Zweites Kapitel.

In seinem siebzehnten Lebensjahr war Klim Samgin ein schlanker Jüngling von mittlerem Wuchs. Er bewegte sich bedächtig, gesetzt, sprach nicht viel und legte Wert darauf, seine Gedanken genau und einfach auszudrücken, wobei er seine Redewendungen mit maßvollen Gesten seiner sehr weißen und langen Musikerhände zu unterstreichen pflegte. Sein scharfes, spitznasiges Gesicht zierte eine rauchgraue Brille, die den mißtrauischen Glanz der hellblauen, kalten Augen verdeckte, während die dünnen, aber rauhen und nach der Mode kurz geschnittenen Haare und die adrette Uniform seine Ehrbarkeit hervorhoben. Ohne sich durch besondere Erfolge in den Wissenschaften auszuzeichnen, bestach er die Lehrer durch Wohlerzogenheit und gesetztes Benehmen. Er besuchte die Obersekunda, hielt sich jedoch von seinen Klassenkameraden fern. Freunde hatte er erst in den beiden letzten Klassen. Bekannt war, was Vater Tichon, der Religionslehrer, der wegen seines durchdringenden Verstandes berühmt war, auf der Lehrerkonferenz über Klim sagte:

»Die Saite seines Verstandes ist wohltönend und hoch gestimmt. Vor allem aber schätze ich an ihm sein vorsichtiges, ja skeptisches Verhältnis gegenüber jenen eitlen Zerstreuungen, denen unsere Jugend sich so bereitwillig hinzugeben pflegt.«

Xaveri Rziga, der nicht gealtert, doch um so mehr eingetrocknet war, schärfte Klim ein:

»Ohne an deiner Vernünftigkeit zu zweifeln, muß ich dir dennoch sagen, daß du Freunde hast, die imstande sind, dich bloßzustellen. Ich bezeichne Iwan Dronow und Makarow. Ich habe gesprochen.«

Klim verbeugte sich korrekt und stumm vor dem Inspektor. Er kannte seine Kameraden natürlich besser als Rziga, und wenngleich er keine besonderen Sympathien für sie hegte, weckten doch beide seine Verwunderung. Dronow saugte immer noch unermüdlich und gierig alles in sich ein, was einzusaugen war. Er lernte vorzüglich und galt als die Zierde des Gymnasiums. Aber Klim wußte, daß die Lehrer Dronow ebenso haßten, wie Dronow insgeheim sie haßte. Nach außenhin begegnete Dronow nicht nur den Lehrern, sondern selbst gewissen Schülern, Söhnen einflußreicher Persönlichkeiten, schmeichlerisch, doch durch seine lobhudelnden Reden und sein scherzendes Lächeln klangen beständig die bald giftigen, bald geringschätzigen Anspielungen eines Menschen, der seinen wahren Wert genau kennt.

Vater Tichon charakterisierte ihn so:

»Besagter Dronow Iwan ist einem Kundschafter im Lande Kanaan vergleichbar.«

Sein eingedrückter Schädel schien Dronow gehindert zu haben, in die Höhe zu wachsen. Er geriet in die Breite. Nach wie vor ein winziges Menschlein, war er breitschultrig geworden. Seine Knochen ragten links und rechts heraus, die Krummheit seiner Beine fiel stärker ins Auge, er bewegte die Ellenbogen so, als müsse er sich immer durch ein dichtes Gedränge Bahn brechen. Klim Samgin fand, ein Buckel würde der sonderbaren Figur Dronows nicht nur nicht abträglich gewesen sein, sondern ihr geradezu Vollendung verliehen haben.

Dronow wohnte in dem Zwischenstock, in dem einst Tomilin gehaust hatte. Das Zimmer war vollgepackt mit Pappschachteln, Herbarien, Mineralien und Büchern, die Iwan seinem rothaarigen Lehrer entführte. Er hatte die Lust am Phantasieren nicht verloren, doch jetzt stand sie ihm nicht mehr. Klim schien sogar, Dronow tue sich Gewalt an, wenn er phantasierte. Er hatte seine Absicht, »besser als Lomonossow« zu werden, nicht vergessen und erinnerte von Zeit zu Zeit selbstgefällig daran. Klim fand, daß Dronows Kopf eine alles verschlingende Müllgrube geworden war, wie der Kopf Tanja Kulikows, und staunte über seine Fähigkeit, unersättlich »geistige Nahrung« hinunterzuschlingen, wie der Schriftsteller Nestor Katin, der jetzt den Flügel bewohnte, sagte. Aber in Klims Verwunderung mischte sich zuweilen das eigentümliche Gefühl, als bestehle ihn Dronow. Dronow hatte aufgehört, sich die Nase zu kratzen, dafür grunzte er in einer besonderen, besorgten und zerstreuten Weise:

»Hrumm ... weißt du, wie das Auge entstanden ist?« fragte er, »Das erste Auge? Da kriecht dir so ein blindes Wesen umher, sagen wir ein Wurm. Wie, denkst du, ist es sehend geworden?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Klim, mit anderen Gedanken beschäftigt.

»Gewiß durch den Schmerz. Es stößt mit seinem vorderen Ende, mit dem Schädel, auf allerlei Hindernisse, empfindet den Schmerz der Stöße, und an ihrer Stelle bildet sich das Sehorgan, wie?«

»Kann sein«, stimmte Klim zögernd zu.

»Das werde ich entdecken«, verhieß Dronow.

Er las Bokel, Darwin, Setschenow, die Apokryphen und die Schriften der Kirchenväter, las die »Genealogie der Tataren« des Abdul Hazi Bagadur Khan und nickte beim Lesen heftig, als picke er aus den Seiten des Buches bemerkenswerte Tatsachen und Gedanken heraus. Samgin hatte den Eindruck, daß seine Nase dadurch ein wenig sichtbarer und sein Gesicht noch flacher wurde. In den Büchern stand nichts von den seltsamen Fragen, die Iwan so erregten. Er erdachte sie, um die Eigenartigkeit seines Verstandes hervorzuheben.

»Ein Gaul«, sagte Makarow von ihm.

Makarow war gleichfalls eine Zierde des Gymnasiums und sein Held. Während zweier Jahre führte er mit den Lehrern einen grausamen Kampf wegen eines Knopfes. Er besaß die Angewohnheit, an den Knöpfen seiner Uniform zu drehen. Wenn er seine Lektion hersagte, hielt er eine Hand am Kinn und drehte am Kragenknopf, der immer baumelte, und häufig riß er ihn unter den Augen des Lehrers ab und steckte ihn in die Tasche. Man bestrafte ihn, man sagte ihm, wenn sein Rockkragen ihn am Halse drücke, solle er ihn weiter machen. Es half nichts. Er hatte überhaupt eine Menge Laster: nichts konnte ihn veranlassen, sich die Haare schneiden zu lassen, wie er es nach der Vorschrift tun mußte, und von seinem von beulenartigen Erhöhungen bedeckten Schädel standen nach allen Seiten hin zweifarbige – dunkelblonde und helle – Haarwirbel ab. Man konnte denken, trotz seiner achtzehn Jahre ergraue er schon. Es war bekannt, daß er unmäßig rauchte und in schmutzigen Spelunken Billard spielte.

Er wurde aus einer anderen Stadt in die Untersekunda aufgenommen, entzückte schon bald drei Jahre die Lehrer durch seine Fortschritte und verwirrte und reizte sie durch sein Betragen. Mittelgroß, schlank und stark, hatte er den federnden Gang eines Zirkusartisten, sein Gesicht war nicht russisch, höckernasig, scharf umrissen und gemildert durch ein Paar frauenhaft sanfte Augen und das wehmütige Lächeln seiner schönen, leuchtenden Lippen. Auf der Oberlippe sproßte bereits dunkler Flaum.

Klim begriff die Freundschaft dieser beiden allzu ungleichen Menschen nicht. Dronow erschien neben Makarow noch häßlicher und fühlte dies wohl selbst. Er sprach zu Makarow mit einer bösartig kreischenden Stimme und im Ton eines Menschen, der einen Angriff erwartet und sich zur Verteidigung bereit macht, streckte hochmütig die Brust heraus, warf den Kopf zurück, und seine irren Augen verharrten wachsam, argwöhnisch und gleichsam gefaßt auf etwas Ungewöhnliches. Dagegen beobachtete Klim in Makarows Verhalten zu Dronow durchdringende Neugier, vereint mit der beleidigenden Achtlosigkeit des Erfahrenen und Sehenden gegenüber einem Halbblinden, Klim hätte eine solche Behandlung nicht geduldet. Dronow hielt Makarow Drapers Buch »Katholizismus und Wissenschaft« unter die Augen und krähte aufdringlich:

»Hier wird behauptet, die Mönche seien Feinde der Wissenschaft, während doch Giordano Bruno, Campanella, Morus.....«

»Schmeiß doch den ganzen Krempel in die Ecke«, riet Makarow, der eine Zigarette rauchte.

»Ich will die Wahrheit wissen«, beharrte Dronow und sah Makarow argwöhnisch und unfreundlich an.

»Erkundige dich danach bei Tomilin oder Katin, die werden sie dir sagen«, erklärte, Rauchwolken ausstoßend, gleichmütig Makarow.

Eines Tages fragte Klim:

»Gefällt Dronow dir?«

»Gefallen – nein«, entgegnete Makarow bestimmt. »Aber es steckt etwas aufreizend Unverständliches in ihm, und das will ich enträtseln.«

Er dachte nach und sagte lässig:

»Mit seiner Visage lebt es sich schwer.«

»Warum?«

»Na, er muß sich gut kleiden, einen besonderen Hut tragen, mit einem Stöckchen spazieren. Was halten sonst die Mädels von so einem? Die Hauptsache, mein Lieber, sind die Mädels und die lieben Spazierstöckchen, Säbel oder Gedichte.«

Nach diesen Worten begann Makarow leise durch die Zähne zu pfeifen.

Klim Samgin eignete sich gern fremde Gedanken an, sofern sie nur den Menschen, auf den sie sich bezogen, einfacher erscheinen ließen. Vereinfachende Gedanken erleichterten einem es sehr, eine eigene Meinung zu haben. Er hatte gelernt, seine Meinung kunstvoll zwischen Ja und Nein in der Schwebe zu halten, und dies gab ihm das Renommee eines Menschen, der es versteht, unabhängig zu denken und sozusagen auf Rechnung seines eigenen Verstandes zu leben.

Seit Makarows Urteil über Dronow kam er endgültig zu dem Schluß, daß Dronows Suchen nach der Wahrheit nur das Bestreben der Krähe war, sich mit Pfauenfedern zu schmücken. Da er selbst in dem ruhelosen Strom dieses Bestrebens trieb, kannte er sehr wohl seine Gewalt und zwingende Kraft.

Er hielt seine Kameraden für dümmer als sich, sah aber gleichzeitig, daß sie begabter und interessanter waren. Er wußte, daß der weise Priester über Makarow gesagt hatte:

»Ein glänzender Jüngling. Man vergesse aber nicht den feinen Ausspruch des berühmten Hans Christian Andersen: Gold und Silber vergeht, Schweinsleder besteht.«

Klim hatte sehr große Lust, die Vergoldung von Makarow herunterzukratzen. Sie blendete seine Augen, wenngleich er bemerkte, daß seinen Freund eine niederdrückende Unruhe befiel. Iwan Dronow dagegen schien ihm ein verzweifelter Spieler, der nicht früh genug allen das Geld aus der Tasche ziehen kann und mit falschen Karten spielt. Zuweilen war Klim wirklich ratlos, wenn er wahrnahm, daß seine Kameraden ihm offener und vertrauensvoller begegneten als er ihnen. Augenscheinlich erkannten sie ihn als den Klügeren und Erfahrenen an. Doch diese ehrlichen Zweifel tauchten nur für kurze Zeit auf und nur in jenen seltenen Augenblicken, da er müde war, sich beständig zu überwachen, und fühlte, daß er einen mühseligen und gefahrvollen Weg ging.

Makarow selbst war es, der die Vergoldung von sich abkratzte. Dies geschah, als sie auf der Umfriedung der Kirche »Himmelfahrt in den Bergen« saßen und sich an dem Anblick der untergehenden Sonne freuten.

Es war einer jener märchenhaften Abende, wenn der russische Winter mit entwaffnender, fürstlicher Verschwendung die Fülle seiner kalten Schönheiten entfaltet. An den Bäumen funkelte der rosenfarbige Kristall des Reifs, der Schnee sprühte im Regenbogenstaub von Edelsteinen, Hinter den violetten Lichtflecken des vom Wind bloßgelegten Flüßchens, auf den Wiesen, lag ein prunkvoller brokatener Teppich, über ihm eine blaue Stille, die nichts beunruhigen konnte. Diese lauschende Stille umfaßte alles Sichtbare, als erwarte sie, daß etwas besonders Bedeutungsvolles gesagt werde.

Makarow blies die blaue Rauchschlange seiner Zigarette in die frostige Luft und fragte unvermittelt:

»Dichtest du?«

»Ich?« wunderte sich Klim. »Nein. Und du?«

»Ich fange gerade an. Es geht schlecht.«

Und wie mit einem Streich begann er in beleidigtem Ton roh und schamlos zu erzählen.

»Jetzt sind es schon zwei Jahre, daß ich an nichts außer an Mädchen denken kann. Zu Prostituierten kann ich nicht gehen, so tief bin ich nicht gesunken. Es zieht mich zur Onanie, und wenn man mir die Hände abschlüge. In diesem Hang, Bruder, ist etwas bis zu Tränen, bis zum Ekel vor sich selbst Beleidigendes. In Gesellschaft von Mädchen komme ich mir wir ein Idiot vor. Sie redet mir von Büchern, allerhand Poesien, und ich denke nur daran, was sie wohl für Brüste hat und daß ich sie küssen und dann meinetwegen sterben möchte.«

Er schleuderte die zur Hälfte gerauchte Zigarette fort, sie bohrte sich in den Schnee mit dem Feuer nach oben, wie eine Kerze, und verbrämte die kalte Durchsichtigkeit der Luft mit den Ringellocken des blauen Rauchs, Makarow folgte ihnen mit den Blicken und sagte halblaut:

»Dumm wie zwei Lehrer ... und vor allen Dingen kränkend, weil es unüberwindlich ist. Hast du es schon gespürt? Wirst es bald spüren.«

Er erhob sich, zertrat die Zigarette und fuhr stehend fort, während er mit zugekniffenen Augen das rotglühende Kreuz an der Kirche betrachtete:

»Dronow hat in irgendeinem Schmöker gelesen, daß hier der ›Geist des Geschlechts‹ wirke, der ›Wille der Venus‹, hol sie der Teufel, das Geschlecht und die Venus was habe ich mit ihnen zu schaffen? Ich will mich nicht als Hengst fühlen, das macht mich ganz schwermütig und bringt mich auf Selbstmordgedanken. So steht es mit mir!«

Klim hörte mit angestrengtem Interesse zu, es war ihm angenehm, zu sehen, daß Makarow sich selbst als ohnmächtig und schamlos hinstellte. Makarows Nöte waren Klim noch unbekannt, wenngleich er manchmal nachts, wenn die fordernden Regungen des Körpers ihn bedrängten, sich ausmalte, wie sein erster Roman sich abspielen würde, und im voraus wußte, daß die Heldin dieses Romans Lida sein würde.

Makarow pfiff, vergrub die Hände in den Taschen seines Mantels und zog fröstelnd die Schultern zusammen.

»Ljuba Somow, dieses stumpfnasige Schaf, – ich liebe sie nicht, das heißt, sie gefällt mir nicht, und doch fühle ich mich hörig. Du weißt, die Mädels sind mir wohlgeneigt, aber . . .«

»Nicht alle«, beendete Klim in Gedanken den Satz, da er sich erinnerte, wie feindselig Lida Warawka sich gegen Makarow verhielt.

»Gehen wir, es ist kalt«, sagte Makarow und fragte mürrisch:

»Warum schweigst du?«

»Was könnte ich sagen?« Klim zuckte die Achseln. »Eine Banalität, daß das Unvermeidliche unvermeidlich ist . . .«

Einige Minuten gingen sie schweigend. Unter ihren Füßen knirschte der Schnee.

»Warum fängt es so früh an. Mir scheint, mein Lieber, dahinter steckt Hohn«, sagte leise und staunend Makarow. Klim reagierte nicht gleich.

»Schopenhauer hat wahrscheinlich recht.«

»Vielleicht aber auch hat Tolstoi recht: wende dich von allem ab und starre in den Winkel. Aber wenn du dich vom Besten in dir abwendest, was dann?«

Klim Samgin schwieg. Es war ihm eine immer größere Wohltat, den traurigen Reden seines Kameraden zu lauschen. Er bedauerte sogar, daß Makarow sich plötzlich von ihm verabschiedete und, sich vorsichtig umblickend, in den Hof einer Schenke trat.

»Ich werde Billard spielen«, sagte er und schlug wütend die Hofpforte zu.

Die verflossenen Jahre hatten für Klims Leben keine aufwühlenden Ereignisse gebracht. Alles vollzog sich sehr einfach. Allmählich und auf ganz natürliche Weise verschwand ein Mensch nach dem andern aus seinem Gesichtskreis. Sein Vater verreiste immer häufiger, wurde gleichsam immer kleiner, bis er endlich ganz zerschmolz. Vorher nahm seine Redseligkeit ab: er sprach weniger überzeugt, schien sogar Schwierigkeiten bei der Auswahl seiner Worte zu haben, vernachlässigte Bart und Schnurrbart, aber die rötlichen Haare in seinem Gesicht wuchsen horizontal, und als die Oberlippe sich in eine Zahnbürste verwandelt hatte, verlor der Vater die Fassung, rasierte sich den Bart ab, und nun sah Klim, daß seines Vaters Gesicht kläglich zerknittert und gealtert war. Warawka fühlte sich verpflichtet, ihn zu ermutigen.

»Nun, nun, Iwan Akimowitsch, wie steht es? Haben Sie das Sägewerk verkauft?«

Des Vaters Ohren wurden dunkelrot, wenn er Warawka zuhörte, und wenn er ihm antwortete, sah er ihm über die Schultern hinweg und trat mit dem Fuß auf wie ein Scherenschleifer. Oft kam er betrunken nach Hause, begab sich in das Schlafzimmer der Mutter, und von dort war lange sein winselndes Stimmchen zu hören. Am Morgen seiner letzten Abreise kam er in Klims Zimmer. Er hatte getrunken. Ihn begleitete die leise Mahnung der Mutter:

»Ich bitte dich, keine dramatischen Monologe!«

»Nun, lieber Klim«, sagte er laut und tapfer, doch seine Lippen bebten und die entzündeten, großen Augen zwinkerten geblendet. »Die Geschäfte zwingen mich, für lange Zeit zu verreisen. Ich werde in Finnland leben, in Wyborg. So. Mitja kommt auch mit. Nun, leb wohl.«

Er umarmte Klim, küßte ihn auf Stirn und Wangen, klopfte ihm auf den Rücken und fügte hinzu:

»Großvater begleitet uns. Ja. Lebwohl. A...achte deine Mutter, sie ist würdig...«

Ohne auszusprechen, wessen die Mutter würdig war, winkte er ab und kratzte sich am Kinn. Klim schien, er wolle sich mit der flachen Hand das Gesicht zudecken.

Als der Großvater, der Vater und der Bruder, der sich grob und feindselig von Klim verabschiedet hatte, abgereist waren, wurde das Haus dadurch nicht leerer, aber einige Tage später erinnerte Klim sich der ungläubigen Worte, die jemand am Fluß gesagt hatte, als Boris Warawka ertrunken war:

»Ja, war denn ein Junge da? Vielleicht war gar kein Junge da?«

Das Entsetzen, das Klim in jenen Augenblicken durchgemacht hatte, als die roten, beharrlichen Hände aus dem Wasser ragten und immer näher zu ihm heranrückten, hatte Klim vollständig vergessen. Boris' Ende beunruhigte immer seltener und nur wie ein Traumgesicht seine Erinnerung. Aber in den Worten des skeptischen Menschen lag etwas Aufdringliches, als wären sie einem Sprichwort entlehnt, in dem dieser Satz: »Vielleicht war gar kein Junge da?« vorkam.

Klim liebte solche Redewendungen, er fühlte dunkel ihren glatten Doppelsinn, und bemerkte, daß man gerade sie für Weisheit hielt. Wenn er in den Nächten vor dem Einschlafen alles, was er tagsüber gehört hatte, an sich vorbeiziehen ließ, siebte er das Unverständliche und Dunkle wie Schale aus und bewahrte im Gedächtnis sorgsam die vollen Körner mannigfacher Weisheiten, um sich bei Gelegenheit ihrer zu bedienen und seinen Ruf eines besinnlichen Jünglings ein übriges Mal zu rechtfertigen. Er verstand, Angeeignetes so vorsichtig, nebenher und zugleich lässig zu sagen, daß das Gesagte nur ein winziger Teil der Schätze seines Geistes zu sein schien, und es gab glückliche Augenblicke des Triumphes, die ihn, sooft er sich ihrer erinnerte, veranlaßten, sich ebenso zu bewundern, wie ihn die andern bewunderten.

Doch stets dachte Klim gleich darauf mit Zweifel und mit einem Verdruß, der einer schlimmen Trübsal glich, an Lida, die ihn durchaus nicht so sehen konnte oder wollte, wie die anderen ihn sahen. Tage und Wochen bemerkte sie ihn überhaupt nicht, als wäre er für sie ohne Körper, farblos, überhaupt nicht da. Die Heranwachsende wurde ein wunderliches und schwieriges Mädchen. Warawka lächelte sein großes rotes Lächeln in seinen fuchsroten Bart, wenn er von ihr sagte:

»Sie ist ganz wie ihre Mutter. Die war auch eine Meisterin, sich etwas einzubilden, und was sie sich einmal eingebildet hatte, daran glaubte sie.«

Das Verbum »Einbilden«, das Substantiv »Einbildung« führte Lidas Vater häufiger im Munde als alle übrigen Bekannten, und dieses Wort übte immer eine beruhigende Wirkung auf Klim. Immer, doch nicht in der Anwendung auf ein Erlebnis mit Lida, das in ihm ein sehr verwickeltes Gefühl für dieses Mädchen hervorrief.

Ein Jahr nach Boris' Tod, in dem Sommer, als Lida zwölf Jahre alt geworden war, weigerte Igor Turobojew sich, die Kriegsschule weiter zu besuchen, und sollte auf eine andere, die sich in Petersburg befand. Damals nun, einige Tage vor seiner Abreise, erklärte Lida beim Frühstück ihrem Vater in bestimmtem Ton, daß sie Igor liebe, ohne ihn nicht leben könne und nicht wünsche, daß er in einer anderen Stadt die Schule besuche.

»Er soll hier leben und lernen«, sagte sie und schlug dabei mit ihrer kleinen, aber starken Faust auf den Tisch, »und wenn ich fünfzehn Jahre und sechs Monate alt bin, lassen wir uns trauen.«

»Das ist Unsinn, Lida«, sagte streng der Vater, »ich verbiete dir...«

Ohne sich dafür zu interessieren, was er verbot, stand sie auf und ging hinaus, bevor Warawka sie zurückhalten konnte. Von der Tür her, sich am Pfosten haltend, sagte sie:

»Das ist Gottes Fügung.«

»Was für ein überspanntes Mädchen«, bemerkte die Mutter und sah ermutigend auf Klim. Der lachte, da lachte auch Warawka. Aber bevor sie ihr Frühstück beendigen konnten, erschien Turobojew, bleich, mit blauen Schatten unter den Augen. Er machte einen korrekten Kratzfuß vor Klims Mutter, küßte ihr die Hand, trat darauf vor Warawka hin und erklärte mit klingender Stimme, er liebe Lida, könne nicht nach Petersburg fahren und bitte Warawka...

Ohne das Ende seiner Rede abzuwarten, brach Warawka in brüllendes Gelächter aus, dermaßen, daß sein ungetümer Kopf hin und her schaukelte und der Stuhl unter ihm krachte. Wera Petrowna lächelte herablassend. Klim betrachtete Igor mit unangenehmer Verwunderung. Igor aber stand regungslos, doch er schien immer länger zu werden. Er wartete, bis Warawka sich satt gelacht hatte, und sagte dann mit der gleichen, klingenden Stimme:

»Ich bitte Sie, meinem Vater zu sagen, wenn das nicht geschehe, würde ich mich umbringen. Ich bitte Sie, mir Glauben zu schenken. Papa glaubt mir nicht.«

Einige Sekunden blieben der Mann und die Frau stumm und wechselten Blicke miteinander. Dann wies die Mutter Klim mit den Augen die Tür. Klim ging verwirrt auf sein Zimmer, ratlos, wie er sich dieser Szene gegenüber verhalten solle. Vom Fenster aus sah er: Warawka führte, grimmig seinen Bart schüttelnd, Igor an der Hand auf die Straße und kehrte bald darauf mit Igors Vater zurück, einem kleinen dürren und kahlköpfigen Mann, der ein graues Jakett und graue Hosen mit roten Biesen trug. Lange wandelten sie im Garten auf und ab. Der graue Schnurrbart des alten Turobojew zitterte unaufhörlich. Er redete etwas mit heiserer, gebrochener Stimme, Warawka blökte dumpf, wischte sich ein Mal übers andre das rote Gesicht und nickte mit dem Kopf. Da kam die Mutter herein und befahl Klim streng:

»Es ist Zeit für dich, zu Tomilin zu gehen. Du wirst ihm natürlich kein Wort von diesen Dummheiten sagen ...«

Als Klim vom Unterricht heimkam, und zu Lida wollte, sagte man ihm, daß er das nicht dürfe. Lida sei in ihrem Zimmer eingesperrt. Es war ungewöhnlich öde und beängstigend still im Haus, Klim schien, daß gleich jemand mit schrecklichem Gepolter hinfallen würde, aber nichts fiel. Die Mutter und Warawka gingen aus. Klim lief in den Garten und versuchte, in das Fenster von Lidas Zimmer hineinzublicken. Das Mädchen ließ sich nicht sehen, nur der zerzauste Kopf Tanja Kulikows tauchte von Zeit zu Zeit auf. Klim setzte sich auf eine Bank und verweilte lange, ohne etwas zu denken. Er sah nichts vor sich als die Gesichter Igors und Warawkas und wünschte, daß Lida gehörig verprügelt würde, Lida aber... Er grübelte lange, wie man sie bestrafen müßte, und fand für das Mädchen keine Strafe, die nicht auch ihm weh getan haben würde.

Die Mutter und Warawka kehrten sehr spät zurück. Er schlief schon. Ihn weckten Gelächter und Lärm aus dem Eßzimmer. Sie lachten wie Betrunkene. Warawka versuchte immerfort zu singen, die Mutter aber schrie:

»Nicht so! Falsch!«

Dann gingen sie in den Salon hinüber. Die Mutter spielte etwas Lustiges, doch plötzlich brach die Musik ab. Klim schlief wieder ein und wurde von einem dumpfen Hin- und Herrennen über seinem Kopfe geweckt. Gleich darauf ertönten Rufe:

»Was für eine teuflische Posse! Lida ist fort! Tatjana döst, und Lida ist fort! Verstehst du, Wera?«

Klim sprang aus dem Bett, warf sich in die Kleider und rannte ins Eßzimmer, aber dort war es dunkel, nur im Schlafzimmer der Mutter brannte Licht. Warawka stand in der Tür und stemmte beide Arme gegen den Türpfosten wie ein Gekreuzigter. Er hatte einen Schlafrock an und Pantoffel an den nackten Füßen. Die Mutter hüllte sich hastig in ihren Rock.

Man befahl Klim, Dronow zu wecken, und Lida im Garten und auf dem Hof zu suchen, wo bereits Tanja Kulinow schuldbewußt mit gedämpfter Stimme rief:

»Lida! Was für Dummheiten! Liduscha!«

Klim war unsagbar wunderlich zumute, diesmal glaubte er, an einer Erfindung teilzunehmen, die unvergleichlich interessanter war als alles, was er kannte, – interessanter und schrecklicher. Auch die Nacht war seltsam, ein heißer Wind fuhr rauschend durch die Bäume und erstickte alle Gerüche in trockenem, warmem Staub. Über dem Himmel krochen Wolken, löschten jeden Augenblick den Mond aus. Alles schwankte und bot das Bild einer unheimlichen Widerstandslosigkeit, die angstvolle Beklommenheit einflößte. Dronow lief verschlafen und wütend auf seinen krummen Beinen umher, stolperte, gähnte und spuckte aus. Er hatte gestreifte Zwillichunterhosen und ein dunkles Hemd an. Seine Gestalt verschwand auf dem dunklen Grunde des Gebüsches, während sein Kopf gleich einer Blase in der Luft schwamm.

»Gewiß ist sie zu den Turobojews in den Garten gelaufen«, mutmaßte Dronow.

Ja, sie war dort. Sie kauerte auf der Lehne einer Gartenbank, unter einem Vorhang von Sträuchern. Die von der Dunkelheit verwischte zierliche Figur des Mädchens war unförmig gekrümmt, und etwas an ihr erinnerte entfernt an einen großen weißen Vogel.

»Lida«, rief Klim.

»Was brüllst du wie ein Gendarm«, sagte Dronow halblaut, stieß Klim brutal mit der Schulter zur Seite und forderte Lida auf:

»Was wollen Sie hier sitzen, kommen Sie mit nach Hause.«

Klim empörte Dronows Grobheit, Ihn befremdete seine sanfte Stimme und das »Sie«, womit er Lida anredete, als wäre sie eine Erwachsene.

»Man hat ihn geschlagen, nicht wahr?« fragte das Mädchen, ohne sich zu rühren und ohne die hingestreckte Hand Dronows zu nehmen. Ihre Worte klangen spröde, so wie kleine Mädchen sprechen, wenn sie sich ausgeweint haben. »Ich bin gefallen wie eine Blinde, als ich über den Zaun stieg«, sagte sie schluckend, »wie ein Schaf. Ich kann nicht gehen.« Klim und Dronow hoben sie von der Bank und stellten sie auf die Erde, aber sie stöhnte und fiel wie eine Puppe hintenüber. Die Knaben konnten sie kaum auffangen. Während sie sie nach Hause geleiteten, erzählte Lida, daß sie nicht beim Überklettern des Zauns gefallen sei, sondern bei dem Versuch, am Abflußrohr zu Igors Fenster hinaufzuklettern.

»Ich wollte wissen, was er macht.«

»Er schläft«, sagte Dronow.

Lida preßte die Hand an den Mund und sog schweigend das Blut von den zerbrochenen Fingernägeln.

Auf dem Hof empfing Warawka sie im Schlafrock und einer ärmellosen tatarischen Jacke darüber und brüllte die Tochter an:

»Was fällt dir ein?«

Doch plötzlich nahm er sie erschrocken auf den Arm und hob sie hoch.

»Was hast du?«

Da sagte das Mädchen mit einer Stimme, deren Klang Klim lange nicht vergaß:

»Ach, Papa, das verstehst du nicht! Du kannst es ja nicht... Du hast Mama nicht geliebt.«

»Still! Bist du verrückt geworden?« zischte Warawka und lief mit ihr ins Haus. Im Laufen verlor er einen seiner Saffianpantoffel.

»Nett wild geworden ist die Ziege!« sagte spöttisch lachend Dronow. »Na, ich werde schlafen gehen.«

Aber er ging nicht, sondern hockte sich auf die Stufen der Küchentreppe, kratzte sich die Schulter und brummte:

»Hat die sich ein Spiel ausgedacht...«

Klim schlenderte durch den Hof und grübelte bohrend: war das alles wirklich nichts als Spiel und Einbildung? Aus dem offenen Fenster im zweiten Stockwerk drangen die zänkischen Stimmen Warawkas und der Mutter. Tanja Kulikow kam eilig die Treppe herab.

»Sperr das Tor nicht ab, ich laufe zum Arzt«, sagte sie und rannte auf die Straße hinaus.

Dronow brummte höhnisch wütend:

»Rziga hat mich gezwungen, die Ilias und die Odyssee zu lesen. Das ist mal ein Quatsch! Trottel sind diese Achillesse und Patroklusse! Ein Stumpfsinn. Die Odyssee geht noch, wenigstens hat Odysseus ohne Rauferei allen ein Schnippchen geschlagen. Ein Gauner. Wenn auch nur einer mit kurzen Beinen.«

»Klim, zu Bett!« rief Wera Petrowna streng aus dem Fenster, »Dronow, weck den Hausmeister und geh dann auch schlafen.«

Dieser Roman war in wenigen Tagen Stadtgespräch. Die Gymnasiasten fragten Klim:

»Ist sie hübsch?«

Klim antwortete zurückhaltend. Er wünschte nicht davon zu reden. Dronow hingegen schwatzte angeregt:

»Schön nicht, denn sie hat sich verliebt. Ein schönes Mädchen wird sich nie verlieben. Spaß!«

Klim hörte sein Geschwätz mit Unwillen, hoffte jedoch heimlich, Dronow würde etwas sagen, was seine Zweifel, unter denen er sehr litt, verscheuchte.

»Ich sag ihr: ›Du bist ja noch ein dummes Mädel‹«, erzählte Dronow den Knaben. »Und ihm sag ich auch... Na, für ihn ist es natürlich eine Sache, wenn man sich in ihn verliebt...«

Es war ärgerlich, mitanzuhören, wie Dronow aufschnitt, da er aber bemerkte, daß diese Lügen Lida zur Heldin der Gymnasiasten machten, hinderte Klim Iwan nicht. Die Jungen lauschten ernst, und die Augen einiger unter ihnen blickten mit jener seltsamen Trauer, die Klim schon von den porzellanenen Augen Tomilins her kannte.

Lida hatte sich den Fuß verstaucht und hütete elf Tage das Bett. Auch ihr linker Arm lag im Verband. Bevor Igor abreiste, brachte ihn die dicke, schnaufende Frau Turobojew unter schrecklichem Augenrollen zu Lida, damit er ihr Lebewohl sagen konnte. Die Liebenden umarmten sich weinend, und auch Igors Mutter vergoß Tränen.

»Es ist komisch, aber schön«, sagte sie und wischte sich behutsam ihre vorquellenden Augen, »es ist schön, weil es altmodisch ist.«

Warawka blökte unmutig ein massives und unbekanntes Wort.

Um die Kinder zu beruhigen, erklärte man ihnen: gewiß, sie seien Bräutigam und Braut, das sei ausgemacht. Sie sollten einander heiraten, sobald sie groß wären; bis dahin werde ihnen erlaubt, einander zu schreiben. Klim überzeugte sich bald, daß sie betrogen wurden. Lida schrieb Igor jeden Tag, übergab die Briefe Igors Mutter und wartete ungeduldig auf Antwort. Aber Klim stellte fest, daß Lidas Briefe in Warawkas Hände fielen, daß der sie Klims Mutter vorlas und beide lachten. Lida wurde allmählich rasend, und dann sagte man ihr, Igors Schule sei so streng, daß die Vorgesetzten den Knaben nicht einmal gestatteten, ihren Angehörigen zu schreiben.

»Es ist wie im Kloster«, log Warawka, und Klim mußte an sich halten, um nicht Lida zuzurufen:

»Deine Briefe sind in seiner Tasche.«

Aber Klim sah, daß Lida die Märchen ihres Vaters mit aufgeworfenen Lippen anhörte und ihnen keinen Glauben schenkte. Sie zupfte an ihrem Taschentuch oder am Saum ihrer Gymnasiastinnenschürze und blickte vor sich hin oder zur Seite, als schäme sie sich, in das breite, blutunterlaufene, bärtige Gesicht zu schauen. Trotzdem sagte Klim eines Tages:

»Weißt du, daß sie dich betrügen?«

»Schweig!« schrie Lida und stampfte mit dem Fuß auf. »Das ist nicht deine Sache, nicht dich betrügt man. Und Papa betrügt mich auch nicht, er hat nur Angst...« Sie errötete vor Zorn und lief weg.

In der Schule galt sie als eine der mutwilligsten Schülerinnen. Sie lernte ohne Ernst. Wie ihr Bruder brachte sie Schwung in alle Spiele und, wie Klim aus Klagen über sie erfuhr, viel Launenhaftigkeit, viel Sucht, andere auf die Probe zu stellen, und sogar Bosheit. Sie war noch frömmer geworden, besuchte eifrig den Gottesdienst, und in Augenblicken der Nachdenklichkeit blickte sie aus ihren schwarzen Augen so durchdringend auf alles, daß Klim Angst vor ihr empfand.

Ihn behandelte sie beinahe ebenso geringschätzig und ironisch wie die übrigen Knaben. Jetzt bat nicht sie Klim, sondern er sie:

»Komm, wir gehen und plaudern miteinander?«

Sie ließ sich nur selten und ungern darauf ein. Auch erzählte sie Klim nicht mehr von Gott, Katzen und Freundinnen, sondern hörte abwesend seine Berichte über das Gymnasium und seine Urteile über Lehrer, Knaben und gelesene Bücher. Als Klim ihr einmal mitteilte, daß er nicht an Gott glaube, sagte sie verächtlich:

»Das ist Unsinn. In meiner Klasse haben wir ein Mädel, das auch nicht an Gott glaubt, aber das tut sie nur, weil sie bucklig ist.«

Drei Jahre lang kam Igor Turobojew in den Ferien nicht nach Hause, Lida erwähnte ihn nie. Als Klim einmal den Versuch machte, das Gespräch auf ihren treulosen Geliebten zu bringen, schnitt sie kalt ab:

»Über Liebe kann man nur mit einem einzigen sprechen.«

Mit fünfzehn Jahren war Lida lang aufgeschossen, dabei aber zierlich und leicht wie früher, und sie schnellte im Gehen noch immer hoch wie eine Feder. Sie wurde eckig, die Knochen ihrer Schultern und Hüften ragten vor, und obwohl die Brüste sich bereits scharf abzeichneten, waren sie spitz wie Ellenbogen und stachen Klim unangenehm in die Augen. Ihr Gesicht war Klim vertraut. Um so angstvoller war sein Staunen, als er bemerkte, wie in ihren Zügen, die sich ihm so fest eingeprägt hatten, sich etwas Neues und Rätselhaftes zeigte. Zeitweilig war dieses Neue so deutlich sichtbar, daß es Klim trieb, das junge Mädchen zu fragen:

»Was haben Sie?«

Manchmal fragte er: »Was fehlt dir?«

»Nichts«, erwiderte sie mit leichtem Erstaunen, »warum fragst du?«

»Ihr Gesicht ist so anders.«

»Ja? Wie denn?«

Diese Frage konnte er nicht beantworten. Manchmal sagte er ihr »Sie«, ohne darauf zu achten. Sie merkte es auch nicht.

Besonders verwirrte ihn der Ausdruck der Augen in ihrem abweisenden Gesicht. Er war es, der sie in eine Fremde verwandelte. Dieser Blick, scharf und wach, erwartete, suchte, ja forderte, wurde unvermittelt geringschätzig und abstoßend kalt. Seltsam war, daß sie alle Katzen aus ihrer Umgebung verjagt hatte, überhaupt sich in ihrem ganzen Verhältnis zu Tieren ein gewisser krankhafter Abscheu bemerkbar machte. Wenn Pferde wieherten, fuhr sie zusammen, verzog das Gesicht und hüllte sich fröstelnd in ihren Schal. Hunde riefen Widerwillen in ihr hervor. Selbst Hähne und Tauben waren ihr sichtlich unangenehm.

Auch ihr Denken bekam wie ihr Körper etwas Eckiges und scharf Umrissenes. »Lernen ist langweilig«, sagte sie, »und wozu muß ich auch wissen, was ich selbst niemals anwenden oder sehen werde?«

Eines Tages sagte sie Klim:

»Du weißt viel. Das muß sehr lästig sein.«

Tanja Kulikow, Warawkas Haushofmeisterin, die allem auf der Welt wohlwollend und demütig zulächelte, sprach von Lida, wie Klims Mutter von ihrem prachtvollen Haar:

»Sie ist meine Qual.«

Sie sagte es ohne Ärger, vielmehr zärtlich und liebevoll. Auf ihren Schläfen erschienen graue Haare, auf dem zerknitterten Gesicht das Lächeln eines Menschen, der begreift, daß er in einer unglücklichen Stunde geboren wurde, niemand interessiert und an all dem sehr schuldig ist.

Im Flügel tauchte der lustige Schriftsteller Nestor Nikolajewitsch Katin auf nebst Frau, deren Schwester und einem tollpatschigen Hund, der auf den Namen »Traum« hörte. Der wirkliche Name des Schriftstellers war Pimow, aber er hatte sich ein Pseudonym gewählt und erklärte dies scherzhaft so:

»Bei uns sagt man bekanntlich nicht Nestor, sondern Nester, und ich hätte meine Erzählungen mit Nesterpimow unterzeichnen müssen. Tödlich, nicht wahr? Zudem ist es jetzt Mode, Pseudonyme nach dem Namen seiner Frau zu bilden: Werin, Walin, Saschin, Maschin ...«

Er war zottig, trug ein krauses Bärtchen, sein Hals war mit Ringellocken dunkler Haare bestickt, und selbst an den Handwurzeln und an den Gelenken der Finger wuchsen ihm kleine Büsche dunkler Wolle.

Lebendig, sehr beweglich, sogar ein wenig unstet und ein unermüdlicher Schwätzer, erinnerte er Klim an seinen Vater. In seinem behaarten Gesicht blitzten lebhaft die kleinen Äuglein, doch argwöhnte Klim trotzdem aus irgendeinem Grunde, daß dieser Mensch heiterer erscheinen wollte, als er war. Beim Sprechen neigte er den Kopf zur linken Schulter, als lausche er seinen eigenen Worten, und seine Ohrmuscheln zuckten ganz leise.

Er gebrauchte die Redewendungen der Kirchensprache und bemühte sich offensichtlich, wenn auch nicht sehr glücklich, damit die Leute zum Lachen zu bringen. Er pries überschwenglich die Schönheit der Wälder und Fluren, das patriarchalische Dorfleben, die Duldsamkeit der Bauernweiber, den Verstand der Bauern und die einfache und weise Seele des Volkes und schilderte, wie diese Seele durch die Stadt vergiftet werde. Oft mußte er seinen Zuhörern Worte erklären, die sie nicht kannten, und bemerkte dann nicht ohne Stolz:

»Ich kenne die Sprache des Volkes besser als Gleb Uspenski. Er verwechselt das Bäurische mit dem Kleinstädtischen, mich wird man nicht dabei erwischen, o nein!«

Nestor Katin trug einen Bauernkittel, umgürtet von einem schmalen Riemen, schob die Hosenbeine in langschäftige Stiefel und trug die Haare kreisrund gestutzt, »à la Mushik«. Er sah aus wie ein Handwerker, der gut verdient und flott lebt. Beinah an jedem Abend besuchten ihn ernste, tiefsinnige Menschen. Klim schien, daß sie alle sehr stolz und über irgend etwas gekränkt waren. Sie tranken Tee und Branntwein und aßen dazu Gurken, Wurst und eingemachte Pilze. Der Schriftsteller rollte sich in merkwürdiger Weise bald zusammen, bald wieder auseinander, lief im Zimmer auf und ab und sagte:

»Ja, ja, Stepa, die Literatur hat sich dem Leben entfremdet, sie ist dem Volk untreu geworden. Jetzt schreibt man hübsche Nichtigkeiten zum Ergötzen satter Bäuche. Das Gefühl für Wahrheit ist verlorengegangen.«

Stepa, ein breitschultriger, graubärtiger Mann, saß stets abseits von den anderen, rührte schwermütig mit dem Löffel im Tee, nickte nur zustimmend mit dem Kopf und schwieg stundenlang. Plötzlich begann er zu reden, in gleichmäßigen Abständen und mit klangloser Stimme: Von den Nöten der Volksseele, den Pflichten der Intelligenz und besonders viel vom Verrat der Kinder am Vermächtnis der Väter. Klim fiel auf, daß der Sachverständige für die Pflichten der Intelligenz das Weiche vom Brot verschmähte und sich an die Rinde hielt, Tabakrauch nicht leiden konnte und Branntwein trank, ohne seinen Abscheu davor zu verbergen, gleichsam nur aus Pflichtgefühl.

»Du hast recht, Nestor, man vergißt, daß das Volk die Substanz, das heißt, der Grund aller Dinge ist, und jetzt tritt man mit der Lehre von den Klassen, mit einer deutschen Lehre auf... Hm...«

Makarow fand, daß dieser Mensch etwas von einer Milchamme hatte. Er sagte das so lange, bis es auch Klim so schien. Gewiß, Stepa hatte ungeachtet seines Bartes Ähnlichkeit mit einem vollbusigen Weib, das gemietet wird, um mit seiner Milch fremde Kinder zu nähren.

Sonntags versammelte sich die Jugend bei Katin, die ernsten Gespräche wichen Gesang und Tanz. Der blatternarbige Seminarist Saburow breitete langsam die Arme in der verqualmten Luft aus, als schwimme er im Stehen, und sein angenehmer Bariton empfahl dringend:

»Geh an die Wolga hinaus!«

»Wessen Stöhnen...« fiel nicht sehr melodisch der Chor ein. Die Erwachsenen sangen feierlich, psalmodierend, der frohe Tenor des Schriftstellers klang schrill. In dem langsamen Gesang lag etwas Kirchliches, an eine Seelenmesse Erinnerndes. Fast immer wurde nach dem Gesang geräuschvoll Quadrille getanzt. Am lautesten lärmte der Schriftsteller, der gleichzeitig das Orchester und den Dirigenten machte. Mit seinen kurzen Beinchen stampfte er den Takt, bediente mit großer Kunst eine billige Harmonika und kommandierte schneidig:

»Die Kavaliere durch die Damen hindurch! Laß die eigene sausen, pack die fremde!«

Damit brachte er alle zum Lachen. Der Schriftsteller, der sich immer mehr erhitzte, sang nun zur Harmonika im Rhythmus der Quadrille:

»Die Kinder kommen in die Hütte gelaufen,


Rufen eilig den Vater.


Vater. Vater, in unseren Netzen


Hat sich ein Leichnam gefangen.«

Warawka nannte ärgerlich diese Lustbarkeit »Ball der Fische«.

Klim hatte den Eindruck, daß der Schriftsteller sich mit Anspannung aller Kräfte und geradezu verzweifelt amüsierte. Er hüpfte, zuckte mit allen Gliedern und schwitzte. In dem Wunsch, einen verwegenen Kerl darzustellen, stieß er Schreie aus, die nicht seine eigenen waren, mühte sich ab, die Tanzenden zu erheitern und ächzte, wenn er es erreicht hatte, erlöst: »Puh!«

Alsdann stürzte er sich von neuem an die Arbeit, sie mit sinnlosen Redensarten und komischen Sprüngen zu belustigen, und zwinkerte seiner Frau zu, die, ein schläfriges Lächeln in dem Puppengesicht, selbstvergessen die Figuren der Quadrille ausführte.

»Ei du Weichherzige!« schrie ihr Mann ihr zu.

Seine Frau, rundlich, rosig und schwanger, war zu allen von unerschöpflicher Zärtlichkeit. Mit kleiner, aber lieblicher Stimme sang sie zusammen mit ihrer Schwester ukrainische Volkslieder. Die Schwester, mit langer Nase, lebte mit geschlossenen Augen, als fürchte sie etwas Erschreckendes zu sehen. Sie goß schweigsam und akkurat Tee ein, bot Imbiß herum, und nur ganz selten vernahm Klim ihre tiefe Stimme:

»Das ja!« Oder: »Daran ist schwer zu glauben.«

Sie sprach nur selten mehr als diese beiden Sätze.

Klim fühlte sich ganz gut in der Gesellschaft dieser spaßigen und neuen Menschen, in dem mit lustigen, hellen Tapeten bekleideten Zimmer. Alles ringsumher war unordentlich wie bei Warawka, aber harmlos. Von Zeit zu Zeit erschien Tomilin. Langsam, mit feierlichem Schritt, stelzte er über den Hof, ohne einen Blick in die Fenster der Samgins zu werfen. Beim Eintreten drückte er den Leuten stumm die Hand, setzte sich in die Ofenecke, senkte den Kopf auf die Brust und lauschte den Diskussionen oder Liedern. Eilig lief Tanja Kulikow herbei. Ihr unbedeutendes, nur schwer in der Erinnerung haftendes Gesicht lief bei Tomilins Anblick so dunkel an wie Fayenceteller im Alter dunkeln.

»Wie geht es Ihnen?« fragte sie.

»Ganz leidlich«, erwiderte Tomilin leise und anscheinend ungehalten.

Ein oder zwei Mal kam auch Warawka selbst, sah sich die Sache an, hörte zu und sagte zu Hause mit einer abwinkenden Geste zu Klim und seiner Tochter:

»Die übliche russische Kwasküche. Eine Jahrmarktsbude, wo Kunststücke gezeigt werden, die längst aus der Mode sind.«

Klim fand diese Bemerkung sehr treffend. Seitdem schien ihm, daß in den Flügel alles zusammengefegt worden sei, was vor zehn Jahren die Gemüter im Hause aufgewühlt hatte. Gleichwohl sah er ein, daß es für ihn von Nutzen, wenn auch manchmal langweilig war, den Schriftsteller zu besuchen. Es erinnerte gewissermaßen an das Gymnasium, mit dem Unterschied jedoch, daß die Lehrer nicht ärgerlich wurden, ihre Schüler nicht anschrien, sondern sie mit unzweifelhaftem und heißem Glauben an ihre Kraft in der Wahrheit unterrichteten. Dieser Glaube sprach beinahe aus jedem Wort, und obwohl er Klim nicht hinzureißen vermochte, trug er doch einige Gedanken und treffende Aussprüche aus dem Flügel davon, außerdem aber etwas, was nicht klar war, was er aber brauchte. Er nannte es Menschenkenntnis.

Makarow trank andächtig Schnaps und aß dazu knirschende saure Gurken. Von Zeit zu Zeit flüsterte er Klim etwas Erbostes ins Ohr:

»Das Vermächtnis der Väter! Mein Vater vermachte mir: lerne, du Taugenichts, sonst jage ich dich aus dem Hause, und du kannst Landstreicher werden! Na schön, ich lerne, aber ich glaube nicht, daß man an diesem Ort etwas lernen kann.«

Man machte den jungen Leuten den Hof, aber das genierte sie. Makarow, Ljuba Somow und selbst Klim saßen stumm und gedrückt da, und Ljuba bemerkte einmal seufzend:

»Wenn sie reden, ist es, als praßle ein Regenguß herab. Ich muß den Regenschirm aufspannen und kann nicht hören, was ich denke.«

Einzig Iwan Dronow stellte aufdringlich und in unnötig kreischendem Ton Fragen nach der Intelligenz und nach der Bedeutung der Persönlichkeit in der Geschichte. Fachmann für diese Fragen war jener Mensch, der an eine Milchamme erinnerte. Unter allen Freunden des Schriftstellers schien er Klim derjenige, der am tiefsten gekränkt war.

Bevor er eine Frage beantwortete, überflog dieser Mensch alle Anwesenden mit hellen Augen und krächzte zögernd, beugte sich alsdann nach vorn, streckte seinen Hals aus und zeigte hinter dem linken Ohr eine nackte, knochige Beule von der Größe einer kleinen Kartoffel.

»Dies ist eine Frage von tiefster, allgemein menschlicher Bedeutung«, hub er mit hoher, aber ein wenig müder und klangloser Stimme an. Der Schriftsteller Katin erhob, um auf den bedeutsamen Moment aufmerksam zu machen, die Hand und die Augenbrauen und überflog gleichfalls die Anwesenden mit einem Blick, der beredt »Ruhe! Aufmerksamkeit!« heischte.

»Nirgends in der Welt aber wird diese Frage so zugespitzt wie bei uns in Rußland, nennen wir doch eine Kategorie Menschen unser eigen, die nicht einmal der hochgezüchtete Westen hervorbringen konnte. Ich spreche eben von der russischen Intelligenz, von jenen Menschen, deren Los Kerker, Sibirien, Zuchthaus, Folter und Galgen ist«, redete bedächtig dieser Mensch. Klim witterte im Ton seiner Reden immer etwas Eigentümliches, es war, als versuche der Redner gar nicht erst seine Zuhörer zu überzeugen, sondern begnüge sich mit dem hoffnungslosen Versuch, sie zu überreden. Die Worte »Zuchthaus«, »Folter« gebrauchte er so oft und geläufig, als wären es die gewöhnlichsten Ausdrücke. Klim gewöhnte sich daran, sie zu hören, ohne ihren schrecklichen Inhalt zu empfinden. Makarow, der alle immer skeptischer betrachtete, flüsterte:

»Er redet so, als wäre das alles vor dreihundert Jahren geschehen. Der Amme ist die Milch geronnen.«

Aus einer Ecke blickten Tomilins weiße Augen unverwandt auf die »Amme«. Leise erkundigte er sich von Zeit zu Zeit:

»Sie beschuldigen Marx, die Persönlichkeit aus der Geschichte gestrichen zu haben. Aber hat nicht das gleiche in ›Krieg und Frieden‹ Leo Tolstoi getan, der doch als Anarchist gilt?«

Auch hier war Tomilin unbeliebt. Man antwortete ihm wortkarg und achtlos. Klim fand, daß dies dem rothaarigen Lehrer gefiel, und daß er sie absichtlich reizte. Einmal schleuderte Katin eine Zeitschrift, nachdem er über einen darin veröffentlichten Aufsatz geschimpft hatte, auf die Fensterbank. Das Heft fiel auf den Fußboden. Tomilin sagte:

»Ein Heiligenbild würden Sie, obzwar Sie ungläubig sind, nicht so verächtlich in die Ecke geschleudert haben, und dabei steckt mehr Seele in einem Buch als in einer Ikone.«

»Seele?« fragte verlegen und ärgerlich der Schriftsteller und fügte ungeschickt, aber noch unwilliger hinzu:

»Was hat das mit Seele zu tun? Es ist ein publizistischer Artikel, der sich auf statistische Daten stützt. Seele!«

Der Schriftsteller war ein leidenschaftlicher Jäger und Naturschwärmer. Wohlig blinzelnd, schmunzelnd und seine Worte mit einer Menge kleiner Gesten unterstreichend, erzählte er von jungfräulichen Birken, der versonnenen Stille der Waldschluchten, den bescheidenen Blümchen der Auen und dem hellen Gesang der Vögel, und erzählte es so, als habe er als Erster all das gesehen und belauscht. Während er die Handflächen in der Luft bewegte wie ein Fisch die Schwimmflossen, schwelgte er in Rührung:

»Und allüberall ist das unbesiegbare Leben, alles strebt empor zum Himmel und spottet des Gravitationsgesetzes!«

Tomilin erkundigte sich händereibend:

»Sie, der Sie so rührend von Ihrer Liebe zu allem Lebendigen zu sprechen wissen, wie kommt es, daß Sie aus bloßem Vergnügen am Mord Hasen und Vögel töten? Wie ist das miteinander vereinbar?«

Der Schriftsteller wandte ihm die Seite zu und sagte barsch:

»Auch Turgeniew und Nekrassow waren Jäger. Ebenso Tolstoi in seiner Jugend, überhaupt viele bedeutende Geister. Sie sind wohl ein Anhänger Tolstois?«

Tomilin lächelte spöttisch und rief das verständnisinnige Lächeln Klims hervor. Ihm wurde dieser unabhängige Mann, der gelassen und eigensinnig, ohne jemand nachzugeben, treffliche Worte, die sich einprägten, zu sagen wußte, immer mehr zum Vorbild.

Krampfhaft mit den Armen fuchtelnd und vor Eifer bis zu den Schultern errötend, entkleidete der Schriftsteller die russische Geschichte ihres ehrwürdigen Schimmers und stellte sie als eine lastende, endlose Kette lächerlicher, schmutziger und alberner Anekdoten dar. Über das Lächerliche und Dumme daran lachte er selbst als erster, wenn er aber auf die Grausamkeiten der Regierung zu sprechen kam, preßte er seine Faust gegen die Brust oder fuhr mit ihr in der Herzgegend herum. Stets war es peinlich zu sehen, daß er nach seiner flammenden Rede ein Glas Branntwein hinunterstürzte, das er mit einer dick mit Senf bestrichenen Brotrinde würzte.

»Lesen Sie die ›Geschichte von Dummenstadt‹«, riet er, »das ist die wahre und ungeschminkte Geschichte Rußlands.«

Makarow hörte die Reden des Schriftstellers an, ohne ihn anzusehen. Er preßte die Lippen fest aufeinander und bemerkte dann zu den Kameraden:

»Weshalb prahlt er damit, daß er unter Polizeiaufsicht steht? Als hätte er im Betragen ›Sehr gut‹ erhalten.«

Ein anderes Mal beobachtete er, wie der Schriftsteller sich wand und krümmte und sagte zu Lida:

»Sehen Sie, unter welchen Wehen die Wahrheit geboren wird?«

Lida runzelte die Stirn und rückte von ihm ab.

Sie besuchte selten den Flügel. Schon nach dem ersten Besuch, – sie hatte den ganzen Abend an der Seite der freundlichen und stimmlosen Schriftstellersgattin zugebracht –, sagte sie befremdet:

»Warum schreien die so? Schon denkt man, sie werden gleich aufeinander losschlagen, da setzen sie sich zu Tisch, trinken Tee und Schnaps und kauen Pilze ... Die Frau des Schriftstellers hat mir die ganze Zeit die Schulter gestreichelt, als wäre ich eine Katze ...«

Lida schauderte zusammen, furchte die Brauen und fügte fast mit Ekel hinzu:

»Und dann, ihr Bauch! Ich kann Schwangere nicht ausstehen!«

»Ihr alle seid böse!« rief Ljuba Somow. »Mir aber gefallen diese Menschen. Sie gleichen dem Koch in der Küche vor einem hohen Feiertag, – Ostern oder Weihnachten.«

Klim sah das unschöne Mädchen mißbilligend an. Neuerdings mußte er feststellen, daß Ljuba klüger wurde, und dies berührte ihn aus irgendeinem Grunde unsympathisch. Aber es gefiel ihm sehr, zu sehen, daß Dronow seine Selbstgefälligkeit verlor, und auf seinem eingefallenen, sorgenvollen Gesicht Züge der Trübsal hervortraten. In seine kreischenden Fragen mischte sich jetzt eine Note des Ärgers, und er lachte zu lange und zu laut, als Makarow, der ihm etwas erzählte, scherzte:

»Nun, Iwan? Spürst du's, wie die Wissenschaft die Jünglinge foltert? Und dennoch, Brüder, was ist die Intelligenz?« forschte er.

Klim dozierte mit den Worten Tomilins:

»Die Intelligenz, das sind die Besten des Landes, Menschen, auf deren Schultern die Verantwortung für alles Schlechte lastet.«

Sogleich fiel Makarow ein:

»Also sind es jene Gerechten, um deretwillen Gott bereit war, Sodom und Gomorrha oder sonst was Verhurtes zu schonen? Diese Rolle ist nichts für mich. Nein.«

»Gut gesagt«, dachte Klim, und, um sich das letzte Wort zu sichern, erinnerte er an Warawkas Ausspruch:

»Es gibt da auch einen anderen Gesichtspunkt: ein Intelligenzler ist ein hochqualifizierter Arbeiter, und damit basta.«

Doch Makarow erriet sofort:

»Das riecht nach Warawka.«

Das Gefühl heimlicher Abneigung gegen Makarow wuchs in Klim, Makarow pfiff laut und frech vor sich hin und sah auf alles mit den Augen eines Menschen, der soeben aus einer großen Stadt in eine kleine kommt, in der es ihm nicht gefällt.

Er gab oft und geläufig nicht weniger bemerkenswerte Aussprüche und Meinungen von sich als Warawka und Tomilin. Klim war eifrig bemüht, die Gabe eigener Worte in sich zu entwickeln, fühlte aber fast immer, daß sie entfernt nach dem Echo fremder klangen. Es wiederholte sich das gleiche, was sich mit den Büchern ereignete: Klims Wiedergabe war ausführlich und genau, aber die Leuchtkraft war verschwunden, während Makarow auch das Fremde zur rechten Zeit und lebendig zu erzählen wußte.

Einmal besuchte er mit Makarow und Lida das Konzert eines Pianisten. Aus dem Portal des Gouverneurpalais geleiteten zwei Stutzer feierlich die unförmig dicke, alte Gouverneursgattin am Arm hinaus und hoben sie mit Mühe in die Equipage.

Seufzend sagte Makarow zu Lida:

»Puschkin hat recht: Die beseeligende Aufmerksamkeit der Frauen ist fast das einzige Ziel unserer Anstrengungen.«

Lida lächelte zögernd, vielleicht auch widerwillig. Klim verspürte aufs neue den Stachel des Neides.

Ihn reizten die rätselhaften Beziehungen Lidas zu Makarow. Etwas an ihnen war verdächtig: Makarow, verwöhnt durch die Beachtung der Gymnasiastinnen, nahm Lida gleichwohl mit einem ihm sonst nicht eigenen Ernst aufs Korn, obgleich er für sie den gleichen ironischen Ton hatte wie für seine Verehrerinnen. Lida aber unterstrich offenkundig und zuweilen in recht schroffer Form, daß sie Makarow nicht mochte. Doch gleichzeitig bemerkte Klim, daß ihre gelegentlichen Begegnungen sich häuften. Klim kam sogar auf den Gedanken, daß sie auch den Schriftsteller nur aufsuchten, um einander zu sehen.

In diesem Verdacht bestärkte ihn eine sonderbare Szene im Stadtpark. Er saß mit Lida in einer Allee alter Linden auf der Bank. Die zottige Sonne tauchte ins Chaos bläulicher Wolken und entzündete ihre wuchtige Pracht mit blutigem Feuer. Auf dem Fluß schaukelten kupferrote Reflexe, rötete sich der Rauch der Fabrik jenseits des Flusses, entflammten grell in purpurnem Gold die Scheiben des Eiskiosk. Ein herbstlich wehmütiger Schauer liebkoste Samgins Wangen.

Klim fühlte sich bedrückt und innerlich aufgewühlt. Der farbensatte Fluß gemahnte ihn an Boris' Tod, in seiner Erinnerung tönte hartnäckig:

»War denn ein Junge da? Vielleicht war gar kein Junge da?«

Es drängte ihn, Lida etwas Bedeutendes und Angenehmes zu sagen. Er versuchte es schon einige Male, aber es gelang ihm nicht, das Mädchen seiner tiefen Nachdenklichkeit zu entreißen. Ihre schwarzen Augen sahen unverwandt auf den Fluß und die flammenden Wolken. Klim erinnerte sich plötzlich an eine Legende, die ihm Makarow erzählt hatte.

»Weißt du«, fragte er, »Clemens von Alexandrien behauptete, daß die Engel, wenn sie vom Himmel herabsteigen, Liebesabenteuer mit den Töchtern der Menschen unterhalten.«

Lida sagte, ohne den Blick von der Ferne loszureißen, gleichgültig und leise:

»Das Kompliment eines Heiligen ist nicht viel wert, denke ich.«

Ihre Gleichgültigkeit verwirrte Klim. Er verstummte und grübelte über den Grund nach, weshalb dieses gar nicht hübsche, launenhafte Mädchen ihn so oft aus der Fassung brachte. Sie tat nichts als ihn irritieren.

Plötzlich erschien Makarow in seinem vertragenen Mantel und abgetretenen Schuhen, die Mütze in den Nacken geschoben. Er sah aus wie einer, der soeben irgendwo entlaufen ist und nicht mehr weiterkann, und dem jetzt alles gleich ist.

»Er verläßt sich auf seine freche Visage«, dachte Klim.

Makarow reichte dem Kameraden stumm die Hand, fuchtelte in der Luft herum und grüßte Lida unerwartet, aber nicht komisch, indem er militärisch zwei Finger an den Mützenschirm legte. Dann rauchte er sich eine Zigarette an, nickte in die Richtung der Feuersbrunst des Sonnenuntergangs und fragte Lida:

»Schön, wie?«

»Etwas ganz Gewöhnliches«, entgegnete sie, stand auf, sagte: »Ich gehe zu Alina«, und verließ die beiden. Mit ihrem federnden Gang entfernte sie sich zwanzig Schritte. Makarow sagte leise:

»Wie zierlich sie ist! Eine Nadel. Übrigens ein seltsamer Name – Warawka.«

Unverhofft wandte Lida sich schroff um und setzte sich wieder neben Klim.

»Ich hab es mir überlegt.«

Makarow schob seine Mütze zurecht, lächelte ironisch und beugte den Rücken vor.

Sogleich spielte sich etwas ab, was Klim schmerzlich erstaunen ließ. Makarow und Lida sprachen aufeinander ein, als hätten sie sich bitter erzürnt und seien froh über die Gelegenheit, sich noch einmal zu zanken. Zornig musterten sie einander und wählten ihre Worte ohne ihren Wunsch, einander zu verletzen und zu kränken, zu verheimlichen.

»Schön ist, was mir gefällt«, sagte Lida schnippisch, und Makarow widersprach ironisch.

»Was Sie sagen? Ist das nicht ein bißchen wenig?«

»Vollkommen genug, um schön zu sein.«

Zwischen ihnen eingeklemmt, bemerkte Klim:

»Spencer definiert die Schönheit...«

Aber man hörte ihn nicht. Sie fielen einander ins Wort und stießen ihn dabei hin und her. Makarow nahm seine Mütze ab und stieß Klim mit ihrem Schirm zweimal schmerzhaft gegen das Knie. Seine zweifarbigen widerspenstigen Haare sträubten sich und verliehen seinem höckernasigen Gesicht einen fremden, beinahe raubtierhaften Ausdruck. Lida, die fortwährend am Ärmel von Klims Mantel zerrte, fletschte die Zähne zu einem argen Lächeln. Auf ihren Wangen leuchteten rote Flecke auf, ihre Ohren färbten sich tief, ihre Hände zitterten. Nie hatte Klim sie so böse gesehen.

Er sah sich in der demütigen Lage eines Menschen, der nicht mitzählt. Einige Male war er im Begriff, aufzustehen und sich zu entfernen, blieb aber doch und hörte verwundert Lida zu. Sie liebte Bücher nicht. Woher wußte sie, wovon sie sprach? Sie war überhaupt nicht gesprächig und ging Diskussionen aus dem Wege. Einzig mit der üppigen Schönheit Alina Telepnew und vielleicht noch mit Ljuba Somow unterhielt sie sich ganze Stunden, indem sie ihnen leise und mit Ekel im Gesicht etwas sehr Geheimnisvolles mitteilte. Für die Gymnasiasten empfand sie gleichfalls Widerwillen und suchte es nicht zu verheimlichen. Klim hatte den Eindruck, daß sie sich mindestens zehn Jahre älter als ihre Alterskameraden fühlte. Mit Makarow jedoch, der, nach Klims Ansicht, unverschämt gegen sie war, stritt sie nun mit einer Erbitterung, die nicht weit von Jähzorn entfernt war, so wie man mit einem Menschen streitet, den niederzuringen und zu demütigen Ehrensache ist.

»Es ist Zeit, nach Hause zu gehen«, sagte er ärgerlich, um sich bemerkbar zu machen.

Lida erhob sich sogleich, wobei sie sich kriegerisch aufrichtete.

»Sie spielen sehr schlecht den Originellen, Makarow«, sagte sie schnell, doch offenbar milder.

Makarow stand auf, verbeugte sich und führte die Hand mit der Mütze zur Seite, wie das miserable Schauspieler machen, wenn sie französische Marquis spielen.

Das Mädchen erwiderte mit einem Runzeln ihrer Augenbrauen und entfernte sich rasch an Klims Arm.

»Warum bist du so wütend geworden?« fragte er. Sie steckte ihr Haar, das über die Ohren geglitten war, zurück und sagte empört:

»Nicht leiden kann ich diese ... diese Nihilisten. Er posiert ... raucht... Die Haare sind buntscheckig und die Nase krumm. Er soll ein recht schmutziger Bengel sein.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, vermerkte sie jedoch sogleich auch die Tugenden des von ihr Verurteilten.

»Schlittschuh läuft er wundervoll.«

Nach dieser Szene empfand Klim etwas wie Hochachtung vor diesem Mädchen, vor ihrem Verstand, der sich ihm so unerwartet erschlossen hatte. Diese Empfindung wurde noch gesteigert durch die Ausfälle von Mißtrauen und die Achtlosigkeit, womit Lida ihm zuhörte. Manchmal besorgte er, Lida könne ihm auf irgendeine Weise hereinlegen, ihn entlarven. Schon längst hatte er bemerkt, daß Gleichaltrige ihm gefährlicher waren als Erwachsene. Sie waren schlauer und mißtrauischer, während der Dünkel der Erwachsenen unbegreiflicherweise mit Arglosigkeit verbunden war.

Doch wenn er Lida gelegentlich auch fürchtete, empfand er doch keine Abneigung gegen sie, im Gegenteil, das Mädchen flößte ihm den Wunsch ein, ihr zu gefallen, ihr Mißtrauen zu besiegen. Er wußte, verliebt war er nicht in sie, in dieser Hinsicht machte er sich nichts vor. Er kannte noch nicht das Verlangen, jungen Mädchen den Hof zu machen, und die Regungen des Geschlechts bedrängten ihn nicht allzu heftig. Die üblichen zahlreichen Liebesaffären der Gymnasiasten mit den Gymnasiastinnen nötigten ihm nur ein mitleidiges Lächeln ab. Für sich hielt er solche Liebesromane für unmöglich, da er überzeugt war, ein Jüngling, der eine Brille trug und ernste Bücher las, müsse in der Rolle des Verliebten lächerlich sein. Er hörte sogar auf zu tanzen, da er fand, daß Tanzen unter seiner Würde sei. In Gesellschaft der jungen Mädchen, die er kannte, befleißigte er sich eines trocknen Wesens, kühler Höflichkeit, die er sich von Igor Turobojew angeeignet hatte, und als Alina Telepnew mit Begeisterung erzählte, wie Ljuba Somow und der Telegraphist Inokow sich auf der Eisbahn geküßt hatten, schwieg Klim aufgeblasen, nur, damit man ihn nicht der Neugier für verliebte Albernheiten verdächtigen konnte. Um so grausamer fühlte er sich getroffen, als er eines Tages entdeckte, daß er verliebt war.

Es begann damit, daß Klim Samgin, der sich zur Schule verspätet hatte, rasch durch das Schneegestöber eines Februarsturms hindurchschritt und plötzlich, dicht vor dem gelben Gebäude des Gymnasiums, auf Dronow stieß. Iwan stand auf dem Trottoir, in der einen Hand hielt er den Riemen seiner Schultasche, die er über die Schultern geworfen hatte, die andere, mit der Mütze, hing ihm am Körper herab.

»Man hat mich von der Schule gejagt«, stammelte er. Auf seinem Kopf und in seinem Gesicht schmolz Schnee, die ganze Haut seines Gesichts von der Stirn bis ans Kinn schien Tränen auszuscheiden.

»Wofür?« fragte Klim.

»Kanaillen.«

Klim riet ihm: »Setz die Mütze auf.«

Iwan hob langsam den Arm, als wäre die Mütze aus Eisen. Der Schnee war in sie hineingerieselt, und so, wie sie war, voll Schnee stülpte er sie sich auf den Kopf, um sie einen Augenblick später wieder abzunehmen und auszuschütteln. Während er sich mit Klim entfernte, redete er abgebrochen:

»Das ist Rziga ... und der Pfaffe. Ich übe einen schädlichen Einfluß aus, behaupten sie ... und überhaupt, sagt er, du, Dronow, bist eine zufällige und unerwünschte Erscheinung im Gymnasium. Sechs Jahre haben sie mir Wissen verabfolgt und nun... Tomilin behauptet, daß alle Menschen auf der Welt eine zufällige Erscheinung sind...«

Klim schlenderte Schulter an Schulter mit Dronow heimwärts. Er folgte aufmerksam seinen Worten, ohne sich zu wundern, ohne ihn zu bedauern, während Dronow immerfort stammelte und die Worte gleichsam aus sich herauskratzte.

»Den Kopf haben sie mir abgeschlagen, die Kanaillen! Schädlicher Einfluß! Sehr einfach, der Rziga hat mich dabei ertappt, wie ich mich mit Margarita geküßt hab.«

»Mit ihr?« fragte Klim. Er verlangsamte den Schritt.

»Na ja doch, und er, Rziga, selbst...«

Doch Klim hörte nicht mehr zu. Jetzt war er sowohl unangenehm wie feindselig erstaunt. Er erinnerte sich Margaritas, der Näherin mit dem runden, blassen Gesicht und den dunklen Schatten unter den tiefliegenden Augen. Diese Augen waren von unbestimmter gelblicher Farbe, ihr Blick schläfrig, müde. Sie mußte schon bald dreißig sein. Sie nähte und besserte die Wäsche der Mutter, Warawkas sowie seine aus. Sie »kam ins Haus«. Es war verletzend, zu erfahren, daß ihn Dronow selbst in bezug auf diese Frau überflügelt hatte.

»Und sie?« fragte er und blieb stehen, unschlüssig, was er sonst noch sagen sollte.

»Daß sie mir nur kein ›Wolfsbillett‹Zeugnis, das die Aufnahme des Relegierten in ein anderes Gymnasium unmöglich machte. D. Ü. ausstellen«, knurrte Dronow. »Erlaubt sie dir denn ...?«

»Wer?«

»Margarita.«

Dronow zuckte heftig mit der Schulter, als stoße er jemand beiseite und sagte:

»Welches Weib erlaubt es denn nicht?«

»Und bist du schon lange mit ihr zusammen?« verhörte ihn Klim.

»Ach, laß mich in Ruhe«, schnitt Dronow ab, bog unvermittelt um die Ecke und verschwand sofort im weißen Brei des Schnees.

Klim ging nach Hause. Er konnte nicht glauben, daß diese züchtige Näherin einen Dronow gern küssen sollte, wahrscheinlicher war, daß er sie gewaltsam geküßt hatte. Und gierig natürlich. Klim schauderte geradezu, als er sich vorstellte, wie Dronow beim Küssen schmatzte und mit der Zunge schnalzte.

Während er ablegte, hörte er, wie die Mutter im Salon ein neues Musikstück einübte.

»Warum so früh?« fragte sie. Klim erzählte die Sache mit Dronow und fügte hinzu:

»Ich bin nicht zur Schule gegangen. Dort herrscht wahrscheinlich große Erregung. Iwan war ein glänzender Schüler. Er hat vielen geholfen und besitzt eine Menge Freunde.«

»Das ist vernünftig von dir«, lobte die Mutter. In ihrer neuen blauen Matinee sah sie heute besonders jung und bezwingend schön aus. Sie nagte an ihren Lippen, warf einen Blick in den Spiegel und lud ihren Sohn ein:

»Bleib ein wenig bei mir.«

Und während sie mit leichtem, schwebendem Schritt im Zimmer auf und ab ging, begann sie gedämpft:

»Rziga hat mich davon benachrichtigt, daß man Iwan streng bestrafen würde. Er hat verbotene Bücher und unanständige Photographien in die Klasse geschmuggelt. Ich sagte Rziga, in den Büchern stünde gewiß nichts Gefährliches, das sei wohl nur Prahlerei von Dronow.«

Klim brachte solide sein Sprüchlein an:

»Ja, Prahlerei oder jener bei Kindern und Jugendlichen verbreitete Hang zu Pistolen ...«

»Sehr treffend«, belobte lächelnd die Mutter. »Aber schädliche Bücher zusammen mit unanständigen Bildern, – das spricht schon von einer verdorbenen Natur. Rziga sagt sehr wahr, die Schule sei eine Anstalt, bestimmt, eine Auslese von Menschen zu treffen, die fähig sind, so oder anders das Leben zu bereichern und zu verschönen. Nun wohl, womit könnte ein Dronow das Leben verschönen?«

Klim lächelte spöttisch.

»Es ist doch ein wenig eigentümlich, daß Dronow und dieser verwilderte, schwachköpfige Makarow deine Freunde sind. Du bist ihnen so unähnlich. Du sollst wissen, daß ich auf deine Vernunft vertraue und nicht etwa für dich fürchte. Mir scheint nur, dich zieht ihre Genialität an. Aber ich bin überzeugt, diese Genialität ist nichts als Frechheit und Geriebenheit.«

Klim nickte zustimmend. Ihm gefielen die Worte der Mutter sehr. Er erkannte an, daß Makarow, Dronow und einige andere Gymnasiasten in Worten gescheiter waren als er, war aber überzeugt, klüger zu sein, nicht in dem, was er sagte, sondern irgendwie anders, solider, innerlicher.

»Natürlich, auch Pfiffigkeit ist eine Tugend, aber von zweifelhafter Art, häufig wird sie, milde gesprochen, zur Unredlichkeit«, fuhr die Mutter fort, Klim behagten ihre Worte immer mehr. Er stand auf, umschlang innig ihre Taille, ließ aber sogleich wieder los: er hatte plötzlich, zum erstenmal, in seiner Mutter die Frau gefühlt. Dies verwirrte ihn so, daß er die zärtlichen Worte, die er ihr sagen wollte, vergaß und sogar eine Bewegung von ihr weg machte, aber die Mutter legte selbst ihren Arm auf seine Schulter, zog ihn an sich und sagte etwas über den Vater, über Warawka und die Motive für ihren Bruch mit dem Vater.

»Ich hätte dir das alles schon längst sagen müssen«, vernahm er, »aber ich wiederhole, da ich weiß, wie aufgeweckt und nachdenklich du bist, hielt ich es für überflüssig.«

Klim küßte ihr die Hand.

»Gewiß, Mama, es ist unnötig, davon zu sprechen. Du weißt, ich verehre Timofej Stepanowitsch sehr.«

Er empfand eine Erregung, die ihm neu war. Vor dem Fenster gischtete lautlos dichte weiße Trübe. Im milden, farblosen Dämmerlicht des Zimmers schienen alle Gegenstände gleichsam in tiefstes Sinnen versunken und verblaßt. Warawka liebte Gemälde, Porzellan. Nach des Vaters Fortgang hatte alles im Hause sich bis zur Unkenntlichkeit verändert, war behaglicher, schöner und wärmer geworden. Die schlanke Frau mit dem mageren stolzen Gesicht war dem Jüngling nie so innig nahe gerückt wie in diesem Augenblick. Sie sprach zu Klim wie zu einem Gleichgestellten, bestechend freundschaftlich, und ihre Stimme klang ungewöhnlich weich und klar.

»Mich beunruhigt Lida«, sagte sie, während sie mit ihrem Sohn in gleichem Schritt auf und ab wandelte, »dieses Mädchen ist anormal und von ihrer Mutter her erblich schwer belastet. Erinnere dich an die Geschichte mit Turobojew. Natürlich, es war eine Kinderei, aber... Und zwischen ihr und mir besteht auch nicht ein solches Verhältnis, wie ich es wünschte.«

Sie blickte ihrem Sohn in die Augen und fragte lächelnd:

»Du bist doch nicht in sie verliebt? Ein wenig, wie?«

»Nein«, antwortete Klim fest.

Nachdem sie in mißbilligendem Ton noch einiges über Lida gesprochen hatte, fragte sie, vor dem Spiegel stehen bleibend:

»Du kommst gewiß mit deinem Taschengeld nicht aus?«

»Ich habe reichlich.«

»Du Lieber«, sagte die Mutter, umarmte ihn und küßte ihn auf die Stirn. »In deinem Alter braucht man sich gewisser Wünsche nicht mehr zu schämen.«

Da verstand Klim den Sinn ihrer Frage nach dem Geld, errötete tief und wußte nicht, was er ihr erwidern sollte.

Am Nachmittag suchte er Dronow im Zwischenstock auf. Dort stand an den Ofen gelehnt bereits Makarow, blies Rauchwolken gegen die Decke und glättete mit dem Finger den dunklen Schatten auf seiner Lippe, während Dronow mit untergezogenen Füßen, in der Stellung eines Schneiders auf dem Bett hockte und weinerlich jemand drohte:

»Ihr lügt! Ich komme doch noch auf die Universität!«

Gleich hinter Klim öffnete die Tür sich noch einmal. Auf der Schwelle erschien Lida. Sie blinzelte und fragte:

»Hier werden wohl Fische geräuchert?«

Dronow rief grob:

»Tür zu! Es ist nicht Sommer!«

Makarow verbeugte sich schweigend vor dem Mädchen und zündete sich am Zigarettenstummel eine neue an.

»Was für ein schlechter Tabak«, sagte Lida. Sie ging zum vom Schnee verklebten Fenster, blieb dort, allen das Profil zuwendend, stehen und begann Dronow auszufragen, weshalb man ihn davongejagt habe. Dronow stand ihr widerwillig und wütend Rede und Antwort. Makarow bewegte seine Brauen, zwinkerte und fixierte durch den Rauchschleier die kleine dunkelbraune Figur des Mädchens.

»Warum gibst du dumme Bücher zum Lesen weiter, Iwan?« sagte Lida. »Du hast Ljuba Somow »Was tun«Programmatischer Roman eines Begründers der Volkstümler-Bewegung, N. G Tschernysehewskis. D. Ü. geliehen. Aber das ist doch ein ganz dummer Roman. Ich habe versucht, ihn zu lesen, und es wieder aufgegeben. Er ist nicht zwei Seiten von Turgeniews ›Erste Liebe‹ wert.«

»Junge Mädchen lieben das Süßsäuerliche«, sagte Makarow und, selbst verlegen über seinen ungeschickten Ausfall, begann er heftig die Asche von seiner Zigarette abzublasen. Lida würdigte ihn keiner Antwort. In dem, was sie gesagt hatte, hörte Klim den Wunsch, jemand zu verwunden, und fühlte auf einmal sich selbst getroffen, als sie schnippisch erklärte:

»Ein Mann, der eine Frau einem anderen abtritt, ist natürlich ein Waschlappen.«

Klim rückte seine Brille zurecht und bemerkte lehrhaft:

»Indessen, wenn man die Geschichte der Beziehungen Herzens ins Auge faßt ...«

»Des Schönredners ›Vom anderen Ufer‹?« fragte Lida. Makarow lachte, drückte die Zigarette an einer Ofenkachel aus und schleuderte das Mundstück zur Tür.

»Weshalb belustigt Sie das?« fragte herausfordernd das junge Mädchen. Einige Minuten später wiederholte sich die Szene im Stadtpark. Doch heute spielten sowohl Makarow als auch Lida sie in schroffem Ton.

Klim, der ihrem Streit angestrengt folgte, hörte, daß sie sich zwar bekannte Worte zuschrien, daß aber der Zusammenhang dieser Worte unfaßbar war, und ihr Sinn von jedem der Streitenden auf seine Weise entstellt wurde. Es gab im Grunde gar nichts zu streiten, doch sie stritten erbittert, rot, mit fuchtelnden Händen. Klim erwartete, daß sie sich im nächsten Augenblick beschimpfen würden. Die raschen, harten Bewegungen Makarows erinnerten Klim fatal an das krampfhafte Zappeln der Hände des ertrinkenden Boris Warawka. Lidas großäugiges Gesicht verwandelte sich in jenes neue, fremde Antlitz, das dunkle Unruhe erregte.

»Nein, sie sind nicht verliebt«, überlegte Samgin, »Sie sind nicht verliebt, das ist klar.«

Dronow verfolgte vom Bett aus die Streitenden mit irren Augen. Er wiegte sich leise. Sein flaches Gesicht verzog sich von Zeit zu Zeit zu einem mitleidigen Lächeln.

Plötzlich riß Lida sich von ihrem Platz los und ging hinaus, wobei sie die Tür heftig zuschlug. Makarow wischte sich die schweißnasse Stirn und sagte blasiert:

»Wütend ist die.«

Er brannte sich eine Zigarette an und fügte hinzu:

»Aber gescheit. Na, auf Wiedersehen.«

Dronow grinste ihm nach und streckte sich auf dem Bett lang aus.

»Die zieren sich. Verstellen sich«, begann er leise hinter bedeckten Augen. Dann fragte er Klim, der am Tisch saß, in grobem Ton:

»Hast du Lida gehört? Sie hat dreist erklärt, in der Liebe gibt es kein Mitleid. Was? Die wird vielen den Hals umdrehen.«

Dronows roher Ton empörte Klim nicht, seitdem Makarow einmal gesagt hatte:

»Wanjka ist im Grunde eine ehrliche Haut. Er ist nur darum so roh, weil er nicht wagt, anders zu reden, aus Furcht, sich lächerlich zu machen. Die Roheit ist bei ihm ein Abzeichen seines Handwerks, wie beim Feuerwehrmann der alberne Helm.«

Dronow horchte auf das Heulen der Windsbraut im Ofenrohr und fuhr mit der gleichen, tristen Stimme fort:

»Ich bin mit einem Telegraphisten bekannt. Er bringt mir das Schachspielen bei. Er spielt blendend. Er ist noch nicht alt, vielleicht vierzig, aber schon kahl wie der Ofen dort. Der hat mir über die Weiber gesagt: »Aus Höflichkeit sagt man Weib. Wenn man ehrlich sein will, muß man Sklavin sagen. Das Gesetz der Natur hat sie zum Gebären bestimmt, sie zieht aber das Huren vor.«

Plötzlich fuhr er wie von einer Tarantel gestochen hoch und sagte, mit der Faust gegen die Wand trommelnd:

»Ihr lügt, Teufel! Ich komme doch auf die Universität. Tomilin hat mir seine Hilfe zugesagt.«

Klim, der geduldig mitangehört hatte, wie Dronow Rziga und die anderen Lehrer beschimpfte, fragte lässig:

»Wie steht es jetzt zwischen dir und Margarita?«

»Was steht?« fragte Dronow erst nach einer Weile zurück.

»Nun dieses – ist es Liebe?«

»Liebe«, wiederholte Dronow nachdenklich und senkte den Kopf. »Es ist so gewesen: erst küßten wir uns, und dann geschah das übrige. Es ist nicht der Rede wert, mein Lieber.«

Wieder begann er mit dem Gymnasium. Klim hörte ihm noch einige Zeit zu und ging dann weg, ohne erfahren zu haben, was er gern wissen wollte.

Er fühlte sich wie festgeleimt und gefesselt an die Gedanken an Lida und Makarow, Warawka und die Mutter, Dronow und die Näherin. Doch ihm schien, diese lästigen Gedanken lebten nicht in ihm, sondern irgendwo draußen und würden nur durch Neugier herbeigerufen. Es lag etwas unversöhnlich Kränkendes in dem Umstand, daß es Beziehungen und Stimmungen gab, die er nicht begreifen konnte. Das Grübeln über die Frauen wurde ihm zur wichtigsten Beschäftigung, in ihm vereinigte sich alles Wirkliche und Bedeutungsvolle, alles übrige wich zur Seite, wurde zu einer seltsamen Erscheinung zwischen Traum und Wachen.

Wachtraum schien auch alles, was das geräuschvolle Leben im Flügel ausmachte. Dort war ein langhaariger Mensch mit einem feinen, blassen und unbeweglichen Gesicht aufgetaucht. Er ähnelte in nichts einem Bauern, trug aber nach Bauernart einen grauen hausgewebten Rock, schwere Filzstiefel, ein vertragenes blaues Hemd und ebensolche Hosen. Bald schwenkte er seine feinen Hände, bald drückte er sie an die eingefallene Brust und hielt dabei den Kopf so seltsam, als habe man ihn früher einmal heftig gegen das Kinn gestoßen, so daß sein Kopf nach hinten geschleudert wurde, und er ihn seit der Zeit nicht mehr senken könne, sondern immerfort nach oben blicken müsse. Er drang in die Menschen, sich vom lasterhaften Stadtleben loszusagen, aufs Land zu gehen und die Scholle zu ackern.

»Das ist alt«, wehrte der Mensch, der einer Amme glich, ab. Der Schriftsteller tat das gleiche:

»Wir haben's versucht – und uns dabei verbrannt.«

Der als Bauer vermummte Mensch sprach im Ton des Priesters auf der Kanzel:

»Ihr Blinden! Voll Eigennutz seid ihr hingegangen, mit der Predigt des Bösen und der Gewalt. Ich aber rufe euch auf zum Werk der Liebe und des Heils. Mit den geheiligten Worten meines Lehrers sage ich euch: Werdet einfältig, werdet wie die Kinder, werfet ab alle hoffärtige Lüge, die ihr erdacht habt und die euch verblendet!«

Aus der Ofenecke ertönte Tomilins Stimme:

»Ihr wollt, die Juweliere sollen Pflugscharen schmieden. Wird aber eine solche Rückkehr zur Einfachheit nicht gleichbedeutend mit Verwilderung sein?«

Klim bemerkte, daß der Lehrer lauter geworden war, und seine Worte überzeugter und schroffer klangen. Sein Haar wuchs ihm immer wilder übers Gesicht, er wurde offensichtlich immer ärmer, seine Jacke war an den Ellenbogen so sehr durchgescheuert, daß Löcher eingerissen waren. In den Hosenboden war ein dunkelgraues Dreieck eingesetzt. Die Nase spitzte sich zu. Das Gesicht hatte einen hungrigen Ausdruck bekommen. Oft schüttelte er schief lächelnd den Kopf, die roten Haare fielen ihm über die Wangen und mischten sich mit dem Bart. Geduldig warf er sie mit beiden Händen immer wieder hinter die Ohren zurück. Gelassener als alle, trat er dem als Bauer verkleideten Mann, sowie einem anderen kahlen, rotgesichtigen entgegen, der behauptete, nur Käsesieden und Bienenzucht könne das Volk retten.

Klim bedrückte das Übermaß von Widerspruch und Eigensinn, womit jeder dieser Menschen seine Wahrheit verteidigte. Der Mann im Bauernkostüm sprach streng und mit apostolischer Inbrunst von Tolstoi und den beiden Gestalten des Christus – der kirchlichen und der volkstümlichen –, von Europa, das an übergroßer Empfindsamkeit und geistiger Armut zugrunde gehe, von den Verirrungen der Wissenschaft. Die Wissenschaft verachtete er vor allem.

»In ihr bergen sich alle Quellen unserer Irrtümer, in ihr wohnt das Gift, das unsere Seelen zerrüttet.«

Ein wirbelhaariges Männchen mit einem Kneifer hüpfte erregt vom Sofa, aus dessen zerfetztem Bezug die Bastfüllung zottige Bärte heraussteckte, auf, und brüllte mit einem Baß, der alle Stimmen übertönte:

»Barbarei!«

»Sehr richtig«, bekräftigte der Schriftsteller. Tomilin erkundigte sich neugierig:

»Glauben Sie im Ernst, daß die Rückkehr zur Weltanschauung der chaldäischen Hirten für uns möglich und heilsam sei?«

»Das Handwerk! Die Schweiz, – da haben Sie es!« versicherte der Kahle mit heiserer Stimme der Gattin des Schriftstellers. »Viehzucht. – Käse, Butter, Leder, Honig, Holz und weg mit der Fabrik!«

Das Chaos der Ausrufe und Reden wurde dauernd übertönt vom machtvollen Baß des Mannes mit dem Kneifer. Er war ebenfalls Schriftsteller und verfaßte populärwissenschaftliche Broschüren. Er war sehr klein. Daher schien sein enormer, von widerspenstigen dunklen Haaren bedeckter Kopf auf den schmalen Schultern wie angesetzt, sein von den Haaren bedrängtes Gesicht nur eben angedeutet und seine ganze Gestalt unfertig. Aber sein sehr tiefer Baß besaß eine unerhörte Gewalt und erstickte mühelos alle Schreie wie Wasser die Kohlenglut. Er stürzte in die Mitte des Zimmers vor, schwankte wie ein Betrunkener, beschrieb mit den Händen in der Luft Kreise und Ellipsen und sprach über den Affen, den prähistorischen Menschen und den Mechanismus des Weltalls so überzeugt, als habe er eigenhändig das Universum erschaffen, die Milchstraße hingestreut, die Sternbilder aufgehängt, die Sonne angezündet und die Planeten in Bewegung gebracht. Alle hörten ihm aufmerksam zu. Dronow riß gierig den Mund auf und starrte, ohne zu blinzeln, so angestrengt in das Gesicht des Redners, als erwarte er aus seinem Munde die Wahrheit, die alle Zweifel löste.

Die Züge des Mannes im Bauernkostüm blieben unbewegt, ja sie versteinerten noch mehr. Sobald er die ganze Rede angehört hatte, begann er im Diskant wie von der Kanzel herab:

»Wenngleich die Astronomen seit jeher berühmt sind wegen ihrer Entdeckungen über die Geheimnisse des Himmels, flößen sie doch nur Schrecken ein, da sie verschweigen, daß sie das Dasein des Geistes, der alles Lebendige erschaffen hat, leugnen.«

»Nicht alle leugnen ihn«, berichtigte Tomilin, »nehmen Sie nur Flammarion.«

Doch ohne seinen Einwand zu beachten, fuhr der Tolstoianer fort, schwelgerisch, wie Klim fand, ein grauenvolles Bild zu malen: grenzenlose, schweigende Finsternis, in der die zitternden, goldnen Würmer der Milchstraße sich krümmen und Welten entstehen und verschwinden:

»Und inmitten dieser unendlichen Vielzahl der Sterne, verloren in unbesiegbares Dunkel, irrt unsere winzige Erde, die Behausung der Kümmernisse und Leiden. Nun bitte, stellt euch dies vor und die Schrecken eurer Einsamkeit auf ihr, die Schrecken eurer Nichtigkeit in der schwarzen Leere, inmitten der zornig flammenden Sonnen, die zum Erkalten verurteilt sind ...«

Klim hörte sich diese Schrecken kaltblütig genug an. Nur dann und wann rieselte ihm ein unangenehmer Schauer den Rücken hinab. Die Art, wie man sprach, fesselte ihn mehr als das, was man sprach. Er sah, daß der großköpfige, unfertige Schriftsteller mit Entzücken vom Mechanismus des Weltalls redete, daß aber auch der als Bauer vermummte Mensch mit Wonne die Schrecken der Einsamkeit des Erdballs im Weltenraum ausmalte.

Auf Dronow wirkten diese Reden ungemein stark. Er krümmte den Rücken, blickte sich um und flüsterte bald Klim, bald Makarow zu:

»Wer, glaubst du, hat recht?«

Fieberhaft kratzte er sich mit dem Fingernagel die linke Augenbraue und knurrte:

»Zum Teufel nochmal, studieren muß man. Mit den Bettelpfennigen des Gymnasiums kommt man nicht weit.«

Auch Makarow befriedigten die hitzigen Wortgefechte bei Katin nicht.

»Sie wissen viel und verstehen es anzubringen, und das alles ist auch wichtig, aber es leuchtet nur und wärmt nicht. Und ist nicht die Hauptsache.«

Dronow fragte schnell:

»Was ist denn die Hauptsache?«

»Du fragst dumm, Iwan«, antwortete Makarow voll Ärger. »Wüßte ich es, wäre ich der Weiseste der Weisen.«

Spät nachts, nach der langen Redeschlacht, begleiteten sie zu dritt Tomilin. Dronow hielt ihm seine Frage entgegen:

»Wer hat recht?«

Tomilin schritt langsam aus und blickte mit seinen porzellanen Augen in die Sterne. Widerwillig begann er:

»Diese Frage ist nicht am Platz, Iwan. Es handelt sich um den unvermeidlichen Zusammenprall zweier Gewohnheiten, über die Welt nachzudenken. Diese Gewohnheiten begleiten uns von Urzeit her. Sie sind unversöhnbar und werden immer die Menschen in Idealisten und Materialisten scheiden. Wer recht hat? Der Materialismus ist einfacher, praktischer und zuversichtlicher. Der Idealismus ist schön, aber unfruchtbar. Er ist aristokratisch, stellt höhere Ansprüche an den Menschen. Alle Systeme der Welterklärung enthalten, mehr oder weniger kunstvoll verborgen, Elemente des Pessimismus. Im Idealismus gibt es davon mehr als in dem ihm entgegengesetzten System.«

Nach einigem Schweigen verlangsamte er noch mehr seinen trägen Schritt und sagte:

»Ich bin kein Materialist, aber auch kein Idealist. Alle diese Leute aber ...« Er deutete mit der Hand über seine Schulter hinweg. »Sie wissen wenig, darum sind sie Gläubige. Plump und ungeschickt wiederholen sie uralte Gedanken. Natürlich, jeder Gedanke hat seinen unstreitigen Wert. Richtig aufgefaßt, kann er, selbst wenn er falsch ausgesprochen wird, Erwecker einer Menge neuer Gedanken sein, wie ein Stern, der seine Strahlen nach allen Seiten verstreut. Aber der absolute, reine Wert eines Gedankens verschwindet mit dem Prozeß seiner praktischen Verwertung. Hüte, Schirme, Schlafmützen, Brillen und Klistiere, das sind die Dinge, zu denen der reine Gedanke kraft unserer Sehnsucht nach Ruhe, Ordnung und Gleichgewicht verarbeitet wird.«

Er blieb stehen und zeigte mit der Hand über seine Schulter hinweg:

»Byron schrieb zwar Gedichte, doch begegnet man nicht selten auch tiefen Gedanken bei ihm. Hier ist einer: ›Der Denkende ist weniger wirklich als sein Gedanke.‹ Die dort – wissen das nicht.«

Mürrisch, unwirsch schloß er:

»Der Mensch ist das denkende Organ der Natur, eine andere Bedeutung kommt ihm nicht zu. Durch den Menschen strebt die Natur zur Erkenntnis ihrer selbst. Darin liegt alles.«

Als sie Tomilin bis zu seiner Wohnung geleitet und sich von ihm verabschiedet hatten, sagte Dronow:

»Er fängt an, wichtig zu tun, als hätten sie ihn zum Erzpriester geweiht. Und an den Hosen sind Flicken.«

Alle diese Gedanken, Worte und Eindrücke drangen durch jenes Andere, Beherrschende in Klims Bewußtsein, Sein Gedächtnis, gleichsam bestrebt, sich von der unnützen Last eintöniger Bilder zu befreien, weckte sie hartnäckig zum Leben, als wäre es mit geheimnisvoller Kraft zu einem Busch herangewachsen, der Blüten trug, die zu schauen ein wenig beschämend, aber sehr interessant und sehr angenehm war. Ihn wunderte, wieviel er von jenen Dingen sah, die als unanständig und schamlos gelten. Er brauchte nur einen Augenblick die Augen zu schließen, und er sah die schlanken Beine Alina Telepnews, wenn sie beim Eislauf hinfiel, sah die nackten melonenförmigen Brüste des schläfrigen Dienstmädchens, die Mutter auf Warawkas Schoß und den Schriftsteller Katin, wie er die dicken Knie seiner halb entkleideten Frau küßte, die auf dem Tisch saß.

Die stumme, katzenhaft, sanfte Gattin des Schriftstellers goß an den Abenden ohne Pause den Tee in die Gläser. Sie war jedes Jahr schwanger. Früher hatte dies Klim abgestoßen, weil es ihm ein Gefühl des Abscheus erregte. Er teilte Lidas Ansicht, die brüsk bemerkte, schwangere Frauen hätten etwas Schmutziges. Doch nun, seit er ihre nackten Knie und ihr von Freude trunkenes Gesicht gesehen hatte, weckte diese Frau, die allen gleichmäßig freundlich zulächelte, in ihm eine Neugier, in der für Ekel kein Raum mehr war.

Selbst ihre fade Schwester, die um die Gäste bemüht war wie eine Magd, die sich etwas hat zuschulden kommen lassen und um jeden Preis die Zufriedenheit der Herrschaft erringen muß, – selbst dieses Mädchen, unscheinbar wie Tanja Kulikow, zog Klims Blicke durch ihren Busen, der eng in ein buntes Zitzjäckchen gepreßt war, an. Klim hörte, wie Katin sie anschrie:

»Bin ich schuld, daß die Natur junge Mädchen auf die Welt bringt, die nicht einmal Pilze marinieren können ...«

Damals kam Klim dieser Hahnenschrei nur lächerlich vor, doch jetzt erschien ihm das langnäsige Mädchen mit dem pickligen Gesicht ungerecht beleidigt und sympathisch und das nicht nur, weil stille, unscheinbare Menschen überhaupt sympathisch sind, da sie nach nichts fragen und nichts verlangen.

Eines Abends brachte Klim dem Schriftsteller das neue Heft einer Zeitschrift. Katin empfing ihn, einen zerknüllten Brief schwenkend, und rief freudig erregt:

»Wissen Sie auch, Jüngling, daß in zwei oder drei Wochen Ihr Onkel aus der Verbannung zurückkommt? So nach und nach sammeln sich die alten Adler wieder!«

An der Wand platzten mit krachendem Geräusch die Tapeten. Durch den Spalt der angelehnten Tür steckte die Schwägerin ihr erschrockenes Gesicht.

»Es fängt an!« sagte sie und verschwand sogleich wieder.

»Meine Frau kommt nieder, warten Sie, bei ihr geht das rasch!« murmelte hastig Katin, nahm eine billige Bronzelampe vom Tisch und verschwand durch die schmale Tapetentür. Klim blieb in der Gesellschaft eines halben Dutzends Wiener Stühle am Tisch, der mit Büchern und Zeitungen beladen war, zurück. Ein weiterer Tisch nahm die ganze Mitte des Zimmers ein, auf ihm ragte ein erloschener Samowar, stand ungewaschenes Geschirr und waren die Teile einer auseinandergenommenen doppelläufigen Flinte verstreut. An der Wand lehnte das schwarze Sofa mit den heraushängenden Bastfetzen, darüber hingen Bildnisse Tschernyschewskis und Nekrassows. In einem goldenen Rahmen saß mit übergeschlagenen Beinen der fette Herzen. Neben ihm das finstere Gesicht Saltykows. Aus all diesem wehte Klim eine trübselige Armut an, nicht jene Armut, die den Schriftsteller hinderte, pünktlich seine Miete zu bezahlen, sondern eine andere, unheilbare, ängstigende und zugleich ergreifende.

Zehn Minuten später sprang der Schriftsteller aus der Wand heraus, hockte sich auf die Tischkante und prahlte:

»Erstaunlich leicht gebärt sie, die Kinder aber – wollen nicht leben.«

Er beugte sich zu ihm herab, stützte die Arme auf den Tisch und sprach hastig mit leiser Stimme:

»Jakow Samgin ist einer jener Matrosen auf dem Schiff der russischen Geschichte, die seine Segel mit ihrer Energie aufblähen, um seinen Lauf zu den Gestaden der Freiheit und Gerechtigkeit zu beschleunigen.«

Nacheinander titulierte er Jakow Samgin Steuermann, Schmied und Apostel, wiederholte aufgeregt: »Sie sammeln sich wieder, die Adler!« und verschwand hinter der Tür, von wo immer lauteres Stöhnen hereindrang. Klim entfernte sich eilig. Er befürchtete der Schriftsteller würde ihn über seine in der Zeitschrift veröffentlichte Erzählung ausfragen. Sie taugte nicht mehr als die übrigen Erzeugnisse Katins. In ihr gab es kindlich gutherzige Bauern, die, wie üblich, auf das Erscheinen der göttlichen Wahrheit warteten. Diese verhieß ihnen der Dorflehrer, ein redlich denkender Mensch, den zwei Bösewichte, der erbarmungslose Dorfreiche und der schlaue Pope, mit ihrem Haß verfolgten.

Zu Hause meldete Klim der Mutter, daß der Onkel zurückkehrte. Sie sah fragend Warawka an. Der beugte seinen Kopf über den Teller und sagte gleichgültig:

»Ja, ja, diese Leute, denen die Geschichte befohlen hat, abzutreten, kehren allmählich von »weiten Reisen« zurück. Bei mir im Kontor sind drei von ihnen beschäftigt. Ich muß gestehen, sie arbeiten gut.«

»Aber ...?« fragte die Mutter.

Warawka erwiderte:

»Darüber – später.«

Klim begriff, daß Warawka in seiner Gegenwart nicht sprechen wollte, fand das unfein und blickte fragend die Mutter an, aber er begegnete nicht ihren Augen. Sie sah zu, wie Warawka, müde, struppig und wütend, Stücke Schinken verschlang. Rziga kam, nach ihm der Rechtsanwalt. Beinahe bis Mitternacht spielten sie und die Mutter vortrefflich. Die Musik berauschte Klim, erfüllte ihn mit nie gespürter Ergriffenheit und stimmte ihn so lyrisch, daß er, als er seiner Mutter beim Abschied die Hand küßte, der Gewalt dieser neuen Regung nachgab und flüsterte:

»Meine Teure, meine Geliebte!«

Die Mutter umarmte ihn innig, streichelte schweigend seine Wange und küßte ihn mit ihren heißen Lippen auf die Stirn.

Sowie er im Bett war, bemächtigte sich seiner jenes Unbesiegbare, das sein Leben ausmachte. Er erinnerte sich eines Gesprächs mit Makarow, das er kürzlich gehabt hatte. Als Klim ihm von Dronows Liebesroman mit der Näherin erzählte, murmelte Makarow:

»So? Das Vieh.«

Er sagte diese drei Worte ohne Ärger und Neid, ohne Abscheu oder Verwunderung und so, daß das letzte überflüssig klang. Dann lachte er spöttisch und erzählte:

»Mein Zimmerwirt, ein Briefträger, lernt bei mir Geige, weil er seine Mama liebt und sie nicht durch eine Heirat betrüben möchte. »Eine Frau ist schließlich doch ein fremder Mensch«, sagt er. »Versteht sich, heiraten werde ich, aber erst nach Mamas Tode.« Jeden Sonnabend besucht er ein öffentliches Haus und danach ein Bad. Er spielt schon das fünfte Jahr, aber nichts wie Übungen, denn er schwört darauf, wenn er nicht vorher sämtliche Etüden durchgenommen habe, würde das Spielen von Stücken seinem Gehör und seiner Hand schaden.

Makarow verstummte und wurde finster.

»Was soll das?« fragte Klim.

»Ich weiß nicht«, antwortete Makarow. während er aufmerksam den Rauch seiner Zigarette verfolgte. »Es besteht hier ein Zusammenhang mit Wanjka Dronow. Wanjka lügt zwar todsicher, er hat bestimmt keinen Liebesroman gehabt, aber daß er mit unzüchtigen Photographien gehandelt hat, ist wahr.«

Er schüttelte heftig den Kopf und fuhr fort, leise und erbost:

»Eine blöde Stimmung. Alles ist unwichtig, außer dem Einen. Ich fühle mich nicht als Mensch, sondern nur als ein Organ des Menschen. Beschämend und widerlich ist das. Als schärfe irgend so ein Inspektor dir ein: »Du bist ein Hahn, mach, daß du zu den dir zugewiesenen Hennen kommst!« Und ich will die Henne und will sie auch nicht. Ich will Übungen spielen. Du, gescheiter Kopf, fühlst du etwas derartiges?«

»Nein«, log Klim in bestimmtem Ton.

Man schwieg eine Weile. Makarow saß zusammengekrümmt, mit übereinandergeschlagenen Beinen. Klim fixierte ihn interessiert und fragte:

»Was empfindest du denn für das Weib?«

»Die Furcht Gottes!« sagte finster Makarow, stand auf und griff nach seiner Mütze.

»Ich werde irgendwohin gehen.«

Als Klim sich dieser Szene erinnert hatte, dachte er mit Ärger an Tomilin. Dieser Mensch sollte etwas Beruhigendes wissen, etwas, das von Scham und Furcht befreite, und sollte es sagen. Schon mehrmals hatten Klim und Makarow, – jener behutsam, dieser ausfallend und drängend versucht, mit dem Lehrer ein Gespräch über die Frauen in Gang zu bringen, doch Tomilin war so eigentümlich taub für dieses Thema, daß er Makarow die verärgerte Bemerkung abnötigte:

»Er verstellt sich, der rothaarige Satan!«

»Vermutlich hat er sich verbrannt«, grinste Dronow, und dieses Grinsen, das Klim an die Szene im Garten denken ließ, weckte in ihm den Verdacht: »Wirklich, sollte er gesehen haben? Weiß er?«

Nur ein einziges Mal gab der Lehrer dem ausdauernden Drängen Makarows nach. Beiläufig und ohne die jungen Leute anzublicken, sagte er:

»Über die Frau muß man in Versen reden. Ohne Würze ist diese Speise ungenießbar, und – ich liebe Verse nicht.«

Die Augen zur Decke richtend, empfahl er:

»Lest Schopenhauers »Metaphysik der Liebe«, darin findet ihr alles, was ihr wissen müßt. Als ganz passable Illustration dazu mag euch die »Kreutzersonate« von Tolstoi dienen.«

Alle drei besuchten Tomilin immer seltener. Gewöhnlich trafen sie ihn hinter einem Buch an, er stemmte beim Lesen die Ellenbogen auf den Tisch und hielt sich mit den Händen die Ohren zu. Manchmal lag er mit eingezogenen Beinen auf dem Bett, hielt das Buch auf den Knien, und zwischen seinen Zähnen steckte ein Bleistift. Das Klopfen beachtete er zuweilen nicht, dann mußte man es drei- bis viermal wiederholen.

»Ich bin keine Frau«, pflegte er zu erklären, und hinzuzufügen: »Ich bin nicht nackt.«

Nach einigem Nachdenken ergänzte er noch: »Nicht verheiratet.«

Er durchmaß das Zimmer und lehrte:

»In der Welt der Ideen hat man diejenigen Subjekte zu unterscheiden, die suchen, und solche, die sich verstecken. Jene wollen um jeden Preis den Weg zur Wahrheit finden, wohin immer er führe und sei es auch in den Abgrund, ins Verderben. Die zweiten wollen nichts als sich verkriechen, als ihre Furcht vor dem Leben, ihre Ratlosigkeit vor seinen Geheimnissen in einer bequemen Idee verstecken. Der Tolstoianer ist eine lächerliche Type, aber er vermittelt eine überaus plastische Vorstellung von den Menschen, die sich verkriechen.«

Klim sah, daß Makarow in gebückter Haltung des Lehrers Füße beobachtete, als warte er darauf, daß er stolpere, warte ungeduldig, und daß er seine Fragen aufdringlich und laut stellte, als wolle er einen Eingeschlafenen aufwecken, aber keine Antwort erhielt.

Während er der ruhigen, nachdenklichen Stimme seines Lehrers lauschte, suchte Klim zu erraten, wie die Frau sein mußte, die einen Tomilin lieben konnte. Wahrscheinlich häßlich und unbedeutend wie Tanja Kulikow oder Katins Schwägerin, die alle Hoffnung auf Liebe verloren hatte. Doch diese Grübeleien hinderten Klim nicht, beißende Paradoxe und Aphorismen aufzufangen.

»Der Weg zum wahren Glauben geht durch die Wüste des Unglaubens«, vernahm er. »Glaube als bequeme Gewohnheit ist unendlich viel schädlicher als Zweifel. Denkbar ist sogar, dass der Glaube in seinen krassesten Erscheinungsformen eine psychische Krankheit ist: Gläubige sind Hysteriker und Fanatiker wie Savanarola oder der Protopop Awakum, im günstigsten Fall Schwachsinnige, wie der heilige Franziskus von Assisi.«

Von Zeit zu Zeit unterbrach Dronow ihn mit Fragen sozialen Charakters. Aber der Lehrer blieb ihm entweder die Antwort schuldig, oder er sprach widerwillig und verschwommen.

»Es ist falsch zu glauben, wenn die Menschen zu einer Organisation, zu einer Partei vereinigt seien, müsse ihre Energie wachsen. Das Gegenteil trifft zu: indem die Menschen ihre Wünsche, Hoffnungen und Pflichten auf den Führer abwälzen, drücken sie sowohl die Temperatur als auch das Wachstum ihrer persönlichen Energie herab. Die idealste Verkörperung der Energie ist Robinson Crusoe.«

Als erster wurde Makarow dieser Offenbarungen müde.

»Wir müssen gehen«, sagte er grob. Tomilin gab ihnen seine warme und feuchte Hand, lächelte und unterließ es, sie noch einmal einzuladen. Makarow begegnete Tomilin immer respektloser, und einmal, als man, von einem gemeinsamen Besuch bei ihm kommend, die Treppe hinabstieg, sagte er absichtlich laut:

»Der Rothaarige kommt mir vor wie eine Tarantel. Ich habe dieses Insekt nie gesehen, aber in der altertümlichen Naturgeschichte von Gorisontow heißt es: »Die Taranteln sind dadurch nützlich, dass sie in Öl gesotten, als bestes Heilmittel gegen ihre eigenen Bisse dienen!«

Diese Bosheit entlockte Dronow ein unangenehm rülpsendes Lachen.

In seine Erinnerungen verloren, hörte Klim plötzlich ein eiliges Rascheln im Salon, dann das tiefe Tönen von Saiten, als habe Rzigas Cello, ausgeruht, sich seines gestrigen Gesangs erinnert und versuche nun, ihn für sich zu wiederholen. Dieser Gedanke, der Klim fremdartig anmutete, verschwand gleich wieder, um der Angst vor dem Rätselhaften Platz zu machen. Er lauschte. Ganz klar: die Töne entstanden im Salon, nicht über ihm, wo Lida zuweilen noch spät nachts die Saiten des Flügels zu beunruhigen pflegte.

Klim zündete eine Kerze an, nahm eine Hantel in die rechte Hand und trat in den Salon. Er fühlte, dass seine Beine zitterten. Das Cello tönte jetzt lauter, das Rascheln wurde vernehmlicher. Augenblicklich erriet er, daß eine Maus im Instrument saß, legte es behutsam mit dem oberen Deckel auf den Fußboden und konnte sehen, wie eine junge Maus, winzig wie eine Küchenschabe, unter ihm hervorkugelte.

Durch die Dunkelheit des Zimmers der Mutter spannte sich ein vertikales und straffes Feuerband, das Licht aus dem Schlafzimmer.

»Sie schläft nicht. Ich werde ihr von dem Mäuschen erzählen.«

Doch als er sich der Tür genähert hatte, prallte er zurück: der Schein der Nachtlampe beleuchtete das Gesicht und den nackten Arm der Mutter, der den behaarten Nacken Warawkas umschlang. Sein struppiger Kopf schmiegte sich an die Schulter der Mutter. Sie lag auf dem Rücken. Ihr Mund stand offen. Sie mußte fest schlafen. Warawka schnarchte gaumig und schien aus irgendeinem Grunde kleiner, als er am Tage war. Dieses ganze Schauspiel hatte etwas Beschämendes, Verwirrendes und zugleich Rührendes.

Wieder in seinem Zimmer, legte Klim sich ins Bett, tief aufgewühlt. Vor seinem geistigen Blick schwebten, eine nach der anderen, die Gestalten der dicken, kleinen Ljuba Somow, der schönen Alina mit ihrer schnippisch aufgeworfenen Lippe, dem kühnen Blick ihrer blauen Augen und ihrer tiefen herrischen Stimme heran. Die Figur Lidas, vertrauter als die der anderen, verdunkelte ihre Freundinnen. Klim dachte an sie und verlor sich in einem sehr dunklen und verschwommenen Gefühl. Er wußte, daß Lida unschön, oft sogar unsympathisch war, und doch fühlte er sich unwiderstehlich zu ihr hingezogen. Sein nächtliches Grübeln über die jungen Mädchen wurde zum Reiz, erregte in seinem Körper eine beklemmende und beinahe schmerzhafte Spannung, und ließ Klim an das abschreckende Buch des Professors Tarnowski über die verderblichen Folgen der Onanie denken, ein Buch, das seine vorausschauende Mutter ihm längst unbemerkt zugesteckt hatte. Er sprang aus dem Bett, zündete die Lampe an und ergriff Melnikows Büchlein »Über die Liebe«. Das Buch war langweilig und handelte nicht von jener Liebe, die Klim aufwühlte. Draußen schüttelte der Wind die Bäume, ihr Rauschen weckte die Vorstellung vom Flug einer zahllosen Vogelschar, vom Rascheln der Mädchenröcke beim Tanz auf den Gymnasiastenbällen, die Rziga veranstaltete.

Klim schlief erst im Morgengrauen ein und erwachte spät, zerschlagen und unwohl. Es war Sonntag, schon läuteten die Glocken den Spätgottesdienst aus. Der Aprilregen klatschte ans Fenster, eintönig summte das Blech der Regentraufe. Klim dachte beleidigt:

»Muß ich wirklich das selbe durchmachen wie Makarow?«

An Makarow zu denken, ging nicht mehr an, ohne zugleich an Lida zu denken. In Lidas Gegenwart war Makarow erregt und sprach lauter, frecher und spöttischer als gewöhnlich. Aber seine scharfen Züge wurden weicher, seine Augen blitzten fröhlicher.

»Ist es wahr, daß man Makarow wegen Betrunkenheit aus dem Gymnasium entfernen will?« fragte Lida gleichgültig. Klim verstand, daß es eine gespielte Gleichgültigkeit war.

Die Tür öffnete sich zögernd. Das neue Dienstmädchen trat ins Zimmer, dick, dumm, mit gerümpfter Nase und farblosen Augen.

»Die Mama läßt fragen, ob Sie Kaffee wünschen. Weil bald gefrühstückt wird.«

Die weiße Schürze umspannte straff ihre Brust. Klim mußte daran denken, daß ihre Brüste wohl ebenso hart und rauh waren wie ihre Waden.

»Ich will nicht«, sagte er wütend.

Plötzlich fand er, daß Lidas Liebesroman mit Makarow dümmer sei als alle anderen Romane der Gymnasiasten mit den Gymnasiastinnen, und fragte sich:

»Vielleicht bin ich überhaupt nicht verliebt, sondern erliege nur allmählich der Atmosphäre allgemeiner Verliebtheit und bilde mir alles ein, was ich empfinde?«

Doch diese Überlegung, weit entfernt, ihn zu beruhigen, rief ihm nur das halbverrückte Geschwätz des angeheiterten Makarow in Erinnerung. Auf seinem Stuhl schaukelnd und sich abmühend, mit den Fingern die widerspenstigen, zweifarbigen Haarsträhnen zu kämmen, hatte er mit schwerer, betrunkener Zunge gesagt:

»Die Physiologie lehrt, daß nur neun von unseren Organen sich in progressiver Entwicklung befinden, und daß wir absterbende, rudimentäre besitzen – verstehst du? Vielleicht lügt die Physiologie, vielleicht aber haben wir tatsächlich absterbende Sinne. Jetzt stell dir vor, der Trieb zum Weibe sei so ein agonisierendes Gefühl. Daher ist es dann wohl so quälend, so ausdauernd, wie? Stell dir vor, der Mensch begehre nach Tomilins Theorie zu leben, he? Das Hirn, der Sitz des forschenden schöpferischen Verstandes, der Teufel hol ihn, beginnt schon, die Liebe als ein Vorurteil aufzufassen, nicht wahr? Und vielleicht sind Onanie und Homosexualität ihrem Wesen nach Bestrebungen, sich vom Weibe zu befreien? Wie denkst du?«

Diese Fragen richtete er an Klim, als sie ihn noch nicht ängstigten, und die betrunkenen Reden seines Kameraden flößten Klim damals nur Widerwillen ein. Doch jetzt erschien ihm das Wort »Befreiung vom Weibe« nicht gar so dumm, und es war beinahe wohltuend, sich zu vergegenwärtigen, daß Makarow immer mehr dem Trunk verfiel, wenngleich es den Anschein hatte, als würde er ruhiger und zuweilen so nachdenklich, daß man glauben konnte, er sei unversehens mit Blindheit und Taubheit geschlagen. Klim fiel auf, daß Makarow, wenn er sich eine Zigarette anzündete, das Streichholz nicht auslöschte, sondern es im Aschenbecher sorgsam zu Ende brennen ließ oder es solange zwischen seinen Fingern hielt, bis es heruntergebrannt war. Die stets aufs neue versengte Haut an seinen beiden Fingerspitzen war dunkel geworden und schwielig wie bei einem Schlosser.

Klim unterdrückte die Frage, weshalb er das tue. Er zog überhaupt vor, stillschweigend zu beobachten, ohne auf Erklärungen zu drängen, eingedenk der unglücklichen Versuche Dronows und Warawkas schlagenden Ausspruchs:

»Dumme fragen mehr als Wißbegierige.«

Neuerdings trug sich Makarow mit dem Buch eines anonymen Autors, »Triumphe des Weibes«. Er pries es so flammend und beredt, daß Klim sich das dicke Buch von ihm auslieh. Er las es aufmerksam durch, fand aber darin nichts der Begeisterung Würdiges. Der Verfasser schilderte in ledernem Stil die Liebe Ovids und Korinnas, Petrarcas und Lauras, Dantes und Beatrices, Bocaccios und der Fiametta. Das Buch war angefüllt mit prosaischen Übersetzungen der Elegien und Sonette. Lange und argwöhnisch grübelte Klim darüber nach, was in aller Welt seinen Kameraden daran so bezaubert haben konnte. Da er es nicht entdecken konnte, fragte er Makarow selbst.

»Du hast es nicht verstanden?« staunte der, schlug das Buch auf und las den ersten besten Satz aus dem Vorwort des Verfassers:

»›Der Sieg über den Idealismus war gleichzeitig der Sieg über das Weib.‹ Da hast du die Wahrheit. Die Höhe der Kultur wird durch das Verhältnis zur Frau bestimmt, verstehst du?«

Klim nickte zustimmend, tat einen Blick in Makarows scharfes Gesicht, in seine frechen Augen und begriff sogleich, daß Makarow die »Triumphe des Weibes« wegen der zynischen Geständnisse Ovids und Bocaccios, keineswegs aber wegen der Dantes und Petrarcas brauchte. Ohne Zweifel diente ihm das Buch lediglich dazu, Lida in eine geeignete Gemütsverfassung zu bringen.

»Wie einfach ist alles im Grunde«, dachte er mit einem scheelen Blick auf Makarow, der mit Wärme von Troubadours, Turnieren und Duellen sprach.

Im Eßzimmer fand Klim die Mutter, die erfolglos versuchte, ein Fenster zu öffnen. Mitten im Zimmer aber stand ein dürftig gekleideter Mann in schmutzigen, langen, bis an die Knie hinaufreichenden Stiefeln. Er hielt den Kopf weit zurückgeworfen, hatte den Mund geöffnet und schüttete ein weißes Pulver auf seine herausgestreckte, zu einem »Boot« gefaltete Zunge.

Klim trat zu seinem Onkel, machte eine Verbeugung und reichte ihm die Hand, ließ sie aber gleich wieder sinken. Jakow Samgin, ein Glas Wasser in der einen Hand, rollte mit den Fingern der anderen aus der Hülle des Pulvers ein Kügelchen, leckte sich die Lippen und sah in das Gesicht seines Neffen mit einem unnatürlich glänzenden Blick seiner grauen Augen, deren Lider entzündet waren. Nachdem er einen Schluck Wasser genommen hatte, stellte er das Glas hin, ließ das Papierkügelchen fallen und drückte sodann mit seiner dunklen, knochigen Hand die Hand des Neffen. Mit hohler Stimme fragte er:

»Das ist wohl der jüngere? Klim? Und Dmitri? Aha, Student? Naturwissenschaftler natürlich?«

»Sprich lauter, das Chinin macht mich allmählich taub«, verständigte Jakow Samgin Klim. Er setzte sich an den Tisch, schob das Service mit dem Ellenbogen zur Seite und zeichnete mit dem Finger einen Kreis aufs Tischtuch.

»Also einen geheimen Treffpunkt gibt es nicht? Zirkel sind nicht mehr da? Sonderbar. Was treibt man denn jetzt?«

Die Mutter zuckte die Achseln und zog die Augenbrauen in eine Linie zusammen. Ohne ihre Antwort abzuwarten, sagte Samgin zu Klim:

»Du staunst? Hast solche noch nicht gesehen? Ich, mein Lieber, habe zwanzig Jahre in Taschkent, im Gebiet von Semipalatinsk zugebracht, unter Menschen, die man gut und gern Wilde nennen kann. Ja. Als ich in deinen Jahren war, nannte man mich ›L'homme qui rit‹.«

Klim bemerkte, daß sein Onkel L'homme wie »Ljom« aussprach.

»Hab Gräben ausgehoben. Bewässerungskanäle. Dort wütet das Fieber, Freund.«

Der Onkel musterte das Eßzimmer und rieb sich fest die Backe ab.

»Hm, Iwan ist reich geworden. Was macht er? Sein Geschäft geht?«

Er sandte noch einmal seinen tastenden Blick durch das Zimmer und entfärbte es in Klims Augen.

»Wie ein Bahnhofsbüfett.«

Er brachte ins Eßzimmer den Geruch dumpfigen Leders und noch einen anderen, ebenso schweren. Von seinen knochigen Schultern hing eine weite, eisengraue, vorn aufgeknöpfte Jacke herab, darunter wurde ein graues Hemd von grobem Leinen sichtbar. Um den runzligen Hals, unterhalb des spitzen Adamsapfels, schlang sich, zu einer Schnur zusammengedreht, ein seidenes Tuch, alt und rissig in den Falten. Das erdfarbene Gesicht, die greisen, spärlichen Nadeln des gestutzten Schnurrbarts, der kahle, verräucherte Schädel mit den Überresten krausen Haars im Nacken, hinter den dunklen, ledernen Ohren, – das alles machte ihn einem alten Soldaten oder einem ausgestoßenen Mönch ähnlich. Doch seine Zähne blitzten weiß und jung, und der Blick seiner grauen Augen war klar. Dieser ein wenig zerstreute, doch tiefsinnige Blick unter buschigen Brauen und tiefen Stirnfalten hervor schien einem Halbverrückten zu gehören. Der ganze Onkel hatte etwas beklemmend Fremdes. Die Möbel büßten unter seiner Gegenwart ihr solides Aussehen ein, die Bilder verblaßten, vieles andere wurde schwer, überflüssig, beengend. Des Onkels Fragen klangen wir die Fragen eines Examinators, die Mutter war erregt, antwortete trocken, kurz und schuldbewußt.

»Nun, und was für Zirkel habt ihr auf dem Gymnasium?« vernahm Klim, und da er schlecht unterrichtet war, antwortete er unsicher, doch achtungsvoll, als wäre es sein Lehrer Rziga, der fragte:

»Tolstoianer. Dann noch Ökonomisten ... ein paar.«

»Erzähle!« forderte der Onkel auf, »Die Tolstoianer sind eine Sekte? Man erzählte mir, sie gründen Kolonien in den Dörfern.«

Er schüttelte den Kopf.

»Das hat sich überlebt. Wir haben es selbst getan. Ich kenne ja die Sektierer gut, ich war Propagandist bei den Molokanen im Gouvernement Saratow. Über mich, sagt man, hat Stepniak geschrieben, – Krawtschinski, kennst du ihn? Gussew – das bin ich.«

Gut, daß er die Antworten nie abwartete. Immerhin, über die Tolstoianer wollte er Genaues wissen.

»Nun, was machen die denn? Kolonien, schön, aber sonst?«

Klim schielte zur Mutter hin, die am Fenster saß. Er hätte sie gern gefragt, warum es kein Frühstück gab. Aber die Mutter blickte zum Fenster hinaus. So teilte er denn, um nicht aus dem Konzept zu kommen, dem Onkel mit, im Flügel wohne ein Schriftsteller, der ihm besser als er über die Tolstoianer und alles Wissenswerte Auskunft geben könne, er selbst sei zu sehr mit den Wissenschaften beschäftigt.

»Für uns waren die Wissenschaften kein Hindernis«, tadelte der Onkel und schürzte seine greise Lippe. Dann fragte er ihn nach dem Schriftsteller:

»Katin? Kenne ich nicht.«

Es gefiel ihm sehr, daß der Schriftsteller unter Polizeiaufsicht stand, er lächelte:

»Ah, also einer von den Ehrlichen. Zu meiner Zeit waren ehrliche Schriftsteller – Omulewski, Nefedow, Boshin, Stanjukowitsch, Sassodimski. Lewitow war ein Schwätzer. Slepzow liebte den Klatsch. Uspenski ebenfalls Es gab zwei Uspenskis, der eine schrieb frech, der andere so so la la, mit einem ironischen Lächeln.«

Er überließ sich seinen Gedanken. Plötzlich fragte er die Mutter:

»Ich vergaß, Iwan schreibt mir, er habe sich von dir getrennt. Mit wem lebst du denn, Wera? Wohl mit einem reichen Mann? Advokat, wie? Aha, Ingenieur. Liberaler? Hm ... Und Iwan ist in Deutschland, sagst du? Warum nicht in der Schweiz? Er ist zur Kur dort, nur zur Kur? Früher war er gesund. Aber ohne feste Grundsätze. Das war allen bekannt.«

Er schrie wie ein Tauber, seine heisere Stimme klang herrisch. Auch die kargen Antworten der Mutter wurden lauter, noch einige Augenblicke, und sie würde zu schreien anfangen.

»Wie alt bist du, fünfunddreißig, siebenunddreißig, was? Jugendlich«, sagte Jakow Samgin, verstummte unvermittelt, zog ein Pulver aus seiner Jackentasche, nahm es ein, trank ein paar Schlucke Wasser nach, setzte das Glas fest auf den Tisch und befahl Klim:

»Nun denn, führe mich zu deinem Schriftsteller. Zu meiner Zeit hatten Schriftsteller etwas zu sagen.«

Über den Hof bewegte sich Onkel Jakow, indem er sich langsam umblickte wie jemand, der sich verlaufen hat und mühsam längst vergessene Einzelheiten aus seinem Gedächtnis hervorsucht.

»Das Haus gehört Iwan?«

»Dem Großvater, aber Warawka hat es ihm abgekauft.«

»Wer?«

Klim wußte nicht, wie er antworten sollte, da antwortete der Onkel, ihm ins Gesicht blickend, selbst:

»Verstehe, der Ehegenosse deiner Mutter. Warum wirst du verlegen? Eine ganz gewöhnliche Sache. Die Frauen lieben das, – Luxus und dergleichen. Was für ein Stutzer bist du, Bruder«, schloß er unvermittelt.

Katin empfing Samgin achtungsvoll wie einen Vater und überschwenglich wie ein Jüngling. Er lächelte, verbeugte sich, schüttelte mit beiden Händen die dunkle seines Gastes und sagte hastig:

»Ich sah Sie vom Fenster aus und fühlte sofort: das ist er! Sarachanow schrieb mir aus Saratow ...«

Onkel Jakow musterte lächelnd die ärmliche Behausung, und Klim bemerkte sofort, wie sein dunkles, runzliges Gesicht heller und jünger wurde.

»Na, na«, sagte er, während er auf dem verfallenen Sofa Platz nahm. »So, so. Na, in Saratow weilt noch der und jener. In Samara scheinen irgendwelche ... Ich verstehe nicht Simbirsk ist wie eine unbewohnte Hütte.«

Er zählte noch einige Wolgastädte auf und fragte schließlich:

»Nun, und was macht ihr hier? Reden Sie lauter und nicht so schnell, ich höre schlecht, das Chinin macht taub«, und als wage er nicht zu hoffen, daß man ihn verstehe, hob er die Hände und zupfte an seinen Ohrläppchen. Klim dachte, diese von der Sonne versengten, dunklen Ohren müßten bei der Berührung knistern.

Der Schriftsteller schilderte nun das Leben der Intelligenz im Ton eines Menschen, der voraussieht, daß man ihn wegen irgendeiner Sache beschuldigen wird. Er lächelte verlegen, bewegte entschuldigend die Hände, nannte Namen von Freunden, die Klim kaum bekannt waren, und fügte regelmäßig kummervoll hinzu:

»Er hat ebenfalls einen Posten bei der Landschaftsversammlung angenommen ... als Statistiker.«

»Bei der Landschaftsversammlung, das ist gut«, billigte Onkel Jakow, schränkte aber ein: »Das genügt aber nicht.«

Dann seufzte er, seinen Adamsapfel vorschiebend:

»Verwildert seid ihr.«

»Klugwerden nennt man das jetzt«, erklärte schuldbewußt Katin. »Es gibt sogar eine Erzählung zu dem Thema Verrat an der Vergangenheit. Die heißt wörtlich so: ›Klug geworden.‹ Sie ist von Bobrykin.«

»Bobrykin ist ein Schwätzer«, verurteilte der Onkel. Er hob die Hand. »Ahmen Sie ihn nicht nach Sie sind jung. Man darf Bobrykin nicht nachahmen.«

Leise ging die Tür auf. Scheu trat die Gattin des Schriftstellers ins Zimmer. Er sprang auf und nahm sie an der Hand:

»Meine Frau. Jekaterina, Katja.«

Jakow Samgin musterte freundschaftlich die Frau und schmunzelte:

»Eine Popentochter?«

»Ja.«

»Die ganze Erscheinung! Man irrt sich nicht. Kinder?«

»Sie sterben alle.«

»Hm. Und was liest denn jetzt so die Jugend?«

Katin sprach jetzt leiser und weniger lebhaft. Ungeachtet der Freude, mit der der Schriftsteller den Onkel begrüßt hatte, schien er ihn zu fürchten wie ein Schüler seinen Lehrer, während Onkel Jakows heisere Stimme heftiger wurde und in seinen Worten zahlreiche gurrende Laute mittönten.

Klim wäre gern weggegangen, es schien ihm aber unpassend, den Onkel allein zurückzulassen. Von der Ofenecke aus beobachtete er, wie die Frau des Schriftstellers um den Tisch herumging und geräuschlos das Teeservice aufdeckte, während sie scheue Blicke auf den Gast warf.

Sie schrak sogar zusammen, als Onkel Jakow sagte:

»Die Revolution wird nicht mit Zwischenakten gemacht.«

Klim war froh, als das Mädchen ihn zum Frühstück holte. Onkel Jakow lehnte die Einladung ab.

»Ich nähre mich nur von gekochtem Reis, Tee und Brot. Und wer frühstückt auch um zwei Uhr?« tadelte er, nach einem Blick auf die Wanduhr.

Daheim im Eßzimmer lief Warawka stirnrunzelnd und sich den Bart mit einem Kamm striegelnd auf und ab. Er empfing Klim mit der Frage:

»Und der Onkel?«

»Er nährt sich nur von gekochtem Reis.«

Schweigend ging man zu Tisch. Die Mutter seufzte und fragte:

»Wie gefällt er dir?«

Klim, der die Stimmung erriet, antwortete:

»Er ist sonderbar.«

Die Mutter lehnte sich zurück, kniff die Augen zu und sagte:

»Wie ein Gespenst.«

»Ein hungernder Hindu«, bekräftigte ihr Sohn.

»Er kann nicht älter sein als fünfzig«, grübelte laut die Mutter. »Er war fröhlich, ein flotter Tänzer, ein Spaßvogel. Plötzlich ging er ins Volk, zu den Sektierern. Eine unglückliche Liebe scheint dabei mitgespielt zu haben.«

»Sie haben alle eine unglückliche Liebe mit einer ganzen Geschichte. Diese Geschichte heißt ›Messalina‹, Klim. Sie liebt den Umgang mit jungen Leuten, aber nur flüchtigen. Er hat kaum mit ihr zu spielen und zu träumen angefangen, da haben schon neue Liebhaber seinen Platz eingenommen.«

Er wischte sich sorgfältig mit der Serviette den Bart ab und begann eindringlich zu belehren, daß nicht die Herzen und die Tschernyschewskis die Geschichte machen, sondern die Stevensons und Arkwrights, und daß in einem Land, wo das Volk an Hausgeister und Zauberer glaubt und die Erde mit einem Holzpflug aufritzt, Gedichte nichts vermögen.

»Als erstes brauchen wir einen guten Pflug. Dann erst ein Parlament. Kühne Reden sind wohlfeil. Man muß Worte finden, die die Instinkte bändigen und zugleich den Verstand wecken«, krähte er immer hitziger, durch irgendwas gereizt, und sein Gesicht lief rot an. Die Mutter schwieg besorgt, und Klim verglich unwillkürlich ihr Schweigen mit der Furchtsamkeit der Schriftstellersgattin. Auch die jähe Erbitterung Warawkas hatte etwas Verwandtes mit dem erregten Ton Katins.

»Ich gedenke, ihn im Zwischenstock unterzubringen«, sagte still die Mutter.

»Aber Dronow?« wandte Warawka ein.

»Ja, ich weiß auch nicht ...«

Warawka zuckte die Schultern.

»Wie du willst.«

Aber Onkel Jakow weigerte sich im Zwischenstock zu wohnen.

»Treppensteigen ist schädlich für mich, ich habe kranke Beine«, erklärte er und zog zum Schriftsteller, in das kleine Zimmer seiner Schwägerin. Die wurde in der Kammer untergebracht. Die Mutter fand es taktlos von Onkel Jakow, nicht bei ihr zu leben. Warawka stimmte ihr darin zu:

»Es ist eine Demonstration.«

Onkel Jakow führte sich in der Tat ein wenig ungewöhnlich auf. Wenn er im Hause vorsprach, grüßte er Klim zerstreut und wie einen Fremden, schritt durch den Hof wie über eine Straße und blickte erhobenen Hauptes, den mit grauen Borsten verzierten Adamsapfel weit vorgereckt, mit den Augen eines Unbekannten in die Fenster, Er verließ den Flügel erst gegen Mittag, während der größten Hitze, und kehrte abends zurück, mit nachdenklich gesenktem Kopf, die Hände vergraben in den Taschen seiner dicken kamelhaargelben Hosen.

»Eine alte Axt«, nannte Warawka ihn. Er verhehlte nicht seine Unzufriedenheit mit Jakow Samgins Anwesenheit im Flügel. Täglich sagte er in grobem Ton etwas Herabsetzendes über ihn, was offensichtlich die Mutter bedrückte und selbst das Dienstmädchen Fenja ansteckte, die sich gegen die Bewohner des Flügels und ihre Gäste ängstlich und feindselig benahm, als hielte sie sie für imstande, das Haus anzuzünden.

Klim, vom Verlangen nach dem Weibe gepeinigt, fühlte, daß er abstumpfte, bleichsüchtig und hinfällig wurde wie Makarow, und er beneidete haßerfüllt Dronow, der zwar das Wolfsbillet erhalten, sich jedoch beruhigt hatte, und nachdem er in Warawkas Kontor eingetreten war, beharrlich fortfuhr, sich bei Tomilin für die Reifeprüfung vorzubereiten.

Klim, der nicht wußte, was er mit sich anfangen sollte, besuchte zuweilen den Schriftsteller. Dort waren neue Gestalten aufgetaucht: die langnäsige Heilgehilfin Isakson und ein kleiner Greis, dessen Augen hinter dunklen Gläsern versteckt waren. Er rieb sich jeden Augenblick die rundlichen Hände und rief:

»Das unterschreibe ich!«

Es kam ein Handwerker, nach seinen Händen zu urteilen, ein Schlosser. Seine Lieblingsredensart war:

»Das haben wir so nötig wie der Hund ein fünftes Bein.«

Die Fensterläden wurden geschlossen, die Scheiben verhängt, doch die Frau des Schriftstellers trat trotzdem von Zeit zu Zeit ans Fenster, hob die Gardine hoch und starrte auf das schwarze Quadrat. Ihre Schwester eilte auf den Hof, sandte Blicke zum Tor hinaus, und Klim hörte sie später beruhigend zu Katins Frau sagen:

»Niemand. Es ist keine Seele draußen.«

Klim achtete fast gar nicht auf die ihm allzu bekannten Reden und Streitigkeiten. Sie gingen ihn nichts an, interessierten ihn nicht. Auch der Onkel trug nichts Neues bei, er war wohl der am wenigsten Redegewandte von allen, seine Gedanken waren grobgezimmert und liefen alle auf eins hinaus: »Man muß das Volk auf eine höhere Stufe heben.«

Klim suchte den Flügel stets dann auf, wenn er vermutete oder sah, daß Lida hinging. Das bedeutete, daß auch Makarow dort sein würde. Aber seine Augen sagten ihm, daß sie noch etwas anderes als Makarow hinzog. Aus einem Winkel und – trotz der verqualmten Stickluft – fest in einen orangefarbenen Schal gehüllt, fixierte sie mit zusammengepreßten Lippen und dem strengen Blick ihrer dunklen Augen die Menschen. Klim fand, in diesem Blick und in Lidas ganzem Betragen lag etwas Neues, beinahe Komisches, ein gewisser gemachter Witwenernst.

»Was sagst du zu meinem Onkel?« fragte er und wunderte sich sehr, als er die merkwürdige Auskunft erhielt:

»Er sieht aus wie Johannes der Täufer.«

In einer Frühlingsnacht – sie und Klim hatten den Flügel verlassen und wandelten im Garten – sagte sie:

»Seltsam, daß es Menschen gibt, die nicht nur an sich denken. Mir scheint, darin liegt etwas Unsinniges. Oder – Gekünsteltes.«

Klim sah sie fast unwillig an: sie hatte gerade dem Ausdruck verliehen, was er empfand, wofür er aber noch keine Worte gefunden hatte.

»Und dann«, fuhr das Mädchen fort, »steht bei ihnen alles gewissermaßen auf dem Kopf. Mir scheint, sie sprechen von der Liebe zum Volk mit Haß und vom Haß gegen die Regierung mit Liebe. Jedenfalls höre ich es so.«

»Aber es ist natürlich nicht so«, sagte Klim, in der Hoffnung, sie würde fragen: »Wie ist es dann?« und dann würde er vor ihr glänzen, er wußte schon, womit und wie. Doch das Mädchen schwieg, schritt sinnend weiter und wickelte das Tuch fest um ihre Brust. So getraute Klim sich nicht, ihr zu sagen, was er wollte.

Er fand, Lida sprach zu ernst und zu gescheit für ihr Alter. Es berührte ihn unangenehm, immer häufiger überraschte sie ihn damit.

Einige Tage darauf sollte er abermals fühlen, daß Lida ihn bestahl. Nach dem Abendessen fragte die Mutter Lida aus, was im Flügel gesprochen wurde. Das Mädchen saß neben Wera Petrowna am offenen Fenster und antwortete gezwungen und wenig höflich. Plötzlich jedoch drehte sie sich schroff auf dem Stuhl herum und begann, schon einigermaßen gereizt, zu reden:

»Auch Vater fürchtet, diese Leute könnten mich irgendwie anstecken. Nein, ich denke, alle ihre Reden und Diskussionen sind nichts als Versteckspiel. Die Leute verstecken sich vor ihren Leidenschaften, vor der Langenweile, vielleicht vor dem Laster ...«

»Bravo, meine Tochter!« rief Warawka aus, der sich, eine Zigarre im Bart, im Sessel rekelte.

Lida fuhr leiser und ruhiger fort:

»Man muß sich selbst vergessen. Das wollen viele, glaube ich. Nicht Menschen wie Jakow Akimowitsch. Er ... ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll ... er hat sich der Idee mit einemmal und für immer als Opfer vorgeworfen ...«

»Wie ein Blinder, der in eine Grube gestürzt ist«, warf Warawka ein. Klim, der fühlte, daß er vor Verdruß blaß geworden war, grübelte darüber nach, wie es sein konnte, daß alle ihm zuvorkommen. Tomilins Ausspruch, daß die Menschen sich in den Ideen voreinander versteckten, hatte ihm besonders gefallen, und er hielt ihn für wahr.

»Tomilin sagt das«, bemerkte er ärgerlich.

»Ich habe nicht gesagt, daß ich es selbst erdacht habe«, gab Lida zurück.

»Du hast es von Makarow gehört«, beharrte Klim.

»Und wenn schon?«

»Onkel Jakow ist ein Opfer der Geschichte«, sagte Klim eilig. »Er ist nicht Jakob sondern Isaak.«

»Verstehe ich nicht«, sagte Lida und zog die Brauen hoch. Klim, der wegen dieser Worte, die niemand beachtete, auf sich selbst wütend war, stammelte ärgerlich:

»Wenn Makarow betrunken ist, redet er immer einen entsetzlichen Unsinn zusammen. Er nennt sogar die Liebe ein rudimentäres Gefühl.«

Warawka lachte schallend und schwang seine Zigarre. Wera Petrowna lächelte herablassend und bemerkte:

»Er kennt den Begriff ›rudimentär‹ nicht.«

Lida sah sie an und ging still zur Tür, Sie schien beleidigt durch das Gelächter ihres Vaters. Warawka ächzte und wischte sich Tränen aus den Augen.

»Oh, oh, ach, Kinder, Kinder!«

Klim hatte Lust, Lida zu folgen und mit ihr Streit zu suchen. Doch Warawka, der sich endlich sattgelacht hatte, wandte sich zu ihm und sagte mit einem Ausfall gegen die Schule:

»Man lehrt euch nicht das, was ihr wissen müßt. Vaterländische Geschichte, das ist das Fach, das gleich in den untersten Klassen gelehrt werden sollte, wenn wir Anspruch darauf erheben wollen, eine Nation zu sein. Das Land der Russen ist immer noch keine Nation, und ich fürchte, es wird noch einmal so heftig durcheinandergeschüttelt werden müssen wie im 17. Jahrhundert. Dann werden wir wahrscheinlich eine Nation sein.«

Mit wachsender Lebhaftigkeit sprach er davon, daß die Stände einander ironisch und feindlich gegenüberstehen wie Rassen mit ganz verschiedenartiger Kultur, daß jeder von ihnen überzeugt sei, daß alle anderen ihn nicht verstehen und sich ruhig damit abfinden, und alle zusammen glauben, die Bevölkerung dreier, aneinandergrenzender Gouvernements bestehe, ihren Bräuchen, Sitten und sogar ihrem Dialekt nach, aus anderen Menschen, schlechteren, als die Einwohner einer bestimmten Stadt.

Klim langweilte sich. Er verstand nicht, über Rußland, das Volk, die Menschheit und die Intelligenz nachzudenken. All das lag ihm fern. Von den sechzigtausend Einwohnern seiner Stadt kannte er vielleicht sechzig oder hundert und war doch überzeugt, die ganze Stadt, die staubig war und aus drei Vierteln aus Holz bestand, gut zu kennen. Vor der Stadt floß träge der trübe Fluß, über ihm, am Klosterfriedhof ging die Sonne auf, vollendete ohne Hast ihren Lauf und sank hinter den Schlachthof in die Gemüsegärten zurück. Ohne sich zu beeilen und in ihr Los ergeben, lebten Adlige, Händler, Kleinbürger und Handwerker, und die Geistlichkeit und die Beamten waren ihre Hirten, die sie schoren.

Und je schärfer er die Liebhaber der Wortgefechte und Meinungsverschiedenheiten beobachtete, desto argwöhnischer begegnete er ihnen. In ihm meldeten sich dunkle Zweifel an dem Recht dieser Menschen, die Aufgaben des Lebens zu lösen und ihm ihre Entscheidungen aufzuzwingen. Dazu bedurfte es verläßlicherer, weniger verzweifelter und in jedem Fall nicht halb wahnsinniger Menschen, wie Onkel Jakow einer war.

Tomilin wurde für Klim der einzige, der jenseits aller Zweifel stand und am meisten Mensch war. Er hatte sich dazu verurteilt, über alles nachzudenken, und konnte oder wollte selbst nichts tun. Er versuchte nicht, den Zuhörer mit seinen Gedanken aufzuzäumen, gab nur von sich, was er dachte, und kümmerte sich offenbar wenig darum, ob man ihm zuhörte. Er lebte, ohne jemand zur Last zu fallen, ohne zu verlangen, daß man ihn besuche, wie dies die familiären Liebenswürdigkeiten und lächelnden Grimassen des Schriftstellers Katin forderten. Man konnte zu ihm kommen oder es lassen. Er weckte weder Sympathie noch Antipathie, während die Leute im Flügel zwar unruhiges Interesse, aber zugleich auch dunkle Feindseligkeit gegen sich hervorriefen. Schließlich mußte man zugeben, daß Makarow recht hatte, wenn er von diesen Menschen sagte:

»Jeder von ihnen will mich abrichten wie einen Hund für die Hühnerjagd.«

Diese Absicht merkte auch Klim, und da er sie selbstsüchtig und für seine eigene Freiheit bedrohlich fand, lernte er es, jedesmal, wenn er dem Ansturm des einen oder anderen Glaubenslehrers ausgesetzt war, eine Antwort schuldig zu bleiben oder ihr geschmeidig auszuweichen.

Seine sexuellen Regungen, entzündet durch das beständige selige Lächeln Dronows, wurden immer qualvoller. Das war schon Warawka aufgefallen, den Klim, als er eines Tages durch den Korridor ging, zur Mutter sagen hörte:

»In seinem Alter war ich in meine leibliche Tante verliebt. Beunruhige dich nicht, er ist kein Romantiker und nicht dumm. Schade, daß unser Dienstmädchen ein Scheusal ist.«

Der Zynismus, womit Warawka das Dienstmädchen erwähnte, verletzte Klim, unangenehm war auch, daß sein Schmachten bemerkt wurde, doch alles in allem wirkten Warawkas gelassene Worte lösend. Zwei Tage später gingen die Mutter und Warawka ins Theater, Lida und Ljuba Somow zu Alina. Klim lag in seinem Zimmer, er hatte Kopfschmerzen. Es war still im Haus. Plötzlich drang Kichern aus dem Eßzimmer, etwas klatschte schallend wie eine Ohrfeige, ein Stuhl wurde gerückt, und zwei Frauenstimmen begannen leise zu singen. Klim stand geräuschlos auf und öffnete vorsichtig die Tür: das Mädchen tanzte mit der Weißnäherin Rita einen Walzer rund um den Tisch, auf dem gleich einem bronzener Götzen der Samowar leuchtete.

»Eins, zwei, drei«, unterwies halblaut Rita. »Nicht mit den Knien schubsen ... eins, zwei!« Das Dienstmädchen neigte den Kopf vor und blickte ängstlich auf ihre Füße. Rita, die über die Schultern des Dienstmädchens hinwegblickte, sah, daß Klim in der Tür stand, stieß das Mädchen zur Seite, verbeugte sich von ihm, steckte mit beiden Händen ihr zerzaustes Haar auf und sagte munter und laut:

»Ach, entschuldigen Sie!«

»Bitte, bitte!« wehrte Klim hastig ab, während er die Hände in die Tasche steckte. »Ich kann Ihnen, wenn Sie wollen, aufspielen?«

Das verlegene Dienstmädchen ergriff den Samowar und eilte hinaus. Die Näherin machte: »Nein, weshalb denn?« und begann das Geschirr vom Tisch abzuräumen und auf ein Tablett zu stellen.

Klim erinnerte sich später nur dunkel, was dann geschah.

Er handelte im Zustand der Furcht und eines plötzlichen Rausches. Er packte Ritas Hand, schleppte sie in sein Zimmer und flehte im Flüsterton:

»Bitte ... bitte ...«

Sie kicherte in sich hinein, entriß ihm ihre weiße Hand und ging neben ihm her. Gleichfalls flüsternd wiederholte sie:

»Was tun Sie? Darf man denn das?«

Später, vom Bett aufspringend, beugte sie sich über ihn, preßte sein Gesicht zwischen ihre Hände und küßte ihn dreimal auf die Lippen, dabei keuchte sie:

»Ach Sie, Sie, Sie!«

Als Klim wieder zu sich gekommen war, staunte er: wie war dies alles einfach! Er lag auf dem Bett und ihn schwindelte. Sein Körper, gesättigt mit wohliger Ermattung, schien gleichwohl leichter und stärker geworden zu sein. Er glaubte sich zu erinnern, daß Ritas heißes Geflüster, ihre drei letzten Küsse sowohl Lob als auch Dankbarkeit ausgedrückt hatten.

»Und doch habe ich ihr nichts dafür versprochen«, dachte er und legte sich sofort die Frage vor, womit Dronow sie wohl bezahlte.

Die Erinnerung an Dronow kühlte ihn ein wenig ab, sie hatte etwas Dunkles, Zweideutiges und doppelt Lächerliches. Als rechtfertige er sich vor jemandem, sagte Klim beinahe laut:

»Natürlich werde ich mir das nicht noch einmal mit ihr erlauben.« Aber eine Minute später beschloß er schon: »Ich werde ihr verbieten, mit Dronow ...«

Er hatte Lust, aufzustehen, die Lampe anzuzünden, sich im Spiegel zu betrachten, aber die Gedanken an Dronow fesselten ihn, bedrohten ihn mit Unannehmlichkeiten. Doch Klim unterdrückte ohne besondere Anstrengung diese Gedanken. Er erinnerte sich Makarows, seiner düsteren Ängste, der armseligen »Triumphe des Weibes«, des »rudimentären Gefühls« und all des lächerlichen Unsinns, der das Dasein dieses Menschen ausfüllte. Kein Zweifel, Makarow hatte dies alles erdichtet, um sich ein Ansehen zu geben, und führte im geheimen einen unsittlicheren Lebenswandel als die anderen. Wenn er trank, mußte er auch mit Weibern schlafen, das war klar.

Diese Betrachtungen gestatteten Klim, an Makarow mit verächtlichem Lächeln zu denken. Er schlief bald ein, und als er erwachte, fühlte er sich als ein neuer Mensch. Heiterkeit brodelte in ihm. Er hatte Lust zu singen. Die Frühlingssonne blickte gnädiger als gestern in sein Zimmer. Trotzdem zog er es vor, seine neue Stimmung vor den anderen geheim zu halten, benahm sich ehrbar wie immer und gedachte bereits freundlich dankbar der Weißnäherin.

Etwa fünf Tage später, er hatte sie in dem angenehmen Bewußtsein verbracht, einen so ernsten Schritt mit solcher Einfachheit getan zu haben, drückte das Dienstmädchen Fenja ihm heimlich ein kleines zerknülltes Kuvert mit einem gepreßten blauen Vergißmeinicht in einer Ecke in die Hand. Auf dem gleichfalls mit einem Vergißmeinicht verzierten Papier las Klim nicht ohne Stolz:

»Wenn Sie mich nicht vergessen haben, kommen Sie morgen, wenn die Abendmesse ausgeläutet wird. – Stumpfe Ecke, Haus Wessjoly. Fragen Sie nach Marg. Waganow.«

Margarita empfing ihn so, als käme er nicht zum ersten, sondern zum zehnten Mal. Als er eine Schachtel Konfekt, ein Körbchen mit Gebäck und eine Flasche Portwein auf den Tisch stellte, fragte sie mit einem schalkhaften Lächeln:

»Sie wollen also Tee trinken?«

Klim umschlang sie und sagte:

»Ich will, daß du mich liebst.«

»Ach, ich kann es ja nicht!« antwortete die Frau und lachte ein sehr gutherziges Lachen.

Wunderbar einfach war alles an ihr und rings um sie her in der kleinen, sauberen Stube, die mit einem seltsam berauschenden Geruch erfüllt war. Im Winkel, an der Wand, stand mit dem Kopfende zum Fenster das Bett, bedeckt mit einer weißen Piquedecke. Eine weiße Gardine verhängte die Scheiben, Über das Dach herab neigten sich die blaßroten Zweige blühender Kirschen und Äpfel. Eine Wespe trommelte gegen die Fensterscheibe. Auf der Kommode die mit einer gehäkelten Decke geschmückt war, stand ein Spiegel ohne Rahmen, waren Schächtelchen und Döschen adrett aufgestellt. In einer Ecke leuchtete milde der Silberornat der Ikone. Der Platz vor der Tür war mit einem hellgrauen Stück Kaliko ausgelegt. Dies alles war unendlich friedlich und still, das Summen der Wespe schien hierher zu gehören, alles war unendlich fern der Wirklichkeit und dem gewohnten Dasein Klims.

Margarita sprach mit gedämpfter Stimme leichte Worte, die sie faul dehnte, und fragte nichts. Auch Klim fand nichts, wovon man mit ihr reden konnte. Er kam sich dumm vor, war ein wenig verlegen darüber und lächelte. Margarita saß Schulter an Schulter neben ihrem Gast und verschlang ihn mit ihren Blicken. Das erregte Klim sehr. Er streichelte scheu ihre Schulter und ihre Brust und fand nicht den Mut, weiter zu gehen. Als man zwei Gläser Portwein getrunken hatte, meinte Margarita:

»Nun, ins Bettchen?«

Sie erhob sich mit diesen Worten, entkleidete sich und riet auch Klim sorglich:

»Du solltest dich auch ganz ausziehen, es ist besser ...«

Eine Stunde später saß sie auf dem Bettrand, ließ die Füße nackt baumeln und sagte vor Müdigkeit gähnend mit einem Blick auf Klims Socke:

»Das da muß gestopft werden.«

Klim nickte ein.

Nach dem fünften oder sechsten Wiedersehen fühlte er sich bei Margarita mehr zu Hause als in seinem eigenen Zimmer. Bei ihr brauchte man nicht auf sich aufzupassen, sie verlangte von ihm weder Geist noch gesittetes Benehmen, sie verlangte überhaupt nichts und bereicherte ihn unmerklich mit vielem, das er empfing wie etwas Wertvolles.

Von nun an sah er die Mädchen, die er kannte, mit anderen Augen an. Er bemerkte, daß Ljuba Somow fast ohne Hüften war, daß ihr Rock flach herabhing, dagegen hinten sich zu stark bauschte, und daß sie den hüpfenden Gang eines Sperlings hatte. Dick und plump gebaut, erzählte sie mit Vorliebe von Liebe und Romanen. Ihr Gesicht, das hübscher geworden war, rötete sich vor Erregung. In den guten grauen Augen leuchtete die stille Rührung eines alten Mütterchens, das die Wunder und den Erdenwandel der Heiligen und Märtyrer preist. Das brachte sie so naiv, ja manchmal so herzbewegend heraus, daß Klim es für nötig fand, sie auf jeden Fall durch ein freundliches Lächeln zu ermutigen, während er gleichzeitig dachte:

»Eine Schwachsinnige. Ein Schäfchen!«

Ihre Erzählungen reizten Lida fast stets, doch zuweilen erheiterten sie sie. Lida lachte zögernd, unsicher und mit schrillen Lauten. Wenn sie ein wenig gelacht hatte, blickte sie sich stirnrunzelnd um, als habe sie eine Ungehörigkeit begangen. Die Somow brachte Lida Romane. Lida las »Madame Bovary« und sagte unwillig:

»Was darin richtig ist, ist abscheulich, und was darin schön ist, ist Lüge.«

Über Anna Karenina äußerte sie sich noch härter:

»Hier sind alle Pferde, sowohl Anna wie Wronski und die übrigen.«

Die Somow empörte sich:

»Gott, wie bist du ungebildet, was für ein Monstrum! Du bist ja anormal!«

Auch Klim fand an Lida etwas Anormales. Er begann sogar ein wenig, ihren unverwandt-forschenden Blick zu fürchten, wenngleich sie nicht ihn allein, sondern auch Makarow so ansah. Doch bemerkte Klim, daß ihr Verhältnis zu Makarow freundschaftlicher wurde, und Makarow nicht mehr so ironisch und dreist mit ihr sprach.

Klim wunderte sehr Lidas Freundschaft mit Alina Telepnew, die zu einer ausgesprochenen Schönheit heranwuchs und offenkundig immer dümmer wurde, wie Klim nach dem Ausspruch seiner Mutter: »Dieses Mädel würde besser und klüger sein, wäre sie nicht so schön«, fand.

Klim erkannte sofort die Richtigkeit dieser Bemerkung. Die Schönheit des Mädchens war für sie eine Quelle unaufhörlicher Besorgnis. Alina wachte über sich wie über einen Schatz, der ihr nur für kurze Zeit gegeben war, mit der Drohung, daß er ihr genommen werde, sobald sie auch nur durch eine Kleinigkeit ihr bezauberndes Gesicht verdürbe. Schnupfen bedeutete für sie eine gefährliche Krankheit, erschrocken fragte sie:

»Ist meine Nase sehr rot? Die Augen sind trübe, nicht wahr?«

Ein einziges Pickelchen im Gesicht, eine Pustel, ein Mückenstich stürzten sie in Verzweiflung. Sie lebte in beständiger Furcht, dicker zu werden oder abzumagern, und hatte eine krankhafte Abneigung gegen den Donner.

»Mag es blitzen«, sagte sie. »Das ist ja schön. Aber ich ertrage es nicht, wenn über mir der Himmel kracht.«

Sie erfand für sich eine behutsame, gleitende Art zu gehen, und hielt sich so steif, als trüge sie ein Gefäß mit Wasser auf dem Kopf. Auf der Eisbahn schwebte sie in Ängsten, hinzufallen, und lief daher entweder allein, abseits, oder mit den erfahrensten Läufern, deren Gewandtheit und Kraft sie sicher war. Der einzige Zug an dem Mädchen, der Klim gefiel, war ihre Kunst, das Beste für sich herauszuschlagen. Sie verstand es stets, sich den vorteilhaftesten Platz an der Sonne auszuwählen. Etwas lächerlich war ihre übertriebene Reinlichkeit, ihr krankhafter Widerwille gegen Staub und Straßenschmutz. Bevor sie sich setzte, besah sie ängstlich prüfend den Stuhl oder Sessel und staubte heimlich mit ihrem Tuch die Sitzfläche ab. Hatte sie einen Gegenstand in der Hand gehalten, wischte sie sich sogleich die Finger. Sie aß so akkurat und gründlich, daß Makarow spöttelte:

»Sie essen religiös, Alinotschka! Nein, Sie essen gar nicht, wie etwa wir Sterblichen, Sie nehmen das Abendmahl.«

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, sagte Alina ruhig:

»Der Doktor hat mir gründliches Essen verordnet.«

Zuweilen hatten Alinas Ängste um ihre Schönheit Ausbrüche von Gereiztheit, ja, von Wut, zur Folge, so wie beim Dienstmädchen einer allzu anspruchsvollen Hausfrau. Wahrscheinlich waren es auch diese Ängste, die den unwiderstehlich sanften, hellblauen Augen Alinas einen fragenden Ausdruck gaben, der durch ihre langen, zitternden Wimpern flehend wurde.

Sie war fade in der Unterhaltung, sprach von nichts als von Kostümen, Bällen und Verehrern, und auch dies ohne Feuer, wie von einer langweiligen Pflicht.

Ihr wurde bereits von einem grauhaarigen General der Artillerie, einem schlanken und schönen Witwer, und vom zweiten Staatsanwalt Ippolitow, einem lustigen und gewandten, kleinen Mann mit einem schwarzen Schnurrbart im dunklen Gesicht, heftig der Hof gemacht.

»Nein, ich heirate nicht«, sprach sie mit ihrer tiefen Bruststimme. »Ich will zur Bühne.«

Sie sprach – ziemlich gut, mit schmelzender Stimme, doch allzu wollüstig – Gedichte von Fet und Fofanow, sang träumerisch Zigeunerromanzen. Aber die Romanzen klangen unbeseelt, die Verse tot, verwischt und abgestumpft durch ihre samtene Stimme. Klim schwor darauf, daß sie den Sinn der Worte, die sie langsam absang, nicht verstand.

»Eine Puppe, die zu schade zum Spielen ist«, sagte Makarow wegwerfend, wie er immer von Mädchen sprach.

Klim sah ihn scheel an. Er empfand immer heftiger den Stachel des Neides, sooft er vernahm, wie sicher die Menschen einander charakterisierten, Makarow besonders fand oft Urteile, die den Nagel auf den Kopf trafen.

Klim wünschte, wie in allem, so auch in Alina etwas Erkünsteltes und Gemachtes zu finden. Manchmal fragte sie ihn:

»Ich bin heute blaß, nicht wahr?«

Er verstand, daß Alina nur fragte, um ein übriges Mal die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, doch dies erschien ihm natürlich und gerechtfertigt und weckte in ihm sogar Teilnahme für das Mädchen. Diese wuchs nach den Worten der Mutter, die ihm sagten, daß man Alinas Schönheit als eine Strafe ansehen mußte, die ihr das Leben verbitterte, sie jede fünf Minuten vor den Spiegel jagte und sie auch alle Menschen als Spiegel behandeln ließ. Manchmal ahnte er dunkel, daß zwischen ihr und ihm etwas Gemeinsames bestand. Da er in dieser Erkenntnis jedoch etwas für ihn Demütigendes sah, versuchte er nicht erst, sie bis zu Ende zu durchdenken.

Makaraw und Lida gingen in der Beurteilung Almas schroff auseinander. Lida behandelte sie schonend, ja zärtlich, eine Regung, die Klim an ihr neu war, Makarow verspottete Alina zwar nicht boshaft, aber ausdauernd, Lida erzürnte sich mit ihm. Die Somow, die sich um Privatstunden bewarb, versöhnte sie, indem sie ihnen die langen und fesselnden Briefe ihres Freundes Inokow vorlas, der den Telegraphendienst quittiert hatte und mit einer Genossenschaft Sergatscher Fischer nach dem Kaspischen Meer aufgebrochen war.

Alles in allem war das Leben zu Hause qualvoll, öde und unruhig. Die Mutter und Warawka rechneten abends besorgt und ungehalten etwas zusammen, wobei sie mit Papieren raschelten, Warawka klatschte auf den Tisch und jammerte:

»Idioten! Nicht einmal stehlen können sie richtig!«

Klim zog die Langeweile vor, die er bei Rita fand. Diese Langeweile war für ihn nicht Qual, sondern Beruhigung. Sie nahm seinem Denken die Schärfe und enthob ihn der Mühe krampfhafter Einfälle. Margarita zog ihn merkwürdig an durch die Einfalt ihrer Gedanken und Gefühle. Manchmal, wohl wenn sie argwöhnte, daß er sich langweile, sang sie mit kleiner, miauender Stimme höchst sonderbare Lieder:

Ich kann nicht einschlafen, nicht liegen,


Mich flieht der Schlummer.


Ich ginge gern zu Rita,


Doch weiß ich nicht, wo sie weilt.


Gern fragte ich einen Freund,


Der könnte mich zu ihr führen.


Doch mein Freund ist besser und schöner,


Ich fürchte, er verdrängt mich bei Rita.

»Was für ein dummes Lied«, gähnte Klim, aber die Sängerin belehrte ihn:

»Das ist eben das Schöne daran, Freundchen. Alle Lieder sind dumm, in allen kommt die Liebe vor, das ist eben das Schöne an ihnen.«

Sie liebte überhaupt, Klim Belehrungen zu erteilen, und das belustigte ihn. Das Mädchen kam ihm treusorgend wie eine Mutter entgegen, auch das war belustigend, aber auch ein wenig rührend. Klim bewunderte die Selbstlosigkeit Margaritas, er hatte sich die Meinung gebildet, alle Mädchen ihres Gewerbes seien habgierig. Doch wenn er Rita Näschereien und Geschenke mitbrachte, tadelte sie ihn:

»Närrischer kleiner Kauz! Für das Geld, das du für mich hinauswirfst, könntest du ein viel schöneres und jüngeres Mädchen finden!«

Sie sagte es so einfach und überzeugend, daß Klim nicht wagte, sie der Lüge zu verdächtigen.

Aber während sie von den Mädchen sprach, die schöner seien als sie, streichelte sie sich gleichzeitig mit den Händen Brust und Hüften und prahlte:

»Sieh, was für eine Haut ich habe! Nicht jedes Fräulein besitzt so eine.«

An der Wand, über der Kommode, war mit zwei Nägeln eine kleine Photographie ohne Rahmen, die mittendurch geknickt war, befestigt. Sie zeigte einen Mann mit glattgekämmtem Haar, dichten Brauen und starkem Schnurrbart und einem pompös geknüpften Schlips. Seine Augen waren ausgestochen.

»Wer ist das?« fragte Klim.

Einige Sekunden betrachtete Margarita forschend, mit zugekniffenen Augen und gleichsam in ihrem Gedächtnis suchend, die Photographie. Hierauf sagte sie:

»Ein Ikonenmaler.«

»Und warum sind ihm die Augen ausgestochen?«

»Weil er erblindet ist, Dummkopf«, entgegnete Rita und seufzte. Sie wünschte nicht mehr auf Klims weitere Fragen zu antworten, sondern schlug vor:

»Nun, ins Bettchen?«

In einem zärtlichen Augenblick wagte er endlich, sie nach Dronow zu fragen. Er mußte es tun, wenn er auch fühlte, daß diese Frage je länger desto mehr an Bedeutung verlor. Was ihn verlegen machte, war das gewisse Unsaubere, das in der Sache lag. Als er die Frage an sie richtete, hob Rita erstaunt die Brauen:

»Wer ist das?«

»Tu nicht so!« Klim wollte es streng sagen, konnte aber nicht, sondern lächelte.

Rita richtete sich in den Kissen auf, setzte sich, zog ihr Hemd über den Körper und sagte, sich damit das Gesicht bedeckend, mitleidig:

»Ach, das ist ja Wanja, der bei euch im Zwischenstock wohnt! Denkst du, mit einem so Garstigen habe ich mich eingelassen? Da denkst du aber schlecht von mir.«

Während sie sich die Strümpfe über ihre weißen, blaugeäderten Beine zog, fuhr sie eilig, aber bestimmt und aus irgendeinem Grunde seufzend fort:

»Er tut mir leid. Ich war doch dabei, als der Pfaffe ihn fortjagte. Ich nähte an dem Tage bei dem Popen. Wanja gab seiner Tochter Stunden und hat irgendwas ausgefressen, das Dienstmädchen gekniffen oder sowas. Er wollte auch mich anfassen. Ich drohte ihm, daß ich mich bei der Popenfrau beschweren würde, da ließ er es. Er ist komisch, obwohl er schlimm ist.«

In verändertem Ton, leiser, beendete sie:

»Man hat ihn vom Gymnasium verjagt? Hätten sie ihm tüchtig die Ohren gezaust, das hätte genügt!«

Klim wünschte, ihr zu glauben und glaubte ihr, und Dronows Schatten, der ihm im Wege gestanden hatte, verschwand.

Der Jüngling hatte längst begriffen, daß das reinliche Bett an der Wand für Margarita ein Altar war, auf dem sie unermüdlich und beinahe ehrfürchtig eine heilige Handlung zelebrierte. Nach jenem Gespräch über Dronow, das ihn beruhigte, erwachte in Klim der Wunsch, Rita Liebes zu tun, soviel er konnte. Doch Rita mochte nur Honigkuchen und Küsse, die ihn zuweilen ermüdeten. Und schon kam ein Tag, an dem ihre anfeuernde Einladung: »Nun, ins Bettchen?« eine plötzliche und dunkle Gereiztheit, eine rätselhafte Verstimmung in ihm hervorrief. Fast wütend fragte er sie, weshalb sie keine Bücher lese, nicht ins Theater gehe und gar nichts Besseres kenne als das »Bettchen«. Rita, die offensichtlich seine Stimmung nicht erriet, sagte gelassen, während sie ihre Zöpfe aufflocht:

»Ja, wohin soll man denn mit dem Leben? Denk einmal nach. Nirgends.«

Dann sagte sie, das Theater besuche sie.

»Wenn heitere Komödien oder Vaudevilles gespielt werden, Dramen mag ich nicht. In die Kirche gehe ich auch – in die Himmelfahrtskirche, der Chor ist dort schöner als in der Kathedrale.«

Zuweilen, wenn Klim müde und mit sich unzufrieden war, grübelte er ängstlich:

»Das also ist Liebe?«

Es war aus irgendeinem Grunde unmöglich, zuzugeben, daß Lida Warawka für diese Liebe geschaffen sei. Es war auch schwer, sich vorzustellen, daß einzig diese Liebe den Romanen und Gedichten, die er gelesen hatte, und den Leiden Makarows zu Grunde lag, der immer trauriger wurde, weniger trank, beharrlicher schwieg und sogar leiser pfiff.

Es folgten für ihn Tage, da er sich nach dem Zusammensein mit Margarita so verwüstet und abgestumpft fühlte, daß es ihn entsetzte. Dann zwang er sich, zum Ursprung aller Weisheit, zu Tomilin, zu wallfahren oder den Flügel aufzusuchen.

Mit Tomilin war etwas vorgegangen. Er kostümierte sich in bunte Phantasiehemden, trug statt eines Schlipses eine Kordel mit Quasten, eine graue Jacke und eine Art sehr weiter grauer Hosen. All das erschien an seinem Körper als etwas Fremdes und unterstrich noch krasser das feurige Rot seiner gestutzten Haare, die horizontal über seinen Ohren herausragten und sich über der weißen Stirn bäumten. Besonders fielen seine Manschettenknöpfe auf: große, schwere Mondsicheln. Tomilin sprach lauter, doch weniger überzeugt, machte häufig Pausen, betrachtete dabei seine Ärmel und drehte an den Manschettenknöpfen. Zugleich mit dem neuen Gewand schien Tomilin sich auch neue Gedanken zugelegt zu haben. Klim witterte, daß diese Gedanken ihn sogar durch ihre Nacktheit, die man entweder als Unerschrockenheit oder als Schamlosigkeit auslegen konnte, ängstigten. Klim stellte sich diese nackten Gedanken als Fetzen beißenden Qualms vor, die in der warmen Luft des engen Zimmers zerflossen und sich als grauer Staub auf Bücher, Wände, Fensterscheiben und auf den Denker selbst legten.

Toimilin wog einen der fünf ungeheuren Bände von Maurice Carrières »Einfluß der Kunst auf die Entwicklung der Kultur« auf der flachen Hand und sagte:

»Ein gewisser Italiener behauptet, Genialität sei eine Art Irrsinn. Möglich. Überhaupt müssen Menschen mit übermäßigen Fähigkeiten als anormal angesehen werden. Nehmen wir zum Beispiel die Gefräßigen, die Wüstlinge und... die Denker. Ja, auch die Denker. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß ein abnorm entwickeltes Gehirn eine ebensolche Mißbildung ist wie ein hypertrophierter Magen oder ein unnatürlich großer Phallos. In diesem Fall bemerken wir eine Gemeinsamkeit zwischen Gargantua, Don Juan und dem Philosophen Immanuel Kant.«

Dieser Vergleich gefiel Klim, wie ihm immer vereinfachende Gedanken gefielen. Er fand, daß Tomilin selbst über seine offenbar zufällige Entdeckung erstaunt war. Er schleuderte das schwere Buch auf das Bett, bewegte die Augenbrauen, schlang die Hände um seinen flachen Nacken und blickte zum Fenster hinaus.

»Ja...«, machte er blinzelnd. »Ich muß jetzt hinuntergehen. Tee trinken. Hm...«

Immer häufiger und merkwürdig düster äußerte Tomilin sich über die Frauen und über das Weibliche. Zuweilen in skandalöser Form. So erklärte der Rothaarige einmal in der Gesellschaft im Flügel, als der Schriftsteller Katin hitzig seine Behauptung verfocht, Schönheit und Wahrheit seien eins, in dem ihm eigenen Ton eines Menschen, der der Wahrheit tief ins Angesicht geschaut hat:

»Nein, Schönheit ist gerade Unwahrheit, von Anfang bis zu Ende vom Menschen erfunden, um ihn zu trösten, genau so wie das Mitleid und vieles andere.«

»Und die Natur? Die Schönheit der Naturformen? Nehmen Sie Häckel!« schrie triumphierend der Schriftsteller, Als Antwort klangen ihm die gleichmütigen Worte entgegen:

»Die Natur ist eine chaotische Anhäufung der verschiedensten Mißgestaltungen und Monstra.«

»Die Blumen!« beharrte Katin.

»In der Natur gibt es nicht die Rosen und Tulpen, die die Menschen in England, Frankreich und Holland gezüchtet haben.«

Der Streit wurde immer gereizter und heftiger, und je mehr die Stimmen seiner Widersacher sich hoben, desto eigensinniger verteidigte Tomilin seine Ansicht. Schließlich sagte er:

»Wir bedürfen der Schönheit am meisten, wenn wir uns dem Weibe nähern wie ein Tier dem andern. Hier ist die Schönheit aus dem Schamgefühl entstanden, aus der Abneigung des Menschen, einem Bock oder einem Rammler zu gleichen.«

Er sagte einige noch derbere Worte, die allgemeine Betretenheit, boshaftes Lächeln und ironisches Flüstern auslösten, und erdrosselte mit ihnen den Meinungsstreit. Onkel Jakow, der kränkelte und halbaufgerichtet auf dem Sofa in einem Berg von Kissen ruhte, fragte halblaut und befremdet:

»Ist er wahnsinnig?«

Der Schriftsteller flüsterte ihm höhnisch lächelnd etwas ins Ohr, aber der Onkel schüttelte sein kahles Haupt und sagte:

»Er ist ein Nachzügler. Die Nihilisten waren gescheiter.«

Der Onkel war augenscheinlich mit etwas zufrieden. Sein sonnenverbranntes Gesicht war heller und knochiger geworden, aber seine Augen blickten milder, und er lächelte gern. Klim wußte, daß er im Begriff stand, für immer nach Saratow überzusiedeln.

Im Flügel fühlte Klim sich immer mehr als ein Fremder. Alles, was dort über das Volk und über die Liebe zum Volk geredet wurde, war ihm von Kindheit an vertraut. Alle Worte tönten leer, ohne in ihm eine Saite anzuklingen. Sie bedrückten durch ihre Langeweile, und Klim machte seine Ohren unempfänglich gegen sie.

Ihn beschäftigten lebhaft die unverhohlen bösen Blicke, die Dronow auf den Lehrer richtete. Auch Dronow hatte sich, ganz unvermittelt, verändert. Trotz seiner Beobachtungsgabe schien es Klim immer, daß die Menschen sich unberechenbar plötzlich veränderten, in Sprüngen, wie der Minutenzeiger der scharfsinnigen Uhr, die Warawka kürzlich gekauft hatte: es gab keine Stetigkeit in der Bewegung ihres Minutenzeigers, er sprang von Strich zu Strich. So auch der Mensch: gestern noch der gleiche wie vor einem halben Jahr, zeigte er heute einen ganz neuen Zug.

Das dunkelblaue Jackett, die schwarze Hose und die stumpfen Stiefel verliehen Dronow eine komische Ehrbarkeit. Doch sein Gesicht war schmal geworden, die Augen starrer, die Pupillen trübe, und durch das Weiße der Augäpfel zogen sich die roten Äderchen eines Menschen, der an Schlaflosigkeit leidet. Er fragte nicht mehr so viel und so gierig wie früher, redete weniger und hörte abwesend zu, wobei er die Ellenbogen in die Seiten preßte, die Finger ineinander verschränkte und die Daumen nach Greisenart umeinander drehte. Er sah gleichsam von der Seite her auf die Dinge, stieß oft und müde den Atem aus und schien gar nicht das zu sagen, woran er dachte.

Nach jedem neuen Zusammensein mit Rita nahm Klim sich vor, Dronow zu entlarven, aber dies tun, hieße, sein Verhältnis mit der Näherin aufdecken, und Klim verstand nur zu gut, daß er keinen Grund hatte, sich seiner ersten Liebe zu rühmen. Überdies ereignete sich etwas, was ihn tief befremdete. Eines Abends kam Dronow ungeniert in sein Zimmer, setzte sich müde und begann mit finsterer Miene:

»Hör mal, Warawka will mich nach Rjasan versetzen, aber das paßt mir nicht, mein Lieber. Wer wird mich dort in Rjasan für die Universität vorbereiten? Und noch dazu umsonst wie Tomilin? Er nahm den Löscher vom Tisch, einen glänzenden Rhombus, hielt ihn gegen den schrägen Strahl der Sonne und fuhr fort, während er die Regenbogenflecke an der Wand und an der Decke verfolgte:

»Und dann – Margarita. Es ist nicht vorteilhaft für mich, sie zu verlassen, was ich am Leibe habe, ist von ihr. Und ich hänge auch an ihr. Ich verstehe ja, daß ich kein Honig für sie bin.«

Er schnitt eine Grimasse und lenkte den Regenbogenfleck auf das Bild von Klims Mutter, auf ihr Gesicht, was Klim wie eine Beleidigung berührte. Er saß am Tisch, sprang aber schnell und unvorsichtig auf die Füße, als er Ritas Namen hörte.

»Laß diesen Unfug«, sagte er trocken, blinzelnd, als habe der Sonnenstrahl seine Augen getroffen. Dronow ließ den Löscher achtlos auf den Tisch fallen. Klim, der sich bemühte, gelassen zu bleiben, fragte:

»Du lebst also immer noch mit ihr?«

»Warum sollte ich nicht... ?«

Klim hockte sich auf die Tischkante und musterte Dronow. In dem gleichmütigen Ton, in dem er von Margarita sprach, glaubte Klim etwas Verdächtiges zu hören. So begann er denn sehr freundschaftlich und mit verstellter Naivität Dronow über das Mädchen auszuforschen. Dronow fand seine alte Ruhmredigkeit wieder. Eine Minute später empfand Klim den Wunsch, ihn anzuschreien: »Scher dich hinaus!«

»Sie ist gut«, sagte Dronow.

Klim wandte ihm den Rücken zu. Dronow verfinsterte sich plötzlich und wechselte das Thema:

»Ich bin auf dem besten Wege, Tomilin zu hassen. Schon jetzt habe ich manchmal Lust, ihm eins hinter die Löffel zu geben. Ich brauche Wissen, und er lehrt an nichts glauben, behauptet, die Algebra sei willkürlich, der Teufel soll wissen, was er eigentlich will! Er hämmert einem in den Schädel, der Mensch müsse das Spinngewebe der von der Vernunft gemachten Begriffe zerreißen und irgendwohin, in die Grenzenlosigkeit der Freiheit entspringen. Das ist so, als ob man mir sagte: ›Lauf nackt herum!‹ Was für ein Teufel mag diese Kaffeemühle drehen?«

Klim preßte durch die Zähne:

»Ein sehr kluger Mensch.«

»Klug?« fragte sichtlich befremdet Dronow, blickte wütend auf die Uhr und erhob sich.

»Sprich mal mit Warawka.«

Ohne ihn wurde das Zimmer gleich freundlicher, Klim stand am Fenster, zupfte an den Blättern der Begonien und verzog sein Gesicht, niedergedrückt vom Zorn und von der Demütigung. Als er im Vorzimmer Warawkas Stimme vernahm, lief er sogleich zu ihm hinaus. Warawka bewunderte sich im Spiegel, kämmte seinen fuchsigen Bart und schnitt Fratzen:

»Nach Rjasan, jawohl, nach Rjasan«, antwortete er zornig auf Klims Frage. »Oder nach allen vier Windrichtungen. Laß das Bitten!«

»Ich beabsichtige auch nicht, für ihn zu bitten«, sagte Klim mit Würde.

Waranka faßte ihn um die Taille und führte ihn in sein Kabinett. Inzwischen sagte er:

»Ich bin dieses Burschen überdrüssig. Er arbeitet schlecht, ist zerstreut und frech. Und liebt es allzu sehr, mit meinen Untergebenen zu schwatzen.«

»Ja«, sagte Klim solide, »es zieht ihn zu ihnen. Er weilt so häufig bei den Katins.«

Warawka drückte ihn in den Sessel neben dem gewaltigen Schreibtisch und fuhr fort:

»Ich begreife nicht, was dich zu solchen Typen wie Dronow oder dieser Makarow hinzieht? Du studierst sie wohl, wie?«

Immer spöttisch, oft scharf, wußte Warawka dennoch sowohl einschmeichelnde wie freundschaftlich eindringliche Töne anzuschlagen. Es war nicht das erstemal, daß Klim empfand, wie leicht dieser Mensch ihn bewegen konnte, mehr zu sagen, als gut war, und er versuchte, mit dem Pflegevater ausweichend und vorsichtig zu sprechen. Doch wie stets, verstand Warawka unbemerkt aus ihm herauszulocken, daß Lida und Makarow sich zu oft sahen und ihre Beziehungen große Ähnlichkeit mit einem Liebesverhältnis hatten. Es ergab sich ganz von selbst; sehr einfach: zwei ernste, geistig ebenbürtige Männer tauschten besorgt ihre Ansichten über jugendliche, noch ungefestigte Menschen aus und gaben ihrer Unruhe bezüglich ihrer Zukunft Ausdruck. Es wäre sogar unpassend gewesen, das seltsame Verhältnis zwischen Lida und Makarow zu verschweigen.

Warawka schloß einige Sekunden seine Bärenäuglein, schob die Hand unter den Bart und faltete ihn mit einer raschen Geste fächerartig auseinander. Dann sagte er mit einem Lächeln seiner fleischigen Lippen:

»Romantik! Die Krankheit ihrer Jahre. An dir wird sie vorübergehen, davon bin ich überzeugt. Lida ist in der Krim. Im Winter geht sie an eine Theaterschule.«

»Aber Makarow wird doch im Winter in Moskau studieren?« erinnerte Klim.

Warawka antwortete nicht. Er schnitt sich die Nägel, die Splitter flogen auf den mit Papieren bedeckten Tisch. Dann zog er sein Notizbuch hervor, schrieb mit dem Blei Zeichen hinein und versuchte eine Melodie zu pfeifen, die jedoch nicht richtig herauskam.

»Bist du zuweilen drüben im Seitenflügel?« fragte er und sagte sofort, Klim freundschaftlich aufs Knie klapsend:

»Mein Rat: geh nicht hin. Natürlich, es sind unschuldige, harmlose Menschen, und ihre ganze Beredsamkeit läuft auf den Wunsch hinaus, sich zu häuten. Doch es gibt über sie auch eine andere Meinung. Wenn in einem Staat eine politische Polizei besteht, muß es auch politische Verbrecher geben. Zwar ist heute die Politik aus der Mode – so wie etwa die Reifröcke –, doch gibt es trotzdem so etwas wie zähes Festhalten am alten Glauben. Eine Revolution ist in Rußland nur möglich als Bauernaufstand, das heißt nur als kulturell fruchtlose, zerstörende Erscheinung.«

Darauf verbreitete er sich lange über den Dekabristenaufstand, er nannte ihn eine »originelle tragische Bouffonade«, über die Sache der Petraschewzen, »eine Verschwörung gewerbsmäßiger Schwätzer«, doch ehe er zu den Volkstümlern übergehen konnte, erschien hoheitsvoll die Mutter in einer fliederfarben Robe mit Spitzen und mit einer langen Perlenschnur auf der Brust.

»Es ist Zeit«, sagte sie strenge, »und du bist noch nicht angezogen.«

»Verzeih!« rief Warawka schuldbewußt aus, sprang auf und lief zur Tür, »wir hatten ein so interessantes Gespräch.«

Klim berührte es immer wohltuend, zu sehen, wie seine Mutter diesen Menschen lenkte gleich einem Geschöpf, das tiefer stand als sie, gleich einem Pferd. Sie sah Warawka nach, seufzte, glättete dann mit ihren wohlriechenden Fingern Klims Brauen und forschte:

»Wovon habt ihr denn gesprochen?«

»Ich glaube, ich habe taktlos gehandelt«, gestand Klim, der Dronow meinte, aber von Lida und Makarow zu sprechen schien.

»Wie hättest du anders handeln sollen?« wunderte sich ein wenig die Mutter. »Es war deine Pflicht, ihren Vater zu warnen.«

»Fertig«, sagte Warawka, der in der Tür erschien. Im Gehrock sah er besonders grobschlächtig aus.

Sie gingen. Klim blieb in der Stimmung eines Menschen zurück, der Zweifel hat, ob er eine plötzlich vor ihm aufgetauchte Aufgabe lösen soll oder nicht. Er öffnete ein Fenster. Die ölige Luft des Abends schlug ins Zimmer. Eine schmächtige blaue Wolke umhüllte die Mondsichel. Klim beschloß:

»Ich gehe zu ihr.«

Nachdem er so beschlossen hatte, zögerte er. Dem drängenden Wunsch, Margarita zu besuchen, stand ein Gefühl der Unsicherheit und die Befürchtung entgegen, er würde sich nicht beherrschen können, sie nach Dronow fragen, und plötzlich könne es sich erweisen, daß Dronow die Wahrheit sagte. Diese Wahrheit wünschte er nicht zu hören.

Aus dem Flügel traten, einer hinter dem anderen, dunkle Menschen, die Bündel und Koffer trugen. Der Schriftsteller führte Onkel Jakow am Arm. Klim wollte in den Hof laufen, ihm Lebewohl sagen, aber er blieb an seinem Fenster, da er sich erinnerte, daß sein Onkel ihn unter den Leuten längst nicht mehr bemerkte. Der Schriftsteller setzte den Onkel sorglich in eine Equipage. Der Onkel rief:

»Wo ist das Paket?«

»Bei mir«, antwortete laut der Schriftsteller.

Die Equipage rollte schwerfällig hinaus in den Straßennebel.

Der Onkel zog die Mütze über die Ohren. Er blickte nicht zum Tor zurück, wo die Frau des Schriftstellers, ihre Schwester und noch zwei Fremde Tücher und Hüte schwenkten und freudig riefen:

»Leben Sie wohl!«

Die ganze Szene und der Nebel erinnerten Klim an eine Episode in einem langweiligen Roman, an das Abschiedgeleit für ein junges Mädchen, das den Entschluß gefaßt hat, eine Stellung als Gouvernante anzunehmen, um seine verarmten Angehörigen zu ernähren.

Klim seufzte, hörte zu, wie die Stille das Rollen der Equipage verschluckte und zwang sich, an seinen Onkel zu denken, ihn in den Rahmen sehr bedeutender Worte einzufügen, doch im Kopf summte wie eine Mücke die schmerzliche Frage:

»Wie, wenn Dronow doch die Wahrheit gesagt hätte?«

Diese Frage, die ihn nicht zu Margarita ließ, erlaubte ihm gleichzeitig nicht, an etwas anderes als an sie zu denken. Nachdem er eine öde Stunde im Dunkeln zugebracht hatte, ging er auf sein Zimmer, zündete die Lampe an und betrachtete sich im Spiegel. Er zeigte ihm ein beinahe fremdes Gesicht, es sah beleidigt aus und war zerfurcht von Ratlosigkeit. Er löschte sofort das Licht, entkleidete sich im Finstern, legte sich ins Bett und zog das Laken über die Ohren. Doch nach wenigen Minuten redete er sich ein, er müsse gleich heute, sofort Margarita der Lüge überführen. Ohne Licht zu machen, warf er sich in die Kleider und ging zu ihr, kriegerisch gestimmt und fest auftretend. Wie immer begrüßte Margarita ihn mit dem vertrauten Ausruf:

»Aha, du bist gekommen!«

Schon lange bedrückten ihn diese Worte, nie hörte er in ihnen Freude oder Vergnügen. Und immer beschämender wurden ihre gleichförmigen Liebkosungen, die sie wahrscheinlich fürs ganze Leben eingeübt hatte. Das Bedürfnis nach diesen Zärtlichkeiten quälte Klim zeitweilig bereits ein wenig, es erschütterte sogar seine Selbstachtung.

Doch dieses Mal klangen die bekannten Worte auf eine neue Weise farblos. Margarita kam eben aus dem Bade. Sie saß an der Kommode, vor dem Spiegel und kämmte ihr feuchtes, dunkel gewordenes Haar. Ihr gerötetes Gesicht schien zornig.

Ausholend, ein Grinsen auf den Lippen, doch mit wutzitternder Hand schlug Klim sie leicht auf die heiße, dampfende Schulter. Aber sie sagte abwehrend und ungehalten:

»Das tut weh, was fällt dir ein?«

Und sprach sofort in nüchternem Ton:

»Eine Neuigkeit: ich trete eine gute Stelle an, in einem Kloster, in der Schule, ich werde den Mädchen dort Unterricht im Nähen erteilen. Eine Wohnung erhalte ich auch. In der Schule. Also, leb wohl. Männerbesuch ist dort untersagt.«

Sie ließ ihr Hemd bis zu den Knien herab, trocknete mit dem Handtuch Hals und Brust ab und bat nicht, sondern befahl:

»Reib mir den Rücken ab!«

Als der Jüngling sie nackt sah, fühlte er seinen Vorrat an kriegerischem Geist schwinden. Doch der Befehl des Mädchens befremdete und empörte ihn. Niemals hatte sie sich an ihn mit der Bitte um derartige Dienste gewandt, und er entsann sich nicht eines Falls, wo die Höflichkeit ihn hatte Rita einen solchen Dienst erweisen lassen. Er saß und schwieg. Das Mädchen fragte:

»Bist du faul?«

Da gab er der aufflammenden Wut nach und sagte leise und verächtlich: »Du hast mich belogen. Dronow ist dein Geliebter.«

Sofort erkannte er, daß er nicht die richtigen Worte gewählt hatte. Margarita, die ihre neuen Stiefel anprobierte, wandte ihm den Rücken zu. Sie antwortete nach einer Weile gelassen:

»Wie gut sich das trifft!«

Und fragte darauf:

»Hat Fenjka es dir gesagt?«

Klim fühlte sich durch diese Frage wie vor die Brust gestoßen. Er trommelte krampfhaft mit den Fingern auf seiner Gürtelschnalle und wartete auf das, was sie noch sagen würde. Doch Margarita, die jetzt mit einem Haken die Stiefel zuknöpfte, sagte weiter nichts.

»Dronow hat es mir selbst erzählt«, sagte Klim grob.

Sie stand auf, schürzte ein wenig den Rock und besah kritisch ihre Füße. Setzte sich dann wieder auf den Stuhl, seufzte erleichtert auf und wiederholte:

»Wie gut sich das trifft! Seit einer Woche denke ich darüber nach, wie ich es dir sagen soll, daß ich nicht mehr mit dir zusammen sein kann.«

Klim fühlte, daß sie ihn um den klaren Verstand brachte. Beinahe zerstreut fragte er:

»Warum hast du gelogen?«

Das Mädchen blickte aus dem Fenster, als sie mit fester Stimme und so, wie wenn ihre Gedanken wo anders weilten, sagte:

»Deine Mama hat mir nicht dazu Geld bezahlt, daß ich dir die Wahrheit sagen sollte, sondern damit du dich nicht mit Straßenmädchen herumtreibst und bei ihnen womöglich ansteckst.«

Klim, der die Empfindung hatte, geröstet zu werden, schrie:

»Du lügst, meine Mutter konnte das nicht tun!«

»Er drückt«, sagte leise Rita, ihren Fuß unter dem Rocksaum vorstreckend, und nachdem sie irgendjemand »Lump« geschimpft hatte, fuhr sie gleichgültig und belehrend fort:

»Der Mama solltest du nicht zürnen, sie sorgt sich um dich. In der ganzen Stadt weiß ich nur drei Mütter, die sich so um ihre Söhne sorgen.«

Klim vernahm ihre unsinnigen Worte durch ein Sausen im Kopf hindurch. Seine Beine zitterten. Hätte Rita nicht so gelassen gesprochen, würde er geglaubt haben, sie mache sich über ihn lustig.

»Also hat Mutter sie gemietet«, überlegte er. »Hat sie bezahlt. Darum war dieses elende Weib auch so selbstlos.«

»Sie ist zwar hochmütig und hat mich beleidigt, aber trotz alledem sage ich, sie ist eine seltene Mutter. Jetzt, nachdem sie mir meine Bitte, Wanja nicht nach Rjasan zu schicken, abgeschlagen hat, brauchst du nicht mehr zu mir kommen. Ich werde auch bei euch nicht mehr nähen.«

Das letztere sprach sie wie eine Drohung aus, als glaube sie, daß ohne ihre Arbeit die Samgins und die Warawkas die unglücklichsten aller Sterblichen würden.

Klim verspürte eine Anwandlung, seinen Gurt abzuschnallen und dem Mädchen damit in das immer noch rote und schwitzende Gesicht zu schlagen. Doch er fühlte sich entkräftet durch diese alberne Szene und war von den Ohren bis zu den Schultern rot vor Scham und Kränkung. Ohne einen Blick, ohne ein Wort für Margarita ging er hinaus. Ihn begleitete ihr vorwurfsvoller Ausruf:

»Pfui, wie häßlich! Früher warst du höflich!«

Lange irrte er durch die Straßen, saß dann grübelnd im Stadtpark. Was tun? Er hatte Lust, Dronow zu prügeln oder ihm ins Gesicht zu sagen, daß man Margarita mietete wie eine Prostituierte, er wollte seiner Mutter etwas sehr Rüdes sagen, das sie in Verwirrung setzte. Doch diese Wünsche glitten nur über die Oberfläche des hartnäckigen, eigensinnigen Gedankens an Margarita. Er war gewohnt, sie herablassend und ironisch zu behandeln und beschäftigte sich nun zum erstenmal mit dem ganzen Ernst, dessen er fähig war, mit dem Mädchen. Margaritas Bild spaltete sich auf unerklärliche Weise. Er gedachte ihrer unzweifelhaft ehrlichen Liebkosungen, ihrer einfachen, oft lächerlichen, doch aufrichtigen Worte, jener dummen, zärtlichen Worte der Liebe, die einen Helden Maupassants bestimmten, sich von seiner Geliebten loszusagen. Mit welchen Liebkosungen mochte sie Dronow belohnen, was für Worte mochte sie ihm zuflüstern? In stumpfer Ratlosigkeit vergegenwärtigte er sich die Sorge des Mädchens für die Wonnen seines Körpers und fragte sich, wie sie es fertigbrachte, so unauffällig und geschickt zu lügen. Als ihm ihre Äußerung über die drei umsichtigen Mütter einfiel, und er sich vorstellte, ihrer Fürsorge könnten vielleicht noch zwei solcher Menschen wie er anvertraut sein, schoß ihm ein seltsamer, bizarrer Gedanke durch den Kopf:

»Prostituierte oder barmherzige Schwester?«

Doch er verwarf diesen Gedanken, sobald er sich erinnerte, daß Rita offenbar nur den Vierten, den häßlichen, abstoßenden Dronow liebte.

Diese Betrachtungen, die ein immer heftigeres Gefühl des Ekels und des Schmerzes auslösten, wurden unerträglich quälend, aber sie abzuweisen, fehlte Klim die Kraft. Er saß auf der eisernen Bank und starrte auf den dunklen, öden Fluß. Seine Wasser schimmerten stumpf wie ein ungeheures Stück Wellblech; sie flössen träge und lautlos und scheinbar in großer Entfernung dahin. Die Nacht war dunkel, mondlos, im Wasser spiegelten sich, gelbe Tropfen Fett, die Sterne. Hinter seinem Rücken hörte Klim Schritte, Gelächter und Stimmen. Ein verschmitzter Tenor sang nach der Melodie »La donne e mobile«:

Hör' deine Stimme ich


Zärtlich verheißend,


Heißt's, für die Stimme hol'


Geld aus dem Beutel!

Vernichtende Gewöhnlichkeit schmetterte sieghaft aus dem Liedchen. Klim mußte plötzlich zusammenfahren. Er sprang auf und eilte nach Hause.

Die Mutter und Warawka fuhren in die Sommerfrische. Alina befand sich ebenfalls auf dem Lande, Lida und Ljuba Somow in der Krim. Klim war in der Stadt geblieben, um die Hausreparatur zu überwachen und mit Rziga Latein zu lernen. Allein mit sich selbst, war Klim der Notwendigkeit, seine gewohnte Rolle zu spielen, enthoben, und er erholte sich langsam vor dem Schlag, der ihn getroffen hatte. Seine Gedanken weilten immer bei Margarita, doch diese Gedanken verloren allmählich ihre Schärfe und wurden, wenn sie auch noch schmerzten, verschwommener. Sie ließen ihn das Mädchen in einem neuen Licht sehen. Klim war schon nicht mehr geneigt, anzunehmen, Margaritas Verstand sei dumpf. Die Erinnerung weckte ihre ermahnenden Reden auf und ließ ihn denken, am häufigsten seien sie von Erbitterung gegen die Frauen gefärbt gewesen. So hatte Margarita einmal, während sie aus dem Bett sprang und ihren schweißnassen Körper mit einem Schwamm abrieb, beifällig gesagt:

»Es ist sehr gut für dich, daß du nicht heiß bist. Unsereins liebt es, die Heißen zum Glühen zu bringen und sie dann zu einem Haufen Asche zu verbrennen. Durch uns gehen viele zugrunde.«

Ein anderes Mal beteuerte sie zärtlich:

»Glaub nicht an Weiberliebe. Denk daran, daß das Weib nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Körper liebt. Die Weiber sind schlau, hu! und böse. Sie lieben nicht einmal einander, sieh' einmal zu, wie erbost sie auf der Straße sich anblicken! Das macht alles die Gier: jede ist wütend, daß außer ihr noch andere auf der Welt sind.«

Sie machte sogar Anstalten, ihm eine Liebesgeschichte von sich zu erzählen, doch er nickte ein, und von dem ganzen Roman erhielten sich in seinem Gedächtnis nur die wenigen Worte:

»Und was wollte sie? Ihn mir abspenstig machen, weiter nichts. Denn sie sah, daß ich es besser verstand.«

Nun, da ihre Ermahnungen vor ihm auftauchten, wunderte er sich darüber, daß sie so zahlreich gewesen waren und einander so glichen, und war bereit zu glauben, ihr Gewissen habe sie so reden lassen, um ihn vor ihrem Betrug zu warnen.

»Will ich sie denn entschuldigen?« fragte er sich. Doch zugleich erschien Dronows plattes Gesicht, sein beständiges, prahlerisches Lächeln, seine schamlosen Erzählungen über Margarita.

»Wenn ich und sie zusammen ins Wasser fielen, würde sie mich ertränken wie Wera Somow Boris«, dachte er erbittert.

Aber mochte er auch voll Erbitterung an Margarita denken, er fühlte doch in sich den Wunsch wachsen, sie zu sehen, und das empörte ihn noch mehr. Ein Ventil für seine Wut fand er in den Arbeitern.

Schräg gegenüber dem Samginschen Haus rissen Bauarbeiter ein zweistöckiges kasernenartiges Gebäude mit kleinen trübseligen Fenstern nieder, das einmal gelb gestrichen gewesen war. Warawka hatte dieses Haus für den Kaufmannsklub erworben. Es arbeiteten ungefähr zwanzig staubige Menschen, doch unter ihnen ragten besonders zwei hervor: ein kraushaariger wulstlippiger Bursche mit runden Augen im zottigen, vom Staub graugefärbten Gesicht und ein altes Männchen in einer blauen Bluse und einem gewaltigen Schurz. Die gußeisernen Hände des Jüngeren zertrümmerten mit einer Brechstange die fest zusammengeballten Ziegel der alten Mauer. Die Kraft des Burschen war groß, er spielte und prahlte mit ihr, während das alte Männchen ihn quiekend anstachelte:

»Feste, Motja! Schlag alles kaputt, Mottja – bald ist Feierabend!«

Der Vorarbeiter, ein fuchsbärtiger, stämmiger Bauer, mahnte:

»Laß den Unsinn, Nikolaitsch! Wozu den Ziegel zerschlagen?« Der Alte witzelte:

»Bin ich's denn? Das ist doch Motja! Ach, Motja, daß du einen Ast ins Ohr kriegst! Eine Kraft bist du aber auch!« Und bemühte sich dabei selbst, mit dem Brecheisen nicht zwischen die Ziegel, auf den Mörtel, zu treffen, der sie zusammenhielt, sondern auf die heilen Steine. Der Vorarbeiter rief von neuem gewohnheitsmäßig, aber gleichgültig, alter Ziegel sei noch zu gebrauchen, er sei größer und stärker als neuer, und das alte Männchen quiekte beifällig:

»Recht so! Unsere Väter machten bessere Arbeit als wir! Ach, Motja!«

Alle Arbeiter brachen mit Wonne die Mauer nieder, doch der Alte hatte offenbar alle Grenzen überschritten, und seine Raserei war widerwärtig. Motja hingegen arbeitete blind, wie eine Maschine, drauf los, und wenn es ihm geglückt war, mehrere Backsteine auf einmal loszuhauen, ächzte er betäubend, die Arbeiter lachten, pfiffen, und das Männchen kreischte wütig und schauerlich:

»Feste!«

»Idioten!« dachte Klim. Ihm fielen die stummen Tränen seiner Großmutter angesichts der Trümmer ihres Hauses ein, Straßenszenen, Schlägereien der Handwerker, Ausschreitungen betrunkener Bauern vor den Türen der Marktschenken auf dem städtischen Platz gegenüber dem Gymnasium und Warawkas höhnische Glossen über das betrunkene, schlaue und faule Volk. Nach der Geschichte mit Margarita hatte er den lebhaften Eindruck, daß alle Menschen schlechter geworden waren, sowohl der gottesfürchtige tugendsame alte Hausmeister Stepan wie die schweigsame dicke Fenja, die unersättlich alles Süße, das sie zwischen die Finger bekam, verschlang.

»Das Volk!« dachte er amüsiert, während er sich jene hitzigen Reden über die Liebe zum Volk und über die Notwendigkeit, für seine Aufklärung zu wirken, zurückrief.

Klim begab sich zu Tomilin, um mit ihm über das Volk zu plaudern, in der heimlichen Erwartung, seine Abneigung werde gerechtfertigt werden. Doch Tomilin schüttelte sein kupferrotes Haupt und sagte:

»Ein aufrichtiges Interesse für das Volk mögen Industrielle, Ehrgeizige und Sozialisten hegen. Das Volk ist kein Thema, das mich angeht.«

Tomilin wurde augenscheinlich wohlhabend. Er kleidete sich nicht nur reinlicher, auch die Wände seines Zimmers bedeckten sich rasch mit neuen Büchern in deutscher, französischer und englischer Sprache.

»Es gibt nichts Russisches zum Lesen«, erläuterte er. Auf russisch wird zwar interessant empfunden, aber unscharf, unselbständig und unoriginell gedacht. Das russische Denken ist tief gefühlsmäßig, daher roh. Denken ist nur dann fruchtbar, wenn es vom Zweifel bewegt wird. Dem russischen Verstand ist aber Skepsis ebenso fremd, wie dem Geist der Hindu oder der Chinesen. Bei uns strebt alles zum Glauben, gleichgültig woran, sei es an die erlösende Kraft des Unglaubens oder an Christus, an die Chemie oder an das Volk. Wir haben keine Menschen, die sich zur Ruhelosigkeit eigenen Denkens verdammt haben.«

Nicht alle diese Urteile behagten Klim. Viele von ihnen konnte er seiner ganzen Natur nach nicht anerkennen. Aber er versuchte redlich, alles aufzubewahren, was Tomilin im Takt seiner schlurrenden Filzpantoffeln oder bloßen Füße von sich gab.

»Es gibt bei uns niemand, der der Wahrheit um ihrer selbst willen, um der Seligkeit, die sie gewährt, bedürfte. Ich wiederhole: der Mensch begehrt die Wahrheit, weil er nach Frieden dürstet. Dieses Bedürfnis wird vollauf befriedigt durch die sogenannten wissenschaftlichen Wahrheiten, deren praktische Bedeutung ich nicht leugne.«

Als er eines Tages wieder einmal den Lehrer aufsuchte, wurde er von der Witwe des Hauswirts – der Koch war an Lungenentzündung gestorben – angehalten. Sie saß auf dem Söller und scheuchte mit einem Akazienzweig die Fliegen aus ihrem ölig gleißenden Gesicht. Sie zählte bereits vierzig Jahre, massig, mit dem Busen einer Amme, vertrat sie Klim den Weg, deckte die Tür mit ihrem breiten Rücken und sagte mit einem Lächeln ihrer Schafsaugen:

»Entschuldigen Sie, er schreibt gerade und hat befohlen, niemand vorzulassen. Selbst Vater Innokenti hat er abgewiesen. Zu ihm kommen nämlich jetzt die Priester. Aus dem Seminar und aus der Himmelfahrtskirche.«

Sie sprach mit gedämpfter Stimme, verschluckte die Worte, und ihre Schafsaugen leuchteten vor Freude. Klim sah, daß sie sich anschickte, lange über Tomilin zu sprechen. Aus Anstand hörte er sie drei Minuten an und verabschiedete sich, als sie seufzend sagte:

»Anfangs hatte ich Mitleid mit ihm, jetzt fürchte ich ihn.«

Häufig und stets zur unrechten Stunde stellte sich Makarow ein, staubig, in einer von einem breiten Riemen umgürteten Segeltuchbluse, sein zweifarbiges Haar war verwildert und hing in dichten Strähnen herab, was ihm das Aussehen eines Klosterbruders gab. Sein verwittertes Gesicht war von der Sonne verbrannt, von Ohren und Nase schälte sich, gleich Fischschuppen, die Haut, und in den Augen staute sich Trauer. Doch von Zeit zu Zeit flammten sie in einer Weise auf, die Klim fremdartig berührte und ihn mit einer unbestimmten Vorahnung erfüllte. Er begegnete Makarow zurückhaltend und verheimlichte seinen Verdruß über die strolchmäßige Liederlichkeit seines Anzugs und seinen mitleidigen Spott über seine langweilig gewordenen Reden. Makarow pilgerte durch Dörfer und Klöster und erzählte davon wie von Reisen in fernen Ländern, doch was immer er erzählen mochte, Klim hörte immer das Weib und die Liebe hindurch.

»Du studierst wohl das Volk?«

»Mich selbst natürlich. Mich selbst, nach dem Gebot der alten Weisen«, entgegnete Makarow. »Was heißt das: das Volk studieren? Lieder aufzeichnen? Die Bauerndirnen plärren den schimpflichsten Blödsinn. Die Greise singen Totenmessen. Nein, mein Lieber, auch ohne Lieder ist es traurig genug auf der Welt«, schloß er und strich mit den Fingern die zerknüllte Zigarette, die mit Staub gestopft zu sein schien, glatt. Dann sagte er noch:

»Manchmal dünkt mich, die Tolstoianer haben recht: das Klügste, was man tun kann, ist, wie Warawka das ausdrückt, wieder dumm werden. Vielleicht ist wahre Weisheit hundemäßig einfältig, und wir verrennen uns ganz vergebens in unendliche Fernen?«

Klim konnte auf diese Fragen nur mit Tomilins Worten entgegnen, die Makarow ohnehin bekannt waren. Er schwieg und dachte, wenn Makarow es über sich brächte, mit einem Mädchen wie Rita zu verkehren, würden alle seine Ängste im Nu verschwinden. Noch besser wäre es, wenn dieser wildhaarige Adonis Dronow die Näherin fortnahm und aufhörte, bei Lida zu scharwenzeln. Makarow erkundigte sich nie nach ihr, aber Klim bemerkte, daß er manchmal, während er erzählte, seinen Kopf horchend gegen die Zimmerdecke richtete.

»Er denkt, sie ist zurück«, erriet Klim amüsiert, wenn auch mit leichtem Verdruß. Makarow murmelte gedankenvoll:

»Manchmal scheint einem, Verstehen sei etwas Dummes. Ich habe wiederholt auf freiem Feld übernachtet. Man liegt schlaflos auf dem Rücken, starrt in die Sterne, denkt an Bücher und plötzlich, verstehst du, durchzuckt es einen wie ein elektrischer Schlag: wie wenn die Erhabenheit und Grenzenlosigkeit des Weltenraums nur Dummheit wäre, irgend jemandes Unfähigkeit, die Welt vernünftiger, einfacher einzurichten.

»Das hast du, scheint's, von Tomilin«, erinnerte Klim.

Makarow dachte nach und stieß Rauchwolken aus seiner Zigarette:

»Ganz gleich, woher. Jedenfalls läuft es darauf hinaus, daß der Mensch seinem eigenen Verstand unzugänglich bleibt.«

Makarows Mißvergnügen über die Welt reizte Klim, erschien ihm als abgeschmackter Versuch, den Philosophen herauszukehren, Tomilin nachzuäffen. Er sagte unwillig, ohne seinen Freund anzusehen:

»Noch ein, zwei Jahre, und wir denken überhaupt nicht mehr an diese ...«

Er wollte sagen »Albernheiten« oder »Bagatellen«, beherrschte sich aber und ergänzte:

»So naiv.«

Makarow drückte die Zigarette an seiner Sandale aus und fragte:

»Werden Trottel, wie?«

Darauf lieh er sich von Klim drei Rubel und verschwand. Klim, der von seinem Fenster aus sah, wie leichtfüßig und beschwingt er über den Hof eilte, verspürte eine Anwandlung, ihm die Faust zu zeigen.

Am Sonnabend fuhr Klim in die Sommerfrische hinaus. Schon von fern sah er auf der Veranda in einem Schaukelstuhl am Säulchen die Mutter und Lida in einem weißen Kleid, einen himbeerroten Schal um die Schultern. Unwillkürlich schrak er zusammen, reckte sich und sagte, obwohl der Gaul ganz bedächtig trabte:

»Nicht so laut.«

Er empfand sogar etwas wie Schüchternheit, als Lida ihm ohne ein Lächeln die Hand drückte und einen schnellen, unfreundlichen Blick in sein Gesicht warf. Seit den letzten zwei Monaten hatte sie sich auffallend verändert. Ihr braunes Gesicht war noch dunkler geworden, ihre hohe, ein wenig spröde Stimme klang voller.

»Das Meer ist ganz anders, als ich dachte«, sagte sie der Mutter. »Einfach eine große, flüssige Langeweile, Die Berge sind eine steinerne Langeweile, vom Himmel begrenzt. Nachts denkt man, die Berge kriechen auf die Häuser und drängen sie ins Wasser und die See ist schon auf dem Sprunge, sie zu fassen.«

Wera Petrowna warf einen Blick auf den Waldsaum, aus dem die Straße herauskam, und gab zu bedenken:

»Nachts denkt man nicht, sondern schläft.«

»Dort schläft es sich schlecht, die Brandung stört, die Steine knirschen wie Zähne. Das Meer schmatzt wie eine Million Schweine.«

»Du bist noch immer so.... nervös«, sagte Wera Petrowna. Am Stocken erriet Klim, daß sie etwas anderes sagen wollte. Er bemerkte, daß Lida ein ganz erwachsenes Mädchen geworden war, ihr Blick war starr, man mußte denken, daß sie angestrengt auf etwas warte. Sie sprach in einer ihr sonst nicht eigenen hastigen Art, als wünsche sie sich alles recht schnell von der Seele zu reden.

»Ich verstehe nicht, weshalb man übereingekommen ist, die Krim schön zu finden.«

Ihr Eigensinn ärgerte offensichtlich die Mutter. Klim beobachtete, daß sie die Lippen zusammenpreßte und daß ihre rot gewordene Nasenspitze zitterte.

»Die meisten Menschen suchen die Schönheit, ganz wenige schaffen sie«, begann er, »Möglich, daß der Natur die Schönheit so vollständig abgeht wie dem Leben die Wahrheit. Es ist der Mensch, der sich Wahrheit und Schönheit schafft.«

Lida fiel ihm ins Wort:

»Du bist alt geworden, ich meine – reif...«

Wera Petrowna stand auf und ging ins Haus. Auf dem Wege sagte sie unnötig laut:

»Es war eine sehr treffende Bemerkung von dir, das über die Schönheit, Klim.«

Allein mit Lida, fühlte er zu seinem Erstaunen, daß er ihr nichts zu sagen wußte. Das Mädchen wandelte auf der Veranda auf und ab. Nach dem Walde blickend, sagte sie:

»Vater ist auf die Jagd gegangen?«

»Ja.«

»Allein?«

»Mit einem Bauern. Einem von den sieben Bauern, die der Gouverneur im Frühjahr hat auspeitschen lassen.«

»So?« machte Lida. »Dort haben auch irgendwo die Bauern rebelliert. Man hat sogar auf sie geschossen. Na, ich werde jetzt gehen, ich bin müde.«

Sie schritt die Verandastufen hinab, auf das kleine Gehölz aus schlanken Birken zu, und sagte, ohne sich umzuwenden:

»Ljuba hat die Stellung einer Gesellschafterin bei einem schwindsüchtigen Mädchen angenommen.«

Sie verschwand im Birkenwäldchen und ließ Klim empört über ihre Kälte allein. Er saß im Schaukelstuhl seiner Mutter, schlug sich mit einem gelben französischen Buch, Maupassants Roman »Stark wie der Tod«, auf die Knie und tauchte in einem Strom wirrer Gedanken unter. Natürlich war sie kein Mädchen für eine Liebe wie die Ritas. Es war unmöglich, sich ihren gebrechlichen, feinen Körper im Sturm wollüstiger Zuckungen vorzustellen. Dann erinnerte er sich der rotgewordenen Nase seiner Mutter und der Reden, die sie bei seinem letzten Besuch in der Sommerfrische hier auf der Veranda mit Warawka getauscht hatte. Klim hielt sich in seinem Zimmer auf und hörte, wie die Mutter gleichsam mit Genugtuung sagte:

»Gott, du bekommst ja eine Glatze!«

Warawka erwiderte:

»Und ich, siehst du, bemerke die grauen Haare an deinen Schläfen nicht. Meine Augen sind höflicher.«

»Bist du verstimmt?«

»Nein, aber es gibt Worte, die man aus dem Munde einer Frau nicht gern hört. Noch dazu einer Frau, die so erfahren in den Regeln französischer Galanterie ist.«

»Weshalb sagtest du nicht – der geliebten Frau?«

»Und der geliebten«, ergänzte Warawka.

Klim fiel Margaritas Ausspruch über seine Mutter ein. Er ließ das Buch fallen und blickte zum Wäldchen hin. Lidas weiße, zierliche Figur war zwischen den Birken verschwunden.

»Ich bin neugierig, wie sie wohl Makarow begrüßen wird. Ob sie wohl erraten wird, daß ich das Geheimnis zwischen Mann und Weib schon erforscht habe? Und wenn sie es errät, ob mich dies in ihren Augen heben wird? Dronow will wissen, daß Mädchen und Frauen an gewissen Kennzeichen untrüglich erraten, ob ein Jüngling die Unschuld verloren hat. Die Mutter sagt von Makarow, man sehe es ihm an den Augen an, daß er ein ausschweifender Mensch sei. Die Mutter beginnt immer häufiger ihre nüchternen Bemerkungen mit der Anrufung Gottes, obgleich sie nur an Gott glaubt, weil es sich gehört..«

Im Sessel schaukelnd, fühlte Klim sich aufgewühlt und unfähig, die Unruhe, die Lidas Ankunft in ihm hervorrief, zu deuten. Dann begriff er plötzlich, daß er Furcht hatte, Lida könne vom Dienstmädchen Fenja seinen Roman mit Margarita erfahren.

»Hätte Mutter diese Dirne nicht bestochen, so würde Margarita mich abgewiesen haben«, dachte er und preßte seine Finger so heftig zusammen, daß sie knackten. »Eine seltene Mutter.«

Lida war, von niemand bemerkt, von ihrem Spaziergang zurückgekehrt. Als man sich zum Abendessen setzte, stellte es sich heraus, daß sie schon schlief. Am nächsten Morgen tauchte sie nur einmal morgens und abends für kurze Zeit auf. Wera Petrownas Fragen beantwortete sie nicht gerade höflich und so, als suche sie Streit.

Wera Petrowna reichte ihr den Maupassant. »Hast du das gelesen?« erkundigte sie sich.

»Ja, es ist recht langweilig.«

»Wirklich? Ich finde es nicht.«

»Eine komische Angewohnheit, das Lesen«, meinte Lida. »Es ist dasselbe, als ob man auf fremde Kosten lebte. Und alle fragen einander: hast du gelesen, hat er gelesen, hat sie gelesen?«

»Gott weiß, was du da redest«, bemerkte, ein wenig verletzt, Wera Petrowna; Lida aber fuhr boshaft lächelnd fort:

»Das reine Spatzengezwitscher, Außerdem stimmt es gar nicht, daß die Liebe ›stärker als der Tod‹ ist.«

Jetzt war es Wera Petrowna, die lachte:

»Was du sagst! Du hast es wohl schon erfahren'«

»Ich sehe es. Man liebt fünfmal hintereinander und lebt doch.«

Klim schwieg besorgt, er sah voraus, daß sie sich zanken würden, und fühlte, daß er Angst vor Lida hatte.

Am späten Abend fuhr er in die Stadt zurück. Das alte, verwahrloste Wägelchen der Kleinbahn rüttelte wie ein Bauernkarren. Draußen schwamm der schwarze Strom des Waldes vorüber, am Himmel funkte Wetterleuchten. Klim ängstigte die Vorahnung böser Dinge. In sein Grübeln über sich mischte sich das seltsame Mädchen und zwang ihn immer herrischer, an sie zu denken. Dies aber war mühselig. Sie entzog sich seinen Versuchen, Sinn und Richtung ihres Fühlens und Denkens zu ergründen. Doch war es notwendig, daß sie berechenbar sei wie alle anderen Menschen, wie Zahlen. Man mußte feste Schranken finden, alle künstlichen Einfälle, die einen am leichten, einfachen Leben hinderten, aufdecken und von sich werfen und sich in jene Schranken einfügen, – das war notwendig!

Am nächsten Tage trafen Lida und ihr Vater ein. Klim besichtigte mit ihnen, durch Hobelspäne und Abfälle watend, das von Bretterstapeln eingeschlossene Haus, an dem die Stuckateure arbeiteten. Das Eisen des Dachs dröhnte unter den Schlägen der Dachdecker. Warawka schüttelte zornig seinen Bart und hämmerte Klim seine immer ungewöhnlichen Urteile in den Schädel:

»Sie arbeiten wie Sargtischler, flüchtig und unsolide.«

Lida schmiegte sich an ihren Vater, bei dem sie sich eingehakt hatte, was ein neuer Zug an ihr war, und sagte:

»Du, Papa, wärst imstande, eine ganze Stadt zu bauen.«

»Jawohl!« bestätigte Warawka. »Zehn Städte würde ich bauen. Die Stadt, liebes Kind, ist ein Bienenkorb, in der Stadt sammelt sich der Honig der Kultur. Wir müssen um jeden Preis das halbe bäuerliche Rußland in Städten aufsaugen, dann erst werden wir anfangen zu leben.«

Nachdem er mit Lida und Klim geplaudert hatte, schimpfte er mit den Arbeitern, teilte reichlich Trinkgelder aus und fuhr irgendwohin. Lida zog sich auf ihr Zimmer zurück, verkroch sich dort und neckte beim Abendessen Tanja Kulikow mit Fragen:

»Warum ist das so interessant?«

Tanja Kulikow wurde immer grauhaariger, trocknete ein und verblich, als hätte sie es eilig, zu einem Nichts zusammenzuschrumpfen.

»Wie wenig lest ihr jungen Leute, wie wenig wißt ihr!« sagte sie bekümmert. »Unsere Generation ...«

Lida zog ihre Worte ins Lächerliche.

Jene Rüdheit, die Klim in der Kindheit an ihr aufgefallen war, nahm jetzt Formen an, deren Härte Klim betreten machte. Sie hielt ihm immer die gleiche Frage entgegen:

»Weshalb soll man sich interessieren? Wozu muß man das wissen?«

Beim Tee, während des Mittagessens, immer versank sie unvermittelt in Gedanken, saß minutenlang da wie eine Taubstumme, schrak dann zusammen, wurde unnatürlich lebhaft und neckte wieder Tanja, indem sie erklärte, Katin zöge sich Bastschuhe an, wenn er Geschichten aus dem Bauernleben schreiben wolle.

»Das braucht er für die Inspiration.«

Klim, der sie scharf beobachtete, sah ihre gerunzelten Brauen, den gespannt suchenden Blick ihrer dunklen Augen, hörte die allzu stürmische Wiedergabe der zarten Musik Chopins und Tschaikowskis und ahnte, daß sie sich an etwas, was sie sehr erbitterte, festgehakt hatte, ja, festgehakt wie an einer Dornenhecke, das war es.

»Ob sie verliebt ist?« fragte er zweifelnd, vermochte aber nicht daran zu glauben. Nein, wenn sie liebte, würde sie sich wohl anders verhalten.

An einem unfreundlichen Augustabend, als Klim von der Sommerfrische zurückkehrte, fand er bei sich Makarow vor. Er saß mitten im Zimmer in gebückter Haltung auf einem Stuhl, stützte die Arme auf die Knie und wühlte mit den Fingern in seinem verwilderten Haar. Zu seinen Füßen lag seine zerdrückte an der Sonne ausgeblichenen Mütze. Makarow rührte sich nicht, als Klim leise die Tür öffnete.

»Er ist betrunken«, dachte Klim und sagte vorwurfsvoll:

»Du bist ja reizend.«

Makarow hob, ohne die Finger aus dem Haar zu nehmen, schwerfällig den Kopf. Sein Gesicht war formlos zerschmolzen, die Backenknochen gleichsam geschwollen, die Augäpfel rot, doch die Augen glänzten nüchtern.

Klim erkundigte sich, wann er aus Moskau zurückgekehrt sei und ob er die Universität bezogen habe. Makarow kramte in den Hosentaschen und sagte leise:

»Vor drei Tagen. Die Universität habe ich bezogen.«

»Die medizinische Fakultät?«

»Verschone mich!«

Nachdem er so eine Minute gesessen hatte, stand er auf und ging in einer ihm fremden Art, träge die Füße nachschleifend, zur Tür.

»Zu ihr?« Klim deutete mit den Augen zur Decke. Makarow sah gleichfalls zur Decke empor, faßte den Türpfosten an und antwortete:

»Nein. Lebewohl.«

Beim Anblick seiner langsamen, unsicheren Schritte dachte Klim mit einem aus Furcht, Mitleid und Schadenfreude gemischten Gefühl:

»Hat er sich angesteckt?«

Fenja lief ins Zimmer und rief verängstigt:

»Das Fräulein bittet, auf ihn aufzupassen und ihn nirgendwo hinzulassen!«

Sinnlos glotzend, stöhnte sie:

»Was das für einen Auftritt gegeben hat!«

Klim ging nach oben. Ihm entgegen lief Lida und rief mit schallender Stimme: »Du hast ihn weggehen lassen? Warum?« Im Schein der Wandlampe, die dürftig des Mädchens Kopf erhellte, sah Klim, daß ihr Kinn zitterte, ihre Hände krampfhaft das Tuch an die Brust preßten und daß sie vornüber sank und jeden Augenblick hinfallen konnte.

Erschrocken und wie im Traum rannte Klim davon. Vor dem Tor horchte er. Es war schon dunkel und sehr still, aber ein Geräusch von Schritten war nicht vernehmbar. Klim rannte in der Richtung der Straße, in der Makarow wohnte. Bald erblickte er in der Dunkelheit Makarow unter den Linden der Kircheneinfriedigung. Mit einer Hand hielt er sich am hölzernen Stakett der Einfriedigung, die andere war zur Schläfe erhoben, und wenngleich Klim keinen Revolver darin sehen konnte, begriff er doch, daß Makarow im nächsten Augenblick abdrücken würde, und schrie:

»Unterlaß das!«

»Er war auf zwei Schritte an Makarow herangekommen, als der mit betrunkener Stimme sagte:

»Halleluja, zum Teufel mit dem Ganzen!«

Klim konnte ihm gerade noch einen Stoß geben und prallte zurück, erschreckt durch den Knall. Makarow ließ die Hand mit dem Revolver sinken und stöhnte gepreßt auf.

In der Folge, wenn Klim sich diese Szene ausmalte, erinnerte er sich, wie Makarow schwankte, als sei er unschlüssig, nach welcher Seite er hinstürzen solle, wie er langsam den Mund öffnete, aus seltsam runden Augen erschrocken um sich blickte und stammelte;

»Jetzt.. jetzt...«

Klim faßte ihn um, hielt ihn aufrecht und führte ihn weg. Es war eigenartig: Makarow hinderte ihn am Gehen, stieß, ging aber selbst rasch, er lief beinahe. Der Weg zum Hoftor war qualvoll lang. Makarow knirschte mit den Zähnen, flüsterte und pfiff:

»Laß, laß mich ...«

Auf dem Hof, an der Vortreppe, auf der drei weibliche Gestalten standen, murmelte er undeutlich:

»Ich weiß ... es war dumm ...«

Tanja Kulikow schüttelte vorwurfsvoll den glattgescheitelten Kopf und jammerte weinerlich:

»Schämen Sie sich nicht?«

»Schweig!« befahl Lida, »Fekla, hol den Arzt!«

Und Makarow stützend, sagte sie leise:

»Wohin hast du geschossen, du – Gymnasiast?«

Sie sprach es erbittert, ja, voller Verachtung aus.

In seinem Zimmer, bei Licht, sah Klim, daß Makarows Bluse auf der linken Seite dunkel war, feucht schimmerte und daß schwarze Tropfen auf den Fußboden fielen, Lida stand schweigend vor ihm und stützte seinen vornüber sinkenden Kopf, Tanja richtete eilig Klims Bett und schluchzte dabei auf.

»Zieh ihn aus«, befahl Lida. Klim näherte sich, ihn schwindelte von dem süßlichen, fetten Geruch.

»Nein, erst wollen wir ihn ins Bett legen«, kommandierte Lida, Klim schüttelte verneinend den Kopf, ging in halber Ohnmacht in den Salon und sank dort in einen Sessel.

Als er wieder zu sich kam und in sein Zimmer zurückkehrte, lag Makarow, nackt bis zum Gürtel, auf seinem Bett. Über ihn beugte sich ein fremder, grauhaariger Arzt, schürzte die Ärmel, bohrte mit einer langen, blinkenden Sonde in seiner Brust herum und sagte:

»Daß ihr jungen Leute immer Unfug treiben und knallen müßt!«

An den Schläfen und auf der Stirn Makarows glitzerte Schweiß. Seine Nase war totenhaft spitz geworden. Er biß die Lippen zusammen und schloß fest die Augen. Am Fußende des Bettes stand Fenja mit einer kupfernen Schale und die Kulikow mit Bandagen und Gaze.

»Die Puschkins und Lermontows schossen anders«, murmelte der Arzt.

Klim ging ins Eßzimmer. Am Tisch saß Lida und starrte ins Kerzenlicht. Sie hatte die Arme auf der Brust gekreuzt und die Beine von sich gestreckt.

»Ist es gefährlich?« preßte sie zwischen den Zähnen hervor?

»Weiß ich nicht.«

»Der Doktor scheint ein Grobian zu sein?«

Klim antwortete erst, nachdem er sich ein Glas Wasser vollgegossen und es geleert hatte:

»Da hast du es. Deinetwegen schießt man sich schon tot!«

Lida sagte leise, aber strenge:

»Hör auf!«

Sie verstummten und lauschten.

Klim stand am Büfett und rieb sich die Hände mit dem Taschentuch ab. Lida saß regungslos und starrte hartnäckig in das goldene Lichtbündel der Kerze. Kleinliche Gedanken nahmen von Klim Besitz. Der Arzt hatte mit Lida achtungsvoll wie mit einer Dame gesprochen. Natürlich nur, weil Warawka eine immer bedeutendere Rolle in der Stadt spielte. Wieder würde sie Stadtgespräch werden, wie nach ihrem kindischen Roman mit Turobojew. Unbegreiflich, warum sie Makarow auf sein Bett gelegt hatten! Man sollte ihn auf den Dachboden schaffen. Dort hatte er es auch ruhiger.

Diese Gedanken waren unpassend, Klim wußte das, konnte aber an nichts anderes denken.

Der Doktor kam herein und sagte, sich die Hände abtrocknend:

»Nun, alles steht so gut wie möglich. Der Revolver war miserabel. Die Kugel prallte auf die Rippe, hat sie, wie es scheint, ein wenig gequetscht, ist dann durch die linke Lunge hindurchgegangen und in der Rückenhaut steckengeblieben. Ich habe sie herausgeschnitten und dem Helden zum Andenken verehrt.«

Während er redete, sah er unverwandt mit einem Schmunzeln auf Lida. Aber sie merkte es nicht, damit beschäftigt, mit dem Stiel eines Teelöffels den Ruß von der Kerze abzukratzen. Der Doktor erteilte einige Ratschläge und verbeugte sich. Auch dies beachtete sie nicht. Als er gegangen war, sagte sie, in die Ecke starrend:

»Die Nachtwache übernehmen Tanja und ich. Du geh schlafen, Klim.«

Klim war froh, daß er gehen durfte. Er wußte nicht, wie er sich verhalten und was er sagen sollte. Er fühlte, daß seine schmerzliche Miene sich in eine Grimasse nervöser Müdigkeit verwandelt hatte.

Vier Tage verbrachte Makarow in Klims Zimmer, am fünften bat er, ihn nach Hause zu bringen. Diese Tage, voll von schweren und ängstigenden Erlebnissen, waren Klim eine Last. Gleich am ersten Tag fand er Lida am Lager des Kranken. Ihre Augen waren gerötet und glänzten unnatürlich, während sie das graue, erschöpfte Gesicht Makarows mit den eingesunkenen Augen betrachtete. Seine dunkel gewordenen Lippen gaben ein trockenes Flüstern von sich. Manchmal schrie er auf und knirschte mit entblößten Zähnen.

»Er spricht im Fieber«, hauchte sie, Klim winkend. »Geh hinaus.«

Doch Klim säumte einen Augenblick auf der Schwelle und vernahm eine erstickende, heisere Stimme;

»Ich bin nicht schuld, ich kann nicht...«

Lida wiederholte in befehlendem Ton:

»Geh hinaus!«

Gegen Abend trat eine Besserung ein, und am dritten Tag sagte er lächelnd zu Klim:

»Entschuldige, Bruder! Ich hab dir hier alles verschmiert.«

Er war befangen und sah Klim mit tief umränderten Augen unangenehm durchdringend an, als erinnere er sich an etwas, was er nicht glauben könne. Lida benahm sich affektiert und schien es selbst zu empfinden. Sie redete Nichtigkeiten, lachte, wo es nicht am Platze war, befremdete durch eine an ihr ungewohnte Ungezwungenheit und neckte, dann plötzlich wieder gereizt, Klim:

»Du hast den Geschmack eines alten Mannes. Nur Greise und alte Weiber hängen sich so viele Photographien hin.«

Makarow schwieg, sah auf die Decke und erschien neu, fremd. Auch das Hemd, das er trug, war ein fremdes – es gehörte Klim.

Als Wera Petrowna und Warawka, von der Sommerfrische zurückgekehrt, Klims eingehenden Bericht entgegengenommen hatten, fingen sie sofort leise zu streiten an. Warawka stand vorm Fenster und wandte der Mutter sein Profil zu. Er umschloß seinen Bart in der Faust und schnitt eine Grimasse, als habe er Zahnschmerzen. Die Mutter kämmte vor dem Trumeau ihr üppiges Haar aus und schüttelte den Kopf.

»Lida ist zu kokett«, sagte sie.

»Nun, das ist eine Einbildung von dir! Nicht ein Schatten von Koketterie!«

»Die Mittel der Koketterie sind verschieden.«

»Weiß ich, aber...«

»Makarow ist ein sittenloser Jüngling, Klim weiß es.«

»Du bist ungerecht gegen Lida!«

Klim hörte wortlos zu. Die Mutter sprach immer rechthaberischer, Warawka geriet in Zorn, kläffte, brüllte und ging fort. Dann sagte die Mutter zu Klim:

»Lida ist arglistig. Ich wittere in ihr etwas von einem Raubtier. Aus solchen kalten Mädchen entwickeln sich die Abenteurerinnen. Sei auf der Hut vor ihr!«

Klim wußte längst, daß seine Mutter Lida nicht liebte, aber in so bestimmtem Ton sprach sie es zum erstenmal aus.

»Ich würdige natürlich deine kameradschaftlichen Gefühle, aber es wäre wirklich vernünftiger, diesen Menschen ins Krankenhaus zu schaffen. Ein Skandal, bei unserer Stellung in der Gesellschaft, du verstehst natürlich... O du mein Gott!«

Über ihnen stampfte Warawka wie ein Elefant, und man vernahm sein dumpfes Schreien:

»Ich verbiete es. Unsinn!«

Dann hörte man Lida die innere Treppe hinabrennen und Klim sah vom Fenster aus, daß sie in den Garten stürmte. Nachdem Klim geduldig noch einige Bemerkungen über sich ergehen lassen hatte, ging er ebenfalls in den Garten, überzeugt, Lida dort beleidigt und in Tränen aufgelöst zu finden und sie trösten zu müssen.

Aber sie saß mit übergeschlagenen Beinen auf der Bank vor der Laube und empfing Klim mit der Frage:

»Du wirst dich aus Liebe nicht totschießen, nicht wahr?«

Sie fragte ihn so gelassen und unhöflich, daß Klim dachte:

»Sollte die Mutter recht haben?«

»Es kommt darauf an«, antwortete er achselzuckend.

»Nein, du tust das nicht!« sagte sie überzeugt, und, wie in den Kindertagen, lud sie ihn ein:

»Komm, sitzen wir ein wenig!«

Dann sah sie ihn von der Seite an und sagte nachdenklich:

»Du wirst wohl einmal unsittlich leben. Ich glaube, schon jetzt, nicht wahr?«

Der verblüffte Klim kam nicht dazu, zu antworten. Lidas Gesicht zuckte, verzerrte sich, sie warf den Kopf heftig in den Nacken, umschlang ihn mit den Händen und flüsterte voller Verzweiflung:

»Wie ist das furchtbar! Und wozu? Du bist geboren, ich bin geboren und wozu? Was denkst du darüber?«

Klim setzte eine würdige Miene auf und schickte sich an, eine gescheite und lange Rede zu halten, aber sie sprang auf, sagte: »Laß nur. Schweig!« und ging weg.

Es trieb Klim, der Verschwundenen nachzulaufen, aber nicht mehr, um Weisheiten von sich zu geben, sondern bloß, um an ihrer Seite zu gehen. Der Trieb war so mächtig, daß Klim aufsprang und ihr nachlief, doch vom Hof her ertönte der leise, aber klangvolle Ausruf Almas:

»Wirklich? Aha, ich habe dir ja gesagt!«

Klim zögerte eine Weile, setzte sich dann wieder und überlegte: Ja, Lida und vielleicht auch Makarow kannten eine andere Liebe. Diese Liebe weckte in der Mutter und in Warawka offenbar sehr eifersüchtige und mißgünstige Gefühle. Weder er noch sie haben auch nur einmal den Kranken besucht. Warawka rief den Wagen des Roten Kreuzes herbei, und als die Sanitäter, die wie Köche aussahen, Makarow über den Hof trugen, stand er am Fenster und hielt sich an seinem Bart fest. Er erlaubte Lida nicht, Makarow zu begleiten. Die Mutter war anscheinend demonstrativ ausgegangen.

Auf dem Hof erhellte sich Makarows Gesicht augenblicklich, er wurde lebhaft und sagte, während er in den durchsichtigen, kühlen Himmel blickte, leise:

»Wunderbar!«

Im Wagen krümmte er sich unter den heftigen Stößen der Räder und streichelte mit der rechten Hand Klims Knie.

»Nun, Bruder, habe Dank. Vielleicht war der Aderlaß heilsam. Er beruhigt.«

Er lächelte matt, als er hinzufügte:

»Aber du versuch es nicht, es tut weh, und obendrein muß man sich schämen.«

Er schloß die Augen, die in den dunklen Höhlen versanken und sein Gesicht auf unheimlichere Weise blind erscheinen ließen, als es bei Blinden von Geburt zu sein pflegt. Auf dem kleinen grasbewachsenen Hof eines Puppenhauses, das seine drei Fensterchen kokett hinter einer Palisade versteckte, empfing Makarow ein unnatürlich langer, hagerer Mensch mit dem Gesicht eines Clowns. Er hielt einen Besen in der Hand. Den Besen warf er fort, lief an die Tragbahre heran, beugte sich über sie, wobei er gleichsam in zwei Hälften einknickte, und fing, während er die Sanitäter anstieß, an, mit komischer Stimme zu sprechen:

»Ei Kostja, ei, ei, ei! Als Lida Timofejewna es uns sagte, da sind wir nur so erstarrt! Dann hat sie uns froh gemacht, es ist keine Gefahr, sagte sie. Na, Gott sei Dank! Sofort haben wir alles blank gescheuert und aufgeräumt. Mama!« rief er, faßte mit langen Fingern Klims Ellenbogen und stellte sich vor:

»Globin Pjotr! Post- und Telegrafenbeamter. Sehr erfreut.«

Aus der Tür eines kleinen Schuppens kletterte eine starke, rotbäckige Alte in einem grauen Kleid, das wie eine Kutte aussah, bückte sich mit Anstrengung hinab, küßte Makarow auf die Stirn und brummte, während ihr Tränen übers Gesicht liefen:

»Du bist mir ein Dummchen!«

Klim empfand Rührung. Es war ergötzlich zu sehen, wie ein so langer Mensch und eine so riesenhafte Alte in einem Puppenhause lebten, in sauberen Stübchen, in denen es viel Blumen gab und wo an der Wand auf einem kleinen ovalen Tisch feierlich eine Geige in ihrem Kasten ruhte. Makarow wurde in einem freundlichen sonnigen Zimmer gebettet. Slobin setzte sich linkisch auf einen Stuhl und sagte:

»Weißt du auch, daß ich mir eigens zu diesem Anlaß erlaubt habe, eine kleine Pièce »Souvenir de Vilna« einzuüben? Sie ist ganz reizend. Drei Abende habe ich geschwitzt.«

Stumpfnasig, blauäugig, igelhaarig und schon graumeliert, erschien er Klim einem Clown immer ähnlicher. Seine massige Mama stapfte, sich in den Hüften wiegend, wie eine Kuh von Zimmer zu Zimmer und trug auf dem Tisch vor Makarows Bett alle möglichen Karaffen und Gläser zusammen, wobei sie brummte:

»Nun und was kommt dabei Gutes heraus? Ihr verhöhnt euch selbst, junge Leute, und hinterher trauert ihr!«

Sie bot Klim Tee an, Klim dankte höflich und drückte Makarow, der mit schweigendem Lächeln die Slobins ansah, die Hand:

»Komm bitte wieder«, bat Makarow. Die Slobins echoten einstimmig:

»Wir bitten!«

Klim trat auf die Straße. Ihm wurde traurig zumute. Die spaßigen Freunde Makarows mußten ihn wohl sehr lieb haben, und mit ihnen zu leben, mußte behaglich und einfach sein. Ihre Einfalt ließ ihn an Margarita denken. Das wäre der Mensch, bei dem er von den unsinnigen Aufregungen dieser Tage ausruhen könnte. Und wie er ihrer gedachte, fühlte er mit einemmal, daß dieses Mädchen in seinen Augen unmerklich gewachsen war, aber irgendwo seitab von Lida und ohne sie zu verdunkeln.

Sobald Lida in seinen Gedankengang einbrach, konnte er an nichts anderes mehr denken als an sie. Im Grunde war es gar kein Denken, er stand vor dem Mädchen und betrachtete es gedankenlos, so wie er zuweilen den Lauf der Wolken und die Strömung des Flusses betrachtete. Wolken und Wellen spülten jedes Denken fort und riefen in ihm eine ebenso gedankenleere Stimmung halber Hypnose hervor wie dieses Mädchen. Doch sobald er sie nicht geistig, sondern körperlich vor sich hatte, erwachte in ihm ein beinah feindliches Interesse für sie. Er empfand den heftigen Wunsch jeden ihrer Schritte zu überwachen, zu erfahren, was sie dachte und wovon sie mit Alina oder ihrem Vater sprach, und sie zu ertappen.

Einige Tage später fragte Lida so nebenhin, aber schnippisch, wie Klim schien:

»Warum besuchst du nicht Makarow?«

Er sagte, er sei sehr verstimmt durch das Verhalten der Lehrerkonferenz, ein Teil ihrer Mitglieder könne sich nicht entschließen, ihm das Reifezeugnis zu geben, und verlange eine nochmalige Prüfung.

»Na, Rziga wird's schon machen«, sagte achtlos Lida, dann kniff sie die Augen zu, kicherte und fügte hinzu:

»Versuch doch nicht, glauben zu machen, daß du bedauerst, deinen Kameraden am Selbstmord gehindert zu haben.«

Sie ging weg, ehe er antworten konnte. Natürlich scherzte sie, Klim sah es ihr vom Gesicht ab. Doch wenn ihre Worte auch scherzhaft gemeint waren, sie ärgerten ihn doch. Auf welche Weise und dank welchen Beobachtungen konnte ihr ein so kränkender Gedanke kommen? Klim prüfte lange und angestrengt sich selbst: hatte er jenes Mitleid empfunden, das Lida zu ahnen glaubte? Er entdeckte es nicht bei sich und beschloß, sich ihr zu erklären. Aber es vergingen zwei Tage, ohne daß er Zeit für eine Erklärung gefunden hätte, am dritten ging er zu Makarow, getrieben von einer ihm selbst nicht ganz klaren Absicht.

An der Schwelle eines der Stübchen des Puppenhauses hielt er mit einem unwillkürlichen Lächeln an: an der Wand, auf einem Sofa, lag, bis zur Brust in eine Decke verpackt, Makarow. Der aufgeknöpfte Hemdkragen entblößte seine verbundene Schulter. An einem runden Tischchen saß Lida. Auf dem Tisch stand eine mit Äpfeln gefüllte Schale. Ein schiefer Sonnenstrahl drang durch die oberen Scheiben und beleuchtete die tiefroten Früchte, Lidas Nacken und die Hälfte von Makarows höckernasigem Gesicht. Duft erfüllte das Zimmer, und es war sehr heiß. Der Kranke und das junge Mädchen aßen Äpfel.

»Eine paradiesische Beschäftigung«, murmelte Klim.

»Der Dritte im Paradiese war der Teufel«, gab Lida schlagfertig zurück und rückte mit dem Stuhl ein wenig vom Sofa ab, während Makarow, der Klim die Hand drückte, ihren Scherz aufnahm:

»Samgin gleicht mehr Faust als Mephisto.«

Beide Scherze mißfielen Klim und zwangen ihn zur Vorsicht. Makarow und Lida jedoch plänkelten witzig miteinander und verletzten ihn dabei immer häufiger. Er revanchierte sich ungeschickt und verlegen und glaubte aus ihren Worten den Verdruß von Menschen herauszuhören, die gestört worden sind. Unmut gegen sie stieg in ihm auf und noch ein anderes, wehmütiges Gefühl. Der Mensch, den er am Selbstmord verhindert hatte, war allzu aufgeräumt und noch schöner geworden. Die Blässe seines Gesichts unterstrich vorteilhaft den heißen Glanz seiner Augen, der Schatten auf der Lippe war tiefer und auffälliger geworden. Der ganze Makarow war in den wenigen Tagen auf unnatürliche Weise gereift. Er sprach sogar mit tieferer, wenn auch schwächerer Stimme. Lida benahm sich in seiner Gesellschaft unangenehm einfach, ohne jene Anmaßung und Aufgeblasenheit, die man bei ihr sonst gewohnt war, und wenn Klim auch bemerkte, daß sie zu ihm gütiger war als früher, so empfand er selbst das schmerzlich.

»Wie nett ist es hier, nicht wahr?« wandte sie sich an Samgin und zeigte mit der Hand im Kreis herum.

»Ganz gewöhnlich, so wie bei Spießbürgern.«

»Denkt mal, was für ein Aristokrat!« sagte Makarow und versteckte sein Gesicht vor der Sonne. Auch Lida lächelte, und Klim stellte sich rasch ihre Zukunft vor. Sie ist mit dem Gymnasiallehrer Makarow verheiratet. Er ist natürlich ein Säufer. Sie geht schon mit dem dritten Kind schwanger, latscht in Pantoffeln herum, die Ärmel ihrer Bluse sind bis zum Ellenbogen aufgekrämpelt, in der Hand hält sie einen schmutzigen Lappen, mit dem sie Staub wischt, wie eine Dienstmagd. Am Boden kriechen Säuglinge mit roten Hintern umher und wimmern. Dieses rasch entstandene Bild hob ein wenig seine gedrückte Stimmung. Jetzt blickte die alte Slobin ins Zimmer und lud ein:

»Bitte zum Tee! Heute gibt es Ihre Lieblingsplätzchen, Lida Timofejewna.«

Lida lief zu ihr hin, und flüsterte hastig etwas, wobei sie mit ihren dünnen Fingern die graue Haarflechte streichelte, die der Alten auf die feuerrote Backe gefallen war. Die Slobin schüttelte sich und lachte in tiefem Baß. Klim hörte nicht, was Lida sagte. Auf Makarows Frage: »Warum blickst du sie so an?« zuckte er nur die Achseln. »Also so steht es!« dachte er. »Sie kommt also seit langem und häufig hierher, sie gehört schon zur Familie? Aber weshalb wollte Makarow sich dann erschießen?«

Mit unwiderstehlicher Beharrlichkeit schoß ihm immer wieder der Gedanke durch den Kopf, daß Makarow mit Lida lebte, wie er selbst mit Margarita gelebt hatte, und während er sie von Zeit zu Zeit scheel ansah, schrie er innerlich: »Lügner! Falsche Menschen!«

Neben ihm saß Slobin, stieß ihn mit seiner knochigen Schulter an und redete davon, daß er nur die Musik und seine Mama liebe:

»Um dieser Liebe willen bin ich unverheiratet geblieben. Denn, wissen Sie, ein Dritter im Haus ist schon ein Störenfried! Und nicht jede Gattin erträgt Übungen auf der Geige. Ich übe aber jeden Tag. Meine Mama hat sich so daran gewöhnt, daß sie es nicht mehr hört.«

Klim verließ diese Leute in so niedergeschlagener Gemütsverfassung, daß er Lida nicht einmal seine Begleitung anbot. Doch sie selbst lief ihm bis vors Tor nach, hielt ihn an und bat freundlich, mit einem listigen kleinen Lächeln in den Augen:

»Sag zu Hause nichts davon, daß du mich hier gesehen hast.«

Er nickte zustimmend. Nach Hause zu gehen, hatte er keine Lust. Er trat an das Ufer des Flusses, schlenderte an ihm entlang und grübelte:

»Ich sollte rauchen, man sagt, es beruhigt.«

Hinter dem Fluß stülpte sich über die glattrasierte Erde gleich einem Becher eine rosafarbene Leere, die aus irgendeinem Grunde an das saubere Puppenhäuschen und seine Bewohner erinnerte.

»Wie dumm ist das alles!«

Zu Hause traf er Warawka und die Mutter im Eßzimmer. Der riesige Tisch war mit einer Menge Papiere überschwemmt. Warawka klapperte mit den Kugeln des Rechenbretts und brummte in seinen Bart:

»Spitzbuben!«

Die Mutter schrieb rasch Zahlen von gleichförmigen Papierblättchen auf einen großen weißen Bogen ab. Vor ihr stand eine Platte mit einer gewaltigen Wassermelone, vor Warawka eine Flasche Sherry.

»Nun, was macht dein Schütze?« fragte Warawka. Nachdem er Klims Bescheid entgegengenommen hatte, musterte er ihn mißtrauisch, goß sich sein Glas voll, leerte es andächtig zur Hälfte, leckte sich die fleischige Lippe und fing an zu reden, wobei er sich im Stuhl zurückwarf und mit dem Finger auf dem Tischrand Takt schlug.

»Die Welt zerfällt in Menschen, die klüger sind als ich. Diese kann ich nicht leiden. Und in solche, die dümmer sind als ich. Diese verachte ich.«

Die Mutter warf einen forschenden Blick auf ihn und fragte:

»Was hast du bloß auf einmal?«

»Notgedrungen«, antwortete Warawka, enterte mit der Gabel ein würfelförmiges Stück Melone und beförderte es in den Mund. »Aber«, fuhr er klangvoll und eindringlich fort, »es gibt auch eine Sorte Menschen, die ich fürchte. Das sind die guten echtrussischen Leute, die glauben, man könne mit der Logik der Worte auf die Logik der Geschichte einwirken. Ich rate dir freundschaftlich, Klim, hüte dich, einem guten russischen Menschen Glauben zu schenken! Fr ist ein reizender Mensch, gewiß! Mit ihm über die Zukunft zu plaudern ist ein Hochgenuß! Aber die Gegenwart ist ihm ein Buch mit sieben Siegeln, und er sieht nicht, wie traurig diese Rolle eines Kindes ist, das verträumt in der Mitte der Straße schlendert und von den Pferden zerstampft werden wird, weil den schweren Lastwagen der Geschichte Pferde ziehen, die von erfahrenen, aber nicht zartfühlenden Kutschern gelenkt werden. Unsere guten Leute sind an dieser Arbeit völlig unbeteiligt. Im besten Fall dienen sie als Stuck auf der Fassade des zu errichtenden Gebäudes, doch da dieses Gebäude ja erst errichtet werden soll, so ...«

Die Mutter unterbrach eifrig den Redner:

»Denke aber auch daran, daß Christus ...«

»Auch eine verfrühte und folglich schädliche Erscheinung ist«, ergänzte Warawka, mit seinem dicken Finger Takt schlagend. »Die sogenannte christliche Kultur gleicht einem regenbogenfarbigen Fleck Petroleum auf einem breiten und trüben Fluß. Kultur, das ist vorerst: Bücher, Bilder, ein wenig Musik und sehr wenig Wissenschaft. Die Kultiviertheit einiger weniger Menschen, die sich das »Salz der Erde«, »Ritter des Geistes« und so weiter zu nennen belieben, äußert sich lediglich darin, daß sie nicht laut fluchen und ironisch vom Wasserklosett sprechen. Alle die »in Christo« leben, sind tief kulturfeindlich in meinem Sinne des Kulturbegriffs. Kultur, meine Teure, ist Liebe zur Arbeit, aber eine ebenso unzähmbar gierige wie die Liebe zum Weibe.«

Hastig zündete er sich eine Zigarette an und redete unermüdlich weiter, zwischendurch blauen Rauch ausstoßend. Die Saffianhaut seiner Stirn glitzerte rötlich, die scharfen Äuglein funkelten erregt, sein Fuchsbart rauchte, und ebenso rauchten auch seine Worte. Klim waren Warawkas Anfälle von Beredsamkeit längst vertraut, sie befielen ihn besonders heftig in Tagen der Müdigkeit. Die Leute grüßten Warawka immer respektvoller. Klim wußte, daß sie in ihren vier Wänden immer schlechter und böser über ihn redeten. Er nahm auch ein merkwürdiges Zusammentreffen wahr: je mehr und schlechter man in der Stadt über Warawka sprach, desto hemmungsloser und wilder philosophierte er zu Hause.

Heute war der Anfall besonders hartnäckig. Warawka knöpfte sich sogar unten die Weste auf, wie er es zuweilen bei Tisch tat In seinem Bart funkelte ein rotes Lächeln. Unter ihm ächzte der Stuhl. Die Mutter hörte ihm zu und beugte sich dabei so ungeschickt vornüber, daß ihre mädchenhaften Brüste auf der Tischkante lagen. Klim berührte dieser Anblick peinlich.

»Erlaube mal, erlaube mal«, schrie Warawka sie an, »diese Menschenliebe, die wir erfunden haben, ist unserer eigenen Natur, die nicht nach Liebe zu unserem Nächsten, sondern nach Kampf gegen ihn dürstet, zuwider. Diese unselige Liebe bedeutet nichts und ist nichts wert ohne den Haß und Ekel gegen den Schmutz, in dem dieser Nächste lebt. Endlich darf man nicht vergessen, daß das geistige Leben sich nur auf dem Boden materieller Wohlfahrt entfalten kann.«

Klim, der in sich hineinhorchte, verspürte in seiner Brust und in seinem Kopfe eine stille, nagende Schwermut, fast Schmerz. Das war ihm eine neue Empfindung. Er saß neben der Mutter, aß träge Melone und fragte sich, warum alle philosophierten. Ihm kam es so vor, als philosophierte man in der letzten Zeit mehr und heftiger. Er war erfreut, als man im Frühjahr, unter dem Vorwand, der Flügel solle renoviert werden, dem Schriftsteller Katin die Wohnung kündigte. Jetzt sah er, wenn er über den Hof kam, mit Vergnügen die geschlossenen Fensterläden des Flügels.

Oft schien ihm, er sei so unter fremden Meinungen verschüttet, daß er sich selbst nicht mehr sah. Jeder Mensch schien etwas zu befürchten und suchte in ihm einen Verbündeten, bedacht, ihm seine Meinung in die Ohren zu schreien. Alle hielten ihn für eine Abladestelle für ihre Ansichten und begruben ihn im Sand ihrer Worte. Heute befand er sich gerade in einer solchen Stimmung.

Fenja kam und meldete, der Bauunternehmer sei da.

»Aha!« rief Warawka wütend, sprang auf und entfernte sich mit dem schwerfälligen und zugleich schnellen Schritt eines Bären. Klim stand ebenfalls auf, doch die Mutter nahm seinen Arm und führte ihn in ihr Zimmer. Inzwischen fragte sie:

»Dich hat die Geschichte mit Lida wohl sehr aufgeregt?«

Während sie sich auf dem Teppich des Salons erging, wiederholte sie mit gedämpfter Stimme ermüdend und offensichtlich bestrebt, nicht mehr zu sagen, als gut war, die Klim wohlbekannten Bemerkungen über Lida und Makarow. Ihr Sohn hörte schweigend diese Rede eines Menschen, der überzeugt ist, stets das Klügste und Wichtigste auszusprechen, und dachte unvermittelt: »Worin unterscheidet sich ihre und Warawkas Liebe von der Liebe, die Margarita kennt und lehrt?«

Er begriff sogleich die ganze Schwere, den ganzen Zynismus dieses Vergleichs, fühlte sich vor der Mutter schuldig, küßte ihr die Hand und bat, ohne ihr in die Augen zu sehen:

»Beunruhige dich nicht, Mama – und verzeih, ich bin so müde.«

Auch sie küßte ihn sehr innig auf die Stirn.

»Ich verstehe, du mit deiner besonderen Innerlichkeit hast es schwer.«

Bei sich in seinem Zimmer dachte er, während er seine Jacke abstreifte, wie schön es wäre, wenn er diese ganze Innerlichkeit, diesen Wirrwarr der Empfindungen und Gedanken genau so leicht abstreifen könnte wie die Jacke und so einfach leben könnte wie die anderen, ohne sich zu scheuen, alle Dummheiten auszusprechen, die ihm auf die Zunge kamen, ohne an die profunden Weisheiten eines Tomilin oder Warawka, – ohne an einen Dronow denken zu müssen!

Er schlief schlecht, verließ früh das Bett und fühlte sich halb krank. Er ging ins Eßzimmer Kaffee trinken und fand dort Warawka, der sich für die Schlacht des Tages rüstete, Toast aß und dazu Portwein trank.

»Höre mal«, sagte er mit zusammengerückten Augenbrauen leise, ohne Klims Hand loszulassen, was Unangenehmes verhieß. »Mit Rücksicht auf Wera habe ich gestern nicht sagen wollen und aus Zeitmangel auch nicht können, daß ich schlechte Nachrichten über Dronow habe. Friedensrichter Kusmin, der nicht weiß, daß dieses Subjekt nicht mehr bei mir arbeitet, gab mir davon Kenntnis, daß Dronow sich das Sparkassenbuch eines Mädchens angeeignet habe und daß Anzeige gegen ihn erstattet sei. Obgleich der Richter »sich aneignen« sagte, ist es doch klar, daß es sich um einen Diebstahl handelt und obendrein, da er dreihundert Rubel übersteigt, um eine Sache, die nicht vor den Friedensrichter gehört. Das bedeutet also Kreisgericht. In welchen Beziehungen stehst du zu dem Burschen? Aha, du hast dich von ihm getrennt? Ich bin sehr erfreut.«

Auch Klim war erfreut. Um es zu verbergen, senkte er den Kopf. Ihm war, als sei auch das triumphierende »Aha« in seinem Innern erklungen, ein Spektrum von Gedanken flammte auf, darunter von solchen der Teilnahme für Margarita.

Warawka, der offensichtlich seine Freude als Schreck mißverstanden hatte, sagte ein paar tröstende Aphorismen:

»Nun ja, für die Anständigkeit eines Menschen kann man niemals bürgen. Wir wählen uns unsere Freunde achtloser als ein Paar Stiefel. Merke dir: ein Mensch ohne Freunde ist mehr Mensch.«

Selbstgefällig schloß er:

»Ich habe keine Freunde.«

Da trieb ein Gefühl der Dankbarkeit Klim, ihm zu verraten, daß Lida häufig bei Makarow war. Zu seinem Erstaunen wurde Warawka nicht unwillig. Er blickte nur ängstlich in die Richtung des Zimmers der Mutter und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Ja, ja, ich weiß. Romantik, der Teufel hole sie! Wenngleich Romantik immer noch besser ist als ...«

Er machte eine unbestimmte Geste mit seiner rechten Hand, schob seine dicke Aktenmappe unter die Achsel und fragte leise:

»Du hast der Mutter nichts erzählt? Nein? Erzähl' ihr auch nichts. Sie lieben einander ohnehin nicht sehr. Nun, ich gehe.«

Kaum war er verschwunden, schwand auch Klims Freude, ausgelöscht von dem Bewußtsein, eine Schlechtigkeit begangen zu haben, als er Lida verriet. Da ging er, der sonst nicht zu raschen Entschlüssen neigte, immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend, zu ihr hinauf.

Lida saß ungekämmt, in einem orangefarbenen Kittel und mit Schuhen an den nackten Füßen in der Sofaecke, in ein Notenheft vertieft. Ohne Hast bedeckte sie ihre nackten Beine mit dem Saum des Kittels und fragte mit unfreundlichem Blick:

»Was fehlt dir? Weshalb machst du so ein Gesicht?«

Er setzte sich auf die Sofakante und sagte erst nach einer Pause, als fürchte er, etwas Falsches zu sagen:

»Verzeih mir, ich habe mich versehentlich versprochen ...«

Lida ließ die Noten in ihren Schoß fallen und hielt ihn an:

»Ich weiß. Ich dachte mir gleich, daß du es dem Vater sagen würdest. Ich habe dich vielleicht auch nur deshalb gebeten, zu schweigen, um dich auf die Probe zu stellen. Aber ich habe es ihm gestern selbst mitgeteilt. Du bist zu spät gekommen.«

In ihrer Stimme, in ihren Augen war etwas, was Klim tief verwundete. Er schwieg und fühlte, wie die Wut ihn aufblähte. Das Mädchen jedoch fuhr zweifelnd fort:

»Ich begreife dich nicht. Du scheinst anständig zu sein und begehst doch immer wieder Schlechtigkeiten. Wie soll man sich das erklären?«

Klim fühlte in ihren Worten Abscheu, Er sprang vom Sofa auf und nun entspann sich mit unglaublicher Schnelligkeit zwischen ihnen ein Streit. Klim sagte im Ton des Älteren:

»Das ist so zu erklären, daß ich dein Betragen nicht billige.«

»Wie komisch du bist«, antwortete das Mädchen, schlug ihre Beine unter und zog sich ganz in die Sofaecke zurück.

»Dein Roman mit Makarow ...«

Das Mädchen riß erstaunt und zornig die Augen auf und sagte leise:

»Mein Betragen? Roman? Wie wagst du es, dummer Junge! Bildest du dir ein ...«

Sie erstickte, offenbar außerstande, ein bestimmtes Wort auszusprechen. Ihr dunkles Gesicht verfärbte sich und schien sogar anzuschwellen. Tränen traten ihr in die Augen. Sie warf ihren leichten Körper vor und flüsterte:

»Du glaubst ...«

Klim erschrak plötzlich vor ihrem Zorn, er faßte nicht ganz, was sie sagte, und wollte nur noch das eine: den Sturzbach ihrer immer schrofferen und verworreneren Worte anhalten. Sie stemmte ihren Finger gegen seine Stirn, zwang ihn den Kopf zu heben, blickte ihm in die Augen und sagte:

»Glaubst du im Ernst, daß ich ... daß Makarow und ich in solchen Beziehungen stehen? Verstehst du nicht, daß ich das nicht will . . . daß er sich deshalb erschießen wollte? Verstehst du nicht?«

Klim fühlte auf der Stirnhaut den spitzen Stoß von dem Finger des Mädchens und dachte, zum ersten Male in seinem Leben sei ihm eine solche Beleidigung zugefügt worden. Lida redete dumm und kindlich, aber sie benahm sich wie eine Erwachsene, eine Dame. Er sah in ihr ernstes Gesicht, in ihre traurigen Augen und wünschte ihr etwas sehr Häßliches zu sagen, aber es wollte nicht über seine Lippen. So ging er denn wortlos auf sein Zimmer. Er verspürte eine bittere Trockenheit im Munde und im Kopf wirren Lärm von Worten, trat zum Fenster und sah zu, wie der Wind das Laub von den Bäumen riß. In der Scheibe sah er sein Gesicht. Obgleich die Züge zerflossen, ähnelte es doch unverkennbar dem nüchternen, würdigen Gesicht seiner Mutter.

Mit aller Entschiedenheit, deren Klim in diesem Augenblick fähig war, prüfte er, was echt war an seinen Gefühlen für Lida. Nicht ohne Mühe und erst nach längerer Zeit entwirrte er den straffen Knäuel dieser Gefühle: die wehmütige Empfindung eines sehr schweren Verlustes, scharfe Unzufriedenheit mit sich selbst, den Wunsch sich an Lida für die Beleidigung zu rächen, erotische Neugier, daneben das angestrengte Verlangen, das Mädchen von seiner Bedeutung zu überzeugen und hinter all diesen Regungen die Gewißheit, daß er Lida schließlich doch mit der richtigen Liebe, mit jener Liebe, die in den Gedichten und Romanen vorkam und in der nichts Knabenhaftes, Lächerliches und Erklügeltes war, liebe.

Weiter grübelnd, seufzte er erleichtert auf: wenn Lida Makarow wirklich liebte, mußte sie aus Gründen der Dankbarkeit ihr hochmütiges Benehmen gegen denjenigen, der ihrem Geliebten das Leben gerettet hatte, ändern. Aber er hatte kein einziges Wort der Dankbarkeit aus ihrem Munde gehört. Das war eigentümlich. Heute hatte sie etwas Rätselhaftes gesagt: Makarow habe aus Furcht vor der Liebe, so mußte man ihre Worte verstehen, auf sich geschossen. Richtiger aber war wohl, daß diese Furcht in ihr selbst wohnte. Klim erinnerte sich rasch einer Reihe Anzeichen, die ihn von der Richtigkeit seiner Vermutung überzeugten: Lida fürchtete die Liebe, sie hatte mit ihrer Furcht Makarow angesteckt und war folglich schuldig, einen Menschen an den Rand des Selbstmords getrieben zu haben. Dieses Ergebnis war angenehm. Klim überprüfte noch einmal den Gang seiner Gedanken, erhob das Haupt und gestattete sich ein selbstgefälliges Lächeln darüber, daß er ein so starker Mensch war und so rasch mit schwierigen Situationen fertig wurde.

Er beschloß, gegen Lida Großmut zu üben, wie die seltensten und edelsten der Romanhelden, jene, die, weil sie lieben, alles verzeihen. Es war nun schon das zweite Mal, daß er diese Position beziehen mußte, doch dieses Mal erkannte er bald, daß eine solche Rolle ihn in Lidas Augen noch unansehnlicher machen mußte. Sich im Spiegel musternd, fand er, daß die lyrische, schwermütige Miene sein Gesicht unbedeutend machte. Er war überhaupt unzufrieden mit seinem Gesicht, dessen Züge er kleinlich und im Mißverständnis zur Kompliziertheit seines Seelenlebens fand. Seine Kurzsichtigkeit ließ ihn blinzeln, durch die Gläser erschienen seine Pupillen unangenehm vergrößert. Ihm mißfiel die Nase, die gerade nüchtern und nicht groß genug war, die Lippen waren zu dünn, das Kinn übertrieben spitz, der Schnurrbart sproß nur an den Mundwinkeln in zwei lichten Büscheln. Wenn er die Stirn runzelte und die dünnen Brauen zusammenrückte, wurde sein Gesicht interessanter und klüger. Auf die lyrische Note mußte er verzichten.

Er begann, Lermontow zu lesen. Die heftige Bitterkeit dieser Gedichte schien ihm brauchbar. Immer häufiger zitierte er die beißenden Verse dieses düsteren Dichters.

Er versuchte sogar, Lida zu behandeln wie ein kleines Mädchen, für dessen Verirrungen man Verständnis hat, obwohl man sie ein wenig lächerlich findet. Wenn die Mutter und Warawka dabei waren, gelang es ihm, diesen Ton einzuhalten, doch sobald er mit ihr allein blieb, entglitt er ihm.

Lida sollte nach Moskau, rüstete sich aber nur langsam und widerwillig zur Reise. Während sie Warawkas Gesprächen mit Klims Mutter zuhörte, betrachtete sie sie mit forschendem Blick wie Fremde und, offenbar nicht einverstanden mit dem, was sie hörte, schüttelte sie heftig den Kopf unter der Kappe krauser Haare.

Makarow war gleich nach seiner Genesung auf die Universität gefahren. Er hatte dabei eine verdächtige Eile an den Tag gelegt. Zum Abschied hatte er Klims Hand fest zwischen seine Finger gepreßt, aber nur zwei Worte gesagt:

»Ich danke dir, Bruder.«

Nach seiner Abreise wich Lida noch geflissentlicher einem Zusammensein unter vier Augen aus. In ihren Augen war etwas mönchisch Lebensfeindliches und Unmutiges erstarrt, doch schien sie Klim jetzt wieder kindlicher zu sein als vor einigen Wochen. Er beobachtete, daß sie für seine Mutter nicht mehr wie früher jenen trocknen und fremden Ton hatte, daß sie zuweilen das Zimmer der Mutter aufsuchte und beide dort in stillem Geplauder beieinander saßen. Einmal, es war gegen Mitternacht, nach einem langweiligen Preferancespiel mit Warawka und der Mutter, suchte Klim sein Zimmer auf. Nach einigen Minuten trat die Mutter herein, schon im violetten Nachtkleid und Pantoffeln, setzte sich auf das Kanapee und begann besorgt, während sie nervös mit den Quasten ihres Gürtels spielte:

»Seit dem Sommer bist du eigentümlich farblos. So schlaff, dir selbst gar nicht ähnlich.«

Er schwieg, zupfte an den Büscheln seiner Barthärchen und sagte sich, dies sei nur die Einleitung zu einem ernsten Gespräch. Er täuschte sich nicht. Mit beinahe grober Direktheit sagte die Mutter und blickte ihn dabei mit ihren immer ruhigen Augen an, sie sehe sein Interesse für Lida. Klim fühlte, wie er tief errötete, und fragte dabei ironisch lächelnd:

»Irrst du dich auch nicht?«

Als habe sie seine Frage nicht gehört, fuhr sie lehrhaft fort:

»Die Liebe ist in deinem Alter noch nicht jene Liebe, welche ... Es ist noch nicht Liebe, nein ...«

Sie schwieg einige Sekunden, dann seufzte sie:

»Als ich deinen Vater heiratete, war ich achtzehn Jahre alt, und schon zwei Jahre später wußte ich, daß ich mich geirrt hatte.«

Wieder verstummte sie, da sie wohl nicht das gesagt hatte, was sie wollte. Klim, der abwesend einige Sätze auffing, suchte sich klar zu werden, weshalb diese Worte seiner Mutter ihn empörten.

»Mein Verhältnis zu deinem Vater«, hörte er, während er erwog, mit welchen Worten er sie daran erinnern sollte, daß er ein erwachsener Mensch war. Plötzlich sagte er stirnrunzelnd in achtlosem Ton:

»Ich empfinde freundschaftlich für Lida, und natürlich schreckt mich ein wenig ihre Affäre mit Makarow, einem Menschen, der selbstredend ihrer unwürdig ist. Mag sein, daß ich mit ihr ein wenig zu hitzig, zu unbeherrscht über ihn gesprochen habe. Das ist, denke ich, alles und alles übrige nur Einbildung.«

Während er so sprach, war er überzeugt, nicht zu lügen, und fand, daß er gut sprach. Ihm schien, er müsse noch etwas Gewichtiges hinzufügen, und dozierte:

»Weißt du, nur der Mensch existiert, alles übrige besteht in seiner bloßen Einbildung. Ich glaube, das hat Protagoras gesagt.«

Die Mutter kniff ein wenig die Augen zu und sagte:

»Das ist nicht ganz so, aber klug gesagt. Du hast ein wunderbares Gedächtnis, Und natürlich hast du recht: die Mädchen sind immer voreilig in ihren Schlüssen, wenn sie sich mit dem Unvermeidlichen beschäftigen. Du hast mich beruhigt. Ich und Timofej legen so viel Wert auf die Beziehungen, die sich zwischen uns entwickelt haben und die immer inniger werden ...«

Klim, betreten über diesen offenherzigen Egoismus seiner Mutter, senkte den Kopf. Er verstand, daß sie in diesem Augenblick nur das Weib war, das für ihr Glück fürchtete.

Er sagte:

»Mir scheint, du bist jetzt netter zu Lida?«

»Mein Urteil kennst du, es wird sich nicht ändern«, antwortete die Mutter. Sie stand auf und küßte ihn. »Geh schlafen!«

Sie ging und ließ auf den Lippen ihres Sohnes den aufreizenden Geruch von starkem Parfüm und ein leichtes Lächeln zurück.

Die Gespräche mit ihr bestärkten ihn immer in seiner Selbstsicherheit, nicht so sehr durch ihre Worte wie durch ihren unerschütterlich überzeugten Ton. Wenn er ihr zuhörte, glaubte er, daß alles im Grunde sehr einfach war, und daß man leicht und angenehm leben konnte. Die Mutter lebte nur sich selbst und lebte dabei nicht schlecht. Sie litt nicht an Einbildungen!

Natürlich, irgend etwas mußte man sich schon einbilden, um das Leben zu würzen, wenn es zu nüchtern, um es zu versüßen, wenn es zu bitter war. Doch man mußte ein genaues Maß finden. Es gab Empfindungen, die aufzubauschen gefährlich war. So ein Gefühl war natürlich die Liebe zur Frau, aufgebauscht bis zu Schüssen aus einem schlechten Revolver. Man weiß: die Liebe ist ein Instinkt wie der Hunger, aber wer wird sich aus Hunger oder Durst, oder weil er keine Hosen anhat, töten?

In Augenblicken solcher Auseinandersetzung mit sich selbst, fühlte Klim sich klüger, stärker und origineller als alle Menschen, die er kannte. Allmählich entwickelte sich bei ihm eine herablassende Haltung gegen sie, eine Art lächelnder Ironie, die er heimlich genoß. Schon erregte zuweilen auch Warawka dieses neue Gefühl in ihm, – er war ein Tatmensch und dennoch ein wunderlicher Schwätzer.

Klim erhielt endlich das Zeugnis der Reife und sollte demnächst an die Petersburger Universität, als seinen Weg noch einmal Margarita kreuzte. Die Begegnung verwunderte ihn nicht, er wußte, daß er die Näherin einmal wiedersehen mußte, er erwartete diese zufällige Begegnung, aber seine Freude darüber verbarg er.

Sie wechselten vorsichtig nichtssagende Redensarten. Margarita erinnerte ihn an seine Unhöflichkeit gegen sie. Sie schritten langsam. Sie sah ihn scheel, mit aufgeworfenen Lippen und stirnrunzelnd an. Er bemühte sich, freundlich zu sein, blickte ihr milde in die Augen und überlegte, auf welche Weise er sie veranlassen könnte, ihn zu sich einzuladen.

Ihn zog sowohl der Wunsch, noch einmal ihre Liebkosungen zu empfangen, wie ein plötzlicher, dringender Einfall zu ihr. Als er sich teilnahmsvoll nach Dronow erkundigte, widersprach sie:

»Es ist nicht wahr, er hat das Buch nicht gestohlen.«

Und erklärte kurz und bündig:

»Er schämte sich, Geld zusammenzuscharren, und ließ es auf meinem Buch in der Sparkasse stehen. Und als wir uns mal gezankt hatten ...«

»Weswegen?«

»Na, weswegen zanken Männer mit Frauen? Wegen Männer, wegen Frauen natürlich. Er bat mich um sein Geld, aus Scherz gab ich es ihm nicht. Da hat er mir das Buch entwendet, und ich mußte es dem Friedensrichter melden. Daraufhin hat Wanjka es mir zurückgegeben. Das ist alles.«

An der Ecke eines dunklen, nebelerfüllten Gäßchens lud sie ihn ein:

»Kommst du ein wenig mit? Ich habe eine neue Wohnung. Wir trinken zusammen Tee.«

In dem engen Stübchen, das sich durch nichts von dem früheren unterschied, verbrachte er wohl vier Stunden. Sie küßte ihn, schien es, heißer und hungriger als früher, aber ihre Zärtlichkeiten vermochten Klim nicht so sehr zu berauschen, daß er vergessen hätte, was er erfahren wollte. Sich ihre Müdigkeit zunutze machend, pirschte er sich bedächtig an das Gewünschte heran und fragte sie zunächst etwas, was ihn niemals interessiert hatte:

»Wie hast du früher gelebt?«

Die Frage wunderte sie.

»Wie alle.«

Aber Klim drang beharrlich in sie. Da rückte sie ein wenig von ihm ab, gähnte und sagte:

»Ich lebte wie alle Mädchen. Erst verstand ich gar nichts. Dann begriff ich, daß man euch lieben muß, da liebte ich eben einen. Er versprach, mich zu heiraten, hat es sich aber anders überlegt ...«

Sie sagte das ruhig, ohne Erbitterung und schloß die Augen. Klim streichelte ihr Wange, Hals und Schulter. Dann richtete er seine Hauptfrage an sie:

»Wie bist du Weib geworden?«

»Auf die gleiche Weise wie alle«, antwortete die Frau und bewegte die Schultern. Sie öffnete die Augen nicht.

»Und hattest du Angst?«

»Wovor?«

»Beim ersten Mal, in der ersten Nacht?«

Margarita dachte ein wenig nach, als müsse sie sich erinnern und leckte sich die Lippen.

»Es war nicht nachts, sondern am Tage, am Tage Allerheiligen, auf dem Kirchhof ...«

Sie machte die Augen auf und warf die Haare zurück, die ihr über Ohren und Wangen gefallen waren. In ihren Gesten bemerkte Klim eine alberne Hast. Sie machte Klim wütend, weil sie ihn nicht in den eigentlichen Vorgang einweihen wollte oder konnte, obwohl Klim bei seinen Fragen kein Blatt vor den Mund nahm.

»Sehr einfach, es schwindelt einem und ade, Jungfernschaft!«

Außer diesem sagte sie nichts weiter über die Technik der Sache, dafür begann sie wohlwollend, ihn mit der Theorie bekanntzumachen. Um behaglicher sprechen zu können, richtete sie sich sogar im Bett auf:

»Ich hörte, dein Freund hat aus einem Revolver auf sich geschossen. Wegen der Mädchen und Weiber erschießen sich viele. Die Weiber sind niederträchtig und launisch. Sie haben so einen Eigensinn, ich kann nicht sagen, wie er ist. Der Mann ist hübsch und gefällt ihr auch, aber es ist nicht der Richtige. Nicht weil er arm oder nicht schön genug wäre. Er ist wohl schön, aber nicht der Richtige.«

Während sie sich den Zopf flocht, sagte sie immer nachdenklicher:

»Wenn du heiratest, nimm dir ein Mädel mit Charakter. Die mit Charakter sind dümmer, die passen selbst auf sich auf. Vor den Stillen, Züchtigen sei auf der Hut, sie betrügen dich zweimal in einer Stunde.«

Ihr Gesicht veränderte sich plötzlich. Ihre Pupillen verengten sich wie bei einer Katze, auf die gelblichen Augäpfel legte sich der Schatten der Wimpern. Sie schien mit fremden Augen auf etwas hinzustarren, sich rachedurstig zu erinnern. Klim hatte den Eindruck, daß sie früher nicht so böse von den Frauen gesprochen hatte, sondern wie von entfernten Verwandten, von denen sie weder Gutes noch Schlechtes erwartete, die sie nicht interessierten und die sie fast vergessen hatte, und während er ihr zuhörte, dachte er nochmals ängstlich daran, daß alle Menschen, die er kannte, sich gleichsam verschworen hatten, ihm zuvorzukommen, klüger und geheimnisvoller zu sein als er und sich schlau hinter ihren Worten zu verstecken. Ja, geheimnisvoller wollten sie sein, das war es, sie fürchteten, Klim Samgin könne sie allzu rasch durchschauen.

Margarita aber sagte:

»Ich kann auch nicht glauben, daß es heilige Frauen geben soll. Wahrscheinlich werden es alte Jungfern sein, und heilig werden sie wohl nur sein, weil sie alte Jungfern sind.«

Müde, sie anzuhören, sagte Klim endlich gelangweilt:

»Du bist heute in philosophischer Stimmung.«

Margarita besah sich hastig und fragte dann:

»In was?«

Als er ihr seine Worte erklärt hatte, sagte sie:

»Oh je! und ich glaubte, du hast Blut gesehen. Ich muß meine Blutung bekommen.«

Klim zuckte angewidert zusammen und sprang vom Bett auf. Die Einfalt dieses Mädchens war von ihm auch früher zuweilen als Schamlosigkeit und Unsauberkeit empfunden worden, aber damals hatte er sich damit ausgesöhnt. Jetzt jedoch verließ er Margarita mit einem Gefühl heftiger Abneigung gegen sie, und er tadelte sich hart wegen dieses ergebnislosen Besuchs. Er war froh, daß er am nächsten Tag nach Petersburg abreiste. Warawka hatte ihn überredet, in das Ingenieurinstitut einzutreten, und alle Schritte zu Klims Aufnahme getan.

Die Nacht war naßkalt und schwarz. Die Lichter der Laternen brannten träge und trist, als hätten sie die Hoffnung, jemals die dichte, klebrige Finsternis zu besiegen, aufgegeben. Klim war qualvoll ums Herz, er konnte an nichts denken. Aber unvermittelt durchzuckte ihn der Gedanke, daß zwischen Warawka, Tomilin und Margarita etwas Gemeinsames bestand. Sie alle belehrten, warnten und schreckten ab, und hinter der Tapferkeit ihrer Reden schien Angst zu lauern. Wovor? Vor wem? Doch nicht vor ihm, dem Menschen, der einsam und furchtlos seinen Weg durch das Dunkel suchte?

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