beraubten Studenten fühlte auch er sich als Larve.

Unten, über dem Katheder, erhob sich unter monotonen Armbewegungen der Oberkörper des dürren Professors, schwankte sein kahler, bärtiger Kopf, funkelten die Gläser und die goldene Fassung seiner Brille. Laut und mit Emphase sprach er tönende Worte.

»Vaterland. Volk. Kultur. Ruhm«, vernahm Klim. »Die Errungenschaften der Wissenschaft. Das Heer der Arbeiter, die im Kampf mit der Natur günstigere Lebensbedingungen schaffen. Der Triumph der Humanität.«

Klims Nachbar, ein magerer Student mit einer großen Nase in einem von Blattern zerfressenen Gesicht, stotterte:

»Z... zahm ...«

Dann sah er lange und aufmerksam mit stark gewölbten, trüben Augen auf das Zifferblatt der Wanduhr. Als der Professor, nachdem er die Luft mit dem Kopf aufgerührt hatte, verschwand, hob der Stotterer dreimal die langen Arme und klatschte gemessen in die Hände, wobei er jedoch wiederholte:

»N... nein, z...ahm. Und man erzählt von ihm, er sei ein R... radikaler. Sind Sie nicht aus Nowgorod Kollege? Nicht? Na, egal, lassen Sie uns Bekanntschaft schließen. Popow Nikolai.«

Er schüttelte Samgin heftig die Hand und rannte davon.

Die Wissenschaften interessierten Klim nicht besonders, er wünschte die Menschen kennenzulernen, und fand, daß ein Roman ihm über sie weit mehr Wissen vermittelte als ein wissenschaftliches Werk oder eine Vorlesung. Er äußerte sogar gegen Marina, die Kunst wisse vom Menschen mehr als die Wissenschaft.

»Na selbstredend«, stimmte Marina zu. »Man fängt jetzt an, das einzusehen. Sie sollten nur die Nechajew hören.«

Spät abends erschien Dmitri, durchnäßt und müde. Heiser fragte er:

»Nun? Dein Eindruck?«

Als Klim bekannte, daß er im Tempel der Wissenschaft keinerlei ehrfürchtigen Schauder verspürt habe, sagte sein Bruder unter Räuspern:

»Ich fühlte mich von der ersten Vorlesung aufgewühlt.«

Augenscheinlich mit etwas anderem beschäftigt, fügte er hinzu:

»Aber heute sehe ich, daß Kutusow recht hat. Die Studentenunruhen sind wahrhaft eine sinnlose Kraftvergeudung.«

Klim lächelte spöttisch, schwieg aber. Es war ihm schon aufgefallen, daß alle Studenten, die zum Bekanntenkreis seines Bruders und Kutusows gehörten, von den Professoren und der Universität ebenso feindselig sprachen wie die Gymnasiasten von den Lehrern und dem Gymnasium. Auf der Suche nach den Gründen eines solchen Verhaltens fand er, daß so ungleiche Menschen wie Turbojew und Kutusow den Ton angaben. Mit der ihm eigenen Ironie sagte Turobojew:

»An der Universität arbeiten nur die Deutschen, Polen und Juden und von den Russen bloß die Popensöhne. Alle übrigen Russen ziehen es vor, sich der Poesie unverantwortlicher Streiche hinzugeben, und leiden unter überraschenden Anfällen von spanischem Hochmut. Noch gestern wurde so einer von Väterchen an den Haaren gebeutelt, und heute hält der Bursche eine achtlose Antwort oder den schiefen Blick eines Professors für einen hinreichenden Grund für ein Duell. Wenn man will, kann man in einem so anmaßenden Benehmen auch ein unerklärlich rasches Wachstum der Persönlichkeit sehen, ich meinerseits bin jedoch geneigt, anders darüber zu denken.«

»Gewiß«, nickte Kutusow mit seinem klotzigen Schädel, »es ist ein kälberhaftes Hochrecken des Schweifs zu beobachten. Andererseits muß aber zugegeben werden, daß man die jungen Leute allzu plump aufzuhetzen versucht, indem man sich bemüht, den Saft der Rebellion aus ihnen herauszupressen.«

»Der Randaliersucht!« verbesserte Turobojew.

Klim suchte eifersüchtig zu ergründen, was diese Menschen verband. Einmal saß er bei den Premirows – in Erwartung des üblichen Konzerts – neben dem Dandy auf dem Sofa; und Kutusow ermahnte ihn:

»Streifen Sie doch diese Ironie ab. Sie ist so billig.«

»Und unvorteilhaft«, gab Turobojew zu. »Ich begreife wohl, daß es vorteilhafter ist, sich auf der linken Seite des Lebens niederzulassen, aber ach! Ich bin dazu nicht imstande ...«

Mit ansteckendem Gelächter schrie Kutusow:

»Ja, aber Sie haben sich doch schon gerade auf dieser, auf der linken Seite niedergelassen!«

Am selben Abend fragte ihn Klim:

»Was gefällt Ihnen eigentlich an Turobojew?«

Der Bärtige entgegnete in väterlichem Ton:

»Eine bestimmte Dosis Säure braucht der Organismus ebenso notwendig wie Salz. Ich ziehe die Tschaadajewsche Stimmung der Allwissenheit gewisser literarischer Küster vor.«

Das wurde in Dmitris Gegenwart gesagt, der eilig erläuterte:

»Turobojew ist interessant als Vertreter einer aussterbenden Klasse.«

Kutusow, der ihm einen lächelnden Blick zuwarf, belobte:

»Brav, Mitja!«

Samgin fand dieses Lächeln wenig schmeichelhaft für den Bruder. Dieses feine, herablassende und ein wenig verschmitzte Lächeln fing er nicht selten in dem bärtigen Gesicht Kutusows auf, doch es weckte in ihm keine Zweifel an dem Studenten, sondern steigerte nur noch sein Interesse für ihn.

Auch die Nechajew gewann mit jedem Mal, doch sie genierte Klim durch den ungestümen Wunsch, in ihm den Gleichdenkenden zu finden. Sie zählte die Namen ihm unbekannter französischer Dichter auf und sprach so, als weihe sie ihn in Geheimnisse ein, die zu wissen Klim allein würdig sei.

»Haben Sie Lagores ›Illusionen‹ gelesen?« fragte sie. Der allwissende Dmitri erläuterte:

»Pseudonym des Doktors Casalez.«

»Er ist Buddhist, dieser Lagore, aber ein so boshafter, bitterer.«

Dmitri blickte zur Decke und erinnerte sich selber:

»Da ist ›Die Liebe des Satan‹.«

»Wie schade, daß Sie soviel Unnützes wissen«, sagte ihm die Nechajew mit Verdruß und wandte sich wieder an den jüngeren Samgin, dem sie Rostands »Prinzessin Traum« pries.

»Es ist ein Meisterwerk der neuen Romantik. Rostand wird in naher Zukunft als Genie verehrt werden.«

Klim merkte, daß die Unmenge von Namen und Büchern, niemand bekannt außer Dmitri, alle befangen machte, daß man die literarischen Meinungen der Nechajew mit Mißtrauen und unernst aufnahm und daß dies das Mädchen verletzte. Sie tat ihm ein wenig leid. Turobojew hingegen, der Feind der Propheten, suchte mit bewußter Grausamkeit das Feuer ihrer Begeisterung auszutreten, indem er sagte:

»Dies muß als Zeichen der Übersättigung der Spießer mit billigem Rationalismus angesehen werden. Es ist der Anfang vom Ende einer geistlosen Epoche.«

Klim begann auf die Nechajew zu sehen wie auf ein phantastisches Wesen. Sie war irgendwohin weit vorangeeilt oder von der Wirklichkeit abgeirrt und lebte in Gedanken, die Klim Kirchhofgedanken nannte. In diesem Mädchen war eine an Verzweiflung grenzende Spannung, es gab Augenblicke, wo es schien, als würde sie sogleich aus dem Fenster springen. Besonders setzte Klim die Geschlechtslosigkeit, die physiologische Unsichtbarkeit der Nechajew in Erstaunen. Sie erregte in ihm nicht eine Spur männlichen Begehrens.

Sie aß und trank so, als tue sie sich Gewalt an, beinahe mit Abscheu, und es war deutlich zu sehen, daß dies kein Spiel und keine Koketterie war. Ihre dünnen Finger hielten sogar Messer und Gabel unbeholfen. Mit Überwindung zupfte sie vom Brot kleine Stückchen ab. Ihre Vogelaugen sahen auf diese Flocken weißen Brotes mit einem Ausdruck, als denke sie: ob dieses Zeug auch nicht bitter oder giftig ist?

Immer häufiger mußte Klim anerkennen, daß die Nechajew gebildeter und klüger als ihre ganze Gesellschaft war, aber diese Erkenntnis erweckte, ohne ihm das Mädchen näherzubringen, in ihm die Befürchtung, sie könne ihrerseits ihn durchschauen und mit ihm ebenso gnädig oder ärgerlich sprechen wie mit Dmitri.

Nachts in seinem Bett lächelte Klim, wenn er bedachte, wie schnell und leicht er aller Sympathien gewonnen hatte. Er war überzeugt, daß ihm das völlig geglückt sei. Doch wenn er das Vertrauen seiner Bekannten in ihn verzeichnete, vergaß er doch nicht die Vorsicht eines Menschen, der weiß, daß er ein gefährliches Spiel spielt, und empfand ganz die Schwierigkeit seiner Rolle. Es gab Momente, wo diese Rolle ihm lästig wurde und in ihm ein dunkles Bewußtsein seiner Abhängigkeit von einer Macht wachrief, die ihm feindlich war. Dann fühlte er sich als Diener eines unbekannten Herrn. Ihm fiel einer der zahllosen Aussprüche Tomilins ein:

»Auf die meisten Menschen wirkt das Übermaß an Erleben zerrüttend, indem es ihr moralisches Empfinden verschüttet. Doch dasselbe Übermaß an Erlebnissen züchtet bisweilen hochinteressante Typen. Nehmen Sie nur die Lebensbeschreibungen berühmter Verbrecher, Abenteurer oder Dichter. Überhaupt sind alle durch Erfahrung überlasteten Menschen amoralisch.«

Diese Worte des rothaarigen Lehrers hatten für Klim etwas ebensowohl Abschreckendes wie Verführerisches. Ihm schien, daß er schon mit Erfahrungen überlastet sei, doch zuweilen ahnte er wohl auch, daß alle Eindrücke, alle Gedanken, die er gesammelt hatte, ihm nichts nützten. Sie enthielten nichts, was fest mit seinem Wesen verwachsen wäre, nichts, was er sein eigenes, persönliches Denken, sein Bekenntnis nennen konnte. Dieses Gefühl feindseliger Diskrepanz zwischen ihm, dem Gefäß, und seinem Inhalt, empfand Klim immer häufiger und mit wachsender Unruhe. Er beneidete Kutusow, der einen Glauben erlernt hatte und ruhig sein Evangelium predigte, aber er beneidete auch Turobojew: Dieser glaubte offenkundig an nichts und besaß die Kühnheit, die Glaubenswahrheiten der anderen zu verlachen. Wenn Turobojew mit Kutusow und Dmitri sprach, erinnerte sich Klim des alten Handlangers vom Bau, der so arglistig und schadenfroh den dummen Kraftprotzen anstachelte, die noch brauchbaren Ziegel zu zertrümmern.

Samgin war überzeugt, daß alle Menschen ehrgeizig waren, daß jeder Abstand von den anderen wahrte, nur um stärker aufzufallen, und daß dies die Quelle aller Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten war. Aber er begann zu argwöhnen, daß daneben noch etwas anderes in den Menschen steckte, was er nicht verstand, und es stachelte ihn der beharrliche Wunsch an, sie zu entblößen und zu ergründen, von welcher Art das Federwerk war, das sie zwang, gerade so und nicht anders zu sprechen und zu handeln. Für einen ersten Versuch wählte Klim die Nechajew. Sie schien ihm am tauglichsten, denn ihr fehlte das Fluidum des Weibes, und man konnte sie studieren, sezieren und entlarven, ohne befürchten zu müssen, in die dumme Situation jenes Greloux, des Helden von Bourgets Roman »Der Schüler«, der seinerzeit Aufsehen erregt hatte, zu geraten. Marina stieß ihn durch ihre animalische Energie ab, auch hatte sie nichts Rätselhaftes. Wenn Klim zufällig mit ihr allein im Zimmer blieb, fühlte er sich unter dem Blick ihrer vorquellenden Augen in Gefahr, und diesen Blick fand er herausfordernd und schamlos. Die Nechajew verschärfte seine Neugier, als sie beinahe hysterisch Dmitri ins Gesicht schrie:

»Wenn Sie doch verstehen wollten, daß ich Ihre normalen Menschen nicht ertrage . . . daß ich die Heiteren nicht ertrage! Heitere Leute sind erschreckend dumm und platt.«

Ein anderes Mal sagte sie wütend:

»Nietzsche war ein Scharlatan, aber er mußte um jeden Preis tragische Rollen spielen, und darüber hat er den Verstand verloren.«

Wenn sie grollte, verschwanden die hektischen Flecke von ihren Wangen, ihr Gesicht wurde aschfahl und versteinte, und in den Augen lohten grüne Funken.

An einem strahlenden Wintertag schlenderte Samgin über den Newakai, beschäftigt, die tönendsten Phrasen aus der Vorlesung in seinem Gedächtnis zu verstauen. Schon von weitem bemerkte er die Nechajew. Das Mädchen trat aus dem Portal der Akademie der Künste, überquerte die Straße und blieb vor der Sphinx stehen, von wo sie auf den mit blendend weißem Schnee bedeckten Fluß schaute. Hier und dort war die Schneedecke vom Wind aufgerissen und entblößte bläuliche Eisflächen. Die Nechajew begrüßte Klim freundlich lächelnd und sagte mit ihrer schwachen Stimme:

»Ich komme von der Ausstellung. . Nichts als gemalte Anekdoten. Mörderische Unbegabtheit. Gehen Sie in die Stadt? Ich auch.«

In einer Pelzjacke von der grauen Farbe des Herbsthimmels und einem merkwürdigen Mützchen aus blauem Eichhorn, die Hände in einem Muff von dem gleichen Pelz vergraben, sah sie doppelt auffallend aus. Sie ging sprunghaft, es machte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Die blaue, funkelnde Luft kitzelte brennend ihre Nüstern, und sie versteckte ihre Nase in dem Muff.

»Wenn das Leben doch stehenbliebe wie dieser Fluß, um den Menschen Zeit zu geben, sich ruhig und tief auf sich selbst zu besinnen«, sprach sie kaum vernehmlich in ihren Muff hinein.

»Unter dem Eis fließt der Fluß trotzdem weiter«, wollte Klim sagen. Da er jedoch einen Blick in ihr Vogelgesicht warf, bemerkte er:

»Leontjew, der bekannte Konservative, fand, daß man Rußland gefrieren lassen müßte.«

»Warum nur Rußland? Die ganze Welt müßte für eine Weile gefrieren, ausruhen.«

Ihre Augen blinzelten unter dem stechenden Glanz der Schneefunken. Leise und trocken hüstelnd, sprach sie mit lange unterdrückter Gier, als hätte man sie soeben aus der Einzelhaft im Kerker entlassen. Klim antwortete ihr im Ton eines Menschen, der sicher ist, nichts Bemerkenswertes zu hören, folgte aber aufmerksam ihren Worten. Von einem Thema zum anderen springend, fragte sie:

»Was halten Sie von Turobojew?«

Und antwortete selbst:

»Er ist mir rätselhaft. Ein Nihilist, der zu spät auf die Welt gekommen ist, gleichgültig gegen sich und alles. Wie seltsam, daß diese kalte, enge Spiwak in ihn verliebt ist.«

»Wirklich?«

»O ja!«

Sie schwieg eine Minute, dann wollte sie wissen, wie Klim Marina gefalle, und wieder wartete sie die Antwort nicht ab, sondern sagte:

»Sie wird glücklich werden in dem bestimmten weiblichen Sinn des Begriffs Glück. Wird viel lieben, wird dann, müde geworden, Hunde und Kater lieben, mit jener Liebe, mit der sie mich liebt. Sie ist so satt, so russisch. Ich bin eine Petersburgerin. Moskau macht mich zur Larve. Überhaupt kenne und verstehe ich Rußland schlecht. Mir scheint, das ist ein Land von Menschen, die niemandem und am wenigsten sich selbst nötig sind. Die Franzosen, die Engländer sind der ganzen Welt nötig. Auch die Deutschen, obwohl ich die Deutschen nicht liebe.«

Sie sprach unermüdlich und verwirrte Klim durch die Eigenartigkeit ihrer Urteile. Aber hinter ihrer Vertrauensseligkeit fühlte Klim keine Harmlosigkeit und wurde noch vorsichtiger mit seinen Worten. Auf dem Newskiprospekt schlug sie vor, Kaffee zu trinken. Im Restaurant benahm sie sich für Klims Geschmack zu ungebunden für ein junges Mädchen.

»Ich lade Sie ein«, sagte sie, bestellte Kaffee, Likör, Biskuits und knöpfte ihre Pelzjacke auf. Klim hüllte der Geruch eines exotischen Parfüms ein. Sie saßen am Fenster. An den reifbeschlagenen Scheiben flutete der dunkle Menschenstrom vorbei. Die Nechajew knabberte mit ihren Mausezähnen an den Biskuits und sprach weiter:

»In Rußland spricht man nicht über das, was wichtig ist, liest man nicht die Bücher, die notwendig sind, tut man nicht das, was getan werden muß, und nichts für sich, sondern alles zum Schein.«

»Das ist wahr«, sagte Klim. »Es ist viel Erklügeltes darin, und alle examinieren einander.«

»Kutusow ist ein so gut wie fertiger Opernsänger, studiert aber politische Ökonomie. Ihr Bruder weiß unglaublich viel, und ist doch – Sie entschuldigen mich – ein Ignorant.«

»Auch das ist richtig«, gab Klim zu. Er hielt es für an der Zeit, ihr entgegenzutreten, aber die Nechajew war plötzlich müde geworden, auf ihren Wangen, die der Frost rot geschminkt hatte, waren nur noch die hektischen Flecke geblieben, die Augen erloschen. Träumerisch sprach sie davon, daß man nur in Paris ganz aus dem Innern leben könne, daß sie die Absicht gehabt habe, diesen Winter in der Schweiz zu verbringen, daß aber eine langweilige und unbedeutende Erbschaftssache sie in Petersburg zurückhielte. Sie verzehrte alle Biskuits, trank zwei Gläschen Likör, und als sie ihren Kaffee getrunken hatte, kreuzte sie mit einer raschen, unauffälligen Geste die Arme auf ihrer schmalen Brust.

»Wahrscheinlich reise ich in zwei oder drei Wochen.«

Sich auf die Lippen beißend, während sie ihren Handschuh überzog, seufzte sie:

»Vielleicht für immer.«

Auf der Straße fragte sie:

»Kennen Sie Maeterlinck? Oh, Sie müssen unbedingt den ›Tod des Tentagiles‹ und die ›Blinden‹ lesen. Das ist ein Genie. Er ist noch jung, aber erstaunlich tief.«

Plötzlich blieb sie auf dem Trottoir stehen, wie vor einer Mauer, und streckte ihm die Hand hin:

»Leben Sie wohl. Besuchen Sie mich.«

Sie nannte ihm ihre Adresse und stieg in einen Schlitten. Als das durchfrorene Pferd sich jäh in Trab setzte, gab es der Nechajew einen so heftigen Stoß, daß sie hintenüber flog und fast über die Schlittenlehne gestürzt wäre. Auch Klim nahm einen Schlitten. Während er hin und her gerüttelt wurde, dachte er über dieses Mädchen nach, das seinen übrigen Bekannten so wenig glich. Für eine Minute schien ihm, daß sie etwas Gemeinsames mit Lida hätte, aber unverzüglich wies er diese Ähnlichkeit ab, da er sie für sich nicht schmeichelhaft fand. Er erinnerte sich der übelgelaunten Bemerkung Warawkas:

»Wenn man nicht versteht, vermutet man und irrt sich.«

Dies hatte Warawka seiner Tochter gesagt.

Die Begegnung mit der Nechajew machte sie nicht angenehmer, doch hatte das Mädchen Klims Neugier besonders dadurch erregt, daß sie sich in dem Restaurant mit einer Ungebundenheit benahm, als wäre sie dort Stammgast.

An dem Tage, an dem Klim Samgin sie aufsuchte, fiel beklemmend dichter Schnee auf die mürrische Stadt. Er fiel rasch, ausdauernd, seine Flocken waren ungewöhnlich groß und raschelten wie Fetzen feuchten Papiers.

Die Nechajew wohnte möbliert. Es war die letzte Tür am Ende eines langen Ganges, der schwach von einem Schrank fast ganz verdeckten Fenster erhellt wurde. Das Fenster war gegen eine braune glatte Mauer gepreßt. Zwischen Fenster und Mauer fiel der Schnee, grau wie Asche.

»In was für einem schmutzigen Loch wohnt sie«, dachte Klim. Doch als er in dem kleinen, dürftig beleuchteten Flur abgelegt hatte und ihr Zimmer betrat, fühlte er sich märchenhaft weit entführt aus dieser Gegend unter einem unsichtbaren Himmel, der sich in Flocken zerkrümelte, aus dieser im Schnee verschütteten Stadt. Das Zimmer war vom warmen Schein einer stark brennenden, von einem orangegelben Schirm verhängten Lampe erhellt und mit orientalischen Stoffen in den blassen Tönen der erlöschenden Abendröte dekoriert. Auf Tisch und Ruhebett waren die gelben Bändchen französischer Bücher wie Blätter einer exotischen Pflanze verstreut. Die Nechajew, in einem goldfarbenen Kittel, umgürtet mit einer breiten grünlichen Schärpe, begrüßte ihn erschrocken:

»Entschuldigen Sie, ich bin im Negligé.«

»Es ist schön bei Ihnen«, sagte Klim.

»Gefällt es Ihnen?«

Sie zündete eilig einen Spirituskocher an, stellte einen wunderlich geformten kupfernen Teekessel auf und sagte dabei:

»Ich kann Samoware nicht leiden.«

Sie stieß mit ihrem Fuß, der in einem grünen Saffianpantöffelchen steckte, die Bücher, die vom Tisch herabgefallen waren, erbarmungslos unter den Tisch und schob alle Gegenstände an seinem Rand zusammen, zum mit einem dunklen Stoff verhängten Fenster hin, all das sehr eilig, Klim ließ sich auf dem Ruhebett nieder und blickte sich um. Die Ecken des Raums waren durch Draperien ausgeglättet, ein Drittel des Zimmers von einem chinesischen Schirm abgeteilt. Hinter dem Schirm sah der Zipfel eines Bettes hervor. Die Fensterbank war mit einem schweren Teppich von stumpfroter Farbe verkleidet, ein ebensolcher Teppich bedeckte den Boden. Die warme Luft des Zimmers war stark mit Parfüms getränkt.

»Ich liebe schreiende Farben, laute Musik und gerade Linien nicht. Das alles ist zu wirklich und darum verlogen«, hörte Klim.

Die eckigen Bewegungen des Mädchens ließen die Ärmel ihres Kittels sich aufspannen wie Flügel, ihre irrenden Hände erinnerten ihn an die blinden Hände Tomilins, und sie sprach in dem verzogenen Ton Lidas, als die noch ein Backfisch von dreizehn oder vierzehn Jahren war. Klim hatte den Eindruck, daß das Mädchen sich in einer Verwirrung befand und sich verhielt, wie ein Mensch, den man überrumpelt hat. Sie vergaß, sich umzuziehen. Der Kittel glitt ihr von den Schultern und entblößte das Schlüsselbein und die vom Lampenlicht unnatürlich gefärbte Haut der Brust.

Während des Tees erfuhr Klim, daß das Wahre und Ewige in den Tiefen der Seele eingeschlossen sei, alles Äußere aber, die ganze Welt eine verworrene Kette von Fehlschlägen, Irrtümern, verkrüppelter Impotenz und kläglichen Versuchen, die ideale Schönheit jener Welt, die im Geist erlesener Menschen eingefriedigt ist, zum Ausdruck zu bringen.

»Oh, ich vergaß!« rief sie plötzlich vom Ruhebett aufflatternd, holte aus einem Schränkchen eine Flasche Wein, Likör, eine Schachtel Schokolade und Biskuits, verstreute alles über den Tisch und fragte dann, während sie die Ellenbogen aufstützte und dabei ihre dünnen Arme entblößte:

»Verstehen Sie es, über die Sinnlosigkeit des Daseins nachzudenken?«

Klim hatte Lust zu lächeln, doch er beherrschte sich und antwortete gesetzt: »Manchmal regt einen das sehr auf.«

Und weil er bemerkte, daß die Augen der Nechajew aufflammten, fügte er hinzu:

»Es gibt Tage, wo man morgens aufwacht und das Gefühl hat, zwecklos erwacht zu sein.«

Die Nechajew nickte:

»Ja, natürlich, gerade Sie müssen so empfinden. Ich erkannte es an Ihrer Zurückhaltung, an Ihrem immer ernsten Lächeln, daran, wie schön Sie zu schweigen verstehen, während alle schreien. Und worüber?«

Sie kreuzte die Arme auf der Brust, legte die Hände auf ihre spitzen Schultern und fuhr mit Unwillen fort:

»Volk! Arbeiterklasse! Sozialismus! Bebel! Ich habe seine ›Frau‹ gelesen, mein Gott, wie ist das öde! In Paris und Genf begegnete ich Sozialisten. Es sind Menschen, die sich bewußt begrenzen. Sie haben etwas Verwandtes mit den Mönchen, sie sind ebensowenig frei von Heuchelei wie diese. Sie alle ähneln mehr oder weniger Kutusow, doch ohne seine lächerliche, bäurische Herablassung für Menschen, die er nicht verstehen kann oder will. Kutusow selbst ist nicht dumm und glaubt anscheinend ehrlich an alles, was er sagt, aber der Kutusowismus, all diese nebelhaften Begriffe: Volk, Masse, Führer – wie ist das alles zum Sterben öde!«

Sie schrak sogar zusammen, ihre Hände glitten leblos von den Schultern. Sie hob einen kleinen, an eine langstielige Blüte erinnernden Kelch gegen das Licht der Lampe, erfreute sich an der giftgrünen Farbe des Likörs, trank ihn aus und hustete, am ganzen Körper zuckend, in ihr Tüchlein.

»Es schadet Ihnen«, sagte Klim und schnippte mit dem Nagel an sein Glas. Die Nechajew, immer noch hustend, schüttelte verneinend den Kopf. Später erzählte sie schwer atmend und mit Pausen zwischen jedem Satz von Verlaine und daß ihn der Absynth, die »grüne Fee«, zugrunde gerichtet habe.

»Liebe und Tod«, vernahm Klim nach einigen Augenblicken, »in diesen beiden Mysterien ist der ganze furchtbare Sinn unseres Daseins verborgen. Alles andere – auch der Kutusowismus – sind nur erfolglose und feige Versuche, sich mit Nichtigkeiten zu betrügen.«

Klim fragte: »Und die Humanität, gehört sie auch zu den Nichtigkeiten?« und paßte auf, denn er erwartete, sie nun von der Liebe sprechen zu hören, und es wäre ergötzlich gewesen zu hören, was dieses körperlose Mädchen über die Liebe zu sagen hatte. Doch die Nechajew fertigte die Humanität als »kleinbürgerlichen Traum allgemeiner Sattheit«, den schon Malthus widerlegt habe, ab und sprach dann über den Tod. Anfangs beobachtete Klim in ihrem Tonfall etwas Kirchliches. Sie trug sogar einige Verse aus den Liturgien für die Seelen der Abgeschiedenen vor, aber diese düsteren Verse klangen matt. Klim rieb sorgfältig mit einem Stück Ledersamt seine Brillengläser blank und dachte für sich, daß die Nechajew wie ein altes Mütterchen sprach. Er senkte den Kopf und vermied es, das Mädchen anzusehen, damit sie nicht entdeckte, daß er sich langweilte. Doch sie schien es schon erraten zu haben oder müde zu sein, ihre Worte klangen immer leiser. Klim hob den Kopf, wollte seine Brille aufsetzen, kam aber nicht dazu. Seine Hände sanken langsam auf die Tischkante herab.

»Nein, stellen Sie sich nur vor«, sagte, fast flüsternd, zu ihm geneigt, die Nechajew. Ihre zitternde Hand mit den dünnen Knöchelchen der Finger schwebte in der Luft. Ihre Augen waren unnatürlich geweitet, das Gesicht schärfer als sonst. Er lehnte sich zurück, während er dem einschmeichelnden Geflüster lauschte.

»Eine geheimnisvolle Macht schleudert den Menschen hilflos, ohne Verstand und Sprache, in die Welt. Dann, in der Jugend, reißt sie seine Seele vom Fleisch los und macht sie zur ohnmächtigen Zuschauerin der qualvollen Leidenschaften des Körpers. Dann schlägt dieser Dämon den Menschen mit schmerzhaften Lastern, zermartert ihn, hält ihn lange in der Schande des Alters, ohne ihn endlich von der Liebesgier zu erlösen, ohne ihm die Erinnerung an die Vergangenheit, an die Funken Glücks zu nehmen, die trügerisch vor ihm aufblitzen und ihn mit Neid für die Freuden der Jungen foltern. Endlich, sich gleichsam am Menschen dafür rächend, daß er gewagt hat zu leben, entseelt ihn die erbarmungslose Macht! Wo ist hier ein Sinn? Wohin verschwindet jene geheimnisvolle Wesenheit, die wir Seele nennen?«

Sie flüsterte nicht mehr, Ihre Stimme klang ziemlich laut und war mit leidenschaftlichem Zorn gesättigt. Ihr Gesicht verzerrte sich grausam und erinnerte Klim an die Zauberin in Andersens Märchen. Der trockene Glanz ihrer Augen kitzelte heiß sein Gesicht, ihm schien, in ihrem Blick brenne ein arges und rachsüchtiges Gefühl. Er senkte den Kopf und erwartete, daß dieses seltsame Wesen im nächsten Augenblick in den verzweiflungsvollen Schrei der Doktorsfrau Somow: »Nein! Nein! Nein!« ausbrechen würde.

Wenn Klim Bücher und Gedichte über die Liebe und den Tod las, erregten sie ihn nicht. Jetzt aber, da die Gedanken über Tod und Liebe im Kleid der zornigen Worte des kleinen, beinahe verwachsenen Mädchens erschienen, fühlte Klim mit einemmal, daß diese Gedanken ihn brutal ins Herz und in den Kopf trafen. Alles vermischte und wölkte sich in ihm gleich Rauch. Er hörte nicht mehr die erregte Nechajew, er sah sie an und dachte, weshalb gerade dieses häßliche, an der Krankheit hinsiechende Mädchen mit der flachen Brust verdammt war, sich mit so unheimlichen Gedanken zu tragen. Darin lag etwas beispiellos Ungerechtes. Er empfand Mitleid mit diesem, mit einem kranken Leib und einer kranken Seele gestraften Menschen. Zum erstenmal verspürte er die Regung des Mitleids mit solcher Schärfe, es war ihm in solcher Heftigkeit bisher fremd geblieben.

Er nahm einen Kelch, der wie eine Blüte aussah, aus der alle Farbe herausgesogen war, preßte seinen schlanken Stiel zwischen seinen Fingern und seufzte:

»Es muß schwer sein für Sie, mit diesen Gedanken zu leben.«

»Aber doch auch für Sie? Für Sie?«

Sie sagte diese Worte so seltsam, als frage sie nicht, sondern bitte. Ihr entflammtes Gesicht verblaßte, schmolz, sie wurde gleichsam schöner.

Klim empfand den Wunsch, ihr etwas Zärtliches zu sagen, aber er zerbrach den Fuß des Glases.

»Haben Sie sich geschnitten?« rief das Mädchen aus, sprang auf und lief zu ihm hin.

»Ein wenig«, sagte er schuldbewußt und umwickelte den Finger mit seinem Taschentuch. Die Nechajew jedoch streichelte seine Hand mit der ihren, die unnatürlich heiß war, und sagte leise und dankbar:

»Wie tief Sie empfinden!«

Sie huschte im Zimmer umher, zerriß ein Taschentuch, träufelte etwas Brennendheißes in die Wunde, verband sie straff und lud dann ein:

»Nehmen Sie Wein.«

Nachdem sie sich Likör eingeschenkt hatte, nahm sie wieder am Tisch Platz.

Eine Minute schwiegen beide, ohne einander anzusehen. Klim fand ein längeres Schweigen peinlich und hoffte, die Nechajew würde weiter sprechen. Er fragte sie:

»Lieben Sie Schopenhauer?«

Seufzend schraubte sie die Lampe herab. Es wurde enger im Zimmer, Alle Gegenstände und die Nechajew selbst drängten dichter zu Klim heran. Sie nickte bejahend:

»Auch Maeterlinck ist die Ethik des Mitleids nicht fremd und vielleicht hat er sie bei Schopenhauer geschöpft. Aber was nützt Mitleid den zum Tode Verurteilten?«

Klim starrte über den Kopf des Mädchens hinweg in die orangefarbige Dunkelheit und fragte sich:

»Warum hat sie die Lampe kleiner geschraubt?«

Die Nechajew bückte sich, stieß mit dem Fuß die gelben Bücher unter dem Tisch hervor und redete hinunter:

»Wir leben in einer Atmosphäre der Grausamkeit. Das gibt uns das Recht, grausam in allem zu sein ... in der Liebe ... im Haß ...«

Ehe Samgin einfiel, ihr zu helfen, hatte sie eins der Bücher aufgehoben, es geöffnet und sagte strenge:

»Hören Sie zu!«

Halblaut und die Vokale dehnend, begann sie Verse vorzulesen. Sie las angestrengt, mit unvermittelten Pausen und dirigierte dabei mit dem bis zum Ellenbogen entblößten Arm. Die Verse waren sehr musikalisch, aber ihr Sinn rätselhaft. Sie handelten von Jungfrauen mit goldenen Binden um die Augen, von drei blinden Schwestern. Nur in den zwei Versen

Hab Erbarmen mit mir, weil ich zögre


An der Schwelle meines Begehrens ...

fing er so etwas wie einen Lockruf oder eine Anspielung auf. Fragend blickte er das Mädchen an, aber sie sah ins Buch. Ihre rechte Hand schweifte durch die Luft, mit dieser, in dem Dämmerlicht bläulich schimmernden astralen Hand berührte die Nechajew ihr Gesicht, ihre Brust und ihre Schultern, als bekreuzige sie sich, oder als wolle sie sich vergewissern, daß sie noch da sei.

Klim fühlte, wie der Wein, die Parfüms und die Gedichte ihn sonderbar berauschten. Allmählich ergab er sich einer nie gespürten Melancholie, die alles entfärbte und in ihm den Wunsch auslöste, sich nicht zu rühren, nichts zu hören, an nichts zu denken. Und er dachte auch nicht, sondern horchte nur, wie sich in ihm allmählich der niederdrückende Eindruck von den Worten des Mädchens verflüchtigte.

Als sie aufgehört hatte zu lesen, schleuderte sie das Buch auf das Ruhebett und schenkte sich mit zitternder Hand ein neues Glas Likör ein, Klim rieb sich die Stirn und blickte um sich wie jemand, der soeben erwacht. Mit Staunen fühlte er, daß er noch lange diesen wohllautenden, aber wenig verständlichen Versen in fremder Sprache hätte lauschen können.

»Verlaine! Verlaine!« seufzte zweimal die Nechajew. »Er gleicht einem gefallenen Engel!«

Sie schnellte ihren Körper vom Stuhl und legte sich mit ungewöhnlicher Leichtigkeit auf das Ruhebett.

»Sind Sie müde?« fragte Klim.

Er stand auf und sah in das Gesicht des Mädchens, das fahl war und auf den Schläfen rote Flecke zeigte.

»Ich danke Ihnen«, sagte er eilig. »Ein wundervoller Abend. Bitte, bleiben Sie liegen.«

»Kommen Sie bald«, bat sie, während sie seine Hand zwischen den heißen Knöchelchen ihrer Finger zusammenpreßte. »Ich verschwinde ja bald.«

Mit der anderen Hand reichte sie ihm ein Buch.

»Und lesen Sie dies!«

Auf der Straße fiel immer noch Schnee. Er fiel so dicht, daß es schwer war zu atmen. Die Stadt war völlig stumm geworden, verschwunden in dem weißen Flaum. Die Laternen, bedeckt mit dicken Kappen, standen in Lichtpyramiden. Klim klappte den Mantelkragen hoch, steckte die Hände in die Taschen und schlenderte, die Eindrücke des Abends abwägend, durch den lautlosen Schnee. Weiße Asche rieselte ihm ins Gesicht und schmolz sogleich, die Haut kühlend. Klim blies unmutig die Wassertröpfchen von Oberlippe und Nase. Er fühlte, daß er eine niederdrückende Last, ein furchtbares Traumgesicht, das er niemals vergessen würde, mitgenommen hatte. Vor ihm, im Schnee, zitterte das Gesicht der alten kleinen Zauberin. Als Klim die Augen schloß, um ihm zu entfliehen, wurde es noch deutlicher, und der dunkle Blick schien jetzt hartnäckig fordernd. Doch der Schnee und sein vorzüglich entwickelter Selbsterhaltungstrieb riefen schnell protestierende Gedanken in Klim wach. Zwischen der äußeren Erscheinung des Mädchens, ihren großen Worten und der Schönheit der Verse, die sie vorgelesen hatte, bestand etwas verdächtig Unvereinbares. Weiter vermerkte Klim, daß die Nechajew zu viel Likör trank und zu viel Konfekt mit Rumfüllung genoß.

»Ein kranker Mensch. Es ist ganz natürlich, daß ihr Denken und Reden ständig um den Tod kreist. Solcher Art Gedanken – über den Sinn des Daseins und so weiter – taugen nicht für sie, sie sind für die Gesunden bestimmt. Für Kutusow zum Beispiel. Für Tomilin.«

Als Klim die langweiligen Predigten Kutusows einfielen, mußte er lächeln.

»Kutusowismus – das ist gar nicht übel.«

Als Klim in die Nähe seines Hauses gelangt war, hatte er sich bereits Gewißheit darüber verschafft, daß das Experiment mit der Nechajew beendet war. Die Triebfeder, die in ihr wirkte, war die Krankheit, und es hatte keinen Sinn, ihre hysterischen Reden, die die Furcht vor dem Tode ihr auf die Lippen trieb, noch weiter anzuhören.

»Im Grunde ist alles sehr einfach ...«

Nachts las er Maeterlincks »Blinde«. Die eintönige Sprache dieses Dramas ohne Handlung hypnotisierte ihn, erfüllte ihn mit dunkler Traurigkeit, aber der Sinn des Stücks blieb Klim verschlossen. Unmutig warf er das Buch auf den Fußboden und versuchte, erfolglos einzuschlafen. Die Gedanken kehrten zu der Nechajew zurück. Aber sie wurden milder. Er erinnerte sich ihrer Bemerkung über das Recht der Menschen, grausam in der Liebe zu sein, und fragte sich:

»Was wollte sie damit sagen?«

Dann seufzte er mitleidig:

»Es wird sich schwerlich ein Mensch finden, der sie liebt.«

Seine müden Augen sahen in der Finsternis des Zimmers einen Haufen durchsichtiger grauer Schattengestalten und unter ihnen ein kleines Mädchen mit einem Vogelgesicht und einem glattgekämmten Kopf ohne Ohren.

»Vor Furcht erblindet!«

Die Schatten schwankten wie die kaum sichtbare Spiegelung herbstlicher Wolken im dunklen Wasser eines Flusses. Die Bewegung der Finsternis im Zimmer, die sich aus einer eingebildeten in eine wirkliche verwandelte, vertiefte seine Trauer. Die Einbildungskraft, die sowohl das Einschlafen wie das Denken vereitelte, erfüllte die Dunkelheit mit tristen Lauten, dem Echo eines entfernten Klanges oder den singenden Tönen einer von einer Gitarre übertönten Geige. Die schwarzen Fensterscheiben verblichen langsam und nahmen die Farbe des Zinns an.

Klim erwachte gegen Mittag in der Stimmung eines Menschen, der am Abend vorher etwas Wichtiges erlebt hat und nun zweifelt, ob er dabei gewonnen oder verloren habe. Der sonst so leichte Fluß seiner Selbstbetrachtung war aufgehalten, belastet. Er hörte seine Gedanken schlecht und diese Taubheit reizte ihn. Sein Gedächtnis war verschüttet durch ein Chaos seltsamer Worte, Verse, Klagen der »Blinden«, von einschmeichelndem Geflüster und zornigen Ausrufen der Nechajew. Als er sich ankleidete, nahm er wütend das Buch auf, las stehend eine Seite, warf das Buch auf das Bett und zuckte die Schultern. Vor dem Fenster fiel immer noch Schnee, aber er war bereits trockner und feiner.

Klim Samgin beschloß, sein Zimmer nicht zu verlassen, aber das Dienstmädchen sagte, als sie den Kaffee brachte, gleich würden die Dielenputzer kommen. Er nahm das Buch und ging zu seinem Bruder. Dmitri war fort. Am Fenster stand Turobojew im Studentenrock und trommelte gegen die Scheiben. Er sah träge zu, wie eine zottige Rauchwolke zum Himmel emporkroch.

»Feuer«, sagte er. Er drückte Klim matt und lässig wie stets die Hand.

Der unebenen Linie warm mit Schnee bekleideter Dächer entstiegen dünne, graue Rauchwölkchen. Über die dicke Schneeschicht krochen schwerfällig Leute mit Messingknöpfen, ebenso grau wie der Rauch.

Dieses Bild hatte für Klim etwas frappierend Tristes.

»Es will nicht brennen«, sagte Turobojew und entfernte sich vom Fenster. Hinter seinem Rücken hörte Klim einen leisen Ausruf:

»Ah, Maeterlinck!«

Klim gab einem Wunsch, diesen fatalen Menschen zu verletzen nach, und suchte in seinem Gedächtnis ein besonders giftiges Wort. Da er keins entdeckte, murmelte er:

»Geschwätz!«

Turobojew war nicht beleidigt. Er trat von neuem an Klims Seite und während er auf etwas horchte, begann er leise und gleichmütig zu sprechen:

»Nein, warum denn Geschwätz? Es ist mit großer Kunst geschrieben, wie eine Allegorie zur Belehrung von Kindern reiferen Alters. Die ›Blinden‹ sind die heutige Menschheit, den Führer kann man, je nachdem, als die Vernunft oder als den Glauben deuten. Übrigens habe ich das Zeug nicht zu Ende gelesen.«

Klim verließ das Fenster voll Verdruß über sich selbst. Wie konnte ihm der Sinn des Stückes entgehen? Turobojew setzte sich, zündete sich eine Zigarette an, stopfte sie aber sogleich nervös in den Aschenbecher.

»Die Nechajew klärt Sie auf? Sie versucht, auch meinen Verstand zu entwickeln«, sagte er, zerstreut in dem Buch blätternd, »Sie liebt spitze Sachen. Augenscheinlich hält sie ihr Gehirn für eine Art Nadelkissen, wissen Sie, Kissen, die mit Sand gefüllt sind.«

»Sie ist sehr belesen«, sagte Klim, um nur etwas zu sagen. Turobojew ergänzte leise seine Worte:

»Eine Herbstfliege.«

An der Decke wurde mit etwas Schwerem, wohl einem Stuhlbein, dreimal aufgeklopft. Turobojew stand auf, warf auf Klim einen Blick wie auf einen leeren Fleck und, ihn mit diesem Blick am Fenster festnagelnd, verließ er das Zimmer.

»Er geht zur Spiwak, sie ist es, die gepocht hat«, erriet Klim, der auf das Dach blickte, wo die Feuerwehrmänner den Schnee auseinandertraten und ihm immer dickere Wolken grauen Rauchs entlockten.

»Er selbst, Turobojew, ist eine Herbstfliege.«

Ohne anzuklopfen, als wäre es ihr eigenes Zimmer, trat Marina ein:

»Wünschen Sie Tee?«

»Nein, danke.«

Sie sah Klim ärgerlich ins Gesicht und fragte:

»Wo ist Ihr Bruder?«

»Ich weiß es nicht.«

Sie wandte sich zur Tür, öffnete sie, trat aber dann wieder einen Schritt zu Samgin hin.

»Er hat nicht zu Hause übernachtet.«

Klim lachte boshaft.

»Das pflegt bei jungen Leuten vorzukommen.«

Tief errötend fragte Marina:

»Sie reden da augenscheinlich Abgeschmacktheiten? Sie wissen doch, daß er sich mit den Arbeitern beschäftigt und daß dafür ...«

Sie unterbrach sich und ging hinaus, ehe Samgin, empört durch ihren Ton, ihr sagen konnte, daß er nicht Dmitris Erzieher sei.

»Kuh!« schimpfte er, auf und ab laufend. »Grobe Kuh!«

Er entsann sich, daß er einmal, als er ins Eßzimmer trat, gesehen hatte, wie Marina, die in ihrem Zimmer vor Kutusow stand, sich mit ihrer zur Faust geballten Rechten auf die linke, flache Hand schlug und dabei dem bärtigen Studenten ins Gesicht rief:

»Ich – ein Bauernweib! Ein Bauernweib?«

Zuerst schienen diese Ausrufe Klim nur Äußerungen des Staunens oder Gekränktseins, Sie wandte ihm den Rücken zu, er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Aber in den nächsten Sekunden begriff er, daß es sich um einen Wutanfall handelte und daß sie im nächsten Augenblick vielleicht ohrenbetäubend brüllen und mit den Füßen trampeln würde.

»Verstehen Sie?« fragte sie, jedes Wort mit einem klatschenden Schlag der Faust auf die weiche Handfläche begleitend. »Er wird seinen eigenen Weg gehen. Er wird Gelehrter! Jawohl! Professor!«

»Brüllen Sie nicht so!« sagte Kutusow.

Er überragte Marina um einen halben Kopf, und es war zu sehen, daß seine grauen Augen das Gesicht des Mädchens neugierig musterten. Mit der einen Hand strich er sich über den Bart, in der anderen, die am Körper herabhing, rauchte eine Zigarette, Marinas Wutausbruch wurde heftiger und sichtbarer.

»Er ist gutherzig, ehrlich, aber ihm fehlt der Wille.«

»O weh, ich glaube, ich habe Ihnen Ihren Rock verbrannt!« rief Kutusow aus, wobei er von ihr wegrückte. Marina drehte sich um, bemerkte Klim und ging ins Eßzimmer hinüber, mit dem gleichen knallroten Gesicht, das er soeben an ihr beobachtet hatte.

Das Leben seines Bruders interessierte Klim nicht. Doch seit dieser Szene begann er, Dmitri in stärkerem Maße sein Augenmerk zuzuwenden. Er überzeugte sich bald, daß der Bruder, der vollkommen unter Kutusows Einfluß stand, die beinahe demütigende Rolle eines Werkzeugs seiner Interessen und Ziele spielte. Einmal gab Klim dies Dmitri so brüderlich und ernst, wie er konnte, zu verstehen. Aber Dmitri riß glotzend seine Schafsaugen auf und lachte:

»Du bist wohl verrückt geworden?«

Dann klapste er Klim aufs Knie und sagte:

»Auf jeden Fall danke ich dir! Das hast du gut gesagt, närrischer Kauz!«

Klim schwieg, da er sein Erstaunen, das Lachen und die Geste dumm fand. Einige Male entdeckte er auf dem Tisch des Bruders verbotene Broschüren. Die eine trug den Titel »Was muß der Arbeiter wissen und behalten?«, die andere »Über die Strafabzüge«. Beide waren schmutzig, zerknittert, und die Schrift stellenweise mit schwarzen Flecken verschmiert, die an polizeiliche Daumenabdrücke erinnerten.

»Es ist klar, er gibt sich mit den Arbeitern ab. Wenn man ihn verhaftet, kann auch ich mit hineingezogen werden. Wir sind Brüder und wohnen unter einem Dach ...«

Aufgeregt beschleunigte er sein Auf- und Abschreiten, so heftig, daß das Fenster in der Wand von rechts nach links zu schaukeln begann.

Unter allen Menschen, denen Klim begegnet war, rief allein der Sohn des Müllers in ihm den Eindruck des in seiner Abgeschlossenheit ganz Einzigartigen hervor. Samgin bemerkte an ihm nichts Überflüssiges, Erkünsteltes, was erlaubt hätte, anzunehmen, daß dieser Mensch anders sei, als er sich gab. Seine derbe Ausdrucksweise, die plumpen Gesten, sein gnädiges Lächeln in den Bart, die schöne Stimme – alles war fest zusammengefügt, alles gehörte zusammen wie Teile einer Maschine. Klim fiel sogar ein Vers aus dem Gedicht eines jungen, aber bereits sehr bekannten Dichters ein:

»Es liegt Schönheit in der Lokomotive ...«

Aber Kutusows Predigten wurden immer aufdringlicher und gröber. Klim fühlte, daß Kutusow imstande war, sich nicht nur den molluskenhaften Dmitri, sondern auch ihn selbst Untertan zu machen. Kutusow zu widersprechen war schwer: er sah einem gerade in die Augen, sein Blick war kalt, im Bart regte sich ein verletzendes Lächeln. Er sagte:

»Sie, Samgin, urteilen naiv. Sie haben Grütze im Kopf. Es ist unmöglich, daraus schlau zu werden, wer Sie sind. Ein Idealist? Nein. Em Skeptiker? Es scheint nicht so. Und wie sollten Sie, junger Mann, auch zur Skepsis kommen? Turobojews Skepsis ist rechtmäßig, sie ist die Weltanschauung eines Menschen, der sehr wohl fühlt, daß seine Klasse ihre Rolle ausgespielt hat und rasch auf der schiefen Ebene ins Nichts hinabgleitet.«

Kutusow verbreitete sich darauf langweilig über Agrarpolitik, über die Adelsbank, über das Wachstum der Industrie.

Klim dachte bekümmert, daß Kutusow es sich allzu leicht mache, sein Vertrauen zu sich selbst zu erschüttern, daß dieser Mensch ihn vergewaltigte, indem er ihn zwang, Argumenten zuzustimmen, gegen die er, Samgin, nur einen Einwand hatte: »Ich will nicht.«

Doch ihm fehlte der Mut, diesen Einwand auszusprechen.

Er blieb plötzlich in der Mitte des Zimmers stehen, kreuzte die Arme auf der Brust und horchte, wie eine tröstliche Ahnung in ihm reifte. Alles was die Nechajew sagte, sollte ihm als tüchtige Waffe für den Selbstschutz dienen. All dies widerstand sehr energisch dem »Kutusowismus«! Die sozialen Fragen waren nichtsbedeutend neben der Tragödie des individuellen Seins.

»Gerade dadurch erklärt sich meine Gleichgültigkeit gegen Kutusows Lehre«, konstantierte Klim, er schritt wieder auf und ab. »Niemand hat mir das eingeflüstert, ich habe es längst gewußt.«

Er ging ins Eßzimmer hinüber, trank seinen Tee, blieb eine Weile einsam dort, sich daran erfreuend, wie leicht neue Gedanken ihm zuwuchsen, machte dann einen Spaziergang und befand sich auf einmal am Portal des Hauses, in dem die Nechajew wohnte.

»Die Gespräche mit ihr sind nützlich«, entschuldigte er sich gleichsam gegen jemand.

Das Mädchen empfing ihn mit Freude. Wieder lief sie planlos und geschäftig von Ecke zu Ecke. Dabei erzählte sie kläglich, sie habe in der Nacht keinen Schlaf gefunden, die Polizei sei im Hause gewesen. Man habe jemand verhaftet. Eine betrunkene Frau habe geschrien. Im Korridor habe es ein Getrampel und Hin- und Herrennen gegeben.

»Gendarmen?« fragte Klim düster.

»Nein, Polizei. Man hat einen Dieb festgenommen.«

Beim Tee äußerte sich Klim über Maeterlinck mit Zurückhaltung, wie ein Mensch, der eine wohlbegründete Meinung hat, sie aber seinem Partner nicht aufzuzwingen wünscht. Immerhin bemerkte er, die Allegorie in den »Blinden« sei allzu durchsichtig, und Maeterlincks Verhältnis zur Vernunft nähere ihn Tolstoi. Es berührte ihn wohltuend, daß die Nechajew ihm beipflichtete.

»Ja«, sagte sie, »aber Tolstoi ist gröber. Er hat vieles aus der Vernunft selbst, also aus einer trüben Quelle. Mir scheint auch, daß seiner ganzen Natur das Gefühl innerer Freiheit feindlich ist. Tolstois Anarchismus ist eine Legende, der Anarchismus wird ihm nur dank der Freigebigkeit seiner Verehrer unter die Zahl seiner Verdienste zugerechnet.«

An diesem Abend stach ihre körperliche Dürftigkeit besonders heftig Klims Augen. Das schwere wollene Kleid von unbestimmter Farbe machte sie alt, ihre Bewegungen, die langsamer wurden und gezwungen erschienen, schwerfällig. Ihr unlängst gewaschenes Haar hatte sie in einem losen Knoten aufgesteckt, und dies vergrößerte in unschöner Weise ihren Kopf. Klim empfand auch heute leichte Stiche des Mitleids für dieses Mädchen, das sich in den dunklen Winkel möblierter, unsauberer Zimmer verkrochen hatte, wo sie es dennoch verstand, sich ein gemütliches Nest einzurichten.

Wie gestern sprach sie über das Mysterium von Leben und Tod, nur mit anderen Worten und ruhiger, auf etwas horchend und gleichsam Einwände erwartend. Ihre leisen Worte legten sich als feine Schicht auf Klims Gedächtnis, wie Stäubchen auf eine lackierte Fläche.

»Aber über die Liebe traut sie sich nicht zu reden. Sie möchte schon, aber sie wagt es nicht.«

Er selbst fühlte sich nicht getrieben, das Gespräch auf dieses Thema zu lenken. Der tief herabhängende Lampenschirm erfüllte das Zimmer mit orangefarbigem Nebel. Die dunkle Decke, von Rissen kreuz und quer überzogen, die mit Stoffen ausgeschlagenen Wände, der rötliche Teppich auf dem Fußboden, – all das flößte Klim das seltsame Gefühl ein, daß er in einem Sack saß. Es war sehr warm und unnatürlich still. Nur von Zeit zu Zeit drang ein dumpfes Brausen herein, dann bebte das ganze Zimmer und schien sich zu senken. Auf der Straße mußte wohl ein schwerbeladenes Fuhrwerk vorübergefahren sein.

Klim ließ unaufmerksam die kleine Stimme der Nechajew an sich vorbei und dachte:

»Das Leben ist mir nicht dazu gegeben, um zu entscheiden, wer recht hat, die Volkstümler oder die Marxisten.«

Er hatte nicht darauf geachtet, weshalb und wann die Nechajew begonnen hatte, von sich zu erzählen.

»Mein Vater war Professor, Physiologe. Er heiratete, als er bereits vierzig war. Ich bin sein erstes Kind. Mir ist, als hätte ich zwei Väter gehabt, bis zu meinem siebenten Lebensjahr den ersten – er hatte ein gutes, glattes Gesicht mit einem mächtigen Schnurrbart und lustige helle Augen, Er spielte sehr gut Cello. Später ließ er seinen grauen Bart verwildern, verwahrloste, wurde wütend, versteckte seine Augen hinter rauchfarbigen Gläsern und betrank sich häufig. Das kam daher, weil meine Mutter nach einer Fehlgeburt gestorben war. Ich sehe sie vor mir: weiß oder hellblau gekleidet, mit einem dicken kastanienbraunen Zopf auf der Brust oder im Nacken. Sie sah nicht aus wie eine Dame, sie blieb bis zu ihrem Tode ein junges Mädchen, voll und sehr lebendig. Sie starb im Sommer, als ich in der Sommerfrische auf dem Lande lebte. Ich hatte damals mein sechstes Lebensjahr vollendet. Ich weiß noch, wie seltsam das war: ich kam nach Hause, meine Mutter war fort und mein Vater ein anderer geworden ...«

Die Nechajew erzählte langsam, leise, doch ohne Trauer, und das war eigentümlich. Klim sah sie an: sie kniff häufig die Augen zu, und ihre untermalten Augenbrauen, zitterten. Die Lippen leckend, machte sie unnötige Pausen zwischen den Sätzen, noch weniger am Platze war das Lächeln, das über ihre Lippen glitt. Klim bemerkte zum ersten Male, daß sie einen schönen Mund hatte, und fragte sich mit der Neugier eines Jungen:

»Wie sie wohl nackt aussieht? Wahrscheinlich komisch.«

In der nächsten Sekunde verurteilte er ärgerlich seine Neugier und hörte stirnrunzelnd aufmerksamer zu.

»Auf meine kindlichen Fragen, woraus der Himmel gemacht sei, wozu die Menschen leben, wozu sie sterben, antwortete mein Vater: ›Das weiß niemand. Du, Fima, bist geboren, um es zu erfahren.‹ Er nahm mich auf den Schoß, hauchte mir Biergeruch ins Gesicht, und sein rauher Bart kratzte mir unangenehm Hals und Ohren. Bier trank er entsetzlich viel. Er schwemmte davon auf, seine Backen blähten sich, wurden blau, und seine Augen verschwammen in öligem Fett. Seine ganze Erscheinung war mir fatal. Er erregte in mir ein böses Gefühl, weil er mir keine einzige von meinen Fragen beantworten konnte – wollte, glaubte ich damals. Mir schien, er verberge vor mir absichtlich märchenhafte Geheimnisse, von ihm enträtselt, und lasse mich sie selbst lösen, wie er mich die Aufgaben aus dem Rechenbuch selbst lösen ließ. Er half mir niemals bei den Schularbeiten und verbot auch andern, mir zu helfen. Ich mußte alles allein machen. Aber besonders stieß mich von ihm ab, daß er beständig wiederholte: Das weiß man nicht. Versuch selbst, es herauszufinden.«

»Mein Vater beantwortete alle meine Fragen«, schob Klim plötzlich und unerwartet für sich selbst ein.

»Ja, beantwortete er sie?« fragte die Nechajew. »Aber ...«

Sie brach den Satz ab, schwieg sekundenlang, und von neuem säuselte ihre Stimme. Klim hörte sinnend zu und fühlte, daß er das Mädchen heute mit fremden Augen betrachtete. Nein, sie glich Lida in nichts, aber es bestand eine entfernte Ähnlichkeit zwischen ihr und ihm. Er war sich nicht klar darüber, ob ihm dies angenehm oder unangenehm war.

»Nachts spielte mein betrunkener Vater Cello. Die heulenden Laute weckten mich. Mir schien, mein Vater spielte nur auf den Baßsaiten und nicht mehr so gut wie früher. Es ist dunkel, still, und in der Dunkelheit die langen Streifen der Töne, noch dunkler als die Nacht. Mich ängstigte nicht dieses schwarze Geheul, aber es war so traurig, daß ich weinte. Der Vater starb, nachdem er nur vier Tage krank gewesen war. Wie widerwärtig sind Zahlen, Daten! Vier Tage lag er da, erstickend, blau, gedunsen, starrte durch die nassen Augenritzen zur Decke und schwieg. An seinem Sterbebett versuchte er – es war das einzige Mal – mir etwas zu sagen, sagte aber nur: »Siehst du, Klawdia, du selbst ...« Zuende sprechen konnte er nicht mehr, aber ich verstand natürlich, was er meinte. Ich betrauerte ihn nicht sehr, obwohl ich viel weinte, dies wahrscheinlich aus Furcht. Er war so schrecklich im Sarg, so riesengroß und – blind.«

Die Nechajew verstummte, neigte den Kopf und strich den Rock auf ihren Knien glatt. Ihre Erzählung stimmte Klim lyrisch, und er seufzte:

»Ja, unsere Väter ...«

»Die Väter haben Heringe gegessen, den Kindern aber läuft davon das Wasser im Munde zusammen – hat das nicht einer der Propheten gesagt? Ich habe es vergessen.«

»Ich weiß es auch nicht mehr«, sagte Klim, der die Propheten nie gelesen hatte.

Die Nechajew hob langsam mit einer unschlüssigen Geste die Hände und steckte ihre nachlässige Frisur fester auf, aber plötzlich lösten sich ihre Haare und fielen ihr über die Schultern. Klim wunderte sich, wie dicht und üppig ihr Haar war. Das Mädchen lächelte:

»Entschuldigen Sie.«

Klim verbeugte sich und beobachtete, wie sie sich erfolglos abmühte, ihr Haar aufzunehmen. Sein Gedächtnis produzierte keine bedeutenden Worte, während einfache, alltägliche nicht an dieses Mädchen heranreichten. Ihn verwirrte die Vorahnung eines peinlichen Moments oder einer Gefahr.

»Ich muß gehen.«

»Weshalb?«

»Es ist spät.«

»Wirklich?«

Sie ließ die Arme sinken, ihr Haar fiel wieder über ihre Schultern und Wangen, ihr Gesicht wurde kleiner.

»Kommen Sie bald wieder«, sagte sie in einem so seltsamen Ton, als befehle sie.

Es war gegen Mitternacht, als Klim nach Hause kam. Vor der Zimmertür seines Bruders standen dessen Stiefel. Dmitri selbst schlief wohl schon, er meldete sich nicht auf sein Klopfen, obwohl in seinem Zimmer Licht brannte. Das Schlüsselloch ließ in die Dunkelheit des Korridors einen gelben Lichtstreif hindurch. Klim hatte Hunger. Vorsichtig warf er einen Blick ins Eßzimmer. Dort wandelten Marina und Kutusow, Schulter an Schulter, auf und nieder. Marina hatte die Arme auf der Brust verschränkt und hielt den Kopf gesenkt. Kutusow fuchtelte mit einer Zigarette vorm Gesicht und redete mit verhaltener Stimme:

»Wir verfügen nur über eine Kraft, die wirklich imstande ist, uns zu verändern. Das ist die wissenschaftliche Erkenntnis.«

Tief, aber kläglich brummte Marina:

»Und die Kunst?«

»Tröstet uns, aber erzieht uns nicht.«

Klim verzog spöttisch das Gesicht, ging verdrossen auf sein Zimmer und legte sich schlafen, während er bedachte, um wieviel fesselnder als dieser Mensch doch die Nechajew war!

Zwei Tage darauf saß er abends wieder bei ihr. Er erschien früh, um sie zu einem Spaziergang abzuholen, aber auf der Straße schwieg das Mädchen langweilig, und nach einer halben Stunde klagte sie, daß sie friere.

»Lassen Sie uns zu mir hinausfahren.«

»Aber im Schlitten werden Sie noch mehr frieren.«

»Nein, es geht dann schneller«, sagte sie bestimmt.

Zu Hause legte sie sowohl in ihren Worten wie in allem, was sie tat, eine nervöse Hast und Gereiztheit an den Tag, bog den Hals wie ein Vogel, der den Kopf unter seine Flügel versteckt, blickte nicht auf Klim, sondern unter ihre Achsel und sagte:

»Ich ertrage nicht festtägliche Straßen und Menschen, die am siebenten Tag der Woche säuberliche Kleider und Mienen von Glückspilzen anlegen.«

Klim gab spöttisch Kutusows Ausspruch über die Macht der Wissenschaft wieder. Die Nechajew zuckte die Achseln und bemerkte beinahe zornig:

»Schwerlich werden Leute wie er deshalb besser leben, weil überall das blutlose Feuer des elektrischen Lichts aufflammen wird.«

Klim, der etwas mehr trank als gewöhnlich, hielt sich ungezwungener und sprach kühner.

»Ich verstehe wohl, das Leben ist maßlos schwer. Aber Kutusow gedenkt nicht, es zu vereinfachen, sondern zu verstümmeln.«

Er spielte mit dem Papiermesser, einer kapriziös geschweiften Bronzeplastik, die in den vergoldeten Kopf eines bärtigen Satyrs statt in einen Griff auslief. Das Messer entglitt seinen Händen und fiel vor die Füße des Mädchens. Als Klim sich bückte, um es aufzuheben, geriet er auf seinem Stuhl ins Schwanken, suchte nach einem Halt und ergriff dabei die Hand der Nechajew. Das Mädchen riß sich los und Klim, seiner Stütze beraubt, fiel auf die Knie. An das Weitere erinnerte er sich nur dunkel, er entsann sich nur zweier heißer Hände auf seinen Wangen, eines trockenen hastigen Kusses auf seine Lippen und eiligen Flüsterns:

»Ja, ja ... Oh Gott!«

Dann, mehr Verwunderung als Vergnügen empfindend, hörte er, wie die Nechajew, die neben ihm lag, gepreßt schluchzte und gleichzeitig heiß flüsterte:

»Lieben ... lieben ... Das Leben ist so schrecklich. Es ist ein Grauen ohne Liebe.«

Klim hob ihren Kopf hoch, bettete ihn an seine Brust und drückte ihn mit seiner Hand fest an sich. Er wollte ihre Augen nicht sehen, es war so peinlich, und ihn beengte das Bewußtsein der Schuld gegen diesen seltsam heißen Körper. Sie lag auf der Seite, ihre kleinen, dünnen Brüste hingen unschön nach einer Seite herab.

»Lieber«, flüsterte sie, und warme Tränentröpfchen kitzelten die Haut seiner Brust. »So lieb und einfach wie der Tag. So schrecklich, so teuer.«

Er schwieg und streichelte ihren Kopf. Durch die Seite des Wandschirmes, die mit silbernen Vögeln bestickt war, sah er auf den orangeroten Fleck der Lampe, während er unruhig überlegte, was nun sein würde. Würde sie wirklich in Petersburg bleiben, nicht zur Kur fahren? Er hatte dies doch gar nicht gewollt, ihre Zärtlichkeiten nicht gesucht. Er hatte nur Mitleid mit ihr gehabt.

Doch während er so dachte, empfand er gleichzeitig Stolz auf sich: unter allen Männern, die sie kannte, hatte sie gerade ihn erwählt. Diesen Stolz steigerten ihre neugierigen Liebkosungen und in ihrer Naivität schamlosen Worte.

»Ich weiß, ich bin häßlich, aber ich möchte so gern lieben. Ich habe mich darauf vorbereitet, wie eine Gläubige auf das Abendmahl. Und ich verstehe zu lieben, nicht wahr, ich verstehe es?«

»Ja«, sagte Klim sehr aufrichtig. »Du bist wunderbar. Aber trotzdem, es ist dir schädlich, und du solltest reisen ...«

Sie hörte nicht. Über sein Gesicht gebeugt, blickte sie in seine verlegenen Augen mit den ihren, aus denen immerfort Tränen fielen, klein und heiß, und flüsterte, von erstickendem Husten unterbrochen:

»Lieber! Verurteilter!«

Ihre Tränen erschienen unpassend. Worüber hatte sie zu weinen? Er hatte sie ja nicht beleidigt, ihre Liebe nicht verschmäht. Das Klim unverständliche Gefühl, welches ihre Tränen auslöste, schreckte ihn. Er küßte die Nechajew auf die Lippen, damit sie schwieg, und verglich sie unwillkürlich mit Margarita; die war schöner und ermüdete nur körperlich. Diese aber flüsterte:

»Denk nur: die Hälfte aller Frauen und Männer auf dem Erdball lieben sich in dieser Minute wie du und ich. Hunderttausende werden zur Liebe geboren, Hunderttausende sterben liebessatt! Lieber, Unverhoffter!«

Ihre Worte waren überflüssig und vielleicht sogar unwahrhaftig.

»Unverhoffter? Wirklich?«

Der orangefarbige Fleck auf dem Schirm erinnerte an die Abendsonne, wenn sie sich eigensinnig sträubt, hinter den Wolken zu verschwinden. Die Zeit schien anzuhalten in einer Unschlüssigkeit, die der Langenweile glich.

»Wir bringen uns gehorsam und leidenschaftlich dem schrecklichen Mysterium, das uns erschaffen hat, zum Opfer.«

Klim umschlang sie und schloß den heißen Mund des Mädchens fest mit einem Kuß. Dann schlief sie plötzlich ein, mit qualermattet hochgezogenen Brauen und geöffnetem Mund, ihr mageres kleines Gesicht nahm einen Ausdruck an, als sei sie stumm geworden, wolle schreien und könne nicht. Klim stand vorsichtig auf und kleidete sich an

Er verließ sie sehr spät. Der Mond schien in jener entschiedenen Klarheit, die vieles auf Erden als Unnötiges entblößt. Gläsern knirschte der trockene Schnee unter den Füßen. Die ungeheuren Häuser sahen einander mit den Augäpfeln der eingefrorenen Fenster an. Vor den Toren die schwarzen Leiber der Wächter. Im leeren Raum des Himmels ein paar verspätete und nicht sehr helle Sterne. Alles klar.

Physisch ermattet, schlenderte Klim dahin. Er fühlte, wie die helle Kälte der Nacht die unklaren Gedanken und Regungen in ihm abfror. Er trällerte sogar zu der Melodie einer Operette:

»War denn ein Junge da? Vielleicht war gar kein Junge da?«

Er rieb sich die klammen Hände und seufzte erleichtert auf. Also spielte die Nechajew nur die von Pessimismus Angesteckte, spielte sie nur, um sich in ein besonderes Licht zu stellen und so die Männer anzulocken. So machen es die Weibchen gewisser Insekten. Klim Samgin fühlte, wie in seine Entdeckerfreude sich Wut auf jemand mischte. Es war schwer zu bestimmen, ob auf die Nechajew oder auf sich Oder auf jenes Unfaßbare, das ihm nicht gönnte, einen Stützpunkt zu finden.

Dann fiel ihm ein, daß in seiner Tasche ein Brief von seiner Mutter lag, den er im Laufe des Tages erhalten hatte. Ein wortkarger Brief, geschrieben mit algebraischer Genauigkeit, der ihn wissen ließ, daß gebildete Menschen die Pflicht hatten, zu arbeiten, und daß sie in der Stadt eine Musikschule eröffnen wolle, während Warawka Bürgermeister zu werden beabsichtige.

Lida würde die Tochter eines Bürgermeisters sein. Möglich, daß er ihr mit der Zeit die Geschichte seines Romans mit der Nechajew anvertrauen würde. Darüber sprach man am besten in komischem Ton.

Er zwang sich, noch weiter an die Nechajew zu denken, aber dies geschah bereits mit Wohlwollen. In dem, was sie getan hatte, lag im Grunde nichts Befremdliches. Jedes Mädchen will Weib werden. Die Nägel an ihren Zehen waren schlecht gepflegt, und sie hatte ihm anscheinend die Haut der Kniekehle heftig zerkratzt. Klim schritt immer fester und rascher aus. Es dämmerte. Der Himmel färbte sich im Osten grün und wurde noch frostiger. Klim Samgin schnitt eine Grimasse: es war unangenehm, frühmorgens nach Hause zu kommen. Das Stubenmädchen würde natürlich ausplaudern, daß er nachts fortgewesen war.

Er erwachte in frischer Laune. Das unerwartete Liebesabenteuer erhob ihn und bekräftigte seinen Verdacht, daß, wovon die Menschen immer reden mochten, hinter den Worten eines jeden etwas ganz Einfaches steckte, wie sich das bei der Nechajew herausgestellt hatte. Klim verspürte kein Verlangen, am Abend zu ihr zu gehen, aber er begriff, daß sie, wenn er nicht hinging, selbst erscheinen und ihn vielleicht in irgendeiner Weise in den Augen seines Bruders, seiner Hausgenossen und Marinas bloßstellen könnte.

Aus irgendeinem Grunde war ihm besonders unerwünscht, daß Marina von seinem Verhältnis mit der Nechajew erfuhr, doch hatte er nichts dagegen, daß die Spiwak es wußte.

Während er im Bett lag, gedachte Klim besorgt der hungrigen, gierigen Liebkosungen der Nechajew, und ihm schien, daß sie etwas Krankhaftes, etwas, das an Verzweiflung streifte, hatten. Sie hatte sich heftig an ihn gedrückt, als wollte sie in ihm verschwinden. Doch war an ihr auch etwas kindlich Zärtliches, für Augenblicke erregte sie auch seine Zärtlichkeit.

»Man muß hingehen«, entschied er, und am Abend ging er. Dem Bruder sagte er, daß er in den Zirkus wolle.

Im Zimmer der Nechajew, am Tisch, stand ein rundes Mütterchen, das wie ein Wollknäuel aussah. Geräuschlos nahm es Gegenstände und Bücher in die Hand und stäubte sie mit einem Lappen ab. Bevor es eine Sache anfaßte, nickte es höflich, und dann wischte es sie so behutsam ab, als wäre die Vase oder das Buch lebendig und zerbrechlich wie ein Kücken. Als Klim eintrat, zischte sie ihn an:

»Pst! Sie schläft!«

Klim trat in den gelblichen Nebel hinter dem Schirm, nur von einer Sorge erfüllt: vor der Nechajew zu verbergen, daß sie enträtselt war. Doch gleich fühlte er, daß ihm Schläfen und Stirn gefroren. Die Decke war so glatt über das Bett gespannt, daß es schien, als läge kein Körper darunter, sondern nur der Kopf auf einem Kissen allein für sich, und die Augen unter der grauen, flachen Stirn glänzten unnatürlich.

»Mache!« sagte er sich, aber dieses Wort fiel ihm nicht gleich ein.

»Ich habe sechsunddreißig sechs«, vernahm er eine leise und schuldbewußte Stimme. Setzen Sie sich. Ich bin so froh. Tante Taßja, Sie kochen Tee, ja?«

»Sehr wohl«, antwortete man ihr mit dem piepsenden Stimmchen eines Spielzeugs.

Die Nechajew befreite einen nackten Arm aus der Plüschdecke und wickelte sich mit dem anderen von neuem bis ans Kinn hinein. Ihre Hand war feuchtheiß und unangenehm leicht. Klim zuckte zusammen, als er sie drückte. Aber ihr Gesicht, das, vom aufgelösten Haar umschattet, rosig erglüht war, erschien Klim mit einemmal auf neue Weise lieblich, und ihre brennenden Augen riefen in ihm sowohl Stolz wie Trauer hervor. Hinter dem Wandschirm raschelte und schwebte eine dunkle Wolke, die den orangefarbenen Fleck des Lampenlichts zudeckte. Das Gesicht des Mädchens veränderte sich, flammte auf und erlosch.

An diesem Abend trug die Nechajew keine Gedichte vor, zählte nicht Namen von Dichtern auf, redete nicht über ihre Furcht vor dem Leben und dem Tode, In Worten, derengleichen Klim noch nie vernommen, nie gelesen hatte, sprach sie von nichts als Liebe. Sie lächelte, spielte mit seinen Fingern, sog gierig die Luft ein und hauchte diese sonderbaren Worte, und Klim, der nicht an ihrer Wahrhaftigkeit zweifelte, dachte, daß nicht jeder sich rühmen konnte, eine solche Liebe geweckt zu haben. Zugleich war sie so kindlich rührend, daß auch er ehrlich gegen sie sein wollte. In ihren Worten empfand er soviel trunkenes Glück, daß sie auch ihn berauschten und in ihm das Verlangen erregten, ihren unsichtbaren Körper zu umarmen und zu küssen. Ihn durchschoß ein seltsamer Gedanke: man konnte sie kneifen, beißen, auf jede Weise quälen, und sie würde alles als Liebkosung empfangen.

Sie fragte im Flüsterton:

»Ich gefalle dir doch? Du liebst mich ein wenig?«

»Ja«, entgegnete Klim und glaubte, daß er nicht lüge. »Ja!«

Er blickte in die geweiteten Pupillen ihrer halbwahnsinnigen Augen, und sie enthüllten ihm in ihrer Tiefe ein Geheimnis, an das er unwillkürlich denken mußte.

»Das also ist Liebe?«

Und sogleich sah er Lidas Augen, den stummen Blick der Spiwak. Dunkel erkannte er, daß wahre Liebe ihn die Liebe lehrte und daß dies wichtig für ihn war. Ohne daß er es bemerkt hätte, fühlte er an diesem Abend, daß dieses Mädchen ihm nützlich war: mit ihr allein, empfand er eine Folge der mannigfaltigsten, ihm sonst fremden Regungen und wurde sich selbst interessanter. Er verstellte sich nicht, schmückte sich nicht mit fremden Redensarten, und die Nechajew feierte ihn:

»Um wieviel aristokratischer bist du mit deiner Beherrschtheit als die anderen! Es ist so wohltuend zu sehen, daß du deine Gedanken und dein Wissen nicht so sinnlos verschleuderst, wie alle es tun, um sich ein Ansehen zu geben! Du hast Ehrfurcht vor den Mysterien deiner Seele, das findet man so selten! Ich ertrage nicht Menschen, die schreien wie Blinde, die sich im Walde verirrt haben. ›Ich! Ich!‹ schreien sie.«

Klim billigte:

»Ja, wovon immer sie schreien mögen, am Ende schreien sie nur von ihrem Ich.«

»Weil ihr Ich keine Farbe hat und sie es nicht sehen«, spann sie seinen Gedanken weiter.

An der Nechajew war von besonderem Wert, daß sie es verstand, von ferne und von oben herab auf die Menschen zu sehen. In ihrer Darstellung wurden sogar diejenigen unter ihnen, von denen man voller Achtung sprach und voll des Lobes schrieb, klein und unbedeutend gegenüber dem Mystischen, das sie empfand. Dieses Mystische regte Klim nicht allzusehr auf, aber es war ihm ein Labsal, daß das Mädchen, indem es die Großen von ihrer Höhe herunterzog, ihm das Bewußtsein seiner Gleichheit mit ihnen einflößte.

Seitdem besuchte er sie, jeden Abend, sättigte sich mit ihren Reden und fühlte sich wachsen. Ihr Liebesverhältnis wurde natürlich bemerkt, und Klim sah, daß es ihn vorteilhaft herausstrich. Jelisaweta Spiwak musterte ihn neugierig und gleichsam ermutigend. Marina sprach mit ihm noch freundschaftlicher. Sein Bruder schien ihn zu beneiden. Dmitri war aus irgendeinem Grunde finsterer und verschlossener geworden und sah auf Marina mit einem beleidigten Blinzeln.

Klim fühlte in sich lebhafte und heitere Herablassung gegen alles, ein Jucken, Kutusow auf die Schulter zu klopfen, der mit gleichbleibender Ausdauer die Notwendigkeit, Marx zu studieren, und die Schönheit Mussorgskis predigte. Er fiel über den stummen und stillen Spiwak her, der stets am Flügel saß, und sagte:

»Die schwächste Oper von Rimski-Korsakow ist talentvoller als die beste Oper von Verdi.«

»Schreien Sie mir nicht ins Ohr«, bat Spiwak.

Im Hause war es ein wenig langweilig. Man sang immer die gleichen Romanzen, Duette und Trios. Kutusow zankte immer in der gleichen Weise mit Marina, weil sie detonierte, und ebenso stritten er und Dmitri mit Turobojew und erregten in Klim den Wunsch, ihnen herausfordernd etwas Ironisches zuzurufen.

Die Nechajew hatte ihr Bett verlassen. Die hektischen Flecke auf ihren Wangen brannten noch greller. Unter ihren Augen lagen Schatten, die ihren Backenknochen eine noch ausgeprägtere Schärfe und ihrem Blick einen beinahe unerträglichen Glanz verliehen. Marina begrüßte sie mit zornigem Geschrei:

»Du bist verrückt geworden! Paßt denn dein Arzt nicht auf? Das ist doch Selbstmord!«

Die Nechajew lächelte ihr zu, leckte sich die trocknen Lippen, kuschelte sich in die Sofaecke, und bald ertönte von dorther ausdauernd ihr Stimmchen, mit dem sie Dmitri Samgin lehrhaft versicherte:

»Die Neigung des Gelehrten, Naturerscheinungen zu analysieren, gleicht dem Mutwillen des Kindes, das sein Spielzeug zerbricht, um nachzusehen, was darin ist.«

»Ist das nicht etwas banal, Fräuleinchen?« fragte aus der Entfernung Kutusow, er zupfte sich den Bart und runzelte die Brauen. Sie antwortete ihm nicht. Diese Aufgabe übernahm Turobojew, der träge sagte:

»Im Innern zeigt sich dann gewöhnlich entweder Unerforschliches oder irgendein Plunder, wie der Kampf ums Dasein ...«

Die Nechajew blieb eine oder einundeinehalbe Stunde und brach dann auf. Klim pflegte sie zu begleiten, nicht immer gern.

Sie liebte es, ihn mit Büchern und Reproduktionen moderner Bilder zu erfreuen, schenkte ihm eine Schreibmappe, in deren Leder ein Faun gepreßt war, und ein Tintenfaß von unglaublich bizarrer Form. Sie hatte eine Menge komischer Züge, kleine Abergläubigkeiten, deren sie sich schämte, wie übrigens auch ihres Glaubens an Gott. Als sie und Klim einmal die Ostermesse in der Kasaner Kathedrale hörten und man das »Christ ist erstanden« sang, erbebte sie, wankte und brach in leises Schluchzen aus.

Später, auf der Straße, unter einem schwarzen Himmel und in einem kalten Wind, der wütend den trocknen Schnee aufwirbelte und den dünnen Klang der Glocken zerriß und über die Stadt hin verstreute, sagte sie hustend und schuldbewußt:

»Es war komisch, daß ich weinte? Aber mich erschüttert das Geniale, und die russische Kirchenmusik ist genial ...«

Dunkle, winzige Gestalten rissen sich aus den steinernen Umarmungen der Kathedrale los und liefen nach allen Richtungen auseinander. Die Lichter der nicht sehr prunkvollen Illumination ließen sie dunkler als sonst erscheinen. Nur unterhalb der Bekleidung der Frauen blickten Streifen lichter Stoffe hervor.

Klim dachte, während er ihr zuhörte, daran, daß die Provinz feierlicher und freudevoller war als diese kalte Stadt, die zweimal pedantisch und trist der Länge nach zerschnitten war: von dem unter Granitmassen erdrückten Fluß und dem endlosen Kanal des Newskiprospekt, der gleichfalls durch Felsen hindurchgehauen schien. Gleich lebendig gewordenen Steinen bewegten die Menschen sich über den Prospekt, rollten Equipagen, mit automatenhaften Pferden bespannt, dahin. Der kupferne Ton sang zwischen den Steinmauern nicht so wohllautend wie in der holzgebauten Provinz.

Die Nechajew, die an Klims Arm hing, sprach von der düsteren Poesie der Totenliturgie und ließ ihren Gefährten unmutig an das Märchen von dem Dummen denken, der auf einer Hochzeit Totenlieder sang. Sie gingen gegen den Wind. Das Sprechen fiel ihr schwer. Sie keuchte. Klim sagte streng im Ton des Älteren:

»Schweig, mach den Mund zu und atme durch die Nase.«

Doch als sie einen Wagen genommen hatten und zu den Premirows fuhren, begann sie von neuem, hinter dem vorgehaltenen Muff, zu reden:

»Für dich ist das alles natürlich Vorurteil, aber ich liebe die Poesie der Vorurteile. Irgend jemand hat gesagt: ›Vorurteile sind Bruchstücke alter Wahrheiten.‹ Das ist sehr geistreich. Ich glaube daran, daß die alten Wahrheiten in höherer Schönheit auferstehen werden.«

Klim verhielt sich schweigend. Er merkte, daß dieses Mädchen Lust bekam, seinen Widerspruch herauszufordern, ihm zu opponieren. Es war nicht das erstemal, daß er diese Beobachtung machte, und er verheimlichte nur mit Mühe vor der Nechajew, daß sie ihn ermüdete. Ihre hysterischen Liebkosungen wurden einförmige Gewohnheit, ihre Ausdrücke wiederholten sich. Immer häufiger irritierten ihn ihre sonderbaren Anfälle von fragender Schweigsamkeit. Es war beklemmend, mit einem Menschen zusammen zu sein, der einen stumm beobachtete, als suche er etwas in einem zu erraten. Der trockene Husten der Nechajew erinnerte ihn daran, daß die Schwindsucht eine ansteckende Krankheit war.

Das Eßzimmer der Premirows war hell erleuchtet. Auf dem blumengeschmückten Tisch funkelte das Glas zahlreicher Flaschen, Pokale und Gläser, blitzte der Stahl der Messer. In den breiten blauen Rändern des Fayenceservices spiegelte sich angenehm das Lampenlicht und beleuchtete grell einen Berg buntgefärbter Eier. Quer über die Mitte des Tisches, auf einer Platte, wälzte sich im Schaum des sauren Rahms und geriebenen Meerrettichs ein heiter lächelndes Ferkel, von drei Seiten flankiert von einer gebratenen Gans, einem Truthahn und einem gekochten Schinken.

»Bitte zu Tisch«, verkündete das Mütterchen Premirow, ganz in Seide und mit einem Spitzenkopfputz im grauen Haar. Sie setzte sich als erste und rühmte bescheiden:

»Bei mir ist alles nach altem Brauch.«

Neben ihr saß Marina in einem pompösen fliederfarbenen Kleid mit Puffärmeln und unzähligen Falten und Garnierungen, die ihren gewaltigen Körper noch ausdehnten. Auf ihrem Herzen war gleich einem Orden eine kleine emaillierte Uhr angesteckt. Zur anderen Seite der alten Dame saß Dmitri Samgin, Er trug einen weißen Kittel und war so frisiert, daß er Ähnlichkeit mit einem Kommis aus einem Mehlgeschäft hatte. Der Stutzer Turobojew bekam seinen Platz weit von Klim entfernt am anderen Ende des Tisches zugewiesen, Kutusow zwischen Marina und der Spiwak. Er saß, mit krumm hochgezogenen Schultern in einem abgetragenen und engen Gehrock da, der nicht zu seiner breiten Figur paßte. Sogleich sagte er zu Marina:

»Sie sehen aus wie ein ›Widder‹.«

»Was ist denn das?« fragte sie zornig.

Kutusow erläuterte liebenswürdig:

»Das ist ein Rammbock, der im Altertum bei der Belagerung einer Stadt verwendet wurde.«

Marina regte ihre starken Brauen, dachte nach, erinnerte sich an etwas und errötete:

»Sie sind sehr grob.«

Dmitri Samgin stieß mit dem Löffel auf die Tischkante und öffnete den Mund, sagte jedoch nichts, sondern schmatzte nur mit den Lippen, während Kutusow der Spiwak schmunzelnd etwas ins Ohr flüsterte. Sie trug Hellblau, ohne alberne Ballons an den Schultern, und dieses glatte, schmucklose Kleid, das glatt zurückgekämmte kastanienbraune Haar betonten den Ernst ihres Gesichts und den unfreundlichen Glanz ihrer kalten Augen. Klim bemerkte, daß Turobojew seine Lippen zu einem schiefen Lächeln verzog, als sie Kutusow zustimmend zunickte.

Die Nechajew, in einem weißen Kinderkleidchen, das niemand mehr trug, rümpfte die Nase, während sie auf die Fülle der Speisen blickte, und hustete diskret in ihr Tüchlein. Etwas an ihr erinnerte an eine arme Verwandte, die nur aus Gnade eingeladen ist. Dies verstimmte Klim: seine Geliebte sollte leuchtender, aufsehenerregender sein. Sie aß auch womöglich mit noch größerem Widerwillen, als sie sonst zeigte. Man konnte glauben, daß sie es demonstrativ tat. Man sprach den Speisen mit Eifer zu, war bald satt, und nun begann eine jener zusammenhanglosen Unterhaltungen, die Klim von seiner Kindheit her kannte. Jemand klagte über Kälte und sogleich, zu Klims Erstaunen, lobte die schweigsame Spiwak überschwenglich den Kaukasus. Turobojew hörte ihr ein paar Minuten zu, gähnte und sagte mit betonter Faulheit:

»Und das interessanteste am ganzen Kaukasus ist das tragische Gebrüll der Esel. Augenscheinlich verstehen nur sie allein das Unsinnige dieser Anhäufung von Felsen, Schluchten und Gletschern, dieser ganzen vielgepriesenen Herrlichkeit der Gebirgslandschaft.«

Er zog beim Sprechen nervös an seiner Zigarette und blickte, während er den Rauch durch die Nase blies, auf ihr Ende. Die Spiwak reagierte nicht. Das Mütterchen Premirow seufzte und sagte:

»Im Kaukasus ist mein Vater ermordet worden.«

Auch sie blieb ohne Antwort, da fügte sie eilig hinzu:

»Er ähnelte Lermontow.«

Doch auch diese Worte wurden überhört. An alles gewöhnt, wischte die Alte mit ihrer Serviette den silbernen Becher, aus dem sie Wein zu trinken pflegte, aus, bekreuzigte sich und verschwand ohne ein Wort.

Klim, der wußte, daß Turobojew in die Spiwak verliebt, und nicht ohne Glück verliebt war – wenn man die drei Klopfzeichen gegen die Zimmerdecke seines Bruders in Anschlag brachte – wunderte sich. In das Verhältnis Turobojews zu dieser Frau hatte sich etwas Spöttisches, Aufreizendes gemischt. Turobojew lachte ihre Urteile aus und schien überhaupt ungern zu sehen, daß sie mit anderen sprach.

»Sie haben sich gewiß gezankt«, konstatierte Klim, angenehm berührt.

Er spürte ein leichtes Sausen im Kopf und zugleich den Wunsch, sich bemerkbar zu machen. Ais Zuhörer und Betrachter durchquerte er das Zimmer und entdeckte an allen etwas Ergötzliches: Marina zum Beispiel sagte soeben einem blonden Jüngling, während sie ihn fast an die Wand preßte:

»Sie sollten Prosa schreiben, Prosa bringt mehr ein und macht rascher berühmt.«

»Aber wenn ich nun einmal Lyriker bin?« fragte erstaunt der Jüngling und rieb sich die Stirn.

»Reiben Sie nicht die Stirn, davon werden Ihre Augen so rot«, verwies ihn Marina.

Turobojew erklärte einem hochgewachsenen Mann mit jüdischen Zügen:

»Nein, mich lockt es nicht, Geschichte zu machen. Mich befriedigt vollkommen Professor Kljutschewski, er macht vorzüglich Geschichte. Man sagte mir, er ähnele äußerlich dem Zaren Wassili Schuiski. Geschichte schreibt er, wie dieser sie geschrieben haben würde.«

Seine Worte wurden übertönt von Dmitris zorniger Stimme:

»Keine Neuigkeit. Die Parallele zwischen Dionysos und Christus ist längst gezogen worden.«

Kapriziös wie stets erklang das Stimmchen der Nechajew: »In Rußland kennt man den Lyrismus und das Pathos der Zerstörung.«

»Sie, mein Fräulein, kennen Rußland schlecht.«

»Liebe von Schnee und Barmherzigkeit von Eis.«

»Oho! Was für Worte!«

»Ausgetüftelte Seelen!«

Die Nechajew schrie zu laut. Klim vermutete, daß sie mehr getrunken hatte, als ihr zuträglich war, und bemühte sich, ihr nicht zu nahe zu kommen. Die Spiwak thronte auf dem Sofa und fragte:

»Gibt es in Ihrer Stadt noch Samgins?«

»Gewiß – meine Mutter.«

»Augenscheinlich ist sie es, die meinen Mann einlädt, dort eine Musikschule ins Leben zu rufen?«

Dmitri, betrunken und rot, sagte lachend:

»Sie haben mich doch schon einmal danach gefragt.«

»Wirklich?« rief die Spiwak verwundert aus. »Ich habe ein schlechtes Gedächtnis.«

Sie erhob sich federnd vom Sofa und bewegte sich in wiegendem Gang in Marinas Zimmer, von wo das Geschrei der Nechajew drang. Klim blickte ihr lächelnd nach und ihm schien, ihre Schultern und Hüften wollten das Gewebe, das sie verhüllte, abwerfen. Sie parfümierte sich stark, und Klim fiel plötzlich ein, daß er ihr Parfüm zum erstenmal vor zwei Wochen gerochen hatte, als die Spiwak, die Romanze »Auf den Hügeln Georgiens« trällernd, an ihm vorbeiging und den erregenden Vers sprach: »Von dir, von dir allein!«

Wie, wenn sie den Vers so gesungen hatte, daß ein Mann gemeint wäre?

Er ging rasch in Marinas Zimmer, wo Kutusow, mit zurückgeschlagenen Rockschößen, die Hände in den Taschen, wie ein Monument inmitten des Zimmers ragte und mit hochgezogenen Brauen Turobojew zuhörte. Zum erstenmal sprach Turobojew ohne die üblichen Grimassen und das ironische Lächeln, die sein schönes Gesicht entstellten.

»Es ist vollkommen klar, daß die Kultur zugrunde geht, weil die Menschen sich daran gewöhnt haben, auf Kosten fremder Kräfte zu leben, und diese Gewohnheit alle Klassen, alle Beziehungen und alle Handlungen der Menschen erfaßt hat. Ich weiß wohl: diese Gewohnheit entsprang dem Wunsch des Menschen, sich die Arbeit zu erleichtern, aber sie ist ihm zur zweiten Natur geworden und hat bereits nicht nur abstoßende Formen angenommen, sondern untergräbt auch in der Wurzel den tiefen Sinn der Arbeit, ihre Poesie.«

Kutusow lächelte freundschaftlich:

»Ein Idealist sind Sie, Turobojew. Und ein Romantiker obendrein, und das ist nun schon gar nicht zeitgemäß.«

Marina zerrte wütend an der Schnur der Fensterklappe. Die Spiwak näherte sich ihr, um ihr zu helfen, doch Marina hatte die Schnur abgerissen und auf den Fußboden geworfen.

»Männer raus!« kommandierte sie. »Serafima, du schläfst bei mir. Alle sind betrunken, begleiten kann dich niemand.«

»Ich bin nicht betrunken«, erklärte Klim.

Die Spiwak war auf einen Stuhl geklettert und bemühte sich hartnäckig, die Luftklappe zu öffnen. Kutusow trat zu ihr, hob sie wie ein Kind vom Stuhl, stellte sie auf den Boden, öffnete sodann die Klappe und sagte:

»Gehen wir zu Samgin senior. Gehen wir, Tante Lisa?«

Man ging. Im Eßzimmer ließ Turobojew mit dem Griff eines Taschenspielers eine Flasche Wein vom Tisch verschwinden, doch die Spiwak nahm sie ihm ab und stellte sie auf den Fußboden. Klim fühlte sich jäh von einer schlimmen Frage verbrannt: weshalb warf das Leben ihm nur solche Frauen vor die Füße, wie die käufliche Margarita oder die Nechajew? Er folgte als letzter ins Zimmer seines Bruders und mischte sich nach einigen Minuten in das ruhige Gespräch Kutusows und Turobojews. Hastig gab er von sich, was ihn seit langem auszusprechen drängte:

»Seit meiner Kindheit höre ich Reden über das Volk, über die Notwendigkeit der Revolution, über alles, was die Leute sagen, um vor den anderen klüger zu erscheinen, als sie sind. Wer ... wer redet so? Die Intelligenz.«

Klim erkannte dunkel, daß er einen allzu herausfordernden Ton angeschlagen hatte und daß die Worte, die ihm längst teuer geworden waren, ihm nur mit Mühe einfielen und nur schwer von der Zunge wollten. Er verstummte einen Augenblick und musterte die Anwesenden. Die Spiwak zerfloß als blauer Fleck an der dunklen Fensterscheibe. Der Bruder stand am Tisch, hielt sich ein Zeitungsblatt vor die Augen und blickte über es hinweg trübe auf Kutusow, der ihm spöttisch lachend etwas sagte.

»Sie hören mir gar nicht zu«, konstatierte Klim und geriet in Wut.

Turobojew saß vornübergebeugt in einer Ecke, rauchte und ließ aus seiner Zigarette Ringe in die Mitte des Zimmers steigen. Er sagte leise:

»Ihr Onkel, wie ich hörte ...«

Klim schrie:

»Was wollen Sie sagen? Mein Onkel ist genau so ein Zersetzungsprodukt der oberen Gesellschaftsschichten wie Sie selbst, wie die ganze Intelligenz. Sie findet für sich keinen Platz im Leben und darum ...«

Turobojew sagte von seinem Winkel her:

»Sie sind anscheinend Marxist geworden, Samgin, aber ich glaube nur deshalb, weil Sie bei Tisch unvorsichtigerweise weißen Wein mit rotem gemischt haben.«

Dmitri lachte geräuschvoll. Kutusow sagte ihm:

»Stör' nicht!«

Klim wollte, daß man mit ihm stritt. Noch herausfordernder sagte er mit Warawkas Worten:

»Das Volk selbst macht niemals Revolution. Es sind die Führer, die es vorantreiben. Für eine Weile unterwirft es sich ihnen, um sich sehr bald den Ideen, die ihm von außen aufgezwungen worden sind, zu widersetzen. Das Volk weiß und fühlt, daß das einzige Gesetz, das für es Gültigkeit besitzt, die Evolution ist. Die Führer suchen auf jede Weise gegen dieses Gesetz zu verstoßen. Das ist es, was die Geschichte lehrt ...«

»Eine kuriose Geschichte«, sagte Turobojew.

»Und eine alte«, fügte Kutusow hinzu und stand auf. »Na, für mich ist es Zeit zu gehen.«

Alle Gedanken Klims brachen auf einmal ab, die Worte versanken. Ihm schien, daß die Spiwak, Kutusow und Turobojew wuchsen und aufschwollen, nur sein Bruder blieb der gleiche. Er stand mitten im Zimmer, hielt sich die Ohren zu und schwankte.

»Sie haben eine unangenehme Art, das linke Bein vorzusetzen, wenn Sie stehen. Das bedeutet, daß Sie glauben, bereits ein Führer zu sein, und an Ihr Denkmal denken.«

»Um in Schnee und Regen zu stehen«, murmelte Dmitri und faßte den Bruder um die Taille, Klim stieß ihn mit einer Bewegung seiner Schulter zurück und fuhr in kreischendem Ton fort:

»Ihre Lehre, Kutusow, gibt Ihnen keinen Anspruch auf die Rolle eines Führers. Marx läßt das nicht zu, die Massen sind es, die die Geschichte machen. Leo Tolstoi hat diese irrige Idee verständlicher und einfacher entwickelt. Lesen Sie nur ›Krieg und Frieden‹!«

Klim Samgin stieß wieder den Bruder zurück.

»Lesen Sie es! Übrigens, Ihr Name ist der gleiche wie der des Heerführers, den seine Armee befehligte!«

Überzeugt davon, mit dieser Wendung etwas Boshaftes und Geistreiches gesagt zu haben, brach Klim in Lachen aus und schloß die Augen. Als er sie öffnete, war niemand im Zimmer außer dem Bruder, der aus einer Karaffe Wasser in ein Glas goß.

Weiter erinnerte sich Klim an nichts mehr.

Er erwachte mit schwerem Kopf und der trüben Erinnerung an einen Fehler, an eine Unvorsichtigkeit, die er gestern begangen hatte. Das Zimmer füllte das unangenehm zerstreute, weißliche Licht der Sonne, die in der farblosen Leere jenseits des Fensters versteckt war. Dmitri kam. Sein nasses, glatt gescheiteltes Haar schien mit Öl eingerieben zu sein und legte unschön die rötlichen Augen und das weibische, etwas geschwollene Gesicht frei. Schon an seinem tristen Aussehen merkte Klim, daß er sogleich Schlimmes zu hören bekommen würde.

»Was fiel dir eigentlich ein, gestern?« begann der Bruder, wobei er die Augen senkte und seine Hosenträger verkürzte. »Da hast du nun solange geschwiegen ...; Man hielt dich für einen ernsthaft denkenden Menschen und plötzlich läßt du so was Kindisches vom Stapel. Man weiß nicht, wie man dich verstehen soll. Natürlich, du hattest getrunken, aber man sagt doch: ›Was der Nüchterne im Sinn hat, liegt dem Betrunkenen auf der Zunge‹.«

Dmitri sprach nachdenklich und mit Überwindung. Nachdem er mit seinen Hosenträgern zurechtgekommen war, setzte er sich auf einen knarrenden Stuhl.

»Es kam so heraus, weißt du, als sei in ein Orchester ein Fremder gesprungen und habe, aus reinem Schabernack, etwas ganz anderes geflötet, als die anderen spielten.«

»Welch ein stumpfer, schwachköpfiger Mensch«, dachte Klim. »Ganz Tanja Kulikow.«

Und fing plötzlich an zu reden:

»Nun, genug! Du bist nicht mein Erzieher! Du solltest dich lieber der albernen Versuche zu kalauern enthalten. Es ist beschämend, statt Hosenträger Rosenträger und statt Druckfehler Druckwähler zu sagen. Noch weniger geistreich ist es, den Bottnischen Meerbusen einen Botanischen und das Adriatische Meer idiotisches Meer zu nennen ...;«

Er erhitzte sich und sagte seinem Bruder auch das, wovon er mit ihm nicht hatte sprechen wollen: eines Nachts, als er aus dem Theater heimkam und leise die Treppe hinaufstieg, hörte er über sich auf dem Vorplatz die gedämpften Stimmen Kutusows und Marinas.

»Wann wirst du es endlich Samgin sagen?«

»Mir fehlt der Mut ... und er tut mir leid, er ist so ...;« »Ich bin auch so ...«

Saftig knallte ein Kuß. Marina sagte ziemlich laut:

»Wag es nicht!«

Kutusow blökte etwas, und Klim stieg geräuschlos die Treppe hinunter, um dann von neuem hinaufzusteigen, nun aber eilig und mit festem Tritt. Als er den Vorplatz erreichte, war niemand mehr dort. Er wünschte heftig, seinem Bruder unverzüglich dieses Zwiegespräch mitzuteilen, nach einigem Nachdenken entschied er jedoch, daß es noch verfrüht sei: der Roman versprach interessant zu werden, seine Helden waren alle so fleischlich, animalisch. Diese körperliche Fleischlichkeit war es vor allem, die Klims Neugier erregte. Kutusow und sein Bruder würden sich wahrscheinlich erzürnen, und dies würde für den Bruder, der Kutusow allzu hörig war, heilsam sein.

Nachdem er Dmitri das erlauschte Gespräch erzählt hatte, fügte er, um ihn zu reizen, hinzu:

»Natürlich wird sie ihn dir vorziehen.«

Während des Sprechens sah er zur Decke hinauf und merkte nicht, was Dmitri tat. Zwei schwere klatschende Schläge ließen ihn zusammenzucken und im Bett hochfahren. Der Bruder klatschte sich mit einem Buch auf die Handfläche, er stand in der markigen Haltung Kutusows mitten im Zimmer. Mit fremder Stimme, stotternd, sagte er:

»Solche Dinge erzählen sich Dienstboten. Das ist nur im Katzenjammer entschuldbar.«

Er schleuderte das Buch auf den Tisch und verschwand. Er ließ Klim so entmutigt zurück, daß er erst nach zwei Minuten überlegte:

»Dmitri hätte in diesem Ton nicht mit mir gesprochen. Ich bin ihm eine Erklärung schuldig.«

Er beschloß, den Bruder aufzusuchen und ihn davon zu überzeugen, daß seine Mitteilung über Marina hervorgerufen sei durch das natürliche Gefühl des Mitleids für einen Menschen, den man hinterging. Doch bis er sich gewaschen und angekleidet hatte, waren sein Bruder und Kutusow nach Kronstadt gefahren.

Jelisaweta Spiwak hatte sich erkältet und lag zu Bett, Marina, übertrieben besorgt, sprang die Treppe hinauf und hinunter, blickte häufig aus dem Fenster und fuchtelte albern mit den Armen in der Luft herum, als fange sie eine Motte, die niemand sah als sie. Als Klim den Wunsch aussprach, die Kranke zu besuchen, sagte Marina trocken:

»Ich werde fragen.«

Doch Klim war überzeugt, daß sie nicht angefragt hatte. Man bat ihn nicht nach oben. Es war langweilig. Nach dem Frühstück kam wie immer der kleine Spiwak ins Eßzimmer hinunter.

»Störe ich?« fragte er und begab sich zum Flügel. Wäre im Zimmer auch niemand gewesen, würde er, schien es, trotzdem gefragt haben, ob er nicht störe, und wenn man ihm erwidert hätte, »Gewiß, Sie stören«, würde er sich nichtsdestoweniger an den Flügel geschlichen haben.

Klim konnte ihn sich nicht anders vorstellen als am Flügel, an ihn festgeschmiedet, wie der Sträfling an seinen Karren, den er nicht vom Fleck fortbewegen kann. Er wühlte mit seinen Fingern in den zweifarbigen Gebeinen der Klaviatur, entlockte dem schwarzen Mechanismus leise Noten und sonderbare Akkorde und schien, wie er so den Kopf tief in die Schultern zog und ihn auf die Seite legte, den Tönen zuzusehen. Er redete wenig und ausschließlich über zwei Themen: mit geheimnisvoller Miene und stillem Entzücken über die chinesische Tonleiter und jammernd, mit Kümmernis, über die Unvollkommenheit des europäischen Gehörs.

»Unser Ohr ist verstopft vom Lärm der steinernen Städte und der Fuhrleute, jawohl! Wahre, reine Musik kann nur aus vollkommener Stille hervorwachsen. Beethoven war taub, aber das Ohr Wagners hörte unvergleichlich schlechter als das Beethovens, daher ist seine Musik nur ein chaotisch zusammengelesenes Material für eine Musik. Mussorgski mußte sich mit Wein betäuben, um in der Tiefe seiner Seele die Stimme seines Genius zu vernehmen, verstehen Sie?«

Klim Samgin hielt diesen Menschen für einen Schwachsinnigen. Aber nicht selten machte die kleine Figur des Musikers, über die schwarze Masse des Flügels gelehnt, ihm den unheimlichen Eindruck eines Grabmals: ein großer, schwarzer Stein, an dessen Sockel ein Mensch wortlos trauert.

Für Klim begann eine schwere Zeit. Das Verhältnis zu ihm veränderte sich schroff, und niemand machte ein Hehl daraus. Kutusow hörte auf, seine geizigen, sorgsam bedachten Redewendungen zu beachten, grüßte gleichgültig, ohne Lächeln. Sein Bruder verschwand schon in der Frühe irgendwohin, und kehrte spät abends, müde, zurück. Er magerte ab, verlor seine Redelust und lachte verlegen in sich hinein, wenn er Klim begegnete. Als Klim versuchte, sich zu erklären, sagte Dmitri leise, aber fest:

»Laß das.«

Turobojew schnitt mehr als früher Grimassen, übersah Klim und starrte auf die Zimmerdecke.

»Was sehen Sie immer nach oben?« fragte ihn die alte Premirow.

Er antwortete durch die Zähne:

»Ich warte, bis die Fliegen zum Leben erwachen.«

Die Nechajew reiste nicht ab. Klim fand, daß ihre Gesundheit sich besserte, daß sie weniger hustete und scheinbar sogar voller wurde. Dies beunruhigte ihn sehr, er hatte gehört, daß die Schwangerschaft den Verlauf der Tuberkulose nicht nur aufhalte, sondern sie manchmal sogar heile. Der Gedanke aber, daß er ein Kind von diesem Mädchen haben könne, schreckte Klim.

Sie war schweigsamer geworden und sprach nicht mehr so leidenschaftlich und farbenreich wie früher. Ihre Zärtlichkeit wurde süßlich, in ihren vergötternden Blick trat etwas Seliges. Dieser Blick weckte in Klim das Verlangen, seinen schwachsinnigen Glanz mit einem Spottwort auszulöschen. Aber er konnte den richtigen Augenblick dafür nicht erwischen. Jedesmal, wenn er im Begriff war, dem Mädchen etwas Unfreundliches oder Spitzes zu sagen, sahen die Augen der Nechajew, ihren Ausdruck sogleich ändernd, ihn fragend, forschend an.

»Worüber machst du dich lustig?« fragte sie.

»Ich mache mich nicht lustig«, leugnete Klim, zurückschreckend.

»Aber ich sehe es doch«, beharrte sie. »Du hast Schneeflocken in den Augen.«

Seine Furcht nahm noch zu, denn er erwartete, daß sie ihn gleich fragen würde, wie er über ihre weiteren Beziehungen denke.

Petersburg wurde noch fataler, weil die Nechajew dort lebte.

Der Frühling näherte sich schleppend. Zwischen den trägen Wolken, die beinahe täglich melancholisch Regen säten, erschien die Sonne nur für flüchtige Augenblicke und legte widerwillig und leidenschaftslos den Schmutz der Straßen und den Kohlenruß an den Hausmauern bloß. Vom Meer wehte ein kalter Wind, der Fluß schwoll bläulich an, die schweren Wellen leckten hungrig den Granit der Ufer. Vom Fenster seines Zimmers aus sah Klim hinter den Giebeln die drohend gen Himmel erhobenen Finger der Fabrikschornsteine, sie erinnerten ihn an die historischen Gesichte und Weissagungen Kutusows, erinnerten ihn an den Arbeiter mit den scharfen Zügen, der an Feiertagen, über die Hintertreppe, seinen Bruder Dmitri besuchte, und das ebenfalls geheimnisvolle Fräulein mit dem Gesicht einer Tatarin, die sich von Zeit zu Zeit bei seinem Bruder einfand. Das Fräulein hatte etwas Tonloses und blinzelte kurzsichtig mit ihren teerschwarzen Augen.

Zuweilen schien es, als habe der schwere Qualm der Fabrikschlote eine seltsame Eigenschaft: aufsteigend und über der Stadt zerfließend, zerfraß er sie gleichsam. Die Dächer der Häuser zerschmolzen, verschwanden nach oben schwebend und sanken von neuem aus dem Rauchmeer herab. Die gespenstische Stadt schwankte und gewann eine unheimliche Haltlosigkeit, die Klim mit einer rätselhaften Schwere erfüllte und ihn zwang, an die Slawophilen zu denken, die Petersburg, den »Bronzenen Reiter« und die krankhaften Geschichten Gogols nicht liebten.

Ihm mißfiel auch die Nadel der Peter-Paul-Festung und der von ihr durchbohrte Engel. Mißfiel ihm deshalb, weil man von dieser Festung mit respektvollem Haß sprach, aus dem jedoch zuweilen etwas wie Neid klang. Der Student Popow nannte die Festung voller Begeisterung ein »Pantheon«.

Mit dem Laut »P« ahmte er gleichsam den Schuß aus einem Spielzeugrevolver nach, während er die übrigen Laute in halbem Ton aussprach.

»B–akunin«, sagte er, die Finger einknickend. »Netsch–schajew«. F–fürst Krap–potkin.«

Es war etwas Absurdes in der granitenen Masse der Isaaks-Kathedrale, in den an ihr befestigten grauen Hölzchen und Brettchen der Gerüste, auf denen Klim niemals auch nur einen einzigen Arbeiter bemerkte. Durch die Straßen marschierten im Maschinenschritt ungewöhnlich stattliche Soldaten. Einer von ihnen, der an der Spitze schritt, pfiff durchdringend auf einer kleinen Pfeife. Ein anderer wirbelte grausam die Trommel. Im höhnischen, arglistigen Pfiff dieser Pfeife, in den vielstimmigen Sirenen der Fabriken, die am frühen Morgen den Schlaf zerrissen, hörte Klim etwas, das ihn aus der Stadt forttrieb.

Er bemerkte, daß in ihm Gedanken, Bilder, Gleichnisse keimten, die ihm nicht eigentümlich waren. Wenn er über den Schloßplatz oder an ihm vorbeiging, sah er, daß nur wenige Passanten hastig über die kahlen Flächen des Holzpflasters eilten, während er wünschte, daß der Platz erfüllt sein möge von einer bunten, lärmend-frohen Menschenmenge. Die Alexandersäule erinnerte unangenehm an einen Fabrikschlot, dem ein bronzener Engel entflogen war, welcher nun reglos in der Luft schwebte, als überlege er, wohin er seinen Kranz abwerfen solle. Der Kranz sah aus wie ein Rettungsring in der Hand eines Matrosen. Das Zarenpalais, immer stumm, mit leeren Fensterfronten, rief den Eindruck eines unbewohnten Hauses hervor. Zusammen mit dem Halbkreis langweiliger Gebäude von der Farbe des Eisenrostes, die den wüsten Platz einfaßten, erregte das Palais ein Gefühl der Trübsal. Klim fand, es wäre besser, wenn das Haus des Beherrschers Rußlands die Schrecken einflößenden Karyatiden der Eremitage stützten.

Beim Anblick dieses Platzes erinnerte Klim sich der lärmenden Universität und der Studenten seiner Fakultät, Leute, die lernten, Verbrecher anzuklagen und zu verteidigen. Sie klagten schon jetzt die Professoren, die Minister und den Zaren an. Die Selbstherrschaft des Zaren verteidigten, ungeschickt und furchtsam, recht unbedeutende Leute. Ihrer waren wenig, und sie gingen in der Menge der Ankläger unter. Klim hatte die endlosen Streitigkeiten zwischen den Volkstümlern und Marxisten satt und ihn erbitterte, daß er nicht erkennen konnte, wer von ihnen sich am gröbsten irrte. Er war unerschütterlich überzeugt, daß sich sowohl die einen wie die anderen irrten, er konnte einfach nicht anders denken, aber er wurde sich nicht recht klar darüber, welche von diesen beiden Gruppen eher das Gesetz allmählicher und friedlicher Entwicklung des Lebens anerkannte. Zuweilen hatte es den Anschein, als begriffen die Marxisten tiefer als die Volkstümler die Unerschütterlichkeit des Gesetzes der Evolution, aber er sah gleichwohl auf die einen wie auf die anderen als auf Repräsentanten des ihm geradezu verhaßten »Kutosowismus«. Es war unerträglich, diese schwatzhaften Leutchen zu sehen, denen die Dummheit ihrer Jugend das freche Gelüst einflößte, sich gegen die von Jahrhunderten geheiligte, stetige Bewegung des Lebens aufzulehnen.

Vor allem beschäftigten ihn die Meinungsverschiedenheiten über das Thema, ob die Führer den Willen der Massen lenken oder ob die Masse, die die Führer hervorbringt, sie zu ihrem Werkzeug, zu ihrem Opfer macht. Der Gedanke, daß er, Klim, Werkzeug eines fremden Willens sein könnte, schreckte und verwirrte ihn. Er erinnerte sich der Art, wie der Vater die biblische Legende von der Opferdarbietung Abrahams auslegte, und die gereizten Worte der Nechajew:

»Das Volk ist der Feind des Menschen! Das sagen Ihnen die Biographien fast aller großen Menschen.«

Klim fand, das sei richtig. Irgendein ungeheuerlicher Schlund verschlang, einen nach dem anderen, die besten Menschen der Erde und spie aus seinem Bauch die Feinde der Kultur aus, solche wie Bolotnikow, Rasin und Pugatschew.

Klim ging auch der Student Popow auf die Nerven: dieser hungrige Mensch rannte unermüdlich durch die Korridore und Hörsäle. Seine Arme zuckten krampfhaft, wie ausgerenkt, in den Schultergelenken. Auf seine Kollegen zustürzend, entriß er den Taschen seiner abgetragenen Jacke Briefe und hektographiertes Zigarettenpapier und stotterte, den Laut »s« in sich hineinziehend:

»S–amgin, hören Sie, aus Odessa schreibt man ... die S–tudentenschaft ist die Avantgarde ... die Universität der Sammelpunkt für die Organisation der kulturellen Kräfte. Die Landsmannschaften sind die Keimzellen des Allrussischen Bundes ... Aus Kasan wird gemeldet ...«

Solche Menschen wie Popow, geschäftig und aus den Gelenken gerenkt, gab es mehrere. Klim hatte gegen sie eine besonders heftige Abneigung, fürchtete sie sogar und bemerkte, daß sie nicht nur ihn, sondern alle Studenten, die ernsthaft arbeiteten, abschreckten.

Sie drängten einem beständig Billetts für Abende zugunsten einer Landsmannschaft, für irgendwelche Konzerte, die zu irgendeinem geheimnisvollen Zweck veranstaltet wurden, auf.

Die Vorlesungen, die Diskussionen, der ganze chaotische Radau von hunderten junger Leute, die berauscht waren vom Durst, zu leben und zu handeln, all das betäubte Klim Samgin so sehr, daß er seine eigenen Gedanken nicht mehr vernahm. Es schien, daß alle Menschen besessen seien vom Wahnwitz eines Spiels, das sie um so zügelloser mitriß, je gefahrvoller es war.

Unvermittelt, aber fest, faßte er den Entschluß, an eine Provinzuniversität zu gehen, wo man gewiß stiller und einfacher lebte, Er mußte die Beziehungen zur Nechajew lösen. Mit ihr zusammen fühlte er sich wie ein Reicher, der einer Bettlerin ein verschwenderisches Almosen gibt und sie gleichzeitig verachtet. Den Vorwand für eine plötzliche Abreise gab ein Brief seiner Mutter, der ihn davon unterrichtete, daß sie krank sei.

Auf dem Wege zur Nechajew, um Abschied zu nehmen, machte er sich finster auf Tränen und klagende Worte gefaßt, war aber selbst fast zu Tränen gerührt, als das Mädchen seinen Hals fest mit ihren dünnen Armen umschlang und flüsterte:

»Ich weiß, du hast mich nicht sehr, nicht so besonders stark geliebt. Ja, ich weiß es. Aber ich danke dir unendlich, mit ganzem Herzen für diese Stunden zu zweien...«

Sie drängte sich an ihn mit der ganzen Kraft ihres armen, mageren Körpers und schluchzte heiß:

»Möge Gott dich davor bewahren, die Grenzenlosigkeit der Einsamkeit so zu fühlen, wie ich sie gefühlt habe.«

Drei spitze Finger zusammenlegend, tippte sie mit ihnen heftig gegen Klims Stirn, Schultern und Brust und bebte am ganzen Körper, Sie wankte, während sie mit der flachen Hand hastig die Tränen aus dem Gesicht wischte.

»Ich verstehe wohl nur schlecht, an Gott zu glauben, aber für dich will ich zu irgend jemand beten, das will ich! Ich wünsche, daß du es gut haben mögest, daß das Leben dir leicht werde ...«

Ihr Weinen war nicht drückend anzusehen, sondern beinahe angenehm, wenn auch ein wenig traurig. Sie weinte heiß, aber nicht heftiger, als sich gehörte.

Klim reiste mit der Gewißheit ab, von der Nechajew gut und für immer Abschied genommen zu haben und durch diesen Roman sehr bereichert zu sein. Nachts im Zug dachte er:

»Sehen Sie, Lidia Timofejewna, ich kehre mit dem Schild heim.«

Er beschloß, sich zwei Tage in Moskau aufzuhalten, um vor Lida zu glänzen, und scherzte in Gedanken:

»Die Universitätsexamen können aufgeschoben werden, dieses aber werde ich jetzt sofort ablegen.«

Im Einnicken erinnerte er sich, daß Lida auf seine sorgsam in humoristischem Ton gehaltenen Briefe nur zweimal und sehr kurz und uninteressant geantwortet hatte. In einem dieser Briefe hieß es:

»Es gefällt mir nicht, daß Du Deine Bekannte Smertjaschkina nennst, und ich finde es nicht komisch.«

»Sie ist unbegabt. Ihre Schularbeiten hat immer die Somow gemacht«, rief er sich selbst ins Gedächtnis und schlief, dadurch getröstet, fest ein.

Über Moskau leuchtete prahlerisch ein Frühlingsmorgen. Über das holprige Pflaster pochten die Hufe, ratterten Fuhrwerke. In der warmen, lichtblauen Luft tönte festlich der Kupfergesang der Glocken. Über die ausgetretenen Trottoirs der engen, krummen Straßen schritten rüstig leichtfüßige Menschen. Ihr Gang war weitausholend, das Stampfen der Füße klang präzis, sie scharrten nicht mit den Sohlen wie die Petersburger. Überhaupt war hier mehr Lärm als in Petersburg, und der Lärm war von anderer Art, kein so feuchter und ängstlicher wie dort.

»Im Lärm von Moskau ist der Mensch vernehmlicher«, dachte Klim, und es war ihm angenehm, daß seine Worte sich gleichsam zu einem Sprichwort gefügt hatten. Während er in der ächzenden Equipage des zerlumpten Kutschers schaukelte, sah er sich um wie jemand, der aus der Fremde in die Heimat zurückkehrt.

»Sollte ich vielleicht die hiesige Universität beziehen?« fragte er sich.

Im Hotel wurde er mit jenem geschliffenen, zutunlichen Moskauer Wohlwollen empfangen, welches, da seine wahre Natur Klim unbekannt war, in ihm den Eindruck von Einfachheit und Klarheit, den er empfangen hatte, vertiefte.

Mittags suchte er Lida auf.

»Es ist Sonntag, Sie muß zu Hause sein.«

Während er durch warme, übermütig verschlungene Gäßchen schritt, überlegte er, was er Lida sagen, wie er sich im Gespräch mit ihr verhalten würde. Er musterte die bunten, freundlichen Häuschen mit netten Fenstern und Blumen auf den Fensterbänken. Über den Zäunen streckten die Bäume ihre Äste zur Sonne, die Luft war gesättigt von dem feinen, süßlichen Duft soeben aufgebrochener Knospen.

Aus einer Straßenecke bogen zwei Studenten, Arm in Arm, sie pfiffen einträchtig einen Marsch. Der eine stemmte sich mit den Füßen gegen den Ziegel des Trottoirs und fing ein Gespräch mit einem Weib an, das Fensterscheiben abwusch. Der andere zog ihn weiter und redete ihm zu:

»Hör auf Wolodjka! Gehen wir.«

Klim Samgin verließ das Trottoir in der Absicht, den Studenten auszuweichen, wurde aber sogleich von einer festen Hand an der Schulter gepackt. Er wandte sich rasch und zornig um, und ihm ins Gesicht rief freudig Makarow:

»Klimuscha? Woher? Darf ich vorstellen: Samgin – Ljutow.«

»Kaufmannssohn im dritten Semester der humoristischen Fakultät«', präsentierte sich blödelnd, den Kopf auf die Seite gelegt, der schielende, angeheiterte Student.

»Wolodja, er war es, der mich abgehalten hat, mich zu erschießen!«

»Ihnen gebührt die goldene Medaille, Kollega! Denn indem Sie das Leben dieses Jünglings erhielten, trugen Sie ein wenig zur Vertiefung der russischen Blödistik bei.«

Beide benahmen sich so laut, als gäbe es außer ihnen niemand auf der Straße. Makarows Freude schien verdächtig. Er war nüchtern, sprach aber so erregt, als wünsche er den wirklichen Eindruck dieser Begegnung für sich zuzudecken, zu überschreien. Sein Kamerad bewegte unruhig den Hals hin und her, in dem Bestreben, seine schielenden Augen auf Klims Gesicht einzustellen. Die beiden schritten, Schulter eng an Schulter, langsam vorwärts, ohne den entgegenkommenden Fußgängern den Weg freizugeben. Klim, der Makarows rasche Fragen gemessen beantwortete, fragte nach Lida.

»Aber hat sie dir denn nicht geschrieben, daß sie die Theaterschule aufgegeben hat und Vorlesungen hören wird? Sie ist vor zwei Wochen nach Hause gereist.«

Beim Sprechen blickte er mit Erstaunen in Klims Gesicht.

»Sie hat gefunden, daß sie sich nicht verstellen kann.«

»Richtig; das versteht sie nicht!« bekräftigte Ljutow und schüttelte so heftig den Kopf, daß seine Mütze ihm in die Stirn rutschte.

»Die Telepnew verläßt ebenfalls die Schule. Sie heiratet, – das hier ist ihr Bräutigam.«

Ljutow tippte mit dem Zeigefinger auf seine Brust, in die Herzgegend, und drehte ihn um wie einen Pfropfenzieher. Seine sehr leuchtenden Augen von vieldeutiger Farbe trafen Klims Gesicht mit einem unangenehm tastenden Blick. Das eine Auge versteckte sich unter der Nasenwurzel, das hintere lief bis zur Schläfe hinauf. Beide zuckten ironisch, als Klim sagte:

»Ich gratuliere Ihnen. Ein hervorragend schönes Mädchen.«

»Sie ist sinnbetörend«, verbesserte Ljutow und schob seine Mütze in den Nacken zurück.

Makarow schlug vor, zu frühstücken.

»Versteht sich«, sagte Ljutow, der Klim ungeniert untergefaßt hatte. »Dafür existiert Moskau, damit man ißt.«

Einige Minuten später saßen sie in dem finsteren, aber behaglichen Winkel eines kleinen Restaurants. Ljutow bestellte bei dem alten Lakai im Gebetston.

»Und gib uns, Vater, zum Wodka westfälischen Schinken und spanische Zwiebeln, in dicke Scheiben geschnitten...«

»Ich weiß, Herr.«

»Ich zweifle nicht daran, sondern rufe nur ins Gedächtnis...«

»Es ist angenehm, dich zu sehen!« sagte Makarow, der eine Zigarette angebrannt hatte, mit einem Lächeln, das vom Rauch umkräuselt war. »Seltsam, Bruder, daß wir einander nicht schreiben, wie? Nun, wie, bist du Marxist?«

Er beeilte sich, seine Fragen an den Mann zu bringen und trieb dadurch Klim noch mehr zur Vorsicht an.

»Marxist?« rief Ljutow aus. »Solche verehre ich!«

Er legte die Ellenbogen auf den Tisch und begann, mit belegter Stimme sich von Zeit zu Zeit überschreiend, was Klim an Dronow denken ließ:

»Ich verehre sie nicht als Repräsentant jener Klasse, der Marx erschöpfend die Dynamik des Kapitals, seine kulturelle Macht erklärt hat, sondern als russischer Mensch, der da aufrichtig wünscht: möge jegliches lästige Hinzögern ein Ende finden! Dieweilen wir in der Person Marxens endlich den Glaubenslehrer von neunzigprozentiger Stärke haben. Das ist nicht unser russisches Dünnbier, das eine lyrische Krätze der Seele nach sich zieht, noch, das Gebräu eines Fürsten Krapotkin, eines Grafen Tolstoi, eines Obersten Lawrow und jener Seminaristen, die sich zu Sozialisten umgetauft haben, mit denen sich gut reden läßt. Nein! Mit Marx läßt sich kein Schwätzchen machen! Bei uns ist es doch so: man beleckt mit der Zunge die gallige Leber seiner Exzellenz Michail Jewgrafowitsch Saltykows, versüßt sich die Bitterkeit mit dem Lampenöl Ihrer Durchlaucht von Jasnaja Poljana und – ist vollauf befriedigt! Die Hauptsache bei uns ist, daß was zu schwatzen da ist, leben kann man auf jegliche Art, und setze man einen auf einen spitzen Pfahl, er lebt!«

Ljutow trug seine Rede flüssig, ohne Pausen, vor. Nach ihren Worten sollte sie ironisch oder bösartig klingen, doch fing Klim darin weder Ironie noch Bosheit auf. Das setzte ihn in Erstaunen. Noch erstaunlicher war aber, daß ein vollkommen nüchterner Mensch sprach. Klim musterte ihn und zweifelte:

»Sollte ich mich geirrt haben? Er war noch vor fünf Minuten betrunken.

Er fühlte in Ljutow etwas Unechtes. Die Farbe seiner ausgerenkten Augen war schmutzig, nichts Trübes, sondern eben etwas Schmutziges war in dem Weiß der Augäpfel, sie waren gleichsam von innen heraus mit dunklem Staub bestreut. Aber in den Pupillen lohten schlaue Fünkchen, die zur Vorsicht mahnten.

»Diese Augen sind nach außen gestülptes Hirn«, erinnerte Klim irgend jemandes Worte.

Ljutows gelbes Haar war à la cappoule gekämmt, das paßte so wenig zu seinem langen Gesicht, daß es wie absichtlich gemacht wirkte. Sein Gesicht verlangte einen breiten Bart, während dessen rasierte Ljutow sich die Wangen bis auf ein spitzes Bärtchen. Über diesem blähten sich wulstige, kautschukartige Negerlippen, die Oberlippe war mit dünnen Barthärchen bestanden. Seine Hände waren rot, stark geädert, ebenso wie sein Hals, auf den Schläfen schwollen bereits bläuliche Venen. Er schien sich auch mit gewollter Saloppheit zu kleiden: unter dem abgetragenen Jackett von sehr teurem Tuch trug er ein seidenes Hemd. Er mußte siebenundzwanzig Jahre alt sein, vielleicht sogar dreißig und ähnelte in nichts einem Studenten. Makarow, der in herausfordernder Weise noch schöner geworden war, hatte sich anscheinend, als Folie, diesen Menschen zum Freund gewählt. Doch weshalb hatte die schöne Alina ihn gewählt?

Während er von dem Schnaps, der so kalt war, daß die Zähne schmerzten, ein Glas nach dem andern leerte und dicke Scheiben Zwiebel, auf dünne Blättchen Schinken gelegt, zerbiß, fragte Ljutow:

»Die nicht kanonische Literatur, das ist: die Apokryphen, schätzen Sie?«

»Er ist ein Ketzerfürst«, sagte Makarow mit gutmütigem Lachen und sah Ljutow freundlich an.

»Die ›Offenbarung Adams‹, – haben Sie die gelesen?«

Er erhob die Hand mit dem Messer und sagte heilig:

»Und der Teufel sprach zu Adam: ›Mein ist die Erde, Gottes – der Himmel. So du mein sein willst, bebaue die Erde!‹ Und Adam sprach: ›Wessen die Erde ist, dem bin auch ich mit Kind und Kindeskind zu eigen,‹ Da habt ihr's! Solcher Art ist er formuliert, unser bäuerlicher, nach innen gerichteter Materialismus!«

In dem Bestreben, sich Unverständliches zu vereinfachen, überzeugte Klim sich innerhalb einer Stunde, daß Ljutow tatsächlich etwas von einem Spitzbuben hatte und ungeschickt den Hanswurst spielte. Alles an ihm war künstlich, in allem zeigte sich nackt die Gemachtheit. Besonders kraß offenbarte dies seine gekrampfte Sprache, gesättigt mit Slawismen, lateinischen Zitaten und boshaften Versen von Heine, verziert mit jenem rohen Humor, mit dem die Schauspieler der Provinzbühnen glänzen, wenn sie in den »Divertissements« Witze erzählen.

Er, Ljutow, schien wieder betrunken. Er streckte Klim einen Pokal Champagner hin, errötete und schrie:

»Wünschen Sie mir weder Daunen noch Federn, und lassen Sie uns auf die Gesundheit der herrlichen Jungfrau Alina Telepnew anstoßen!«

In seiner Stimme klang Begeisterung, Makarow stieß mit Ljutow an und sagte streng:

»Jetzt hast du aber genug getrunken.«

Ljutow leerte sein Glas mit einem Zug und zwinkerte Klim zu:

»Er erzieht mich. Ich bin dessen würdig, dieweilen ich des öfteren trunken bin und schweinigele, um der Zähmung des Fleisches willen. Ich fürchte die Hölle – diese« – er beschrieb mit der Hand einen Halbkreis in der Luft – »und die jenseitige. Aus jüdischer Furcht halte ich Freundschaft mit der Geistlichkeit. Ach, Kollega, einen Diakonus will ich Ihnen zeigen!«

Ljutow schloß die Augen, wiegte den Kopf und zog dann aus der Hosentasche eine stählerne Schlüsselkette, an deren Ende eine massive goldene Uhr baumelte.

»Hallo, ich muß gehen! Kostja, sag, sie sollen anschreiben.«

Er reichte Samgin die Hand:

»Sehr erfreut, Sie kennengelernt zu haben. Hörte viel Gutes von Ihnen. Vergessen Sie nicht: Ljutow, Daunen und Federn en gros...«

»Kokettiere nicht«, empfahl Makarow, der Schieläugige aber drückte fest Samgins Hand und sagte mit einem kleinen Grinsen in dem Hinterwälder Gesicht:

»Wissen Sie, es gibt so Jungfrauen mit kleinen Mängeln. Niemand würde diesen kleinen Mangel bemerken, wenn die Jungfrau nicht selber warnte: ›Sehen Sie, meine Nase ist nicht ganz geglückt, dafür ist das übrige...‹«

Er stieß Klim sanft zurück, setzte sich in Bewegung, stolperte mit dem Fuß über ein Stuhlbein, drohte ihm mit der Faust und verschwand.

»Was für ein Kauz!« sagte Klim.

Makarow stimmte nachdenklich zu:

»Ja, er ist wunderlich.«

»Ich verstehe Alina nicht – was hat sie dazu veranlaßt?«

Makarow zuckte mit der Schulter und begann hastig, als müsse er sich rechtfertigen, zu sprechen:

»Nein, wieso? Ihre Schönheit verlangt einen würdigen Rahmen, Wolodjka ist reich. Interessant, Gutherzig bis zur Lächerlichkeit. Er hat sein juristisches Studium beendet, augenblicklich studiert er Geschichte und Philologie. Übrigens arbeitet er nicht, er ist verliebt, aufgestört und überhaupt auf den Kopf gestellt.«

Makarow zündete sich eine Zigarette an, ließ das Hölzchen zu Ende brennen und warf statt dessen die Zigarette auf den Teller. Er war sichtlich berauscht, auf seinen Schläfen trat Schweiß aus, Klim sagte, er wolle sich Moskau ansehen.

»Fahren wir auf die Sperlingsberge«, schlug Makarow angeregt vor.

Sie verließen das Restaurant und nahmen eine Droschke. Makarow, der auf den gekrümmten, straff von dem blauen Rock umspannten Rücken des Kutschers starrte, sagte:

»Moskau verwirrt ein wenig die Sinne. Ich bin von ihm behext, bezaubert und fühle, daß ich hier verblödet bin. Findest du das nicht? Du bist liebenswürdig.«

Er nahm seine Mütze ab. An seiner Schläfe klebte eine Haarsträhne, nur sie allein war unbeweglich, während die übrigen Wirbel sich regten und bäumten. Klim seufzte: von einer prachtvollen Schönheit war Makarow. Er sollte die Telepnew heiraten. Wie dumm war das alles. Durch den ohrenbetäubenden Straßenlärm hörte Klim:

»Phantastisch begabt sind die Menschen hier. Wahrscheinlich waren von dieser Art die Menschen der Renaissance. Ich zweifle: wo sind hier Heilige, wo Betrüger? Beides findet sich fast in jedem gleichzeitig. Und die Menge derer, die das Kreuz auf sich genommen haben! Und um wessentwillen? Der Teufel weiß es. Du mußt das verstehen...«

Klim blickte seinen Kameraden argwöhnisch von der Seite an:

»Warum ich?«

»Du bist ein Philosoph, du siehst mit Gelassenheit auf die Dinge...«

»Wie harmlos er ist«, dachte Klim. »Du hast ein gutes Gesicht«, sagte er und verglich Makarow mit Turobojew, der die Menschen mit dem Blick eines Leutnants maß, der alle Zivilisten verachtet. »Du bist auch ein guter Junge, wirst aber wohl durch das Trinken auf den Hund kommen.«

»Möglich«, gab Makarow gleichmütig zu, als wäre nicht von ihm die Rede. Doch daraufhin schwieg er, in Gedanken verloren.

In den Sperlingsbergen kehrten sie in einem verlassenen Gasthaus ein. Der dicke Kellner führte sie auf die Veranda, auf der ein Maler die Fensterrahmen weiß anstrich, brachte dann Tee und befahl in hastiger Rede einem Glaser:

»Störe die Herrschaften nicht, sich an der Schönheit zu erfreuen.«

»Er ist aus Kostroma«, stellte Makarow fest, er blickte in die unsichtbare Weite, auf die brokatene Stadt, die mit den goldenen Flecken der Kirchenkuppeln reich durchwirkt war.

»Ja, es ist schön«, sagte er leise. Samgin nickte zustimmend, bemerkte aber sogleich:

»Ein bedingter Begriff.«

Makarow antwortete nicht. Er schob das Glas, in dessen roter, von einer Zitronenscheibe bedeckter Flüssigkeit ein Sonnenstrahl badete, von sich, stemmte die Ellenbogen auf den Tisch und versenkte die Finger in seine dichten, zweifarbigen Haarwirbel.

Moskau verführte Klim nicht zur Begeisterung. Für seine Augen ähnelte die Stadt einem ungeheuerlichen Honigkuchen, in schreienden Farben bemalt, mit opalenem Staub gepudert, und brüchig. Als von Schönheit gesprochen war, zog Klim es klug vor zu schweigen, wenngleich er seit langem bemerkt hatte, daß man immer häufiger von ihr sprach, und dieses Thema ebenso gewöhnlich wurde wie das Wetter und die Gesundheit. Er verhielt sich gleichgültig gegen die allgemein anerkannten Naturschönheiten, da er fand, daß Sonnenuntergänge ebenso gleichförmig waren wie der gesprenkelte Himmel frostiger Nächte. Weil er aber fühlte, daß Schönheit ihm unzugänglich sei, begriff er, daß es ein Mangel seiner Natur war. In der letzten Zeit erbitterte ihn sogar die ständige Verherrlichung der Naturschönheiten und weckte in ihm die Befürchtung, ob nicht vielleicht Lidas Widerwille gegen die Natur ihm diese Kälte eingeflößt habe.

Ihn hatte Turobojew sehr verwirrt, der, um Jelisaweta Spiwak und Kutusow zu ärgern, spottlustig gefragt hatte:

»Wenn nun aber unsere ganze Schönheit nichts ist als der Pfauenschweif der Vernunft, eines ebenso dummen Vogels wie der Pfau?«

Klim verblüffte die Frechheit dieser Worte, und sie legten sich noch fester in sein Gedächtnis, als Turobojew im Streit fortfuhr:

»Je leuchtender und schöner ein Vogel ist, desto dümmer ist er, aber je häßlicher ein Hund ist, desto klüger ist er. Das trifft auch auf die Menschen zu: Puschkin sah wie ein Affe aus, Tolstoi und Dostojewski sind keine Schönheiten, ebensowenig wie überhaupt alle klugen Köpfe.«

Das lyrische Schweigen Makarows ärgerte Klim. Er fragte:

»Denkst du an Puschkins ›Moskau! Wie schrecklich ist dem Russen dein freudloses Gesicht!‹?«

Makarow maß ihn mit nüchternen Augen und antwortete nicht. Das mißfiel Klim, es erschien ihm unhöflich. Seinen Tee schlürfend, sagte er in einem Ton, der Aufmerksamkeit heischte:

»Wenn man von Schönheit spricht, scheint es mir, daß man mich ein wenig betrügt.«

Makarow zog heftig die Finger aus seinem Haar, nahm die Ellenbogen vom Tisch und fragte befremdet:

»Wie hast du gesagt?«

Klim wiederholte seinen Ausspruch und fuhr fort:

»Was ist Schönes an einer Wassermasse, die in einem Abstand von sechzig Werst aus einem See in ein Meer fließt? Aber jeder sagt, die Newa sei schön, während ich sie langweilig finde. Dies berechtigt mich, zu denken, daß man sie schön nennt, um die Langeweile zu verdecken.«

Makarow trank rasch den abgestandenen Tee aus, kniff die Augen zu und sah Klim aufmerksam ins Gesicht.

»Den gleichen Wunsch, sich selbst die Dürftigkeit der Natur zu verheimlichen, sehe ich in den Landschaften Lewitans, in den lyrischen Birkenbäumchen Nesterows, in den leuchtend blauen Schatten auf dem Schnee. Der Schnee blinkt wie der Beschlag der Särge, in denen man junge Mädchen zu beerdigen pflegt, er schneidet die Augen, blendet. Blaue Schatten gibt es in der Natur nicht. All das wird zum Zweck des Selbstbetrugs erdacht, damit man gemütlicher leben kann.«

Klim, der sah, daß Makarow aufmerksam zuhörte, sprach zehn Minuten lang. Er erinnerte sich der finsteren Klagen der Nechajew und vergaß nicht, den Ausspruch Turohojews über den Pfauenschweif der Vernunft anzubringen. Er hätte noch eine ganze Menge sagen können, aber Makarow murmelte:

»Erstaunlich, wie all das mit Lidas Gedanken zusammenfällt.«

Sich die Stirn reibend, fragte er:

»Was willst du eigentlich?« und lachte verlegen.

»Ich weiß nicht, was ich fragen soll ... es ist so seltsam ...«

Plötzlich schoß ihm das Blut ins Gesicht, sogar die Ohren färbten sich dunkel. Seine Augen blitzten im Zorn, als er halblaut zu sprechen anfing:

»Mich berühren diese Fragen nicht, ich sehe die Dinge von einer anderen Seite und finde, die Natur ist ein Schwein, vernunftlos und böse. Kürzlich hatte ich die Leiche einer Frau, die an einer Geburt gestorben war, zu präparieren. Mein Herzchen, hättest du gesehen, wie zerfleischt und verstümmelt sie war! Bedenke nur: der Fisch laicht, das Huhn legt Eier ohne Schmerzen, das Weib aber gebärt unter teuflischen Qualen. Weshalb?«

Makarow zählte die lateinischen Bezeichnungen von Körperorganen auf, deren Umrisse er mit den Fingern in der Luft malte und stellte vor Klims Augen rasch und zornig etwas so Abscheuliches dar, das Klim ihn bat:

»Hör auf!«

Sich in immer heftigere Empörung steigernd, sagte Makarow, wobei er mit dem Finger auf den Tisch klopfte: »Nein, bedenke doch nur: weshalb das alles, wie?« Klim fand die Empörung seines Freundes naiv und ermüdend und hatte Lust, Makarow die Erwähnung Lidas heimzuzahlen. Er lächelte boshaft:

»Nun, beschäftige dich doch mit Gynäkologie, dann kannst du Frauenarzt werden. Deine äußere Erscheinung ist vorteilhaft.«

Makarow stutzte, blickte ihn verständnislos an und sagte, nach einigem Schweigen, mit einem Seufzer:

»Du scherzst seltsam.«

»Und du philosophierst augenscheinlich immer noch über die Frauen, statt sie zu küssen?«

»Das hört sich an wie eine Phrase aus einem Offizierslied«, sagte Makarow unbestimmt, rieb sich heftig das Gesicht und schüttelte den Kopf. In seinem Gesicht erschien ein zweifelnder, verlegener Ausdruck, er nickte gleichsam für eine Minute ein und kam dann wieder zu sich, aufgestört durch einen Stoß und sehr betreten darüber, daß er eingeschlafen war.

»Er wird nüchtern«, erriet Klim, der den Wunsch empfand, dem Kameraden auch das Offizierslied zu entgelten.

Darin waren ihm zwei Fliegen behilflich, die sich auf dem Bügel des Teelöffels niederließen. Eilig genossen sie einander. Die eine verschwand sofort in der Luft, die andere folgte ihr zwei oder drei Sekunden später.

»Hast du's gesehen? Das ist alles!« sagte Klim.

»Nein!« antwortete beinahe schroff Makarow. »Ich glaube dir nicht«, fuhr er in protestierendem Ton fort. Er blickte unter gefurchten Brauen hervor. »Du kannst so nicht denken. Nach meiner Meinung ist Pessimismus auch nichts anderes als Zynismus.«

Nachdem er den abgestandenen Tee ausgetrunken hatte, sprach er, mit leiserer Stimme, weiter:

»Ich muß wohl ein wenig Dichter sein, vielleicht auch einfach dumm – aber ich kann nicht... ich habe Achtung vor den Frauen, und – weißt du – manchmal glaube ich, daß ich sie fürchte. Grinse nicht, warte! Vor allen Dingen Achtung, selbst für diejenigen, die sich verkaufen. Und auch nicht Furcht, mich anzustecken, nicht Widerwillen, nein! Ich habe viel darüber nachgedacht...«

»Aber du redest schlecht«, vermerkte Klim.

»Ja?«

»Unklar.«

»Du wirst mich verstehen!«

Makarow schüttelte abermals heftig den Kopf, blickte zum farbenschillernden Himmel, preßte heftig die Finger zu einer Faust zusammen und schlug sich aufs Knie.

»Dieses Gefühl hat mir Lida eingeflößt, weißt du?«

»Ach so?« machte Klim unbestimmt und wurde wachsam.

»Wir sind Freunde«, fuhr Makarow fort und seine Augen lächelten dankbar. »Nicht verliebt, aber sehr vertraut. Ich liebte sie, aber das ist vorbei. Es ist schrecklich schön, daß ich gerade sie geliebt habe, und schön, daß es vorüber gegangen ist.«

Er fing an zu lachen, sein Gesicht strahlte vor Freude.

»Bin ich wirr?« fragte er unter Lachen. »Ich bin nur in Worten wirr, aber in der Seele ist alles klar. Du mußt verstehen: sie hat mich am Rande eines Abgrundes angehalten. Aber natürlich, wichtig ist nicht, daß sie mich angehalten hat, sondern, daß sie da ist.«

Samgin dachte nicht ohne Stolz:

»Niemals würde ich mir erlaubt haben, so zu einem fremden Menschen zu sprechen. Und warum hat sie ihn ›angehalten‹?«

»So lieben, wie man überhaupt zu lieben pflegt, darf man sie nicht«, sagte streng Makarow.

»Warum denn nicht?«

»Lach nicht. Ich fühle es so: man darf nicht. Sie ist ein wunderbarer Mensch, Bruder.«

Er schloß die Augen und dachte nach.

»In der Bibel hat sie gelesen: »Und ich will Feindschaft säen zwischen dir und deinem Weibe.« Sie glaubt daran und fürchtet die Feindschaft, die Lüge. Ich nehme es an, daß sie das fürchtet. Weißt du, Ljutow sagte ihr einmal: ›Wozu müssen Sie auf der Bühne schauspielern, wenn Ihr Weg, der Natur Ihrer Seele nach, ins Kloster führt?‹ Sie ist mit ihm ebenso befreundet wie mit mir.«

Klim hörte angestrengt zu, begriff aber nicht und glaubte auch nicht Makarow. Die Nechajew hatte auch philosophiert, bevor sie nahm, was ihr not tat. Ebenso mußte es sich auch mit Lida verhalten. Er schenkte auch dem keinen Glauben, was Makarow über sein Verhältnis zu den Frauen, über seine Freundschaft mit Lida erzählte.

»Das ist auch – ein Pfauenschweif. Es ist auch klar, daß er Lida liebt.«

Samgin wendete nun den verworrenen, unklaren Reden Makarows weniger Aufmerksamkeit zu. Die Stadt wurde heller, feuriger. Der Glockenturm Iwans des Großen ragte gleich einem mit rötlichem Nagel verzierten Finger empor. In den Lüften schwebte ein weiches Tönen, vielstimmig läuteten die Kirchenglocken die Abendmesse ein. Klim zog seine Uhr hervor und warf einen Blick auf sie.

»Ich muß zum Bahnhof. Begleitest du mich?«

»Natürlich.«

»Du hast, zu Beginn unseres Gesprächs, sehr richtig bemerkt, daß die Menschen sich Dinge einbilden. Möglich, daß es so sein muß, weil dadurch der bittere Gedanke der Zwecklosigkeit des Lebens versüßt wird ...«

Makarow blickte ihn erstaunt an und erhob sich:

»Wie seltsam, daß du, ausgerechnet du, das sagst! Ich dachte nichts dergleichen, selbst als ich beschloß, mir das Leben zu nehmen ...«

»Du warst in jenen Tagen nicht normal«, erinnerte ihn gelassen Klim.

»Dein Leben ist schwer?« fragte leise und freundschaftlich Makarow.

Klim fand, daß es bedeutender aussehen würde, wenn er weder ja noch nein sagte, und schwieg, mit hart zusammengepreßten Lippen. Sie gingen zu Fuß, ohne Eile. Klim fühlte, daß Makarow ihn von der Seite mit traurigen Augen ansah. Während er die widerspenstigen Haarsträhnen unter die Mütze zurückschob, erzählte er leise:

»Nach dem Examen komme ich auch, ich habe dort eine Lehrstelle, ich werde Repetitor des Adoptivsohnes Radejews, des Reeders, weißt du? Auch Ljütow kommt hin.«

»Aha. Und wo ist die Somow?«

»Sie ist Lehrerin an einer Dorfschule.«

Aus einer Wolke regenbogenfarbigen Staubs löste sich ein bärtiger Kutscher auf seinem Gefährt. Die Freunde stiegen in die Equipage und fuhren einige Minuten später durch die Straßen der Stadt, hart am Trottoir entlang. Klim betrachtete die Menschen, dicke gab es hier mehr als in Petersburg, und sie sahen, ungeachtet ihrer Bärte, wie Weiber aus.

»Wahrscheinlich beunruhigt nicht einen von ihnen der Gedanke an den Sinn des Daseins«, dachte er verächtlich und erinnerte sich an die Nechajew.

»Nein, sie ist doch nett. Sogar ein ungewöhnliches Mädchen. Wie würde Lida sich wohl gegen sie verhalten?«

Makarow schwieg. Sie fuhren am Bahnhof vor. Makarow, dem etwas eingefallen war, hatte es eilig, umarmte Klim und ging fort.

»Wir sehen uns bald wieder!«

Klim sah ihm nach und ging dann zum Büfett. Er setzte sich in eine Ecke an einen Tisch. Bis zum Abgang des Zuges blieb noch eine reichliche Stunde. An Makarow zu denken, hatte er keine Lust. Schließlich hinterließ er den Eindruck eines verblichenen Menschen, und unklug war er immer gewesen. Alle Bekannten riefen in Klim diesen Eindruck des Verblichenen, Farblosgewordenen hervor. Er nahm das als ein Zeichen seines geistigen Wachstums. Diesen Eindruck gab ihm ein und befestigte die Eile, womit alle bestrebt waren, sich mit den Pfauenfedern Nietzsches oder Marxens zu schmücken. Klim war es ärgerlich, daran zu denken, daß auch Turobojew diesen Eifer sah und ihn zu verlachen verstand. Jawohl, dieser eilte nirgendwohin und verblich nicht. Er sprach, die gestickten Brauen hochziehend, und seine Augen blitzten:

»Ich anerkenne die Rechtmäßigkeit des Strebens jedes ledigen Menschen, sich dieses oder jenes Ideechen zur Gemahlin zu erkiesen und mit ihr bis ans Ende seiner Tage in gutem Einvernehmen zu leben, aber ich persönlich ziehe es vor, Junggeselle zu bleiben.«

Klim neidete Turobojew seine Manier zu sprechen bis zum Haß gegen ihn. Turobojew nannte die Ideen »Jungfrauen geistlichen Standes«, behauptete, daß »humanitäre Ideen das Gefühl des Glaubens in bedeutend höherem Maße in Anspruch nehmen, als die kirchlichen«, weil Humanismus »verderbte Religion« sei. Samgin grämte sich: weshalb verstand nicht auch er es, gelesene Bücher so gewandt auszulegen?

Es schien, als ob Turobojew ihn allzu aufmerksam beobachtete, ihn schweigend studierte und auf Widersprüchen ertappte. Einmal bemerkte er wegwerfend, während er Klim mit frechen Augen ins Gesicht blickte:

»Auf alle Fragen, Samgin, gibt es nur zwei Antworten; ja oder nein. Sie wollen anscheinend eine dritte erfinden? Das ist der Wunsch der meisten Menschen, doch bis zum heutigen Tag ist es noch niemandem gelungen, ihn zu verwirklichen.«

Es war kränkend, diese Worte zu hören, und unangenehm zuzugeben, daß Turobojew nicht dumm war.

Das Glockenzeichen und der Ruf des Bahnhofsdieners, die den Abgang des Zuges verkündeten, unterbrachen Klims Sinnen über den fatalen Menschen. Er blickte sich um, im Saal hasteten die Reisenden, sie stießen einander und drängten zum Ausgang nach dem Bahnsteig.

Klim stand auf und fragte sich achselzuckend:

»Was sollen mir Turobojew und Kutusow?«

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