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Als sie in der eiskalten Kammer neben Raistlins reglosem Körper kniete und Caramon blaß und leblos in der Nähe lag, beneidete Crysania beide plötzlich heftig. Wie einfach würde es sein, dachte sie, in die Bewußtlosigkeit zu gleiten und sich von der Dunkelheit in Besitz nehmen zu lassen! Das Böse an diesem Ort, das beim Klang von Raistlins Stimme offenbar geflohen war, kehrte zurück. Es wehte an ihrem Hals wie ein kalter Wind. Augen starrten sie aus dem Schatten an, Augen, die wohl nur vom Licht des Stabes des Magus zurückgehalten wurden. Trotz seiner Bewußtlosigkeit ruhte Raistlins Hand auf ihm.

Crysania legte die andere Hand des Erzmagiers, die sie festhielt, behutsam auf seine Brust. Dann setzte sie sich zurück, preßte die Lippen zusammen und schluckte ihre Tränen hinunter.

»Er ist auf mich angewiesen«, sagte sie laut, um das Wispern um sich herum zu zerstreuen. »In seiner Schwäche hängt er von meiner Stärke ab. Mein ganzes Leben lang«, fuhr sie fort, wischte sich die Tränen von den Augen und betrachtete das Wasser, das an ihren Fingern im Schein des Stabes glänzte, »habe ich mich mit meiner Stärke gebrüstet. Doch bis jetzt habe ich nie gewußt, was wirkliche Stärke ist.« Ihre Augen wandten sich Raistlin zu. »Jetzt sehe ich sie in ihm! Ich werde ihn nicht im Stich lassen! Wärme«, sagte sie und erbebte so stark, daß sie kaum aufstehen konnte, »er braucht Wärme. Die brauchen wir alle.« Sie seufzte. »Aber wie soll ich das bewerkstelligen? Im Schloß von Eismauer würden allein meine Gebete ausreichen, um uns zu wärmen. Paladin würde uns helfen. Aber diese Kälte hier ist nicht die Kälte von Eis oder Schnee. Sie geht viel tiefer – sie läßt eher den Geist als das Blut erstarren. Hier an diesem Ort des Bösen könnte mein Glaube mich erhalten, aber er wird uns niemals wärmen!«

Darüber nachdenkend und sich im Raum umsehend, der von dem Licht des Stabes schwach erleuchtet wurde, nahm Crysania an den Fenstern die Formen zerfetzter Vorhänge wahr. Sie waren aus schwarzem Samt und groß genug, daß sich alle damit zudecken konnten. Ihre Stimmung hob sich, sank aber unverzüglich, als ihr klar wurde, daß sie am anderen Ende des Raumes hingen. Kaum sichtbar in der verzehrenden Dunkelheit, befanden sich die Fenster außerhalb des Lichtkreises des Stabes.

»Ich muß dorthin gehen«, sagte sie sich, »in den Schatten!« Ihr Herz versagte fast, ihre Stärke ließ nach. »Ich werde Paladin um Hilfe bitten.« Aber während sie sprach, wanderte ihr Blick zu dem Medaillon, das auf dem Boden lag.

Sie bückte sich, um es aufzuheben, fürchtete aber die Berührung und erinnerte sich kummervoll, wie sein Licht beim Kommen des Bösen erloschen war.

Wieder fiel ihr Loralon ein, der großen Elfenkleriker, der kurz vor der Umwälzung gekommen war, um sie mitzunehmen. Sie hatte sich geweigert und statt dessen ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um die Worte des Königspriesters zu hören – die Worte, die den Zorn der Götter hervorgerufen hatten. War Paladin zornig? Hatte er sie in seinem Zorn verlassen, so wie viele glaubten, daß er ganz Krynn nach der schrecklichen Zerstörung Istars verlassen hatte? Oder konnte seine göttliche Macht einfach nicht die eisigen Schichten des Bösen durchdringen, die in diesem verfluchten Turm der Erzmagier zu Hause waren?

Verwirrt ergriff Crysania das Medaillon. Es leuchtete nicht. Das Metall fühlte sich in ihrer Hand kalt an. Sie zwang sich, zu einem Fenster zu gehen. »Wenn ich mich nicht überwinde«, murmelte sie, »werde ich erfrieren. Wir werden alle sterben«, fügte sie hinzu, und ihr Blick ging zu den Brüdern zurück. Raistlin trug seine schwarzen Samtroben, aber sie erinnerte sich, wie kalt seine Hände gewesen waren. Caramon war immer noch in sein Gladiatorenkostüm gekleidet, die goldene Rüstung und einen Lendenschurz.

Mit erhobenem Kinn warf Crysania den unsichtbaren, flüsternden Formen, die sie umlauerten, einen trotzigen Blick zu, dann trat sie mutig aus dem magischen Lichtkreis von Raistlins Stab hinaus.

Eisige Finger berührten ihre Haut. Crysania zuckte zusammen und konnte sich lange Zeit nicht regen. »Nein!« sagte sie dann wütend. »Ich werde weitergehen. Diese Kreaturen des Bösen werden mich nicht aufhalten. Ich bin eine Klerikerin Paladins. Selbst wenn mein Gott mich aufgegeben hat, werde ich doch nicht meinen Glauben aufgeben.«

Mit erhobenem Kopf streckte Crysania ihre Hand aus, als wollte sie die Dunkelheit wie einen Vorhang teilen. Dann setzte sie ihren Weg zum Fenster fort. Sie hörte unheimliches Geflüster und Gelächter, aber nichts hielt sie auf, nichts berührte sie. Endlich erreichte sie die Fenster.

Sie zog die Vorhänge auseinander und sah hinaus, hoffte, Trost in den Lichtern der Stadt Palanthas zu finden. Draußen sind andere Lebewesen, sagte sie sich, während sie das Gesicht gegen das Glas drückte. Ich werde Lichter sehen...

Aber die Prophezeiung war noch nicht eingetreten. Raistlin, der Herr über Vergangenheit und Gegenwart, war noch nicht zurückgekehrt, um den Turm zu beanspruchen, so wie es in der Zukunft geschehen würde. Und so blieb der Turm in undurchdringliche Dunkelheit gehüllt. Falls die Lichter in der wunderschönen Stadt Palanthas brannten, dann konnte sie es nicht sehen.

In ihrer Trostlosigkeit aufseufzend, ergriff Crysania den Stoff und zog an ihm. Das morsche Gewebe gab fast unverzüglich nach und begrub sie wie unter einem Leichentuch aus Samtbrokat, als die Vorhänge herunterfielen. Dankbar wickelte sie den schweren Stoff um ihre Schultern und genoß seine Wärme.

Sie riß einen weiteren Vorhang herunter und trug ihn durch den dunklen Raum. Das magische Licht des Stabs führte sie durch die Dunkelheit. Sie deckte Caramon mit dem schweren Stoff bis über seine breiten Schultern zu. Seine Brust hob sich nicht, er atmete kaum. Sie legte die Hand an seinen Hals und fühlte seinen Puls. Er war langsam und unregelmäßig. Und dann sah sie an seinem Hals Male – wie von fleischlosen Lippen.

Vor ihrem geistigen Auge erschien der körperlose Kopf. Schaudernd verbannte sie ihn aus ihren Gedanken und legte die Hände auf Caramons Stirn. »Paladin«, betete sie leise, »wenn du dich nicht im Zorn von deiner Klerikerin abgewendet hast – heile diesen Mann! Wenn sich sein Schicksal noch nicht erfüllt hat, wenn es noch etwas gibt, was er tun muß, gewähre ihm Gesundheit. Wenn nicht, dann nimm seine Seele behutsam in deine Arme, Paladin, auf daß er ewig leben kann...«

Crysania konnte nicht weiterbeten. Ihre Kraft verließ sie. Erschöpft und verloren in der unermeßlichen Dunkelheit, ließ sie den Kopf sinken und begann bitterlich zu weinen wie jemand, der keine Hoffnung mehr sieht.

Doch dann berührte eine Hand sie. Sie schreckte verängstigt auf, aber diese Hand war stark und warm. »Nun, nun, Tika« murmelte eine tiefe, verschlafene Stimme. »Es wird alles wieder gut. Weine nicht.«

Crysania hob ihr tränennasses Gesicht und sah Caramons Brust sich in tiefen Atemzügen heben und senken. Sein Gesicht hatte die Leichenblässe verloren, die Male an seinem Hals gingen zurück. Beruhigend ihre Hand tätschelnd, lächelte er. »Es ist nur ein böser Traum, Tika«, murmelte er. »Wird vorbei sein... morgen...«

Den Vorhang um sich ziehend, gähnte Caramon laut auf und wälzte sich auf die andere Seite, um in einen tiefen, friedlichen Schlaf zu gleiten.

Zu müde und zu abgestumpft, um ihrem Gott zu danken, konnte Crysania nur dasitzen und dem großen Mann zusehen. Dann vernahm sie ein Geräusch – das Geräusch von tropfendem Wasser. Als sie sich umwandte, sah sie einen Glaskrug am Rand des Schreibtisches stehen. Der Krug lag auf einer Seite, seine Öffnung ragte über den Rand des Tisches. Er war offensichtlich seit langer Zeit leer. Aber jetzt glitzerte er von einer klaren Flüssigkeit, die auf den Boden tropfte, und jeder Tropfen funkelte im Licht des Stabes.

Crysania streckte die Hand aus und fing einige Tropfen in der Handfläche auf, dann hob sie sie zögernd an ihre Lippen. »Wasser!« stieß sie hervor.

Der Geschmack war leicht bitter, fast salzig, aber es war das köstlichste Wasser, das sie je getrunken hatte. Sie ließ mehr Wasser in ihre Hand tropfen und schluckte es durstig. Sie stellte den Krug wieder aufrecht auf den Schreibtisch und sah, wie der Wasserpegel anstieg und die Menge ersetzte, die sie getrunken hatte.

Jetzt konnte sie Paladin mit Worten danken, die aus den Tiefen ihres Seins kamen, so tief, daß sie sie nicht aussprechen konnte. Ihre Furcht vor der Dunkelheit und den Kreaturen war verflogen. Ihr Gott hatte sie nicht verlassen – er war immer noch bei ihr, auch wenn sie ihn vielleicht enttäuscht hatte.

Von ihrer Angst erlöst, warf sie einen letzten Blick auf Caramon. Als sie ihn friedlich schlafen sah, wandte sie sich von ihm ab und ging zu seinem Bruder, der in seinen Roben dalag.

Sie legte sich neben den Magier, wußte, daß die Wärme ihres Körpers für beide ausreichend war, deckte sich und ihn mit dem Vorhang zu und lehnte ihren Kopf an Raistlins Schulter. Dann schloß sie die Augen und ließ sich von der Dunkelheit umhüllen.

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