3

»Die Frau nannte ihn Raistlin.«

»Aber dann Fistandantilus.«

»Wie können wir sicher sein? Er ist nicht durch den Eichenwald gegangen, wie vorhergesagt wurde. Er ist nicht mit Macht gekommen. Und die anderen? Er sollte allein kommen.«

»Aber spür doch seine Magie! Ich wage nicht, ihm die Stirn zu bieten...«

»Nicht einmal bei dieser reichen Belohung?«

»Der Blutgeruch hat dich in den Wahnsinn getrieben! Wenn er es nun wirklich ist, und er findet heraus, daß du dich an seinen Erwählten geweidet hast, wird er dich in die ewige Dunkelheit zurückschicken, wo du immer von warmem Blut träumen, es aber niemals wieder kosten wirst.«

»Und wenn wir versagen in unserer Pflicht, diesen Ort zu bewachen, dann wird sie in ihrem Zorn kommen und uns dieses Schicksal angenehm erscheinen lassen.«

Schweigen. Dann: »Es gibt einen Weg, uns zu überzeugen...«

»Das ist gefährlich. Er ist geschwächt, wir könnten ihn töten.«

»Wir müssen es aber wissen. Soll er doch lieber sterben, als daß wir in unserer Pflicht gegenüber Ihrer Dunklen Majestät versagen!«

»Ja... Sein Tod könnte erklärt werden. Sein Leben vielleicht nicht.«

Ein kalter Schmerz bohrte sich wie Eissplitter in die Schichten seines Unbewußten, stach in sein Gehirn. Raistlin wand sich in seinem Griff, kämpfte durch den Nebel der Krankheit und Erschöpfung, um das Bewußtsein wiederzuerlangen. Er schlug die Augen auf. Furcht erstickte ihn fast, als er zwei blasse Köpfe über sich schweben sah, die ihn mit Augen unermeßlicher Dunkelheit anstarrten. Ihre Hände lagen auf seiner Brust – es war die Berührung eisiger Finger.

Als er in diese Augen sah, wußte der Magier, was sie suchten, und er wurde von plötzlichem Entsetzen ergriffen. »Nein«, sagte er atemlos. »Ich will das nicht noch einmal erleben.«

»Du wirst es. Wir müssen es wissen!« war ihre Antwort.

Wut über diese Ungeheuerlichkeit erfaßte Raistlin. Einen Fluch knurrend, versuchte er sich loszureißen. Aber es war sinnlos. Seine Muskeln verweigerten den Gehorsam, ein Finger zuckte, weiter nichts.

Zorn, Schmerz und bittere Enttäuschung ließen ihn aufschreien, aber es war ein Ton, den niemand hörte – nicht einmal er selbst. Die eisigen Hände festigten ihren Griff, der Schmerz bohrte sich in ihn, und er versank – nicht in Dunkelkeit, sondern in Erinnerungen.

Das Studierzimmer, in dem die sieben Zauberlehrlinge an jenem Morgen arbeiteten, war fensterlos. Hier fand kein Sonnenlicht und auch nicht das Licht der zwei Monde – des silbernen und des roten Mondes – Einlaß. Was den dritten Mond betraf, den schwarzen Mond, so konnte seine Gegenwart hier wie auch sonst auf Krynn gespürt werden, ohne daß man ihn sah.

Der Raum wurde von dicken Bienenwachskerzen erleuchtet, die in silbernen Kerzenhaltern auf den Tischen standen.

Es war der einzige Raum im großen Schloß von Fistandantilus, der von Kerzen erleuchtet wurde. In allen anderen Räumen schwebten Glaskugeln in der Luft, deren magische Strahlung die Dunkelheit erhellte, die in dieser Festung ewig währte.

Sechs Lehrlinge saßen an einem Tisch, einige unterhielten sich, andere studierten schweigend. Der siebte saß abseits an einem Tisch am anderen Ende des Zimmers. Gelegentlich hob einer der Sechs den Kopf und warf dem abseits Sitzenden einen nervösen Blick zu, senkte dann aber schnell den Kopf, denn es spielte keine Rolle, wer zu ihm sah oder wann, der siebte schien immer zurückzusehen.

Der siebte amüsierte sich darüber und gab sich einem bitteren Lächeln hin. Es war keine leichte Zeit für Raistlin. Oh, es war einfach genug, die Täuschung aufrechtzuerhalten, Fistandantilus daran zu hindern, daß er seine wahre Identität vermutete, seine wahren Kräfte zu verbergen, einen der Narren zu spielen, die daran arbeiteten, die Gunst des großen Zauberers zu erwerben und sein Lehrling zu werden.

Täuschung war Raistlins Vergnügen. Er genoß sogar die kleinen Spiele der Kunst, den anderen immer um eine Nasenlänge voraus zu sein, alles ein wenig besser zu machen, sie immer zu überraschen. Auch genoß er sein Spiel mit Fistandantilus. Er konnte spüren, wie der Erzmagier ihn beobachtete. Er wußte, was der große Zauberer dachte: Wer ist dieser Lehrling? Woher hat er die Kraft, die er, der Erzmagier, in dem jungen Mann spüren, aber nicht beschreiben konnte?

Manchmal glaubte Raistlin Fistandantilus dabei zu ertappen, wie er sein Gesicht musterte, als ob es ihm vertraut vorkäme...

Nein, Raistlin genoß das Spiel. Aber unerwartet war er auf etwas gestoßen, was er nicht genießen konnte, was er die unglücklichste Zeit seines Lebens nannte – seine alte Schulzeit.

»Der Verschlagene«, das war sein Spitzname bei den Lehrlingen in der Schule seines alten Meisters gewesen. Niemals beliebt, niemals ins Vertrauen gezogen, sogar von seinem eigenen Meister gefürchtet, verbrachte Raistlin eine einsame, verbitterte Jugend. Die einzige Person, die sich je um ihn gekümmert hatte, war sein Zwillingsbruder Caramon gewesen.

Obgleich er seine Kameraden verabscheute, die danach trachteten, einem Meister zu gefallen, der den Auserwählten am Ende lediglich umbringen würde, obgleich er es genoß, sie zu narren und zu verspotten, verspürte Raistlin jetzt manchmal einen stechenden Schmerz in den einsamen Nächten, wenn er sie hörte, wie sie gemeinsam lachten...

Wütend erinnerte er sich daran, daß all dies nicht seine Sache war. Er hatte ein größeres Ziel vor Augen. Er mußte sich konzentrieren, mit seiner Kraft haushalten. Denn heute war der Tag, an dem Fistandantilus seinen Lehrling auswählen würde.

Ihr sechs werdet gehen, dachte Raistlin. Ich werdet gehen und mich hassen und verachten, und keiner von euch wird jemals erfahren, daß einer von euch mir sein Leben verdankt!

Die Tür zum Studierzimmer öffnete sich knirschend, jagte einen Ruck durch die sechs schwarzgekleideten Gestalten, die an dem Tisch saßen. Raistlin, der sie mit einem verzerrten Lächeln betrachtete, sah das gleiche höhnische Lächeln im verhutzelten grauen Gesicht des Mannes, der in der Türöffnung stand.

Die glitzernden Augen des Zauberers glitten zu jedem einzelnen der Sechs, ließen jeden erblassen und den Kopf neigen, während die Hände mit Zauberzutaten spielten oder sich nervös zusammenballten.

Schließlich richtete Fistandantilus seine schwarzen Augen auf den siebten Lehrling, der abseits saß. Raistlin begegnete seinem Blick gelassen, sein verzerrtes Lächeln verstärkte sich noch – in Spott. Fistandantilus zog seine Augenbrauen zusammen. Jähzornig schlug er die Tür zu. Die sechs Lehrlinge schraken bei dem Knall, der die Stille zerriß, zusammen.

Der Zauberer kam mit langsamen Schritten näher. Seine alten Knochen knirschten, als er sich auf einem Stuhl niederließ. Der Blick des Zauberers fuhr noch einmal zu den sechs Lehrlingen, die vor ihm saßen, und als er sie musterte, hob sich eine von Fistandantilus’ verwelkten Händen, um einen Anhänger zu streicheln, den er an einer langen, schweren Kette um seinen Hals trug. Es war ein merkwürdiger Anhänger – ein ovaler Blutstein, in schlichtes Silber eingefaßt.

Die Lehrlinge hatten häufig über diesen Anhänger und seine Funktion diskutiert. Es war der einzige Schmuck, den Fistandantilus trug, und alle wußten, daß er sehr kostbar sein mußte. Selbst der niedrigste Lehrling konnte die mächtigen Schutz- und Abwehrzauber spüren, die auf ihm lagen und ihn vor jeder anderen Form der Magie bewachten. Welche Funktion hatte er? Ihre Spekulationen reichten von dem Herbeirufen von Wesen himmlischer Ebenen bis hin zum Umgang mit Ihrer Dunklen Majestät.

Einer von ihnen hätte es ihnen natürlich sagen können. Raistlin wußte um seine Funktion. Aber er behielt sein Wissen für sich.

Fistandantilus’ zittrige Hand schloß sich um den Blutstein, während sein hungriger Blick von einem Lehrling zum nächsten glitt. Raistlin hätte schwören können, daß der Zauberer seine Lippen leckte, und der junge Magier verspürte eine plötzliche Angst. Was ist, wenn ich versage? fragte er sich schaudernd. Er ist mächtig! Der mächtigste Zauberer, der je gelebt hat! Bin ich stark genug? Was ist...

»Ich beginne mit der Prüfung«, sagte Fistandantilus mit einer überschnappenden Stimme, sein Blick ging zum ersten der Sechs.

Standhaft verbannte Raistlin seine Befürchtungen. Wenn er versagte, würde er sterben. Er hatte schon zuvor dem Tod ins Gesicht gesehen. In der Tat wäre es wie ein Treffen mit einem alten Freund...

Hintereinander erhoben sich die jungen Magier von ihren Plätzen, öffneten ihre Zauberbücher und trugen ihre Zaubersprüche vor. Wenn der Zauber »Magie bannen« nicht über dem Studierzimmer gelegen hätte, würden jetzt Feuerkugeln innerhalb seiner Wände explodieren und alles in ihrer Reichweite verbrennen, Phantomdrachen würden illusorisches Feuer ausatmen, furchterregende Wesen würden kreischend von anderen Existenzebenen kommen. Aber so wie die Dinge lagen, blieb das Zimmer in kerzenerleuchteter Ruhe, mit Ausnahme des Singsangs der Prüflinge und des Raschelns der Seiten in den Zauberbüchern.

Jeder Magier beendete seine Vorführung und nahm seinen Platz wieder ein. Alle waren bemerkenswert geübt. Das war auch nicht überraschend. Fistandantilus ließ nur sieben der geschicktesten, jungen, männlichen Zauberkundigen zu, die bereits die fürchterliche Prüfung im Turm der Erzmagier bestanden hatten, um ihre Studien bei ihm fortzusetzen. Aus dieser Anzahl suchte er sich dann einen Assistenten aus.

So vermuteten sie.

Die Hand des Erzmagiers berührte den Blutstein. Sein Blick ging zu Raistlin. »Du bist an der Reihe, Magier«, sagte er. In den alten Augen flackerte es auf. Die Falten an der Stirn des Zauberers vertieften sich leicht, als ob er versuchte, sich an das Gesicht des jungen Mannes zu erinnern.

Langsam erhob sich Raistlin, immer noch mit dem bitteren, zynischen Lächeln, als ob dies alles unter seiner Würde wäre. Mit einem lässigen Achselzucken schlug er sein Zauberbuch zu. Die anderen sechs Lehrlingen tauschten verbitterte Blicke aus. Fistandantilus runzelte die Stirn, aber seine dunklen Augen funkelten.

Gewandt und spöttisch begann Raistlin den komplizierten Zauber aus dem Gedächtnis aufzusagen. Die anderen Lehrlinge wanden sich bei dieser Darstellung seines Könnens, funkelten ihn voll Haß und offenem Neid an. Fistandantilus beobachtete ihn, sein finsterer Blick wurde so bösartig, daß Raistlins Konzentration fast beeinträchtigt wurde.

Der junge Magier zwang sich, sich nicht ablenken zu lassen, und beendete seinen Spruch, und plötzlich wurde das Studierzimmer von dem strahlenden Blitz eines vielfarbenen Lichtes erleuchtet, die Stille wurde von einer Explosion durchbrochen.

Fistandantilus schrak zusammen, das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Wie hast du den Zauber ›Magie bannen‹ gebrochen?« verlangte Fistandantilus wütend zu wissen. »Welche seltsame Macht ist das?«

Als Antwort öffnete Raistlin seine Hände. Auf ihren Flächen hielt er eine blaue und grüne Flammenkugel, die in solcher Helligkeit erstrahlten, daß niemand sie ansehen konnte. Mit dem gleichen höhnischen Lächeln klatschte er in die Hände. Die Flamme verschwand.

Das Studierzimmer war wieder von Ruhe erfüllt, nur war es die Ruhe der Angst, als sich Fistandantilus erhob. Sein Zorn schimmerte um ihn wie ein Flammenring, als er sich dem siebten Lehrling näherte.

Raistlin schrak vor diesen Zorn nicht zurück. Er blieb gelassen stehen und beobachtete kühl den nahenden Zauberer.

»Wie hast du...« Fistandantilus’ Blick fiel auf die schlanken Hände des jungen Magiers. Mit einem bösartigen Knurren ergriff der Zauberer Raistlins Handgelenk.

Raistlin schrie vor Schmerz auf, die Berührung des Erzmagiers war so kalt wie das Grab. Er lächelte weiter, obgleich ihm bewußt war, daß sein Grinsen wie das eines Totenkopfes wirken mußte.

»Blitzpuder!« Fistandantilus riß Raistlin nach vorne und hielt seine Hand unter das Kerzenlicht, so daß alle es sehen konnten. »Ein ganz gewöhnlicher Taschenspielertrick.«

»Auf diese Weise habe ich meinen Lebensunterhalt verdient«, erwiderte Raistlin. »Ich hielt es für angemessen angesichts der Amateure, die hier vertreten sind.«

Fistandantilus verstärkte seinen Griff. Raistlin würgte vor Schmerz, aber er wich dem Blick des Meisters nicht aus.

»Du glaubst also, du wärst besser als die anderen?« fragte Fistandantilus Raistlin mit sanfter, fast freundlicher Stimme, das zornige Gemurmel der Lehrlinge überhörend.

»Du weißt, daß es so ist!«

Finstandantilus starrte ihn an, seine Hand hielt immer noch Raistlins Handgelenk umklammert. Dieser bemerkte eine plötzliche Furcht in den Augen des alten Mannes, eine Furcht, die schnell durch den Blick unersättlichen Hungers ersetzt wurde. Fistandantilus lockerte seinen Griff um Raistlins Arm. Der junge Magier konnte einen Seufzer unendlicher Erleichterung nicht unterdrücken, als er auf seinen Stuhl sank und sein Handgelenk rieb. Die Hand des Erzmagiers war deutlich auf seiner Haut erkennbar – sie hatte seine Haut in ein eisiges Weiß verwandelt.

»Verschwindet!« schnappte Fistandantilus. Die sechs Magier erhoben sich, ihre schwarzen Roben raschelten. Auch Raistlin stand auf. »Du bleibst«, befahl der Erzmagier kühl.

Raistlin setzte sich wieder, immer noch sein verletztes Handgelenk reibend. Wärme und Leben kehrten wieder zurück. Als die anderen jungen Magier hintereinander hinausgingen, folgte ihnen Fistandantilus zur Tür. Dann drehte er sich um und sah seinem neuen Lehrling ins Gesicht. »Die anderen werden bald verschwunden sein, und wir werden das Schloß für uns allein haben. Komm zur Dunkelwacht in die unterirdischen geheimen Räume. Ich werde ein Experiment leiten, das deine... Mitarbeit erforderlich macht.«

Raistlin beobachtete mit einer Art entsetzter Faszination, wie die Hand des Zauberers zu dem Blutstein fuhr und ihn liebevoll streichelte. Raistlin konnte nicht antworten. Dann lächelte er höhnisch – dieses Mal galt es ihm selbst, seiner eigenen Angst. »Ich werde dort sein, Meister«, sagte er.

Raistlin lag auf der Steinplatte im Laboratorium, das sich tief unterhalb des Schlosses des Erzmagiers befand. Nicht einmal seine dicken schwarzen Samtroben konnten die Kälte abhalten, und Raistlin zitterte. Aber er konnte nicht sagen, ob Kälte, Furcht oder Aufregung schuld daran war.

Er sah Fistandantilus nicht, hörte ihn aber – das Rascheln seiner Roben, das sanfte Aufschlagen des Stabs auf dem Boden, das Wenden einer Seite im Zauberbuch. Auf der Platte liegend, unter dem Einfluß des Zauberers Hilflosigkeit vortäuschend, spannte sich Raistlin an.

Fistandantilus erschien in seinem Blickfeld und beugte sich über den jungen Magier; der Blutsteinanhänger schwang an der Kette um seinen Hals. »Ja«, sagte er, »du bist geschickt, geschickter und mächtiger als jeder andere junge Lehrling, den ich seit vielen, vielen Jahren getroffen habe.«

»Was hast du mit mir vor?« fragte Raistlin heiser. Der verzweifelte Ton in seiner Stimme war nicht ganz unecht. Er mußte wissen, wie der Anhänger funktionierte.

»Spielt das eine Rolle?« entgegnete Fistandantilus kühl und legte seine Hand auf die Brust des jungen Magiers.

»Mein Ziel und Bestreben war, bei dir zu lernen«, sagte Raistlin, biß die Zähne zusammen und versuchte, sich bei der abscheulichen Berührung nicht zu krümmen. »Ich will lernen.«

»Löblich.« Fistandantilus nickte, seine Augen starrten in die Dunkelheit, seine Gedanken waren ganz woanders. Wahrscheinlich ging er den Zauber noch einmal durch, dachte Raistlin. »Ich werde bald in den Genuß kommen, in einem Körper und in einem wissensdurstigen Geist zu wohnen, und dazu noch in einem, der von Natur aus in der Kunst geschickt ist. Meine letzte Lektion, Lehrling! Lerne sie gut. Du kennst die Schrecken des Älterwerdens nicht, junger Mann. Wie gut erinnere ich mich an mein erstes Leben, und wie gut erinnere ich mich an das entsetzliche Gefühl des Zorns und der Enttäuschung, als ich erkannte, daß ich – der mächtigste Zauberkundige, der jemals gelebt hat – dazu bestimmt war, in einem schwachen und erbärmlichen Körper gefangen zu sein, der vom Alter aufgezehrt wird! Mein Geist war so gesund! In der Tat, geistig war ich stärker als je zuvor in meinem ganzen Leben. Aber all diese Kraft, all dieses umfangreiche Wissen würde umsonst sein – zu Staub verwandelt! Von Würmern zerfressen!... Damals trug ich die roten Roben... Du schrickst zusammen. Bist du überrascht? Meine Entscheidung für die roten Roben war eine bewußte, kaltblütige, da sie für meine Bestrebungen und Ziele am vorteilhaftesten waren. In der Neutralität lernt man besser, ist in der Lage, an beiden Enden zu ziehen, ohne einem verpflichtet zu sein. Ich trug Gilean, dem Herrn der Neutralität, meine Bitte vor, auf dieser Ebene bleiben und mein Wissen erweitern zu dürfen. Aber dabei konnte mir der Gott der Schriften nicht helfen. Menschen waren seine Schöpfung, und aufgrund meiner ungeduldigen menschlichen Natur und des Wissens über die Kürze meines Lebens hatte ich meine Studien so schnell vorangetrieben. Mir wurde geraten, mich mit meinem Schicksal abzufinden.« Fistandantilus zuckte die Achseln. »Ich sehe in deinen Augen Verständnis, Lehrling. In gewisser Weise tut es mir leid, dich zu zerstören. Ich glaube, wir könnten zu einem seltenen Einvernehmen gelangen. Aber kurz und gut, ich ging in die Dunkelheit hinaus. Den roten Mond verfluchend, bat ich um die Erlaubnis, zum schwarzen aufzusehen. Die Königin der Finsternis hörte mein Gebet und gewährte meine Bitte. Ich zog also die schwarzen Roben an und verschrieb mich ihren Diensten, und als Gegenleistung wurde ich auf ihre Existenzebene gebracht. Ich habe die Zukunft gesehen, ich habe in der Vergangenheit gelebt. Sie gab mir diesen Anhänger, damit ich in der Lage bin, während meines Aufenthaltes in dieser Zeit einen neuen Körper zu wählen. Und wenn ich mich entscheide, die Grenzen der Zeit zu überschreiten und in die Zukunft einzutreten, ist ein Körper vorbereitet und wartet darauf, meine Seele aufzunehmen.«

Raistlin konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Seine Lippen kräuselten sich vor Haß. Es war sein Körper, von dem der Zauberer sprach!

Fistandantilus hob den Blutsteinanhänger und wollte mit dem Zauber beginnen.

Als Raistlin den Anhänger ansah, der im blassen Licht einer Kugel inmitten des Laboratoriums glänzte, schlug sein Herz schneller. Seine Hände ballten sich zusammen. Seine Stimme zitterte vor Aufregung, und er hoffte, daß man es als Entsetzen verstehen würde, als er mühsam flüsterte: »Sag mir, wie er funktioniert! Sag mir, was mit mir geschehen wird!«

Fistandantilus lächelte, seine Hand drehte sich langsam um den Blutstein. »Ich werde ihn auf deine Brust legen, über dein Herz. Und langsam wirst du spüren, wie die Lebenskraft aus deinem Körper schwindet. Der Schmerz ist, glaube ich, recht qualvoll. Aber er wird nicht lange anhalten, Lehrling, wenn du dich nicht sträubst. Gib einfach nach, dann wirst du schnell das Bewußtsein verlieren. Aus meinen bisherigen Beobachtungen kann ich nur sagen, daß das Sträuben die Schmerzen verlängert.«

»Müssen keine Worte gesprochen werden?« fragte Raistlin bebend.

»Natürlich«, erwiderte Fistandantilus kühl, sein Körper beugte sich dicht über Raistlin, seine Augen waren fast auf gleicher Ebene wie die des jungen Magiers. Sorgfältig legte er den Blutstein auf Raistlins Brust. »Du wirst sie hören... Es wird das letzte sein, was du überhaupt hören wirst...«

Raistlin bekam eine Gänsehaut bei der Berührung, und einen Augenblick wäre er am liebsten geflohen. Nein, sagte er sich kalt, ballte die Hände und grub seine Nägel in sein Fleisch, damit der Schmerz ihn von seiner Angst ablenke. Ich muß die Worte hören!

Er zwang sich, liegen zu bleiben, aber er konnte sich nicht enthalten, die Augen zu schließen, um den Anblick des bösartigen, verhutzelten Gesichtes auszulöschen, das so dicht an seinem war, daß er den fauligen Atem riechen konnte...

»Das ist gut«, sagte eine sanfte Stimme, »entspann dich...« Fistandantilus stimmte einen Gesang an. Sich auf den Zauber konzentrierend, schloß er die Augen und wiegte sich hin und her, während er den Blutsteinanhänger in Raistlins Fleisch drückte. Er bemerkte nicht, daß seine Worte von seinem Opfer wiederholt wurden. Als er schließlich erkannte, daß etwas nicht stimmte, hatte er den Zauberspruch beendet und sich erhoben, um auf die erste Infusion neuen Lebens zu warten, die seine uralten Knochen wärmen sollte.

Nichts geschah.

Beunruhigt schlug Fistandantilus die Augen auf. Er starrte verblüfft auf den schwarzgekleideten jungen Magier, der auf der kalten Steinplatte lag, und taumelte in einer plötzlichen Furcht zurück, die er nicht verbergen konnte.

»Ich sehe, du erkennst mich doch wieder«, sagte Raistlin und richtete sich auf. Eine Hand ruhte auf der Steinplatte, aber die andere war in einer der Geheimtaschen seiner Roben. »So viel zu dem Körper, der in der Zukunft auf dich wartet.«

Fistandantilus antwortete nicht. Sein Blick glitt zu Raistlins Tasche. Schnell gewann er jedoch die Beherrschung wieder. »Hat der große Par-Salian dich hierhergeschickt, kleiner Magier?« fragte er spöttisch. Aber sein Blick verweilte auf der Tasche.

Raistlin schüttelte den Kopf, während er von der Steinplatte glitt. Die eine Hand immer noch in seiner Tasche, bewegte er die andere, um die schwarze Kapuze zurückzuziehen, und erlaubte Fistandantilus so, sein wahres Gesicht zu sehen und nicht die Illusion, die er in den vergangenen Monaten aufrechterhalten hatte. »Ich bin aus eigenem Antrieb hier. Ich bin jetzt der Herr des Turmes.«

»Das ist unmöglich«, knurrte der Zauberer.

Raistlin lächelte. »Das hast du gedacht. Aber du hast einen Fehler begangen. Du hast mich unterschätzt. Du hast mich vor dem Dunkelelf während der Prüfung beschützt, und als Gegenleistung hast du mir einen Teil meiner Lebenskraft entrissen. Du hast mich zu einem Leben ständigen Schmerzes in einem zerstörten Körper gezwungen, mich zur Abhängigkeit von meinem Bruder verurteilt. Du hast mich die Anwendung der Kugel der Drachen gelehrt und mich am Leben gehalten, sonst wäre ich in der Großen Bibliothek von Palanthas gestorben. Im Krieg der Lanze hast du mir geholfen, die Königin der Finsternis zurück in die Hölle zu treiben, wo sie keine Bedrohung für die Welt mehr darstellte – und für dich. Als du dann in dieser Zeit genügend Kraft gewonnen hattest, war deine Absicht, in die Zukunft zurückzukehren und meinen Körper zu beanspruchen! Du wärst ich geworden.«

Raistlin sah, wie sich Fistandantilus’ Augen verengten. Aber der Zauberer sagte lediglich sanft: »Das ist alles richtig. Was ist jetzt deine Absicht? Mich umzubringen?«

»Nein«, erwiderte Raistlin sanft. »Ich beabsichtige, du zu werden!«

»Narr!« Fistandantilus lachte schrill auf. Er hob seine schrumschrumpelige Hand und hielt den Blutsteinanhänger hoch. »Die einzige Möglichkeit ist, diesen Stein bei mir anzuwenden. Und er ist durch kraftvolle Zauber gegen alle Formen der Magie geschützt, von denen du dir keine Vorstellung machen kannst, kleiner Magier...«

Seine Stimme erstarb zu einem Wispern in Angst und Entsetzen, als Raistlin die Hand aus seinen Roben zog. In seiner Hand lag der Blutsteinanhänger. »Geschützt gegen alle Formen der Magie«, wiederholte er, und sein Grinsen war das eines Totenschädels, »aber nicht geschützt vor Taschenspielertricks.«

Der Zauberer wurde leichenblaß. Seine Augen glitten fieberhaft zu der Kette um seinen Hals. Da jetzt die Illusion aufgedeckt war, erkannte er, daß er nichts in der Hand hielt.

Ein berstendes, krachendes Geräusch zerriß die Stille. Der Steinboden unter Raistlins Füßen hob sich, ließ den jungen Magier auf seine Knie fallen. Die Grundmauern des Laboratoriums zerbrachen. Über dem Chaos erhob sich Fistandantilus’ Stimme in dem kraftvollen Zauber »Monster herbeirufen«.

Raistlin, der den Zauber erkannte, reagierte darauf, indem er den Blutstein in seiner Hand umklammerte und einen Schildzauber um seinen Körper beschwor, um Zeit zu gewinnen. Er sah eine Gestalt durch die Grundmauern hervorplatzen; Form und Gesicht waren so entsetzlich, wie man sie nur in den schlimmsten Alpträumen sah.

»Ergreife ihn, pack ihn!« kreischte Fistandantilus und zeigte auf Raistlin. Das Monster drang über den zerbröckelnden Boden auf den jungen Magier zu und griff nach ihm.

Furcht überwältigte Raistlin, als die Kreatur aus dem Jenseits seine eigene schreckliche Magie gegen ihn anwendete. Der Schildzauber zerfiel unter dem Angriff. Das Monster würde seine Seele verschlingen und sich an seinem Fleisch weiden.

Beherrschung! Lange Stunden des Studiums, erprobte Stärke und strenge Selbstdiziplin legten die erforderlichen Worte des Zaubers in Raistlins Geist. Innerhalb kurzer Zeit war er bereit. Als der junge Magier die Worte des Bannes sang, fühlte er die Ekstase der Magie durch seinen Körper strömen und ihn von der Furcht erlösen.

Das Monster zögerte.

Fistandantilus befahl ihm zornentbrannt, Raistlin anzugreifen.

Raistlin befahl ihm Einhalt.

Das Monster funkelte beide an. Beide Magier hielten es in Schach, beobachteten einander aufmerksam, warteten, daß ein Auge blinzelte, eine Lippe zuckte, sich ein Finger krampfhaft rührte, was sich als fatal erweisen würde.

Keiner bewegte sich, und es sah auch nicht danach aus, daß sich einer bewegen würde. Raistlins Ausdauer war stärker, aber Fistandantilus’ Magie rührte aus uralten Quellen; er konnte unsichtbare Kräfte zu seiner Unterstützung aufrufen.

Schließlich war es das Monster, das nicht länger warten konnte. Gefangen zwischen zwei gleichwertigen, in Konflikt stehenden Kräften, in entgegengesetzte Richtungen hin- und hergezogen, konnte es sein magisches Sein nicht länger zusammenhalten. Mit einem strahlenden Blitz explodierte es.

Die Wucht schleuderte beide Magier nach hinten gegen die Wände. Ein entsetzlicher Geruch erfüllte die Kammer, und zerbrochenes Glas fiel wie Regen herab. Die Wände des Laboratoriums waren geschwärzt. Hier und dort brannten kleine Feuer in vielfarbenen Flammen, warfen ein gespenstisches Licht auf den Schauplatz der Zerstörung.

Raistlin rappelte sich schnell hoch und wischte Blut von einer Schnittwunde an seiner Stirn. Sein Feind war nicht weniger schnell, beide wußten, daß Schwäche den Tod bedeutete. Die zwei Magier standen sich im flackernden Licht gegenüber.

»So weit ist es also gekommen«, sagte Fistandantilus mit seiner zersprungenen, uralten Stimme. »Du hättest weitermachen, ein einfaches Leben führen können. Ich hätte dich vor den Schwächen, den Erniedrigungen des Alters bewahrt. Warum beschleunigst du deine eigene Zerstörung?«

»Du weißt es«, erwiderte Raistlin leise; sein Atem ging schwer, seine Kräfte waren fast verbraucht.

Fistandantilus nickte langsam, seine Augen blieben auf Raistlin gerichtet. »Wie ich schon sagte«, murmelte er leise, »es ist eine Schande, daß dies eintreten muß. Wir hätten vieles gemeinsam tun können, du und ich. Jetzt...«

»Einer wird leben, und der andere wird sterben«, unterbrach Raistlin. Er streckte seine Hand aus und legte den Blutsteinanhänger auf die kalte Platte. Dann hörte er die Zauberworte und hob seine Stimme, um den Zauber zu beantworten.

Die Schlacht währte lange. Die zwei Wächter des Turms, die ihren Verlauf beobachteten, den sie aus den Erinnerungen des schwarzgekleideten, in ihrer Gewalt befindlichen Magiers heraufbeschworen hatten, waren in Verwirrung verloren. Bis zu diesem Punkt hatten sie alles durch Raistlins Augen gesehen. Aber jetzt waren sich die zwei Zauberkundigen so nah, daß die Wächter des Turms die Schlacht durch die Augen beider Gegner sahen.

Blitze schossen aus Fingerspitzen, schwarzgekleidete Körper krümmten sich vor Schmerz, Schreie der Qual und des Zorns hallten wider, während Gestein und Holz zerbarsten.

Magische Feuerwände tauten Eiswände, heiße Winde bliesen mit der Kraft von Orkanen. Flammenstürme fegten durch die Korridore, Monster sprangen auf Befehl ihrer Meister aus der Hölle herbei, Elementargeister erschütterten die Grundfesten des Schlosses. Die große, dunkle Festung von Fistandantilus begann auseinanderzufallen, Steine stürzten von den Zinnen.

Und dann brach mit einem Aufschrei des Zornes und der Angst einer der schwarzgekleideten Magier zusammen, Blut floß aus seinem Mund.

Wer war gestürzt? Die Wächter versuchten das herauszufinden, aber es war unmöglich.

Der andere Magier ruhte sich kurz aus, dann schaffte er es, über den Boden zu kriechen. Seine zitternde Hand suchte und fand den Blutsteinanhänger. Mit letzter Kraft umklammerte der Magier den Anhänger und kroch zurück, um neben den immer noch lebenden Körper seines Opfers zu knien.

Der Magier auf dem Boden konnte nicht sprechen, aber seine Augen, die in die Augen seines Mörders starrten, drückten eine derart entsetzliche Verwünschung aus, daß die zwei Wächter des Turms die Eiseskälte ihrer qualvollen Existenz dagegen als warm empfanden.

Der schwarzgekleidete Magier mit dem Blutstein zögerte. Er war seinem Opfer so nah, daß er die unausgesprochene Botschaft in diesen Augen lesen konnte, und seine Seele schrak vor dem, was er sah, zurück. Aber dann zogen sich seine Lippen zusammen. Er schüttelte den Kopf und gab ein bitteres Lächeln des Triumphes von sich, dann drückte er den Anhänger bedachtsam auf die schwarzgekleidete Brust seines Opfers.

Der Körper auf dem Boden krümmte sich in qualvollem Schmerz, ein schriller Schrei sprudelte von seinen blutbefleckten Lippen. Dann plötzlich verstummte der Schrei. Die Haut des Magiers knitterte wie trockenes Pergamentpapier, seine Augen starrten blind in die Dunkelheit. Langsam vertrocknete er.

Mit einem Seufzer brach der andere Magier auf dem Körper seines Opfers zusammen, geschwächt, verwundet, dem Tod nahe. Aber in seiner Hand lag der Blutstein, und durch seine Adern floß frisches Blut, das ihm neues Leben schenkte und im Lauf der Zeit seine Gesundheit wieder vollständig herstellen würde. In seinem Geist befanden sich Erinnerungen aus Hunderten von Jahren der Macht, Zaubersprüche, Visionen von Wundern und entsetzlichen Dingen, die Generationen überspannten. Aber es gab auch Erinnerungen an einen Zwillingsbruder, Erinnerungen an einen zerstörten Körper und eine verlängerte schmerzvolle Existenz.

Als zwei Leben sich in ihm vermischten, als Hunderte von seltsamen, in Konflikt stehenden Erinnerungen durch ihn brausten, wurde dem Magier schwindelig. Sich neben dem Leichnam seines Rivalen krümmend, starrte er, der als Sieger hervorgegangen war, auf den Blutstein in seiner Hand. Dann flüsterte er voller Entsetzen: »Wer bin ich?«

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