15

Erst als Crysania in das Dorf ritt, stellte sie fest, daß etwas nicht stimmte.

Caramon wäre es natürlich sofort aufgefallen, wenn er vom Gipfel des Berges auf das Dorf hinuntergesehen hätte. Er hätte den fehlenden Rauch der Kaminfeuer bemerkt. Er hätte die unnatürliche Ruhe bemerkt – keine Mütter, die nach ihren Kindern riefen, kein dumpfes Muhen von Vieh, das von den Feldern heimgetrieben wird, keine Nachbarn, die sich nach einem langen Arbeitstag fröhlich begrüßen. Er hätte gesehen, daß kein Rauch von der Schmiede aufstieg, hätte sich nervös gefragt, warum aus den Fenstern kein Kerzenlicht leuchtete. Er hätte beunruhigt die große Anzahl am Himmel kreisender Aasvögel entdeckt...

All dies hätten Caramon oder Tanis, der Halbelf, oder Raistlin oder die anderen bemerkt und hätten sich mit der Hand am Schwert oder mit einem Zauberspruch auf den Lippen dem Dorf genähert.

Als Crysania langsam in das Dorf hineinritt und sich wunderte, wo denn die Bewohner wären, verspürte sie die ersten Anzeichen von Unbehagen. Sie wurde sich der Vögel bewußt, als ihre Schreie in ihre Gedanken eindrangen.

Crysania stieg vor einem Gebäude ab, dessen Schild es als Gasthaus kennzeichnete. Sie band das Pferd an einen Pfahl und ging zum Eingang. Kein Licht drang aus den Fenstern des Hauses. Crysania konnte kaum etwas erkennen, als sie die Tür öffnete. »Hallo?« rief sie zögernd. Bei dem Klang ihrer Stimme kreischten die Vögel auf. »Ist jemand hier? Ich möchte ein Zimmer...«

Aber sie erkannte, daß dieser Ort ohne Zweifel verlassen war. Vielleicht hatten sich alle der Armee angeschlossen. Das wußte sie von ganzen Dörfern. Aber als sie sich umsah, erkannte sie, daß es in diesem Dorf nicht der Fall gewesen war. Denn dann wären nur die Möbel hier geblieben; die Leute hätten ihre sonstigen Habseligkeiten mitgenommen.

Hier war der Tisch für das Abendessen gedeckt...

Sie trat weiter in den Raum hinein, als sich ihre Augen an die Düsterheit gewöhnt hatten. Jetzt konnte sie Gläser erkennen, die noch mit Wein gefüllt waren, die Flaschen standen offen mitten auf dem Tisch. Es gab kein Essen. Einige Teller waren heruntergeworfen und lagen zerbrochen auf dem Boden neben einem angeknabberten Knochen. Zwei Hunde und eine Katze schlichen herum; sie sahen halbverhungert aus.

Eine Treppe verlief nach oben. Crysania dachte daran hinaufzusteigen, aber dann verließ sie der Mut. Sie würde sich erst im Dorf umsehen. Sicher war jemand da, der ihr erklären konnte, was hier vor sich ging.

Sie nahm eine Lampe, zündete sie mit der Zunderbüchse an, die sie in ihrer Tasche hatte, und ging auf die Straße, die jetzt in fast völlige Dunkelheit getaucht war. Was war geschehen? Wo waren alle? Es sah nicht so aus, als ob die Stadt angegriffen worden wäre. Es gab keine Zeichen von Kampf – keine zerbrochenen Möbel, kein Blut, keine herumliegenden Waffen, keine Leichen.

Ihr Pferd wieherte bei ihrem Erscheinen. Sie unterdrückte den heftigen Wunsch, auf das Tier zu springen und so schnell wie möglich fortzureiten. Es war müde und mußte fressen. Als sie daran dachte, band sie es los und führte es zu dem Stall hinter dem Gasthaus. Der Stall war leer. Das war nicht ungewöhnlich – in dieser Zeit waren Pferde ein Luxus. Aber es gab Stroh und Wasser. Zumindest war also das Gasthaus auf Reisende eingestellt. Sie stellte ihre Lampe auf ein Gestell, nahm den Sattel von dem erschöpften Tier und rieb es ab. Als sie ging, kaute es Hafer, den es in einem Trog gefunden hatte.

Crysania nahm ihre Lampe und kehrte auf die leere, stumme Straße zurück. Sie spähte in dunkle Häuser. Nichts. Niemand. Als sie weiterging, hörte sie ein Geräusch. Kurz hörte ihr Herz zu schlagen auf, die Lampe schwankte in ihrer zitternden Hand. Sie blieb stehen, horchte, redete sich ein, daß es ein Vogel oder ein anderes Tier sei.

Nein, da war es wieder. Und noch einmal. Es war ein merkwürdiges Geräusch, wie ein Zischen und dann ein Aufplatschen. Bestimmt war daran nichts Unheimliches oder Bedrohliches.

Wütend auf sich, enttäuscht vom offensichtlichen Scheitern ihrer Pläne und entschlossen herauszufinden, was hier passiert war, ging Crysania kühn weiter.

Das Geräusch wurde lauter. Die Häuser hörten auf. Als sie um eine Ecke bog, fiel ihr plötzlich ein, daß sie die Lampe hätte löschen sollen. Aber der Gedanke kam zu spät. Beim Anblick des Lichts drehte sich die Gestalt, die das komische Geräusch verursacht hatte, um und starrte sie an.

»Wer bist du?« rief der Mann. »Was willst du hier?« Er klang nicht verängstigt, nur furchtbar müde, als ob ihre Gegenwart eine weitere schwere Bürde wäre.

Aber anstatt zu antworten, ging Crysania weiter. Jetzt hatte sie das Geräusch erkannt. Er hatte geschaufelt, denn er hielt eine Schaufel in der Hand. Er hatte kein Licht. Er hatte offensichtlich so schwer gearbeitet, daß er nicht einmal wahrgenommen hatte, daß die Nacht eingebrochen war.

Crysania hob ihre Lampe hoch, damit das Licht auf den Mann falle, und musterte ihn neugierig. Er war jung, jünger als sie – wahrscheinlich zwanzig oder einundzwanzig. Er war ein Mensch mit blassem, ernstem Gesicht und in Roben gekleidet, die sie für klerikale Gewänder hielt.

»Zurück!« schrie er.

»Was?« fragte Crysania erschreckt.

»Zurück!« wiederholte er schwächer.

»Nein«, sagte Crysania, die erkannte, daß der junge Mann krank oder verletzt war. Sie wollte ihren Arm um ihn legen, als ihr Blick auf seine Arbeit fiel.

Er hatte ein Grab aufgefüllt – ein Massengrab.

Als sie in die riesige Grube schaute, sah sie Leichen – Männer, Frauen, Kinder. Es gab keine Verletzungen an ihnen, kein Blut. Dennoch waren alle tot; das gesamte Dorf, erkannte sie betäubt. Und als sie sich umdrehte und in das Gesicht des jungen Mannes blickte, den Schweiß sah, die glasigen, fiebrigen Augen, wußte sie Bescheid.

»Ich habe versucht, dich zu warnen«, sagte er matt und würgte. »Gelbfieber!«

»Komm mit«, sagte Crysania. Sie legte die Arme um den jungen Mann.

Er wehrte sich schwach. »Nein! Nicht!« bettelte er. »Du wirst dich anstecken und sterben... innerhalb von Stunden...«

»Du bist krank. Du brauchst Ruhe«, sagte sie. Seinen Protest nicht beachtend, führte sie ihn fort.

»Aber das Grab«, flüsterte er. Sein Blick glitt zum dunklen Himmel, wo die Aasvögel kreisten. »Wir können die Leichen nicht so lassen...«

»Ihre Seelen sind bei Paladin«, unterbrach ihn Crysania und kämpfte bei dem Gedanken an das greuliche Festmahl, das bald beginnen würde, gegen ihren eigenen Ekel an. »Nur ihre Hüllen liegen hier.«

Zum Streiten zu geschwächt, neigte der junge Mann den Kopf und legte seinen Arm um Crysanias Hals. Er war unglaublich mager – sie spürte kaum sein Gewicht, als er sich auf sie stützte. Sie fragte sich, wann er das letzte Mal richtig gegessen hatte.

Langsamen Schrittes verließen sie das Grab. »Dort ist mein Haus«, sagte er und deutete auf eine kleine Hütte am Rande des Dorfes.

Crysania nickte. »Erzähl mir, was geschehen ist«, sagte sie.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, entgegnete er. »Es schlug ganz plötzlich ein, ohne Warnung. Gestern haben die Kinder noch in den Höfen gespielt, und in der vergangenen Nacht sind sie in den Armen ihrer Mütter gestorben. Tische waren gedeckt für ein Abendessen, das keiner mehr essen wollte. Heute morgen haben jene, die sich noch bewegen konnten, dieses Grab geschaufelt, ihr eigenes Grab.« Seine Stimme brach.

»Es wird jetzt alles gut werden«, sagte Crysania. »Ich bringe dich ins Bett. Ich werde beten...«

»Gebete!« Der junge Mann lachte bitter auf. »Ich bin ihr Kleriker!« Er wies zum Grab zurück. »Du siehst, was die Gebete gebracht haben.«

»Pst! Schone deine Kraft«, sagte Crysania. Bald darauf erreichten sie das kleine Haus. Sie half ihm, sich auf sein Bett zu legen, schloß die Tür, und als sie Brennholz im Kamin sah, zündete sie es mit der Flamme ihrer Lampe an. Bald loderte es. Sie zündete Kerzen an und kehrte dann zu ihrem Patienten zurück. Seine fiebrigen Augen waren jeder ihrer Bewegungen gefolgt.

Sie zog einen Stuhl zu seinem Bett, goß Wasser in eine Schüssel, tauchte ein Tuch hinein, dann setzte sie sich zu ihm und legte das feuchte Tuch auf seine glühende Stirn. »Ich bin auch eine Klerikerin«, sagte sie und berührte leicht ihr Medaillon. »Ich werde zu meinem Gott beten, daß er dich heilt.« Sie legte die Hände auf die Schultern des jungen Mannes. Dann begann sie: »Paladin...«

»Was?« rief er und ergriff sie mit einer glühenden Hand. »Was tust du da?«

»Ich werde dich heilen«, antwortete Crysania und lächelte ihn an. »Ich bin eine Klerikerin Paladins.«

»Paladin!« Der junge Mann zog vor Schmerz eine Grimasse, dann sah er ungläubig zu ihr auf. »Das hast du doch gesagt. Wie kannst du eine seiner Klerikerinnen sein? Sie sind alle, so wird gesagt, vor der Umwälzung verschwunden.«

»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Crysania. »Ich werde sie dir später erzählen. Aber jetzt glaube mir, daß ich wahrhaftig eine Klerikerin dieses großen Gottes bin und dich heilen werde!«

»Nein!« schrie der junge Mann, und seine Hand schloß sich so fest um die ihre, daß es schmerzte. »Ich bin auch ein Kleriker, ein Kleriker der Götter der Sucher. Ich habe versucht, meine Leute zu heilen, aber ich konnte nichts für sie tun. Sie sind gestorben!« Er schloß gequält die Augen. »Ich habe gebetet! Die Götter... haben nicht geantwortet.«

»Weil diese Götter, zu denen du gebetet hast, falsche Götter sind«, sagte Crysania ernst und strich besänftigend über das schweißnasse Haar des jungen Mannes.

Als er die Augen wieder öffnete, musterte er sie aufmerksam. Er sah gut aus und wirkte ernst, gelehrt. Seine Augen waren blau, sein Haar goldblond. »Wasser«, murmelte er zwischen ausgetrockneten Lippen.

Sie half ihm sich aufsetzen. Durstig trank er aus der Schüssel, dann legte sie ihn vorsichtig auf das Bett zurück. Er starrte sie immer noch an und schüttelte den Kopf.

»Du weißt von Paladin, von den uralten Göttern?« fragte Crysania leise.

»Ja«, antwortete der junge Mann bitter. »Ich weiß von ihnen. Ich weiß, daß sie das Land zerstört haben. Ich weiß, daß sie Stürme und die Pest über uns gebracht haben. Ich weiß, daß in diesem Land böse Dinge freigelassen worden sind. Und dann haben sie uns verlassen. In der Stunde unserer Not haben sie uns aufgegeben!«

Jetzt war Crysania an der Reihe, große Augen zu machen. Sie hatte Ablehnung, Unglauben oder sogar völlige Unwissenheit, was die Götter betraf, erwartet. Damit konnte sie umgehen. Aber dieser bittere Zorn? Das war nicht die Konfrontation, auf die sie sich vorbereitet hatte. Sie war mit der Erwartung gekommen, einen abergläubischen Mob vorzufinden, und war auf ein Massengrab und einen sterbenden jungen Kleriker gestoßen.

»Die Götter haben uns nicht aufgegeben«, erwiderte sie. »Sie sind hier und warten nur auf den Klang eines Gebetes. Das Böse, das über Krynn gekommen ist, führten die Menschen selbst herbei, durch ihren Hochmut und ihre halsstarrige Unwissenheit.«

Die Geschichte von Goldmond, wie sie den sterbenden Elistan geheilt und ihn dabei zu dem uralten Glauben bekehrt hatte, fiel Crysania ein und erfüllte sie mit Freude. Sie würde diesen jungen Kleriker heilen, ihn bekehren... »Ich werde dir helfen«, sagte sie. »Dann werden wir Zeit zum Reden haben.« Wieder kniete sie neben seinem Bett, ergriff das Medaillon um ihren Hals und versuchte es noch einmal: »Paladin...«

Eine Hand packte sie grob und tat ihr weh. Erschreckt sah sie auf.

Es war der junge Kleriker. Er hatte sich halb aufgerichtet und starrte sie aufmerksam an. »Du brauchst mich nicht zu überzeugen. Ich glaube dir!« Er sah nach oben. »Ja, Paladin ist bei dir. Ich kann seine Gegenwart spüren. Vielleicht sind meine Augen offener, da ich mich dem Tod nähere.«

»Das ist ja wunderbar!« rief Crysania glückselig. »Ich kann...«

»Warte!« Der Kleriker rang nach Atem. »Hör zu! Weil ich glaube, weigere ich mich, daß du mich heilst.«

»Was?« Crysania starrte ihn verständnislos an. Dann sagte sie bestimmt: »Du bist krank, im Delirium. Du weißt nicht, was du sagst.«

»Doch«, erwiderte er. »Sieh mich an. Bin ich vernünftig?«

Crysania musterte ihn eingehend und mußte dann zustimmend nickend. »Ja, das mußt du zugeben. Ich bin nicht im Delirium. Ich bin bei vollem Bewußtsein... Aber sag mir, wenn Paladin hier ist – und ich glaube, daß er jetzt hier ist —, warum hat er das geschehen lassen? Warum hat er meine Leute sterben lassen? Warum hat er dieses Leiden zugelassen? Warum hat er es verursacht? Antworte mir!« Er umklammerte sie zornig. »Antworte mir!«

Ihre eigenen Fragen! Raistlins Fragen! Crysania spürte, wie ihr Geist in verwirrende Dunkelheit geriet. Wie konnte sie ihm antworten, wenn sie selbst so verzweifelt nach diesen Antworten suchte? Mit tauben Lippen wiederholte sie Elistans Worte: »Wir müssen glauben. Die Wege der Götter können uns nicht bekannt sein, wir können nicht...«

Der junge Mann legte sich zurück, schüttelte kraftlos den Kopf, und Crysania verstummte; sie fühlte sich hilflos angesichts dieses heftigen Zornes. Ich heile ihn auf alle Fälle, beschloß sie. Er ist krank und schwach an Geist und Körper. In diesem Zustand kann man von ihm nicht erwarten, daß er ihre Worte verstand.

Dann seufzte sie. Nein. Unter anderen Umständen hätte Paladin es erlaubt. Der Gott wird meine Gebete nicht erhören, wußte sie verzweifelt. In seiner göttlichen Weisheit wird er den jungen Mann zu sich nehmen, und dann wird alles klar und deutlich werden. Aber jetzt konnte es nicht sein.

Plötzlich erkannte Crysania düster, daß die Zeit nicht verändert werden konnte, jedenfalls nicht von ihr. Goldmond würde den Glauben an die uralten Götter bei den Menschen in einer Zeit wiederherstellen, wenn die Menschen wieder bereitwillig zuhörten. Nicht vorher.

Eine Hand berührte ihr Haar, und sie sah auf.

Der junge Mann lächelte sie schwach an. »Es tut mir leid«, sagte er sanft, und seine vom Fieber ausgetrockneten Lippen zuckten. »Es tut mir leid, daß ich dich enttäusche.«

»Ich verstehe dich«, sagte Crysania ruhig, »und ich werde deinen Wunsch respektieren.«

»Ich danke dir«, erwiderte er. Lange Zeit konnte man nur sein mühsames Atmen hören. Crysania wollte aufstehen, aber sie spürte seine glühende Hand auf der ihren. »Bitte tu eines für mich«, flüsterte er.

»Alles«, sagte sie und lächelte.

»Bleib die Nacht bei mir, während ich sterbe...«

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