Viertes Kapitel.

Das Sonnenlicht, das seine Strahlen durch die Musselingardinen vor den Fenstern streute, erfüllte, durch sie gemildert, den Salon mit der duftigen Wärme eines Frühlingsnachmittags. Die Fenster standen auf, aber der Musselin regte sich nicht, die Blätter der auf den Fensterbänken stehenden Blumen waren unbewegt. Klim Samgin fühlte, daß er einer solchen Stille entwöhnt war, und daß sie ihn auf eine neue Weise in die Worte der Mutter hineinhorchen ließ.

»Du bist sehr, sehr männlich geworden«, sagte Wera Petrowna wohl schon zum drittenmal. »Selbst deine Augen sind dunkler geworden.«

Sie empfing ihren Sohn mit einer Freude, die ihn überraschte. Klim war von Kind auf an ihre nüchterne Zurückhaltung gewöhnt, war gewöhnt, die Trockenheit der Mutter mit respektvoller Gleichgültigkeit zu beantworten, jetzt jedoch mußte er einen anderen Ton finden.

»Nun, und – Dmitri?« fragte sie. »Studiert er die Arbeiterfrage? O Gott! Übrigens habe ich es mir auch gedacht, daß er sich mit etwas in der Art beschäftigen würde. Timofej Stepanowitsch ist überzeugt, daß diese Frage künstlich aufgebauscht wird. Es gibt Leute, die glauben, daß Deutschland aus Furcht über das Wachstum unserer Industrie den Arbeitersozialismus bei uns einführt. Was sagt Dmitri über den Vater? In diesen acht Monaten, nein, es sind mehr, hat Iwan Akimowitsch mir nicht geschrieben ...«

Sie war festlich gekleidet, als erwarte sie Gäste oder beabsichtige selbst, eine Visite zu machen. Das lila Kleid, das straff ihre Büste und ihre Formen umspannte, gab ihrer Figur etwas Angestrengtes oder Herausforderndes. Sie rauchte eine Zigarette – eine Neuigkeit! Als sie sagte: »Mein Gott, wie rasch fliegt die Zeit!« hörte Klim aus dem Ton ihrer Worte eine Klage heraus, was auch nicht zu ihren Gewohnheiten gehörte.

»Du weißt, zur Fastenzeit war ich genötigt, nach Saratow zu fahren, in der Angelegenheit Onkel Jakows, Es war eine sehr schwere Reise. Ich kenne dort niemand und geriet in die Gefangenschaft der dortigen ... Radikalen. Sie haben mir viel verdorben. Es gelang mir nicht, etwas zu erreichen, man gewährte mir nicht einmal eine Zusammenkunft mit Jakow Akimowitsch. Ich gestehe, ich bestand auch nicht besonders energisch darauf. Was hätte ich ihm sagen können?«

Klim neigte einverstanden den Kopf:

»Ja, es ist schwer mit ihm umzugehen.«

Die Redseligkeit seiner Mutter irritierte ihn ein wenig, aber er nahm sie wahr, um zu fragen, wo Lida sei.

»Sie ist mit Alina Telepnew in ein Kloster gefahren, zu ihrer Tante, der Äbtissin. Du weißt, sie hat eingesehen, daß sie kein Talent für die Bühne besitzt. Das ist schön. Aber sie sollte einsehen, daß sie überhaupt keine Talente besitzt. Dann wird sie aufhören, sich als etwas Einzigartiges zu betrachten, und vielleicht lernen, die Menschen zu achten.«

Wera Petrowna seufzte, sah auf die Uhr und horchte auf irgend etwas.

»Hörtest du, daß die Telepnew einen reichen Bräutigam gefunden hat?«

»Ich habe ihn in Moskau gesehen.«

»Ja? Wer ist er?«

»Irgend so ein Hanswurst«, sagte Klim achselzuckend.

»Es scheint, Timofej Stepanowitsch ist gekommen ...«

Die Mutter erhob sich und ging zur Tür, aber die Tür tat sich weit auf, geöffnet von der gebieterischen Hand Warawkas.

»Aha, Jurist, angekommen, guten Tag. Nun, zeig dich mal!«

Er erfüllte augenblicklich das Zimmer mit dem Knarren neuer Stiefel, dem Ächzen hin- und hergerückter Sessel, auf der Straße aber wieherte ein Pferd, Kinder schrien, und hoch stieg ein klingender Tenor in die Luft:

»Zwie–beln, Zwiebeln, Zwiie–beln!«

»Wera, bitte, Tee. Um halb acht ist Sitzung. Die Stadt hat beschlossen, dir eine Subvention für die Schule zu gewähren, hörst du?«

Aber sie war schon nicht mehr im Zimmer. Warawka warf einen Blick zur Tür, schüttelte mit der Hand seinen Bart auf und zwängte sich schwer in den Sessel.

»Nun, Jurist, wie stehen die Dinge? Nach deinem Gesicht zu urteilen, haben die Wissenschaften dich nicht schlecht ernährt. Erzähle!«

Aber nachdem er mit seinen Bärenäuglein in Klims Augen geblickt hatte, gab er ihm einen Klaps aufs Knie und begann selbst zu erzählen:

»Eine Zeitung will ich herausgeben, he? Eine Zeitung, mein Lieber. Wollen mal versuchen, den Küchenklatsch durch die organisierte öffentliche Meinung zu ersetzen.«

Minuten später, nachdem er seinen runden Rumpf ins Speisezimmer hinübergerollt hatte, schrie er, während er den Tee nervös im Glas umrührte:

»Was ist uns Russen die soziale Revolution? Es ist der Prozeß des Auswechselns zerlumpter Hosen gegen anständige ...« Klim schien, die Mutter betreue Warawka mit demonstrativer Unterwürfigkeit, mit einer Verletztheit, die sie nicht verbergen könne oder wolle. Nachdem Warawka eine halbe Stunde gelärmt und drei Glas Tee getrunken hatte, verschwand er, wie von der Bühne eine episodische Person verschwindet, nachdem sie das Stück belebt hat.

»Er arbeitet erstaunlich viel«, sagte, nach einem Seufzer, die Mutter. »Ich sehe ihn fast gar nicht. Wie alle kulturellen Arbeiter liebt man ihn nicht.«

Wera Petrowna räsonierte lange über die Roheit und stumpfsinnige Wut der Kaufmannschaft und über die Kurzsichtigkeit der Intelligenz. Sie anzuhören, war langweilig, und es hatte den Anschein, als suche sie sich zu betäuben. Nach Warawkas Weggang wurde es von neuem still im Haus und auf der Straße, nur die trockene Stimme der Mutter ertönte, sich gleichmäßig hebend und senkend. Klim war froh, als sie ermüdet sagte:

»Ich denke, du wirst müde sein?«

»Ich würde gern ein wenig spazieren gehen. Willst du nicht auch?«

»O nein«, sagte sie und strich mit den Fingern die grauen Haare an den Schläfen glatt oder versuchte, sie zu verstecken.

Klim trat auf die Straße, als es bereits dunkel war. Die hölzernen Wände und Zäune der Häuser hauchten noch Wärme aus, aber irgendwo links ging der Mond auf, und auf das graue Steinpflaster des Straßendamms legten sich die kühlen Schatten der Bäume. Die Fensterscheiben waren mit dem gelben Fett des Lampenlichts bestrichen. Die spärlichen Sterne waren ebenfalls Tröpfchen fetten Schweißes. Die Häuser waren gegen die Erde gedrückt, sie schienen unmerklich zu schmelzen und als Schatten über die Straße auseinanderzufließen. Von Haus zu Haus rannen in dunklen Bächen die Zäune. Im Stadtpark, auf dem Pfad, der rings um den Teich herumlief, schritten bedächtig Menschen, über dem gläsernen Kreis schwarzen Wassers schwebten träge gedämpfte Stimmen. Klim erinnerte sich der Bücher Rosenbachs, der Nechajew: hier müßte sie leben, in dieser Stille, inmitten bedächtiger Menschen.

Er ließ sich auf einer Bank nieder, unter dem dichten Vorhang eines Strauchs. Die Allee bog scharf nach rechts ab, hinter der Biegung saßen Leute, es waren zwei. Der eine knurrte hohl, der andere scharrte mit einem Stock oder mit der Stiefelsohle in dem noch glatten, knirschenden Schotter. Klim vertiefte sich in das monotone Gurren und erkannte längst vertraute Gedanken:

»Er sucht, wie Tolstoi, den Glauben und nicht die Wahrheit. Frei über die Wahrheit nachdenken kann man erst, wenn die Welt wüst ist: entferne aus ihr alle Dinge, Erscheinungen und alle deine Wünsche, außer einem: den Gedanken in seinem Wesen zu erkennen. Beide philosophieren über Mensch, Gott, Gut und Böse, und das sind nur Richtpunkte auf der Suche nach der ewigen, alles lösenden Wahrheit...«

»Haben Sie nicht einen Rubel?« fragte auf einmal die säuerliche Stimme Dronows.

Klim stand auf, da er sich unauffällig zu entfernen wünschte, bemerkte aber, daß auch Dronow und Tomilin sich erhoben und auf ihn zukamen. Er setzte sich, beugte den Oberkörper vor und versteckte sein Gesicht.

»Ich habe keinen Rubel«, sagte Tomilin in demselben Ton, in dem er von der ewigen Wahrheit gesprochen hatte.

Ohne den Kopf zu heben, folgte Klim ihnen mit den Augen. Dronows Füße staken in alten Stiefeln mit schiefen Absätzen, auf seinem Kopf saß eine Wintermütze. Tomilin trug einen langen, bis zu den Fersen reichenden schwarzen Mantel und einen breitkrempigen Hut. Klim lachte in sich hinein, da er fand, daß dieses Kostüm in sehr charakteristischer Weise die wunderliche Gestalt des Provinzweisen unterstrich. Da er sich mit seiner Philosophie hinreichend gesättigt fühlte, hegte er nicht den Wunsch, Tomilin zu besuchen, und dachte mit Verdruß an die unvermeidliche Begegnung mit Dronow.

Im Park wurde es stiller und heller, die Menschen verschwanden, lösten sich auf. Der grünliche Streif des Mondlichts spiegelte sich im Wasser des Teichs und erfüllte den Park mit einschläfernder, aber nicht beschwerender Traurigkeit. Rasch näherte sich ein Mann im gelben Anzug, nahm neben Klim Platz, entledigte sich schwer seufzend seines Strohhuts, wischte sich die Stirn, sah in die Handfläche und fragte wütend:

»Billard spielen Sie nicht, Student?«

Auf ein kurzes »Nein!« hin stand er auf und entfernte sich ebenso rasch mit einem höflichen Lüften des Hutes. Kaum war er jedoch zwanzig Schritt entfernt, als er laut ausrief:

»Schmarotzer, Milchbart!«

Unter teuflischem Gelächter verschwand er. Klim lachte auch, blieb gedankenleer noch einige Minuten sitzen und ging dann nach Hause.

Am vierten Tag erschien Lida.

»O, bist du gekommen!« sagte sie und hob erstaunt die Brauen. Ihr Erstaunen, die unentschlossen hingestreckte Hand und ihr rasch über Klims Gesicht gleitender Blick, all das machte, daß er sich finster von ihr abwandte. Sie war jetzt voller, aber ihre dunkel umränderten Augen waren abgründiger geworden, und ihr Gesicht schien krank. Sie trug ein graues Kleid mit Gurt und einen Strohhut mit weißem Schleier. So reisen englische Damen in Ägypten. Auch Wera Petrowna begrüßte sie achtlos, klagte etwa fünf Minuten launisch über die Langeweile des Klosters und den Staub und Kot der Straße und ging dann fort, sich umzukleiden. Der unangenehme Eindruck, den Klim von ihr empfing, hatte sich verstärkt.

»Wie fandest du sie?« fragte die Mutter, die vor dem Spiegel stand und ihre Frisur ordnete, und gab sofort selbst die Antwort:

»Sie schauspielert bereits ein wenig. Das ist der Einfluß der Schule.«

Zum Abendtee kam Alina, Sie nahm Samgins Komplimente entgegen wie eine Dame, die gut Bescheid weiß in allen Kombinationen der Schmeichelei. Ihre trägen Augen lächelten Klim mit leisem Spott an.

»Denkt nur, er redet mich mit ›Sie‹ an!« rief sie aus. »Das will etwas heißen. Ach so! Du hast meinen Verlobten gesehen? Zum Totlachen, was?« Sie schnippte mit den Fingern und fügte genußvoll hinzu: »Ein gescheiter Kopf! Schielt! Ist eifersüchtig! Es ist bis zum Wahnsinn kurzweilig mit ihm!«

»Und reich...«

»Das ist das Beste davon natürlich!«

Sie leckte ein schnelles Lächeln von ihren vollen Lippen und fragte:

»Verurteilst du mich?«

Sie hatte eine singende Art zu sprechen, weitausholende, doch weiche und überzeugte Gesten und jene Freiheit der Bewegungen erworben, die in Kaufmannskreisen Wichtigtuerei genannt wird. Durch jede Wendung ihres Körpers betonte sie gewandt und stolz die unterwerfende Macht seiner Schönheit. Klim sah, daß seine Mutter mit Trauer in den Augen Alina bewunderte.

»Meine Freundinnen tadeln: Das Mädel hat sich durchs Geld verlocken lassen«, sagte die Telepnew, und nahm mit einer Zange Konfekt aus einer Schachtel. »Vor allem ist es Lida, die stichelt. Wenn es nach ihr ginge, müßte man unbedingt mit einem Liebsten in einer Hütte leben. Aber ich bin alltäglich, ein Mädchen aus einem Vaudeville, ich brauche ein anständiges Häuschen und eigene Pferde. Mir wurde erklärt: Ihnen, Telepnew, geht vollständig der Sinn für Dramatik ab.' Das hat mir nicht irgend jemand gesagt, sondern der Direktor, der selbst Dramen schreibt. Mit einem Liebsten ist aber ohne Drama kein Leben, das ist in Poesie und Prosa nachgewiesen...«

»Die hat die Schule mehr verdorben als Lida«, dachte Klim. Die Mutter trank ihre Tasse Tee aus und ging unauffällig hinaus. Lida hörte die saftige Stimme ihrer Freundin mit einem kaum merklichen, feinen Lächeln ihrer wohl sehr heißen Lippen an. Alina erzählte komisch den dramatischen Liebesroman irgendeiner Gymnasiastin, die sich in einen intelligenten Buchbinder verliebt hatte.

»Ein wirklich intelligenter, mit Brille, Bärtchen und ausgebeulten Hosen. Er lobte die säuerlichen Gedichte Nadsons, jawohl! Sieh mal, Lidotschka, ein Intelligenzler und eine Hütte! das ist doch schrecklich! Mein Ljutow dagegen ist ein Altgläubiger, ein Kaufmannssöhnchen, und verehrt Puschkin. Das ist ebenfalls Altgläubigkeit, wenn man Puschkin liest. Jetzt ist ja in Mode dieser, wie heißt er doch gleich? Witebski, Wilenski?«

Mit rosigen Fingern, deren Nägel glänzten wie Perlmutter, nahm sie sich Konfekt und biß kleine Stückchen so ab, daß sie dabei das blendende Weiß ihrer Zähne zeigen konnte. Ihre Stimme klang gutmütig, ihre schmachtenden Augen glänzten freundlich.

»Wir, ich und Ljutow, lieben keine grimmigen Verse:

Glaube: auferstehen wird Baal


und verschlingen das Ideal

Nun mag er es verschlingen, wohl bekomms!«

Sie erglühte plötzlich und erhob sich sogar ein wenig vom Stuhl.

»Ach, Liduscha, was für Gedichtchen ich heute aus Moskau erhalten habe! Irgendein neuer Dichter, Brussow, Brossow? – erstaunlich! Sie sind ein wenig... indezent, aber die Musik, die Musik!«

Sie suchte eilig in den Falten ihres Rocks, fand die Tasche und schwenkte einen zerknitterten Briefumschlag.

»Hier!«

Ins Eßzimmer segelte geräuschvoll die rundliche Somow. Hinter ihr schritt behutsam, als durchquere er eine Furt über glatte Steine hinweg, ein hochgewachsener Jüngling in blauen Hosen, einem Hemd aus ungebleichtem Leinen und mit einer Art Sandalen an den nackten Füßen.

»Liebe Freundinnen, das ist eine Schweinerei!« schrie die Somow. »Ihr seid angekommen und schweigt, obwohl Ihr wißt, daß ich ohne euch nicht leben kann.«

»Und ohne mich«, sagte in hohlem Baß der Jüngling mit dem wilden Aussehen.

»Und ohne dich, Strafe Gottes, und ohne dich, jawohl! Darf ich vorstellen, Mädchen: Inokow, ein Kind meiner Seele, Landstreicher, künftiger Schriftsteller.«

Somow küßte die Freundinnen ab und setzte sich an Klims Seite. Sie wischte sich ihr schwitzendes Gesicht mit dem Zipfel ihres Kopftuchs und betastete Samgin mit einem lustigen Blick.

»Wie niedlich du geworden bist!«

Sogleich kugelte sie sich zu Lida hinüber und sagte:

»Also, aus dem Kreis der Lehrerinnen hat man mich ausgeschifft, wie gefällt dir das?«

Auf ihren Platz setzte sich mit Wucht Inokow. Er rückte den Stuhl ein wenig von Klim ab, striegelte mit den Fingern seine rötlichen langen Haare und heftete seine blauen Augen schweigend auf Lida.

Klim hatte die Somow länger als drei Jahre nicht gesehen. Inzwischen hatte sie sich aus einem lymphatischen, plumpen Backfisch in ein dralles Landmädchen verwandelt. Ihre an den Schläfen verschossenen Haare waren von einem weißen Tuch zusammengehalten, ihre Backen hatten sich prall gerundet, die Augen blitzten lebhaft. Sie sprach laut und mengte verschwenderisch volkstümliche Wendungen in ihre Rede, wobei sie rosenfarbig lächelte. Sie hatte etwas Vulgäres, weshalb Klim innerlich Grimassen schnitt. Inokow ähnelte einem dümmlichen Dorfhirten. Auch er hatte nichts mehr von dem Gymnasiasten, als den Klim ihn in Erinnerung hatte, zurückbehalten. Aus seinem breitkiefrigen, mit Sommersprossen übersäten Gesicht stak unschön eine stumpfe Nase. Nervös blähten sich die breiten Nasenlöcher. Auf der Oberlippe sproß ein spärlicher, tatarischer Schnurrbart. Der Ausdruck seiner blauen Augen veränderte sich oft und widerspruchsvoll, bald war er allzu weiblich sanft, bald unbegründet finster. Die gewölbte Stirn war bereits von Falten zerschnitten.

»Machorka rauchen darf man hier nicht?« fragte er leise Klim. Samgin empfahl ihm, zum Fenster zu gehen, das zum Garten hin geöffnet war, und folgte ihm selbst dorthin. Inokow holte dort Tabakbeutel und Papier hervor, drehte sich ein »Hundefüßchen«, schwenkte das Zündhölzchen in der Luft, um es auszulöschen und sagte mit einem Seufzer:

»Was für eine Dämonische ...«

»Wer?«

Inokow zeigte mit den Augen auf Alina.

»Die dort. Wie ein Traum.«

Klim hielt ein Lächeln zurück und fragte:

»Womit beschäftigen Sie sich?«

Inokow zuckte die Schulter.

»So, überhaupt... arbeite. Im Herbst habe ich im Kaspischen Meer Fische gefangen. Das ist interessant. Schreibe für Korrespondenzen. Manchmal.«

»Wird es gedruckt?«

»Wenig. Ich schreibe wohl zu selten.«

Wenn Inokow stand, kam an ihm etwas Keilartiges zum Vorschein: die Schultern waren breit, das Becken schmal, die Beine dünn.«

»Ich denke mich ernsthaft mit der Fischerei zu befassen, mit Ichthyologie.«

Die Mädchen am Tisch lärmten sehr, doch die Somow hatte gleichwohl Inokows Worte aufgefangen.

»Schriftstellern wirst du«, rief sie.

Inokow schleuderte die halb aufgerauchte Zigarette aus dem Fenster, blies heftig den beißenden Rauch aus dem Munde und ging zum Tisch, mit den Worten:

»Schreiben muß man wie Flaubert, oder überhaupt nicht. Bei uns schreibt man nicht, sondern flicht Bastschuhe für die Seele.«

Er faßte mit beiden Händen die Lehne eines schweren Stuhls und sagte mit großer Glut, wobei er die O's stark betonte:

»Da sind wir nun das erste Land in Europa, was den Reichtum an Fischen betrifft, aber wir betreiben den Fischfang barbarisch, wir beuten ihn räuberisch, ohne Verstand aus. Nach Astrachan kam Professor Grimm, ein Ichthyologe, ich habe ihn durch die Fanggebiete begleitet, aber er war blind, absichtlich blind ...«

»Braucht denn das Volk Heringe?« schrie die Somow, sie rieb sich ihre prallen Backen mit einem unangenehm gelben Tüchlein.

Alina lachte ungeniert, während sie auf sie blickte und heimlich zu Inokow hinschielte. Lida sah ihn blinzelnd, wie man etwas sehr Entferntes und Undeutliches betrachtet, an, er aber stieß zum Takt seiner Rede mit dem schweren Stuhl auf den Boden auf und predigte selbstvergessen:

»Der Aralsee, das Kaspische Meer, das Asowsche Meer, das Schwarze Meer, dazu die nördlichen, dazu die Ströme ...«

»Austrocknen sollen sie!« erboste sich die Somow. »Ich kann es nicht anhören!«

Lida erhob sich und lud alle zu sich nach oben ein. Klim säumte einen Augenblick vor dem Spiegel, um einen Pickel auf der Lippe zu betrachten. Aus dem Salon trat die Mutter. Sie verglich sehr glücklich Inokow und die Somow mit Liebhabern der dramatischen Kunst, die eine verfehlte Farce spielen, legte ihren Arm auf Klims Schulter und fragte:

»Wie gefällt dir Alina?«

»Sie ist blendend.«

»Und nicht dumm, obwohl sie mutwillig ist... in etwas grober Weise.«

Seine Schulter streichelnd, sagte« sie leise:

»Das wäre eine Braut für dich, wie?«

»Aber Mama, das ist doch ein Götzenbild!« antwortete lächelnd ihr Sohn. »Man muß Zehntausende jährliches Einkommen haben, um es würdig zu schmücken.«

»Das ist wahr«, sagte die Mutter ernst und seufzte. »Du hast recht.«

Klim ging zu Lida hinauf. Dort saßen die jungen Mädchen, wie in der Kindheit, auf dem Sofa. Es war stark verschossen, seine Sprungfedern ächzten greisenhaft. Aber er war ebenso weich und breit geblieben wie einst. Die kleine Somow hatte die Beine hinaufgezogen. Als Klim hinzutrat, machte sie ihm einen Platz an ihrer Seite frei. Aber Klim setzte sich auf einen Stuhl.

»Er ist immer noch der gleiche, ein Außenseiter«, sagte die Somow den Freundinnen, während sie mit ihrem plumpen Stiefel dem Stuhl einen Stoß gab. Alina bat Klim, von Petersburg zu erzählen.

»Ja, was für Menschen leben dort?« murmelte Inokow, der auf dem Sofapfühl saß mit Warawkas dicker Zigarre zwischen den Zähnen.

Klim begann zu erzählen, bedächtig, vorsichtig in der Wahl seiner Ausdrücke – über Museen, Theater, literarische Abende und Künstler, doch bald bemerkte er mit Verdruß, daß er uninteressant erzählte und daß man ihm nur unaufmerksam zuhörte.

»Die Menschen sind dort weder besser noch klüger als überall«, fuhr er fort. »Selten begegnet man einem Menschen, für den die wichtigsten Fragen des Daseins die Liebe und der Tod sind.«

Lida rückte eine Haarsträhne zurecht, die ihr über Ohr und Wange gerutscht war. Inokow nahm die Zigarre aus dem Mund, streifte die Asche in die linke, hohle Hand ab, preßte sie in der Faust zusammen und bemerkte vorwurfsvoll:

»Das predigt ja Leo Tolstoi...«

»Weniger als die anderen ...«

»Gibt es auch andere?«

»Sie verhalten sich ablehnend gegen Fragen dieser Art?«

Inokow schob die linke Hand in die Tasche und wischte sie dort ab.

»Ich weiß nicht.«

Klim fühlte, daß dieser Bursche ihn reizte, weil er ihn hinderte, sich der Aufmerksamkeit der jungen Mädchen zu bemächtigen.

»Wahrscheinlich ein Propagandist und vermutlich dumm.«

Er suchte nun anzüglichere Worte zu brauchen, sah aber darauf, daß sie sanft und überzeugend klangen. Nachdem er über Maeterlinck, über die »Blinden« sowie über Rosenbachs »Spinnrad des Nebels« berichtet hatte, wandte er sich in strengem Ton, wobei er Inokow mit dem Blick maß, zur Politik:

»Unsere Väter haben sich allzu eifrig mit der Lösung von Fragen materieller Natur beschäftigt und die Rätsel des seelischen Lebens vollständig ignoriert. Die Politik ist das Gebiet der Selbstgewißheit, die die tiefsten Regungen der Menschen abzustumpfen pflegt. Ein Politiker ist ein bornierter Mensch. Er betrachtet die Nöte des Geistes als so etwas wie eine Hautkrankheit. Alle diese Volkstümler und Marxisten sind Gewerbetreibende. Das Leben aber verlangt Künstler, Schöpfer.«

Inokow, der seine Zigarre wie eine Kerze aufgerichtet hielt, hieb mit dem Finger der linken Hand durch die blauen Spiralen des Rauchs.

»Nun sind Menschen von anderem Schlag erschienen, sie eröffnen uns die geheimnisvolle Grenzenlosigkeit unseres inneren Lebens, sie bereichern die Welt der Gefühle, der Phantasie. Indem sie den Menschen über die häßliche Wirksamkeit erheben, zeigen sie sie nichtiger und weniger schrecklich, als sie scheint, wenn man in gleicher Ebene mit ihr steht.«

»In der Luft kann man nicht leben«, sagte verhalten Inokow und bohrte die Zigarre in die Erde eines Blumentopfes.

Klim verstummte. Ihm schien, daß er etwas Falsches, ja etwas ihm selbst Unbekanntes ausgesprochen habe. Er traute nicht den zufälligen Gedanken, die ihm bisweilen von irgendwoher, abseitig, ohne Zusammenhang mit einer bestimmten Person oder einem Buch kamen. Das, was sich auf andere Menschen bezog, sich mit seiner Grundstimmung deckte und leicht in sein Gedächtnis einging, erschien ihm verläßlicher als diese schweifenden, unvermittelt aufflammenden Gedanken, in denen etwas Gefährliches lag, weil sie ihn gleichsam von dem Vorrat schon gesicherter Meinungen abzulenken und zu trennen drohten. Klim Samgin ahnte dunkel, daß die Angst vor plötzlichen Gedanken in Widerspruch zu irgendeinem seiner Gefühle stand, aber dieser Widerspruch war gleichfalls dunkel und wurde von dem Bewußtsein der Notwendigkeit eines Selbstschutzes gegen den Sturzbach von Meinungen verkörpert, die seiner Natur feindlich waren.

Einigermaßen aufgeregt, musterte er seine Zuhörer. Ihre Aufmerksamkeit beruhigte ihn, während Lidas durchdringender Blick ihm sehr schmeichelte.

Die Somow, die sinnend den Zipfel ihres Zopfes auflöste und wieder zusammenflocht, sagte:

»Dronow, der Unglückliche, philosophiert auch.«

»Ja, ein Bedauernswerter«, bestätigte Inokow nach einem bekräftigenden Nicken seines Krauskopfes. »Und auf dem Gymnasium war er ein so frischer Junge. Ich rede ihm zu, werde Dorflehrer ...«

Die Somow empörte sich:

»Was ist er denn für ein Lehrer? Er ist böse. Ich kenne ihn wenig – und liebe ihn nicht.«

Inokow trat schwankend zur Seite, postierte sich am Fenster und sagte von dort her:

»Als man mich vom Gymnasium jagte, glaubte ich, das sei durch Dronows Gnade geschehen, weil er mich angegeben habe. Ich fragte ihn sogar unlängst: ›Hast du mich angegeben?‹ Nein, sagt er. Na, schön. Wenn du es nicht warst, dann warst du es eben nicht. Ich frage nur aus Neugier.«

Beim Sprechen lächelte Inokow, obwohl seine Worte kein Lächeln erforderten. Dieses Lächeln machte, daß die ganze Haut auf seinem knochigen Gesicht sich sanft und strahlend runzelte, die Sommersprossen näher aneinander rückten und das Gesicht dunkler wurde.

»Natürlich ist er dumm«, entschied Klim.

»Ja, Dronow ist böse«, sagte nachdenklich Lida. »Aber er ist es in einer langweiligen Weise, als sei die Bosheit sein Gewerbe, das er satt bekommen habe.«

»Wie klug du bist, Liduscha«, seufzte die Telepnew.

»Ein gepfeffertes Mädel«, stimmte die Somow, die Lida umarmte, zu.

»Hören Sie«, wandte Inokow sich an sie. »Die Zigarre riecht nach Kirgisen. Darf ich ein wenig Machorka rauchen? Ich werde es zum Fenster hinaustun.«

Klim stand plötzlich auf, trat zu ihm und fragte:

»Erinnern Sie sich meiner nicht?«

»Nein«, antwortete, ohne ihn anzuschauen, Inokow und rauchte seine Zigarette an.

»Wir besuchten zusammen die Schule«, beharrte Klim.

Inokow entließ einen langen Rauchstrahl aus seinem Mund und schüttelte den Kopf.

»Ich erinnere mich Ihrer nicht. Wir waren in verschiedenen Klassen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Klim und verließ ihn.

»Was hatte ich nur, wozu?« dachte er.

Lida verschwand aus dem Zimmer. Auf dem Sofa stritten geräuschvoll die Somow und Alina.

»Durchaus nicht jede Frau ist dazu da, Kinder zu gebären«, schrie beleidigt Alina. »Die Häßlichsten und die Schönsten dürfen es nicht tun.«

Die Somow wandte unter Lachen ein:

»Dummchen! Dann müßte ich also ins Kloster oder ins Zuchthaus und du dein Leben im Gebet verbringen?«

Klim schritt durchs Zimmer, er dachte: wie schnell und unkenntlich verändern sich alle. Nur er blieb »immer noch derselbe Außenseiter«, wie die Somow bemerkt hatte.

»Darauf kann ich stolz sein«, erinnerte er sich. Dennoch war ihm traurig zumute.

Tanja Kulikow trat, still und flach wie ein Schatten, mit der angezündeten Lampe ins Zimmer.

»Schließt das Fenster, sonst fliegt das ganze Ungeziefer herein«, sagte sie. Dann, als sie dem Streit der jungen Mädchen auf dem Sofa folgte und mit zwinkernden Augen den breiten Rücken Inokows betrachtete, seufzte sie:

»Ihr solltet in den Garten gehen.«

Man antwortete ihr nicht. Sie knipste mit dem Nagel gegen den milchweißen Lampenschirm, lauschte mit auf die Seite gesenktem Kopf dem Klang des Glases und verschwand lautlos, eine noch tiefere Traurigkeit in Klim zurücklassend.

Er ging in den Garten. Dort war es schon bläulich dunkel. Die Rispen der weißen Syringen schienen blau. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Am Himmel leuchteten eine Menge Sterne. Der vermischte Duft der Blumen hob sich von der Erde. Das schimmernde Laub berührte kühl bald den Hals, bald die Wangen. Klim schritt über den knirschenden Sand des Pfades, der Lärm der Reden, der sich aus dem Fenster ergoß, hielt ihn vom Denken ab, übrigens trieb es ihn auch nicht, nachzudenken. Der starke Blumenduft berauschte, und Klim schien, daß er über dem Gartenweg Kreise ziehe und sich selbst irgendwohin entfliehe. Plötzlich erschien Lida. Ihren Schal fest um die Brust wickelnd, ging sie neben ihm her.

»Du hast schön gesprochen. Als ob nicht du es gewesen seiest.«

»Danke«, sagte er ironisch.

»Ich erhielt heute einen Brief von Makarow. Er schreibt, du habest dich sehr verändert und gefielst ihm.«

»So? Schmeichelhaft.«

»Laß diesen Ton. Warum solltest du dich nicht freuen, wenn du gefällst? Du liebst es doch zu gefallen, ich weiß es ...«

»Das habe ich noch nicht an mir bemerkt.«

»Bist du schlecht gelaunt? Weshalb hast du sie verlassen?«

»Und – du?«

»Ich habe sie satt bekommen. Aber, trotzdem, es ist unangenehm, laß uns zu ihnen gehen.«

Lida nahm seinen Arm und sagte nachdenklich:

»Ich war überzeugt, dich zu kennen, aber heute warst du mir ein Unbekannter.«

Klim Samgin drückte vorsichtig und dankbar ihren Arm, da er fühlte, daß sie ihn zu sich selbst zurückgeführt hatte.

Im Zimmer wurde erbittert geschrien. Alina stand am Flügel und wehrte die Somow ab, die wie ein Huhn auf sie lossprang und dabei rief:

»Schamlosigkeit! Zynismus!«

Inokow aber lächelte einigermaßen fassungslos und sagte mit scharfer Betonung der O's:

»Eigentlich ziehe ich immer den Zynismus der Heuchelei vor, indessen Sie verteidigen die Poesie der Familienbäder...«

»Alina, man darf doch nicht...«

»Man darf!« schrie, mit dem Fuß stampfend, die Telepnew. »Ich werde es beweisen. Lida, hör zu, ich werde Gedichte vortragen, Sie, Klim, auch. Übrigens, Sie ... na, ganz gleich ...«

Ihr Gesicht flammte, die trägen Augen blitzten zornig, sie blähte die Nüstern, aber in ihrer Entrüstung bemerkte Klim etwas Ungeschicktes und Lächerliches. Als sie ein Blatt Papier aus der Tasche riß und es kriegerisch in der Luft schwenkte, mußte Klim unwillkürlich lächeln – Alinas Geste war ebenfalls von kindlicher Lächerlichkeit. »Ich kann sie auch so«, erklärte sie, ruhiger geworden, und barg das Blatt sorgsam in ihrer Tasche. »Hört zu!«

Sie schloß die Augen und stand einige Sekunden schweigend, sich gerade richtend, und als ihre dichten Brauen sich langsam hoben, schien es Klim, als sei das Mädchen plötzlich um einen Kopf gewachsen. Gedämpft, nur mit dem Atem, sprach sie:

»Wollüstige Schatten auf dunklem Bett umkreisten, mich, schmiegten sich, lockten ...«

Sie stand, den Kopf und die Brauen erhoben, und blickte erstaunt in die bläuliche Dunkelheit vor dem Fenster. Ihre Arme hingen am Körper herab, die geöffneten, rosigen Handflächen standen ein wenig von den Hüften ab.

»Ich schaue im Schimmer der Knie Bildwerk, Weißmarmor der Hüften, den Umriß des Haars . . .« hörte Klim.

Die Nechajew lispelte häufig solche krankhaft sensiblen Verse, und sie weckten in Klim stets vollkommen eindeutige Regungen. Bei Alina blieben diese Emotionen aus. Sie erzählte erstaunt und schlicht mit fremden Worten eine Traumerscheinung. In Klims Erinnerung erstand die Gestalt jenes kleinen Mädchens, das einst vor langer Zeit schelmisch die geliebten Gedichte Fets aufgesagt hatte. Doch heute klang auch keine Schelmerei in den wollüstigen Versen, nur Staunen. Eben dieses Gefühl hörte Klim aus den Lauten der schönen Stimme heraus, sah er in dem, vielleicht vor Scham oder Furcht erblaßten Gesicht, in den geweiteten Augen. Ihre Stimme sank immer tiefer herab, belastet von den fiebrigen Worten. Immer langsamer und kraftloser sprach sie, als entziffere sie mit Mühe eine undeutliche Schrift, und plötzlich sagte sie, unter erleichtertem Seufzen, eine Strophe mit erhobener Stimme:

»O ferner Morgen auf schäumendem Strande, fremd purpurne Farben der schamhaften Früh'.«

Es schien, als ob sie mühsam die Worte des Dichters wiederhole, der unsichtbar neben ihr, ihr, unhörbar für die anderen, berauschende Worte eingab.

Klim, an die Wand gelehnt, vernahm bereits nicht mehr Worte, sondern nur noch die rhythmischen Schwingungen der Stimme und blickte gebannt auf Lida. Sie saß, sich wiegend, auf dem Stuhl und blickte in einer Richtung mit Alina.

»Chaos!« sagte Alina das letzte Wort des Gedichts, bedeckte ihr Gesicht mit der Hand und sank auf das Taburett vor dem Flügel nieder.

»Empörend schön«, murmelte Inokow.

Die Somow näherte sich leise der Freundin, streichelte ihren Kopf und sagte schmachtend:

»Du brauchst nicht zu heiraten – du bist eine Schauspielerin.«

»Nein, Ljuba, nein ...«

Inokow hatte es plötzlich eilig:

»Ljuba, wir müssen gehen.«

»Ich auch«, sagte Alina und erhob sich.

Sie trat zu Lida, küßte sie schweigend und fest und fragte Inokow:

»Nun?«

»Sie haben recht behalten– empörend schön!« antwortete er ihr unter kräftigem Händeschütteln.

Sie gingen. Der Mond schien in das offene Fenster. Lida schob ihren Stuhl näher zu ihm hin, setzte sich und legte die Arme auf die Fensterbank. Klim stellte sich neben sie. In der bläulichen Dämmerung zeichnete sich klar das Profil des Mädchens ab, glänzten ihre dunklen Augen.

»Liebe trägt sie unnachahmlich vor«, sagte Lida, »aber ich glaube, sie schwärmt nur, fühlt nicht. Makarow spricht ebenfalls festlich über die Liebe und wie sie ... an der Liebe vorbei. Gefühl hat – Ljutow. Es ist ein erstaunlich interessanter Mensch, aber er ist auf irgendeine Weise verstört, er fürchtet etwas ... Manchmal tut er mir leid.«

Sie sprach, ohne Klim anzusehen, still, und als ob sie ihre Gedanken prüfe. Sie schlang die Arme um den Nacken und reckte sich. Ihre spitzen Brüste hoben das leichte Gewebe ihrer Bluse ganz hoch. Klim schwieg abwartend.

»Wie ist das alles so seltsam ... Weißt du, in der Schule machte man mir ausdauernder und häufiger den Hof als ihr, und doch bin ich neben ihr beinahe ein Scheusal. Und ich nahm mir das sehr zu Herzen, nicht um meinetwillen, sondern um ihrer Schönheit willen. Ein merkwürdiger Mensch, Diomidow, nicht einfach Dimidow, sondern Diomidow, sagte, Alina sei eine abstoßende Schönheit. Ja, mit diesen Worten hat er das gesagt. Aber er ist ein ungewöhnlicher Mensch, es ist schön, ihm zuzuhören, aber schwer, ihm zu glauben ...«

Ehe Samgin Zeit fand, ihr zu sagen, daß er ihre Andeutungen nicht verstehe, fragte Lida nach einem Blick hinter seine Brille:

›Hast du auch bemerkt, daß sie, wenn sie deklamiert, einem Fisch ähnelt? Sie hält ihre Hände wie Schwimmflossen.«

Klim verpflichtete ihr bei:

»Ja, eine hölzerne Pose.«

»Das konnte man ihr in der Schule nicht abgewöhnen. Glaubst du, ich schmähe sie? Beneide sie? Nein, Klim, das ist es nicht«, fuhr sie, nach einem Seufzer, fort. »Ich glaube, es muß eine Schönheit geben, die keine rohen Gefühle erregt ... nicht wahr?«

»Natürlich«, sagte Klim. »Du redest seltsam. Weshalb muß Schönheit rohe Gefühle erregen ...«

»Doch, wiedersprich nicht! Wäre ich schön, würde ich nur rohe Gefühle wecken ...«

Sie sagte es in entschiedenem Ton und hastig und fragte sogleich:

»Wie nanntest du den Verfasser der ›Blinden‹? Maeterlinck? Besorge mir dieses Buch. Nein, wie wunderbar, daß du gerade heute vom Wichtigsten gesprochen hast!«

Ihre Stimme klang liebevoll, sanft und erinnerte Klim an die halbvergessenen Tage, als sie noch klein war und, müde vom Spielen, ihn einlud:

»Komm, sitzen wir ein wenig.«

»Mich regen diese Fragen auf«, antwortete sie, zum Himmel hinaufschauend. »In der Woche vor Weihnachten nahm Dronow mich zu Tomilin. Er ist in Mode, Tomilin. Man ladet ihn ein in die Häuser der Intelligenz, zur Predigt. Aber mir scheint, daß er alles auf der Welt in Worte verwandelt. Ich war noch ein zweites Mal bei ihm, allein. Er warf mich in diese kalten Werte, wie ein Kätzchen ins Wasser, das war alles.«

Obwohl sie dies spöttisch, ohne Klage, sagte, fühlte Klim sich ergriffen. Er empfand den Wunsch, herzlich zu ihr zu reden, ihre Hand zu streicheln.

»Erzähle etwas«, bat sie.

Er begann von Turobojew zu erzählen, während er dachte:

»Wie, wenn ich ihr die Geschichte mit Nechajew anvertraute?«

Lida hörte seine ironische Rede noch nicht eine Minute lang an und sagte:

»Das ist uninteressant.«

Doch fast im gleichen Augenblick fragte sie lässig:

»Er ist sehr krank?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Klim befremdet. »Weshalb fragst du? Ich meine, weshalb glaubst du es?«

»Ich hörte, er habe die Schwindsucht.«

»Es fällt nicht auf.«

Lida verstummte, rieb sich mit dem Tuch die Lippen und die Wange und sagte seufzend:

»Wir hatten in der Schule einen Freund Turobojews, einen ganz unerträglichen Flegel, aber ein hervorragendes Talent. Und – plötzlich ...«

Sie zuckte nervös zusammen, sprang auf die Füße, trat zum Sofa, wickelte sich in den Schal und flüsterte, dort stehenbleibend, empört:

»Denke dir, wie entsetzlich – mit zwanzig Jahren von einer Frau krank zu werden. Wie gemein! Das ist schon eine Niederträchtigkeit! Liebe und dann – dies .. .«

»Nun, was denn für eine Liebe?«

Lida unterbrach ihn im Zorn:

»Ach, laß nur! Du verstehst es nicht. Es darf hier keine Krankheiten geben, keine Schmerzen, nichts Schmutziges ...«

Während sie sich, mit gekrümmtem Rücken, wiegte, sprach sie durch die Zähne:

»Überhaupt alle, ein Grauen! Du weißt es nicht: mein Vater hat sich im vergangenen Winter mit einer Soubrette eingelassen, – dick, rot und gemein wie ein Marktweib. Ich stehe nicht freundschaftlich zu Wera Petrowna, wir lieben uns nicht, aber – mein Gott! Wie hat sie gelitten! Ihre Augen sind wahnsinnig geworden. Hast du gesehen, wie sie ergraut ist? Wie roh und furchtbar ist das alles. Die Menschen treten aufeinander mit Füßen herum. Ich will leben, Klim, aber ich weiß nicht, wie.«

Die letzten Worte sprach sie mit solcher Schroffheit aus, daß Klim ängstlich wurde. Sie aber forderte:

»Nun, sag du, wie man leben soll!«

»Liebe«, antwortete er still. »Liebe, und alles wird klar sein.«

»Du weißt es? Hast es erfahren? Nein. Nichts wird klar sein. Nichts. Ich weiß, daß man lieben muß, aber ich bin überzeugt, daß es mir nicht gelingen wird.« »Warum?«

Lida biß sich auf die Lippen und schwieg, sie stützte ihre Arme auf die Knie. Ihr dunkles Gesiebt wurde tiefer vom Andrang des Blutes, sie bedeckte geblendet ihre Augen. Klim hätte ihr gern etwas Tröstendes gesagt, aber er kam nicht so weit.

»Da bin ich nun auf der Theaterschule gewesen, um nicht zu Hause leben zu müssen, und weil ich keinerlei Hebammenkurse, Mikroskope und dergleichen liebe«, sagte Lida sinnend in gedämpftem Ton. »Ich habe eine Freundin mit einem Mikroskop, sie glaubt daran, wie ein altes Mütterchen an das Mysterium des heiligen Abendmahls. Aber im Mikroskop sieht man weder Gott noch Teufel.«

»Man sieht sie ja auch durch das Teleskop nicht«, scherzte Klim zaghaft und tadelte sich für seine Furchtsamkeit.

Lida setzte sich in die Sofaecke und zog die Beine hinauf.

»Mir scheint«, begann Klim energisch, »ich bin sogar davon überzeugt, daß Menschen, die ihrer Einbildungskraft Spielraum geben, es leichter haben. Schon Aristoteles hat gesagt, daß die Einbildung der Wahrheit näher sei als die Wirklichkeit.«

»Nein«, sagte Lida hart. »Das ist nicht so.«

»Aber ist denn die Dichtung – keine Einbildung?«

»Nein«, sagte noch schroffer das Mädchen, »Ich verstehe nicht zu streiten, aber ich weiß, es ist nicht wahr. Ich – bin keine Einbildung.«

Sie berührte mit der Hand Klims Arm und bat:

»Sprich nicht in Zitaten wie Tomilin ...«

Dies verwirrte Klim so heftig, daß er von ihr abrückte und fassungslos stammelte:

»Wie du willst...«

Zwei oder drei Minuten schwiegen beide. Dann erinnerte Lida leise:

»Es ist schon spät.«

Während Klim sich auf seinem Zimmer entkleidete, empfand er ein scharfes Mißvergnügen. Weshalb war er ängstlich geworden? Er bemerkte bereits zum wiederholten Male, daß er sich unter vier Augen mit Lida gedrückt fühlte und daß dieses Gefühl nach jedem Wiedersehen wuchs.

»Ich bin kein Gymnasiast, der in sie verschossen ist, kein Makarow«, grübelte er. »Ich sehe sehr wohl ihre Mängel, während ihre Vorzüge mir eigentlich nicht klar sind«, beschwichtigte er sich. »Was sie von der Schönheit sagte, war dumm. Überhaupt spricht sie, wie die Laune es ihr eingibt, unnatürlich für ein Mädchen in ihren Jahren...«

Bemüht, zu ergründen, was ihn zu diesem Mädchen hinzog, entdeckte er bei sich nicht nur keine Verliebtheit, sondern nicht einmal jene physiologische Neugier, die die kundigen Liebkosungen Margaritas und die Gier der Nechajew in ihm entfachten. Doch es zog ihn immer gewaltiger zu Lida, und in dieser Anziehung witterte er dunkel eine Gefahr für sich. Zuweilen schien Lida ihm mit jener Überheblichkeit zu begegnen, die ihr in der Kindheit eignete, als alle Mädchen außer Lida ihn tiefer stehende Geschöpfe dünkten als er. Als er sich erinnerte, daß in seiner zierlichen, geschmeidigen Freundin immer der Hang zum Befehlen lebte, hielt er bei der Erkenntnis, daß dieser Hang sich nun in mißgestalteter Form ausgewachsen hatte, bleischwer geworden war und durch eben diese Wucht Lida zu Boden drückte. Er lag nicht in dem, was Lida sagte, er verbarg sich hinter ihren Worten und verlangte gebieterisch, daß Klim ein anderer Mensch wurde, anders dachte und sprach, verlangte eine ungewöhnliche Aufrichtigkeit. Sie belehrte:

»Du sprichst zu gelehrsam und behandelst die Menschen wie ein Beamter in besonderem Auftrag. Weshalb lächelst du so gezwungen?«

All das erregte Klims Protest, das Bewußtsein der Notwendigkeit einer Abwehr und eben dieses Bewußtsein, das ihm Makarow vor Augen hielt, diktierte:

»Ich werde sie nicht beachten und basta! Ich will ja nichts von ihr!«

Er versuchte, eine unabhängige Haltung einzunehmen, bemühte sich, Lida davon zu überzeugen, daß sie ihm gleichgültig sei, führte ihr seine neue Miene recht deutlich vor die Augen und wünschte sehr, daß sie seine Unabhängigkeit bemerke. Sie bemerkte sie und fragte wegwerfend:

»Mit wem schmollst du eigentlich?«

Um darauf unabweisbar zu forschen:

»Warum gefällt dir ›Unser Herz‹? Es ist unnatürlich. Einem Mann darf ein solches Buch nicht gefallen.«

Nicht immer war es leicht, ihre Fragen zu beantworten. Klim fühlte, hinter ihnen versteckte sich der Wunsch, ihn auf Widersprüchen zu ertappen, und noch etwas, was gleichfalls in der Tiefe der dunklen Pupillen, im hartnäckigen, sezierenden Blick versteckt war.

Einmal verlor er die Beherrschung und sagte wütend:

»Du examinierst mich wie einen Schuljungen.«

Lida fragte verwundert:

»In der Tat?«

Sie blickte ihm mit einem rätselhaften Lächeln in die Augen und sagte dann ziemlich sanft:

»Nein, einen Jüngling kann man dich nicht nennen, du bist so ein ...«

Sie suchte ein passendes Wort und fand nur ein sehr vages:

»Besonderer...«

Und, nach ihrer Gewohnheit, verhörte sie ihn:

»Was findest du an Rodenbach? Das ist schlechter Seifenschaum für meinen Geschmack.«

Eines Abends, als ein Frühlingsschauer stürmisch gegen das Fenster schlug, Klims Zimmer in blauem Feuer aufflammte und die Scheiben unter den Donnerschlägen zusammenbebten, stöhnten und klirrten, küßte Klim, lyrisch gestimmt, dem Mädchen die Hand. Sie nahm diese Geste gelassen auf, als habe sie sie nicht einmal gefühlt, aber als Klim versuchte, sie noch einmal zu küssen, entzog sie ihm still ihre Hand.

»Du glaubst mir nicht, aber ich ...« begann Klim, aber sie fiel ihm ins Wort:

»Am allerwenigsten gleichst du dem Chevalier des Grieux. Und ich bin keine Manon.«

Einen Augenblick später zuckte sie zusammen und sagte:

»Ich glaube, am widerwärtigsten lieben die Schauspieler uns Frauen.«

Klim fragte beunruhigt:

»Warum ausgerechnet Schauspieler?«

Keine Antwort.

Derartige Gedanken äußerte sie unerwartet, ohne Zusammenhang mit dem Vorangehenden, und Klim witterte in ihnen stets etwas Verdächtiges, eine verletzende Anspielung, Ob sie ihn wohl für einen Schauspieler hielt? Er ahnte bereits, daß Lida, worüber immer sie reden mochte, an die Liebe dachte, so wie Makarow an das Los der Frauen, Kutusow an den Sozialismus, so wie die Nechajew fälschlich an den Tod dachte, bis es ihr gelang, Liebe zu erzwingen. Klims Abneigung und Furcht vor Menschen, die von einer Idee besessen waren, wuchs beständig. Sie waren Gewaltmenschen und alle beherrscht von dem Drang, andere zu unterjochen.

Zeitweilig hatte er den Eindruck, daß Lida mit ihm spielte. Das vertiefte seine Feindseligkeit gegen sie, steigerte auch seine Zaghaftigkeit. Doch er nahm mit Erstaunen wahr, daß auch dies ihn von dem Mädchen nicht abstieß.

Am übelsten war er dran, wenn sie, mitten im Gespräch, in eine sonderbare Erstarrung fiel. Mit fest zusammengepreßten Lippen und weit geöffneten Augen stierte sie ihn an und gleichsam durch ihn hindurch. Auf ihrem dunklen Gesicht erschien der Schatten unergründlicher Gedanken. In solchen Augenblicken schien sie plötzlich gealtert, durchdringend und gefährlich weise. Klim, unfähig, diesen Blick zu ertragen, senkte den Kopf und erwartete, daß sie gleich etwas Ungewöhnliches, Anormales ersinnen und verlangen würde, daß er diesen ihren Einfall ausführen solle. Er fürchtete, daß er es ihr nicht abschlagen könnte. Und nur ein einziges Mal fand er in sich Mut genug, um zu fragen:

»Was hast du?«

»Nichts«, antwortete sie mit dem allen gewohnten, leeren Wort.

Doch dann erhellte ein langsames Lächeln ihr Gesicht, und sie sagte:

»Der Schweiger hat mich gepackt. Pawla, erinnerst du noch? das Dienstmädchen, das uns bestahl und spurlos verschwand? – Sie erzählte mir, es gebe ein Wesen, das »Schweiger« heiße. Ich verstehe sie, ich sehe ihn beinahe – als Wolke, als Nebel. Er umfängt und durchdringt den Menschen, um ihn zu verwüsten. Es ist eine Art Schauer. In ihm verschwindet alles, Gedanken, Worte, Gedächtnis, Verstand – alles! Nur eines bleibt im Menschen zurück: die Furcht vor sich selbst. Verstehst du?«

»Ja«, antwortete Klim, der beobachtete, wie ihr gemachtes Lächeln erlosch, und dachte; »Sie schauspielert. Natürlich schauspielert sie.«

»Ich aber verstehe nicht«, fuhr sie fort, mit einem neuen, spitzen Lächeln. »Nicht mich und nicht die anderen. Ich verstehe nicht zu denken, scheint mir. Oder ich denke nur an meine eigenen Gedanken. In Moskau wurde ich einem Sektierer vorgestellt, so einem Einfaltstropf mit einem Hundeschnäuzchen. Der wiegte sich und murmelte:

»Mein Fuß singt – wohin gehe ich? Meine Hand singt – weshalb nehme ich? Mein Fleisch singt – wozu lebe ich?« Nicht wahr, das ist seltsam? So ein Einfältiger, Kümmerlicher. Das ist nicht notwendig, meiner Meinung nach.«

Klim stimmte zu:

»Nein, das ist es nicht.«

Aber Lida fragte plötzlich sehr streng:

»Wenn es aber doch notwendig ist? Sicher weißt du, ob ja oder nein?«

Sie machte es beständig so: zwang ihn, ihr zuzustimmen und bestritt sofort ihre eigene Behauptung. Klim pflichtete ihr gern bei, hatte aber keine Lust, mit ihr zu streiten, da er es fruchtlos fand, weil er sah, daß sie Einwände überhörte.

Er sah auch, daß seine einsamen Gespräche mit Lida seiner Mutter mißfielen. Auch Warawka verfinsterte sich, kaute mit roten Lippen an seinem Bart und sagte, die Vögel bauten ihr Nest erst, nachdem sie flügge geworden seien. Langeweile, Müdigkeit und Erbitterung gingen von ihm aus. Er erschien zuhause zerknittert wie nach einer Schlägerei. Er zwängte seinen wuchtigen Körper in einen Ledersessel, trank Selters mit Kognak, näßte den Bart und beklagte sich über die Stadtverwaltung, die Landschaftsversammlung, den Gouverneur. Er sagte:

»In Rußland leben zwei Rassen: die Menschen der einen können nur über das Vergangene denken und sprechen, die Menschen der anderen nur über die Zukunft und unbedingt über eine sehr entfernte. Die Gegenwart, der morgige Tag, interessiert niemand.«

Die Mutter saß ihm gegenüber, als sitze sie einem Porträtisten. Lida begegnete auch früher dem Vater nicht gerade zärtlich, jetzt aber sprach sie mit ihm unhöflich, behandelte ihn gleichgültig, wie einen Menschen, den sie nicht brauchte. Die qualvolle Langeweile trieb Klim auf die Straße. Dort sah er, wie ein betrunkener Kleinbürger einem dicken einäugigen Weib Eier abkaufte, sie aus dem Korb nahm, eins nach dem anderen gegen das Licht hielt und sie mit den tatarischen Worten: »Jakschi. Tschoch jakschi!« in die Tasche steckte.

Ein Ei geriet neben die Tasche, er zertrat es. Unter der Sohle seines schmutzigen Stiefels schnalzte gelbe Jauche. Vor dem Hotel »Moskau« hockten auf dem zerbrochenen Schild Tauben, die in ein Fensterchen guckten. Dahinter stand in Hemdsärmeln ein Mann mit schwarzem Schnurrbart, der, pfeifend und besorgt die Stirn runzelnd, prüfend seine blauen Hosenträger spannte. Ein altes Weiblein mit freundlichem Gesicht stieß ein Wägelchen vor sich her, aus dem ein Paar winziger rosiger Händchen in die Luft griffen. Die Alte streifte Klim mit dem Rad des Wägelchens und rief wütend:

»Haben Sie denn keine Augen? Und dabei noch ein Bebrillter!«

Sie blieb einen Augenblick stehen, um eine Prise zu nehmen, und sagte laut etwas über die gottlosen Studenten. Klim ging und dachte an den Sektierer, der brummte: »Mein Fuß singt – wohin gehe ich?«, an den betrunkenen Kleinbürger, an die strenge Alte, an den schwarzbärtigen Mann, der mit seinen Hosenträgern beschäftigt war. Welcher Sinn war in dem Dasein dieser Menschen?

In einer engen Sackgasse zwischen faulenden Zäunen lärmten etwa zwanzig Jungen. Abseits lag barfüßig und ohne Mütze, Inokow auf dem Bauche. Sein zerzaustes Haar glänzte an der Sonne wie Seide, sein gesprenkeltes Gesicht runzelte sich in einem seligen Lächeln, die Sommersprossen zitterten. Aufgeregt, in flehendem Ton, schrie er den Jungen zu:

»Petja, nicht so hastig! Ruhig! Schlag den Popen! Den Popen ... autsch, vorbeigetroffen!«

Inokow tauchte häufig vor Klims Augen auf. Bald ging er irgendwohin, weit ausholend, den Blick auf die Erde geheftet, die geballten Hände auf dem Rücken versteckt, als schleppe er auf seinen Schultern eine unsichtbare Last. Bald saß er im Stadtpark auf einer Bank, ließ die Lippe hängen und verfolgte verzaubert die launischen Spiele der Kinder.

Aus dem Keller der Kaufleute Sinewoi krochen Tausende von Maden, wimmelten umher, erklommen den grauen Stein des Fundaments und bedeckten ihn mit lebendem schwarzen Spitzenwerk. Sie krochen über das Trottoir vor die Füße der Menschenmenge. Die Menschen wichen ihnen aus, die einen voll Abscheu, die andern furchtsam, und knurrten, bald böse, bald schadenfroh:

»Ein böses Zeichen! Ein böses Zeichen!«

»Unsinn!« schrie Inokow. Er lachte laut und entblößte die schiefen bösen Zähne, er erklärte:

»Es ist etwas verfault ...«

Die Leute wichen ihm, der lang und hager war, ebenso aus wie den Maden.

Einmal stand Klim ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber und wollte mit ihm einen Gruß tauschen, aber Inokow schritt mit glotzenden Augen, sich auf die Lippe beißend, wie ein Blinder an ihm vorüber.

Zwei- oder dreimal sprach Inokow zusammen mit Ljubow Somow bei Lida vor, und Klim sah, daß dieser keilförmige Jüngling sich bei Lida als ungebetener Gast fühlte. Planlos, wie ein schläfriger Flußbarsch in einem Zuber mit Wasser, schleppte er sich von einer Ecke in die andere, wobei er heftig seinen langmähnigen Kopf schüttelte und sein buntgesprenkeltes Gesicht verzog. Die Augen sahen fragend auf die Gegenstände. Es war klar, daß Lida ihm unsympathisch war und er sich innerlich mit ihr auseinandersetzte. Unvermittelt trat er an sie heran, zog die Brauen in die Höhe, riß die Augen auf und fragte:

»Lieben Sie Turgenjew?«

»Ich lese ihn.«

»Das heißt – wie verstehen Sie das, daß Sie ihn lesen? Sie haben ihn gelesen?«

»Also gut, ich habe ihn gelesen«, gab Lida mit einem Lächeln zu. Inokow aber machte ihr in lehrhaftem Ton klar:

»Die Bibel, Puschkin, Shakespeare liest man, Turgenjew hingegen ›hat man gelesen‹, um der russischen Literatur den Tribut der Höflichkeit zu zollen.«

Darauf befleißigte er sich, Albernheiten und Frechheiten zu sagen:

»Turgenjew ist ein Konditor. Bei ihm findet man nicht Kunst, sondern Törtchen. Wahre Kunst ist nicht süß, sie hat immer etwas Bitteres.«

Sprach's und entfernte sich. Ein anderes Mal trat er von hinten auf sie zu, beugte sich über ihre Schulter und fragte ebenso unvermittelt:

»Haben Sie ›Eine langweilige Geschichte‹ von Tschechow gelesen? Spaßig, was? Der Professor hat da sein ganzes Leben irgend etwas gelehrt und zum Schluß muß er erkennen: Es gibt keine allgemeine Idee. An was für einer Kette hat er dann sein Leben lang gesessen? Was hat er – ohne allgemeine Idee – die Menschen gelehrt?«

»Ist die allgemeine Idee nicht ein – Gemeinplatz?« fragte Lida.

Inokow sah sie verwundert an und murmelte:

»Ach so! Hm ... ja, daran habe ich nicht gedacht. Ich weiß es nicht.«

Und fuhr hartnäckig fort:

»Tschechow hat auch keine allgemeine Idee. Er hat ein Gefühl des Unglaubens an den Menschen, an das Volk. Ljeskow, der glaubte an den Menschen, an das Volk freilich auch nicht besonders glühend. Er hat gesagt: Slawischer Plunder, heimatlicher Mist! Aber er, Ljeskow, hat ganz Rußland durchdrungen. Tschechow verdankt ihm überaus viel.«

»Das sehe ich nicht ein«, sagte Lida, die Inokow neugierig betrachtete.

»Lesen Sie erst den einen, dann den anderen, so werden Sie es einsehen ...

Er tippte dem Mädchen auf die Schulter, so daß sie zurückfuhr:

»Hören Sie mal, wo ist denn diese Schönheit, Ihre Freundin?«

»Wahrscheinlich bei sich zuhause. Wollen Sie etwas von ihr?«

Lida lächelte. Auch die Sommersprossen in Inokows Gesicht hüpften, die Lippen zogen sich wie bei Kindern auseinander, und in den Augen erstrahlte ein sanftes Lachen.

»Habe ich komisch gefragt? Na, macht nichts. Natürlich will ich nichts von ihr, ich bin bloß neugierig, wie sie einmal leben wird? Mit einer solchen Schönheit ist es schwer. Und dann denke ich immer, daß wir unter dem neuen Zaren eine Lola Montez haben müssen.«

»Er hat sich in sie verliebt, das ist es«, sagte die Somow und sah ihren Freund liebevoll an. »Er ist gierig nach Grellem ...«¦

»Daß ich mich verliebt habe, ist Quatsch. Verlieben kann ich mich garnicht. Ganz einfach – dieses Fräulein stimmt mich tief nachdenklich. Allzuwenig paßt sie in ihre Umgebung. Darum ist es traurig, an sie zu denken.«

»Versuchen Sie, nicht an sie zu denken«, riet Lida.

Inokow wunderte sich und bewegte krampfhaft die Brauen.

»Ist denn so etwas möglich: sehen und nicht daran denken?«

Als er und die Somow weggegangen waren, fragte Klim Lida:

»Weshalb redest du mit ihm im Ton einer alten Gnädigen?«

Lida kicherte und erklärte, während sie die Arme auf der Brust kreuzte, achselzuckend:

»Ich fühle selbst, daß es albern ist, aber ich finde keinen anderen Ton. Mir scheint, spräche ich mit ihm auf andere Weise, würde er mich auf seine Knie setzen, umarmen und ausfragen: »Sie – was sind Sie eigentlich?«

Klim dachte nach und sagte:

»Ja, von ihm kann man jede Frechheit erwarten.«

Eines Abends kam die Somow allein, sehr müde und offensichtlich beunruhigt:

»Ich werde bei dir übernachten, Liduscha«, erklärte sie. »Mein allerliebster Grischuk hat sich irgendwohin in den Distrikt aufgemacht, er muß zusehen, wie die Bauern rebellieren. Gib mir was zu trinken, nur keine Milch. Hast du Wein?«

Klim ging in den Keller und kam mit einer Flasche Weißwein zurück. Man setzte sich zu dritt aufs Sofa, und Lida begann, ihre Freundin auszuforschen, was für ein Mensch dieser Inokow sei.

»Ich weiß es selbst nicht, meine Freunde!« begann die Somow und breitete ratlos die Arme aus, was Klim für aufrichtig hielt.

»Ich bin sechs Jahre mit ihm bekannt, lebe mit ihm das zweite Jahr, sehe ihn aber selten, weil er beständig nach allen Richtungen hin von mir abspringt. Er kommt wie eine Motte hereingeflogen, dreht sich, schwirrt ein wenig und plötzlich heißt es: »Ljuba, morgen fahre ich nach Cherson.« Merci, Monsieur. Mais – pourquoi? Meine Lieben, furchtbar albern und sogar bitter ist es, in unserem Dorf französisch zu sprechen, aber man möchte es so gern! Wahrscheinlich möchte man es zur Vertiefung der Albernheit, vielleicht auch, um sich daran zu erinnern, daß es noch ein anderes Leben gibt.«

Sie hatte scherzhaft, mit komischen Intonationen angefangen, fuhr aber bereits nachdenklich fort, jedoch ohne ihren traurigen Humor zu verlieren.

»Man muß, sagt er, Rußland kennenlernen. Alles kennen – das ist sein Spleen. Er sagt es sogar in Versen:

›Doch diese Ketten werde ich zerreißen,


Dafür ist mir der Wille gegeben,


Dazu hat meine Seele nur erweckt


Der Fanatiker des Wissens – Satanas!‹

Ja, so ist er also verschwunden. Auch kein Brief, und auch ich selbst bin scheinbar nicht da. Plötzlich stapft er zur Tür herein, zärtlich, schuldbewußt. Erzähle, wo warst du, was hast du gesehen? Er erzählt dann etwas nicht sehr Aufregendes, aber trotzdem ...«

Tränen traten der Somow in die Augen, sie zog ihr Tuch hervor, wischte sich verlegen die Augen und lächelte:

»Die Nerven. Also: in Mariupol, sagt er, hat eine Kaufmannswitwe einen Neger, einen Matrosen von Beruf, geheiratet, er hat den orthodoxen Glauben angenommen und singt den Tenor im Kirchenchor.«

Die Somow schluchzte laut auf und bedeckte wieder mit dem Tuch die Augen.

»An den Neger glaube ich nicht, den Neger hat er erdichtet. Aber Unvereinbares zu erdichten, das ist auch ein Steckenpferd von ihm. Er zankt mit dem Leben wie mit einer launenhaften Frau: ach, so bist du? Nun, ich kann es noch etwas kniffliger! Ach, meine Kinder, wie er mich damit schreckt. In unserem Dorf gab es einen verzweifelten Raufbold, Mikeschko, der Fröhner genannt. Niemanden ließ er in Frieden mit seinen Frechheiten. Als Grischa bei uns lebte, wurde er auf ihn aufmerksam und stand bei jeder Begegnung vor ihm auf dem Kopf. Alle lachen, was ist los? Auch Mikeschka lacht. Aber die Mädels und Burschen begannen ihn zu necken: ›Du, Fröhner, kannst das aber nicht!‹ Der wurde wütend und suchte mit Grischa Händel. Aber Grischa war stärker als er, zwang ihn zu Boden und begann ihm, wie einem Jungen, die Ohren zu zausen. Mikeschka war aber vierzig Jahre alt. Er zitterte am ganzen Körper und bat: ›Mach keinen Unsinn! Unsinn machen kann jeder, sogar noch besser als du!‹«

Die Somow schnitt eine Grimasse, seufzte und fuhr leiser fort:

»Um die Wahrheit zu sagen, es war nicht schön anzusehen, wie er auf Mikeschkas Rücken ritt. Wenn Grigori böse ist, ist sein Gesicht ... grauenhaft. Dann weinte Mikeschka. Hätte man ihn bloß geschlagen, hätte er es sich nicht so zu Herzen genommen, so aber hatte man ihn bei den Ohren genommen. Man lachte ihn überall aus, und er ist als Landarbeiter ins Gehöft der Shadowskis gegangen. Ich muß gestehen, ich war froh, daß er wegging, er warf mir alles mögliche Zeug zum Fenster herein, tote Mäuse, Maulwürfe, lebende Igel, und ich habe schreckliche Angst vor Igeln!«

Die Somow bebte, nahm einen Schluck Wein, leckte sich die Lippen und sagte so, als erinnere sie etwas lange Vergangenes:

»Die Bauern liebten Grigori. Er erzählte ihnen alles, was er wußte. Er war auch bereit, ihnen bei der Arbeit zu helfen. Er ist ein guter Zimmermann. Hat Fuhrwerke ausgebessert. Er verstand sich auf jede Arbeit.«

Sie schwieg trübsinnig eine Weile, dann fügte sie seufzend hinzu:

»Fröhlich arbeitet er.«

Nachdem er diese Erzählung gehört hatte, war Klim überzeugt, daß Inokow in der Tat ein anormaler und gefährlicher Mensch war. Am nächsten Tag teilte er seine Ansicht Lida mit, doch die sagte sehr fest:

»Mir gefallen solche.«

»Du aber bist, glaube ich, nicht ganz nach seinem Geschmack.«

Lida warf ihm einen schiefen Blick zu und schwieg.

Zwei Tage später kam die Somow in großer Aufregung angelaufen.

»Der Gouverneur hat befohlen, Inokow aus der Stadt auszuweisen, beleidigt durch einen Korrespondenzbericht über eine Lotterie, die seine Frau zugunsten der Abgebrannten veranstaltet hat. Man sucht Grischa, die Polizei ist bei mir gewesen, man hat verlangt, ich soll angeben, wo er sich befindet. Aber ich weiß es ja selbst nicht. Man glaubt mir nicht.«

Sie saß auf dem Stuhl, griff sich an den Kopf und fuhr, während sie hin- und herschwankte, fort:

»Ich kann doch nicht sagen, er ist dorthin gegangen, wo die Bauern rebellieren? Ich weiß auch nicht, wo die überhaupt rebellieren!«

Lida begann, sie zu beruhigen, aber sie sagte unter Schluchzen:

»Du verstehst nicht. Er ist ja blind gegen sich selbst. Er sieht sich nicht. Er braucht einen Blindenführer, eine Kinderfrau, das ist ja mein Amt bei ihm. Lida, bitte deinen Vater ... übrigens, laß, es ist nicht nötig!«

Sie riß sich vom Stuhl los, küßte hastig ihre Freundin und lief zur Tür, sagte aber von dort her, stehenbleibend:

»Ich denke, Dronow hat über die Korrespondenz geschwatzt, niemand außer ihm hatte Kenntnis von ihr. Sie haben es zu schnell erfahren. Gewiß war es Dronow. Lebt wohl!«

Weg war sie, und schon seit mehr als zwei Wochen wurde sie in der Stadt nicht gesehen.

Klim fiel das alles ein, als er im Stadtpark über den Rand des Teiches gebeugt saß und sein verzerrtes Spiegelbild im grünlichen Wasser betrachtete. Er tauchte seinen Spazierstock ins Wasser, ließ Wassertropfen auf den weißen Fleck spritzen, und wenn er ihn zerstört hatte, verfolgte er, wie von neuem sein Kopf und seine Schultern auftauchten und seine Brillengläser funkelten.

»Wozu taugen solche Menschen wie die Somow, wie Inokow? Erstaunlich verworren und verschüttet ist das Leben«, dachte er und redete sich ein, das Leben würde erträglicher und einfacher ohne Lida sein, die wahrscheinlich nur deshalb rätselhaft erschien, weil sie feige war, feiger als die Nechajew, doch ebenso gespannt auf eine bequeme Gelegenheit wartete, um sich der Gewalt ihrer Triebe zu überlassen. Es wäre ruhiger zu leben ohne Tomilin, ohne Kutusow, ja, ohne Warawka, überhaupt ohne alle diese Weisen und Taschenspieler. Es gab zuviel Menschen, die bestrebt waren, anderen ihre Einfälle aufzuzwingen, und darin das Ziel ihres Lebens erblickten. Turobojew hatte nicht schlecht gesagt:

»Jeder von uns läuft mit einer Schelle am Hals in der Welt umher, wie eine Schweizer Kuh.«

Wenn Samgin Gedanken dieser Farbe und Natur kamen, fühlte er sehr wohl, daß das seine eigenen Gedanken waren, diejenigen, die ihn wirklich von allen übrigen Menschen unterschieden. Doch zu gleicher Zeit fühlte er auch, daß diese Gedanken etwas Unentschiedenes, Ungelöstes und Zaghaftes enthielten. Sie laut auszusprechen, war nicht wünschenswert. Er verstand, sie sogar vor Lida zu verbergen.

Im Wasser des Teichs, neben dem weißen Fleck seiner Jacke, erschien plötzlich ein dunkler, im selben Augenblick fragte ihn eine beleidigte Weiberstimme:

»Warum so hochmütig, Samgin?«

Klim schrak zusammen, schwang seinen Stock und erhob sich. Neben ihm stand Dronow. Der Mützenkopf war ihm über die Stirn gerutscht und ließ seine Ohren noch weiter abstehen. Unter dem Schirm hervor funkelten die irren Augen.

»Ich bat dich doch um eine Zusammenkunft. Hat die Somow es dir nicht ausgerichtet?«

»Ich hatte keine Zeit«, sagte Samgin, während er die rauhe, harte Hand drückte.

»Aber am dumpfigen Wasser zu sitzen, hast du Zeit?«

Dronow spuckte unter Rülpsen und Husten in den Teich. Klim bemerkte, daß er jedesmal genau oder annähernd einen Punkt traf, dieser Punkt war seine, Klims, weiße Mütze, die sich im Wasser spiegelte. Nachdem er Iwan Dronow aufmerksam ins Gesicht gesehen hatte, rückte er von ihm weg. In dem sehr eingefallenen Gesicht regte sich wütend ein rotes, geschwollenes Näschen, gereizt funkelten die Augen. Sie waren heller und frostiger geworden und irrten nicht mehr so fieberhaft umher, wie Klim es in der Erinnerung hatte. Mit fremder, näselnder Stimme erzählte Dronow abgerissen und eilig, daß es ihm schlecht ginge, er habe keine Arbeit. Vierzehn Tage lang habe er im Keller eines Bierlagers Flaschen gespült und sich dabei erkältet.

»Hast du keine Zigaretten?«

»Ich rauche nicht.«

»Ja, ich vergaß. Und du wirst auch nicht rauchen?«

»Weiß ich nicht«, antwortete Klim achselzuckend.

»Natürlich wirst du es nicht.«

Dronow seufzte gedehnt, mit einem pfeifenden Geräusch, hustete und sagte darauf:

»Also – du studierst? Mich, siehst du, hat man begehrlich gemacht und dann weggeworfen. Hätte man mich nicht ins Gymnasium gesteckt, würde ich Aushängeschilder und Ikonen malen oder Uhren ausbessern. Überhaupt irgendwie leichte Arbeit machen. Jetzt kann ich so als Steckengebliebener weiterleben.«

Klim blickte auf sein abstehendes Ohr und dachte:

»Hättest du nicht verbotene Bücher ins Gymnasium geschleppt.«

Er war sogar im Begriff, es Dronow zu sagen, als dieser, der seine Gedanken zu erraten schien, selbst zu sprechen anfing:

»Als diese Idioten mich vom Gymnasium jagten, lasen dort nur drei Unterprimaner Broschüren von Tolstoi, heute dagegen ...«

Er winkte ab.

»Das Gehirn juckt immer heftiger. Es ist hier ein Prophet Jesaja erschienen, in der Art deines lieben Onkels, der beschwört: ›Liebe Kinder, seid Helden, verjagt den Zaren ...!‹«

»Nun – und du? Bist du einverstanden, ihn davonzujagen?«

»Ich mache dieses Spiel nicht mit. Ich, Bruder, glaube weder Onkeln noch Tanten.«

Mit leichtem Spott um die schiefen Lippen sagte Dronow gutmütiger, während er den dunklen Flaum auf seinem Kinn glättete:

»Tomilin – glaube ich. Er verlangt nichts von mir, er stößt mich nirgendwo hin. Er hat auf seinem Dachboden eine Art Jüngstes Gericht etabliert und ist zufrieden. Wühlt in Büchern und Ideen und beweist sehr einfach, daß überall in der Welt mit Wasser gekocht wird. Er lehrt nur eins, Bruder: den Unglauben. Das ist doch nun wirklich Uneigennützigkeit, wie?«

Er blickte Klim in die Augen und wiederholte:

»Es ist doch uneigennützig, wie?«

»Ja ...«

Dronow nahm seine Mütze ab und klatschte sich mit ihr aufs Knie, während er beruhigter fortfuhr:

»Ein wunderbarer Mensch. Er lebt, ohne Grimassen zu schneiden. Dieser Tage wurde hier jemand beerdigt. Einer der Leidtragenden sagte spaßig: ›Dreißig Jahre hat er gelebt und Grimassen geschnitten, als er es nicht länger aushielt, starb er!‹ Tomilin – wird viel aushalten ...«

»Zäh ist der Tatar – der zerbricht nicht!


Sehnig ist der Hund –¦ er zerreißt nicht!«

Graues Gewölk stieg aus den Bäumen, das Wasser verlor seinen öligen Glanz, ein kühler Wind seufzte auf, bedeckte den Teich mit einer feinen Gänsehaut, säuselte im Laub der Bäume und verschwand.

»Wird er noch lange reden?« dachte Klim, der Dronow von der Seite scheel musterte.

»Er hat ein Werk ›Über den dritten Instinkt‹ geschrieben, ich weiß nicht, wovon es handelt, aber ich habe ins Nachwort hineingeschielt: ›Nicht Trost suche ich, sondern Wahrheit‹. Er hat das Manuskript einem Professor in Moskau geschickt, der hat ihm mit grüner Tinte auf dem ersten Blatt der Handschrift geantwortet: ›Ketzerei und zensurwidrig‹.«

Mit sichtlichem Vergnügen, doch nicht laut und irgendwie linkisch, begann er zu lachen. Seine Finger dehnten die Mütze.

»Er wäre natürlich vor Hunger eingegangen, hätte die Witwe des Kochs ihn nicht gerettet. Sie hält ihn für einen Heiligen. Hat ihm die Anzüge ihres Mannes gegeben, speist ihn, tränkt ihn. Sogar schlafen tut sie mit ihm. Nun, was?

Umsonst wird nichts gewährt. Das Schicksal heischt Sühneopfer ...

Die Frau des Kochs ist für ihn, den Philosophen, das Schicksal.«

Dronow sprach abgerissen und hastig, in dem Wunsch, zwischen zwei Hustenanfällen soviel wie möglich zu sagen. Ihm zuzuhören, war schwierig und langweilig. Klim hing seinen eigenen Gedanken nach, während er beobachtete, wie Dronow seine Mütze mißhandelte.

»Der Literat Pissemski hatte gleichfalls eine Köchin zum Schicksal. Ohne sie machte er keinen Schritt auf die Straße. Mein Schicksal dagegen hat immer noch kein Auge für mich.«

Samgin hatte auf einmal Lust, nach Margarita zu fragen, aber er unterdrückte diesen Wunsch, da er befürchtete, auf diese Weise Dronows Geschwätz noch mehr in die Länge zu ziehen und seinem familiären Ton noch Vorschub zu leisten. Er erinnerte sich daran, wie dieser lästige Bursche einmal, in der Absicht, Makarows Nöte auszuspotten, herablassend und zynisch bemerkt hatte:

»Der Trottel. Was fürchtet er? Soll er doch beim ersten Mal die Augen zumachen, so, als nehme er Rizinus ein, und fertig ...«

»Dein Onkel predigt brüllend ›Das Evangelium der Liebe‹ ...«

»Er ist verhaftet.«

»Ich weiß. Aber die Liebe ist ihm ein Mittel für Raufhändel ...«

»Das ist vielleicht wahr«, dachte Klim.

»Während Tomilin aus seinen Operationen sowohl die Liebe als auch alles übrige ausschaltet. Das lob ich mir, Bruder. Da gibt es keinen Betrug. Warum besuchst du ihn nicht? Er weiß, daß du hier bist. Er lobt dich: das ist ein Mensch von unabhängigem Denken, sagt er.

»Natürlich werde ich ihn besuchen«, sagte Klim. »Ich muß aufs Land fahren, ich habe da eine Arbeit zu erledigen. Morgen fahre ich schon ...«

Er hatte gar keine Arbeit. Aufs Land zu fahren, schickte er sich auch nicht an. Aber er hatte keine Lust, Tomilin aufzusuchen, und der familiäre Ton Dronows irritierte ihn immer mehr. Er fühlte sich sicherer, wenn Dronow ihn wütend tadelte. Nun jedoch flößte ihm Dronows Redseligkeit die Befürchtung ein, daß er geflissentlich Begegnungen mit ihm suchen und ihm überhaupt lästig fallen würde.

»Brauchst du nicht Geld, Iwan?«

Er erkannte sogleich, daß er über dieses Thema entweder vorher oder nachher hätte sprechen müssen.

Dronow erhob sich, sah sich um, zog langsam die Mütze über seinen flachen Schädel und setzte sich wieder, mit den Worten:

»Ich brauche welches ...«

Nachdem er Geld erhalten hatte, stopfte er es in die Tasche seiner zerknitterten Hose, streckte mit schroffer Geste ein Bein vor und schloß den einzigen Knopf seiner grauen, an den Ellenbogen durchgescheuerten Jacke.

»Ich bessere Schuhe aus.«

Er spuckte in das dunkle Wasser des Teichs und sagte aus irgendeinem Grunde:

»Im vergangenen Sommer hat sich an dieser Stelle, unter den Augen des promenierenden Publikums, der Landeshauptmann Mussin-Puschkin nackt ausgezogen und ein Bad genommen. Einige Tage darauf aber, auf seinem Gut, hat er mit Wolfsschrot in eine von der Weide heimkehrende Herde gefeuert. Die Bauern fesselten ihn und brachten ihn in die Stadt, wo die Ärzte feststellten, daß der Landeshauptmann lange, seit zwei Monaten schon, irrsinnig war. In diesem Zustand der Geistesgestörtheit hat er seinen Dienst versehen und Menschen abgeurteilt. Bronski dagegen, gleichfalls Landeshauptmann, straft die Bauern mit einem halben Rubel, weil sie nicht den Hut vor seinem Pferd ziehen, wenn der Stallknecht es zur Schwemme führt.«

Klim blieb noch ein paar Minuten, verabschiedete sich dann und ging nach Hause. An der Wegbiegung wandte er sich um: Dronow saß immer noch auf der Bank, mit dermaßen gekrümmtem Körper, als sei er im Begriff, ins dunkle Wasser des Teichs zu springen, Klim Samgin stieß verdrossen seinen Stock gegen die Erde und beschleunigte den Schritt.

Er war sehr unzufrieden über dieses Wiedersehen und über sich selbst, über die Farblosigkeit und Mattheit, die er im Gespräch mit Dronow an den Tag legte. Während er mechanisch seine Reden aufnahm, hatte er zu erraten versucht, worüber bereits seit drei Tagen Lida so geheimnisvoll mit Alina tuschelte und weshalb sie heute unerwartet aufs Land gefahren waren? Die Telepnew war beunruhigt. Sie hatte augenscheinlich geweint. Ihre Augen waren müde. Lida, die sie besorgt betreute, biß sich zornig die Lippen.

Er schritt gegen den Wind durch die Hauptstraße der Stadt, die schon mit den Lichtern der Laternen und Läden geschmückt war. Papierfetzen flogen ihm vor die Füße, eine Erinnerung an den Brief, den Lida und Alina gestern im Garten zusammen gelesen hatten, an Alinas Ausruf:

»Nein, das ist einer! Das ist ein Rüpel!«

»Ob sie wirklich Ljutow meint?« überlegte Klim. »Wahrscheinlich hat sie nicht nur diesen einen Roman.«

Der Wind spritzte ihm Regentropfen ins Gesicht, warm wie die Tränen der Nechajew. Klim nahm eine Droschke, kroch unter das Lederverdeck und dachte empört, daß Lida ihm zu einem Ärgernis, einer Krankheit wurde, die ihm das Leben verbitterte.

Daheim angelangt, hatte er sich kaum ausgezogen, als Ljutow und Makarow erschienen. Makarow, zerknittert, aufgeknöpft, strahlte und betrachtete den Salon wie eine Lieblingskneipe, die er lange nicht besucht hatte. Ljutow, ganz in Flanell, in knallgelben Stiefeln, sah unvergleichlich albern aus. Er hatte sich sein Bärtchen bis auf die spärlichen Härchen eines Katerschnurrbarts abnehmen lassen, was seinem Gesicht eine fatale Nacktheit verlieh. Es sah für Klims Augen jetzt wie das Gesicht eines Mongolen aus. Ljutows wulstlippiger Mund war im Vergleich zu seinem Gesicht von grotesker Größe. Hinter dem verkrampften und schiefen Lächeln hervor blitzten die kleinen Fischzähne.

Klim befremdete die unhöfliche Flüchtigkeit, mit der Ljutow der Mutter die Hand küßte, die Art, wie er unter Verrenkungen seines Halses ihre Figur mit seinen verdrehten Augen umfing.

»Ist er schüchtern oder ein Flegel?« fragte sich Klim, während er feindselig beobachtete, wie Ljutows Pupillen flink über Warawkas dunkelrotes Gesicht liefen, und erstaunte noch heftiger, als er bemerkte, daß Warawka den Moskauer mit Vergnügen, ja sogar achtungsvoll empfing.

»Mein Onkel, Radejew, hat Ihnen mitgeteilt ...«

»Natürlich, natürlich!« rief Warawka aus und schob seinem Gast einen Sessel hin.

»Sie kaufen das Land eines gewissen Turobojew ...«

»Ganz recht.«

»Darunter befindet sich ein strittiges Revier, dessen Eigentumsrecht Turobojew streitig gemacht wird von einer Tante meiner Braut Alina Nikolajewna Telepnew, der Freundin Ihrer Tochter ...«

Klim hörte, daß Ljutow die Stimme des Amtsschreibers aus »Kaschirs alte Zeit« nachahmte und absichtlich näselnd, im Ton eines Intriganten sprach. Natürlich meinte Alina mit dem Rüpel ihn.

»... die sich, wie ich hoffe, bei guter Gesundheit befindet?«

»Durchaus. Sie ist heute zusammen mit Ihrer Braut aufs Land gefahren!«

»Heute?« fragte Ljutow schneidend und richtete sich auf, wobei er die Arme auf die Seitenlehnen des Sessels stützte. Doch sogleich ließ er sich mit den Worten: »Ungeachtet des schlechten Wetters!« wieder fallen.

Klim bemerkte in dieser Bewegung Ljutows etwas Eigentümliches und nahm ihn schärfer aufs Korn, aber Ljutow hatte bereits seinen Ton verändert und sprach mit Warawka über das Land sachlich und ruhig, ohne Mätzchen.

Verdächtig war die von der Mutter vorgetäuschte Verwunderung, mit der sie Ljutow empfing. So empfing sie nur Leute, die ihr unsympathisch waren, die sie aber aus irgendeinem Grund brauchte. Als Warawka Ljutow zu sich in sein Kabinett geführt hatte, begann Klim sie zu beobachten. Sie saß, mit dem Lorgnon spielend und süß lächelnd, auf dem Ruhebett, Makarow auf einem Polsterschemel ihr gegenüber.

»Klim sagte mir, daß die Professoren Sie lieben ...«

Makarow lachte:

»Es ist leichter Wissenschaften vorzutragen, als sie sich anzueignen.«

»Warum denkt sie sich das aus?« rief Klim. »Ich habe niemals dergleichen gesagt.«

Das Mädchen trat ein und meldete Wera Petrowna:

»Der gnädige Herr lassen bitten ...«

Als die Mutter eilig verschwand, fragte Makarow erstaunt:

»Alina ist heute fortgefahren? Seltsam.«

»Weshalb?«

»Nun, so.«

Klim lachte spöttisch.

»Ein Geheimnis?«

»Ach Unsinn, fühlst du dich schlecht oder bist du böse?«

»Müde.«

Klim sah aus dem Fenster. Vom Himmel lösten sich graue Fetzen Gewölk und fielen auf Dächer und Bäume.

»Es ist unhöflich von mir, ihm den Rücken zuzuwenden«, dachte Klim schlaff, wandte sich jedoch nicht um, als er fragte:

»Haben sie sich verzankt?«

Statt Makarows Antwort ertönte die strenge Frage der Mutter:

»Glauben Sie nicht auch, daß Vereinfachen das sichere Merkmal eines normalen Verstandes ist?«

Ljutow brannte sich eine Zigarette an, die krumm aus einer Bernsteinspitze ragte, schmatzte mit den Lippen, zwinkerte und murmelte:

»Eines naiven, bitte, eines naiven ...«

Er, die Mutter und Warawka drängten sich in der Tür, als getrauten sie sich nicht, die Schwelle zu überschreiten. Makarow trat zu ihnen, riß die Zigarette aus Ljutows Spitze, schob sie in seinen Mundwinkel und sagte heiter:

»Wenn er Ihnen etwas Entsetzliches verkündet hat, glauben Sie ihm nicht. Das ist nur Bluff.«

Ljutow zog die Uhr aus der Tasche, klopfte mit der Spitze aufs Glas und fragte:

»Gehen wir, Makarow?«

Und zu Warawka gewandt:

»Also Sie werden Turobojew drängen?«

Neben dem massiven Warawka erschien er als ein Halbwüchsiger, er hatte die Schultern fallen lassen und wand sich. Es war etwas Zerfließendes, Gedrücktes in ihm.

Als die unerwarteten Gäste gegangen waren, bemerkte Klim:

»Eine sonderbare Visite.«

»Eine geschäftliche Visite«, verbesserte Warawka, und sogleich drückte er, seinen Bart liebkosend, Klim mit dem Bauch an die Wand und kommandierte:

»Morgen früh fährst du aufs Land und richtest den beiden unten zwei Zimmer her. Für Turobojew aber eins im oberen Stock. Merkst du was? Na also ...«

Er begab sich in sein Zimmer hinauf, wobei er wie ein Jüngling die Treppe hinaufhüpfte. Die Mutter sah ihm nach, seufzte und verzog ihr Gesicht:

»Mein Gott! Wie unsympathisch ist dieser Ljutow! Was hat Alina an ihm gefunden?«

»Geld«, sagte Klim widerwillig und setzte sich an den Tisch.

»Wie gut, daß du kein Sittenrichter bist«, sagte nach einem Schweigen die Mutter. Klim schwieg ebenfalls, da er nichts fand, worüber er mit ihr reden könnte. Dann sagte sie, nicht laut und augenscheinlich mit anderen Dingen beschäftigt:

»Ein schreckliches Gesicht hat dieser Makarow. Ein so aufreizendes, wenn man das Profil sieht. Aber en face ist es das Gesicht eines anderen Menschen. Ich sage nicht, daß er ein doppeltes Gesicht hätte in einem für ihn nicht schmeichelhaften Sinn. Nein, er ist es auf eine unglückliche Weise.«

»Wie ist das zu verstehen?« fragte Klim aus Höflichkeit, mit einem Achselzucken, Wera Petrowna antwortete:

»Mein Eindruck.«

Sie sagte noch etwas über Turobojew. Klim, der nicht hinhörte, dachte:

»Sie wird alt. Geschwätzig.«

Als sie hinausgegangen war, fühlte er, daß ihn ein nie gespürtes, krankhaftes Gefühl des Gesättigtseins mit einem beißenden Rauch, der Gedanken und Wünsche verzehrte und eine beinahe körperliche Übelkeit hervorrief, erfaßte wie ein Zugwind. Als habe sich in seinem Kopf, in seiner Brust die menschliche Fähigkeit zu denken und zu reden, die Fähigkeit des Erinnerns plötzlich entzündet, ohne zu brennen, und verglimme jetzt ganz langsam. Dann tauchte ein wie Schmerz gedehnter Widerwille gegen seine Umgebung auf, gegen diese mit Bilderquadraten gesprenkelten Wände, gegen die schwarzen, in die Finsternis hineingehauenen Fensterscheiben, gegen den Tisch, dem ein vergiftender Geruch von gequollenen Teeblättern und Holzkohle entstieg.

Klim starrte hartnäckig in sein leeres Glas, hörte das feine Piepen des verlöschenden Samowars und wiederholte mechanisch das eine Wort:

»Öde!«

Sein untätiger Verstand bedurfte weder anderer Worte, noch brachte er sie hervor. In diesem Zustand innerer Stummheit ging Klim Samgin in sein Zimmer hinüber, öffnete das Fenster, setzte sich davor hin, starrte in die feuchte Finsternis des Gartens und horchte, wie jenes zweisilbige Wort stampfte und pfiff. Nebelhaft erschien der Gedanke, daß es wohl dieser Zustand der Niedergedrücktheit durch das Gefühl der Sinnlosigkeit sein müsse, der die Landeshauptleute irrsinnig machte. In welcher Absicht hatte Dronow ihm von diesen Landeshauptleuten erzählt? Weshalb erzählte er fast immer so greuliche Anekdoten? Nach Antwort auf diese Fragen suchte er nicht.

Kältegefühl ließ ihn der Leere seiner Selbstvergessenheit entgleiten. Ihm kam es so vor, als seien schon einige Stunden verstrichen, aber während er sich träge entkleidete, um sich ins Bett zu legen, vernahm er entfernten Glockenschlag und zählte elf Schläge.

»Nicht mehr? Seltsam.«

Er hatte sich in dem Gefühl des Niedergedrücktseins, der Verwüstung niedergelegt und erwachte infolge eines Klopfens an der Tür. Das Mädchen weckte ihn zum Zug. Rasch sprang er aus dem Bett und stand einige Sekunden mit geschlossenen Augen, geblendet von dem wunderbar leuchtenden Glanz der Morgensonne. Die feuchten Blätter der Bäume vor dem offenen Fenster, deren kristallene Regentropfen schillernde, kurze und scharfe Strahlen zurückwarfen, leuchteten blendend. Der Genesung spendende Duft von feuchter Erde und Blumen erfüllte das Zimmer. Die Frische des Morgens kitzelte die Haut. Klim Samgin dachte bebend:

»Eine dumme Stimmung habe ich gestern gehabt!«

Aber als er in sich hineinhorchte, fand er, daß von dieser Stimmung ein schwacher Schatten zurückgeblieben war.

»Eine Wachstumskrankheit der Seele«, entschied er, während er sich eilig anzog.

Abends saß er auf dem Sandhügel an der Lichtung eines von Birken durchsetzten Fichtengehölzes. Hundert Schritt weiter plätscherte vor seinen Augen freundlich der Fluß dahin, schillernd in den Strahlen der Sonne. Das Dach der zwischen verkrüppelten Weiden versteckten Mühle flammte brokaten. Die Felder jenseits des Flusses sträubten sich heiter im Stachelgewand des Korns. Klim sah eine Landschaft, ähnlich den buntgemalten Bildchen aus einem Buch für Kinder, obgleich er wußte, daß dieser Ort wegen seiner Schönheit berühmt war. Auf dem Buckel eines Hügels, der aussah wie die feierliche Kopfbedeckung eines Friedensrichters, hatte Warawka ein großes, zweistöckiges Landhaus erbaut, an den Abhängen liefen noch sechs buntfarbige, von Schnitzwerk im russischen Stil geschmückte Häuschen zum Fluß hinab. Im äußersten Haus rechts lebte Alinas Vormund, ein finsterer Greis, Mitglied des Kreisgerichts. Auch die übrigen Sommerhäuschen waren von Städtern gemietet, jedoch noch nicht bewohnt.

Es war sehr still, nur die Käfer summten im feinen Laub der Birken, und der Abendwind seufzte warm in den Nadeln der Fichten. Schon mehrere Male waren die saftige Stimme, das weiche Lachen Alinas durch die Stille zu Klim gedrungen, aber eigensinnig versagte er es sich, zu den jungen Mädchen zu gehen. An dem Rauch, der aus dem Schornstein von Warawkas Landhaus stieg, an den geöffneten Fenstern und der Geschäftigkeit der Dienstboten mußten Lida und Alina merken, daß jemand gekommen war. Klim trat einige Male auf den Balkon der Villa und verweilte lange in der Hoffnung, daß die jungen Mädchen ihn sehen und herbeilaufen würden. Er erblickte Lidas zierliche Figur in einer orangefarbenen Bluse und einem blauen Rock, sah Alina in Rot gekleidet. Es war schwer zu glauben, daß sie ihn nicht bemerkt haben sollten.

Es wäre schön, unverhofft vor ihnen aufzutauchen und etwas Ungewöhnliches, Verblüffendes zu sagen oder zu tun, zum Beispiel in die Luft emporzusteigen oder den schmalen, aber tiefen Fluß wie festes Land zu durchqueren.

»Wie dumm ist das«, tadelte sich Klim und erinnerte sich, daß solche kindlichen Gedanken in letzter Zeit häufig in ihm auftauchten wie Schwalben. Beinahe immer waren sie verknüpft mit Lida, und stets folgte ihnen eine stille Bangigkeit, die dunkle Vorahnung einer Gefahr.

Es dunkelte rasch. In der Bläue über dem Fluß hingen an dünnen Strahlenfäden drei Sterne und erschienen als Öltröpfchen im Wasser wieder. In Alinas Landhaus wurde in zwei Fenstern Licht angezündet. Über dem Fluß stieg ein ungeheuerlich großes, quadratisches Gesicht mit gelben, verfließenden Augen empor, über das sich eine spitze Kappe stülpte. Einige Minuten später traten die jungen Mädchen vom Söller des Sommerhäuschens ans Ufer hinunter, und Alina rief klagend aus:

»Mein Gott, welch eine Langeweile! Ich überlebe es nicht ...«

»Geh doch«, sagte Lida mit sichtlichem Verdruß.

Klim erhob sich und schritt ihnen rasch entgegen.

»Du?« verwunderte sich Lida. »Weshalb so geheimnisvoll? Wann bist du gekommen? Um fünf Uhr?«

Neben dem Erstaunen glaubte Klim aus ihren Worten Freude herauszuhören. Auch Alina war erfreut.

»Wundervoll! Wir werden Boot fahren. Du wirst rudern. Nur, bitte, Klim, ohne gescheite Reden. Ich habe schon alles Gescheite intus, von den Ichtyosauren bis zu den Flammarions, mein Erkorener hat mich in alles eingeweiht.«

Eine halbe Stunde ruderte Klim gegen den Strom, die Mädchen schwiegen und lauschten, wie das dunkle Wasser unter den Ruderschlägen spröde plätscherte. Der Himmel bedeckte sich mit immer reicherer Sternenpracht. Die Ufer hauchten trunkene Frühlingswärme aus. Alina seufzte und sagte:

»Du und ich, Lidok, sind Gerechte, und dafür darf Samgin, so ein weißer kleiner Engel, uns lebendig ins Paradies hinüberfahren.«

»Charon«, sagte Klim leise.

»Was? Charon ist grauhaarig, mit einem gewaltigen Bart, und du hast es selbst bis zum Bärtchen noch weit. Du hast mich gestört«, fuhr sie launisch fort, »ich hatte etwas Komisches ausgedacht und wollte es gerade sagen, und du ... Erstaunlich, wie sehr alle es lieben, zu verbessern und zu gängeln! Die ganze Welt ist eine Art Korrektionsanstalt für Alina Telepnew. Lida hat mich den lieben langen Tag mit den trostlosen Dichtungen irgendeines Metelkin oder Metalkin bedrängt. Mein Vormund versichert mir ernsthaft, daß die ›Herzogin von Gerolstein‹ keine historische Frauengestalt sei, sondern eine von Offenbach für die Operette erfundene. Mein verdammter Bräutigam betrachtet mich als sein Notizbuch, in das er, zum Festhalten, seine Einfälle einträgt ...«

Lida kicherte, auch Klim mußte lächeln.

»Nein, im Ernst«, fuhr das Mädchen fort, während sie ihre Freundin umschlang und sich mit ihr schaukelte, »er wird mich bald ganz und gar beschrieben haben. Wenn er in einen lyrischen Ton verfällt, leiert er wie ein Küster:

›O herrliche Jungfrau! Erlöse mich von dem Schweigen, auf daß ich dir Worte sage, so die Seele erbauen.‹ Er findet das, müßt ihr wissen, witzig, diese – ›auf daß‹ und ›so‹ ...«

Gedankenvoll ertönte Lidas Stimme:

»Du behandelst ihn zu leichtfertig. Er ist schüchtern. Augen bringen ihn in Verwirrung ...«

»So? Leichtfertig?« fragte Alina kriegerisch. »Und wie würdest du deinen Bräutigam behandeln, der dir immerfort nur von Materialismus, Idealismus und sonstigen Schrecken des Lebens erzählt? Klim, hast du eine Braut?«

»Noch nicht.«

»Stell dir vor, du hast schon eine. Wovon würdest du mit ihr sprechen?«

»Natürlich über alles«, sagte Klim, der begriff, daß er vor einem verantwortungsvollen Moment stand. Mit eingeschobenen Zwischenpausen, die vollkommen natürlich waren und mit dem Rhythmus der Ruderschläge übereinstimmten, verbreitete er sich weise darüber, daß ein Glück mit einer Frau nur möglich sei bei vollkommener Offenheit im Gedankenaustausch. Aber Alina winkte ab und unterbrach ironisch seine Rede:

»Habe ich schon gehört. Wahrscheinlich quaken auch die Frösche das gleiche.«

Klim, ohne aus der Fassung zu geraten, sagte:

»Aber jede Frau glaubt sich einmal im Monat verpflichtet, zu lügen und sich zu verstecken ...«

»Warum nur einmal?« fragte, mit derselben Ironie Alina. Lida jedoch sagte dumpf:

»Das ist furchtbar wahr.«

»Was ist wahr?« fragte Alina ungeduldig und empörte sich:

»Schämen Sie sich nicht, Samgin?«

»Nein, ich bin traurig«, entgegnete Klim, ohne sie und Lida anzusehen. »Mir scheint, es gibt ...«

Er wollte sagen ›Mädchen‹, aber er beherrschte sich. »Frauen, die sich aus falschem Schamgefühl verachten, weil sie glauben, daß die Natur, als sie sie schuf, ein grobes Versehen begangen habe. Und es gibt Mädchen, die sich fürchten zu lieben, weil ihnen scheint daß die Liebe sie erniedrige, zum Tiere herabwürdige.'

Er sprach vorsichtig, in Angst, daß Lida aus seinen Worten das Echo der Gedanken Makarows heraushören könnte, Gedanken, die ihr wahrscheinlich nur zu gut bekannt waren.

»Vielleicht sind manche Frauen gerade deshalb ausschweifend, weil sie so schnell wie möglich ihr Weibliches, – wie sie es auffassen: ihr Tierisches – ausleben wollen, um dann Mensch zu sein, erlöst von der Gewalt der Triebe ...«

»Das ist erstaunlich wahr, Klim«, sagte Lida, nicht laut, aber vernehmlich.

Klim fühlte, daß seine über der lautlosen Bewegung des dunklen Wassers schwebenden Worte eindrucksvoll klangen.

»Kennen Sie solche Frauen? Wenigstens eine?« fragte leise und aus irgendeinem Grunde unwillig Alina.

»Ja oder nein?« forschte Klim bei sich selbst. »Nein, ich kenne keine. Aber ich bin überzeugt, daß es solche Frauen geben muß.«

»Gewiß«, sagte Lida.

Klim verstummte. Die jungen Mädchen schwiegen auch. Fest in ihre Schals gehüllt, schmiegten sie sich eng aneinander. Einige Minuten später schlug Alina vor:

»Es ist wohl Zeit, heimzufahren?«

Das Boot schaukelte und glitt geräuschlos in der Strömung dahin. Klim ruderte nicht, sondern steuerte nur. Er war zufrieden. Wie leicht hatte er Lida veranlaßt, sich ihm zu erschließen. Jetzt war es vollkommen klar, daß sie die Liebe fürchtete und daß diese Furcht alles war, was ihm an ihr rätselhaft erschien. Seine Zaghaftigkeit aber ihr gegenüber fand ihre Erklärung darin, daß Lida ihn in gewisser Weise mit ihrer Furcht ansteckte. Wunderbar einfach war alles, wenn man zu schauen verstand. Während er sich seinen Gedanken überließ, hörte Klim die zornigen Klagen Alinas:

»Es ist also doch nicht ohne ein gescheites Gespräch abgegangen! Ach, diese Gespräche werden mich irgendwohin jagen, wo nicht Trübsal wohnt noch Seufzen, sondern das Leben ... das flüchtige ...«

Alina brach in lautes Lachen aus, sie schaukelte sich, klatschte sich mit den Händen auf die Knie und wiederholte:

»O mein Gott!«

Klim fand sowohl ihr Lachen wie ihre Gesten roh.

Lida ließ die Arme über die Bootwand fallen und schaukelte das Boot so heftig, daß ihre Freundin erschrak:

»Bist du verrückt geworden?«

Lida spritzte ihr Wasser ins Gesicht, streichelte sich mit der nassen Hand die Wangen und sagte:

»Feigling!«

An dem einen Rand des schwarzen Wasserstreifens erhoben sich rote Sandhügel, am anderen schob sich das Gestrüpp des Dickichts vor. Alina deutete mit der Hand auf das Ufer: »Sieh doch, Lida: das Haupt der Erde neigt sich zum Wasser, um zu trinken, und ihre Haare sträuben sich«

»Der Kopf eines Schweins«, sagte Lida.

Als man sich trennte, fühlte Klim, daß sie seine Hand sehr fest drückte, und sie sagte ungewöhnlich sanft:

»Bist du für den ganzen Sommer gekommen?«

Alina blickte in die Sterne und riet:

»Also wird morgen mein Erkorener erscheinen?«

Sie umschloß Lida und entfernte sich langsam zum Sommerhaus hin. Klim hielt sich an den Nadeltatzen der jungen Fichten fest und kroch den steilen Abhang des Hügels hinab. Durch das Rascheln der Nadeln und das Knirschen des Sandes hindurch vernahm er das Lachen der Telepnew und dann ihre Worte:

»...Turobojew. Wie wirst du es, Herzchen, zwischen zwei Feuern aushalten?«

»Ja«, dachte Klim. »Wie?«

Er blieb stehen, um zu horchen, konnte jedoch die Worte nicht mehr verstehen. Lange, bis ihm die Augen schmerzten, starrte er in den in der Finsternis völlig unbewegten Fluß, in die glanzlosen Abbilder der Sterne.

Am nächsten Morgen trafen Ljutow und Makarow zu Fuß von der Station ein, ihnen folgte ein Gefährt, solide bepackt mit Koffern, Kisten, irgendwelchen Bündeln und Paketen. Klim hatte sie kaum mit Tee bewirtet, als Doktor Ljubomudrow erschien, ein Bekannter Warawkas, hager, lang, glatzköpfig und bartlos, mit winzigen Äuglein von goldiger Tönung, die sich unter den schwarzen Büscheln seiner gerunzelten Brauen verbargen. Klim verbrachte beinahe den ganzen Tag damit, dem Doktor die Landhäuschen zu zeigen. Der Doktor überflog alles mit dem traurigen Blick eines Menschen, der sich mit einer Umgebung vertraut macht, in der er wider Willen zu leben gezwungen ist. Er biß sich die Lippen. Dicht neben den Ohren bewegten sich kleine Kugeln, und während man von einem Landhaus zum anderen schritt, murmelte er:

»So. Nun ja. S–sehr nett.«

Endlich sagte er Klim in entschiedenem Baßton: »Also, reservieren Sie mir dieses.«

Doch nachdem er den grauen, zerdrückten Hut auf seinem Kopf zurechtgerückt hatte, fügte er hinzu:

»Oder das da.«

Klim war erschöpft von dem Doktor und der Neugier, die ihn den ganzen Tag quälte. Er hätte wissen mögen, wie das Wiedersehen Lidas mit Makarows abgelaufen war, was sie machten und wovon sie sprachen? Er beschloß sogleich zu Lida zu gehen, doch als er an seinem Sommerhaus vorüberkam, hörte er Ljutows Stimme:

»Nein, warte doch, Kostja, laß uns noch sitzenbleiben.«

Ljutow sprach in der Nähe, hinter einer dichten Birkengruppe etwas unterhalb des Pfades, auf dem Klim ging, aber er war nicht zu sehen. Anscheinend lag er, man sah Makarows Mütze und ein blaues Rauchwölkchen darüber.

»Ich habe Lust zu schimpfen, mich mit jemand zu zanken«, ertönte deutlich die Klarinettstimme Ljutows. »Mit dir, Kostja, ist das ausgeschlossen. Wie soll man sich mit einem Lyriker zanken?«

»Versuche es ruhig.«

»Nein, das werde ich unterlassen.«

»Man sagt, Fet soll böse sein. Der ist doch auch ein Lyriker.«

Klim blieb stehen. Er wünschte weder Ljutow noch Makarow zu sehen, der Weg aber senkte sich; wenn er ihm folgte, mußte er unweigerlich entdeckt werden. Den Hügel hinaufzusteigen, hatte er jedoch keine Lust, er war müde geworden, und ohnehin hätten sie das Geräusch seiner Schritte gehört. Dann hätten sie denken können, daß er ihr Gespräch belausche. Klim Samgin blieb stehen und horchte stirnrunzelnd.

»Weshalb trinkst du in ihrer Gegenwart?« fragte gleichmütig Makarow.

»Damit sie es sieht. Ich bin ein ehrlicher Junge.«

»Ein Hysteriker bist du. Und kommst nicht ohne Einbildung aus. Liebst du schon, gut, dann liebe ›ohne Grübeln, ohne Schwermut, ohne finstere Zweifelsucht‹!«

»Dazu müßte ich mir erst das Gehirn aus dem Kopf klopfen.«

»Dann laß sie in Ruhe.«

»Dazu bedarf es des Willens.«

Makarow sprach zwei Minuten lang mit gedämpfter Stimme und so schnell, daß Klim nur abgerissene Bruchstücke von Sätzen unterschied.

»Egoismus des Geschlechts... Täuschung...«

Darauf fing wieder Ljutow an, ebenfalls leise, aber durchdringend auf der Stille zu hämmern:

»Ungemein reif und sehr interessant. Du vergißt jedoch, daß meine Wenigkeit ein Kaufmannssohn ist. Das verpflichtet mich, mit äußerster Genauigkeit zu taxieren und abzuwägen. Alina Markowna ist auch nicht jeglicher Weltklugheit beraubt. Sie sieht, daß der künftige Gefährte ihrer ersten Schritte ins Leben einem Adonis nur sehr entfernt ähnelt, ja durchaus unähnlich ist. Aber sie weiß und hat wohl erwogen, daß er der einzige Erbe der Firma ›Gebrüder Ljutow. Daunen und Federn‹ ist.«

Ljutow wurde sekundenlang von Makarows Gezwitscher unterbrochen.

»Mein Freund, du bist dumm wie Bohnenstroh«, fuhr Ljutow fort. »Ich kaufe doch nicht ein Gemälde, ich breite mein Ich vor einem Weibe aus, mit dem nicht nur mein irdischer Leib, sondern auch meine hungrige Seele sich zu verschmelzen begehrt. Und so, die wundervolle Hand dieses Weibes liebkosend, spreche ich: Werkzeug der Werkzeuge. Was heißt denn das wieder? fragt sie. Ich antworte: So weise hat ein alter Grieche die menschliche Hand benamset. Sie sollten sagt sie, lieber Ihre eigenen Worte gebrauchen, vielleicht würde es dann spaßiger sein. Denk bloß, Kostja, spaßiger! Und das ist alles! Ich stehe ratlos: bin ich denn nur zum Spaßmachen geschaffen?«

»Genug jetzt, Wladimir. Geh schlafen«, sagte laut und zornig Makarow. »Ich sagte dir schon, daß ich dieses ... Finten nicht verstehe. Ich weiß eins: Das Weib gebärt den Mann für das Weib«

»Abscheuliche Ketzerei«

»Das Matriarchat«

Ljutow pfiff klingend, und die Worte der Freunde wurden undeutlich.

Klim seufzte erleichtert auf. Ein Käfer war ihm in den Hemdkragen gekrochen, lief über seinen Rücken und verursachte einen unerträglichen Juckreiz. Mehrmals hatte er vorsichtig versucht, den Rücken am Stamm einer Birke zu scheuern, aber der Baum knarrte und schwankte rauschend. Er hatte vor Aufregung geschwitzt, als er sich vorstellte, daß Makarow gleich aufstehen, sich umschauen und den Horcher entdecken würde.

Ljutows Klagen vernahm er mit Vergnügen. Er hatte sogar zweimal ein Lächeln nicht verbeißen können. Ihm schien, an Makarows Stelle würde er klüger gesprochen und auf Ljutows Frage: »Bin ich denn nur zum Spaßmachen da?« mit der Gegenfrage geantwortet haben: »Wozu denn sonst?«

An der Stelle, wo Makarow saß, wölkte sich immer noch blauer Rauch. Klim stieg hinunter. In einer Sandgrube schlängelten sich goldene und blaue Feuerwürmer und fraßen rotes Nadellaub und kleine Stückchen seidiger Birkenrinde.

»Was für eine Kinderei!« dachte Klim, schüttete das lebende Feuer mit Sand zu, den Sand trat er sorgsam mit den Füßen fest. Als er sich in gleicher Höhe mit Warawkas Landhaus befand, rief ihn aus einem Fenster leise Makarow an:

»Wo willst du hin?«

Die unvermeidliche Zigarette zwischen den Zähnen, ein Papier in der Hand, stand er sehr malerisch da. Er sagte:

»Die jungen Mädchen befinden sich in gereizter Stimmung. Alina fürchtet, daß sie sich erkältet hat und quäkelt. Lida ist unversöhnlich gestimmt und hat Ljutow angeschrien, weil er das »Tagebuch der Baschkirzew«Baschkirzew, Maria Konstantinowna (1860-1884), Malerin und Schriftstellerin. Ihr 1887 in französischer Sprache erschienenes »Tagebuch« ist ein unerbittlicher Spiegel des Pessimismus und der Lebensflucht, die die aristokratische russische Jugend ihrer Zeit beherrschten. nicht gebilligt hat.«

Da Klim befürchtete, daß Makarow ebenfalls zu den Mädchen gehen würde, beschloß er, sie später aufzusuchen und trat ins Zimmer. Makarow ließ sich auf einem Stuhl nieder, knöpfte den Hemdkragen auf und schüttelte heftig den Kopf. Dann legte er ein Heft dünnen Papiers auf die Fensterbank und beschwerte es mit dem Aschenbecher.

»Alle, Bruder, befinden sich in so einer bangen Erwartung«, sagte er stirnrunzelnd und wühlte sein Haar auf. »Aus der Literatur ist nicht ersichtlich, daß die Menschen vergangener Zeiten eine so sonderbare Bangigkeit verspürt hätten. Am Ende ist es gar keine Bangigkeit?«

»Ich weiß nicht«, sagte Klim, der eben diese Bangigkeit empfand. Darauf fügte er träge hinzu: »Man sagt, daß sich eine Belebung ankündigt ...«

»In den Büchern.«

Klim schwieg eine Weile, beschäftigt, den seltsamen Flug der entfärbten Fliegen im rötlichen Strahl der Sonne zu verfolgen. Einige schienen in der Luft einen unbeweglichen Punkt zu erspähen und hielten lange Zeit zitternd über ihm, ohne sich zu getrauen, sich niederzusetzen, fielen, dann fast bis zum Fußböden hinab und stiegen von neuem zu dem unsichtbaren Punkt empor. Klim zeigte mit den Augen auf das Heft:

»Was hast du da?«

»Den Programmentwurf des »Bundes der Sozialisten«. Es wird darin behauptet, daß die Dorfgemeinde unseren Bauern aufnahmefähiger für den Sozialismus mache, als es der Bauer des Westens ist. Alte Geschichte. Ljutow interessiert sich dafür.«

»Aus Langeweile?«

Makarow zuckte die Achseln.

»N-nein, er hat sein besonderes Verhältnis zur Politik. In diesem Punkt verstehe ich ihn nicht.«

»Und in allem Übrigen, außer diesem, was ist er da?«

Makarow hob die Brauen und zündete sich eine Zigarette an. Er wollte das brennende Zündholz in den Aschenbecher werfen, steckte es aber aus Versehen in ein Glas mit Milch.

»Oh, Teufel!«

Er goß die Milch aus dem Fenster, folgte dem weißen Bach mit den Augen und teilte verdrießlich mit:

»Auf die Blumen. – Habt ihr ein Klavier?«

Er hatte augenscheinlich Klims Frage vergessen oder wünschte sie nicht zu beantworten.

»Wozu brauchst du ein Klavier? Spielst du denn?« fragte trocken Samgin.

»Ja, denke dir, ich spiele!« sagte Makarow mit den zusammengepreßten Fingern krachend. »Ich begann nach dem Gehör, habe dann Stunden genommen. Das war noch damals im Gymnasium. In Moskau hat mein Lehrer mich überredet, ein Konservatorium zu besuchen. Jawohl. Talent, sagt er. Ich glaube ihm nicht. Ich habe gar keine Talente. Doch – ohne Musik erträgt man das Leben schlecht, das ist die Sache, mein Lieber«

»Das Klavier befindet sich dort, im Zimmer der Mutter«, sagte Klim. Makarow erhob sich, steckte das Heft achtlos in die Tasche und entfernte sich händereibend.

Sobald die ersten Akkorde auf dem Klavier ertönten, trat Klim auf die Veranda hinaus und verweilte dort einen Augenblick. Er schaute auf das Gelände jenseits des Flusses, welches rechts von dem schwarzen Halbkreis des Waldes, links von einem blauen Wolkenberg begrenzt wurde, hinter dem die Sonne bereits untergegangen war. Der leise Wind jagte sanft die grünlich-grauen Wellen des Korns zum Fluß. Die wohllautende Melodie eines unbekannten Liedes in Moll ertönte. Klim ging zum Landhaus der Telepnew hinüber. Ein bärtiger Bauer mit einem Holzbein trat ihm in den Weg.

»Will der Herr einen Wels fangen?«

Klim machte eine wortlose Geste der Ablehnung.

»Ein hübscher Wels – er wiegt seine zwei Pud«, rief der Bauer ihm mit mutloser Stimme nach.

Alinas Stubenmädchen sagte Klim, das Fräulein befinde sich nicht wohl, und Lida sei spazieren gegangen. Klim Samgin stieg zum Fluß hinab, blickte stromauf und ab, aber Lida war nicht zu sehen. Makarow spielte etwas sehr Wildes. Klim wandte sich heimwärts und stieß abermals auf den Bauern. Der stand mitten im Weg, hielt sich an einem Fichtenzweig fest und scharrte mit seinem Holzbein im Sand, bemüht, einen Kreis zu ziehen. Er blickte gedankenvoll in Klims Gesicht, gab ihm den Weg frei und sagte leise, fast ins Ohr:

»Eine Soldatenfrau habe ich auch eine saftige!«

Als Klim auf die Veranda des Landhauses gelangt war, hatte Makarow aufgehört zu spielen, und aufgeregt hastete Ljutows schneidendes Stimmchen:

»Das Volk hat über alles nachgedacht, liebe Lida Timofejewna, sowohl über das Paradies der Unschuld wie über die Hölle der Erkenntnis.«

Im Zimmer war kein Licht, das Dunkel verzerrte Ljutows Gestalt, der es die festen Umrisse nahm. Lida, weiß gekleidet, saß am Fenster, auf dem Musselin der Gardine zeichnete sich nur ihr kraushaariger, schwarzer Kopf ab. Klim blieb auf der Schwelle hinter Ljutows Rücken stehen und vernahm:

»Als Adam, aus dem Paradiese vertrieben, sich nach dem Baum der Erkenntnis umwandte, sah er, daß Gott den Baum schon zerstört hatte: er war verdorrt. Und Satan trat zu Adam und sprach: ›Verstoßenes Kind, dir steht kein anderer Weg offen, denn der zu irdischer Qual führt.‹ Und er entführte Adam in die irdische Hölle und zeigte ihm alle Herrlichkeit und alle Greuel, so Adams Same erschaffen sollte. Über dieses Thema hat der Magyare Imre Madacz ein sehr bedeutsames Werk verfaßt. – Also so muß das verstanden werden, Lidotschka, Sie aber ...«

»Ich meine nicht dies«, sagte Lida. »Ich glaube nicht ... wer ist da?«

»Ich«, antwortete Klim.

»Warum erscheinst du so geheimnisvoll?«

Klim hörte in ihrer Stimme Unmut, war verletzt, ging zum Tisch und zündete die Lampe an. Blinzelnd trat der zerzauste Makarow ein, warf einen scheelen Blick auf Ljutow und sagte, während er beide Hände gegen Ljutows Schultern stemmte und ihn so in den geflochtenen Sessel hineinzwängte:

»Du kannst selbst nicht schlafen und schläferst die anderen ein?«

Lida fragte:

»Weshalb hast du die Lampe angezündet? Das Wetterleuchten blitzte so schön.«

»Das ist nicht Wetterleuchten, sondern ein Gewitter«, berichtigte Klim und schickte sich an, die Lampe wieder zu löschen, aber Lida sagte:

»Laß nur.«

Makarow wandelte leise pfeifend auf der Veranda auf und nieder, bald tauchte er auf, bald verschwand er, erhellt von dem stummen Züngeln der Blitze.

Lida erhob sich:

»Begleiten Sie mich«, wandte sie sich an Ljutow.

»Mit Wonne.«

Als sie auf die Veranda hinaustraten, erklärte Makarow:

»Ich komme auch mit.«

Aber Lida sagte:

»Nein, es ist nicht nötig.«

Makarow schlang die Hände um den Nacken, sah eine oder zwei Minuten lang zu, wie Ljutow Lida beim Gehen behilflich war, indem er die Zweige der jungen Fichten zurückbog, und sagte darauf, Klim zulächelnd:

»Hast du gehört? Nicht nötig. Häufiger als alle anderen Worte, die ihr Verhältnis zur Welt und zu den Menschen bestimmen, hört man aus ihrem Munde: ›nicht nötig‹.« Nachdem Makarow sich eine Zigarette angezündet hatte, ließ er das Zündholz herunterbrennen, stemmte sich mit der Schulter gegen den Türpfosten und fuhr im Ton eines Arztes, der einem Kollegen eine interessante Krankengeschichte erzählt, fort:

»Wenn sie sich mit dem einen unterhält, ist sie immer darauf bedacht, daß der andere nicht hört und nicht weiß, wovon die Rede ist. Sie scheint zu fürchten, daß andernfalls die Menschen nicht aufrichtig seien, sondern einstimmig dasselbe sagen würden. Aber obwohl Widersprüche sie fesseln, liebt sie selbst nicht, sie herauszufordern. Vielleicht glaubt sie, jeder Mensch besitze ein Geheimnis, das er nur der Jungfrau Lida Warawka allein anvertrauen könne?«

Klim fand, daß Makarow recht hatte, und war empört: weshalb mußte gerade Makarow und nicht er das sagen? Und über die Brille hinweg seinen Kameraden musternd, stellte er fest, daß die Mutter wahr gesprochen hatte: Makarows Gesicht war schillernd. Wenn nicht die kindlichen, einfältigen Augen – es wäre das Gesicht eines lasterhaften Menschen. Mit spöttischem Lächeln sagte Klim:

»Und du bist doch in sie verliebt?«

»Ich sagte dir bereits – nein.«

Makarow blies so heftig auf seine Zigarette, daß aus ihrem Brand Funken stoben.

»Dabei ist sie nicht eitel. Mir scheint sogar, sie hat eine zu geringe Meinung von sich. Sie fühlt sehr gut, daß das Leben eine todernste Sache ist und nicht für harmlose Scherze taugt. Zuweilen scheint es, als lebe in ihr die Feindschaft gegen sich selbst, gegen den Menschen, der sie gestern war.«

Makarow schwieg, dann lachte er ganz leise und sagte:

»Ein Naturwissenschaftler, ein Bekannter von mir, ein sehr begabter Junge, aber ein Schwein und ein Louis – er lebt offen mit einem reichen alten Weibsbild – sagte sehr gut: ›Wir alle werden von der Vergangenheit ausgehalten.‹ Ich tadelte ihn einmal, und da tat er diesen Ausspruch. Es ist etwas Wahres daran, mein Lieber ...«

»Ich sehe darin nichts außer Zynismus«, sagte Klim.

Das Gewitter zog herauf. Eine schwarze Wolke hüllte alles rings umher in undurchdringlichen Schatten. Der Fluß verschwand, nur an einer Stelle beleuchtete Licht aus einem Fenster des Hauses der Telepnew das tiefsatte Wasser.

Makarow glich sehr wenig jenem Jüngling in der blutgetränkten Segeltuchbluse, den Klim voll Angst durch die Straßen geführt hatte. Diese Verwandlung seines Wesens erregte sowohl Neugier als auch Verdruß.

»Du hast dich verändert, Konstantin«, sagte Samgin mißbilligend.

Makarow fragte lächelnd:

»Zum Besseren?«

»Ich weiß nicht.«

Makarow nickte und führte die Handflächen über die auseinanderstehenden Haare:

»Mir scheint, ich bin ruhiger geworden. Ich habe, weißt du, von mir den Eindruck zurückbehalten, als hätte ich damals auf ein wildes Tier Jagd gemacht und nicht auf mich geschossen, sondern auf es. Und dann habe ich auch um die Ecke geblickt.«

Nach einigem Schweigen begann er nachdenklich und leise zu erzählen:

»Als Kind fürchtete ich nichts, weder Dunkelheit noch Donner, weder Schlägereien noch den Schein nächtlicher Feuersbrünste. Wir wohnten in einer Säuferstraße, dort brannte es häufig. Aber Ecken fürchtete ich sogar am Tage. Ging ich durch die Straße und mußte um eine Ecke biegen, so schien mir immer, daß dahinter etwas auf mich lauerte, nicht Jungen, die mich verprügeln konnten, überhaupt nichts Reales, sondern etwas ... aus dem Märchen. Vielleicht war es auch nicht Furcht, sondern allzu gierige Erwartung dessen, was anders war, als das, was ich sah und kannte. Ich, mein Lieber, habe schon mit zehn Jahren viel gekannt, beinahe alles, was man in diesem Alter nicht kennen sollte. Möglich, daß ich auf das wartete, was mir noch unbekannt war, ganz gleich: ob Schlimmeres oder Besseres, nur etwas anderes sollte es sein.«

Er sah Klim mit lachenden Augen an und seufzte tief:

»Und jetzt blicke ich ruhig um alle Ecken, weil ich weiß: auch hinter jener Ecke, die man für die allerschrecklichste hält, ist nichts.«

»Ich glaube, das Schrecklichste im Leben ist – die Lüge!« sagte Klim Samgin in unbeugsamem Ton.

»Ja. Und – die Dummheit. Nach meiner Meinung leben die Menschen sehr dumm.«

Beide verstummten.

»Ich gehe jetzt. Ich werde noch ein wenig spielen«, sagte Makarow.

Über dem Tisch, rund um die Lampe, flatterten kleine graue, unnütze Lebewesen, verbrannten sich, fielen auf das Tischtuch und bedeckten es mit ihrer Asche. Klim sperrte die Tür auf die Veranda ab, löschte das Licht und ging schlafen.

Während Klim dem Brüllen des heranziehenden Donners lauschte, verloren seine Gedanken sich im Gegenstandslosen, das sich weder in Worte noch in Bilder fügte. Er fühlte sich im Sturzbach des Unfaßlichen. In einem Sturzbach, der langsam mitten durch ihn hindurchging, aber scheinbar auch außerhalb seines Gehirns schäumte; im dumpfen Rollen des Donners, im Pochen der vereinzelten schweren Regentropfen gegen das Dach, in dem Lied von Grieg, das Makarow spielte. Nachdem die Wolke in tristem Zuge einige Dutzend schwere Tropfen herabgeworfen hatte, schwebte sie vorüber. Der Donner wurde leiser, entfernter. Leuchtend blickte der Mond ins Fenster, und sein Licht störte gleichsam ringsum alles auf, die Möbel rührten sich, die Wand schwankte. In der Mühle bellte ängstlich ein Hund. Makarow hörte auf zu spielen. Eine Tür fiel ins Schloß. Gedämpft ertönte die Stimme Ljutows. Dann verstummte alles, und in dieser erstarrten Stille fühlte Klim noch stärker den Strom eines ungestalteten Gedankens.

Das hatte keine Ähnlichkeit mit jener Schwermut, die er unlängst durchlitten halte, es war die traumhafte, bange Empfindung eines Sturzes ins Bodenlose, an seinen gewohnten Gedanken vorüber, einem neuen ihm feindlichen entgegen. Seine Gedanken befanden sich irgendwo in seinem Innern, aber sie waren gleichfalls stumm und ohnmächtig wie Schatten. Klim Samgin fühlte dunkel, daß er sich etwas gestehen mußte, aber er war unfähig oder fürchtete sich, zu begreifen, was.

Ein Sturm brach los. Die Fichten rauschten, auf dem Dache pfiff etwas gepreßt. Das Mondlicht schoß ins Zimmer, verschwand darin, und von neuem erfüllten es die raschelnden Geräusche und das Wispern der Dunkelheit. Der Sturmwind zerstreute schnell die kurze Frühlingsnacht, der Himmel färbte sich in frostiges Grün. Klim wickelte den Kopf in die Decke, ihn durchzuckte der jähe Gedanke:

»Im Grunde bin ich impotent.«

Doch diese Ahnung verschwand, ohne ihn zu verwunden, und er begann von neuem in sich hineinzuhorchen, wo das Verwüstende, Gestaltlose mitten durch ihn hindurchströmte.

Er erhob sich früh mit der Empfindung, daß sein Kopf inwendig eingestaubt war, und dachte:

»Woher und wozu kommen mir solche Stimmungen?«

Als er allein beim Tee saß, erschienen Turobojew und Warawka, grau, in Staubmänteln. Warawka sah aus wie eine Tonne, während Turobojew auch in dem grauen, weiten Sack seine Seltsamkeit nicht einbüßte und als er das Segeltuch von den Schultern geworfen hatte, Klim noch gestraffter und betont trocken erschien. Seine kalten Augen waren in die Tiefe grünlicher Schatten gebettet, und Klim bemerkte etwas sehr Trauriges und Böses in ihrem regungslosen Blick.

Warawka schüttelte den Staub aus seinem Bart und teilte Klim mit, seine Mutter bitte ihn, schon morgen abend in die Stadt zurückzukehren.

»Sie erwartet den Besuch dieser Musiker, du kennst sie ja, nun, und ...«

Er machte eine unbestimmte Bewegung mit seiner roten Hand. Klim dachte beinahe erbost;

»Warawka und die Mutter jagen mich anscheinend absichtlich hin und her. Sie wollen, daß ich so wenig wie möglich mit Lida zusammen bin.«

Er mußte ferner auf den Gedanken kommen, daß die Menschen, die er kannte, sich mit so verdächtiger Geschwindigkeit um ihn versammelten, wie sie nur auf der Bühne oder auf der Straße, nach einem Unfall, glaubwürdig war. In die Stadt zu fahren, hatte er keine Lust; ihn quälte die Neugier, wie Lida wohl Turobojew empfangen würde.

Warawka zog aus seiner dickbäuchigen Aktenmappe Pläne und Papiere und verbreitete sich über die Hoffnungen der liberalen Landwirte auf den neuen Zaren. Turobojew hörte ihm mit undurchdringlicher Miene zu, während er langsam Milch aus einem Glase schlürfte. In der Verandatür tauchte, mit feuchtem Haar und rotem Gesicht, Ljutow auf und zwinkerte mit seinen schielenden Augen.

»Und ich habe gebadet!«

»Etwas früh, etwas gewagt«, sagte vorwurfsvoll Warawka. »Gestatten Sie, Ihnen vorzustellen ...«

Klim nahm wahr, daß Turobojew Ljutows Hand sehr lässig drückte, die seinige sogleich in die Tasche steckte und sich über den Tisch neigte. Seine Finger rollten nervös Brotkügelchen. Warawka schob rasch das Geschirr beiseite, faltete einen Plan auseinander und sprach, während er mit dem Stiel eines Teelöffels auf ihre grünen Flecken klopfte, von Wäldern, Sümpfen und Sandflächen. Klim stand auf und ging hinaus, da er fühlte, wie in ihm der Haß gegen diese Leute erwachte.

Auf einem Hügel im Walde wählte er sich einen Platz, von wo aus er alle Villen, das Flußufer, die Mühle, und die Straße nach dem kleinen in der Nähe der Landhäuser Warawkas gelegenen Kirchdorf Nikonowo überschauen konnte, setzte sich in den Sand unter den Birken und packte Brunetieres Buch »Symbolisten und Decadente« ars. Aber die Sonne störte, und noch mehr die Notwendigkeit, zu verfolgen, was dort unten geschah.

Neben der Mühle teerte ein bärtiger Bauer in einem roten Hemd, winzig wie ein Spielzeug, den Boden eines Kahns. Die dumpfen Schläge des hölzernen Hammers zerteilten mit festem Ton die Stille. Ein ebenso winziges Bauernweib trieb, ihren Rocksaum schüttelnd, Gänse zum Fluß. Zwei Knaben mit Angelruten über der Schulter gingen am Ufer entlang – der eine gelb, der andere blau. Da kam auch Makarow, sein Handtuch schwenkend, trat er auf den Steg des Badehauses, ließ seinen nackten Fuß ins Wasser hängen, zog ihn heraus und schüttelte ihn wie ein Hund. Darauf legte er sich bäuchlings über den Steg und wusch Kopf und Gesicht, worauf er zum Landhaus zurückschlenderte. Im Gehen trocknete er seine Haare, es schien, als wickle er das Handtuch um den Kopf, um ihn abzureißen.

Von der Sonne gewärmt, von den würzigen Düften des Waldes berauscht, nickte Klim ein. Als er die Augen öffnete, stand unten Turobojew am Flußufer. Er hatte den Hut abgenommen und folgte, wie auf Drehangeln jeder Wendung Alina Telepnews, die den Weg zur Mühle einschlug. Und linker Hand, in der Ferne, auf der Straße zum Dorf, schwebte gleichsam über dem Erdboden das zierliche weiße Figürchen Lidas.

»Ob sie ihn gesehen hat? Ob sie miteinander gesprochen haben?«

Er stand auf, um zum Fluß hinabzusteigen, doch ihn hemmte das Gefühl schwerer Abneigung gegen Turobojew, gegen Ljutow, gegen Alina, die sich verkaufte, gegen Makarow und Lida, die ihr ihre Schamlosigkeit nicht vorhalten wollten oder konnten.

»Stände ich ihr so nahe wie sie ... Übrigens hol sie alle der Teufel!«

Er ließ sich träge in den Sand sinken, der bereits stark von der Sonne erhitzt war, putzte seine Brillengläser und beobachtete dabei Turobojew, der immer noch auf demselben Fleck stand, sein Bärtchen zwischen zwei Finger preßte und sich mit seinem grauen Hut das Gesicht fächelte. Ihm näherte sich Makarow, und nun wandten sie sich beide zur Mühle.

»Im Grunde sind alle diese Gescheiten fade Menschen. Und – falsche«, zwang sich Klim zu denken, da er fühlte, daß sich seiner von neuem die Stimmung der vergangenen Nacht bemächtigte. »In der Seele jedes von ihnen, hinter ihren Worten, liegt gewiß etwas Banales, Der Unterschied zwischen ihnen und mir besteht nur darin, daß sie es verstehen, gläubig oder ungläubig zu erscheinen, während ich bis jetzt weder einen festen Glauben noch einen standhaften Unglauben besitze.« Klim Samgin hatte nicht zum erstenmal die Vorstellung, daß von außen her eine Menge spitzer und gleichwertiger Gedanken in ihn eindrangen. Sie waren widerspruchsvoll, und es war notwendig, von ihnen diejenigen abzusondern, die ihm am besten paßten. Doch jeder Versuch, Ordnung in all das hineinzubringen, was er vernahm und las, einen Kreis von Meinungen zu schaffen, der ihm als Schild gegen den Ansturm der Gescheiten dienen und gleichzeitig seine Persönlichkeit mit hinreichender Schärfe betonen konnte, scheiterte. Er fühlte, daß sich in ihm ein langsamer Wirbel verschiedener Meinungen, Ideen und Theorien drehte, aber dieser Wirbel schwächte ihn nur, ohne ihm etwas zu geben, ohne in seine Seele, in sein Herz einzugehen. Zuweilen schreckte ihn bereits diese Empfindung seiner selbst als eines Leerraums, in dem unaufhörlich Worte und Gedanken siedeten – siedeten, ohne zu wärmen. Er fragte sich sogar:

»Ich bin doch nicht dumm?«

An diesem heißen Tage, als er im Sand saß und sah, wie Turobojew, Makarow und zwischen ihnen Alina von der Mühle zurückkehrten, durchzuckte ihn eine tröstliche Ahnung:

»Ich ängstige mich unnötig. Im Grunde ist alles sehr einfach: meine Stunde, zu glauben, ist noch nicht gekommen. Doch schon reift irgendwo tief in meiner Seele das Korn des wahren Glaubens, meines Glaubens! Er ist mir noch nicht klar, aber es ist seine geheimnisvolle Kraft, die alles Fremde von mir abwehrt und mir nicht erlaubt, es anzunehmen. Es gibt Ideen, die für mich und solche, die nicht für mich bestimmt sind. Die einen muß ich erleben, die anderen brauche ich nur zu kennen. Ich bin nur noch nicht den mir »chemisch verwandten« Ideen begegnet, Kutusow sagt sehr richtig, daß für jedes soziale Individuum ein bestimmter Kreis von Meinungen und Anschauungen existiert, die ihm chemisch verwandt sind.«

Die Erinnerung an Kutusow verwirrte Klim einigermaßen, er sah sich innerlich über einen Widerspruch stolpern, doch rasch machte er einen Bogen um ihn, indem er sich sagte:

»Hier ist eine Wirrnis, doch sie zeigt nur an, daß es gefährlich ist, sich fremder Ideen zu bedienen. Es gibt einen Korrektor, der diese Fehler anstreicht.«

Darauf kehrte Klim Samgin von neuem zu seiner Erkenntnis zurück:

»Daher erscheint es mir auch zuweilen, daß meine Gedanken im leeren Raum sieden. Auch was ich diese Nacht empfinden mußte, hängt natürlich mit dem Heranreifen meines Glaubens zusammen.«

Er lächelte zögernd, froh über seine Entdeckung, doch noch nicht ganz überzeugt von ihrem Wert. Indessen, sich vollends davon zu überzeugen, war nun nicht mehr schwierig. Nachdem er noch einige Minuten nachgedacht hatte, erhob er sich, reckte sich wollüstig, um die ermüdeten Muskeln zu lockern, und ging rüstig nach Hause.

Warawka und Ljutow saßen am Tisch, Ljutow mit dem Rücken zur Tür. Beim Eintreten hörte Klim ihn sagen:

»Die erste Geige in einer Zeitung ist nicht der politische Redakteur, sondern der Feuilletonist.«

Warawka empfing Klim übellaunig:

»Wo warst du? Man hat dich vor dem Frühstück gesucht und nicht gefunden. Und wo ist Turobojew? Mit den Mädchen? Hm ... ja! Sei so gut Klim und schreib mir diese beiden Zettel ab.«

Ljutow sah mit scheelem, argwöhnischem Blick auf Klim, beugte sich dann über ein Blatt Papier und unterstrich etwas:

»Wahrscheinlich wird mein Onkel auf Ihre Bedingungen nicht eingehen«, sagte er.

Er nahm mit nervöser Bewegung eine Flasche vom Tisch und goß Bier in sein Glas. Drei Flaschen waren schon geleert Klim ging fort. Während er die Papiere abschrieb, lauschte er den undeutlichen Stimmen Warawkas und Ljutows. Ihre Stimmen waren beinahe gleich hoch und kreischten manchmal auf eine so seltsame Weise, als kläfften zwei Hündchen, die man in einem Zimmer eingesperrt hatte, einander zornig an.

Turobojew, Makarow und die Mädchen erschienen erst zum Abendessen. Klim erkannte sogleich, daß Lida unfroh und nachdenklich gestimmt war, schob es aber auf ihre Müdigkeit. Makarow hatte das Aussehen eines Menschen, der soeben aufgewacht ist. Ein zerstreutes Lächeln säumte seine schön geschnittenen Lippen, aber er rauchte nach seiner Gewohnheit ohne Unterlaß. Die Zigarette qualmte in seinem Mundwinkel, und ihr Rauch zwang Makarow, das linke Auge zuzukneifen. Es war seltsam zu sehen, wie unverwandt und erstaunt Alina Turobojew ansah, während in den frostigen Augen des Aristokraten zwar eine gewisse Besorgtheit bemerkbar war, doch das gewohnte maliziöse Lächeln fehlte. Alle erschienen in dem Moment, als Klim Samgin das Schauspiel der rhetorischen Raserei Warawkas und Ljutows beobachtete.

Es lag etwas Hungriges, Wollüstiges und schließlich sogar Lächerliches in der Wut, mit der diese Menschen stritten. Es schien, als hätten sie schon lange eine Gelegenheit gesucht, einander zu begegnen, um sich ironische Ausrufe an den Kopf zu werfen, in spöttischen Grimassen zu wetteifern und einander auf jegliche Art zu beweisen, daß man den anderen nicht achte. Warawka rekelte sich salopp im Korbstuhl. Er hatte seine kurzen Beine von sich gestreckt und die Hände in den Taschen vergraben, es sah so aus, als habe er sie in seinen Bauch gebohrt. Beim Zuhören blies er seine knallroten Backen auf und kniff die Bärenäuglein zu. Wenn er sprach, wand sein ungetümer Bart sich wogend auf dem Battist seines Hemdes gleich einer monströsen Zunge, die bereit ist, alles wegzulecken.

»Erlauben Sie!« kreischte er durchdringend. »Sie haben selbst zugegeben, daß die Industrie des Landes sich im Keimzustand befindet – und trotzdem halten Sie es für möglich, ja für unvermeidlich, den Arbeitern Feindseligkeit gegen die Unternehmer einzuflößen?«

»Hähähä«, lachte Ljutow näselnd und aufreizend. »Fügen Sie noch hinzu, daß der Klassenhaß notwendig die Entwicklung der Kultur aufhält, wie dies aus dem Beispiel Europas hervorgeht...«

Klim machte dieses Lachen, in dem nichts Scherzhaftes lag, aus dem aber deutlich unverschämter Spott sprach, staunen. Ljutow saß mit gekrümmtem Rücken auf dem Stuhlrand und stemmte die Hände flach gegen die Knie. Klim sah, wie seine schielenden Augen zitterten, in dem Bestreben, sich auf Warawkas Gesicht einzustellen, und, da es ihnen nicht gelang, hüpften und Ljutow zwangen, den Kopf hin und her zu drehen. Klim sah ferner, daß dieser Mensch alle gegen sich aufbrachte, Lida, die Tee eingoß, ausgenommen. Makarow blickte durch die offene Verandatür, klopfte sich mit dem Löffel auf die Nägel der linken Hand und hörte offensichtlich nichts.

»Aber die Beweggründe? Ihre Beweggründe?« krähte Warawka, »Was veranlaßt Sie, die Feindschaft anzuerkennen ...«

»Mein Name«, kreischte Ljutow. »Grimmig hasse ich die Langeweile des Lebens.«

Turobojew schnitt eine Grimasse. Alina, die es bemerkte, beugte sich zu Lida, flüsterte ihr etwas ins Ohr und versteckte ihr rot gewordenes Gesicht hinter der Schulter ihrer Freundin. Ohne sie anzusehen, stieß Lida ihre Tasse zur Seite und runzelte die Stirn.

»Wladimir Iwanowitsch«, heulte Warawka. »Sprechen wir ernsthaft oder nicht?«

»Durchaus«, rief erregt Ljutow.

»Ja, was wollen Sie eigentlich?«

»Freiheit!«

»Anarchie?«

»Wie Sie wünschen. Wenn bei uns Fürsten und Grafen hartnäckig Anarchie predigen, gestatten Sie auch einem Kaufmannssohn, gutherzig über dieses Thema zu schwatzen! Gestatten Sie dem Menschen die ganze Süßigkeit und den ganzen Schrecken – jawohl, Schrecken! – des freien Handelns auszukosten. Setzen Sie ihm keine Schranken.«

»Und dann?« fragte laut Turobojew.

Ljutow schaukelte auf dem Stuhl nach seiner Richtung hin und reckte den Arm gegen ihn aus.

»Dann wird er sich selbst, kraft seiner eigenen Freiheit, Schranken setzen. Er ist feige, der Mensch, er ist gierig. Er ist klug, weil er feige ist, gerade deshalb. Erlauben Sie es, und Sie erhalten die vortrefflichsten, zahmsten, fleißigsten Menschen, die unverzüglich sich selbst und einander bändigen und fesseln, sich dem Gotte wohltätigen und friedlichen Lebens hingeben werden.«

Warawka riß empört die Hand aus der Tasche und winkte ab:

»Verzeihen Sie, das ist nicht ernsthaft!«

»Darf man ein paar Worte sagen?« fragte Turobojew.

Er wartete die Erlaubnis nicht ab, sondern begann, ohne Ljutow anzusehen:

»Wenn ich Leute streiten höre, entsteht bei mir der schmerzliche Eindruck, daß wir russischen Menschen unseres Verstandes nicht mächtig sind. Bei uns lenkt nicht der Mensch seinen Gedanken, sondern dieser knechtet jenen. Sie erinnern sich, Samgin, Kutusow nannte unsere Diskussionen eine »Parade der Paradoxien«?«

»Nun, Herr? Nun und, Herr?« kreischte Ljutow anzüglich. »Es gibt bei uns erstaunlich viele Leute, die, nachdem sie einmal einen fremden Gedanken angenommen haben, sich gleichsam scheuen, ihn zu prüfen, von sich aus zu verbessern, vielmehr, umgekehrt, lediglich bestrebt sind, ihn auszurichten, zu überspitzen und über alle Grenzen der Logik und des Möglichen hinaus zu treiben. Überhaupt will mir scheinen, als sei das Denken für den russischen Menschen etwas Ungewohntes, ja Ängstigendes, wenn auch Verführerisches. Diese Unfähigkeit, seinen Verstand zu lenken, flößt dem einen Furcht vor ihm, Feindseligkeit gegen ihn, dem anderen sklavische Unterordnung unter die Willkür seines Spiels ein, eines Spiels, welches überaus häufig die Menschen verdirbt.«

Ljutow rieb sich die Hände und grinste höhnisch. Klim mußte daran denken, daß er am häufigsten, ja so gut wie immer gute Gedanken aus dem Munde unangenehmer Menschen zu hören bekam. Ihm gefielen die schreienden Versicherungen Ljutows über die Notwendigkeit der Freiheit, er billigte Turobojews Hinweis auf die russische Unfähigkeit, kaltblütig zu denken. Sich seinen Gedanken überlassend, überhörte er die letzten Worte Turobojews und wurde von Ljutows Schrei überrumpelt:

»Sie tadeln mit großem Hochmut!«

»Wir sind erfüllt von einer barbarischen Gier nach besonders glänzenden Gedanken, sie erinnert an die Gier der Wilden nach Glasperlen«, sagte Turobojew, er schaute Ljutow nicht an und betrachtete die Finger seiner rechten Hand. »Ich glaube, nur dadurch erklären sich solche Kuriosa wie Voltairianer unter den Gutsbesitzern, darwinistische Popensöhne, idealistische Kaufleute »erster Gilde« und Marxisten aus demselben Stande.«

»Soll das ein Stein in meinen Garten sein?« fragte Ljutow kreischend.

»Nein, ich will niemand damit treffen. Ich suche ja nicht zu überzeugen, sondern berichte«, antwortete Turobojew nach einem Blick aus dem Fenster. Klim wunderte sehr der sanfte Ton seiner Antwort. Ljutow wand sich, hüpfte auf seinem Stuhl, suchte Einwände und musterte alle Anwesenden. Da er aber feststellte, daß man Turobojew aufmerksam zuhörte, grinste er spöttisch und schwieg.

»Ich weiß nicht, ob man sich diese Gier nach Fremdem mit der Notwendigkeit organisierender Ideen für unser Land erklären soll«, sagte Turobojew und erhob sich.

Ljutow sprang gleichfalls auf:

»Und die Slawophilen? Die Volkstümler?«

»Die einen gibt es nicht mehr, die anderen sind weit entfernt von der Wirklichkeit«, antwortete, zum ersten Male lächelnd, Turobojew.

Ljutow rückte ihm auf den Leib, er kreischte:

»Aber auch Sie denken ja nicht selbständig! Ach nein! Tschaadajew ...«

»Hat Rußland mit den Augen eines klugen und liebenden Europäers angesehen.«

»Nein, warten Sie, unterstellen Sie mir nichts ...«

Ljutow redete auf Turobojew ein, drängte ihn auf die Veranda und schrie dort:

»Das standesmäßige Denken...«

»Ein anderes soll unmöglich sein...«

»Sonderbare Type«, murmelte Warawka, und an seinem scheelen Blick nach Alinas Seite war zu sehen, daß er Ljutow meinte.

Minutenlang schwiegen im Zimmer vier Menschen, ganz Ohr für den Streit auf der Veranda. Der fünfte, Makarow, schlief schamlos im Winkel, auf einem niedrigen Schemel. Lida und Alina saßen Schulter an Schulter, Lida senkte den Kopf, man sah ihr Gesicht nicht. Die Freundin flüsterte ihr etwas ins Ohr. Warawka, der die Augen bedeckt hielt, rauchte seine Zigarre.

»Jetzt, da wir vor einander die Wimpel unserer Originalität gehißt haben... Was gibt es?«

Eine dritte Stimme, heiser und weinerlich, sagte:

»Vielleicht wollen die Herrschaften einen Wels fangen? Hier lebt zu Ihrer Unterhaltung ein Wels, drei Pud schwer... Eine amüsante Zerstreuung...«

Klim trat auf die Veranda hinaus. Vor ihm stand der Bauer mit dem Holzbein, erhob sein Pelzgesicht und sagte in flehendem Ton:

»Ich würde Ihnen für fünfundzwanzig Rubel eine herrliche Jagd einrichten. Es ist ein gefährlicher Fisch. Sie könnten sich später vor Verwandten und Bekannten rühmen...«

Turobojew trat zur Seite. Ljutow reckte den Hals und betrachtete aufmerksam den Bauern, der breitschultrig, in einem roten Hemd ohne Gürtel, bedeckt von einer Kappe wuchernder grauer Haare, dastand. Seine einundeinhalb Beine waren mit blauen Hosen bekleidet. In der einen Hand hielt er ein Messer, in der anderen einen hölzernen Krug und schnitzte, während er sprach, mit dem Messer den schartigen Rand des Kruges glatt, wobei er mit hellen Augen zu den Herrschaften emporblickte. Sein Gesicht war nüchtern, sogar finster, seine Stimme klang hoffnungslos. Als er aufgehört hatte zu reden, zogen seine Brauen sich düster zusammen.

Ljutow eilte zu ihm hinab und sagte:

»Gehen wir.«

Er wandte sich zum Fluß. Der Bauer folgte ihm humpelnd. Im Zimmer lachte Alina.

»Wie gefällt Ihnen Ljutow?« fragte Klim Turobojew, der sich auf die Brüstung der Veranda gehockt hatte. »Originell?«

»Er gehört nicht zu den Leuten, die mir Achtung abzwingen, aber er ist – interessant«, sagte Turobojew nach einigem Überlegen leise. »Er hat sehr boshaft über Krapotkin, Bakunin und Tolstoi gesprochen und über das Recht eines Kaufmannssohns, gutherzig zu schwatzen. Das ist das Klügste, was er gesagt hat.«

Eine hinter der anderen, traten Lida und Alina auf die Veranda. Lida setzte sich auf die Stufen. Alina warf hinter der schützenden Hand einen Blick auf die emporsteigende Sonne und näherte sich lautlos, mit gleitendem Schritt, wie über eine Eisfläche, Turobojew.

»Das hätte ich nicht gedacht, daß Sie gern streiten!«

»Ist das ein Mangel?«

»Natürlich. Es taugt für Greise.«

»Unser Geschlecht weiß nichts von Jugend«, zitierte Turobojew.

»Au, Nadson«, rief Alina mit verächtlicher Grimasse. »Mir scheint, nur erfolglose, unglückliche Menschen lieben das Streiten. Die Glücklichen leben schweigsam.«

»Meinen Sie?«

»Ja. Den Unglücklichen fällt es aber schwer, zu gestehen, daß sie nicht zu leben verstehen, daher reden und schreien sie. Und immer an der Sache vorbei, nicht über sich, sondern über die Liebe zum Volk, an die niemand glaubt.«

Turobojew lachte ganz leise und weich.

»Oho! Sie sind mutig«, sagte er.

Sowohl sein milder Ton als auch sein Lachen reizten Klim. Er fragte ironisch:

»Sie nennen es mutig? Wie nennen Sie dann die Volkstümler und Revolutionäre?«

»Es sind gleichfalls mutige Leute. Besonders diejenigen, die selbstlos, aus Neugier Revolution machen.«

»Sie sprechen von den Abenteurern.«

»Wieso? Von Menschen, die sich eingeengt fühlen und die Ereignisse zu beschleunigen suchen. Cortez und Columbus waren ja auch Ausdruck des Volkswillens, Professor Mendelejew ist nicht weniger Revolutionär als Karl Marx. Neugier ist Tapferkeit. Wenn aber die Neugier sich in Leidenschaft verwandelt, dann ist sie schon – Liebe.«

Lida blickte Turobojew über die Schulter und fragte:

»Sprechen Sie aufrichtig?«

»Ja«, entgegnete er zögernd.

Klim empfand steigende Erbitterung gegen diesen Menschen. Er wünschte Einwände gegen diese Gleichsetzung von Neugier und Mut zu erheben, fand aber keine. Wie immer, wenn in seiner Gegenwart im Ton der Wahrheit Paradoxien vorgetragen wurden, beneidete er die Menschen, die das verstanden.

Ljutow kehrte zurück und schrie, sein Taschentuch schwenkend:

»Morgen vor Tagesanbruch werden wir den Wels fangen! Für dreizehn Rubel bin ich mit ihm handelseinig geworden.«

Er lief auf die Veranda und fragte Alina:

»Erkorene! Haben Sie niemals einen Wels gefangen?«

Sie ging an ihm vorüber, mit den Worten:

»Weder Fische, noch Kraniche am Himmel...«

»Verstehe!« schrie Ljutow. »Sie ziehen den Sperling in der Hand vor. Ich billige es.«

Klim sah, daß Alina sich mit einem Ruck umwandte, einen Schritt zu ihrem Verlobten hin machte, dann aber zu Lida trat und sich neben sie setzte, wobei sie an sich zupfte, wie ein Huhn vor dem Regen. Händereibend und die Lippen schiefziehend, musterte Ljutow alle mit erregt fliehenden Augen, und sein Gesicht bekam einen betrunkenen Ausdruck.

»Wir leben in der Sünde«, murmelte er. »Jener Bauer aber... jawohl!«

Alle schienen zu merken, daß er in noch verzweifelterer Stimmung wiedergekommen war, gerade damit erklärte sich Klim das unhöfliche, zuwartende Schweigen, womit man Ljutow antwortete. Turobojew lehnte mit dem Rücken an einer der gedrechselten Verandasäulen. Die Arme auf der Brust gekreuzt, seine gestickten Brauen furchend, fing er aufmerksam Ljutows irren Blick, als erwarte er einen Überfall.

»Ich bin einverstanden!« sagte Ljutow und trat mit eiligen Schritten ganz dicht an ihn heran. »Richtig: wir irren im Gestrüpp unseres Verstandes oder rennen als erschrockene Dummköpfe vor ihm davon.«

Er holte so rasch mit der Hand aus, daß Turobojew mit der Wimper zuckte und um dem Schlag auszuweichen, zur Seite fuhr. Er tat es und erbleichte. Ljutow entging augenscheinlich diese Bewegung, und er sah nicht das zornige Gesicht. Mit der Hand fuchtelnd wie der ertrinkende Boris Warawka, redete er weiter:

»Aber das geschieht, weil wir ein metaphysisches Volk sind. In jedem unserer landwirtschaftlichen Statistiker steckt ein Pythagoras, und unser Statistiker nimmt Marx wie einen Swedenborg oder Jakob Böhme in sich auf. Und die Wissenschaft können wir nur als Metaphysik vertragen. Für mich zum Beispiel ist die Mathematik die Mystik der Zahlen, einfacher gesprochen, Zauberei.«

»Nichts Neues«, flocht Turobojew leise ein.

»Daß der Deutsche der geborene Philosoph sein soll, ist Unsinn!« sagte Ljutow mit gedämpfter Stimme und sehr rasch, und seine Beine knickten ein. »Der Deutsche philosophiert maschinell, es ist für ihn Tradition, Handwerk, Feiertagsbeschäftigung. Wir aber philosophieren leidenschaftlich, selbstmörderisch, Tag und Nacht, im Schlaf, an der Brust der Geliebten und auf dem Sterbebett. Eigentlich philosophieren wir nicht, weil es bei uns, sehen Sie, nicht aus dem Verstand, sondern aus der Phantasie kommt. Wir vernünfteln nicht, wir träumen mit der ganzen bestialischen Kraft unserer Natur. Den Begriff ›bestialisch‹ müssen Sie nicht im absprechenden, sondern im quantitativen Sinn nehmen.«

Er fuchtelte mit den Armen und beschrieb in der Luft einen weiten Kreis.

»Verstehen Sie ihn als Grenzenlosigkeit und Unersättlichkeit. Vernunft wird nicht heimisch bei uns, wir sind unvernünftige Talente. Und wir alle ersticken, alle – von unten bis oben. Fliegen und stürzen. Ein Bauer steigt zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften auf. Aristokraten lassen sich ins Bauerntum herab. Und wo finden Sie so mannigfaltige und zahlreiche Sekten wie bei uns? Und dazu die fanatischsten: die Kastraten, die Flagellanten, der ›Rote Tod‹. Selbstverbrenner sind wir, wir brennen im Traum, angefangen mit Iwan dem Schrecklichen und dem Oberpriester Awwakum bis zu Michail Bakunin, Netschajew und Wsewolod Garschin. Lehnen Sie Netschajew nicht ab, das geht nicht an! Denn er ist ein prachtvoller russischer Mensch! Dem Geist nach ein leiblicher Bruder des Konstantin Leontjew und des Konstantin Pobedonoszew.«Netschajew – Terrorist, Anhänger Bakunins. – Oberpriester Awwakum, Volkspriester und Reformator, 1682 zu Moskau verbrannt. Garschin – realistischer Erzähler. Leontjew, konservativer Politiker. Konstantin Pobedonoszew, Jurist und Staatsmann, Apologet des Absolutismus und des orthodoxen Kirchenglaubens. D. Ü.

Ljutow knüpfte, fuchtelte mit den Armen und wollte sich in Stücke reißen. Doch sprach er immer leiser, zuweilen fast flüsternd. Etwas Unheimliches, Betrunkenes und wirklich Leidenschaftliches, etwas furchtbar Erlebtes brach bei ihm durch. Es war zu sehen, daß es Turobojew Anstrengung kostete, sein Geflüster und sein leises Heulen zu ertragen, in dieses erregte, rote Gesicht mit den verdrehten Augen zu schauen.

»Wie wird nur Alina mit ihm leben?« dachte Klim mit einem Blick auf das junge Mädchen. Sie hatte ihren Kopf in Lidas Schoß gelegt. Lida spielte mit ihrem Zopf und hörte aufmerksam zu.

»Sie sind anscheinend in vielem mit Dostojewski einer Meinung?« fragte Turobojew.

Ljutow fuhr zurück.

»Nein! Worin? Was das betrifft, ist mein Gewissen rein. Ich liebe ihn nicht.«

Auf der Schwelle zeigte sich Makarow und fragte böse:

»Wladimir, willst du Milch? Sie ist kalt.«

»Dostojewski ist hingerissen vom Zuchthaus. Was ist sein Zuchthaus? Eine Parade. Er war Inspektor der Parade im Zuchthaus. Und sein ganzes Leben lang vermochte er nichts zu schildern außer Zuchthäuslern, sein tugendhafter Mensch aber ist ein ›Idiot‹. Das Volk kannte er nicht, es beschäftigte ihn nicht.«

Makarow kam heraus, reichte Lida ein Glas Milch und setzte sich neben sie. Laut knurrte er:

»Wird dieser Redefluß bald ein Ende nehmen?«

Ljutow drohte ihm mit der Faust.

»Unser Volk ist das freieste auf der ganzen Erde. Es ist innerlich durch nichts gebunden. Die Wirklichkeit liebt es nicht. Es liebt Finten und Gauklerstückchen. Zauberer und Wundertäter. Idioten. Es ist selbst so ein ***+– Idiot. Morgen schon kann es den mohammedanischen Glauben annehmen – zur Probe. Jawohl, zur Probe, Herr! Kann alle seine Hütten niederbrennen und in die Sandwüste ziehen, um das Oponische Königreich zu suchen.«

Turobojew versteckte die Hände in den Taschen und fragte frostig:

»Nun, und was folgt endlich daraus?«

Ljutow schaute sich um, offenbar, um die Aufmerksamkeit noch mehr auf sich zu lenken, und antwortete, sich wiegend:

»Daraus folgt, daß das Volk die Freiheit will, nicht jene, die ihm die Politiker aufdrängen, sondern die Freiheit, die die Pfaffen ihm geben könnten, die Freiheit, furchtbar und auf jede Art zu sündigen, um zu erschrecken und dann für dreihundert Jahre in sich selbst still zu sein: So, erledigt! Alles ist erledigt! Alle Sünden sind erfüllt. Wir haben Luft!«

»Eine merkwürdige Theorie«, sagte Turobojew achselzuckend und stieg von der Veranda ins nächtliche Dunkel hinab. Zehn Schritt entfernt, sagte er laut:

»Und es ist doch – Dostojewski. Wenn nicht seine Gedanken, so doch sein Geist ...«

Ljutow kniff seine schielenden Augen zu und murmelte:

»Wir leben, um zu sündigen und uns so von den Anfechtungen zu befreien. Sündigst du nicht, kannst du nicht bereuen, ohne Reue aber gibt es keine Erlösung ...«

Alle schwiegen und blickten auf den Fluß. Auf der schwarzen Bahn bewegte sich lautlos ein Kahn. An seinem Bug brannte und kräuselte sich eine Fackel. Ein schwarzer Mann rührte behutsam die Ruder, ein zweiter, mit einer langen Stange in den Händen, beugte sich über Bord und zielte mit der Stange auf das Spiegelbild der Fackel im Wasser. Das Bild änderte wundersam seine Formen, bald glich es einem goldenen Fisch mit vielen Flossen, bald einer tiefen, auf den Grund des Flusses reichenden roten Gruft, in die der Mann mit der Stange sich zu springen anschickte, aber nicht getraute.

Ljutow blickte zum Himmel empor, der verschwenderisch mit Sternen besät war, zog seine Uhr hervor und sagte:

»Es ist noch früh. Wünschen Sie nicht spazieren zu gehen, Alina Markowna?«

»Wenn Sie schweigen – ja.«

»Wie das Grab?«

»Ich gestatte armenische Witze.«

»Nun, auch dafür weiß ich Ihnen Dank«, sagte Ljutow, während er seiner Braut beim Aufstehen behilflich war. Sie nahm seinen Arm.

Als sie sich ungefähr dreißig Schritte entfernt hatten, sagte Lida still:

»Er tut mir leid.«

Makarow knurrte etwas Undeutliches. Klim fragte:

»Weshalb – leid?«

Lida antwortete nicht, aber Makarow sagte halblaut:

»Hast du gesehen – wie er sich aufregt? Er möchte sich selbst überschreien.« »Verstehe ich nicht.«

»Was ist denn dabei nicht zu verstehen?« Lida erhob sich.

»Begleite mich, Konstantin.«

Auch sie gingen fort. Der Sand knirschte. In Warawkas Zimmer klapperten hart und flink die Kugeln des Rechenbretts. Das rote Feuer auf dem Boot leuchtete in weiter Ferne, am Mühlenwehr. Klim saß auf den Verandastufen, sah der verschwindenden weißen Figur des Mädchens nach und beteuerte sich selbst:

»Ich bin doch nicht in sie verliebt?«

Um nicht denken zu müssen, ging er zu Warawka und fragte, ob er ihn brauche. Er brauchte ihn. Ungefähr zwei Stunden saß er hinter dem Tisch mit dem Abschreiben der Projekte eines Vertrages zwischen Warawka und der Stadtverwaltung über den Bau eines neuen Theaters beschäftigt. Er schrieb und horchte mit allen Sinnen in die Stille. Doch alles rings umher schwieg steinern. Keine Stimme, kein Rascheln von Schritten.

Bei Sonnenaufgang stand Klim unter den Weiden des Mühlenwehrs und hörte zu, wie der Bauer mit dem Holzbein mit leiser begeisterter Stimme erzählte:

»Der Wels liebt Grütze. Hirsebrei oder, sagen wir mal, Buchweizengrütze, ist seine Lieblingsspeise. Ein Wels hätte sich für Grütze zu allem herankriegen.«

Das Holzbein des Bauern bohrte sich in den Sand. Er stand, in der Hüfte gekrümmt, und hielt sich am Stumpf eines Weidenastes. Mit zuckenden Bewegungen der Schultern zog er das Holzbein aus dem Sand, setzte es auf einen anderen Fleck, bis es wieder im lockeren Grund einsank, und von neuem knickte die Hüfte des Bauern ein.

»Grütze haben wir ihm gegeben, dem Biest«, sagte er, die Stimme noch mehr dämpfend. Sein pelziges Gesicht war feierlich, in seinen Augen strahlte Würde und Seligkeit. »Wir kochen die Grütze so heiß es geht und schütten sie in einen Topf, der Topf aber hat einen Sprung – begreifen Sie die Chose?«

Er zwinkerte Ljutow zu und wandte sich zu Warawka hin, der in einem kirschfarbenen Schlafrock, einer grünen, goldverbrämten tatarischen Kalotte und buntgestreiften Saffianstiefeln beinahe hoheitsvoll dastand. »Er schluckt also den Topf hinunter, der Topf aber, der ja gesprungen ist, fällt in seinem Bauch auseinander, und nun beginnt die Grütze ihm die Eingeweide zu verbrennen, begreifen Eure Exzellenz diese Chose? Es tut ihm weh, er zappelt, er springt, und nun fassen wir zu ...«

Die Sonnenstrahlen zielten auf Warawkas Gesicht, er blinzelte wohlig und streichelte mit den Handflächen seinen kupfernen Bart.

Ljutow, im zerdrückten Anzug, besät mit Fichtennadeln, hatte das Aussehen eines Menschen, der nach einem ausgedehnten Gelage soeben erst zu sich gekommen ist. Sein Gesicht war gelb geworden, das Weiße seiner halbirren Augen blutunterlaufen. Schmunzelnd, mit belegter, leiser Stimme, sagte er seiner Braut:

»Natürlich lügt er! Aber niemand in der Welt außer einem russischen Bauern kann solchen Unsinn ausdenken!«

Die jungen Mädchen standen verschlafen in einer Reihe, gähnten um die Wette und schauerten in der Morgenfrische. Ein rosiger Dunst stieg aus dem Fluß, hinter einem Schleier, auf dem lichten Wasser, erschienen Klim die bekannten Gesichter der Mädchen zum Verwechseln gleich. Makarow, in einem weißen Hemd mit aufgeknöpftem Kragen, saß mit bloßem Hals und struppigem Haar im Sand zu Füßen der Mädchen und erinnerte an die triviale Reproduktion des Bildnisses eines Italienerknaben, eine Beilage der Zeitschrift »Niwa«. Samgin bemerkte zum ersten Mal, daß die breitbrüstige Figur Makarows ebenso keilförmig war wie die des Vagabunden Inokow.

Turobojew stand abseits in gestraffter Haltung, blickte unverwandt auf Ljutows wulstigen, gewölbten Nacken und schob, als flüstere er lautlos, langsam seine Zigarette aus einem Mundwinkel in den anderen.

»Nun, wird's bald?« fragte Ljutow ungeduldig.

»Sprechen Sie ein wenig leiser, Herr«, sagte der Bauer in strengem Flüsterton. »Die Bestie ist schlau, sie hört uns.«

Er wandte sich zur Mühle um und rief:

»Mikola? He!«

Zwei Stimmen antworteten zögernd, eine männliche und eine weibliche.

»Hallo? Was soll's?«

»Hast du nachgesehen? Hat er es gefressen?«

»Ich habe nachgesehen.«

»Nun und?«

»Er hat's gefressen.«

Ljutow sah den Bauern wütend an und gab ihm einen Stoß.

»Was fällt dir ein? Ich soll nicht sprechen, und du selbst brüllst aus vollem Halse?«

Der Bauer blickte ihn erstaunt an und lächelte, daß sein ganzes Gesicht sich borstig sträubte.

»Mein Gott, er, dieser Wels, kennt mich ja, Sie aber sind ihm ein fremder Mensch. Jedes Geschöpf hat seine Vorsicht im Leben.«

Diese Worte gab der Bauer flüsternd von sich. Darauf warf er, unter der Handfläche hervor, einen Blick auf den Fluß und sagte, ebenfalls sehr leise:

»Jetzt – schauen Sie hin! Jetzt beginnt die Grütze ihn zu brennen, und er – zu springen. Jetzt gleich ...«

Er sagte dies so überzeugend, mit einem so begeisterten Gesicht, daß alle lautlos ans Ufer schlichen, und es sogar schien, als habe auch das rosig-goldene Wasser seine langsame Strömung angehalten. Den Sand tief mit dem Holzbein aufwühlend, humpelte der Bauer zur Mühle. Alina schrak zusammen und flüsterte angstvoll:

»Seht, seht! Dort am anderen Ufer das Dunkle, unterm Strauch ...«

Klim sah nichts Dunkles. Er glaubte nicht an den Wels, der Buchweizengrütze liebte. Aber er sah, daß alle rings um ihn her daran glaubten, selbst Turobojew und anscheinend auch Ljutow. Das blitzende Wasser mußte den Augen weh tun, doch alle starrten unverwandt hin, als wollten sie bis auf den Grund des Flusses dringen. Dies verwirrte Klim minutenlang. Wenn nun doch –?

»Da ist er ... er schwimmt, schwimmt!« flüsterte von neuem Alina, aber Turobojew sagte laut:

»Das ist der Schatten einer Wolke.«

»Pst«, zischte Warawka.

Alle schauten zum Himmel hinauf. Ja, dort zerfloß einsam ein weißes Wölkchen, nicht größer als ein Lammfell. Aus dem dichten Gestrüpp des Buschwerks und Schilfrohrs, nahe am Wehr, glitt vorsichtig ein Boot, in dessen Mitte der lahme Bauer stand. Er stützte sich auf einen Fischhaken und winkte ihnen mit der Hand zu. Ein breitschultriger blonder Bursche in einem grauen Hemd trieb, lautlos die Ruder ins Wasser tauchend, das Boot voran. Er saß unbeweglich, wie aus Stein, da, nur die Hände regten sich, es schien, als ob die Ruder, die das Wasser mit einer Schuppenhaut bedeckten, allein arbeiteten. Der Lahme hörte jetzt auf, mit der Hand zu winken, erhob sie über den Kopf, blickte unverwandt ins Wasser und erstarrte gleichfalls. Das Boot beschrieb erst einen Winkel von Ufer zu Ufer, darauf einen zweiten. Der Bauer ließ die linke Hand langsam sinken und erhob ebenso langsam die rechte mit dem Fischhaken.

»Schlag zu!« brüllte er und bohrte, weit ausholend, den Fischhaken in den Fluß.

Klim stand im Hintergrund und über den Anderen, er sah deutlich, daß der Lahme in einen leeren Fleck hineingestoßen hatte, und als der Bauer, ungeschickt wankend, sich mit dem Oberkörper flach über Bord und ins Wasser legte, war Klim seiner Sache sicher:

»Ein abgekartetes Spiel.«

Doch der Lahme erschütterte sofort seine Sicherheit.

»Vorbeigetroffen!« heulte er gleich einem Wolf und zappelte im Wasser. Sein rotes Hemd bauschte sich auf dem Rücken zu einer unförmigen Blase. Krampfhaft zuckte das Holzbein mit der polierten, ringförmigen Eisenspitze über dem Wasser. Er schnaubte und wackelte mit dem Kopf. Aus Haar und Bart flogen gläserne Spritzer. Er klammerte sich mit der einen Hand ans Heck des Bootes, hämmerte mit der zur Faust geballten anderen verzweifelt auf die Bootswand, heulte und stöhnte:

»A–a–ch, vorbeigetroffen! Mikolka, Satan, weshalb hast du ihn nicht mit dem Ruder erwischt, he? Mit dem Ruder, du Schafskopf! Auf den Schädel, wie? Blamiert hast du mich, Kerl!«

Der Bursche fischte bedächtig den Haken auf, legte ihn längs der Bootswand, half schweigend dem Lahmen ins Boot und trieb es mit kräftigen Ruderschlägen ans Ufer. Der Bauer stolperte naß und schlüpfrig auf den Sand, breitete die Arme aus und schwor verzweifelt:

»Ich habe vorbeigetroffen, Herrschaften! Mich blamiert, verzeihen Sie um Christi Willen! Ich habe ihn um ein Haar getroffen, habe auf den Kopf gezielt und danebengetroffen! Begreifen Sie die Chose? Ach, ihr heiligen Väter, ist das ein Jammer!«

Der Kummer hatte sogar seine Stimme verändert, sie klang hoch und schrillte kläglich. Sein gedunsenes Gesicht war eingeschrumpft und drückte ehrlichstes Leid aus. Über die Schläfen, über die Stirn, aus den Augen rieselten Wassertropfen, als schwitze sein ganzes Gesicht Tränen. Seine hohlen Augen glänzten verlegen und schuldig. Er drückte aus Kopfhaar und Bart das Wasser in die hohle Hand, es spritzte auf den Sand, auf die Rocksäume der Mädchen, und er schrie kläglich:

»Riesig war er, mehr als vier Pud schwer! Kein Wels, ein Stier, so wahr mir Gott helfe! Und der Bart – so!«

Und der Lahme maß mit den Armen in der Luft zwölf Zoll ab.

»Ein Kerl, wie?« rief, ebenfalls begeistert, Ljutow.

»Ein ausgezeichneter Schauspieler«, bestätigte Turobojew lächelnd und zog eine kleine Brieftasche aus gelbem Leder heraus.

Ljutow hielt seine Hand an.

»Entschuldigen Sie, es war meine Idee.«

Lida betrachtete den Bauern, angeekelt, die Lippen zusammenpressend und stirnrunzelnd, Warawka neugierig. Alina fragte ratlos alle:

»Aber es war doch ein Wels da? War einer da oder nicht?«

Klim hielt sich abseits, da er sich doppelt betrogen fühlte.

»Gehen wir?« sagte Lida zu ihrer Freundin, aber Ljutow rief:

»Warten Sie einen Augenblick!«

Und er fragte den Bauern ins Gesicht:

»Angeführt?«

»Angeführt, der Satan«, gab der Lahme zu und breitete traurig die Arme aus.

»Nein, nicht der Satan, sondern du? Hast du uns angeführt?«

Der Bauer trat zurück.

»Wie meinen Sie das? Wen?« fragte er erstaunt.

»Hab keine Furcht! Ich bezahle auf jeden Fall und lege noch für einen Schnaps drauf. Nur sag geradeheraus: hast du uns betrogen?«

»Lassen Sie ihn«, bat Turobojew. Der Lahme überflog alle mit einem verständnislosen Blick und fragte mit prachtvoller Naivität:

»Wie sollte ich wohl die Herrschaften betrügen?«

Ljutow schlug ihn mit aller Kraft auf die nasse Schulter und brach unvermittelt in ein kreischendes, weibisches Lachen aus. Auch Turobojew lachte, leise und gleichsam verlegen, selbst Klim mußte lächeln, dermaßen komisch war die kindliche Angst in den hellen, ratlos zwinkernden Augen des bärtigen Bauern.

»Darf man denn die Herrschaften betrügen?« stammelte er, und sein Blick lief wieder von einem zum andern, während die Angst in den Augen rasch einem Forschen Platz machte und sein Kinn hüpfte.

»Teufel nochmal!« rief Warawka, abwinkend, und lachte gleichfalls amüsiert.

Ljutow lachte bereits tobend, zuckend, mit geschlossenen Augen und in den Nacken geworfenem Kopf. In seinem vorgestülpten Kehlkopf klirrte es wie Glas.

Der Lahme jedoch sah Warawka an und schmunzelte breit, hielt sich aber sogleich die Hand vor den Mund. Da dies nicht half und er hinter seiner Hand laut losplatzte, machte er eine abwinkende Geste zur Seite hin und rief mit feiner Stimme:

»Sie versündigen sich!«

Jetzt begann auch er zu lachen, erst zögernd, dann freier und mit wachsendem Gefallen, und schließlich brüllte er so laut, daß er Ljutows schluchzendes Lachen ganz zudeckte. Er riß den behaarten Mund weit auf, rammte sein Holzbein in den Sand, wiegte sich und ächzte, den Kopf schüttelnd:

»Oh Gott – o–ho–ho–, Sie versündigen sich, bei Gott!«

Am ganzen Körper naß, gleißte er überall, und es schien, als glänzte auch sein urgesundes Lachen ölig.

»Spitzbube!« schrie Ljutow, »wo ... wo ist der Wels?«

»Ich habe ihn doch ...«

»Den Wels?«

»Verfehlt ...«

»Wo ist der Wels?«

»Er ... lebt ...«

Einander anblickend, schüttelten die beiden sich wiederum in einem Anfall von Lachen, und Klim Samgin sah, daß jetzt richtige Tränen über das pelzige Gesicht des Lahmen liefen.

»Na, das geht schon ein wenig zu weit«, sagte Turobojew achselzuckend und entfernte sich, um die Mädchen und Makarow einzuholen. Auch Samgin folgte ihm, begleitet von Lachen und Ächzen:

»O Gott – oh ...«

Vorn schrie Alina empört:

»Man muß ihn für den Betrug bestrafen!«

»Das ist töricht von dir, Alina«, hielt Lida sie in strengem Ton an.

Schweigend setzte man den Weg fort, doch bald holte Ljutow sie ein.

»Begreifen Sie die Chose?« schrie er und rieb sich mit dem Taschentuch Schweiß und Tränen aus dem Gesicht. Er hüpfte, wand sich und blickte allen in die Augen. Er hinderte am Weitergehen. Turobojew sah ihn scheel an und blieb zwei Schritt zurück.

»Sauber angeführt, wie?« fragte er unaufhörlich. »Talent. Kunst! Wahre Kunst führt immer an.«

»Gar nicht dumm!« sagte Turobojew mit einem Lächeln zu Klim. »Er ist überhaupt nicht dumm, aber so verkrampft!«

»Genug, Wolodja!« schrie Makarow zornig. »Was tobst du so? Warte, bis sie dich zum Professor der Beredsamkeit gemacht haben, dann kannst du deiner Wut freien Lauf lassen.«

»Kostja, ein leichtsinniges Huhn bist du doch! Begreife die Chose!«

»Nein, ernsthaft, hör auf!«

»Sie schreien entsetzlich viel«, klagte Alina.

»Nun, ich tu's nicht wieder.«

»Wie ein Irrsinniger.«

»Ich schweige ja schon.«

Wirklich verstummte er, aber Lida nahm seinen Arm und fragte:

»Warum hat dieser Bauer Sie nicht empört?«

»Mich? Wodurch?« rief Ljutow verwundert und hitzig aus. »Im Gegenteil, Lidotschka, ich habe ihm drei Rubel mehr gegeben und mich bedankt. Er ist klug. Unsere Bauern sind bewundernswürdig klug. Sie erteilen einem Lehren!«

Er blieb stehen, streichelte Lidas Hand, die auf seinem Handgelenk ruhte und lächelte glückselig:

»Jetzt sind Sie ja klug genug, nicht mehr an den Wels zu glauben, nicht wahr? Der Wels ist das wenigste an der Sache, Sie lieber Mensch ...«

Von neuem brach er in ein Gelächter aus. Makarow und Alina beschleunigten ihren Schnitt. Klim blieb zurück, musterte Turobojew und Warawka, die langsam auf das Landhaus zuschritten, setzte sich auf die Bank am Badesteg und verlor sich in ärgerliches Grübeln.

Ihm fiel ein, was Makarow gestern beiläufig hingeworfen hatte:

»Eine gesunde Psychik besitzest du, Klim! Du lebst für dich, wie ein Standbild auf einem Platz, rings um dich herum ist Lärm, Geschrei, Gepolter. Du aber bleibst kaltblütig, ohne Erregung.«

»Aber diese Worte besagen ja nur, daß ich es verstehe, mich nicht zu verraten. Doch diese Rolle des aufmerksamen Zuhörers und Beobachters von der Seite, vom Winkel her, ist meiner nicht mehr würdig. Ich muß endlich aktiver werden. Wenn ich jetzt vorsichtig anfange, den Menschen ihre Pfauenfedern auszurupfen, wird ihnen das heilsam sein. Jawohl. In einem Psalm heißt es: ›Lüge, um dich zu retten!‹ Gut, aber dann soll man es nur selten und ›um der Rettung willen‹ tun, aber nicht um miteinander zu spielen.«

Er dachte lange über diese Frage nach und wollte, als er sich kriegerisch gestimmt und zum Kampf gerüstet fühlte, zu Alina gehen, wo auch alle anderen, außer Warawka waren. Er besann sich jedoch, daß es für ihn Zeit war, in die Stadt zu fahren. Auf dem Wege zum Bahnhof, auf einer unbequemen und sandigen Straße, die an mit verkrüppeltem Kiefernholz bestandenen Hügeln vorbeiführte, verflüchtigte sich Klim Samgins kampfesmutige Stimmung bald. Seinen langen Schatten vor sich herstoßend, dachte er bereits daran, wie schwer es sei, mitten im Chaos fremder Gedanken, hinter denen unverständliche Gefühle lauerten, sich selbst zu suchen.

Zu Hause langte er eine halbe Stunde früher als das Ehepaar Spiwak an.

Seine Mutter empfing die Spiwaks hoheitsvoll, wie Beamte, die ihr zu ihrer persönlichen Verfügung attachiert waren. In trockenem Ton näselte sie französische Phrasen, wobei sie mit dem Lorgnon vor ihrem stark gepuderten Gesicht fuchtelte, und nahm erst selbst umständlich Platz, bevor sie die Gäste zum Sitzen aufforderte. Klim bemerkte, daß dieses gespreizte Gehabe der Mutter in den bläulichen Augen der Spiwak spöttische Fünkchen entzündete. Jelisaweta Lwowna erschien in ihrer ungewöhnlich weiten Mantille gealtert, mönchisch schlicht und nicht so interessant wie in Petersburg. Doch seine Nüstern kitzelte angenehm der vertraute Duft ihres Parfüms, und in seiner Erinnerung erklangen die schönen Worte:

»Von dir, von dir allein ...«

Der kleine Pianist trug ein seltsames Damenmäntelchen, in dem er wie eine Fledermaus aussah. Er schwieg, als wäre er taub, und wiegte im Takt der Worte, die die Frauen wechselten, seine trübsinnige Nase. Samgin drückte wohlwollend seine heiße Hand. Es war so angenehm zu sehen, daß dieser Mann mit einem Gesicht, das stümperhaft aus gelbem Knochen gedrechselt zu sein schien, der schönen Frau an seiner Seite ganz unwürdig war. Als die Spiwak und die Mutter ein Dutzend liebenswürdiger Phrasen gewechselt hatten, seufzte Jelisaweta Spiwak und sagte:

»Es bedrückt mich sehr, Wera Petrowna, Ihnen bei unserer ersten Begegnung eine traurige Mitteilung machen zu müssen: Dmitri Iwanowitsch ist verhaftet.«

»O mein Gott!« rief die Samgin aus. Sie fiel auf die Lehne des Sessels zurück, ihre Wimpern zuckten, und die Spitze ihrer Nase rötete sich.

»Ja!« sagte die Spiwak laut. »Nachts kamen sie und holten ihn ab.«

»Und – Kutusow?« fragte Klim wütend.

Die Spiwak antwortete, Kutusow sei drei Wochen vor Dmitris Verhaftung zur Beerdigung seines Vaters in die Heimat gefahren.

Die Mutter legte vorsichtig, um den Puder nicht von den Wangen zu wischen, ihr Miniaturtüchlein an die Augen, aber Klim sah, daß für das Tüchlein keine Verwendung war. Ihre Augen waren ganz trocken.

»Mein Gott! Wofür nur!« fragte sie theatralisch.

»Ich glaube, es ist nichts Ernstes«, sagte in sehr sanftem, tröstendem Ton die Spiwak. »Man hat einen Bekannten Dmitri Iwanowitschs, den Lehrer einer Fabrikschule, und dessen Bruder, den Studenten Popow, festgenommen, – ich glaube, Sie kennen ihn?« wandte sie sich an Klim.

Samgin sagte trocken:

»Nein.«

Nachdem die Mutter diesem Ereignis eine Viertelstunde gewidmet hatte, fand sie, daß sie ihrer Betrübnis überzeugend Ausdruck verliehen habe, und bat ihre Gäste zum Tee in den Garten.

Lustig tummelten sich die Vögel, verschwenderisch blühten die Blumen. Der sammetfarbige Himmel erfüllte den Garten mit einem tiefen Leuchten, und im Glanz dieser Frühlingsfreude wäre es unschicklich gewesen, von traurigen Dingen zu reden. Wera Petrowna begann, Spiwak über Musik auszufragen. Er wurde augenblicklich lebhaft und berichtete, während er blaue Fäden aus seiner Krawatte zog und kleine Kommata in die Luft setzte, daß es im Westen keine Musik gebe.

»Dort gibt es nur Maschinen. Dort ist man vom Menuett und von der Gavotte zu folgendem herabgesunken.« Und er spielte mit Fingern und Lippen ein plattes Motiv.

»Rupf nicht die Krawatte«, bat ihn seine Frau.

Er legte gehorsam die Hände auf den Tisch wie auf eine Klaviatur. Den Zipfel seiner Krawatte tauchte er in den Tee. Verlegen wischte er sie mit dem Tuch ab und sagte:

»In Norwegen Grieg. Sehr interessant. Man sagt, er sei ein zerstreuter Mensch.«

Und verstummte. Die Frauen lächelten, in immer angeregterem Geplauder, einander zu. Doch Klim fühlte, daß sie sich gegenseitig mißfielen. Spiwak fragte ihn verspätet:

»Wie ist Ihre Gesundheit?«

Und als Klim ihm Erdbeeren anbot, lehnte er heiter ab:

»Ich bekomme davon Nesselfieber.«

Die Mutter bat Klim:

»Zeige Jelisaweta Lwowna den Flügel.«

»Eine merkwürdige Stadt«, sagte die Spiwak, die Klims Arm genommen hatte und irgendwie besonders behutsam über den Gartenweg schritt. »So gutherzig brummig. Dieses Gebrumme war das erste, was mir auffiel, sobald ich den Bahnhof verlassen hatte. Es muß hier wohl langweilig sein wie im Fegefeuer. Gibt es hier häufig Feuer? Ich fürchte mich vor Feuer.«

Die Papierschnitzel in den Zimmern des Flügels erinnerten Klim an den Schriftsteller Katin. Die Spiwak musterte sie flüchtig und sagte dann:

»Man wird sich behaglich einrichten können. Und das Fenster geht auf den Garten. Wahrscheinlich werden so kleine behaarte Käfer von den Apfelbäumen ins Zimmer krabbeln? Die Vögelchen werden früh am Morgen zwitschern? Sehr früh!«

Sie seufzte.

»Es gefällt Ihnen nicht?« fragte Klim mit Bedauern. Sie trat in den Garten hinaus und mit schöner Biegung des Halses lächelte sie ihm über die Schulter an.

»Nein, weshalb denn? Aber es wäre besonders gut für zwei unverheiratete alte Schwestern geeignet. Oder für – Jungvermählte. Setzen wir uns«, lud sie an der Bank unter einem Kirschbaum ein und schnitt eine reizende kleine Grimasse. »Mögen sie dort ... handelseinig werden.«

Sie schaute sich um und fuhr nachdenklich fort:

»Ein wundervoller Garten. Auch der Flügel ist schön. Ja, für Jungvermählte! In dieser Stille lieben, soviel einem gegeben ist und dann ... Übrigens, Sie sind ein Jüngling, Sie werden mich nicht verstehen«, schloß sie plötzlich mit einem Lächeln, das Klim durch seine Zweideutigkeit ein wenig verwirrte. Barg sich Spott darin oder Herausforderung?

Nach einem Blick in den Himmel, fragte die Spiwak, während sie Blätter von einem Kirschzweig abzupfte:

»Wie lebt man eigentlich hier im Winter? Theater, Karten, kleine Romane aus Langerweile, Klatsch – wie? Ich würde es vorziehen, in Moskau zu leben, man würde sich nicht sobald an die Stadt gewöhnen. Haben Sie sich noch keine Gewohnheiten zugelegt?«

Klim staunte. Er hatte nicht geahnt, daß diese Frau so einfach scherzen konnte. Gerade Einfachheit war das letzte, was er bei ihr erwartete. In Petersburg erschien die Spiwak verschlossen, gefesselt durch schwere Gedanken, Es war wohltuend, daß sie mit ihm wie mit einem alten und lieben Bekannten sprach. Unter anderem fragte sie, ob der Flügel mit oder ohne Brennholz vermietet würde und richtete dann noch ein paar sehr praktische Fragen an ihn – dies alles leichthin, nebenher.

»Das Porträt über dem Flügel – ist das Ihr Stiefvater? Er hat den Bart eines sehr reichen Mannes.«

Klim sah ihr forschend ins Gesicht und sagte, Turobojew würde bald herkommen.

»So?«

»Er verkauft sein Land.«

»Aha.«

Klim fühlte, daß ihr gelassener Ton ihn freute. Froh machte ihn auch, daß sie, als sie ihn mit ihrem Ellenbogen anstieß, sich nicht entschuldigte.

Zu ihnen kam die Mutter, an ihrer Seite Spiwak. Er schwang die Flügel seines Mäntelchens, als versuche er sich über den Erdboden zu erheben, und sagte:

»Das wird in Nonen geschrieben sein, ganz tief: tumtumm ...«

Seine Frau machte der Musik rücksichtslos ein Ende, indem sie mit Wera Petrowna über den Flügel sprach. Sie entfernten sich, während Spiwak sich zu Klim setzte und mit ihm in ein Gespräch eintrat, das er mit Redewendungen aus der Grammatik unterhielt:

»Ihre Mutter ist ein angenehmer Mensch. Sie versteht etwas von Musik. Ist der Friedhof weit von hier? Ich liebe alles Elegische. Bei uns sind die Friedhöfe das Schönste. Alles, was mit dem Tod zusammenhängt, ist bei uns vortrefflich.«

In die Pausen zwischen seinen Phrasen mischten sich die Stimmen der Frauen.

»Habe ich nicht recht?« fragte herrisch die Spiwak.

»Ich werde es Ihnen machen lassen.«

»Sind wir fertig?«

»Ja.«

Einige Minuten später – er hatte inzwischen die Spiwaks hinausbegleitet und kehrte nun in den Garten zurück – fand er seine Mutter immer noch unter dem Kirschbaum. Sie saß mit auf die Brust geneigtem Kopf da und hielt die Arme hinter sich auf die Lehne der Bank gestützt.

»Mein Gott, das scheint keine sehr angenehme Dame zu sein!« sagte sie mit müder Stimme. »Ist sie Jüdin? Nein? Merkwürdig, sie ist so praktisch. Feilscht wie auf dem Markt. Übrigens sieht sie auch nicht wie eine Jüdin aus. Hattest du nicht auch den Eindruck, daß sie die Nachricht über Dmitri mit einem Schatten von Vergnügen mitteilte? Gewissen Leuten gefällt es sehr, Überbringer schlechter Nachrichten zu sein.«

Voll Verdruß schlug sie sich mit der Faust aufs Knie.

»Ach Dmitri, Dmitri! Jetzt werde ich nach Petersburg fahren müssen.«

Rosenfarbiges Zwielicht füllte den Garten und färbte die weißen Blüten. Die Wohlgerüche wurden berauschender. Die Stille verdichtete sich.

»Ich gehe jetzt mich umziehen. Du warte hier auf mich. In den Zimmern ist es schwül.«

Klim sah ihr feindselig nach. Das, was die Mutter über die Spiwak gesagt hatte, widersprach in grausamer Weise seinem eigenen Eindruck. Aber sein Mißtrauen gegen die Menschen, das immer erregbarer wurde, klammerte sich fest an die Worte der Mutter, und Klim grübelte, Worte, Gesten und Lächeln der sympathischen Frau rasch prüfend. Die freundliche Stille stimmte ihn lyrisch und ließ ihn in dem Betragen der Spiwak nichts finden, was geeignet war, das Urteil der Mutter zu rechtfertigen. Sanft regten sich andere Gedanken: war Jelisaweta im Flügel eingezogen, so würde er ihr den Hof machen und von der unbegreiflichen, qualvollen Schwäche für Lida geheilt werden.

Die Mutter kehrte in einer sonnenfarbigen, mit silbernen Schnallen geschlossenen Kapotte und weichen Schuhen zurück. Sie schien wunderbar verjüngt.

»Glaubst du nicht, daß die Verhaftung deines Bruders auch für dich Folgen haben könnte?« fragte sie leise.

»Weshalb?«

»Ihr habt zusammen gelebt.«

»Das bedeutet noch nicht, daß wir solidarisch sind.«

»Gewiß, aber ...«

Sie schwieg und glättete mit den Fingern die Fältchen an den Schläfen. Plötzlich sagte sie mit einem Seufzer: »Diese Spiwak hat eine gute Figur. Nicht einmal ihre Schwangerschaft entstellt sie.«

Klim zuckte vor Überraschung zusammen und fragte schnell:

»Ist sie schwanger? Hat sie es dir erzählt?«

»Mein Gott, ich sehe es doch selbst. Bist du intim mit ihr bekannt?«

»Nein«, sagte Klim. Er nahm die Brille ab, damit er, um die Gläser abzureiben, den Kopf vorbeugen mußte. Er wußte, daß er ein böses Gesicht hatte und wünschte nicht, daß die Mutter es sah. Er fühlte sich betrogen, geplündert. Ihn betrogen alle: die gedungene Margarita, die schwindsüchtige Nechajew, ihn betrog auch Lida, die sich nicht so gab, wie sie in Wahrheit war. Endlich hatte ihn nun auch die Spiwak betrogen: er konnte nicht mehr so gut von ihr denken, wie vor einer Stunde.

»Wie mitleidlos muß man sein, was für ein kaltes Herz muß man haben, um seinen kranken Mann hintergehen zu können«, dachte Klim empört. »Und die Mutter – wie rücksichtslos, wie roh drängt sie sich in mein Leben.«

»O Gott!« seufzte die Mutter.

Klim sah sie scheel von der Seite an. Sie saß in steifer Haltung da, Ihr trockenes Gesicht verzog sich trübsinnig. Es war das Gesicht einer alten Frau, Ihre Augen standen weit offen, und sie biß die Lippen zusammen, als halte sie gewaltsam einen Schrei des Schmerzes zurück. Klim war erbittert auf sie, aber ein Teilchen seines Bedauerns für sich selbst übertrug sich auf diese Frau. Er fragte ganz leise:

»Bist du traurig?«

Sie schrak zusammen und bedeckte ihre Augen.

»In meinem Alter gibt es wenig Heiteres.«

Sie befreite mit zitternder Hand ihren Hals von dem Kragen der Kapotte und sagte im Flüsterton:

»Irgendwo in der Nähe wartet auf dich schon eine Frau ... ein Mädchen ... Du wirst sie lieben ...«

In ihrem Geflüster vernahm Klim etwas Ungewohntes, es war ihm, als würde sie, die immer stolz und beherrscht war, gleich anfangen zu weinen. Er konnte sie sich weinend nicht denken.

»Du mußt nicht davon sprechen, Mama.«

Sie rieb bebend ihre Wange an seiner Schulter und, als ersticke sie an einem trocknen Husten oder einem mißglückten Lachen, flüsterte sie:

»Ich verstehe nicht, davon zu reden, aber ich muß es endlich. Von Großmütigkeit, von Barmherzigkeit für eine Frau! Jawohl! Von Barmherzigkeit, Sie ist das einsamste Geschöpf auf der Welt, die Frau, die Mutter. Warum? Einsam bis zum Wahnsinn. Ich rede nicht von mir allein, nein ...«

»Soll ich dir Wasser bringen?« fragte Klim und begriff sogleich, daß er eine Dummheit begangen hatte. Er wollte sie sogar umarmen, aber sie wankte zurück und versuchte zitternd ein Schluchzen zurückzuhalten. Und immer heißer, immer erbitterter klang ihr Flüstern:

»Nur Stunden zum Lohn für Tage, Nächte, Jahre der Einsamkeit.«

»Das sagte die Nechajew«, erinnerte Klim sich.

»Der Stolz, den man so grausam verachtet. Die gewohnte – begreife – die gewohnte Abneigung, liebevoll, freundschaftlich in die Seele des anderen hineinzublicken. Ich sage nicht das Richtige, aber dafür findet man keine Worte ...«

»Und du sollst auch nicht«, wünschte Klim ihr zu sagen. »Du sollst nicht, es erniedrigt dich. So sprach zu mir ein schwindsüchtiges, häßliches Mädchen.«

Aber für seine Großmut fand sich keine Gelegenheit. Die Mutter flüsterte keuchend:

»Heulen müßte man. Aber dann nennen sie einen eine Hysterikerin. Raten einem zum Arzt, zu Brom, zu Wasser.«

Der Sohn streichelte ratlos die Hand der Mutter und schwieg, da er keine Worte des Trostes fand, während er fortfuhr zu denken, wie vergebens sie das alles sagte. Sie hatte in der Tat ein hysterisches Lachen, und ihr Flüstern war so grauenhaft trocken, als platze und reiße die Haut ihres Körpers.

»Du mußt wissen: alle Frauen leiden unheilbar an Einsamkeit. Sie ist die Ursache für alles, was euch Männern unverständlich ist, für unsere Untreue und ... für alles! Niemand von euch sucht und dürstet so sehr nach Herzlichkeit wie wir.«

Klim, der einsah, daß es notwendig war, sie zu trösten, murmelte:

»Weißt du, sehr originell denkt über die Frauen Makarow ...«

»Unser Egoismus ist keine Sünde«, fuhr die Mutter, ohne ihn zu hören, fort, »Dieser Egoismus kommt von der Kälte des Lebens, davon, daß alles schmerzt: Seele, Leib, Knochen ...«

Aber plötzlich sah sie ihren Sohn an, rückte von ihm weg, verstummte und sah in das grüne Netz der Bäume. Eine Minute später steckte sie eine Haarsträhne, die ihr über die Wange geglitten war, zurecht, stand von der Bank auf und ließ ihren Sohn – zerwühlt von dieser Szene – allein.

»Natürlich kommt das davon, daß sie altert und an Eifersucht leidet«, dachte er stirnrunzelnd und schaute auf die Uhr. Die Mutter hatte mit ihm nicht länger als eine halbe Stunde verbracht, aber es schien, als wären zwei Stunden vergangen. Es war peinlich zu fühlen, daß sie innerhalb dieser halben Stunde in seinen Augen eingebüßt hatte. Wieder einmal mußte Klim Samgin sich davon überzeugen, daß man in jedem Menschen einen primitiven Mast bloßlegen konnte, an dem er die Flagge seiner Originalität hißte.

Früh an anderen Tag erschien überraschend Warawka – angeregt, mit funkelnden Äuglein, unanständig zerzaust. Die ersten Worte Wera Petrownas waren:

»Wie, hat dieses Fräulein oder diese Dame ein Sommerhaus gemietet?«

»Welches Fräulein?« wunderte sich Warawka.

»Ljutows Bekannte?«

»Ich habe keine gesehen. Dort – sind zwei: Lida und Alina. Und drei Kavaliere, der Teufel soll sie holen!«

Der schwere, dicke Warawka glich einem ungeheuerlich vergrößerten chinesischen »Gott der Bettler«, Das unförmige Figürchen dieses Gottes stand im Salon auf dem Spiegelschrank; und das Groteske seiner Form paarte sich auf unbegreifliche Weise mit einer eigenartigen Schönheit. Warawka schlang gierig wie ein Enterich Stücke Schinken herunter und brummte:

»Turobojew ist ein Kretin. Wie sagt man? Ein Dekadent. Fin de siecle etcetera. Versteht nicht zu verkaufen. Ich habe sein Stadthaus gekauft, werde es zu einem Technikum umbauen. Er hat es verschleudert, als wäre es gestohlen. Überhaupt ein Idiot von erlauchter Abkunft. Ljutow, der von ihm für Alma Land erworben hat, gedachte ihn übers Ohr zu hauen und hätte das besorgt, wenn ich es zugelassen hätte. Dann will ich doch lieber derjenige sein ...«

»Was redest du?« verwies ihn sanft Wera Petrowna.

»Ich spreche ehrlich. Man muß es verstehen, zu nehmen. Besonders von den Dummköpfen. So wie Sergej Witte Rußland schröpft ...«

Warawka sättigte sich, seufzte mit wollüstig geschlossenen Augen, stürzte ein Glas Wein hinunter und begann, sich mit der Serviette das Gesicht fächelnd, von neuem zu reden:

»Dieser Ljutow hingegen ist eine geriebene Kanaille. Du, Klim, sei auf der Hut ...«

Hier teilte ihm Wera Petrowna, die dabei ihren Kopf steif und unbeweglich hielt wie eine Blinde. Dmitris Verhaftung mit. Klim fand, daß sie es in einer ungehörigen und sogar herausfordernden Form tat. Warawka sammelte seinen Bart auf der flachen Hand, betrachtete ihn und blies ihn dann hinunter.

»Was soll das heißen? Erbliche Schwäche fürs Gefängnis bei der älteren Linie der Samgins?«

»Ich werde nach Petersburg fahren müssen.«

»Versteht sich«, sagte knurrig Warawka, legte seine Hand auf Klims Knie und ermahnte ihn, während er ihn hin und her schaukelte:

»Du solltest ins Institut für Zivilingenieure eintreten, Bruder. An Advokaten haben wir einen Überfluß. An Staatsanwälten auch, in jeder Zeitung sitzen fünfundzwanzig. Architekten aber fehlen. Wir verstehen nicht zu bauen. Studiere Architektur. Dann erhalten wir ein gewisses Gleichgewicht: der eine Bruder baut, der andere zerstört, und ich, der Lieferant, habe den Vorteil davon.«

Er lachte schallend, sein ganzer Bauch zuckte. Dann schlug er Klim vor, aufs Land hinauszufahren.

»Es ist notwendig, daß jemand von uns draußen ist. Ich denke, ich werde Dronow als Kommis mit hinausnehmen. Na, also ich fahre jetzt zum Notar ...«

Nachdem die Mutter ihn zur Tür geleitet hatte, sagte sie seufzend:

»Was für eine Energie, was für ein Kopf!«

»Ja«, stimmte Klim höflich zu, dachte aber im stillen:

»Er spielt Fangball mit mir.«

Im Landhaus langte er abends an und nahm vom Bahnhof den Weg über eine Fichtenschonung, um die sandige Straße zu vermeiden. Unlängst hatte man auf ihr Glocken ins Kirchdorf geschafft, und Menschen und Pferde hatten sie tief aufgewühlt. Das Gehen in der Stille war schön. Die Kerzen der jungen Fichten strömten harzigen Duft aus. Durch die Lichtungen zwischen den mächtigen Kolonnen des hundertjährigen Waldes spannten sich im schimmernden Dunst die roten Streifen der Sonnenstrahlen. Die Rinde der Fichten glänzte wie Bronze und Brokat.

Plötzlich zeigte sich am Waldessaum hinter einer kleinen Erhebung der ungeheure Fliegenpilz eines roten Schirms, wie ihn weder Lida noch Alina besaßen. Darauf erblickte Klim unter dem Sonnenschirm den schmalen Rücken einer Frau in einem gelben Leibchen und den entblößten, struppigen Spitzkopf Ljutows.

»Ist das die Frau, nach der die Mutter gefragt hat? Ljutows Geliebte? Das letzte Wiedersehen?«

Er war so nahe herangekommen, daß er schon das feste Stimmchen der Frau und die kurzen, dumpf hallenden Fragen Ljutows hören konnte. Er wollte in den Wald einbiegen, aber Ljutow rief ihn an:

»Ich sehe Sie! Verstecken Sie sich nicht.«

Der Anruf klang spöttisch, und als Klim ganz dicht herankam, empfing Ljutow ihn mit einem unangenehmen Lächeln, das seine Zähne entblößte.

»Warum glauben Sie, daß ich mich verstecke?« fragte er wütend, nachdem er vor der Frau mit betonter Langsamkeit den Hut gelüftet hatte.

»Aus Zartgefühl«, sagte Ljutow. »Darf ich bekannt machen.«

Die Frau streckte ihm eine Hand mit sehr harten Innenflächen hin. Ihr Gesicht gehörte zu denen, die man nur mit Anstrengung im Gedächtnis behält. Sie sah Klim unverwandt, mit dem photographierenden Blick ihrer hellen Augen ins Gesicht und nannte undeutlich einen Namen, den er sofort vergaß.

Ljutow blickte sich um und schnitt Grimassen.

»Erweisen Sie mir einen Gefallen«, sagte er. »Sie hat den Zug verpaßt. Richten Sie ihr ein Nachtlager bei Ihnen ein, doch so, daß niemand davon erfährt. Man hat sie schon gesehen. Sie ist gekommen, um ein Landhäuschen zu mieten, aber es ist nicht nötig, daß man sie ein zweites Mal sieht. Besonders dieser lahme Teufel, das witzige Bäuerlein.«

»Vielleicht sind diese Vorsichtsmaßregeln überflüssig?« fragte mit leiser Stimme die Frau.

»Ich glaube nicht«, sagte ärgerlich Ljutow.

Die Frau lächelte und stocherte mit der Spitze ihres Schirms im Sand, Sie lächelte merkwürdig: bevor sie die fest zusammengepreßten Lippen ihres kleinen Mundes öffnete, legte sie sie noch fester aufeinander, so daß an den Mundwinkeln strahlenförmige Fältchen erschienen. Das Lächeln schien gezwungen und hart und wandelte jäh ihr alltägliches Gesicht.

»Nun, lustwandeln Sie!« befahl ihr Ljutow. Er erhob sich, nahm Klims Arm und schritt den Landhäusern zu.

»Sie sind nicht sehr höflich zu ihr«, bemerkte Klim finster, empört von Ljutows Rücksichtslosigkeit gegen ihn.

»Sie verträgt es«, murmelte Ljutow.

»Ich muß Sie davon in Kenntnis setzen, daß mein Bruder in Petersburg verhaftet worden ist.«

Ljutow fragte rasch:

»Volksrechtler?«

»Marxist. Volksrechtler? Wer sind denn die?«

»Und wieder erneuert sich die Sammlung der revolutionären Kraft«, äffte er jemanden nach. »Sammlung? ... Teufel auch!«

Samgin zürnte Ljutow, weil er ihn in ein unangenehmes und, wie es schien, gefährliches Abenteuer verwickelt, und sich selbst, weil er sich so willfährig gezeigt hatte. Aber Staunen und Neugier trugen den Sieg über seinen Unwillen davon. Er hörte schweigend dem gereizten Gezwitscher Ljutows zu und schaute sich über die Schultern weg um: die Dame mit dem roten Sonnenschirm war verschwunden.

»Wieder erneuert sich ... Diese da ist erschienen, um mir mitzuteilen, daß in Smolensk ein Bekannter festgenommen worden ist ... Er hatte eine Druckerei bei sich ... der Teufel hol es! In Charkow Verhaftungen, in Orjol, Sammlung!«

Er brummte wie Warawka über seine Zimmerleute, Steinmetzen und Kontoristen. Klim befremdete dieser eigentümliche Ton, noch heftiger befremdete ihn Ljutows Bekanntschaft mit den Revolutionären. Nachdem er ihn einige Minuten hatte reden lassen, konnte er sich nicht länger beherrschen:

»Aber was geht denn Sie die Revolution an?«

»Eine richtige Fragestellung«, gab Ljutow zurück, indem er lächelte. »Ich bedaure sehr, daß man Ihren Bruder erwischt hat. Er hätte Ihnen vermutlich die Antwort erteilt.«

»Hanswurst«, schimpfte Samgin in Gedanken und befreite seinen Arm von dem Ellenbogen seines Gefährten, ohne daß der jedoch davon Notiz genommen hätte. Ljutow bewegte sich mit sinnend vorgeneigtem Kopf vorwärts und stieß mit dem Fuß Fichtenzapfen vor sich her. Klim schritt rascher aus.

»Wohin eilen Sie? Dort«, Ljutow nickte mit dem Kopf in der Richtung der Landhäuser, »ist niemand. Sie sind im Boot zu irgendeinem Fest gefahren, auf einen Jahrmarkt.«

Abermals schob er seinen Arm in Samgins, und als sie an einem verstreuten Holzstapel anlangten, kommandierte er:

»Wir setzen uns.«

Sogleich begann er in halbem Ton, doch höhnisch zu reden:

»Wozu, Teufel noch einmal, haben wir bei solchen Bauern unsere Intelligenz nötig? Das ist dasselbe, als wollte man Dorfhütten mit Perlmutter verzieren. Seelischer Adel, Herzlichkeit, Romantik und sonstige Kinkerlitzchen, Talent, im Gefängnis zu sitzen, an mörderischen Verbannungsorten zu leben, rührende Geschichten und Artikel zu schreiben. Heilige Märtyrer und dergleichen. Alles in allem – ungebetene Gäste.«

Er roch nach Schnaps und knirschte beim Sprechen mit den Zähnen, als zerbisse er Fäden.

»Die Volkstümler zum Beispiel. Sie sind ja eine Übersetzung aus dem Mexikanischen, Emard und Main-Reed. Die Pistolen treffen ins Blaue, die Minen explodieren nicht, von den Bomben platzt auf zehn eine, und auch noch zur unrechten Zeit.«

Ljutow ergriff ein krummes, knorriges Holzscheit und versuchte ohne Erfolg, es aufrecht in den Sand zu stellen. Das Holzscheit fiel immer wieder träge um.

»Nichts ist klarer, als daß Rußland mit der Axt behauen werden muß. Mit Federmesserchen läßt es sich nicht spitzen. Was meinen Sie?«

Samgin, von der Frage überrumpelt, wußte nicht gleich Antwort.

»Das letzte Mal sprachen Sie ganz anders vom russischen Volk.«

»Von diesem Volk sagte ich stets ein und dasselbe: ein vortreffliches Volk! Ein einzigartiges! Jedoch ...«

Mit überraschender Kraft warf er spielend das Scheit hoch in die Luft und als es, sich überschlagend, zu seinen Füßen niederfiel, ergriff er es und rammte es in den Sand.

»Aus diesem Ding kann man eine Menge verschiedener Gegenstände herstellen. Ein Künstler wird daraus ebenso gut einen Teufel wie einen Engel schnitzen. Aber, sehen Sie, dieses verehrliche Holzscheit ist bereits angefault, dieweil es hier lag. Immerhin kann man es noch im Ofen verheizen. Das Verfaulen ist nutzlos und schändlich, das Verbrennen ergibt eine gewisse Menge Wärme. Ist die Allegorie deutlich? Ich bin dafür, das Leben mit Wärme und Licht zu beglücken, es zum Glühen zu bringen.«

»Das lügst du«, dachte Klim.

Er saß einen Meter höher als Ljutow und sah sein zerrissenes, uneinheitliches Gesicht nicht gewölbt, sondern hohl wie einen Teller, einen unsauberen Teller. Die Schatten der Nadeltatzen einer niedrigen Fichte zitterten auf diesem Gesicht, und die schielenden Augen rollten darin wie zwei Nüsse. Die Nase hüpfte, die Nüstern blähten sich, die Kautschuklippen klatschten gegeneinander und legten die böse obere Zahnreihe und die Zungenspitze frei. Der spitze, unrasierte Kehlkopf sprang vor, und hinter den Ohren arbeiteten die knöchernen Kugeln. Ljutow fuchtelte mit den Armen. Die Finger seiner rechten Hand arbeiteten wie die eines Taubstummen. Er zappelte mit dem ganzen Körper wie eine Marionette am Draht. Es war widerwärtig, ihn anzusehen. Er erregte in Klim eine melancholische Wut, ein Gefühl des Protestes.

»Und wenn ich ihm nun sage, daß er ein Komödiant, ein Taschenspieler, ein Verrückter ist und sein Gerede krankhaftes, verlogenes Geschwätz? Aber was veranlaßt diesen Menschen, der reich, verliebt und in naher Zukunft, Gatte einer schönen Frau ist, zu lügen und zu schauspielern?«

»Stellen Sie sich vor«, vernahm Klim eine Stimme, trunken von Erregung. »Stellen Sie sich vor, daß von hundert Millionen russischer Gehirne und Herzen auch nur zehn, nur fünf mit der ganzen Kraft der in ihnen eingeschlossenen Energie arbeiten werden.«

»Ja, gewiß«, sagte Klim widerwillig.

Am dunklen Himmel kochte bereits ein Sternengischt. Die Luft war gesättigt mit feuchter Wärme. Der Wald schien zu schmelzen und als öliger Dampf zu zerfließen. Fühlbar fiel Tau. In der tiefen Dunkelheit hinter dem Fluß flammte ein gelbes Licht auf, wuchs rasch zu einem Holzfeuer an und beleuchtete die kleine, weiße Figur eines Menschen. Ein gleichmäßiges Plätschern des Wassers unterbrach das Schweigen.

»Die unsrigen kommen«, bemerkte Klim.

Ljutow schwieg lange, bevor er erwiderte:

»Es ist Zeit.«

Er erhob sich und lauschte.

»Das Bäuerlein pirscht umher. Ich werde ihn anhalten, und Sie gehen voraus und versorgen diese ...«

Samgin entfernte sich in der Richtung zum Landhaus und hörte zu, wie lustig und keck Ljutows Stimme schallte.

»Fängst du auch im Walde Welse?«

»Sie lachen, Herr, aber er war da, der Wels!«

»Er war da?«

»Ja, was denken Sie?«

»Wo?«

»Wo soll er denn sein, wenn nicht im Fluß?«

»In diesem?«

»Weshalb nicht? Ein würdiger Fluß.«

»Komödiant«, dachte Klim, während er horchte.

»Brauchen Sie, Herr, was Weibliches? Es gibt hier eine Soldatenfrau ...«

»In der Art des Wels?«

»Sie sehnt sich sehr ...«

»Warawka hat recht, es ist ein gefährlicher Mensch«, entschied Klim.

Zu Hause erteilte Klim dem Dienstmädchen Anweisung, das Abendessen aufzutragen und sich dann schlafen zu legen, trat dann auf die Veranda hinaus und blickte auf den Fluß und auf die goldnen Lichtflecken, die aus den Fenstern des Landhauses der Telepnew fielen. Er wäre gern hingegangen, durfte aber nicht, solange die geheimnisvolle Dame oder Person nicht gekommen war.

»Ich habe keinen Willen. Ich hätte es ihm abschlagen sollen.«

In Erwartung des Knirschens von Schritten im Sand und im Nadellaub suchte Klim sich vorzustellen, wie Lida mit Turobojew und Makarow plauderte. Ljutow war wohl auch dorthin gegangen. In der Ferne rollte Donner. Zerrissene Klänge eines Klaviers drangen zu ihm. In den Wolken über dem Fluß versteckte sich der Mond und beleuchtete von Zeit zu Zeit mit trübem Licht die Wiesen. Nachdem Klim Samgin bis Mitternacht auf den ungeladenen Gast gewartet hatte, schlug er krachend die Tür zu und suchte sein Bett auf, erbost bei dem Gedanken, daß Ljutow wahrscheinlich nicht zu seiner Braut gegangen, sondern sich im Wald mit der Frau, die nicht zu lächeln verstand, angenehm die Zeit vertrieb. Vielleicht hatte er sich das alles auch ausgedacht: diese »Volksrechtler«, die Druckerei und die Verhaftungen.

»Alles ist viel einfacher: es war das letzte Wiedersehen.«

Mit diesem Ergebnis schlief er auch ein. Am Morgen weckte ihn das Pfeifen des Windes. Trocken rauschten die Fichten vor dem Fenster. Bang raschelten die Birken. Auf der bläulichen Fläche des Flusses kräuselten sich zierlich kleine Wellen. Hinter dem Fluß zog eine tiefblaue Wolke herauf. Der Wind zerfaserte ihren Rand, pompöse Fetzen jagten rasch über dem Fluß dahin und streichelten ihn mit rauchigen Schatten. Im Badehaus schrie Alina. Als Samgin sich gewaschen und angezogen hatte und sich an den Frühstückstisch setzte, – prasselte plötzlich ein Regenschauer herab, und eine Minute später trat Makarow, sich die Regentropfen aus dem Haar schüttelnd, herein.

»Wo ist denn Wladimir?« fragte er besorgt, »Er ist nicht zu Bett gegangen, sein Bett ist unberührt.«

Klim lächelte anzüglich und suchte spitze Worte, er hatte vor, etwa sehr Boshaftes über Ljutow zu sagen, aber er hatte seine Absicht noch nicht ausgeführt, als Alina ins Zimmer stürzte.

»Klim, Kaffee, rasch!«

Das nasse Kleid klebte ihr am Körper, es sah aus, als wäre sie nackt. Das Wasser spritzte ihr aus dem Haar, während sie es auspreßte, und sie schrie:

»Die verrückte Lidka ist zu mir gerannt, um ein Kleid zu holen. Der Blitz wird sie erschlagen...«

»War Ljutow gestern abend bei euch?« fragte finster Makarow.

Alina stand vor dem Spiegel und breitete klagend die Arme aus.

»Da habt ihr's! Mein Bräutigam ist verschwunden, und ich kriege Schnupfen und Bronchitis. Klim, wag es nicht, mich mit schamlosen Blicken anzusehen!«

»Gestern hat der Lahme Ljutow eingeladen, mit zur Mühle zu kommen«, sagte Klim dem Mädchen. Sie saß schon am Tisch und schlürfte ihren Kaffee, dabei verbrühte sie sich und gab zischende Laute von sich. Makarow stellte sein halbgeleertes Glas hin und trat an die Verandatür. Dort blieb er stehen und pfiff leise vor sich hin.

»Werde ich mich erkälten?« fragte Alina ernsthaft.

Turobojew kam, musterte sie mit einem prüfenden Blick, verschwand, erschien von neuem und warf ihr seinen Staubmantel über die Schulter, mit den Worten:

»Ein schöner Regen für die Ernte.«

Es blitzte grell, der Donner knallte, die Fensterscheiben dröhnten, jenseits des Flusses aber hellte es bereits auf.

»Ich werde in die Mühle gehen«, murmelte Makarow.

»Das ist ein wahrer Freund«, rief Alina aus, und Klim fragte:

»Weil er keine Angst hat, sich einen Schnupfen zu holen?«

»Vielleicht auch deshalb.«

Der Mantel glitt dem Mädchen von den Schultern und entblößte ihre vom feuchten Battist prall umspannte Büste. Dies genierte sie nicht, aber Turobojew bedeckte von neuem ihre schön gemeißelten Schultern, und Klim sah, daß ihr dies gefiel. Sie blinzelte belustigt, bewegte kokett die Schultern und bat:

»Lassen Sie, mir ist heiß.«

»Ich würde nicht wagen, so dreist zu sein wie dieser Geck«, dachte Samgin neidisch und fragte Turobojew in herausforderndem Ton:

»Gefällt Ihnen Ljutow?«

Er bemerkte, daß Turobojews Wange zusammenzuckte, als hätte ihn eine Fliege gestochen. Während er sein Zigarettenetui hervorzog, antwortete er sehr höflich:

»Ein interessanter Mensch.«

»Ich finde interessante Menschen am aufrichtigsten«, sagte Klim und fühlte plötzlich, daß er die Herrschaft über sich verlor. »Interessante Menschen gleichen Indianern im Kriegsputz, sie sind bemalt, mit Federn geschmückt. Ich habe immer Lust, sie zu waschen und ihnen die Federn auszurupfen, damit unter der Hautbemalung der wirkliche Mensch sichtbar wird.«

Alina trat zum Spiegel und seufzte:

»Oh, was für eine Vogelscheuche!«

Turobojew zog an seiner Zigarette und sah Klim fragend an. Klim sagte sich, daß er so bedächtig und sorgfältig rauche, weil er nicht sprechen wolle.

»Hör mal, Klim«, sagte Alina. »Du könntest dich heute deiner Weisheit enthalten. Der Tag ist auch ohne dich verdorben.«

Sie sprach das in einem so naiv flehenden Ton, daß Turobojew leise lachte. Aber dies verletzte sie. Sie wandte sich rasch zu Turobojew herum und sagte finster:

»Weshalb lachen Sie? Klim hat doch die Wahrheit gesagt, ich möchte sie nur nicht hören.«

Mit dem Finger drohend, fuhr sie fort:

»Sie lieben das doch gewiß auch – Kriegsbemalung, Federn?«

»Ich bekenne mich dessen schuldig«, sagte Turobojew mit gesenktem Kopf. »Sehen Sie, Samgin, es ist bei weitem nicht immer bequem und beinahe stets zwecklos, die Menschen in ehrlicher Münze zu bezahlen. Und ist die Münze der Wahrheit denn wirklich ehrlich? Es gibt einen altertümlichen Brauch: bevor die Glocke, die uns ins Gotteshaus ruft, gegossen wird, verbreitet man irgendeine Lüge. Davon soll der Klang des Metalls voller werden.«

»Sie verteidigen also die Lüge?« fragte Klim streng.

Turobojew zuckte die Achseln.

»Das trifft nicht ganz zu, aber ...«

»Alina, geh, zieh dich um«, rief Lida, die in der Tür erschienen war. Sie trug ein buntgesprenkeltes Kleid, hatte sich ein Handtuch wie einen Turban um den Kopf gewunden und sah aus wie eine tscherkessische Odaliske auf einem Bild.

Trällernd ging Alina hinaus. Klim stand auf und öffnete die Verandatür. Eine Welle von Frische und Sonnenlicht schlug ins Zimmer. Der sanfte, aber ironische Ton Turobojews weckte in ihm das einst empfundene Gefühl scharfer Ablehnung gegen diesen Menschen mit dem spanischen Spitzbart, den niemand mehr trug. Samgin begriff, daß er nicht stark genug war, um einen Streit mit ihm zu bestehen, wollte sich jedoch das letzte Wort sichern. Aus dem Fenster schauend, sagte er:

»Swift, Voltaire und alle die anderen fürchteten nicht die Wahrheit.«

»Ein moderner deutscher Sozialist, ein Bebel zum Beispiel, ist noch kühner. Mir scheint, Sie kennen sich schlecht aus in der Offenherzigkeit. Es gibt die Offenherzigkeit eines Franz von Assisi, eines Bauernweibes und eines Negers aus Zentralafrika. Und es gibt die Offenherzigkeit des Anarchisten Netschajew, die wiederum für einen Bebel unannehmbar ist.«

Klim trat auf die Veranda hinaus. Ausgedörrt von der heißen Sonne rauchten die Dielenbretter unter seinen Füßen. Er fühlte, daß auch die Wut in seinem Kopf rauchte.

»Sie selbst sprachen von den Pfauenfedern der Vernunft, wissen Sie noch?« fragte er, mit dem Rücken zu Turobojew gekehrt, und hörte die leise Antwort:

»Das war etwas anderes.«

Turobojew hob die Arme, schlang sie um den Nacken und preßte krachend die Finger zusammen. Dann streckte er die Beine von sich und glitt gleichsam kraftlos vom Stuhl. Klim wandte sich ab. Doch als er eine Minute später wieder ins Zimmer schaute, sah er, daß Turobojews bleiches Gesicht sich unnatürlich verändert hatte. Es war breit geworden, er mußte wohl mit aller Gewalt die Kiefern aufeinanderstoßen. Seine Lippen krümmten sich schmerzhaft. Mit hoch hinaufgezogenen Brauen blickte er zur Decke, und Klim sah in seinen schönen, kalten Augen zum ersten Male einen so finster ergebenen Ausdruck. Als beuge sich über ihn ein Feind, mit dem zu kämpfen er keine Kräfte fand, und der zum vernichtenden Schlag ausholte. Auf die Veranda trat Makarow und sagte wütend:

»Wolodjka hat die ganze Nacht mit dem Lahmen getrunken und schläft jetzt wie ein Toter.«

Klim zeigte mit den Augen auf Turobojew, doch der erhob sich und ging hinaus, krumm wie ein Greis.

»Er ist krank«, sagte Klim leise und ganz ohne Schadenfreude, aber Makarow bat, ohne von Turobojew Notiz zu nehmen: »Sag Alina nichts davon.«

Samgin war froh über die Gelegenheit, seine Wut an jemand auszulassen.

»Du mußt es ihr sagen. Verzeih, aber deine Rolle in diesem Roman scheint mir eigentümlich.«

Er wandte Makarow beim Sprechen den Rücken zu, das war angenehmer.

»Ich begreife nicht, was dich mit diesem Säufer verbindet. Es ist ein leerer Mensch, in dem fremde, widerspruchsvolle Worte und Gedanken spuken. Er ist ein ebensolcher Kretin wie Turobojew.«

Er redete lange, und es gefiel ihm, daß seine Worte ruhig und fest klangen. Als er einen Blick über die Schulter hinweg zu seinem Kameraden tat, sah er, daß Makarow die Beine übereinandergeschlagen hatte und zwischen seinen Zähnen die übliche Zigarette qualmte. Er zerbrach die Streichholzschachtel, legte die Splitter in den Aschenbecher, zündete sie an und beobachtete, die Streichhölzer zu einem kleinen Scheiterhaufen aufschichtend, aufmerksam, wie sie Feuer fingen.

Als Klim schwieg, sagte er, ohne die Augen vom Feuer loszureißen:

»Moralisieren kann jeder.«

Der Scheiterhaufen erlosch, die halbverkohlten Zündhölzer rauchten. Es war nichts mehr da, um sie in Brand zu stecken. Makarow schöpfte mit dem Teelöffel Kaffee aus seinem Glas und übergoß damit, mit sichtlichem Bedauern, die Reste des Feuers.

»Die Sache ist die, Klim. Alina ist nicht dümmer als ich. Ich spiele keinerlei Rolle in ihrem Roman. Ljutow hebe ich. Turobojew gefällt mir. Und endlich wünsche ich nicht, daß mein Betragen gegen die Menschen Gegenstand deiner oder anderer Leute Ermahnungen sei.«

Makarow sprach nicht verletzend, in einem sehr überzeugenden Ton. Klim sah ihn mit Verwunderung an: sein Kamerad erschien ihm auf einmal als ein ganz anderer Mensch, den er bis zu diesem Augenblick nicht gekannt hatte. Was bedeutete das? Makarow war für ihn ein Mensch gewesen, den ein mißglückter Selbstmordversuch verwirrt hatte, ein bescheidener Student, der eifrig lernte, und ein lächerlicher Jüngling, der noch immer die Frauen fürchtete.

»Zürne nicht«, sagte Makarow, als er wegging, und stolperte über ein Stuhlbein. Klim blickte auf den Fluß und suchte zu erraten, was diese immer häufiger beobachteten Wandlungen der Menschen bedeuteten. Er fand bald genug eine einfache und klare Antwort: die Menschen probieren verschiedene Masken aus, um die bequemste und vorteilhafteste zu finden. Auf der Suche nach dieser Maske taumeln sie, rennen wie besessen umher und streiten miteinander, alles in dem Bestreben, ihre Blaßheit und Leere zu verdecken.

Als die Mädchen auf die Veranda hinaustraten, begrüßte Klim sie mit einem gönnerhaften Lächeln.

»Siehst du, Lida«, sagte Alina und stieß die Freundin an. »Er ist heil. Und du hast mir Hartherzigkeit vorgeworfen. Nein, das Joch ist nicht ihm, sondern mir bestimmt; er wird mich in das Joch seiner Weisheit spannen. Makarow, gehen wir! Es ist Zeit, zu arbeiten ...«

»Wie sorglos sie ist«, sagte Lida leise und ließ über die Freundin und Makarow einen sinnenden Blick gleiten. »Und doch hat sie ein schweres Leben.«

Lida saß in dem offenen Fenster, mit dem Rücken zum Zimmer, das Gesicht zur Terrasse gewandt. Sie war von den Pfosten des Fensters wie von einem Rahmen umgeben. Ihr Zigeunerhaar fiel aufgelöst über ihre Wangen und Schultern und über die auf der Brust gefalteten Hände. Unter dem leuchtend bunten Rock sah man ihre nackten, sehr braunen Beine. Sie biß sich die Lippen und sagte:

»Ljutow ist sehr schwierig, eis ist, als befände er sich auf der Flucht vor etwas und lebe immer im Laufen. Er läuft auch um Alina herum.«

»Er hat die ganze Nacht in der Mühle gezecht und schläft jetzt dort«, sagte Klim, jedes Wort hämmernd, streng.

Lida sah ihn aufmerksam an und fragte:

»Weshalb ärgerst du dich? Er trinkt, aber darin besteht doch sein Unglück. Weißt du, mir scheint, wir alle sind unglücklich, hoffnungslos unglücklich. Ich fühle es besonders heftig, wenn viele Menschen um mich sind.«

Sie stieß mit den Sohlen gegen die Wand und lächelte:

»Gestern, auf dem Jahrmarkt, hat Ljutow den Bauern Gedichte von Nekrassow vorgetragen. Er spricht wundervoll, nicht so schön wie Alina, aber herrlich! Man lauschte ihm sehr ernst, aber dann fragte ein kahlköpfiger Greis: ›Kannst du auch tanzen?‹ ›Ich habe geglaubt‹, sagte er, ›Ihr seid Komödianten vom Theater.‹ Makarow sagte: ›Nein, wir sind einfach Menschen.‹ ›Was heißt denn das – einfach? Einfach Menschen gibt es nicht,‹«

»Ein kluger Bauer«, bemerkte Klim. Er hörte, ohne mit den Gedanken bei dem zu sein, was das Mädchen sagte, und überließ sich einem traurigen Gefühl. Ihre Worte, ›wir alle sind unglücklich‹, hatten ihm einen sanften Stoß gegeben und ihn daran erinnert, daß auch er unglücklich und einsam war und daß niemand ihn verstehen wollte.

»Und am Abend und nachts, als wir heimfuhren, haben wir von unserer Kindheit gesprochen ...«

»Du und Turobojew?«

»Ja. Und Alina. Alle. Furchtbare Dinge erzählt Konstantin von seiner Mutter. Und von sich als Kind. Es war so seltsam: jeder gedachte seiner selbst wie eines Fremden. Wieviel Überflüssiges erleben die Menschen.«

Sie sprach still und sah Klim liebevoll an, und ihm schien, daß die dunklen Augen des Mädchens etwas von ihm hofften, ihn etwas fragten. Plötzlich empfand er den Andrang eines ihm unbekannten wollüstigen Gefühls der Selbstvergessenheit, fiel auf die Knie nieder, umschlang die Beine des Mädchens und schmiegte fest sein Gesicht an sie.

»Laß!« rief Lida streng, stemmte die Hände gegen seinen Kopf und stieß ihn zurück.

Klim Samgin sagte laut und sehr einfach:

»Ich liebe dich.«

Sie sprang von der Fensterbank hinunter, zerriß den Ring seiner Arme und stieß ihn mit ihren Knien so heftig gegen die Brust, daß er fast hintenüberfiel.

»Mein Ehrenwort, Lida.«

Sie ließ ihn empört allein.

»Das kommt, weil ich fast nackt bin.«

Sie blieb auf der Verandastufe stehen und rief bekümmert aus: »Schämst du dich nicht? Ich war ...«

Ohne zu Ende zu sprechen, lief sie die Treppe hinab.

Klim lehnte sich gegen die Wand, verwundert über die Weichheit, die so unvermittelt gekommen und ihn dem Mädchen zu Füßen geworfen hatte. Er hatte niemals etwas Ähnliches verspürt – eine Seligkeit, wie sie ihn in diesen Augenblicken erfüllt hatte. Er fürchtete sogar, daß er gleich weinen würde vor Freude und Stolz, endlich in sich ein wunderbar starkes und doch nur ihm gehörendes, anderen unzugängliches Gefühl entdeckt zur haben.

Während des ganzen Tages lebte er unter dem Eindruck dieser Entdeckung, schweifte durch den Wald, um niemand sehen zu müssen, und sah sich immer nur auf den Knien vor Lida, umschlang ihre heißen Beine, fühlte ihre seidige Haut auf seinen Lippen und an seinen Wangen und hörte sich selbst sagen:

»Ich liebe dich.«

»Wie schön, wie einfach habe ich es gesagt. Und gewiß war auch mein Gesicht schön.«

Er dachte nur an sich in dieser unbeschreiblichen Minute, dachte so angestrengt, als fürchte er, die Weise eines Liedes zu vergessen, das er zum ersten Mal vernommen und das ihn sehr ergriffen hatte.

Lida traf er erst am nächsten Morgen. Sie ging zum Badehaus, während er vom Bad ins Landhaus zurückkehrte. Das Mädchen stand plötzlich vor ihm, als sei sie aus der Luft herniedergestiegen. Nachdem sie einige Redensarten über den heißen Morgen und die Temperatur des Wassers gewechselt hatten, fragte sie:

»Warst du beleidigt?«

»Nein«, antwortete Klim aufrichtig.

»Man darf nicht beleidigt sein. Man spielt ja nicht mit diesen Dingen«, sagte Lida leise.

»Ich weiß«, meinte er ebenso ehrlich.

Weder wunderte ihn ihre Sanftheit, noch freute sie ihn, – sie mußte etwas Derartiges sagen, hätte wohl auch etwas Herzlicheres finden können. Während Klim über sie nachdachte, fühlte er mit Gewißheit, daß er Lida besitzen würde, wenn er nur beharrlich war. Aber er durfte sich nicht übereilen. Er mußte abwarten, bis sie das Wunderbare, das in ihm erwacht war, fühlte und nach Verdienst einschätzte.

Jetzt kam Makarow, der mit Ljutow in der Mühle genächtigt hatte, und fragte, ob Klim mit ins Dorf gehen wollte. Die Glocke sollte aufgehängt werden.

»Natürlich komme ich mit!« antwortete Klim fröhlich. Eine halbe Stunde später schritt er unter der prallen Sonnenglut am Ufer des Flusses entlang. Die Sonne und das schlichte Kleidchen aus Bauernleinen betonten aufreizend die schamlose Schönheit des meisterhaft gegossenen Körpers Alinas. Sie und Makarow hielten gleichen Schritt mit Turobojew und sangen ein Duett aus der »Mascotte«. Turobojew sagte ihnen den Text vor. Ljutow führte Lida am Arm und flüsterte ihr etwas Komisches zu. Klim Samgin fühlte sich reifer als die fünf vor ihm, empfand jedoch seine Einsamkeit ein wenig als Last. Es mußte schön sein, Lida in den Arm zu nehmen, wie es Ljutow geglückt war, sich mit der Schulter an ihre zu schmiegen und so, mit geschlossenen Augen, zu gehen. Während er verfolgte, wie Lidas zierliche, von perlenfarbigem Batist eingehüllte Figur sich wiegte, gestand er sich zweiflerisch, daß ihn keine jener Empfindungen beseelte, die er bei den Meistern des Wortes gefunden hatte.

»Ich bin kein Romantiker«, erinnerte er sich.

Ihn beunruhigte einigermaßen die Undurchsichtigkeit der Stimmung, die das Mädchen heute in ihm auslöste und die von dem, was er gestern verspürt hatte, abwich. Gestern und noch vor einer Stunde war er frei von dem Bewußtsein der Abhängigkeit von ihr und ohne unbestimmte Hoffnungen. Vor allem waren es diese Hoffnungen, die ihn verwirrten. Gewiß, Lida würde seine Frau werden, ihre Liebe würde nichts gemein haben mit den hysterischen Zuckungen der Nechajew. Davon war er überzeugt. Doch darüber hinaus irrten in ihm gewisse Wünsche, die mit Worten wie Erwartung und Verlangen nicht ausgedrückt werden konnten.

»Sie hat es geweckt, sie wird es auch befriedigen«, beruhigte er sich.

Als er in das Dorf, das bogenförmig auf der Krümmung des hohen und steilen Flußufers angelegt war, eintrat, hatte er es herausgefunden:

»Man darf kein Analytiker sein.«

Die besonnte Dorfstraße war dicht vollgepfropft mit Bewohnern und Landleuten aus den umliegenden Dörfern. Die Bauern verharrten schweigend. Sie hatten ihre kahlen, zottigen oder mit viel Öl eingeriebenen Köpfe entblößt. Unter den vielfarbigen, zitzenen Köpfen der Frauen hervor stieg als unsichtbarer Rauch das schluchzende Geflüster der Gebete. Es war, so schien es, gerade dieses erstickte, zischende Geflüster, vermischt mit dem beißenden Geruch von Teer, Schweiß und an der Sonne faulendem Dachstroh, das die Luft erhitzte und im einen für das Auge unsichtbaren Dampf verwandelte, der das Atmen schwer machte. Die Leute erhoben sich auf den Zehenspitzen, reckten die Hälse, ihre auf und nieder wogenden Köpfe schwankten. Einige Hundert weit geöffneter Augen waren auf einen Punkt gerichtet: auf die blaue Zwiebel des plumpen Glockenturms mit den leeren Henkeln, durch die ein Stück des entfernten Himmels hindurchleuchtete. Klim hatte den Eindruck, als sei dieses Stück sowohl von tieferem Blau wie von stärkerer Leuchtkraft als der Himmel, der sich über dem Dorf wölbte. Das stille Brausen der Menge verdichtete sich und erfüllte einen mit der gespannten Erwartung eines donnerartigen Ausbruchs von Schreien.

Turobojew ging voran und drängte sich durch die nachgebende Menschenwand. Ihm folgten im Gänsemarsch die anderen, und je näher die fleischige Masse des Glockenturms heranrückte, desto dumpfer wurde das klagende Summen der betenden Weiber, desto vernehmlicher die beschwörenden Stimmen der Geistlichkeit, die die Messe abhielt. Im Mittelpunkt eines kleinen Kreises, gebildet aus den bunten Figuren von Menschen, die gleichsam in die Erde, in den aufgewühlten, zerstampften Rasen eingerammt waren, stand auf dicken Stangen eine zweihundert Pud schwere Glocke, vor ihr drei weitere, eine kleiner als die andere. Die große Glocke erinnerte Klim an das Haupt des Recken aus »Ruslan und Ljudmila«, während der kleine, gekrümmte Pope in dem hellen, österlichen Gewand und mit dem grauhaarigen, bronzefarbigen Gesicht dem Zauberer Finn ähnelte. Der kleine Pope umschwebte die Glocken, sang mit heller Tenorstimme und besprengte das Metall mit Weihwasser. Drei Knäuel starker Seile lagen auf der Erde. Der Pope stolperte über das eine, schwenkte wütend das Becken und besprengte die Seile mit einem Regenbogen von Perlen.

Turobojew führte sie zum Söller der Pfarrschule, die soeben erbaut, aber noch ohne Fensterrahmen war. Auf den Stufen des Söllers wimmelte, schrie und weinte ein Haufen von Kindern im Alter von zwei und drei Jahren. Dieser lebende Haufen schmutziger, skrofulöser kleiner Körper wurde regiert von einem buckligen, halbwüchsigen Mädchen. Sie tat das, indem sie halblaute Rufe ausstieß und dabei ihre Arme und Beine in Tätigkeit setzte. Auf der obersten Stufe keuchte pfeifend eine blinde alte Frau mit einem knallroten, aufgedunsenen Gesicht. Sie hatte ihre blauen Beine breit auseinandergespreizt.

»Du mußt ihnen die Rute geben, Gascha, die Rute ...« empfahl sie, heftig den schweren Kopf schüttelnd. In ihren taubengrauen, blinden Augen spiegelte sich die Sonne wie in den Scherben einer Bierflasche. Aus der Tür der Schule trat der Landgendarm. Er zwirbelte mit der Hand die grauen Schnurrbartspitzen und den peinlich gestutzten Kinnbart und musterte mit dem wachsamen Blick seiner roten Augen die Sommerfrischler. Als er Turobojew gewahrte, hob er grüßend die Hand an die neue Mütze und befahl jemand hinter ihm in strengem Ton:

»Jag die Kinder weg!«

»Nicht nötig.«

»Ausgeschlossen, Igor Alexandrowitsch, sie beschmutzen den Bau.«

»Ich sagte: Nicht nötig«, erinnerte leise Turobojew, während er in sein von Runzeln verschwenderisch zerknittertes Gesicht sah.

Der Gendarm reckte sich, wölbte die Brust so heftig vor, daß die Medaillen klingelten, salutierte und wiederholte wie ein Echo:

»Nicht nötig.«

Er schritt, über die Kinder hinweg, die Stufen hinab. In der Tür stand der Lahme aus der Mühle und grinste bis zu den Ohren hinauf:

»Guten Tag.«

»Begreifen Sie?« flüsterte Ljutow mit einem Zwinkern Klim zu.

Klim begriff gar nichts. Er und die jungen Mädchen sahen gebannt zu, wie die kleine Bucklige eilig und gewandt die Kinder von den Stufen wegschleppte, wobei sie die halbnackten Körper mit griffigen Raubvogelklauen faßte und auf den mit feinen Holzsplittern besäten Erdboden schleuderte.

»Laß!« rief Alina, mit dem Fuß stampfend. »Sie werden sich an den Splittern blutig kratzen.«

»O, Gottesmutter, heilige Jungfrau!« pfiff keuchend die Blinde. »Gaschka, was für Leute sind da gekommen?«

Sie tastete mit zitternden Händen rings um sich:

»Wem gehört das Stimmchen? Hündin, wo hast du meine Krücke gelassen?«

Ohne Alina oder sie zu beachten, fuhr die Bucklige fort, die Kinder wegzuschleppen, wie eine Hündin ihre Jungen. Lida schauderte und wandte sich ab. Alina und Makarow trafen Anstalten, die Kinder von neuem auf die Stufen zu setzen, doch das Mädel maß sie kühn mit klugen Augen und rief:

»Was soll der Unfug? Es sind doch nicht Ihre Kinder!«

Und sie begann abermals, die Kinder von den Stufen fortzuschleppen, während der Lahme mit Begeisterung murmelte:

»Schau, ein eigensinniges kleines Scheusal, wie?«

Der Anschnauzer des Mädels verwirrte Makarow, er lächelte verlegen und sagte Alina:

»Lassen Sie es lieber.«

Samgin hatte den Eindruck, daß alle durch die kleine Bucklige aus der Fassung gebracht waren und vor ihr gleichsam still wurden. Ljutow sagte Lida etwas in tröstendem Ton. Turobojew streifte einen Handschuh ab und zündete sich eine Zigarette an, Alina zupfte ihn am Ärmel und fragte voll Zorn:

»Wie ist das möglich?«

Er lächelte ihr sanft ins Gesicht.

Zwei Burschen in neuen, gleichsam aus rosa Blech gefertigten Hemden, einander ähnlich wie zwei Hammel, hatten am Söller Fuß gefaßt. Der eine warf einen Blick auf die Sommerfrischler, trat zu der Blinden, nahm ihre Hand und sagte unbeugsam:

»Großmutter Anfissa, räume den Herrschaften den Platz.«

»O Gott? Windet man die Glocken schon empor?«

»Gleich wird man anfangen. Geh zu!«

»Ich hab's erlebt, Gott sei gelobt ... Mütterchen ...«

»Als wären wir Aussätzige!« rebellierte Alina.

Ljutow drang begierig in den Lahmen:

»Welchen Glauben hast du?«

Der Lahme kicherte in seinen struppigen Bart und schüttelte den Kopf:

»Na-hein, unser Glaube ist ein anderer.«

»Ein christlicher?«

»Gewiß, nur noch strenger.«

»Dann sag doch, du Teufel, worin strenger?«

Der Lahme seufzte schwer:

»Das läßt sich nicht so sagen. Man kann es nur einem Glaubensbruder sagen. Wir erkennen Glocken und die ganze Kirchlichkeit an, aber trotzdem.«

Klim Samgin beobachtete, lauschte und fühlte, daß Empörung in ihm hochstieg. Man schien ihn ja ausgerechnet zu dem Zweck hergeführt zu haben, um seinen Kopf mit einer trüben und vergiftenden Flut zu füllen. Alles ringsum war unversöhnlich fremd, stieß ihn jedoch in irgendeinen finsteren Winkel und zwang ihn mit Gewalt, an das bucklige Mädel, an Alinas Worte und an die Frage der blinden Greisin: »Was für Leute sind da gekommen?« zu denken.

Im Kopf brauste noch das betende Geflüster der Weiber. Es beeinträchtigte das Denken, hemmte jedoch nicht die Erinnerung an alles, was er gesehen und vernommen hatte. Der Gottesdienst war zu Ende. Ein unförmig langer und dünner Greis warf sein Wams ab, bekreuzigte sich, zum Himmel schauend, dreimal, kniete vor der Glocke nieder, küßte dreimal ihren Rand und kroch unter Bekreuzigungen und Verneigungen vor den Abbildungen der Heiligen auf den Knien rings um sie herum.

»So ist's recht!« sagte beifällig der Lahme. »Das ist Wassili Wassiljewitsch Panow, der Wohltäter des Dorfes. Er bläst ein wunderbares Glas und versorgt das ganze Gouvernement mit Bierflaschen.«

Der Lärm auf dem Platz flaute ab. Alle verfolgten aufmerksam Panow, der an der Erde kroch und den Rand der Glocke küßte. Auch kniend war er lang.

Jemand rief:

»Leute, teilt euch in drei Haufen!«

Eine zweite Stimme fragte:

»Wo bleibt der Schmied?«

Panow erhob sich, musterte eine Weile schweigend die Menge und sagte mit einer Baßstimme:

»Fangt an, Rechtgläubige!«

Die Menge zerriß unter Schreien langsam in drei Teile: zwei wichen in der Diagonale nach rechts und links von der Glocke aus, der dritte entfernte sich auf der geraden Linie von ihr. Alle drei Haufen trugen sorgsam wie Perlenschnüre die Seile und schienen an ihnen aufgereiht. Die Seile liefen an den Henkeln der großen Glocke zusammen, die sie gleichsam nicht von sich ließ und immer straffer anspannte.

»Halt! Stehenbleiben!«

»Da ist er!«

»Jetzt, Nikolai Pawlowitsch, diene Gott!« sagte Panow laut.

Zu ihm trat auf krummen Beinen langsam ein breitschultriger, stämmiger Bauer in einem Lederschurz. Seine roten Haare standen aufrecht auf seinem Kopf, sein klumpiger Bart steckte tief im Kragen des bunten Hemdes. Mit schwarzen Händen schürzte er die Ärmel bis zum Ellenbogen, bekreuzigte sich zur Kirche hin und verneigte sich vor den Glocken, doch ohne den Rumpf zu beugen, vielmehr, indem er mit der Brust gleichsam zur Erde fiel und die Arme ausgestreckt nach hinten warf, um das Gleichgewicht zu bewahren. Darauf verneigte er sich in derselben Weise nach allen vier Richtungen vor dem Volk, nahm seinen Schurz ab, faltete ihn umständlich zusammen und schob ihn einem großen Weib in einem roten Leibchen in die Hand. Dies alles tat er schweigend, langsam und feierlich.

Man reichte ihm einige Mützen hin. Er nahm zwei davon, legte sie sich über die Stirn und fiel, während er sie mit der Hand festhielt, in die Knie. Fünf Bauern hoben eine der kleineren Glocken empor und bedeckten mit ihr den Kopf des Schmieds in der Weise, daß der Rand auf die Mützen und auf die Schultern zu liegen kam, auf die die Bäuerin den aufgerollten Schurz legte. Der Schmied wankte, löste die Knie vom Erdboden, richtete sich auf und schritt ruhig, weit ausholend auf den Glockenturm zu. Die fünf Bauern, zu Paaren angeordnet, geleiteten ihn.

»Hat er sie doch hochgestemmt, der Berserker!« sagte neiderfüllt der Lahme und kratzte sich seufzend am Kinn. »Und dieses Glöckchen wiegt, mußt du wissen, seine siebenzehn Pud und will die Treppe hinaufgetragen sein. Hier im ganzen Kreis kommt diesem Schmied keiner gleich. Er besiegt alle. Man hat versucht, ihn zu verprügeln, um einen solchen Kerl zu zwingen, braucht es natürlich eine Masse Volk, und dennoch ist es nicht geglückt.«

Auf dem Platz trat immer tiefere Stille, immer höhere Spannung ein. Alle Köpfe sahen nach oben. Die Augen blickten erwartungsvoll in den halbkreisförmigen Henkel des Glockenturmes, aus dem drei dicke Balken mit Flaschenzügen schräg hervortraten. An den Flaschenzügen liefen die um die Glockenhenkel gewundenen Seile zum Erdboden hinab.

Der Landgendarm trat an die große Glocke heran, gab ihr mit der flachen Hand einen Klaps, wie man einem Pferd einen Klaps gibt, nahm die Mütze ab, bedeckte mit der anderen Hand die Augen und richtete ebenfalls seine Blicke nach oben.

Immer stiller, immer gespannter wurde es ringsum, selbst die Kinder hörten auf, umher zu rennen und reckten gebannt die Köpfe empor.

Jetzt bewegte sich im Henkel des Glockenturms etwas Formloses, eine Mütze flatterte hinunter, eine zweite folgte. Hierauf flog die zu einem Klumpen zusammengerollte Schürze hinab. Die Menschen unten rafften sich krampfhaft zusammen, heulten auf und begannen zu schreien, Wie Bälle hüpften die Jungen, während das kahlköpfige Bäuerlein mit dem grauen Schnurrbart allen Lärm mit seinem hohen Winseln durchschnitt:

»Nikolai Pawlitsch, Gevatter! Imperator ...«, kreischte er.

Der Gendarm setzte die Mütze auf, rückte die Medaillen auf seiner Brust zurecht und versetzte dem Bauern einen Hieb über den kahlen Nacken. Der Bauer sprang zurück und ergriff die Flucht. Von Zeit zu Zeit hielt er an, strich sich über den Kopf und sagte mit einem Blick nach dem Söller der Schule kummervoll:

»Nicht einmal zu scherzen wird einem erlaubt ...«

Der Schmied stieg den Glockenturm hinab und bekreuzigte sich mit langer Hand gegen die Kirche, Panow bog seinen Rumpf im rechten Winkel ein, umarmte den Schmied und küßte ihn:

»Recke!«

Und schrie:

»Rechtgläubige! Packt mit vereinten Kräften an! Mit Gott!«

Die drei auf die Seile aufgereihten Menschenhaufen gerieten in Bewegung, schwankten, stemmten sich mit den Füßen gegen den Boden und legten sich nach hinten über, wie Fischer, die ein Netz ziehen. Drei graue Saiten spannten sich in der Luft. Auch die Glocke rührte sich, schaukelte unschlüssig und hob sich widerwillig von der Erde.

»Gleichmäßiger, gleichmäßiger, Kinder Gottes!« schrie mit seiner Bruststimme der Verfertiger von Bierflaschen begeistert und bang.

Stumpf gegen die Sonne blinkend, schwebte die schwere kupferne Kappe in weitem Bogen hinauf, und die Zuschauer reckten sich, während sie ihr mit den Blicken folgten, als wollten auch sie sich vom Erdboden lösen. Lida bemerkte es.

»Seht, wie alle emporstreben, als ob sie wüchsen«, sagte sie leise. Makarow bekräftigte:

»Ja, auch mich zieht es empor ...«

»Das lügst du«, dachte Klim Samgin.

Auf dem Platz war es nicht sehr laut, nur die Kinder tauschten Rufe, und Säuglinge weinten.

»Gleichmäßiger, Rechtgläubige«, trompetete Panow. Der Landgendarm wiederholte nicht ganz so ohrenbetäubend, doch sehr strenge:

»Gleichmäßiger, he! Gerechte!«

Die drei Menschengruppen, die die Glocke emporwanden, stöhnten, ächzten und brüllten. Der Flaschenzug winselte. Etwas im Glockenturm knarrte, doch es schien, als erlöschen alle Laute und als würde gleich eine feierliche Stille eintreten. Klim wünschte es aus irgendeinem Grunde nicht, er fand, hierher gehörte ein heidnisches Jauchzen, wilde Schreie und geradezu etwas Lächerliches.

Er sah, daß Lida nicht auf die Glocke, sondern auf den Platz, auf die Leute schaute. Sie biß sich die Lippe und runzelte finster ihr Gesicht. Alinas Augen drückten kindliche Neugier aus. Turobojew langweilte sich. Er hielt den Kopf gesenkt und blies ganz leise Zigarettenasche vom Ärmel. Makarows Gesicht war dumm, wie es immer zu sein pflegte, wenn Makarow grübelte. Ljutow zerrte seinen Hals seitwärts, er war lang, sehnig, die Haut rauh wie Chagrinleder. Er hatte den Kopf auf die Schulter geneigt, um die widerspenstigen Augen auf einen Punkt zu richten.

Plötzlich, in der Höhe des letzten Drittels des Glockenturms, durchlief ein Beben die Glocke, pfeifend wand sich das gerissene Seil durch die Luft. Die linke Menschengruppe geriet ins Wanken, die hinteren fielen haufenweise um, ein einziges hysterisches Geheul ertönte:

»Hilf Hi–i–mmel!«

Die Glocke schaukelte und stieß träge mit dem Rand gegen die Ziegelwand des Glockenturms. Es regnete Späne und Kalkstaub. Samgin zwinkerte heftig, er glaubte von diesem Staub blind zu werden. Alina stampfte mit den Füßen und winselte verzweifelt.

»Ach ihr Teufel!« murmelte Ljutow und spie aus.

»Haltet fest, Rechtgläubige!« brüllte Panow und fuchtelte, zurückspringend, mit den Armen.

Der krummbeinige Schmied lief jener Gruppe in den Rücken, die gerade gegenüber dem Glockenturm am Seil zog, und begann das Seilende um die Wurzel eines dicken Weidenstammes zu schlingen. Ihm half der Bursche im rosa Hemd. Das Seil, das sich immer straffer spannte, schwang wie eine Saite, die Leute sprangen zurück, der Schmied brüllte:

»Haltet fest! Ich schlag euch tot!«

Klim bedeckte die Augen, er erwartete jeden Augenblick, die Glocke auf die Erde schmettern zu hören, und lauschte, wie die Leute heulten und wimmerten, der Schmied brüllte und Panow trompetete.

»Knotet zusammen!«

»Fürchtet euch nicht, Rechtgläubige! Ruhig! Einmütig! Lo–os!«

Die Glocke schwebte von neuem, fast unmerklich, in die Höhe, aus dem Fenster des Glockenturms steckten Bauern ihre Köpfe.

»Nach Hause!« sagte Lida scharf. Ihr Gesicht war grau, in den Augen Entsetzen und Abscheu. Irgendwo im Korridor der Schule schluchzte laut Alina und murmelte Ljutow. Die heulenden Litaneien zweier Bauernweiber drangen vom Platz her. Klim Samgin erriet, daß eine dunkle Minute seines Lebens verstrichen war, ohne sein Bewußtsein zu beschweren.

Der Lahme kam den Söller herab, hielt die Schulter eines verängstigten Halbwüchsigen umfaßt und forschte:

»Nun, lebt er?«

»Ich weiß nicht. Laß mich los, Onkel Michailo ...«

»Idiot! Du siehst, aber begreifst nicht ...«

Unter der Weide redete Turobojew auf den Gendarmen ein, wobei er ihm seinen weißen Finger unter die Nase hielt. Über den Platz, zur Weide, kam eilig der Priester geschritten. Er trug ein Kreuz in der Hand. Das Kreuz schien im Sonnenglanz zu schmelzen und beleuchtete ein dunkles, nüchternes Gesicht. Weiber umdrängten in dichtem Kreis die Weide. Der Gendarm war im Begriff, sie auseinanderzustoßen, als der Pope herantrat. Samgin erblickte unter der Weide den Burschen mit dem rosa Hemd und auf den Knien vor ihm Makarow.

»Wie ist das geschehen?« fragte Klim leise, während er sich umschaute. Lida war nicht mehr auf dem Söller.

Sie verließ, Alina an ihrem Arm, die Schule. Hinter ihnen der grimassenschneidende Ljutow. Alina schluchzte:

»Ich wollte so ungern hierher, aber ihr ...«

Die Dorfstraße passierte man in raschem Schritt, ohne zurückzublicken. Hinter dem Gemeindeanger holte man den Lahmen ein, der sogleich mit der Sicherheit eines Augenzeugen zu erzählen begann:

»Er ist mit dem Hals ins Seil geraten, da ist ihm eben die Wirbelsäule zerschmettert worden.«

Ljutow zeigte dem Lahmen die Faust und flüsterte:

»Schweig!«

Der Lahme sah erst ihn, dann Klim fragend an und fuhr fort:

»Vielleicht hat der Schmied sich einen Scherz erlaubt und ihm das Seil mit Absicht um den Hals geworfen. Oder er hat sich versehen. Alles ist möglich ...«

Ljutow, der ihn am Rockärmel festhielt, verlangsamte seinen Schritt, aber auch die Mädchen gingen, als sie ans Flußufer hinaustraten, langsamer. Da begann Ljutow, den Lahmen von neuem über seinen Glauben auszuforschen.

Die unsichtbaren Grillen zirpten so geräuschvoll, daß es schien, als knisterte der von der Sonne ausgedörrte Himmel. Klim Samgin fühlte sich wie aus einem schweren Traum erwacht, müde und teilnahmlos für alles. Vor ihm wankte der Lahme, der in lehrhaftem Ton zu Ljutow sagte:

»Zum Beispiel: unser Glaube erkennt der Hände Werk nicht an. Christusbilder, die nicht von Menschenhand geschaffen sind, erkennen wir an, alles übrige müssen wir zurückweisen. Woraus ist ein Christusbild? Es ist aus Schweiß, aus Christi Blut. Als Jesus Christus auf dem Berge Golgatha das Kreuz trug, da hat ihm der ungläubige Apostel Thomas mit einem Schweißtuch das Antlitz abgetrocknet, um sich zu überzeugen, ob es auch Christus sei. So ist das Antlitz denn im Schweißtuch zurückgeblieben. Alle anderen Heiligenbilder aber sind Blendwerk so wie Ihre Photographie.«

Ljutow quiekte verhalten.

»Warte, weshalb ist meine Photographie Blendwerk?«

»Ja, das ist doch klar! Wessen sonst, wenn nicht Ihre? Der Bauer – was macht er? Becher, Löffel, Schlitten und derlei Gegenstände. Sie dagegen Photographien, Nähmaschinen ...«

»Aha, so meinst du das?«

In Ljutows Lachen hörte Klim das wollüstige Winseln, das ein verzogenes Hündchen ausstößt, wenn man es hinter den Ohren krault.

»Das Brot, sagen wir mal, ist auch nicht menschlicher Hände Werk. Gott, die Erde bringt es hervor.«

»Und womit knetet man den Teig?«

»Das ist Weibersache. Das Weib ist weit von Gott, sie ist für ihn ›zweite Sorte‹. Nicht sie hat Gott zuerst geschaffen.«

Lida blickte über ihre Schultern weg auf den Lahmen und schritt rascher aus, während Klim über Ljutow das Urteil fällte:

»Er muß sich sehr langweilen, wenn er Gefallen an solchen Dummheiten findet.«

»Woher hast du das? Woher? Du hast es dir doch nicht selbst ausgedacht? Nicht wahr?« forschte Ljutow angeregt, hartnäckig und mit rätselhafter Freude, und wieder sprach gemessen und ehrbar der Lahme:

»Nicht selbst – das ist richtig. Vernunft lernen wir alle einer vom andern. Im letzten Jahr lebte hier ein erklärender Herr ...«

Klim dachte:

»Erklärender Herr? Recht gut!«

»Der pflegte also des Abends, an Feiertagen, mit den Leuten aus der Umgegend zu plaudern. Ein Mensch von starkem Verstand! Er fragte gerade heraus: ›wo ist die Wurzel und der Ursprung? Das ist‹, sagte er, ›das Volk, und für es‹, sagte er, ›sind alle Mittel bestimmt‹ ...«

»Du solltest ihn in deinem Gedächtnis aufbewahren. Hast du das?«

»Sie scherzen. Wir behalten nicht einmal unsere eigenen Verstorbenen im Gedächtnis.«

»Ist er denn gestorben?«

»Das weiß ich nicht.«

Zu Hause legte Klim sich schlafen. Sein Kopf schmerzte, keinerlei Gedanken kamen ihm, und er hatte keine Wünsche, außer dem einen: daß dieser schwüle, dumme Tag rasch erlöschen möchte, daß die absurden Eindrücke, mit denen er ihn beschenkt hatte, sich verwischten. Eine schwere Schläfrigkeit bemächtigte sich seiner, doch fand er keinen Schlaf. In den Schläfen hämmerte es, in den Ritzen des Gehörs verdichteten sich qualvoll alle Stimmen des Tages: das Seufzen und Flüstern der Weiber, die befehlenden Rufe, das furchtsame Geheul, die Sterbegebete. Das bucklige Mädel fragte entrüstet:

»Was soll der Unfug?«

Es dunkelte schon, als Turobojew und Ljutow ankamen, sich auf der Veranda niederließen und ihr offenbar vor längerer Zeit begonnenes Gespräch fortsetzten.

Samgin lag und hörte den Wechselschlag der beiden Stimmen. Es war seltsam anzuhören, daß Ljutow ohne das für ihn eigentümliche Winseln und Kreischen, und Turobojew ohne Ironie sprach. Die Teelöffel klingelten gegen die Gläser, das Wasser zischte heiß aus dem Hahn des Samowars, und dies rief Klim seine Kindheit zurück: die Winterabende, wenn er zuweilen vor dem Tee einschlief und ihn eben dieses Klingeln des Metalls gegen das Glas weckte.

Auf der Veranda sprach man von den Panslawisten und von Danilewski, von Herzen und Lawrow.Danilewski – panslawistischer Schriftsteller. Alexander Herzen, der große russische Publizist, einer der Begründer der Volkstümlerbewegung. Peter Lawrzow machte Rußland mit dem wissenschaftlichen Sozialismus bekannt. D. Ü. Klim Samgin kannte diese Schriftsteller, ihre Ideen waren ihm gleichermaßen fremd. Er fand, daß sie alle im Grunde die menschliche Persönlichkeit nur als Material der Geschichte betrachteten. Für alle war der Mensch ein Isaak, der zur Opferung verurteilt ist.

»Man muß schon ganz besondere Köpfe und Herzen haben, um zuzugeben, daß die Opferung des Menschen dem unbekannten Gott der Zukunft eine Notwendigkeit sei«, dachte er, mit wachsamem Ohr die ruhige Stimme, die gelassenen Worte Turobojews aufnehmend.

»Unter den herrschenden Ideen ist nicht eine einzige, die ich akzeptiere.«

Eilig murmelte Ljutow. Zuerst war es unmöglich, zu verstehen, was er sagte, dann jedoch unterschied er deutlich die Worte:

»Die Volkstümler haben einen starken Vorzug: das Dorf ist gesünder und praktischer als die Stadt. Es kann widerstandsfähigere Menschen hervorbringen ... Habe ich recht?«

»Möglich«, sagte Turobojew.

Klim sah ihn, während er antwortete, die linke Schulter heben, wie das seine Gewohnheit war, wenn er einer offenen Antwort auf eine Frage auswich.

»Und dennoch diese Halbheit!« schrie Ljutow. »Dennoch die Nachkommen jener Tölpel, die den Nomaden den gesegneten Süden überließen und in die Sümpfe und Wälder des Nordens flüchteten.«

»Es scheint, Sie widersprechen sich ...«

»O nein, erlauben Sie! Was sind denn Sie? Es sind ja Ihre Ahnen ...«

Schwer stampfte der Schritt des Dienstmädchens. Das Teeservice klirrte. Klim stand auf, öffnete geräuschlos das Fenster auf die Veranda und vernahm die trägen, frostigen Worte:

»Ich bin natürlich nicht der Meinung, daß meine Ahnen in der Geschichte soviel Unheil angerichtet haben und so plumpe Verbrecher gewesen sind wie gewisse Fabrikanten der Wahrheit unter den radikalen Publizisten glauben machen wollen. Ich halte meine Ahnen nicht für Engel, bin auch nicht geneigt, Helden in ihnen zu sehen Sie waren einfach mehr oder weniger gehorsame Werkzeuge des Willens der Geschichte, die, wie Sie selbst zu Anfang unseres Gespräches gesagt haben, krumme Wege gegangen ist. Nach meiner Auffassung hat sie bereits einen Punkt erreicht, der mich berechtigt, auf eine Fortführung der Linie meiner Vorfahren zu verzichten, die vom Menschen einige Eigenschaft verlangt, die ich nicht besitze.«

»Was soll das heißen?« winselte Ljutow. »Ist das Resignation? Tolstoiismus?«

»Ich erinnere mich, Ihnen schon gesagt zu haben, daß ich mich als einen psychisch deklassierten Menschen betrachte.«

Schlürfende Schritte wurden vernehmbar.

»Nun, ist er gestorben?« fragte Turobojew. Ihm erwiderte die Stimme Makarows:

»Selbstverständlich. Gieß mir Tee ein, Wladimir. Sie müssen noch mit dem Gendarmen reden, Turobojew. Er beschuldigt jetzt den Schmied bereits nicht mehr des überlegten Mordes, sondern der Fahrlässigkeit.«

Samgin trat vom Fenster weg, kämmte sich und ging auf die Veranda, da er annahm, daß die Mädchen jeden Augenblick erscheinen würden.

Der Schein der Lampe, gleichsam verschluckt vom Kupfer des Samowars, beleuchtete kärglich drei von heißem Dunkel eingehüllte Gestalten. Ljutow schaukelte auf dem Stuhl, mahlte mit den Kiefern, schmatzte und blickte zu Turobojew hinüber, der, über den Tisch gebeugt, etwas auf ein zerknülltes Kuvert schrieb.

»Weshalb bist du barfuß?« fragte Klim Makarow. Dieser erging sich mit einem Glas Tee in der Hand auf der Veranda und antwortete:

»Meine Stiefel sind blutig. Diesem Burschen ...«

»Nun, genug!« sagte Ljutow mit einer Grimasse und seufzte geräuschvoll:

»Und wo bleiben die Wesen zweiter Sorte?«

Er hörte auf, auf dem Stuhl zu schaukeln, und begann in neckendem Ton, Makarow die Meinung des lahmen Bauern über die Frauen zu erzählen.

»Der Bauer sagte es einfacher, bündiger«, bemerkte Klim. Ljutow zwinkerte ihm zu. Makarow blieb stehen, setzte sein Glas so heftig auf den Tisch, daß es von der Untertasse herunterfiel und sagte schnell und erregt:

»Siehst du? Das sage ich doch immer: es ist etwas Organisches! Schon der Mythos über die Erschaffung des Weibes aus der Rippe der Mannes enthält diese ganz offenkundige, kunstlos und gehässig erfundene Lüge. Als man diese Lüge erfand, wußte man ja schon, daß das Weib den Mann gebiert, und daß sie ihn für das Weib zur Welt bringt.«

Turobojew hob den Kopf, sah Makarow unverwandt ins erregte Gesicht und lächelte. Ljutow zwinkerte auch ihm zu und sagte:

»Eine hochinteressante Hypothese russischer Herkunft.«

»Du bist es, der von Feindschaft gegen das Weib spricht?« fragte Klim mit ironischer Verwunderung.

Makarow tippte sich auf die Brust.

»Ich«, sagte er und wandte sich an Turobojew:

»Dieselbe Feindseligkeit ist auch im Mythos von der Austreibung der ersten Menschen aus dem Paradies der Unschuld durch die Schuld des Weibes verborgen.«

Klim Samgin lächelte und wünschte dringend, daß Turobojew dieses ironische Lächeln sah. Aber dieser stützte sich mit den Armen auf den Tisch und sah Makarow ins Gesicht, wobei er die Augenbrauen in einer Weise emporzog, als ob er zweifle.

»Ein glücklicher Säugling bist du, Kostja«, murmelte Ljutow und schüttelte dabei heftig den Kopf. Er zog mit dem Finger Wasser über das kupferne Teebrett. Makarow aber redete mit gedämpfter Stimme und ein wenig stotternd vor innerer Bewegung, redete hastig:

»Die Feindschaft gegen das Weib begann mit dem Augenblick, da der Mann fühlte, daß die vom Weibe geschaffene Kultur eine Vergewaltigung seiner Instinkte bedeutete.«

»Was lügt er da?« dachte Klim, löschte das Lächeln der Ironie aus und wurde argwöhnisch.

Makarow stand mit verschränkten Beinen da, und diese Haltung unterstrich stark die Keilförmigkeit seiner Figur. Er schüttelte den Kopf, die zweifarbigen Haare fielen ihm über Stirn und Wangen. Mit einer harten Geste seiner Hand beförderte er sie nach hinten. Sein Gesicht war noch schöner und schärfer als sonst.

»Das seßhafte und damit zivilisierte Leben begann die Frau«, sagte er. »Sie war es, die auf der Wanderung halten mußte, um sich und ihr Kind vor den wilden Tieren und den Unbilden der Witterung zu schützen. Sie entdeckte eßbare Pflanzen und heilkräftige Kräuter. Sie zähmte die Haustiere. Ihrem Männchen, dem halben Tier und Vagabunden, wurde sie allmählich zu einem immer geheimnisvolleren und weiseren Wesen. Das Staunen und die Furcht vor der Frau haben sich bis auf unsere Tage im »Tabu« der wilden Völker erhalten. Sie schreckte durch ihr Wissen, durch ihre Kenntnisse und vor allen Dingen durch den geheimnisvollen Akt der Geburt des Kindes, – der Mann, der Jäger war, konnte nicht beobachten, wie die Tiere gebären. Sie war Priesterin und Gesetzgeberin. Die Kultur entstand aus dem Matriarchat ...«

Rings um die Lampe schwirrten graue Falter. Ihre Schatten glitten über Makarows Litewka, seine ganze Brust und sogar sein Gesicht war mit dunklen Fleckchen tätowiert, wie mit den Schatten seiner hastigen Worte. Klim Samgin fand Makarows Reden langweilig und naiv.

»Er legt ein Examen ab für das Amt eines ›erklärenden Herrn‹.«

Makarow erinnerte sich seiner alten Gewohnheit und drehte mit der rechten Hand am oberen Knopf seiner Litewka, die linke wehrte unschlüssig die Falter ab.

»Übrigens, Turobojew, mich hat von jeher ein bekanntes zynisches Schimpfwort verletzt. Woher stammt es? Mir scheint, in uralten Zeiten war es ein Gruß, mit dem die Blutsverwandtschaft hergestellt wurde. Es konnte auch eine Art der Verteidigung bedeuten: Der alte Jäger sagte: ›Ich freite deine Mutter für einen Jungen, Stärkeren.‹ Denken Sie nur an die Begegnung des Ilja Muromez mit dem Lobhudler ...«

Ljutow lächelte heiter und krächzte.

»Wo hast du das gelesen?« fragte Klim ebenfalls lächelnd.

»Es ist meine Vermutung, andernfalls könnte ich es nicht verstehen«, sagte Makarow ungeduldig. Und Turobojew sagte leise, während er auf irgend etwas horchte:

»Eine scharfsinnige Vermutung.«

»Falle ich Ihnen lästig?« fragte Makarow.

»Aber nein, was denken Sie!« gab Turobojew sehr sanft und schnell zurück. »Mir schien, ich hörte die Fräulein kommen, aber ich habe mich getäuscht.«

»Der Lahme streicht umher«, sagte Ljutow leise, sprang von seinem Stuhl auf und stieg behutsam von der Veranda in die Dunkelheit hinab.

Klim hatte eine unangenehme Empfindung, als Turobojew Makarows Vermutung scharfsinnig nannte. Jetzt ergingen beide sich auf der Veranda, und Makarow setzte seine Rede fort, wobei er die Stimme noch tiefer senkte, an seinem Kopf drehte und mit der Hand fuchtelte.

»Als der halbwilde Adam mit dem Recht des Stärkeren Eva die Macht über das Leben nahm, erklärte er alles Weibliche für böse. Es ist sehr bezeichnend, daß dies im Orient geschah, aus dem alle Religionen kommen. Gerade von dort stammt die Lehre: der Mann ist der Tag, der Himmel, die Kraft, das Gute – die Frau die Nacht, die Erde, die Schwäche, das Böse. Die Abscheulichkeit unseres Reinigungsgebetes nach der Geburt ist zweifellos männlich, griechisch. Doch wenn der Mann das Weib auch besiegte, so konnte er doch nicht mehr die ihm von ihr eingepflanzte Gier nach Liebe und Zärtlichkeit beilegen.«

»Aber was willst du mit alledem sagen?« fragte Samgin streng und laut.

»Ich?«

»Worauf zielst du ab?«

Makarow blieb, geblendet blinzelnd, vor ihm stehen.

»Ich möchte verstehen: was ist die moderne Frau, die Frau Ibsens, die sich von der Liebe, vom Heim lossagt? Fühlt sie die Verpflichtung und die Kraft, sich ihre einstige Bedeutung als Mutter der Menschheit und Schöpferin der Kultur wiederzuerobern? Einer neuen Kultur?«

Er schwenkte die Hand in die Dunkelheit:

»Denn diese ist ja schon morsch, abgelebt, in ihr ist sogar etwas Unsinniges. Ich kann nicht glauben, daß die kleinbürgerliche Plattheit unseres Daseins endgültig die Frau verstümmelt haben sollte, wenngleich man aus ihr einen Aufhängebügel für kostbare Kleider, Tand und Gedichte gemacht hat. Aber ich sehe Frauen, die die Liebe nicht wollen – begreife: nicht wollen – oder sie verschleudern wie etwas Überflüssiges.«

Klim lachte ihm höhnisch ins Gesicht.

»Ach du Romantiker«, sagte er, sich reckend und seine Muskeln straffend und schritt an Turobojew, der gedankenvoll auf das Zifferblatt seiner Uhr sah, vorüber zur Treppe.

Samgin wurde mit einem Male der Sinn dieser langen Predigt völlig klar.

»Simpel!« dachte er, während er vorsichtig den Sandweg hinabstieg. Die kleine, aber sehr helle Glasscherbe des Mondes zerriß die Wolken. Zwischen dem Nadellaub zitterte silbriges Licht, die Schatten der Fichten sammelten sich in schwarzen Klumpen an den Baumwurzeln. Samgin ging zum Fluß. Er suchte sich einzureden, daß er einen ehrlichen Abscheu vor dem Flittergold von Worten und ein ausgezeichnetes Verständnis für die erklügelten Schönheiten menschlicher Reden habe.

»So leben sie nun alle, alle diese Ljutows, Makarows, Kutusows. Erwischen eine winzige Idee und lärmen, rasseln ...«

Morgens erhob sich ein heißer Wind, der die Fichtenbäume schüttelte und den Sand und das graue Wasser des Flusses aufwühlte. Als Warawka mit entblößtem Kopf den Bahnhof verließ, warf ihm der Wind den Bart hinter die Schulter und zauste ihn. Der Bart verlieh dem roten, zottigen Kopf Warawkas eine gewisse Ähnlichkeit mit der unförmigen Zeichnung eines Kometen in einem populären astronomischen Buch.

Beim Tee, in einem bis zu den Fersen reichenden Nachthemd, ohne Unterhosen, mit Pantoffeln an den bloßen Füßen, keuchend vor Hitze und sich den öligen Schweiß von der Stirn wischend, brüllte er:

»Ein Sommer, hol's der Teufel! ›Afrikanisch feierlich!‹ Und zu Hause revoltiert das Musikantenweib, sie braucht Kammern, Zwischenwände, mit einem Wort der leibhaftige Satan! Fahr hin, Bruder, beschwichtige sie. Ein schmackhaftes Weibchen!«

Er seufzte geräuschvoll und rieb sich das Gesicht mit dem Bart ab.

»Wera Petrowna hat in Petersburg Schwierigkeiten mit Dmitri. Sie haben ihn anscheinend gehörig festgeklemmt. Ein Tribut an die Zeit ...«

Hinter Warawkas Rücken dachte Klim unehrerbietig, ja sarkastisch, von ihm, doch sobald er mit ihm plauderte, fühlte er immer, daß dieser Mensch ihn mit seiner unbändigen Energie, mit der Geradlinigkeit seines Geistes bestrickte. Er begriff, daß dieser Geist ein zynischer war, entsann sich jedoch, daß auch Diogenes ein Ehrenmann gewesen war.

»Wissen Sie«, sagte er, »Ljutow sympathisiert mit den Revolutionären.«

Warawka regte die Brauen und dachte nach.

»So. Man sollte meinen, das sei keine Sache für Kaufleute. Aber es kommt offenbar in Mode. Man sympathisiert.«

Und er ließ einen Hagel schneller Bosheiten herniederprasseln:

»Ein Revolutionär ist auch von Nutzen, wenn er kein Dummkopf ist. Ja, selbst wenn er dumm ist, bringt er Nutzen, kraft der widernatürlichen russischen Lebensverhältnisse. Da produzieren wir nun immer mehr Waren, aber Käufer sind nicht vorhanden, obgleich sie potentiell in einer Zahl von hundert Millionen existieren. Jeden Tag ein Hölzchen anzünden, – das gibt hundert Millionen Nägel.«

Er raffte mit beiden Händen seinen Bart zusammen, schob ihn hinter den Hemdkragen und sog sich an einem Glas Milch fest. Darauf schnaubte er, schüttelte den Kopf und fuhr fort:

»Wenn der Revolutionär dem Bauern einschärft: Dummkopf, nimm bitte dem Gutsbesitzer das Land weg und lerne, bitte, menschlich rationell zu leben und zu arbeiten, dann ist dieser Revolutionär ein nützlicher Mensch. Wozu zählt sich Ljutow? Zu den Volkstümlern? Hm ... zu den Anhängern der Narodnaja Wolja. Ich hörte, die sollen schon verkracht sein ...«

»Gibt er Ihnen Geld für die Zeitung?«

»Sein Onkel Radejew. Ein ganz einfältiger Greis ...«

Nach einer Weile fragte er zwinkernd:

»Hat Ljutow eine Überzeugung?«

»Ich weiß es nicht. Er ist unberechenbar.«

»Sie werden ihn schon kriegen«, verhieß Warawka. Er erhob sich, »Nun, ich gehe baden, und du sause in die Stadt!«

»Baden?« wunderte sich Klim. »Sie haben so viel Milch getrunken ...«

»Und gedenke noch mehr zu trinken«, sagte Warawka und schenkte sich aus einem Krug kalte Milch ein.

Als Klim in der Stadt anlangte und den Hof seines Hauses betrat, erblickte er auf dem Söller des Flügels die Spiwak in einer langen Schürze aus grauem Kaliko. Sie winkte bewillkommnend mit dem bis zum Ellenbogen geschürzten Arm und rief:

»Ah, der junge Hausherr! Treten Sie bitte näher!«

Während sie ihm fest die Hand drückte, begann sie, sich zu beklagen. Man durfte keine Wohnung vermieten, in der die Türen knarrten, die Fensterrahmen klemmten, die Öfen rauchten.

»Hier hat ein Schriftsteller gewohnt«, sagte Klim und erschrak, als er begriff, wie dumm seine Bemerkung war.

Die Spiwak sah ihn befremdet an, womit sie ihn nur noch heftiger verwirrte, und bat ihn, einzutreten. Drinnen mühte sich ein blatternarbiges Mädchen mit frechen Augen. Mitten im Zimmer stand geistesabwesend Spiwak mit einem Hammer in der Hand und in Hemdsärmeln, gleich zwei Orden blitzten die Schnallen der Hosenträger auf seiner Brust.

»Wir richten uns ein«, erläuterte er und streckte Klim die Hand mit dem Hammer hin.

Er nahm seine Brille ab, und in seinem kleinen Kindergesicht kamen kläglich zwei kurzsichtig vorquellende, rote Augen zum Vorschein, gebettet in bläuliche, entzündete Polster. Seine Frau führte Klim durch die mit Möbeln verbarrikadierten Zimmer, verlangte einen Tischler, Töpfer. Die nackten Arme und die Kalikoschürze entzauberten sie. Klim schielte feindselig auf ihren gewölbten Bauch.

Einige Minuten später hatte er seine Litewka abgelegt, schlug gewissenhaft Nägel in die Wände ein, hing Bilder auf und stellte Bücher in die Regale des Schrankes. Spiwak stimmte den Flügel. Die Spiwak bemerkte:

»Er stimmt ihn immer eigenhändig. Er ist sein Altar, er läßt sogar mich nur ungern an das Instrument heran.«

Die Baßsaiten tönten, das Stubenmädchen rasselte mit dem Geschirr, in der Küche raspelte die Feile des Mechanikers an der Wasserleitung.

»Finden Sie nicht, daß das Leben Unnötiges enthält?« fragte die Spiwak unvermutet, doch als Klim ihr willig beipflichtete, kniff sie die Augen zusammen und sagte, den Blick in einen Winkel gerichtet;

»Mir aber gefällt gerade das Unnötige. Das Notwendige ist langweilig. Es knechtet Alle diese Koffer und Kisten sind entsetzlich!«

Darauf erklärte sie, sie liebe Porzellan, schöne Bucheinbände, Musik von Rameau und Mozart und die Augenblicke vor dem Gewitter.

»Wenn man fühlt, daß alles in und um einen gespannt ist, und eine Katastrophe erwartet.«

Klim hatte sie noch nie so lebhaft und herrisch gesehen. Sie war häßlicher geworden. Gelbliche Flecken verunstalteten ihr Gesicht, aber in ihren Augen lag etwas Selbstgefälliges. Sie erregte ein Gefühl, gemischt aus Vorsicht und Neugier, und natürlich jene Hoffnungen, die von einem jungen Mann Besitz ergreifen, wenn eine schöne Frau ihn freundlich ansieht und freundlich mit ihm spricht.

»Sagte ich Ihnen, daß Kutusow ebenfalls verhaftet ist? Ja, in Samara, an der Anlegestelle des Dampfers. Welch eine herrliche Stimme, nicht wahr?«

»Er sollte in der Oper singen, statt Revolutionen zu machen«, sagte Klim ehrbar und bemerkte, daß die Lippen der Spiwak spöttisch zuckten.

»Er wollte es. Aber man muß wohl bisweilen gegen einen allzu starken Wunsch ankämpfen, damit er nicht alle übrigen erstickt. Wie denken Sie?«

»Ich weiß nicht«, sagte Klim.

Es war klar, daß sie ihn ausforschte, auf die Probe stellte. In ihren Augen leuchtete etwas Abschätzendes. Ihr Blick kitzelte das Gesicht und verwirrte immer mehr. Den Bauch unschön vorgestülpt, betrachtete die Spiwak ein Buch mit abgerissenem Einband.

»Sie wissen nicht? Haben darüber nicht nachgedacht?« forschte sie. »Sie sind ein sehr zurückhaltendes Menschenkind. Ist das bei Ihnen Bescheidenheit oder Geiz? Ich würde gern wissen, was Sie von den Menschen denken.«

»Nein, sie hat nicht das geringste gemein mit der Frau, die ich in Petersburg gesehen habe«, dachte Klim, der Mühe hatte, ihren drängenden Fragen auszuweichen.

Nachdem er sich eine gute Stunde betätigt hatte, ging er fort und nahm das aufreizende Bild einer Frau mit, die, unfaßbar in ihren Gedanken, gefährlich war wie alle aushorchenden Menschen. Man horcht aus, weil man sich eine Vorstellung von einem Menschen bilden will, und, um so bald wie möglich damit fertig zu werden, engt man seine Persönlichkeit ein und verzerrt sie. Klim war überzeugt davon, daß es so sei. Selbst darauf bedacht, die Menschen zu vergröbern, verdächtigte er sie des Bestrebens, es mit ihm zu tun, einem Menschen, der sich keiner Grenzen seiner Persönlichkeit bewußt war.

»Bei dieser Frau muß man Vorsicht walten lassen«, beschloß er.

Doch am nächsten Tag half er ihr schon gleich morgens wieder bei der Einrichtung ihrer Wohnung. Ging mit den Spiwaks ins Restaurant des Stadtparks zum Mittagessen, nahm abends mit ihnen den Tee. Später besuchte ihren Mann ein schnurrbärtiger Pole mit einem Cello und hochmütig vorquellenden Karpfenaugen. Die unermüdliche Spiwak bat Klim, ihr die Stadt zu zeigen, aber als er bereits im Begriff war, sich umzukleiden, rief sie zu ihm ins Fenster hinein:

»Ich habe mich anders besonnen: ich werde nicht gehen. Wir setzen uns in den Garten. Wollen Sie?«

Klim wollte nicht, getraute sich aber nicht, nein zu sagen. Eine halbe Stunde promenierte man langsam auf den Gartenwegen und sprach belanglose Dinge, Nichtigkeiten. Klim fühlte eine eigentümliche Spannung, so, als suche er das Ufer eines tiefen Bachs nach einer bequemen Stelle zum Hinüberspringen ab. Aus einem Fenster des Hauses drangen die Akkorde des Flügels, das Heulen des Cellos und die spitzen Ausrufe des kleinen Musikers. Warmer blauer Staub, den der Wind einatmete und das Dunkel verdichtete, schien von den Bäumen zu rieseln und die Luft immer tiefer zu färben.

Die Spiwak bewegte sich langsam und wackelte mit dem Bauch. In ihrem Gang lag etwas Prahlerisches, und Klim mußte nochmals denken, daß sie selbstgefällig sei. Seltsam, daß er das in Petersburg nicht bemerkt hatte. In den simplen, trägen Fragen nach Warawka und Wera Petrowna unterschied Klim nichts Verdächtiges. Doch ein unwägbarer, aber deutlich fühlbarer Druck ging von ihr aus, der Klim eine eigentümliche Zaghaftigkeit einflößte. Ihre runden Katzenaugen hielten ihn mit einem gebieterisch bläulichen, beengenden Blick gefangen, als wüßte sie, woran er denke und könne es ihm sagen. Und mehr: sie ließ ihn Lida vergessen.

»Setzen wir uns«, schlug sie vor und begann nachdenklich zu erzählen, daß sie vor drei Tagen mit ihrem Gatten bei einem alten Bekannten Spiwaks, einem Rechtsanwalt, zu Gast gewesen sei.

»Er scheint hier die Rolle des Mäzens der Künste und Wissenschaften zu spielen. Bei ihm hielt irgendein rothaariger Mensch so etwas wie eine Vorlesung über die ›Erkenntnistriebe‹, glaube ich. Ach nein, ›Über den dritten Trieb‹, aber das ist eben der Erkenntnistrieb. Ich bin in philosophischen Dingen ganz unbewandert, aber es gefiel mir: er bewies, daß die Erkenntnis eine ebensolche Gewalt sei wie die Liebe und der Hunger. Ich habe das in dieser Form noch nie gehört.«

Beim Sprechen lauschte die Spiwak gleichsam ihren eigenen Worten. Ihre Augen waren dunkler geworden, und es war deutlich zu merken, daß ihre Gedanken mit anderem beschäftigt waren, während sie redete und auf ihren Leib sah.

»Ein erstaunlich verwahrloster und häßlicher Mensch. Doch wenn solche ... Erfolglosen von der Liebe reden, glaube ich sehr an ihre Offenherzigkeit und an die Tiefe ihres Gefühls. Das Beste, was ich über die Liebe und über die Frau hörte, sagte ein Buckliger.« Sie seufzte und meinte dann:

»Je schöner ein Mann ist, desto unzuverlässiger ist er als Gatte und Vater.«

Und spöttisch lächelnd fügte sie hinzu: »Schönheit ist ausschweifend. Das ist wohl ein Gesetz der Natur, Sie geizt mit Schönheit und strebt daher, wenn sie sie einmal geschaffen hat, danach, sie nach Kräften auszunutzen. Warum schweigen Sie?«

Samgin schwieg, weil er etwas erwartete. Ihre Frage ließ ihn zusammenschrecken. Er sagte eilig: »Der rothaarige Philosoph ist mein Lehrer.« »In der Tat?«

Sie sah Klim neugierig ins Gesicht. Er sagte unüberlegt:

»Vor zwölf Jahren liebte er meine Mutter.« Tief erbittert darüber, sich in der Rolle eines schwatzhaften Bengels zu sehen, wartete er fast mit Schrecken auf das, was diese Frau ihn jetzt fragen würde. Aber sie schwieg eine Weile und sagte dann.

»Es wird feucht. Gehen wir hinein.«

Auf dem Wege zum Flügel bemerkte sie halblaut: »Sie müssen ein sehr einsamer Mensch sein.« Diese Worte klangen nicht wie eine Frage. Samgin empfand für einen Augenblick Dankbarkeit für die Spiwak, wurde jedoch sogleich danach noch wachsamer.

Der schnurrbärtige Pole ließ sein Cello am Flügel stehen und verschwand. Spiwak spielte eine Bachsche Fuge. Nachdem er den Eintretenden durch die dunklen Kreise seiner Gläser einen Blick zugeworfen hatte, hustete er und sagte:

»Das ist kein Musiker, sondern ein Klempner.«

»Der Cellist?«

»Ein vollkommener Nichtskönner«, sagte überzeugt der Musiker.

Er begann von neuem zu spielen, aber so eigenartig, daß Klim ihn zweifelnd ansah. Er spielte mit verlangsamtem Tempo, wobei er bald die eine, bald die andere Note des Akkords betonte, und, die linke Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger erhoben, zuhörte, wie sie allmählich schmolz. Es schien, daß er die Musik entzweibrach und zerriß, auf der Suche nach etwas, das tief verborgen in der Melodie ruhte, die Klim kannte.

»Spiele Rameau«, bat seine Frau.

Gehorsam erklangen die naiven und galanten Akkorde. Sie machten das behaglich eingerichtete Zimmer noch anheimelnder.

Auf dem dunklen Grunde der Wände traten die deutlichen Umrisse der Porzellanfiguren hervor. Samgin urteilte, daß Jelisaweta Spiwak hier eine Fremde, und dieses Zimmer für eine verträumte, sehr lyrische, in ihren Gatten und in Verse verliebte Blondine geschaffen war. Diese Frau aber erhob sich, stellte Noten vor ihrem Mann auf und sang ein Klim unbekanntes keckes Liedchen in französischer Sprache, das mit dem triumphierenden Schrei schloß:

»A toi, mon enfant!«

Er war froh, als das Dienstmädchen mit einem ebenso triumphierenden Lächeln meldete:

»Ihre Mama ist gekommen.«

Klim nahm an, seine Mutter sei müde und gereizt heimgekehrt. Um so angenehmer enttäuscht war er, sie zuversichtlich gestimmt und sogar, wie es schien, im Vergleich zu wenigen Tagen vorher, verjüngt zu sehen. Sie begann sogleich von Dmitri zu erzählen: er würde bald freigelassen. Es würde ihm jedoch das Recht, an der Universität zu studieren, entzogen werden.

»Ich erblicke darin kein Unglück für ihn. Mir schien immer, daß aus ihm ein schlechter Arzt geworden wäre. Er ist, seiner Natur nach, für den Beruf eines Lehrers oder eines Bankbuchhalters, überhaupt für etwas recht Bescheidenes bestimmt. Der Offizier, der seine Sache führt, ein sehr liebenswürdiger Mann, beklagte sich bei mir, daß Dmitri es bei der Vernehmung an der nötigen Höflichkeit fehlen ließ und nicht angeben wollte, wer ihn in dieses... Abenteuer verwickelt hatte. Damit hat er sich sehr geschadet. Der Offizier steht der Jugend mit großem Wohlwollen gegenüber, meint indessen: ›Versetzen Sie sich in unsere Lage. Unmöglich kann man uns zumuten, Revolutionäre zu züchten!‹ Und er erinnerte mich daran, daß es im Jahre 1881 gerade die Revolutionäre gewesen sind, die die Hoffnungen auf eine Verfassung vernichtet haben.«

Die Augen der Mutter leuchteten hell, man mochte glauben, daß sie sie ein wenig untermalt oder einen Tropfen Atropin genommen habe. In dem wundervoll gearbeiteten neuen Kleid, mit einer Zigarette zwischen den Zähnen, sah sie aus wie eine Schauspielerin, die nach einem erfolgreichen Abend ausruht. Von Dmitri sprach sie beiläufig, um ihn mitten im Satz zu vergessen. »Man genehmigte mir ein Wiedersehen mit ihm. Er befindet sich in einem Gefängnis, das »Kreuzgang« genannt wird, ist gesund, ruhig, sogar heiter, läßt seinen Bart wachsen und fühlt sich anscheinend als ein Held.«

Wieder wandte sie sich einem anderen Gegenstand zu.

»Petersburg erfrischt wunderbar. Ich habe ja dort von meinem neunten bis zum siebzehnten Lebensjahr gelebt, und so viel Schönes ist mir wieder gegenwärtig geworden.«

In einem ihr sonst nicht eigenen lyrischen Ton überließ sie sich minutenlang Erinnerungen an Petersburg und ließ ihren Sohn unehrerbietig daran denken, daß Petersburg vierundzwanzig Jahre lang bis zu diesem Abend eine kleine, langweilige Stadt gewesen war.

»Die alte Premirow und ich haben gemeinsame Bekannte entdeckt. Eine prächtige alte Dame. Aber ihre Nichte ist entsetzlich! Ist sie immer so grob und finster? Sie spricht nicht, sondern knallt aus einem schlechten Gewehr. Ach, ich vergaß: sie gab mir einen Brief für dich mit.«

Darauf erklärte sie, sie gehe jetzt ins Badezimmer, brach auf, blieb jedoch mitten im Zimmer stehen und sagte:

»O Gott, kannst du dir vorstellen: Maria Romanowna, du erinnerst dich doch ihrer? – war ebenfalls verhaftet, saß lange Zeit im Gefängnis und befindet sich jetzt irgendwo in der Verbannung unter Polizeiaufsicht! Denke nur: sie ist ja sechs Jahre älter als ich und immer noch... Wirklich, mir scheint, bei dem Kampf solcher Leute wie Maria gegen die Regierung spielt der Wunsch, sich für ein verpfuschtes Leben zu rächen, die Hauptrolle.«

»Möglich«, gab Klim zu.

Nicht das mindeste von dem, was die Mutter gesagt hatte, vermochte ihn zu berühren. Als hätte er an einem Fenster gesessen, hinter dem ein feiner Regen sprühte. Auf seinem Zimmer zerriß er den mit Marinas grober Handschrift geschriebenen Briefumschlag. Der Brief, den er enthielt, war nicht von ihr, sondern von der Nechajew. Auf starkem, bläulichem, mit einer exotischen Blume verziertem Papier schrieb sie, daß ihre Gesundheit sich bessere und daß sie vielleicht im Hochsommer zurückkäme.

»Das wäre noch schöner«, dachte Samgin voll Verdruß.

Die Nechajew schrieb in schönen Wendungen, die den Eindruck des Gedichteten hervorriefen.

»Sie kommt sich als eine Maria Baschkirzew vor.«

Klim zerriß den Brief, entkleidete sich und legte sich hin, während er sich sagte, daß die Menschen einen zuletzt nur ermüdeten. Ein jeder von ihnen warf einem seinen schweren Schatten ins Gedächtnis, zwang einen, an ihn zu denken, ihn zu bewerten, für ihn einen Platz in seinem Herzen zu suchen. Wozu war das nötig, was für ein Sinn lag darin?

»Gerade diese Stöße von außen halten mich ab, meiner Persönlichkeit feste Grenzen zu setzen«, entschied er, sich selbst widersprechend. »Schließlich und endlich werde ich nur darum bemerkt, weil ich mich abseits von allen halte und schweige. Ich muß mich unbedingt zu einer Idee bekennen, wie das Tomilin, Makarow und Kutusow tun. Ich muß nur einen Seelenkern haben, dann wird sich um ihn herum all das bilden, was meine Individualität von der aller anderen unterscheidet, mich mit einem schroffen Strich von ihnen trennt. Die Bestimmtheit einer Persönlichkeit wird dadurch erzielt, daß der Mensch stets das gleiche sagt, – das ist klar. Persönlichkeit ist ein Komplex dauerhaft angeeigneter Meinungen, eine Art Lexikon.«

Er nahm alle ihm bekannten Ideen durch, ohne eine ihm zusagende zu finden, und er konnte ja auch keine finden, denn es handelte sich nicht darum, Fremdes zu entlehnen, sondern Eigenes herzustellen. Alle Ideen waren schon darum schlecht, weil sie fremde waren, ganz davon zu schweigen, daß viele von ihnen ihm seiner ganzen Natur nach feindlich, andere wieder bis zur Lächerlichkeit naiv waren, wie zum Beispiel die Idee Makarows.

Dieser Gedanke und das lästige Summen der Mücken hinter dem Musselinvorhang des Bettes ließen ihn nicht einschlafen. Klim Samgin suchte Beruhigung zu finden, indem er sich ins Gedächtnis rief, daß er im Grunde schon einen seelischen Kern besitze: seine Ehrlichkeit gegen sich selbst. Das Fremde drang nicht in die Poren seines Inneren, verwuchs nicht mit ihm, sondern schwamm bloß durch ihn hindurch, ohne sein Gefühl zu erregen, nur eine Bürde für sein Gedächtnis, weil er Abscheu vor jeder Gewalt gegen sich selbst hegte. Doch das war schon kein Trost mehr. Von der hoffnungslosen und ermüdenden Suche nach einem bequemen Priesterrock, wandte er sich den Gedanken an die Spiwak und an Lida zu. Sie waren beide beinahe gleich unangenehm, weil sie etwas suchten und in ihm wühlten. Er fand, daß in dieser Hinsicht ihr Verhalten gegen ihn vollkommen übereinstimmte. Aber beide zogen ihn auch an. Mit gleicher Stärke? Diese Frage vermochte er nicht zu beantworten. Dies schien von ihrer Lage im Raum, von ihrer physischen Nähe zu ihm abzuhängen. In Gegenwart der Spiwak war Lidas Bild verurteilt, zu schmelzen und zu zerfließen, während die Spiwak verschwand, wenn er Lida körperlich vor Augen hatte. Schlimmer als alles war jedoch, daß Klim sich nicht deutlich vorstellen konnte, was er denn eigentlich von der schwangeren Frau und von dem unerfahrenen Mädchen wollte.

Er hatte jenes Gefühl, womit er Lidas Beine umschlang, nicht vergessen, aber er erinnerte sich seiner nur noch wie eines Traumes. Seit jenem Augenblick waren nur wenige Tage verstrichen, doch schon fragte er sich mehr als einmal, was ihn eigentlich veranlaßt habe, gerade vor ihr in die Knie zu sinken? Diese Frage weckte in ihm Zweifel an der wirklichen Macht eines Gefühls, mit dem er sich vor einigen Tagen so stolz gebrüstet hatte.

Überhaupt erschien ihm immer häufiger etwas Traumhaftes, etwas, das er nicht sehen mußte. Was sollte die dumme Szene der Jagd auf den eingebildeten Wels, was für ein Sinn lag in dem albernen Gelächter Ljutows und des lahmen Bauern? Es war nicht notwendig, daß er die qualvolle Plackerei mit der Glocke sah und ebenso vieles andere, was, ohne einen Sinn zu haben, lediglich das Gedächtnis beschwerte.

»Was soll der Unfug?« tönte in seinem Gedächtnis die entrüstete Frage des buckligen Mädels, lärmte im Kopf das schluchzende Flüstern der Dorfweiber.

»Ich werde wirklich noch krank von alledem ...«

Es wurde schon hell. Die Mondschatten auf dem Fußboden verschwanden. Die Fensterscheiben verloren ihre bläuliche Tönung und schienen gleichfalls zu vergehen. Klim nickte ein, wurde jedoch sehr bald geweckt durch das eilige Stampfen vieler Schritte und das Klirren von Eisen. Er sprang aus dem Bett und eilte ans Fenster: durch die Straße wand sich die übliche Prozession, ein großer Schub Sträflinge, umgeben von einer dünnen Kette von Soldaten des Dampfer-Bedeckungskommandos. Ein spitzbärtiger Hausmeister, der mit einem Besen die Steine abfegte, wühlte dem Trupp grauer Menschen Staubwolken entgegen. Die Soldaten waren von kleinem Wuchs, verziert mit blauen Schnüren. Ihre nackten Säbel blitzten ebenfalls bläulich wie Eis, an der Spitze des Trupps aber schritten, kettenklirrend und zu zweien an den Händen aneinander geschmiedet, graue, kahlgeschorene Männer, ausgesucht groß und beinahe alle bärtig. Das Gesicht des einen war quer durchschnitten von einer schwarzen Binde, welche die Augen bedeckte. Er blickte mit dem freien, zottigen Auge ins Fenster, auf Klim, und sagte zu seinem gleichfalls bärtigen Gefährten, der ihm glich wie ein Bruder dem anderen:

»Schau, Lazarus ist von den Toten auferstanden!«

Doch sein Kamerad sah nicht auf Klim, sondern in die Ferne, in den Himmel und spie aus, auf den Stiefel eines Wachsoldaten zielend. Dies waren die einzigen Worte, die Klim im dumpfen Stampfen der hundert Füße und im klingenden Dröhnen der Eisen, das die rosige, wohlige Stille der schläfrigen Stadt erschütterte, auffing.

Den Zuchthäuslern folgten vereinzelt verschiedenartig gekleidete dunkle Leute mit Bündeln unter der Achsel und Rucksäcken auf dem Rücken. Unter ihnen ein hoher Greis in einem Leibrock und mit einem Käppchen auf dem Kopf. An seinem Gürtel baumelte eine Teekanne und ein Kessel. Das Geschirr klingelte im Takt seiner Sandalen.

In einer geschlossenen Gruppe marschierten »Politische«, vielleicht zwanzig Mann, darunter zwei mit Brillen, ein Rothaariger und Unrasierter, weiter ein Grauhaariger, der aussah wie die Ikone des heiligen Nikolaus von Myrlikien, hinter ihnen wankte, ein bejahrter Mann mit langem Schnurrbart und roter Nase. Unter Lachen teilte er seinem Nebenmann, einem krausköpfigen Burschen, etwas mit und zeigte dabei mit dem Finger auf die Fenster der verschlafenen Häuser. Vier Frauen beschlossen die Prozession: eine dicke, mit dem welken Gesicht einer Nonne, eine junge und schlanke auf schmalen Beinen und zwei, die sich umgefaßt hielten. Die eine lahmte und wankte. Hinter ihrem Rücken setzte ein stumpfnasiger Soldat schläfrig die Füße. Die blaue Schneide seines Säbels streifte fast ihr Ohr.

Als die Spitze des Trupps den Hausmeister passierte, stellte er seine Arbeit ein. Kaum hatte er jedoch die Zuchthäusler an sich vorüberziehen lassen, als er rasch mit seinem Besen die Politischen mit Staub zu überschütten begann.

»Warte nur, du Tölpel!« rief laut ein Wachsoldat, stolperte und nieste.

Der Zug schwenkte in eine Straße ein, die zum Fluß hinablief. Der Hausmeister jagte den Arrestanten gewissenhaft Wolken rauchigen Staubes nach. Klim wußte: am Fluß erwartete die Sträflinge ein roter Dampfer mit einem weißen Streifen am Schornstein, ein roter Leichter. Sein Deck war mit einem eisernen Zwinger überdacht, und der ganze Leichter glich einer Mausefalle. Vielleicht würde auch sein Bruder Dmitri in einer solchen Mausefalle reisen. Weshalb war er ein Revolutionär geworden, sein Bruder? In der Kindheit war er matt, wenngleich er, der in den Spielen der Kinder gutmütiger war als ein Hofhund, gegenüber Erwachsenen einen trägen, aber unbeugsamen Eigensinn an den Tag legte. Die Nechajew hatte sehr richtig geurteilt, als sie ihn einen stumpfsinnigen Menschen nannte. Sein Körper war vierschrötig und nicht klug. Ein Revolutionär mußte gewandt, klug und böse sein.

Aus der Ferne erklang noch immer das Klirren der Eisen und das schwere Stampfen. Der Hausmeister hatte sein Revier sauber gefegt, klopfte mit dem Besenstiel gegen das Pflaster und bekreuzigte sich, den Blick in die Ferne gerichtet, dorthin, wo schon die Sonne erstrahlte. Es wurde ruhig. Man mochte glauben, der spitzbärtige Hausmeister habe die Sträflinge von der Straße weg aus der Stadt hinausgefegt. Auch dies war ein fataler Traum.

Gegen Abend, im finsteren Laden des Antiquars, stieß Klim auf einen Mann in einem Herbstmantel.

»Entschuldigen Sie.«

»Sie sind es, Samgin«, sagte der Mann überzeugt.

Selbst nach dieser Versicherung erkannte Klim in dem staubigen Zwielicht des mit Büchern vollgepackten Ladens nicht sofort Tomilin. Der Philosoph saß auf einem niedrigen Stühlchen mit geschnitzten Füßen. Er reichte Samgin die Hand. Mit der anderen nahm er seinen Hut vom Fußboden auf und sprach in die Tiefe des Ladens hinein zu einem Unsichtbaren:

»Dreißig Rubel ist Geld genug. Kommen Sie zu mir, Samgin.«

Verwirrt durch die unerwünschte Begegnung, gelang es Klim nicht, die Einladung rechtzeitig auszuschlagen, Tomilin legte seinerseits eine ungewohnte Eile an den Tag.

»Wenn man in Büchern wühlt, vergeht die Zeit unmerklich, und so habe ich mich zum Tee zu Hause verspätet«, sagte er auf die Straße tretend, und verzog, von der Sonne geblendet, sein Gesicht. Im aufgequollenen, zerdrückten Hut, in einem Mantel, viel zu weit und zu lang für ihn, sah er aus wie ein Bankrotteur, der lange im Gefängnis gesessen und soeben erst die Freiheit wiedererlangt hat. Er schritt würdevoll, wie ein Gänserich, einher, die Hände in den Taschen vergraben, so daß die langen Ärmel des Mantels tiefe Falten warfen. Tomilins rote Backen waren satt gerundet, seine Stimme klang überzeugt, und in seinen Worten unterschied Klim die Strenge des Vorgesetzten.

»Nun, befriedigen dich die akademischen Wissenschaften?« erkundigte er sich mit einem skeptischen Lächeln.

»Warwara Sergejewna«, redete er die Witwe des Kochs an, als diese, ins Vorzimmer hinaustrat und ihm respektvoll half, den Mantel abzulegen.

Als er den Mantel ausgezogen hatte, stand er im Jackett und in einem gestärkten Hemd mit gelben Flecken auf der Brust da. Unter dem kurz gestutzten Bart sah der Schmetterling einer blauen Krawatte hervor. Auch sein Kopfhaar hatte er geschoren, es schmiegte sich in einem verdoppelten Häubchen seinem Schädel an. Auf diese Weise hatte Tomilins Gesicht seine Ähnlichkeit mit dem nicht von Menschenhand geschaffenen Christusbild verloren. Nur die porzellanenen Augen waren unbeweglich geblieben, und genau wie früher furchten sich düster die stachligen, roten Brauen.

»Langen Sie zu«, redete die Frau Klim mit einer üppigen Stimme zu, während sie ihm ein Glas Tee, Rahm, eine Schale mit Honig und einen Teller mit rostbraun lackierten Pfefferkuchen zuschob.

»Vorzügliche Pfefferkuchen«, bestätigte Tomilin. »Sie bereitet sie selbst aus Malz und Honig.«

Klim aß, um nicht reden zu müssen, und musterte unauffällig das sauber aufgeräumte Zimmer mit Blumen vor den Fenstern, Heiligenbildern in der vorderen Ecke und einem Öldruck an der Wand. Der Öldruck zeigte eine Säule und davor eine satte Frau mit einem Tamburin. Auch die lebendige Frau am Tisch vor dem Samowar war für ihr ganzes Leben satt. Ihr großer gemästeter Körper war monumental fest in den Stuhl gegossen, rastlos bewegten sich die Himbeerlippen, blähten sich die purpurnen Saffianwangen, wogten das Doppelkinn und der Doppelhügel der Brüste. Die wässerigen Augen leuchteten gutherzig und befriedigt, und als sie aufhörte zu kauen, zog ihr kleines Mündchen sich zu einem Stern zusammen. Ihre rosigen Hände schwebten, während sie geräuschlos das Geschirr hin und her rückten, segensvoll über dem Tisch. Es schien, als besäßen diese üppigen Hände mit Fingern, die Würstchen glichen, die Anziehungskraft eines Magneten: sie brauchten sich nur nach der Zuckerdose oder nach dem Milchkännchen auszustrecken, und schon eiltet diese Gegenstände von selbst wohldressiert den weichen Fingern entgegen. Der Samowar lächelte ein kupfernes, verstehendes Lächeln, und alles in dem Zimmer strebte gleichsam zum Körper der Frau, harrte ihrer sanften Berührungen, Es lag etwas Unvereinbares, etwas bedrückend und sogar fantastisch Seltsames darin, daß in Gesellschaft dieser Frau, in diesem Zimmer, gesättigt mit dem Duft von Geranien und guter eßbarer Dinge, die verächtlichen und herablassenden Worte erklangen:

»Die Materialisten behaupten, das seelische Leben sei eine Eigenschaft der organisierten Materie, das Denken eine chemische Reaktion. Aber das unterscheidet sich ja bloß terminologisch vom Hylozoismus, von der Beseelung der Materie«, sagte Tomilin, mit der Hand, die einen Pfefferkuchen hielt, dirigierend. »Unter allen unzulässigen Vergröberungen ist der Materialismus die unförmigste. Und es ist vollkommen klar, daß er hervorgegangen ist aus der Verzweiflung über die Unwissenheit und Schwunglosigkeit der erfolglosen Versuche, einen Glauben zu finden.«

Er ließ den Pfefferkuchen auf den Teller fallen, drohte mit dem Finger und rief feierlich aus:

»Ich wiederhole: Glauben sucht man und Trost, nicht aber Wahrheit! Ich aber verlange: reinige dich nicht nur von allem Glauben, sondern auch von dem Wunsch zu glauben selbst!«

»Der Tee wird kalt«, bemerkte die Frau. Tomilin warf einen Blick auf die Wanduhr und ging eilig hinaus, während sie beschwichtigend zu Klim sagte:

»Er wird gleich zurückkommen, er holt nur den Kater. Seine gelehrte Tätigkeit verlangt Ruhe. Ich habe sogar den Hund meines Mannes mit Arsenik vergiftet. Der Hund heulte in hellen Nächten zu laut. Jetzt haben wir einen Kater, Nikita nennen wir ihn, ich liebe es, ein Tier im Hause zu halten.«

Sie steckte die Haarnadeln in ihrem schweren Helm schwarzer Haare fester und seufzte:

»Schwierig ist seine gelehrte Arbeit! Wieviel tausend Wörter muß man kennen! Er schreibt sie heraus, schreibt sie aus allen Büchern heraus, die Bücher aber sind ohne Zahl!«

Ein zahmer, grau und grün getupfter Zeisig flatterte im Zimmer umher, als sei er die Seele des Hauses. Er ließ sich auf den Blumen nieder, zupfte Blätter ab, schaukelte sich auf dem dünnen Zweig, schlug, erschreckt von einer Wespe, die wütend brummend an die Scheibe trommelte, mit den Flügeln, flog in seinen Käfig zurück und trank Wasser, wobei er sein komisches Schnäbelchen hoch emporreckte.

Tomilin trug sorglich einen schwarzen Kater mit grünen Augen herein, setzte ihn auf die umfangreichen Knie der Frau und fragte:

»Muß er nicht seine Milch haben?«

»Es ist noch zu früh«, antwortete die Frau mit einem Blick auf die Uhr.

Eine Minute später vernahm Klim von neuem:

»Die freidenkende Welt wird mir folgen. Der Glaube ist ein Verbrechen vor dem Antlitz des Denkens.«

Beim Sprechen machte Tomilin weite, trennende Gesten. Seine Stimme klang herrisch, seine Augen blitzten streng. Klim beobachtete ihn mit Staunen und Neid. Wie rasch und schroff veränderten sich die Menschen. Er aber spielte noch immer die erniedrigende Rolle eines Menschen, den alle als Müllkasten für ihre Meinungen betrachteten. Als er sich verabschiedete, sagte Tomilin ihm eindringlich:

»Sie müssen häufiger kommen!«

Die Frau drückte ihm mit ihren warmen Fingern die Hand, nahm mit den anderen etwas vom Saum seiner Litewka ab und sagte, während sie es hinter ihrem Rücken versteckte, mit breitem Lächeln:

»Jetzt müssen Sie kommen. Ich habe Ihnen ein Kätzchen draufgesetzt.«

Auf Klims Frage, was das sei – ein »Kätzchen«? erläuterte sie:

»Das ist, sehen Sie, ein Haar aus einem Katzenfell. Kater sind sehr häuslich und haben die Kraft, Menschen ins Haus zu ziehen. Wenn nun jemand, der in einem Hause beliebt ist, ein ›Kätzchen‹ mit sich fortträgt, wird es ihn unbedingt in dieses Haus ziehen.«

»Was für ein Unsinn!« dachte Klim auf der Straße, besah aber trotzdem die Ärmel seiner Litewka und seine Hose, um zu entdecken, wo das ›Kätzchen‹ angeheftet worden war. »Wie abgeschmackt!« wiederholte er, von dem dunkeln Gefühl der Notwendigkeit durchdrungen, sich zu überzeugen, daß dieses Wohlleben abgeschmackt und nur abgeschmackt sei. »Im Grunde predigt Tomilin eine ebensolche Vergröberung wie die von ihm bekämpften Materialisten«, dachte Klim und bemühte sich beinahe erbost, etwas Gemeinsames zwischen dem Philosophen und dem schwarzen, grünäugigen Kater herauszufinden. »Der Kater müßte eigentlich den Zeisig auffressen«, lächelte er boshaft. In seinem Kopf sauste es. »Ich glaube, ich habe mich mit diesen eisernen Pfefferkuchen vergiftet.«

Daheim fand er die Mutter in angeregter Unterhaltung mit der Spiwak. Sie saßen am Fenster des Eßzimmers, das nach dem Garten geöffnet war. Die Mutter streckte Klim das blaue Quadrat eines Telegramms entgegen und sagte eilig:

»Hier – Onkel Jakow ist gestorben.«

Sie schleuderte ihre Zigarette aus dem Fenster und fügte hinzu:

»So ist er denn gestorben, ohne das Gefängnis zu verlassen. Furchtbar.«

Darauf bemerkte sie:

»Das ist schon unbarmherzig von selten der Regierung. Sie sehen, der Mensch stirbt, und halten ihn trotzdem im Kerker fest.«

Klim fühlte, daß die Mutter sich beim Sprechen Gewalt antat und vor dem Gast Verlegenheit zu empfinden schien. Die Spiwak sah auf sie mit dem Blick eines Menschen, der Teilnahme empfindet, jedoch es für unpassend hält, dieser Teilnahme Ausdruck zu verleihen. Einige Minuten später verabschiedete sie sich. Die Mutter, die sie hinausgeleitete, sagte gönnerhaft:

»Diese Spiwak ist eine interessante Frau. Und – erfahren. Mit ihr hat man keine Umstände. Ihre Wohnung hat sie sehr hübsch und mit großem Geschmack eingerichtet.«

Klim, der fand, daß sie Onkel Jakow zu rasch erledigt hatte, was nicht besonders anständig war, fragte:

»Hat man ihn beerdigt?«

Die Mutter antwortete erstaunt:

»Im Telegramm heißt es doch: ›Am dreizehnten verschieden und gestern beerdigt...‹.«

Mit den Augen nach dem Spiegel schielend, um einen Pickel an ihrem Ohr zu betrachten, seufzte sie:

»Ich gehe gleich, um Iwan Akimowitsch davon Mitteilung zu machen. Weißt du nicht, wo er sich aufhält? In Hamburg?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hast du ihm lange nicht geschrieben?«

Mit einer Gereiztheit, über deren Ursprung er sich nicht klar war, erklärte Klim:

»Lange nicht. Ich muß gestehen, daß ich ihm selten schreibe. Er antwortet mir mit Belehrungen, wie man zu leben und zu denken und was man zu glauben habe. Empfiehlt einem Bücher in der Art des Machwerks Prugawins über die ›Bedürfnisse des Volkes und die Pflichten der Intelligenz‹. Seine Briefe scheinen mir naivste Rhetorik, völlig unvereinbar mit dem Faßdaubengeschäft. Er möchte, daß ich von ihm die Art zu denken erbe, der er wahrscheinlich bereits entsagt hat.«

»Gewiß«, sagte die Mutter, während sie den Pickel puderte, »er liebte seit je die Rhetorik. Mehr als alles die Rhetorik. Aber warum bist du heute so nervös? Auch deine Ohren sind rot ...«

»Ich fühle mich schlecht«, sagte Klim.

Abends lag er mit einer Kompresse um den Kopf im Bett. Der Doktor sagte beruhigend:

»Etwas Gastrisches. Morgen werden wir sehen.«

Im Laufe von fünf Wochen vermochte Doktor Ljubomudrow nicht mit genügender Sicherheit die Krankheit des Patienten festzustellen, der Patient aber konnte nicht ins klare darüber kommen, ob er physisch krank sei oder ob ihn der Abscheu vor dem Leben, vor den Menschen aufs Krankenbett geworfen habe. Er war kein Hypochonder, doch bisweilen schien ihm, daß in seinem Körper eine scharfe Säure arbeite, die die Muskeln erhitzte und die Lebenskraft aus ihnen auskochte. Ein schwerer Nebel füllte seinen Kopf. Er sehnte sich nach tiefem Schlummer, aber ihn peinigte Schlaflosigkeit und ein böses Sieden der Nerven. In seinem Gedächtnis wechselten zusammenhanglos Erinnerungen an Erlebtes, bekannte Gesichter, Sätze.

»War denn ein Junge da?«

»Was soll der Unfug?«

»Das Weib ist für Gott zweite Sorte.«

Alle diese Sprüche stachen ihm in die Augen, als seien sie in die Luft gemalt, starrten regungslos. Sie hatten etwas Abgestorbenes, reizten, ohne Gedanken zu wecken, und vergrößerten nur sein Siechtum.

Zuweilen verschwand plötzlich jene Oxydation. Klim Samgin hielt sich schon für so gut wie gesund, fuhr in die Sommerfrische hinaus, versank jedoch unterwegs oder am Ort angelangt, von neuem in den Zustand allgemeiner Entkräftung. Es war ihm qualvoll, Menschen zu sehen, unangenehm, ihre Stimmen zu hören. Er wußte im voraus, was seine Mutter, was Warawka, was der unschlüssige Doktor, jener gelbgesichtige, flanellene Mann, sein Nachbar im Zug und der schmutzige Schmierer mit dem langen Hammer in der Hand sagen würden. Die Menschen reizten ihn schon allein damit, daß sie vorhanden waren, sich bewegten, sahen, sprachen. Jeder von ihnen vergewaltigte seine Einbildungskraft, indem er ihn zwang, nachzudenken, wozu er notwendig sei? Absurde Fragen tauchten auf: weshalb hatte dieser Mann mit den vortretenden Backenknochen sich den Bart abrasiert? Und weshalb ging jener an einem Krückstock, da er doch kräftige, schöngewachsene Beine hatte. Jene Frau hatte sich grell die Lippen geschminkt und die Augen untermalt, was ihre Nase blutlos, grau und abschreckend klein erscheinen ließ. Niemand hatte Lust, ihr zu sagen, daß sie sich ihr Gesicht verhunzt habe, und Klim hatte ebensowenig Lust dazu, wie die anderen. Mit scharfem, gierigem Auge nahm er an den Menschen das Häßliche, Lächerliche auf, sowie alles das, was ihn an ihnen abstieß und ihm so erlaubte, über jeden verächtlich und mit stiller Wut zu denken. Doch zu gleicher Zeit ahnte er dunkel, daß alle diese lästigen Grübeleien krankhaft, unsinnig und ohnmächtig waren, fühlte, daß ihre Monotonie ihn noch mehr entkräftete.

Es gab Minuten, wo es Klim schien, als sei das Gefäß seiner Erlebnisse, das, was man Seele nennt, verstopft durch die Grübeleien und durch alle; was er erfuhr und sah, verstopft für sein ganzes Leben und so, daß er nichts mehr von außen aufzunehmen vermochte, sondern nurmehr den widerspenstigen Knäuel des schon Erlebten abzuwickeln hatte. Es wäre ein Glück, diesen Knäuel bis zu Ende abzuwickeln. Gleich hinterher jedoch entzündete sich versengend der Wunsch, ihn bis an die letzten Grenzen zu vergrößern, so daß er in ihm alles, seine ganze innere Leere, ausfüllen könnte und ein Gefühl der Kühnheit erzeugte, das Klim Samgin erlaubte, den Menschen zuzurufen:

»Ihr da! Ich weiß nichts, verstehe nichts, glaube nichts, und ich sage es euch ehrlich! Ihr aber heuchelt Gläubigkeit, ihr seid Lügner, Lakeien plattester Wahrheiten, die keine Wahrheiten sind, sondern Plunder, Abhub, zerbrochene Möbelstücke, durchgesessene Stühle!«

Wenn er von dieser Tat träumte, die zu vollbringen er weder Kühnheit noch Kraft besaß, erinnerte Klim sich daran, wie er als Kind eines Tages unverhofft im Hause ein Zimmer entdeckt hatte, in dem der Schutt abgedankter Gegenstände sich chaotisch häufte.

Noch in den ersten Tagen seiner unerklärlichen Krankheit waren Ljutow, seine Braut, Turobojew und Lida auf einem Dampfer die Wolga hinabgefahren, um den Kaukasus zu sehen, die Krim zu besuchen und dann im Herbst nach Moskau zurückzukehren. Klim nahm die Nachricht von dieser Reise so gleichmütig auf, daß er selbst fand:

»Ich bin nicht eifersüchtig. Und ich fürchte Turobojew nicht. Lida ist nicht für ihn bestimmt.«

In Warawkas Landhäuser zogen fremde Leute mit zahlreichen, schreienden Kindern ein. Morgens schlugen die Wellen des Flusses klingend ans Ufer und an die Planken des Badehauses. Im bläulichen Wasser hüpften wie Angelkorken menschliche Köpfe. Ölig glatte Arme zappelten in der Luft. An den Abenden sangen Gymnasiasten und Gymnasiastinnen im Walde Lieder. Täglich um drei Uhr spielte ein flachbrüstiges, dürres Fräulein in einem rosa Kleid und mit einer runden, dunklen Brille auf dem Klavier das Gebet der Jungfrau, Punkt vier Uhr eilte sie am Ufer entlang zur Mühle, um dort Milch zu trinken. Ihr rosa Schatten schleifte schräg durch das Wasser hinterdrein. Dieses Fräulein verbreitete einen schwülen Duft von Tuberosen. Ein langbeiniger Lehrer aus der Realschule stelzte aufgeregt umher und fuchtelte sinnlos mit einem Schmetterlingsnetz. Der lahme Bauer schwankte über den Erdboden und schien die unwahrscheinliche Gabe zu besitzen, sich gleichzeitig an mehreren Orten zu zeigen. Bunt ausstaffierte Zigeunerinnen erboten sich, jedem die Zukunft zu verkünden, und stahlen derweilen Wäsche, Hühner und die Spielsachen der Kinder.

Am Fuße der Villa Warawkas wohnte Doktor Ljubomudrow. An Feiertagen, gleich nach dem Essen, setzte er sich mit dem Lehrer, dem Vormund Alinas und seiner dicken Frau an den Tisch. Die drei Männer benahmen sich friedlich, die Doktorsfrau aber krakeelte mit schneidender Stimme:

»Ich sage: Coeur! Und ich behaupte: Karo! Ich halte: Coeur zwei!«

Von Zeit zu Zeit ließ sich die zögernde Stimme des Doktors vernehmen, der stets etwas Seriöses sagte:

»Nur die Engländer haben das Ideal der politischen Freiheit errungen!«

Oder er empfahl genau so ernsthaft:

»Essen Sie mehr Gemüse und vor allem stickstoffhaltige, als da sind: Zwiebel, Knoblauch, Meerrettich, Rettich... Gesund ist auch Mangold, obwohl er keinen Stickstoff enthält. Sagten Sie Kreuz zwei?«

An den Feiertagen kamen aus dem Dorf Schwärme kleiner Jungen, ließen sich wie Zugvögel längs dem Flußufer nieder und beobachteten schweigsam das sorglose Leben der Sommerfrischler. Einer von ihnen, flinkäugig, mit einem Kopf voller Ringellöckchen, hieß Lawruschka. Er war eine Waise und nach den Erzählungen der Dienstboten dadurch bemerkenswert, daß er die junge Brut der Vögel lebendig verzehrte.

In alter Weise und mit durchdringender Stimme eiferte Warawka und sättigte die geduldige Luft mit Paradoxen. Die Mutter kam, bisweilen in Gesellschaft von Jelisaweta Spiwak, Warawka machte unverhohlen und hartnäckig der Frau des Musikers den Hof, Sie hatte für ihn ein liebenswürdiges Lächeln. Aber gleichzeitig wuchs, wie Klim feststellen konnte, zusehends ihre Freundschaft mit seiner Mutter.

Warawka beklagte sich bei ihm:

»Sie ist zu neugierig. Sie möchte alles wissen: Schifffahrt, Forstwirtschaft. Sie ist ein Bücherwurm. Bücher verderben die Frauen. Im vergangenen Winter lernte ich eine Soubrette kennen. Plötzlich fragt sie mich: ›Inwiefern ist Ibsen von Nietzsche beeinflußt?‹ Der Teufel soll wissen, wer da von dem anderen beeinflußt ist! Dieser Tage sagte der Gouverneur, ich kompromittiere mich, weil ich unter polizeilicher Aufsicht Stehenden Arbeit gebe. Ich antwortete ihm: ›Exzellenz, sie arbeiten gewissenhaft.‹ Er: ›Gibt es bei uns in Rußland schon keine gewissenhaften Leute mehr, die makellos sind?‹«

Warawka schmerzten die Füße, er ging jetzt am Stock. Mit krummen Beinen stapfte Iwan Dronow über den Sand, menschenscheu musterte er Erwachsene und Kinder und schimpfte mit den Dienstmädchen und Köchinnen. Warawka hatte ihm die drückende Pflicht aufgebürdet, die uferlosen Wünsche und Beschwerden der Sommerfrischler über sich ergehen zu lassen. Dronow nahm sie entgegen und erschien allabendlich zum Bericht bei Warawka. Der Eigentümer der Sommerfrische hörte die düstere Aufzählung der Klagen und Wünsche an und fragte dann, fleischig in seinen Bart schmunzelnd:

»Na und? Hast du ihnen zugesagt, all das machen zu lassen?«

»Jawohl.«

»Damit mögen sie satt werden. Du halte dir vor Augen, daß dieses Publikum kein dauerhaftes ist. Es werden noch fünf Wochen vergehen, und sie verschwinden. Versprechen kann man alles, aber sie werden auch ohne Reformen auskommen!«

Warawka lachte schallend, und sein Bauch hüpfte. Dronow begab sich in die Mühle und trank dort bis Mitternacht mit übermütigen Weibern Bier. Er versuchte, mit Klim ein Gespräch anzuknüpfen, aber der nahm diese Versuche trocken auf.

Inmitten dieser ganzen Trübe und bedrückenden Langeweile tauchte ein paarmal Inokow auf, mit hungrigem, finsterem Gesicht. Den ganzen Abend erzählte er brutal und wütend von den Klöstern und schimpfte mit hohler Stimme auf die Mönche.

»Die Katholiken brachten wenigstens einen Campanella, einen Mendel hervor, überhaupt eine große Zahl Gelehrter und Historiker. Unsere Mönche aber sind unverbesserliche Nichtswisser. Sie bringen nicht einmal eine leidliche Geschichte der russischen Sekten zustande.«

Und er fragte die Spiwak:

»Weshalb kennen nur wir und die Ungarn die Sekte der Judaisier enden?

»Ein origineller Junge«, sagte von ihm die Spiwak. während Warawka ihm eine Anstellung in seinem Kontor anbot. Aber Inokow lehnte ab, ohne sich zu bedanken.

»Nein, ich muß lernen.«

»Ja, was lernen Sie eigentlich?«

Inokow antwortete albern und ohne Lächeln:

»Das Leben erfahren.«

Und verschwand am selben Abend gleich einem Stein, der ins Wasser gefallen ist.

Klim Samgin konnte auf keine Weise Klarheit über seine Beziehungen zur Spiwak gewinnen, und das machte ihn wild. Zeitweilig schien es ihm, als vermehre sie die Wirrnis in seinem Innern und verschlimmere seinen krankhaften Zustand. In der Tiefe ihrer Katzenaugen, im Zentrum ihrer Pupillen, bemerkte er eine kühle, lichte Nadel, die ihn spöttisch oder sogar böse stach. Er war überzeugt, daß diese Frau mit dem geschwollenen Leib etwas bei ihm suchte, von ihm forderte.

»Sie besitzen kritischen Verstand«, sagte sie freundlich. »Sie sind belesen, weshalb sollten Sie nicht versuchen zu schreiben? Für den Anfang Besprechungen von Büchern, später aus dem Vollen, Beiläufig, Ihr Stiefvater wird mit dem neuen Jahr eine Zeitung herausgeben...«

»Warum will sie, daß ich Rezensionen schreibe?« fragte sich Klim, doch dieser Einfall behagte ihm, wenn auch nur mäßig.

In jenen Tagen, wenn unbesiegbare Langeweile ihn aus der Sommerfrische in die Stadt trieb, saß er abends im Flügel und lauschte der Musik Spiwaks, von dem Warawka gemeint hatte:

»Ein Mensch für eine Posse mit Gesang.«

Die langsamen Finger des kleinen Musikers erzählten auf ihre Art von den tragischen Ergriffenheiten der Seele Beethovens, von den Gebeten Bachs, von der wunderbaren Schönheit der Trauer Mozarts. Jelisaweta Spiwak nähte hingebungsvoll winzige Hemdchen und straffe Windeln für den zukünftigen Menschen. Von der Musik berauscht, sah Klim sie an, konnte jedoch die unfruchtbaren Grübeleien darüber, was wäre, wenn seine ganze Umwelt nicht so wäre, wie sie war, nicht in sich ersticken.

Zuweilen ergriff ihn heißes Verlangen, sich selbst an Spiwaks Stelle zu sehen und an der seiner Frau – Lida, Jelisaweta hätte auch bleiben können, wäre sie nicht schwanger gewesen, und hätte sie nicht die empörende Angewohnheit, einen auszuforschen.

»Wie verstehen Sie dies?« verhörte sie ihn und immer erwies es sich, daß Klim es nicht so verstand, wie man es, nach ihrer Meinung, verstehen mußte. Zuweilen stellte sie ihre Fragen im Ton des Tadels. Klim fühlte dies zum erstenmal, als sie fragte:

»Sie korrespondieren nicht mit Ihrem Bruder?«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich frage nur.«

»Aber so, als wüßten Sie schon, daß wir nicht korrespondieren.«

»Und weshalb nicht?«

Klim sagte:

»Wir sind zu verschieden. Auch unsere Interessen berühren sich nicht.«

Die Spiwak streifte ihn mit einem Lächeln, in dem er etwas für ihn nicht Schmeichelhaftes auffing, und fragte:

»Und welches sind Ihre Interessen?«

Klim verletzte ihr Lächeln. Um diese Wirkung zu verbergen, antwortete er ein wenig hochfahrend:

»Ich bin der Ansicht, vor allen Dingen hat man ein ehrliches Verhältnis zu sich selbst zu gewinnen, mit größter Genauigkeit die Grenzen seines Wesens festzustellen. Erst dann ist man in der Lage, die wahrhaften Bedürfnisse seines Ichs zu erkennen.«

Die Spiwak biß den Faden ab.

»Ein löblicher Vorsatz«, sagte sie. »Wenn er auch nicht Ihr ganzes Leben. in Anspruch nehmen wird, so doch eine sehr lange Zeit.«

Klim überlegte und fragte dann:

»Soll das Ironie sein?«

»Warum denn? Nein.«

Er glaubte ihr nicht, war beleidigt und ging fort. Auf dem Hof jedoch und auf dem Wege in sein Zimmer begriff er, daß es dumm war, den Gekränkten zu spielen, und daß er sich albern benahm.

Mit ihr zu streiten, getraute Klim sich nicht, überhaupt wich er Streitigkeiten aus. Ihr geschmeidiger Verstand und ihre vielseitige Belesenheit setzten ihn in Erstaunen und verblüfften ihn. Er sah, daß ihre Art zu denken dem »Kutusowismus« verwandt war, und zugleich erschien ihm alles, was sie sagte, als Äußerung eines Außenseiters, der die Erscheinungen des Lebens aus der Ferne, von der Seite her verfolgt. Hinter dieser Unbeteiligtheit argwöhnte Klim gewisse feste Entschlüsse, doch hatte sie nichts an sich, was an die kaltblütige Neugier Turobojews erinnerte. Schließlich und endlich war es nicht ohne Nutzen, ihr zuzuhören, doch war Klim erfreut, wenn Inokow erschien und die Hälfte ihrer Aufmerksamkeit auf sich ablenkte.

Inokow war in eine Art kurzen Kadettenrock aus Sackleinewand gekleidet. Er drückte den Anwesenden schweigend die Hand und wählte stets eine unbehagliche Sitzgelegenheit, indem er den Stuhl in die Mitte des Zimmers rückte. Er überließ sich dem Zuhören der Musik und betrachtete die Gegenstände mit strengem Blick, als ob er sie zähle. Wenn er die Hand erhob, um sein schlechtgekämmtes Haar zu ordnen, las Klim auf der einen Seite seines Röckchens den halbverwaschenen Stempel: »Erste Sorte. J. Baschkirows Dampfmühle«.

Solange Spiwak spielte, rauchte Inokow nicht, doch kaum hatte der Musiker die ermatteten Hände von der Klaviatur losgerissen und sie unter seinen Achseln geborgen, als Inokow sich eine billige Zigarre anbrannte und mit hohler, fahler Stimme fragte:

»Wodurch unterscheidet sich eine Sonate von einer Suite?«

Feindselig zu ihm hinschielend sagte Spiwak:

»Sie brauchen das nicht zu wissen, Sie sind kein Musiker.«

Jelisaweta legte ihr Nähzeug aus der Hand, setzte sich an den Flügel und, nachdem sie Inokow den architektonischen Unterschied zwischen einer Sonate und einer Fuge erklärt hatte, begann sie ihn über sein »Das Leben erfahren« auszuforschen. Er erzählte willig, ausführlich und mit einer zweiflerischen Note von sich, wie von einem Bekannten, den er nur schlecht verstand. Klim schien, daß in Inokows Reden die Frage mitklang:

»Ist es so?«

Vor Klim Samgin erstand ein Bild sinnlosen und angsterfüllten Schweifens von einer Seite zur anderen. Es hatte den Anschein, als rolle Inokow über die Erde hin, wie eine Nuß auf einem Teller, den eine ungeduldige Hand hält und schüttelt.

Dieser Bursche stieß auf eine stetig wachsende Abneigung bei Klim, der ganze Inokow gefiel ihm nicht. Man konnte glauben, daß er mit seiner Brutalität protze und unangenehm zu sein wünsche. Jedesmal, wenn er von seinem an Begebenheiten reichen Leben zu erzählen anfing, verließ Klim, nachdem er ihm minutenlang zugehört hatte, demonstrativ das Zimmer.

Lida schrieb ihrem Vater, sie würde von der Krim aus direkt nach Moskau durchfahren und habe sich entschlossen, von neuem die Theaterschule zu besuchen. In einem zweiten kurzen Brief teilte sie Klim mit, daß Alina mit Ljutow gebrochen habe und Turobojew heiraten würde.

»Das war zu erwarten«, dachte Klim gleichmütig und konnte ein Lächeln nicht zurückhalten. Er stellte sich vor, wie hysterisch Ljutow schreien und Grimassen schneiden mußte.

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