TEIL VI. DER MEDICUS VON SARAGOSSA

ARAGON 10. FEBRUAR 1501

1. KAPITEL DER LEHRLING DES ARZTES

Wenn Jona nun mit Nuno zu einem Patienten ritt, wartete er nicht mehr nur untätig, bis der alte Medicus seine Arbeit getan hatte. Aufmerksam stand er neben dem Krankenlager, während Nuno mit leiser Stimme Untersuchung und Behandlung erläuterte. »Siehst du, wie feucht die Laken sind? Riechst du das Saure seines Atems?« Jona hörte genau zu, wie Nuno der Frau des Kranken erklärte, ihr Mann liege mit Fieber und Koliken darnieder, und für sieben Tage leichte, gewürzfreie Kost und Kräuteraufgüsse zum Trinken verschrieb.

Solange sie von Haus zu Haus ritten, trieben sie ihre Pferde zu forschem Trab an, doch auf dem gemächlichen Nachhauseritt hatte Jona für gewöhnlich einige Fragen, die ihm während der Arbeit des Tages gekommen waren. »Wie unterscheiden sich die Symptome einer Kolik?«

»Manchmal geht eine Kolik mit Fieber und Schwitzen einher, manchmal aber auch nicht. Koliken können durch heftige Verstopfung hervorgerufen werden, und dafür sind Feigen, die in Olivenöl und Honig zu einer dicken Paste verkocht werden, ein gutes Heilmittel. Aber auch Durchfall kann Koliken verursachen, und dagegen nimmt man Reis, der zuerst braun geröstet, dann weich gekocht und langsam gegessen wird.«

Auch Nuno selbst hatte immer einige Fragen. »Wie paßt das, was wir heute gesehen haben, zu dem, was Avicenna über die Erkennung von Krankheiten sagt?«

»Er hat geschrieben, daß Krankheit oft an dem zu erkennen ist, was der Körper produziert und ausscheidet, also Speichel, Stuhl, Schweiß und Urin.«

Jona arbeitete weiter an der Übersetzung von Avicennas Buch, und was er dort las, bekräftigte, was Nuno ihn lehrte:


Symptome erkennt man anhand der Untersuchung des Körpers. Es gibt sichtbare, wie etwa Gelbsucht und Ödeme; einige sind mit dem Ohr wahrzunehmen, wie etwa das Glucksen im Bauch bei Wassersucht; üble Ausdünstungen reizen den Geruchssinn, wie zum Beispiel bei eitrigen Geschwüren; wieder andere sind dem Geschmackssinn zugänglich, wie die Säure des Mundes; gewisse sind mittels Berührung bestimmbar: die Festigkeit eines...


Wenn er auf ein Wort stieß, das er nicht kannte, mußte er sich an Nuno wenden. »Hier steht: >die Festigkeit eines...<, das hebräische Wort lautet sartan. Ich weiß nicht, was sartan bedeutet.«

Nuno las den übersetzten Absatz und lächelte. »Das heißt bestimmt Krebs. Mittels Berührung ist die Festigkeit eines Krebses bestimmbar.«

So lehrreich die Übersetzung eines solchen Buches auch war, konnte Jona Avicenna nur sehr wenig Zeit widmen, denn Nuno Fierro war ein anspruchsvoller Lehrer, der ihm unverzüglich auch andere Bücher zum Lesen gab. Der Arzt besaß mehrere klassische Werke der Medizin in spanischer Sprache, und Jona mußte sich das Wissen aneignen, das Teodorico Borgognoni in seinen Schriften über die Chirurgie, was Isaak in seiner Arbeit über Fieber und was Galen über den Puls mitteilte.

»Du darfst sie nicht nur lesen«, schärfte ihm Nuno ein. »Du mußt sie dir einprägen. Du mußt sie dir so einprägen, daß du sie in Zukunft nicht mehr aufschlagen mußt. Ein Buch kann verbrennen oder verlorengehen, aber wenn du es dir wirklich eingeprägt hast, dann ist das Buch ein Teil von dir, und das Wissen wird bestehen, solange es dich gibt.«

Gelegenheit zu weiteren Sektionen in der Scheune bekamen sie nur äußerst selten. Immerhin konnten sie die Leiche einer Frau studieren, die sich selbst im Ebro ertränkt hatte. Als sie ihr den Bauch aufschnitten, zeigte Nuno Jona einen Fötus, der noch nicht voll ausgebildet und so winzig war wie ein Fisch, den jeder Angler in den Fluß zurückgeworfen hätte.

»Das Leben entsteht aus dem Samen, dem Ausfluß des Penis«, erklärte ihm Nuno. »Wir wissen nicht, was im Leib der Frau geschieht, das die Verwandlung bewerkstelligt. Einige glauben, daß die Samen, die mit der männlichen Flüssigkeit ausgestoßen werden, von der natürlichen Wärme der weiblichen Höhlung zum Wachstum angeregt werden. Andere meinen, Ursache sei die zusätzliche Reibungswärme, die durch das wiederholte Stoßen des männlichen Glieds entsteht.«

Als sie die Brust sezierten, wies Nuno ihn auf das schwammartige innere Gewebe hin, in dem sich bei einigen Frauen Tumoren bildeten. »Die Brustwarzen sind nicht nur dazu da, dem Säugling die Milch zu spenden, sie sind auch sehr empfindliche Stellen, die der geschlechtlichen Erregung dienen. Tatsächlich ist es so, daß eine Frau zum Verkehr bereit gemacht werden kann, wenn der Mann gewisse Stellen mit Händen oder Mund reizt, doch es ist ein Geheimnis, das sogar viele Anatomen nicht kennen, daß der eigentliche Quell weiblicher Erregung hier sitzt«, sagte er und zeigte Jona das winzige, knapp erbsengroße Organ, das am oberen Ende des Geschlechts in zwei Hautfalten eingebettet lag wie ein Juwel.

Das erinnerte Nuno an etwas, das er Jona unbedingt einschärfen wollte. »In der Stadt gibt es Frauen in großer Anzahl, so viele, daß jeder Mann seine Bedürfnisse unauffällig befriedigen kann.

Aber halte dich von den Huren fern, da viele von ihnen die Lues haben, eine Krankheit, vor der man sich wegen der schrecklichen Folgen hüten sollte.«

Als sie eine Woche später das Haus von Lucia Porta im Stadtzentrum besuchten, prägte sich Jona diese Lektion unauslöschlich ein. »Senora«, rief Nuno, »hier ist der Arzt, der nach Jose und Fernando sehen will«, und gleich darauf hörten sie eine Frau zur Tür schlurfen.

»Hola, Senora«, sagte Nuno. Sie starrte die beiden grußlos an, ließ sie aber ein. Ein kleiner Junge lehnte an der Wand und betrachtete sie teilnahmslos.

»Hola, Fernando«, sagte Nuno. »Fernando ist acht Jahre alt«, sagte er, und Jona empfand Mitleid mit dem Jungen, denn er sah aus wie vier oder fünf. Die Beine waren unterentwickelt und schrecklich säbelförmig verbogen. Er gähnte schlaff und zeigte dabei einen Mund voller mißgebildeter, spitzer und weit auseinanderstehender Zähne.

»Und das ist Jose.«

Auf einem Strohsack lag ein jüngerer Knabe, und Nuno und Jona beugten sich darüber.

»Hola, Jose«, flüsterte Nuno. Bei dem kleinen Jungen zeigten sich Bläschen und Entzündungen um Mund und Nase. »Fernando hat bereits dunkle Wucherungen an Hoden und Anus, wie kleine Weintrauben. Jose wird sie bald bekommen.«

»Habt Ihr noch genügend Salbe, Senora?«

»Nein. Alles weg.«

Nuno nickte. »Dann müßt Ihr zum Apotheker gehen. Ich werde ihm sagen, daß er Euch erwarten und frische Salbe geben soll.«

Jona war froh, als sie wieder in den hellen Sonnenschein hinaustraten und davongingen.

»Die Salbe wird ihnen nur wenig helfen. Es gibt nichts, das ihnen wirklich hilft«, sagte Nuno. »Die Entzündungen ver-schwinden wieder, aber die Zähne bleiben, wie sie sind. Und es kann noch viel schlimmer kommen. Mir ist aufgefallen, daß einige von meinen Patienten, die dem Wahnsinn verfallen sind - zwei Männer und eine Frau -, in ihrer Jugend die Lues hatten.« Er zuckte die Achseln. »Ich kann nicht beweisen, daß zwischen diesen beiden Krankheiten ein Zusammenhang besteht, aber es scheint mir von Bedeutung zu sein, daß diese Verbindung auftritt«, sagte er, und das war für lange Zeit das einzige, was er Jona über die Lues beibrachte.

Nuno meinte, sein Lehrling müsse regelmäßig die Kirche besuchen, obwohl Jona anfangs nichts davon wissen wollte. Es war ihm nicht schwergefallen, in Gibraltar, wo er unter ständiger Beobachtung stand, den Anschein christlicher Frömmigkeit aufrechtzuerhalten, hier aber, in Nunos Haus, wo er spürte, daß einem Ungläubigen keine Gefahr drohte, wehrte er sich gegen die heuchlerische Befolgung katholischer Riten.

Doch Nuno ließ sich nicht erweichen. »Am Ende deiner Lehrzeit mußt du vor den Vertretern der Stadt erscheinen und dich um die Zulassung als Medicus bewerben. Ich muß dich begleiten. Und wenn sie dich nicht als praktizierenden Christen kennen, erhältst du keine Zulassung.« Dann brachte er sein entscheidendes Argument vor. »Wenn man dich entlarvt und tötet, werden Reyna und ich mit dir untergehen.«

»Ich war nur ein paarmal, als es unausweichlich war, in christlichen Gottesdiensten. Damals konnte ich die nachmachen, die in meiner Nähe saßen, ich kniete mich hin, wenn sie knieten, und blieb sitzen, wenn sie es taten. Aber jeder Kirchenbesuch ist gefährlich für mich, da ich die Feinheiten kirchlichen Verhaltens nicht kenne.«

»Das ist leicht zu lernen«, erwiderte Nuno gelassen, und so kam es, daß Jona nicht nur in der Medizin unterwiesen wurde, sondern auch lernte, sich an den richtigen Stellen zu erheben oder hinzuknien, die lateinischen Gebete aufzusagen, als wären sie ihm so vertraut wie das Schema, und sogar, beim Betreten der Kirche das Knie zu beugen, als hätte er es sein Leben lang an jedem Sonn- und Feiertag getan.

In Saragossa kam der Frühling später als in Gibraltar, doch endlich wurden die Tage länger und wärmer. Die Bäume im Obstgarten, die Jona gestutzt und gedüngt hatte, blühten üppig, und er sah zu, wie die duftenden rosafarbenen Blüten abfielen und binnen weniger Wochen die ersten kleinen Früchte an ihre Stelle traten, Äpfel und Birnen, beide noch hart und grün.

An einem regnerischen Tag kam eine Witwe namens Loretta Cavaller zum Haus des Arztes und beklagte sich, daß seit zwei Jahren ihre monatliche Regel so gut wie versiegt sei und sie statt dessen an heftigen Krämpfen leide. Sie war eine zierliche Frau mit heller Haut und mausbraunen Haaren, die nur stockend von ihren Schwierigkeiten sprach, die engstehenden Augen immer zur Wand, nie auf Jona oder Nuno gerichtet. Sie sei bereits bei zwei Hebammen gewesen, berichtete sie, und habe Salben und Zaubermittel erhalten, aber nichts habe geholfen.

»Habt Ihr Stuhlgang?« fragte Nuno.

»Nicht immer.«

Gegen die Verstopfung verschrieb er ihr Leinsamen, den sie in kaltem Wasser eingeweicht einnehmen sollte. Vor dem Haus stand ihr Pferdekarren, doch Nuno trug ihr auf, den Wagen für eine Weile stehenzulassen und auf dem Pferd zu reiten, wann immer sie aus dem Haus müsse. Zur Förderung der monatlichen Blutungen solle sie Kirschbaumrinde, Portulak und Himbeerblätter in Wasser kochen, den Sud viermal täglich in kleinen Schlucken trinken und diese Behandlung noch dreißig Tage nach Wiedereinsetzen der regelmäßigen Blutungen fortsetzen.

»Woher soll ich denn die Zutaten nehmen?« fragte sie, und Nuno sagte ihr, daß sie sie beim Apotheker in Saragossa kaufen könne.

Doch am folgenden Nachmittag sammelte Jona Rindenstreifen von einem wilden Kirschbaum und pflückte Portulak und junge Blätter von einem Himbeerstrauch, und abends ging er mit den Kräutern und einer Flasche Wein zu dem kleinen Haus der Frau am Ebro. Ihre Füße waren nackt, als sie ihm öffnete, aber sie ließ ihn ein und dankte ihm für Rinde und Blätter. Sie gab ihm einen Becher des mitgebrachten Weins und goß sich auch selbst einen Becher ein, und dann saßen sie auf zwei wunderschön geschnitzten Stühlen vor dem Feuer. Als Jona die Möbelstücke lobte, erwiderte sie, daß ihr verstorbener Gatte Fernando Re-verte, der Schreinermeister gewesen sei, sie gefertigt habe.

»Wie lange ist Euer Gatte schon tot?« fragte Jona, und die Frau erwiderte, zwei Jahre und zwei Monate sei es her, seit Fernando vom Soor befallen und dahingerafft worden sei, und sie bete täglich für seine unsterbliche Seele.

Sie waren beide befangen in Gegenwart des anderen, und ihre Unterhaltung verlief schleppend, immer wieder von verlegenem Schweigen unterbrochen. Jona wußte sehr wohl, was er wollte, doch er war nicht bewandert in der Art von Gespräch, die dergleichen herbeiführte. Als er schließlich aufstand, erhob auch sie sich; Jona wußte, daß er gehen mußte, wenn er jetzt nichts unternahm, und so legte er die Arme um sie und bückte sich, um sie zu küssen.

Loretta Cavaller hielt sehr still in seiner Umarmung, löste sich dann, nahm die Öllampe und führte ihn durchs Zimmer. Er folgte ihren nackten Füßen eine steile, schmale Treppe hinauf. In ihrer Kammer erhaschte Jona nur einen kurzen Blick auf ihre Bettstatt, die Fernando noch kunstvoller als die Stühle geschnitzt und über und über mit eichenen Weintrauben, Feigen und Granatäpfeln verziert hatte, denn sie nahm die Lampe und stellte sie auf den Boden des Flurs. Dann war nur noch das Rascheln von Stoff auf Haut zu hören, als sie sich ihrer Kleider entledigten.

Sie stürzten sich aufeinander wie zwei ausgedörrte Reisende in einer trockenen Wüste, als würde jeder beim anderen frisches Süßwasser erwarten; doch die Vereinigung brachte Jona nur Erleichterung und nicht die üppige Freude, nach der er sich sehnte. Als sie danach in der dunklen, nach ihrer Fleischeslust duftenden Kammer lagen, erkundete er mit seinen Händen schlaffe Brüste, spitze Hüftknochen und knubbelige Knie.

Sie zog ihren Kittel wieder an, bevor sie die Lampe holte. Jona sollte sie nie nackt sehen. Obwohl er sie noch dreimal besuchte und bei ihr lag, fehlte ihren Vereinigungen die Leidenschaft, und es war fast so, als würde er mit ihrem geborgten Körper Selbstbefriedigung begehen. Sie hatten sich so gut wie nichts zu sagen; auf stockende Unterhaltung folgte schnelle Befriedigung in dem schönen Bett und darauf wenige und verlegene Worte, bevor er sich verabschiedete. Als er zum vierten Mal an ihre Tür klopfte, öffnete sie zwar, aber ließ ihn nicht ein, und über ihre Schulter sah er Roque Arellano, den Fleischer von Saragossa, mit bloßen Füßen am Tisch sitzen und den Wein trinken, den Jona ihr geschenkt hatte.

Einige Sonntage später war Jona in der Kirche, als vom Priester das Aufgebot von Loretta Cavaller und Roque Arellano verkündet wurde. Nach ihrer Hochzeit begann Loretta, im florierenden Fleischergeschäft ihres Gatten mitzuarbeiten. Nuno hielt zwar Hühner, aber weder Rinder noch Schafe, und Reyna bat Jona einige Male, zu Arellano zu gehen und Fleisch zu kaufen oder auch Fisch, den er gelegentlich im Angebot hatte. Loretta bewies eine geschickte Hand, und Jona bewunderte die flinke, sichere Art, mit der sie das Fleisch schnitt und zurichtete. Arella-nos Preise waren hoch, aber Loretta begrüßte ihn immer herzlich, und ihre engstehenden Augen strahlten, und oft schenkte sie ihm Markknochen, die Reyna benutzte, um eine Suppe zu kochen oder Geflügel zu schmoren.

Sowohl Nuno wie Reyna lebten bereits seit der Zeit auf der ha-cienda, als Juan de Gabriel Montesa noch Herr des Hauses war, und der jüdische Arzt hatte die Angewohnheit gehabt, jeden Freitag vor Sonnenuntergang, zur Vorbereitung auf den Sabbat, zu baden. Nuno und Reyna hatten den Brauch des wöchentlichen Bades übernommen, wobei Nuno am Montag und Reyna am Mittwoch in den Zuber stieg, so daß an einem Abend nur Wasser für ein Bad erhitzt werden mußte. Gebadet wurde in einer Kupferwanne, die vor dem Feuer stand, wo ein Kessel mit zusätzlichem Wasser simmerte.

Für Jona war es ein großer Luxus, jeden Freitag zu baden, wie Montesa es getan hatte, auch wenn er dazu seinen großen Körper in den engen Zuber zwängen mußte. Mittwoch abends ging er manchmal nach draußen, während Reyna badete, meistens jedoch blieb er in seiner Kammer, spielte auf seiner Gitarre oder arbeitete bei Kerzenlicht am Avicenna. Es fiel ihm schwer, sich auf das Auswendiglernen der Wirkstoffe, die wundschließende Wirkung hatten, und solcher, die wärmten, aber nicht reinigten, zu konzentrieren, wenn er sich gleichzeitig vorstellte, wie sie wohl aussah, die nackte Reyna unten in dem Zuber.

Wenn das Wasser kalt wurde, konnte er hören, wie Nuno zu ihr ging, den Kessel vom Feuer nahm und heißes Wasser in die Wanne nachgoß, so wie sie es montags für den Meister tat.

Freitags erwies Nuno auch seinem Lehrling diesen Dienst, doch man merkte ihm die Anstrengung deutlich an, wenn er mit langsamen Bewegungen den Kessel vom Haken hob, Jona einschärfte, die Beine aus dem Weg zu strecken, damit er ihn nicht verbrenne, und dann schwer atmend das heiße Wasser nachgoß.

»Er arbeitet zuviel. Er ist nicht mehr der Jüngste«, sagte Reyna eines Morgens zu Jona, als Nuno im Stall beschäftigt war.

»Ich versuche ja, ihm einiges abzunehmen«, erwiderte Jona schuldbewußt.

»Ich weiß. Ich habe gefragt, warum er soviel von seiner Kraft auf deine Ausbildung verwendet«, gestand sie ihm unumwunden. »Er sagte nur: >Weil er es wert ist.<« Sie zuckte die Achseln und seufzte.

Jona konnte ihr keinen Trost spenden. Nuno zwang sich, selber auszureiten, auch wenn die Fälle so gewöhnlich waren, daß der Lehrling alleine die Folgebesuche hätte übernehmen können. Es genügte Nuno nicht, daß Jona Rhazes gelesen hatte und so bereits wußte, daß der Körper überflüssige Stoffe und Gifte bei jedem Wasserlassen ausschied; viel wichtiger schien es ihm, Jona am Krankenbett auf die zitronengelbe Farbe im Urin eines Patienten hinzuweisen, der an einem langwierigen Fieber litt, auf die rötliche Färbung der Ausscheidung zu Beginn eines Malariaanfalls, der alle zweiundsiebzig Stunden wiederkehrte, oder auf den weiß schäumenden Urin, der manchmal mit eitergefüllten Furunkeln einherging. Er lehrte Jona, die unterschiedlichen Gerüche der verschiedenen Krankheit im Urin zu erkennen.

Meisterschaft bewies Nuno auch in Kunst und Wissenschaft der Arzneimittelherstellung. Er wußte, wie man Kräuter trocknete und zu Pulver zermahlte, und kannte sich aus mit der Herstellung von Salben und Tinkturen, aber er verzichtete darauf, seine eigenen Arzneien herzustellen. Statt dessen war er Stammkunde eines alten Franziskaners, Fray Luis Guerra Medina, einem geschickten Apotheker, der bereits für Juan de Gabriel Montesa Arzneien hergestellt hatte.

»Es kommt sehr schnell der Verdacht einer Vergiftung auf, vor allem, wenn ein Mitglied des Hofes stirbt«, erklärte Nuno Jona. »Lange Zeit verbot die Kirche allen Christen, Arzneien einzunehmen, die von Juden hergestellt wurden, da eine Vergiftung befürchtet wurde. Einige jüdische Ärzte stellten trotzdem ihre eigenen Heilmittel her, aber eine ganze Reihe von Ärzten, sowohl Alte Christen wie Juden, wurden von Patienten, die ihre Arztrechnungen nicht bezahlen wollten, des versuchten Giftmords beschuldigt. Juan de Gabriel Montesa hielt es für sicherer, sich eines Apo-thekers zu bedienen, der ein Mönch ist, und auch ich halte mich an Fray Guerra. Ich habe herausgefunden, daß er sehr wohl zwischen Wasserhanf und Röhrenkassie zu unterscheiden weiß.«

Jona erkannte, in welche Gefahr er sich begeben hatte, als er Loretta Cavaller die Heilkräuter brachte, und er begriff, daß er so etwas nicht wieder tun durfte. So lernte er von dem Älteren und hörte aufmerksam zu, wenn Nuno Fierro ihn auf das Leben als Arzt vorzubereiten versuchte, durch die Vermittlung sowohl medizinischen Wissens als auch der einfacheren Dinge, die ein erfolgreiches Praktizieren ausmachten.

Nach gut einem Jahr als ärztlicher Lehrling erkannte Jona eines Tages, daß in dieser Zeit elf ihrer Patienten gestorben waren.

Er hatte bereits genug Medizin gelernt, um zu erkennen, daß Nuno Fierro ein außergewöhnlich guter Arzt war, und zu begreifen, was für ein Glück er mit einem solchen Lehrer hatte, und doch belastete es ihn, daß er im Begriff stand, einen Beruf zu ergreifen, in dem der Ausübende so oft versagte.

Nuno Fierro beobachtete seinen Schüler, wie ein guter Pferdepfleger ein vielversprechendes Tier betrachtet. Er sah, daß Jona erbittert gegen die hereinbrechende Dunkelheit ankämpfte, wenn ein Patient im Sterben lag, und er bemerkte den Ernst, der sich mit jedem Todesfall im Wesen des jungen Mannes verfestigte.

Er wartete ab, bis eines Abends Lehrer und Schüler müde und mit Bechern voller Wein in der Hand vor dem Feuer saßen.

»Du hast den Mann getötet, der meinen Bruder ermordet hat. Hast du auch anderen das Leben genommen, Ramon?«

»Ja, das habe ich.«

Nuno trank einen Schluck Wein und beobachtete dann seinen Lehrling, während der von seinem Anteil an der Ermordung der beiden Reliquienhändler berichtete.

»Wenn du diese Zeiten noch einmal durchleben könntest, würdest du dich anders verhalten?« fragte Nuno.

»Nein, weil alle drei Männer mich getötet hätten. Aber der Gedanke, daß ich Menschen das Leben genommen habe, ist eine Last für mich.«

»Und willst du Arzt werden, um für all dies zu sühnen, indem du anderen das Leben rettest?«

»Das war nicht der Grund, warum ich dich gebeten habe, mich die Heilkunst zu lehren. Aber es kann sein, daß ich in letzter Zeit solche Gedanken hatte«, gab Jona zu.

»Dann mußt du dir über die Möglichkeiten und Grenzen der Heilkunst klarwerden. Ein Arzt kann die Leiden einer kleinen Anzahl von Menschen lindern. Wir bekämpfen ihre Krankheiten, wir verbinden ihre Wunden, wir richten ihre gebrochenen Knochen und entbinden sie von ihren Kindern. Aber jedem lebendigen Wesen ist ein Ende bestimmt. So kommt es, daß trotz unseres Wissens, unserer Fähigkeit und unserer Leidenschaft einige unserer Patienten sterben, und wir dürfen deswegen nicht übermäßig trauern oder uns schuldig fühlen, weil wir keine Götter sind, die ewiges Leben schenken können. Statt dessen müssen wir, wenn diese Menschen ihre Zeit wohl genutzt haben, dankbar sein, daß ihnen die Gnade des Lebens gewährt wurde.«

Jona nickte. »Ich verstehe.«

»Das hoffe ich«, sagte Nuno. »Denn wenn dir diese Einsicht fehlt, kannst du kein guter Arzt sein, weil du den Verstand verlierst.«

2. KAPITEL DIE PRÜFUNG DES RAMON CALLICO

Am Ende des zweiten Jahres von Jonas Lehrzeit schien sein Lebensweg klar und bestimmt, und doch lernte Jona mit unverminderter Begeisterung, was Nuno ihm beibrachte. Ihr Wirkungskreis erstreckte sich weit ins Umfeld von Saragossa, und sie hatten viel zu tun, sowohl im Behandlungszimmer in der Scheune wie auch mit Besuchen bei Patienten. Der Großteil von ihnen bestand aus den einfachen Leuten der Stadt und der umliegenden Bauernhöfe. Gelegentlich wurde Nuno auch zu einem Adligen gerufen, und er leistete diesen Rufen immer Folge, gestand aber Jona, daß adlige Patienten oft herrisch seien und den Arzt nur äußerst ungern für seine Arbeit bezahlten, und daß er deshalb nicht sonderlich erpicht auf sie sei. Doch am 20. November des Jahres 1504 erhielt er einen Ruf, den er nicht unbeachtet lassen konnte.

Am Ende dieses Sommers waren König Ferdinand und Königin Isabella von einer zehrenden Krankheit befallen worden. Der König, ein robuster Mann, dessen Widerstandskräfte von Jahren des Jagens und Kriegführens gestärkt waren, hatte sich schnell wieder erholt, doch seine Gemahlin war stetig schwächer geworden. Jetzt hatte sich Isabellas Zustand während eines Besuchs in der Stadt Medina del Campo bedrohlich verschlechtert, und Ferdinand hatte verzweifelte Rufe an ein halbes Dutzend Ärzte ausgesandt, darunter auch an Nuno Fierro, den Arzt von Saragossa.

»Aber dem kannst du unmöglich Folge leisten«, wandte Jona vorsichtig ein. »Nach Medina del Campo ist es ein Ritt von zehn Tagen. Acht Tage, wenn du dich umbringst.« Er meinte das wörtlich, denn er wußte, daß Nuno nicht mehr der Kräftigste war und eine solche Reise nicht unternehmen sollte.

Doch der Arzt blieb stur. »Sie ist meine Königin. Ein Herrscher, der Hilfe braucht, muß ebenso gewissenhaft behandelt werden wie jemand aus dem einfachen Volk.«

Als Jona und Reyna ihn mit vereinten Kräften bestürmten, daß er einen Helfer auf die Reise mitnehmen müsse, ließ Nuno sich schließlich erweichen und stellte Andres de Avila, einen Mann aus der Stadt, als Begleiter ein. Früh am nächsten Morgen brachen die beiden auf.

Sie kehrten zu früh zurück, und in schlechtem, feuchtem Wetter. Jona mußte Nuno vom Pferd helfen. Während Reyna dafür sorgte, daß der Arzt unverzüglich ein heißes Bad bekam, erzählte Avila Jona, was vorgefallen war.

Die Reise war so schlimm gewesen, wie Jona befürchtet hatte. Avila berichtete, daß sie viereinhalb Tage geritten seien. Bei einem Wirtshaus knapp außerhalb der Stadt Atienza angekommen, habe er feststellen müssen, daß Nuno zu erschöpft zum Weiterreiten war.

»Ich überredete ihn, Rast zu machen und etwas zu essen, um Kraft für den Weiterritt zu sammeln. Doch in dem Wirtshaus fanden wir Leute, die auf das Andenken der Königin Isabella tranken.«

Avila erzählte, Nuno habe mit heiserer Stimme gefragt, ob die Zecher sicher wußten, daß sie gestorben sei, und andere Reisende aus dem Westen versicherten ihm, daß die Leiche der Herrscherin bereits nach Granada zur Beisetzung in der königlichen Gruft geschafft werde.

Nuno und Avila hatten eine unruhige Nacht im verlausten

Schlafsaal des Gasthauses zugebracht, und am nächsten Morgen machten sie sich auf den Rückweg nach Saragossa. »Diesmal ritten wir gemächlicher«, sagte Avila, »aber diese Reise stand in jeder Hinsicht unter einem schlechten Stern, und den ganzen letzten Tag mußten wir durch kalten, stürmischen Regen reiten.« Jona war besorgt, als er sah, wie erschöpft und blaß Nuno auch nach dem Bad noch war. Er brachte den Arzt sofort ins Bett, und Reyna nötigte ihm warme Getränke und nahrhaftes Essen auf. Nach einer Woche Bettruhe war er etwas erholt, aber der vergebliche Ritt zu einer sterbenden Königin von Spanien hatte seine beschränkten Kräfte beinahe aufgezehrt.

Es kam die Zeit, da Nunos Hände so zitterten, daß er die chirurgischen Instrumente nicht mehr benutzen konnte, die sein Bruder für ihn gefertigt hatte. Jona benutzte sie an seiner Stelle, wobei der Arzt neben ihm stand und ihn anleitete, erklärte und Fragen stellte, die für den Lehrling herausfordernd und lehrreich waren.

Vor der Amputation eines kleinen Fingers ließ er Jona den eigenen Finger mit den Fingerspitzen der anderen Hand abtasten. »Spürst du die Lücke - den kleinen Spalt, wo Knochen auf Knochen trifft? Hier sollte das zerquetschte Stück abgetrennt werden, aber du mußt die Haut ein gutes Stück über die Stelle hinaus unbeschädigt lassen. Weißt du, warum?«

»Wir müssen daraus eine Lasche machen«, sagte Jona, und der Ältere nickte zufrieden.

Auch wenn Jona Nunos Schicksal tief bedauerte, war es für seine Ausbildung doch von Vorteil, denn im letzten Jahr seiner Lehrzeit operierte er viel häufiger, als er es sonst hätte tun können.

Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil Fierro seine ganze Kraft für seine Ausbildung aufwendete, aber als er mit Reyna darüber sprach, schüttelte sie nur den Kopf. »Ich glaube, daß der Wunsch, deine Ausbildung abzuschließen, ihn am Leben erhält«, erklärte sie.

Als das vierte Jahr von Jonas Ausbildung sich dem Ende zuneigte, zeigte sich ein triumphierendes Funkeln in Nuno Fierros Augen. Unverzüglich machte er sich daran, Jona vor die ärztlichen Prüfer des Bezirks zu bringen. Jedes Jahr, drei Tage vor Weihnachten, ernannten die städtischen Beamten zwei Ärzte des Bezirks zu Prüfern für die Bewerber um die ärztliche Zulassung. Nuno hatte auch schon als Prüfer gedient und kannte das Verfahren gut.

»Mir wäre lieber gewesen, wenn du mit deiner Prüfung bis nach dem Ausscheiden eines der gegenwärtigen Prüfer, Pedro de Calca, hättest warten können«, sagte er zu Jona. Viele Jahre lang war Calca dem Arzt von Saragossa mit Groll und Neid begegnet. Doch Nuno spürte, daß ihm keine Zeit mehr blieb. »Ich kann kein Jahr mehr warten«, sagte er zu Jona. »Und ich glaube, du bist bereit.« Am nächsten Tag ritt er zum Rathaus von Saragossa und meldete Jona für die Prüfung an.

Am Tag der Prüfung verließen Schüler und Lehrer früh das Haus und ritten langsam durch die morgendliche Wärme. Vor Aufregung sprachen sie nur wenig. Jetzt war es zu spät, um Jonas Verstand noch zu schärfen, dafür hatten sie vier lange Jahre Zeit gehabt.

Das Rathaus roch nach Staub und Jahrhunderten menschlicher Geschäftigkeit, obwohl an diesem Morgen nur Jona, Nuno und die Prüfer anwesend waren.

»Meine Herren, ich habe die Ehre, Euch Senor Ramon Callico zur Prüfung vorzustellen«, sagte Nuno ruhig.

Einer der Prüfer war Miguel de Montenegro, ein kleiner, ernster Mann mit silbernem Haar und Bart. Nuno kannte ihn seit vielen Jahren und hatte Jona versichert, daß Montenegro als Prüfer streng und gewissenhaft, aber auch gerecht sein würde.

Der zweite Prüfer, Calca, war ein lächelnder, lebhafter Mann mit roten Haaren und einem spitzen Bärtchen. Er trug einen mit vertrocknetem Blut, Eiter und Schleim verschmierten Kittel. Nuno hatte Jona den Kittel bereits voller Verachtung als »dieses Mannes prahlerische Anpreisung seines Gewerbes« beschrieben und ihn gewarnt, daß Calca Galen gelesen habe und sonst kaum etwas, so daß sich die meisten seiner Fragen auf Galen beziehen würden.

Die vier Männer setzten sich an den Tisch. Jona sagte sich, daß Nuno Fierro zweieinhalb Jahrzehnte zuvor ebenfalls in diesem Zimmer gesessen und seine Prüfung abgelegt hatte, und Jahrzehnte davor auch Juan de Gabriel Montesa, zu einer Zeit, als ein Medicus sich noch als Jude zu erkennen geben durfte.

Jedem Prüfer standen zwei Runden Fragen zu, und Montenegro machte, seinem Rang als Ältester entsprechend, den Anfang. »Wenn Ihr gestattet, Senor Callico. Ich möchte, daß Ihr uns die Vor- und Nachteile der Verschreibung von Theriak als Mittel gegen Fieber nennt.«

»Ich will mit den Nachteilen beginnen«, sagte Jona, »denn es gibt nur wenige, die schnell abgehandelt sind. Da diese Arznei aus bis zu siebzig Kräuteringredienzen besteht, ist sie schwierig in der Herstellung und teuer in der Beschaffung. Der Hauptvorteil besteht darin, daß sie ein bewährtes und wirksames Mittel gegen Fieber, Erkrankungen der Eingeweide und sogar gewisse Formen von Vergiftung ist...« Jona spürte, wie er sich entspannte, während er in flüssiger Rede Punkt um Punkt abhandelte und versuchte, in seiner Darlegung umfassend, aber nicht ausschweifend zu sein.

Montenegro schien sie zufriedenzustellen. »Meine zweite Frage betrifft den Unterschied zwischen Quartan- und Tertian-fieber.«

»Tertianfieber tritt jeden dritten Tag auf, wobei der Tag des Auftretens als erster Tag gerechnet wird. Quartanfieber tritt jeden vierten Tag auf. Diese Fieber kommen hauptsächlich in Gegenden vor, wo das Klima warm und feucht ist, und sind oft begleitet von Schüttelfrösten, Schweißausbrüchen und großer Schwäche.«

»Schnell und knapp beantwortet. Nun zur Heilung von Hämorrhoiden: Würdet Ihr sie mit dem Messer entfernen?«

»Nur wenn sonst nichts hilft. Oft hilft gegen Schmerzen und Unannehmlichkeiten eine gesunde Ernährung, die alles Scharfe, Salzige und sehr Süße vermeidet. Bei starken Blutungen können Styptika angewendet werden. Wenn die Hämorrhoiden stark anschwellen, aber nicht bluten, kann man sie mit einem Skalpell öffnen oder mit Hilfe von Egeln entleeren.«

Montenegro nickte und lehnte sich zurück, womit er andeutete, daß nun Pedro de Calca an der Reihe war.

Calca strich sich den Bart. »Erläutert uns bitte die Galensche Säftelehre«, sagte er und lehnte sich zurück.

Jona war darauf vorbereitet und holte kurz Atem. »Sie entstand als eine Reihe von Ideen, die von der hippokratischen Schule formuliert und von anderen frühen medizinischen Philosophen, vor allem Aristoteles, verfeinert wurde. Galen faßte diese Gedanken zu einer Theorie zusammen, die besagt, daß alle Dinge aus vier Elementen zusammengesetzt sind - Feuer, Erde, Luft und Wasser -, welche die vier Eigenschaften des Heißen, Kalten, Trockenen und Nassen erzeugen. Nimmt man Essen und Trinken in den Körper auf, werden sie von der natürlichen Hitze gekocht und in die vier Säfte Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle verwandelt. Die Luft entspricht dem Blut, das naß und heiß ist, Wasser dem Schleim, der naß und kalt ist, Feuer der gelben Galle, die trocken und heiß ist, und Erde der schwarzen Galle, die trocken und kalt ist.

Galen schrieb, daß ein Teil dieser Stoffe vom Blut als Nahrung zu den einzelnen Organen des Körpers getragen wird, während der Rest als Abfall ausgeschieden wird. Er sagte, daß das Mischungsverhältnis dieser Stoffe im Körper von großer Bedeutung ist. Eine ausgewogene Mischung bringt Wohlbefinden hervor. Zuviel oder zuwenig von einem Saft stört das Gleichgewicht, woraus Krankheit entsteht.«

Calca strich sich wieder ausführlich den Bart. »Berichtet uns von der innewohnenden Hitze und dem Pneuma.«

»Hippokrates und Aristoteles und anschließend Galen schrieben, daß die Hitze im Körper der Wesensquell des Lebens ist. Die innere Hitze wird vom Pneuma genährt, einem Spiritus, der im reinsten Blut der Leber entsteht und von den Adern durch den Körper getragen wird. Doch kann man das Pneuma nicht sehen. Es... «

»Woher wißt Ihr, daß man es nicht sehen kann?« unterbrach ihn Calca, und Jona spürte Nunos warnendes Knie an dem seinen.

Weil wir bis jetzt die Adern und Organe von vier Leichen seziert haben und Nuno mir nur Gewebe und Blut gezeigt und mich daraufhingewiesen hat, daß etwas, das man Pneuma nennen könnte, nicht zu sehen ist. Er war ein Narr; Calca würde merken, daß so etwas nur wissen konnte, wer eine Leiche geöffnet hatte oder Zeuge einer solchen Öffnung gewesen war. Einen Augenblick lang lähmte der Schreck seine Stimmbänder.

»Das... das habe ich gelesen.«

»Wo habt Ihr dies gelesen, Senor Callico? Denn mir scheint es, daß ich noch nie gehört habe, ob man das Pneuma sehen kann oder nicht.«

Jona zögerte. »Bei Avicenna oder Galen habe ich es nicht gelesen«, sagte er, als versuche er, sich zu erinnern. »Ich glaube, es war bei Teodorico Borgognoni.«

Calca sah ihn an.

»Aber natürlich«, sagte Miguel de Montenegro. »Das ist es. Ich erinnere mich auch daran, es bei Teodorico Borgognoni gelesen zu haben.« Auch Nuno nickte zustimmend.

Nun nickte Calca ebenfalls. »Borgognoni, natürlich.«

Bei seiner zweiten Fragerunde bat Montenegro Jona, die Be-handlung eines gebrochenen Knochens mit der Behandlung einer Verrenkung zu vergleichen. Sie hörten ihm zu, ohne ihn einmal zu unterbrechen, und dann bat Montenegro ihn, die Voraussetzungen für gute Gesundheit aufzuzählen.

»Reine Luft, unverdorbene Nahrung und Getränke, Schlaf, um die Körperkräfte zu erquicken, und Wachsein, um die Sinne anzuregen, mäßige körperliche Betätigung, um Rückstände und Unreinheiten zu beseitigen, Ausscheidung von Kot - und genügend Freude, um den Körper gedeihen zu lassen.«

»Erklärt uns, wie sich bei einer Epidemie die Krankheit verbreitet.«

»In verwesenden Leichen oder im brackigen Wasser von Sümpfen bilden sich giftige Miasmen. Warme, feuchte, mit Fäulnis verseuchte Luft gibt schädliche Dämpfe ab, die, wenn von Gesunden eingeatmet, deren Körper befallen und krank machen kann. Während einer Epidemie sollte man die Gesunden auffordern, so weit zu fliehen, daß der Wind die Miasmen nicht bis zu ihnen tragen kann.«

Nun folgten wieder einige schnelle Striche über den roten Bart und eine rasche Folge von Fragen über den Urin: »Was bedeutet es, wenn der Urin gelblich verfärbt ist?«

»Daß er ein gewisses Maß an Galle enthält.«

»Und wenn der Urin die Farbe von Feuer hat?«

»Dann enthält er eine große Menge Galle.«

»Dunkelrote Pisse?«

»Bei jemandem, der keinen Safran gegessen hat, bedeutet das Blut im Urin.«

»Wenn im Urin Bodensatz festzustellen ist?«

»Das deutet auf eine innere Schwäche des Patienten hin. Wenn der Bodensatz aussieht wie Kleie und einen üblen Geruch verströmt, deutet dies auf eine Vereiterung der Harngänge hin. Wenn der Bodensatz zersetztes Blut enthält, bedeutet dies einen entzündlichen Tumor.«

»Wenn Sand im Urin zu sehen ist?« fragte Calca.

»Das deutet auf Steine hin.«

Ein kurzes Schweigen entstand.

»Ich bin es zufrieden«, sagte Calca.

»Auch ich bin es zufrieden. Ein guter Kandidat, in dem sich sein Lehrer zeigt«, sagte Montenegro und erhob sich, um das dicke, ledergebundene städtische Register vom Regal zu holen. Er verzeichnete darin die Namen der Prüfer und des Bewerbers und auch die Auskunft, daß am 17. Oktober im Jahre des Herrn 1506 Senor Ramon Callico aus Saragossa geprüft und für würdig befunden und als Arzt zugelassen worden sei.

Auf dem Nachhauseweg saßen Schüler und Lehrer in ihren Sätteln und kicherten wie Kinder oder Betrunkene.

»Ich glaube, ich habe es bei Teodorico Borgognoni gelesen! Ich glaube, ich habe es bei Teodorico Borgognoni gelesen!« äffte Nuno Jona nach.

»Aber Senor Montenegro... Warum ist er mir beigesprungen?«

»Miguel de Montenegro und ich haben einige Male miteinander seziert, als wir noch jünger waren. Ich bin mir sicher, er hat sofort erkannt, warum du mit solcher Sicherheit über die Erscheinungsform von etwas reden konntest, das sich im Körperinneren befinden soll.«

»Ich bin ihm sehr dankbar, und ich hatte Glück.«

»Ja, du hattest Glück, aber du hast dich auch auf eine Art verhalten, die dir zur Ehre gereicht.«

»Ich hatte großes Glück mit meinem Lehrer, Meister«, sagte

er.

»Du solltest mich nun nicht mehr Meister nennen, denn jetzt sind wir Kollegen«, erwiderte Nuno, doch Jona schüttelte den Kopf.

»Es gibt zwei Männer, denen ich immer dankbar sein werde«, sagte er. »Beide heißen Fierro. Und jeder wird für mich immer ein Meister sein.«

3. KAPITEL EIN SCHWIERIGES TAGWERK

Nur wenige Wochen nach der Prüfung übergab Nuno Jona einen Teil seiner Patienten. Mit jedem Tag fühlte Jona sich mehr als Arzt und weniger als Lehrling. Ende Februar berichtete ihm Nuno, daß in Saragossa die jährliche Versammlung der Ärzte Aragons stattfinden sollte. »Es wäre gut für dich, wenn du zu der Versammlung gehst und deine Kollegen kennenlernst«, sagte er zu Jona, und beide legten ihre Verpflichtungen so, daß sie teilnehmen konnten.

Als sie in dem Gasthaus eintrafen, fanden sie dort sieben andere Ärzte, die Wein tranken und gebratene, mit Knoblauch gewürzte Ente aßen. Sowohl Pedro de Calca als auch Miguel de Montenegro begrüßten sie, und Nuno bereitete es ein offensichtliches Vergnügen, Jona den anderen fünf - Ärzte aus weiter entlegenen Teilen des Bezirks - vorzustellen. Nach dem Essen hielt Calca einen Vortrag über die Rolle des Pulses bei Krankheiten. Jona fand ihn schlecht vorbereitet, und es betrübte ihn, daß jemand, der ihn erst kürzlich geprüft hatte, einen so armseligen Vortrag halten konnte. Danach stampften die anderen mit den Füßen Beifall, und als Calca sich erkundigte, ob jemand eine Frage habe, wagte keiner, sich zu erheben.

Jona wunderte es, daß Calca nur drei Arten des Pulses genannt hatte: kräftig, schwach und unregelmäßig. Wage ich es, ihm zu widersprechen, fragte sich Jona, der sich nur zu deutlich bewußt war, daß er als Arzt noch ein Neuling war. Doch er konnte nicht widerstehen, und so hob er die Hand.

»Senor Callico?« sagte Calca mit offensichtlicher Belustigung.

»Ich möchte gern hinzufügen... darauf hinweisen... daß Avicenna von neun Arten des Pulses schreibt. Der erste, ein gleichmäßiger, kräftiger Schlag, der auf gesunde Ausgeglichenheit hindeutet. Ein stetiger, noch kraftvollerer Schlag, ein Zeichen für ein starkes Herz. Ein schwacher Puls, der das genaue Gegenteil ist und eine geringe Lebenskraft bedeutet. Und verschiedene Arten der Schwäche - ein langer und ein kurzer, ein schmaler und ein voller, ein oberflächlicher und ein tiefer.«

Entsetzt sah er, daß Calca ihn wütend anstarrte. Und neben sich spürte er, daß Nuno sich erhob.

»Wie gut ist es doch, daß wir bei unserer Versammlung sowohl einen neuen Medicus voller frischem Bücherwissen haben als auch einen hervorragenden und erprobten Heilkundler, der genau weiß, daß in der alltäglichen Behandlung unserer Patienten die Regeln unserer Kunst durch Erfahrung und hart erarbeitete Weisheit ein wenig vereinfacht werden.« Vereinzeltes Kichern kam von den Zuhörern und erneutes Stampfen, und Calca lächelte besänftigt. Jona spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg, und setzte sich wieder.

Zu Hause angekommen, machte Jona seiner Empörung Luft. »Wie konntest du nur so reden, wo du doch wußtest, daß Calca unrecht hatte und ich recht?«

»Weil Calca genau der Mann ist, der zur Inquisition geht und einen Rivalen der Ketzerei beschuldigt, wenn er sich beleidigt fühlt, und das hat jeder der anwesenden Ärzte begriffen«, sagte Nuno. »Ich hoffe, in Spanien wird es eines Tages wieder soweit sein, daß ein Arzt ungestraft eine abweichende Meinung äußern und in der Öffentlichkeit gefahrlos disputieren kann, aber heute ist es noch nicht soweit, und auch morgen nicht.«

Jona begriff sofort, daß er ein Narr gewesen war, und er bedankte und entschuldigte sich. Nuno nahm den Vorfall nicht auf die leichte Schulter. »Als du zu mir kamst, warst du dir der Gefahr bewußt, in der du wegen deiner Religion schwebst. Aber auch in unserem Beruf mußt du dich vor gewissen Dingen hüten, denn sie können dich ins Verderben stürzen.«

Plötzlich grinste er Jona an. »Außerdem waren deine Ausführungen nicht ganz genau. In den übersetzten Seiten des Kanon, die du mir gegeben hast, spricht Avicenna von zehn verschiedenen Arten des Pulses - und zählt dann nur neun auf! Darüber hinaus schrieb er, daß die feinen Unterschiede im Puls nur sehr kundigen Ärzten nützen. Du wirst feststellen, daß diese Beschreibung nur auf wenige der Männer zutrifft, mit denen wir heute das Brot gebrochen haben.«

Drei Wochen später hatte Nuno einen schweren Anfall. Er stieg eben die Treppe zu seinem Zimmer hoch, als ihn plötzlich ein heftiger, betäubender Schmerz in der Brust überfiel, der ihm den Atem nahm und ihn so schwächte, daß er sich setzen mußte, um nicht böse zu stürzen. Jona hatte Patienten besucht und sattelte gerade im Stall den grauen Araber ab, als Reyna bestürzt die Tür öffnete. »Es hat ihn schwer getroffen«, sagte sie, und Jona eilte mit ihr ins Haus. Gemeinsam schafften sie Nuno ins Bett, wo er, heftig schwitzend, Symptome hervorkeuchte, als würde er an einem Krankenlager stehen und Jona unterweisen.

»Der Schmerz ist... dumpf, nicht... scharf. Aber... heftig. Sehr heftig...«

Als Jona den Puls maß, war er so unregelmäßig, daß es ihn ängstigte. Er schien stoßweise zu schlagen, ohne erkennbaren Rhythmus. Jona flößte ihm tropfenweise Kampfer in Apfelschnaps gegen den Schmerz ein, der trotzdem noch fast vier Stunden anhielt. Am Abend ließ er nach und verschwand schließlich ganz, und danach lag Nuno völlig entkräftet in seinem Bett.

Aber er war ruhig und konnte sprechen. Er bat Reyna, ein Huhn zu schlachten und ihm eine Brühe zu kochen, und dann sank er in einen tiefen Schlaf. Jona beobachtete ihn eine Weile und wurde sich dabei überdeutlich der Beschränkungen des Arztseins bewußt, denn er hätte alles getan, um Nuno wieder gesund zu machen, hatte aber nicht die geringste Ahnung, was das sein könnte.

Nach drei Tagen war Nuno wieder in der Lage, mit Jonas Hilfe langsam nach unten zu gehen und tagsüber in seinem Sessel zu sitzen. Zehn Tage lang hatte Jona noch Hoffnung für ihn, doch am Ende der zweiten Woche war klar, daß es sehr ernst um ihn stand. Seine Brust war verstopft, und seine Beine schwollen an. Anfangs versuchte Jona, ihm nachts Kopf und Brust aufzurichten, indem er ihn im Bett auf mehrere Kissen stützte. Doch bald wurden die Schwellungen und die Atembeschwerden schlimmer, und Nuno wollte Tag und Nacht nur noch in seinem Sessel vor dem Feuer sitzen bleiben. Nachts lag Jona wenige Schritte von ihm entfernt auf dem Boden und horchte auf das gurgelnde Atmen des sitzenden Mannes.

In der dritten Woche waren die Anzeichen einer tödlichen Krankheit unverkennbar. Die Flüssigkeit, die in seinen Lungen gluckerte, schien alles Gewebe seines Körpers durchdrungen zu haben, was ihm den Anschein von Fettleibigkeit gab, mit Beinen wie Baumstämme und einem aufgequollenen, vornüberhängenden Bauch. Er hatte versucht, nicht zu sprechen, da ihm sogar das Atmen schwerfiel, doch nun gab er Jona in atemlosen Stößen seine Anweisungen.

Er wollte auf seinem eigenen Grund und Boden, auf der Hügelkuppe, beerdigt werden. Ein Grabstein sollte nicht aufgestellt werden.

Jona konnte nur nicken.

»Mein Letzter Wille. Schreib ihn nieder.«

Also holte Jona Papier, Tinte und Feder, und Nuno diktierte ihm schwer atmend seine Verfügungen.

Reyna Fadique hinterließ er die Ersparnisse, die er in seiner Laufbahn als Arzt angehäuft hatte.

Ramon Callico hinterließ er sein Land und die hacienda, seine medizinischen Bücher und Instrumente und die Ledertruhe samt Inhalt von Nunos verstorbenem Bruder Manuel Fierro.

Jona konnte sich dies nicht anhören, ohne zu widersprechen. »Das ist viel zu viel. Ich brauche keine...«

Aber Nuno schloß die Augen. »Keine Verwandten...«, sagte er und schloß das Thema mit einer schwachen Handbewegung ab. Dann griff er nach der Feder, und als er das Testament unterzeichnete, war seine Unterschrift nur ein Gekritzel.

»Noch... etwas. Du mußt... mich studieren.«

Jona wußte, was Nuno meinte, glaubte aber nicht, es tun zu können. Es war ihm nicht schwergefallen, ins Fleisch von Fremden zu schneiden, während sein Meister ihn in die Geheimnisse der Anatomie einführte. Aber hier ging es um Nuno.

Nunos Augen funkelten. »Willst du... so sein... wie Calca... oder wie ich?«

Was er wirklich wollte, war, diesem Mann das Sterben abzunehmen.

»Wie du. Ich liebe dich, und ich danke dir. Ich verspreche es.«

Nuno starb, in seinem Sessel sitzend, irgendwann zwischen der regnerischen Dunkelheit des 17. und der grauen Morgendämmerung des 18. Januar 1507.

Jona saß auf seinem Lager und sah ihn lange an. Dann stand er auf, küßte seinem Meister die noch warme Stirn und schloß ihm die Augen.

Trotz seiner Größe und seiner Kraft wankte er unter dem Gewicht, als er die Leiche in die Scheune trug, wo er den letzten Wunsch des toten Arztes erfüllte, als könnte er seine Stimme noch hören.

Zuerst nahm er sich Papier und Feder und schrieb auf, was er vor dem Eintritt des Todes beobachtet hatte. Er schrieb von Husten, der blutfleckigen Auswurf hervorgebracht hatte. Von Haut, die purpurn gefärbt war. Von vergrößerten und pulsierenden Halsvenen, von heftigen Schweißausbrüchen und einem Herz, das so schnell und unregelmäßig schlug, wie eine Maus auf der Flucht rannte. Von schneller, rasselnder und mühsamer Atmung und von weichem aufgedunsenem Fleisch.

Danach nahm er eins der Skalpelle zur Hand, die Manuel Fierro geschmiedet hatte, und betrachtete noch ein letztes Mal das Gesicht des auf dem Tisch liegenden Nuno.

Als er die Brust öffnete, fiel ihm sofort auf, daß das Herz anders aussah als die Herzen, die er mit Nuno untersucht hatte. An der Oberfläche war eine geschwärzte Stelle zu erkennen, als wäre das Gewebe verbrannt. Als er es aufschnitt, sahen die vier Kammern irgendwie falsch aus. Auf der linken Seite war ein Teil einer Kammer geschwärzt und zerfressen, und diese Beschädigung setzte sich fort bis zur Außenseite. Um das Herz genauer zu untersuchen, mußte er das Blut mit weichen Tüchern aufsaugen und wegwischen. Seiner Meinung nach hatte es nicht richtig pumpen können, da sich das Blut in beiden linken Kammern und in Teilen der angrenzenden Adern gestaut hatte. Aus Avicennas Kanon wußte Jona, daß das Blut zur Lebenserhaltung durch den gesamten Körper gepumpt werden mußte, wo es durch große Arterien und ein Geflecht von Adern strömte, die dünner und immer dünner wurden, bis sie schließlich in haarfeinen Gefäßen endeten, die man Kapillaren nannte. Nunos kaputtes Herz hatte dieses Blutverteilungssystem zerstört und ihn das Leben gekostet.

Als er in das geschwollene Gewebe des Bauchs schnitt, fand er es feucht, ebenso wie die Lunge. Nuno war in seinen eigenen Säften ertrunken. Aber woher kam diese ganze Feuchtigkeit?

Jona hatte nicht die geringste Ahnung.

Er hielt sich genau an den Ablauf, den er gelernt hatte, wog die

Organe und zeichnete die Ergebnisse auf, bevor er sie wieder in die Körperhöhle zurücklegte und Nuno zunähte. Dann wusch er sich mit Kernseife und Wasser aus dem Eimer, der immer neben dem Tisch stand, so wie Nuno es ihm beigebracht hatte, und schrieb seine Beobachtungen auf. Erst als dies alles erledigt war, gestattete er sich, ins Haus zurückzukehren.

Reyna kochte seelenruhig Grütze, doch sie wußte, daß Nuno tot war, seit sie den leeren Sessel gesehen hatte.

»Wo ist er?«

»In der Scheune.«

»Soll ich zu ihm gehen?«

»Nein«, antwortete Jona, und sie atmete scharf ein und bekreuzigte sich, sagte aber nichts. Nuno hatte Jona erzählt, daß Reyna nach fast drei Jahrzehnten im Dienst von Ärzten auf dieser hacienda sehr genau wußte, was hier vor sich ging, und man ihr vollkommen vertrauen konnte. Aber Jona kannte sie noch nicht sehr lange und befürchtete, daß sie ihn verraten könnte.

»Ich habe hier Grütze für dich.«

»Nein. Ich habe keinen Hunger.«

»Du hast heute noch viel zu tun«, erwiderte sie ruhig und füllte zwei Schüsseln. Dann setzten sie sich an den Tisch und aßen schweigend, und als er fertig war, fragte er sie, ob es noch jemand gebe, den Nuno bei seiner Beerdigung hätte dabeihaben wollen, aber sie schüttelte den Kopf.

»Es gibt nur uns«, erwiderte sie, und er ging nach draußen und machte sich an die Arbeit.

In einem der Verschläge für das Vieh standen gesägte Bretter, die zwar schon recht alt, aber noch brauchbar waren, und Jona maß Nuno mit einem Stück Schnur ab und sägte dann die Bretter zurecht. Er brauchte fast den ganzen Vormittag, um den Sarg zu zimmern. Auch mußte er Reyna fragen, ob es irgendwo Nägel gab, und sie brachte sie ihm.

Danach nahm er Hacke und Spaten, ging auf die Hügelkuppe und grub ein Loch. Es war bereits Winter in Saragossa, aber der Boden war noch nicht gefroren, und dank Jonas stetiger Arbeit nahm das Grab bald Gestalt an. Es war viele Jahre her, seit er als peon gearbeitet hatte, und er wußte, daß sein Körper ihn am nächsten Tag an die Plackerei erinnern würde. Er arbeitete langsam und sorgfältig, machte die Seitenwände gerade und glatt und das Grab so tief, daß es ihn Mühe kostete, wieder herauszuklet-tern. Erde und kleine Steine rieselten herab, als er sich hochstemmte.

In der Scheune wickelte er die blutigen Lumpen in ein sauberes Tuch und stopfte das Bündel neben Nuno in den Sarg. Es war der sicherste Weg, sie loszuwerden, und als Jona den Deckel auf die Kiste nagelte, wußte er, daß es genau das war, was Nuno ihm befohlen hätte. Auch ohne die Lumpen würde es noch schwierig genug werden, alles so aufzuräumen, daß von der Autopsie keine Spur blieb.

Er brauchte den ganzen Tag für diese Arbeiten. Es dämmerte bereits, als er Nunos Braunen und seinen grauen Araber vor den Karren spannte. Reyna mußte helfen, die schwere Last aus der Scheune zu tragen.

Es war ein hartes Stück Arbeit für die beiden, den Sarg in das Loch zu senken. Er legte zwei Seile über das Grab und verknotete die Enden zu Schlaufen, die er über vier kräftige, in die Erde gerammte Pflöcke steckte. Als sie den Sarg über das Grab schoben, hielten die Seile, aber sie mußten die Schlaufen von den Pflöcken ziehen und dann beide Seile gleichzeitig straff halten, so daß sie den Sarg langsam und Stück für Stück in das Grab senken konnten. Reyna war stark und von schwerer Arbeit abgehärtet, aber als sie die Schlaufe vom zweiten Pflock hob, verlor sie kurz die Gewalt über das erste Seil, so daß eine Ecke des Sargs absackte und sich in die Wand des Lochs grub.

»Zieh fest an dem Seil«, sagte er, und seine Stimme klang viel ruhiger, als er sich fühlte. Aber sie hatte bereits damit angefangen, bevor er es sagte. Der Sarg war noch immer nicht ganz waagrecht, aber die Neigung war nicht mehr schlimm.

»Tritt einen Schritt vor«, sagte er, und sie taten es beide gleichzeitig. Auf diese Art rückten sie Schritt um Schritt vor und senkten den Sarg ab, bis er auf dem Boden des Grabs ruhte.

Eins der Seile konnte Jona herausziehen, aber das zweite hing unter dem Sarg fest. Vielleicht hatte sich die Schlaufe an einer Wurzel verfangen, und nachdem er noch ein paarmal vergeblich daran gezerrt hatte, warf er sein Seilende in das Grab.

Reyna betete ein Vaterunser und ein Ave Maria, und dabei weinte sie leise, als schäme sie sich ihrer Trauer.

»Fahr den Karren in die Scheune zurück«, sagte er sanft. »Dann geh ins Haus. Ich mache das hier fertig.«

Reyna war eine Frau vom Land, die mit Pferden umgehen konnte, aber er wartete, bis der Karren halbwegs den Hügel hinuntergefahren war, bevor er zum Spaten griff. Die erste Ladung Erde nahm er mit dem Spatenrücken auf, ein jüdischer Brauch, der symbolisierte, daß es schwer war, jemanden zu begraben, den man so sehr vermissen würde. Dann drehte er den Spaten um und stieß ihn ächzend tief in den Erdhaufen. Anfangs prasselte die Erde laut und hohl auf den Sarg, doch als dann Erde auf Erde fiel, wurde das Geräusch leiser.

Das Loch war erst halb gefüllt, als die Nacht hereinbrach, doch am Himmel stand ein voller, weißer Mond, so daß er noch genug sehen konnte, um stetig und mit nur wenigen Pausen weiterarbeiten zu können.

Er war fast fertig, als Reyna wieder auf den Hügel kam. Ein Stückchen vor der Kuppe blieb sie stehen. »Wie lange brauchst du noch?« rief sie.

»Nicht mehr lange«, sagte er, und sie drehte sich wortlos um und kehrte ins Haus zurück.

Als er die Erde auf das Grab gehäuft hatte, so gut er es eben konnte, legte er die Hände auf den bloßen Kopf und sagte das

Kaddisch für den Toten, und dann trug er Hacke und Spaten in die Scheune zurück. Im Haus sah er, daß Reyna bereits in ihre Kammer gegangen war. Sie hatte die Kupferwanne vor den Kamin gestellt. Das Wasser im Zuber war heiß, und über dem Feuer hingen noch zwei Kessel. Auf dem Tisch standen Wein, Brot, Käse und Oliven.

Er zog sich vor dem knisternden Feuer aus und warf seine feuchten und schmutzigen Kleider auf einen Haufen. Dann zwängte er sich mit einem Stück von Reynas derber brauner Seife in der Hand in den Zuber und dachte an Nuno - an seine Weisheit, seine Aufgeschlossenheit und Duldsamkeit, an die Liebe für die Menschen, die er behandelte, und seine Hingabe an die Heilkunde. An die Freundlichkeit, die er einem abgerissenen jungen Mann erwiesen hatte, der so unvermittelt bei ihm aufgetaucht war. An die glückliche Wendung, die Nuno Fierro in Jona Tole-danos Leben bedeutet hatte. Lange, lange Gedanken... bis er merkte, daß das Wasser kalt wurde, und er anfing, sich zu schrubben.

4. KAPITEL DER EINSAME MEDICUS

Am nächsten Morgen ging er den Hügel hoch, um bei Tageslicht letzte Hand an das Grab zu legen. Ganz in der Nähe wuchs ein Eichenschößling, der ihn daran erinnerte, daß er auf der Ruhestätte seines Vaters noch immer keinen Baum gepflanzt hatte, und so grub er ihn behutsam aus und pflanzte ihn in die weiche Erde von Nunos Grab. Es war ein sehr kleines, blattloses Bäumchen, aber in wärmerem Wetter würde es wachsen und gedeihen.

»Du mußt den Priestern Bescheid sagen«, sagte Reyna, »und der Kirche Geld geben, damit sie für seine unsterbliche Seele eine Messe lesen.«

»Zuerst will ich ihn in seinem Haus sieben Tage lang betrauern«, erwiderte Jona. »Erst dann gehen wir zu den Priestern und in die Kirche, um für ihn die Messe zu feiern.«

Reynas Frömmigkeit war oberflächlich und regte sich nur wegen der Feierlichkeit des Todes, und so zuckte sie lediglich die Achseln und sagte ihm, er solle tun, was er für richtig halte.

Er war sich bewußt, daß er den Tod seines Vaters nie den Riten entsprechend gewürdigt hatte. Nuno war wie ein Vater zu ihm gewesen, und er wollte ihm die letzte Ehre erweisen, auf die Art, die er von früher kannte. Er zerriß eins seiner Kleidungsstücke, ging schuhlos durchs Haus, verhüllte den einen kleinen Spiegel mit einem Tuch und betete jeden Morgen und jeden

Abend das Kaddisch in Nunos Andenken, so wie ein Sohn es für seinen Vater tun würde.

Dreimal in dieser Woche kamen Leute zum Haus, die einen Arzt brauchten; einmal führte Jona einen Mann in das Behandlungszimmer in der Scheune und schiente ein verstauchtes Handgelenk, und zweimal ritt er aus, um Kranke in ihren Häusern zu behandeln. Außerdem besuchte er vier Patienten, von denen er wußte, daß sie seine Zuwendung brauchten, aber wenn er zurückkehrte, hielt er weiter Trauer.

Nach der Woche der Schiwa und nachdem die Seelenmesse für Nuno gelesen worden war, sah sich Jona plötzlich in einem Leben, das ihm fremd vorkam, ein Leben, in dem er sich erst zurechtfinden mußte.

Reyna wartete eine Woche, bevor sie ihn fragte, warum er noch immer auf dem Strohlager in der kleinen Vorratskammer schlafe, da er doch nun der Herr des Hauses sei. Nunos Kammer war das beste Zimmer, mit zwei Fenstern, eins nach Süden und eins nach Osten. Das Bett aus Kirschholz war groß und geräumig.

Gemeinsam gingen sie die persönliche Habe des toten Meisters durch. Nunos Kleidung war von guter Qualität, aber er war kleiner und untersetzter als Jona gewesen. Reyna wußte geschickt mit der Nadel umzugehen und versprach, einige Stücke so zu ändern, daß sie Jona paßten. »Es wird dir sicher gefallen, ab und zu etwas von ihm zu tragen und so an ihn erinnert zu werden.« Was Jona nicht brauchen konnte, nahm sie an sich, um es in ihr Dorf zu bringen, wo man jedes Kleidungsstück dankbar annehmen werde.

Als Jona in das Zimmer einzog, schlief er zum ersten Mal seit seiner Flucht aus Toledo wieder in einem Bett. Doch es dauerte noch ganze vierzehn Tage, bis er das Gefühl hatte, daß dies alles nun wirklich ihm gehörte, das Haus und das Land waren ein Teil von ihm geworden, und er schätzte das Anwesen so hoch, als wäre er dort geboren.

Eine ganze Reihe der Patienten, die er behandelte, sprachen traurig von Nunos Dahinscheiden. »Er war immer ein guter und gewissenhafter Arzt, und wir hatten ihn ins Herz geschlossen«, sagte Pascual Cabrera. Aber für Senor Cabrera und seine Frau -wie für die meisten anderen Patienten - war Ramon Callico in den Jahren seiner Ausbildung ein vertrauter Anblick geworden, und sie schienen mit ihm sehr zufrieden zu sein, und er gewöhnte sich an das ärztliche Alleinsein schneller, als er sich an das neue Bett gewöhnt hatte. Auch fühlte er sich als Medicus nicht wirklich allein. Wenn er einen schwierigen Patienten behandelte, hörte er in seinem Kopf eine ganze Reihe von Stimmen, Avicennas und Galens und Borgognonis. Am lautesten von allen aber war Nunos Stimme, die ihm zu sagen schien: »Denk an das, was die Großen schrieben, und an die Dinge, die ich dir beigebracht habe. Und dann betrachte den Patienten mit deinen eigenen Augen, und rieche den Patienten mit deiner Nase, und taste ihn mit deinen Händen ab, und dann benutze deinen Verstand, um zu entscheiden, was zu tun ist.«

Er und Reyna gewöhnten sich ein stilles, wenn auch etwas verlegenes Miteinander an. Wenn Jona zu Hause war, las er ein Buch aus der kleinen medizinischen Bibliothek oder arbeitete an seiner Übersetzung, und sie achtete darauf, ihn nicht zu stören, während sie ihre häuslichen Pflichten erledigte.

Eines Abends, einige Monate nach Nunos Tod, Jona hatte es sich eben in seinem Sessel vor dem Feuer bequem gemacht, kam Reyna zu ihm und goß ihm Wein nach. »Gibt es irgendwas Besonderes, das du morgen zu Abend essen willst?« fragte sie.

Jona spürte die Wärme des Weins und die Wärme des Feuers. Er sah sie an, wie sie so dastand, eine gute Dienerin, als hätte sie ihn nicht einst als heimatlosen Streuner gesehen und als wäre er schon immer der Herr des Hauses gewesen.

»Es würde mich freuen, wenn du mir morgen geschmortes Geflügel machst.«

Sie sahen einander an. Es war ihm unmöglich zu erraten, was sie dachte. Aber sie senkte den Kopf, und in dieser Nacht kam sie zum ersten Mal in seine Kammer.

Sie war viel älter als er, vielleicht sogar um zwanzig Jahre. Grau durchzog bereits ihre schwarzen Haare, aber ihr Körper war noch straff von lebenslanger schwerer Arbeit, die sie jedoch nicht vor der Zeit zur alten Frau gemacht hatte, und sie war mehr als bereit, sein Bett mit ihm zu teilen. Hin und wieder ließ sie eine Bemerkung fallen, die Jona Grund für die Vermutung gab, daß sie als junge Frau auch mit Nunos Meister, Gabriel Montesa, das Bett geteilt hatte. Doch war es nicht so, daß sie quasi zum Anwesen gehörte. Er erkannte, daß sie sich einfach lebendiger fühlte, wenn sie den Körper eines Mannes spürte, und wie es der Zufall wollte, hatte sie immer alleine mit drei Männern gearbeitet, die sie im Laufe der Zeit alle liebgewonnen hatte.

Doch am Morgen danach war sie ihm immer eine so anständige und ehrerbietige Haushälterin, wie sie es für Nuno gewesen war.

So kam es, daß er, dank der Arbeit, die ihm sehr am Herzen lag, dank ihres guten Essens und der Entspannung, die sie einander in seinem hölzernen Bett schenkten, schon bald sehr zufrieden mit seinem Leben war.

Wenn er über sein Land spazierte, ärgerte es ihn, daß der Boden nicht ordentlich genutzt wurde, aber er hatte nicht vor, ihn bearbeiten zu lassen, und das hatte den gleichen Grund, warum auch seine früheren ärztlichen Besitzer es nicht getan hatten: Es ging einfach nicht, daß peones auf dem Anwesen arbeiteten und so möglicherweise mitbekamen, daß die Scheune neben dem Haus nicht nur ein Behandlungszimmer und einen Operationstisch enthielt, sondern hin und wieder auch für anatomische Studien benutzt wurde, die viele als Hexerei bezeichnen würden.

Als der Frühling kam, bestellte er deshalb nur so viel des

Bodens, wie er mit eigenen Händen und in der verfügbaren Zeit bearbeiten konnte. Er stellte drei Bienenstöcke auf, um Honig zu haben, und stutzte ein paar Oliven- und Obstbäume, die er mit Pferdemist düngte. Später im Jahr schenkte ihm der Garten die erste gute Ernte für Küche und Tisch. Es war ein Leben, das Jona gestattete, den Wechsel der Jahreszeiten zu genießen.

Er versagte sich alle gefährlichen äußerlichen Zeichen jüdischen Lebens, aber am Sabbat zündete er in seiner Kammer immer zwei Kerzen an und flüsterte das Gebet: »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns geheiligt durch seine Gebote und uns geboten hat, Lichter anzuzünden für den Sabbat.«

Die Medizin füllte sein Leben reich aus, fast so, als wäre sie eine Religion, die er öffentlich ausüben konnte, aber dennoch bemühte er sich, sein inneres Judentum lebendig zu erhalten. Das Übersetzen hatte ihm viel von seiner früheren Leichtigkeit im Umgang mit dem Hebräischen zurückgegeben, aber er hatte die Fähigkeit verloren, in der Tradition seines Vaters zu beten. Er erinnerte sich nur noch an Bruchstücke der Gebete. Sogar die Grundzüge der Sabbatfeier waren ihm entglitten. So wußte er zwar noch, daß der Teil der Feier, der im Stehen gebetet wurde -das Amida -, aus achtzehn Sprüchen bestand. Doch sosehr er sich, das Herz voller Kummer und Enttäuschung, auch bemühte, es fielen ihm nur siebzehn ein. Außerdem bereitete ihm einer der Sprüche, an die er sich erinnern konnte, schreckliches Kopfzerbrechen. Der zwölfte Spruch war ein Bittgebet für die Vernichtung der Ketzer.

Als er im Knabenalter die Gebete im Haus seines Vaters auswendig gelernt hatte, hatte er sich keine allzu großen Gedanken um deren Bedeutung gemacht. Aber jetzt, da er im dunklen Schatten einer Inquisition lebte, deren Ziel die Vernichtung aller Ketzer war, stach dieses Gebet wie ein Pfeil in sein Herz.

Bedeutete das, daß die Juden, falls sie anstelle der Christen an der Macht wären, ebenfalls Gott benutzen würden, um Ungläubige zu vernichten? War es ein unumstößliches Gesetz, daß absolute religiöse Macht auch absolute Grausamkeit mit sich brachte?

Ha-Rakhaman, Unser Vater im Himmel, du einziger Gott, warum läßt du es zu, daß in deinem Namen so bedenkenlos gemetzelt wird?

Jona war überzeugt, daß die Alten, die diese achtzehn Sprüche zusammengestellt hatten, gottesfürchtige Männer und Gelehrte gewesen waren. Aber der Verfasser des zwölften Spruches hätte ihn wohl nicht so geschrieben, wenn er der letzte Jude in Spanien gewesen wäre.

Eines Tages entdeckte Jona auf der plaza mayor, in einem Haufen wertlosen Krams, hinter dem ein einäugiger Bettler saß, einen Gegenstand, bei dem ihm der Atem stockte. Es war ein kleiner Kelch. Ein Kiddusch-Kelch zur Segnung des Weins, wie ihn sein Vater für so viele jüdische Kunden angefertigt hatte. Er zwang sich, zuerst andere Dinge zur Hand zu nehmen, eine Gebißstange, die so verbogen war, daß sie in kein Pferdemaul mehr paßte, eine schmutzige Leinwandtasche, ein Wespennest, das noch an einem Ast hing.

Als er den Kelch umdrehte, sah er enttäuscht, daß er nicht von seinem Vater stammte, denn es fehlte ihm die HT-Punze, mit der Helkias Toledano den Fuß jedes seiner Kelche versehen hatte. Wahrscheinlich war er von einem Silberschmied angefertigt worden, der irgendwo in der Gegend von Saragossa gelebt hatte. Der Kelch war bestimmt zur Zeit der Vertreibung weggeworfen oder verkauft worden und offensichtlich seitdem nicht mehr poliert worden, denn er war schwarz vom Schmutz und dem Beschlag all dieser Jahre und außerdem stark zerkratzt.

Trotzdem war es ein Kiddusch-Becher, und Jona wollte ihn unbedingt haben. Aber eine schreckliche Angst ließ ihn zögern. Es war ein Gegenstand, dem nur Juden Beachtung schenken wür-den. Vielleicht war er als Köder unter den Kram des Bettlers geschmuggelt worden, und mißbilligende Augen würden sich die Person des Käufers merken, wenn er von einem Juden entdeckt und erworben wurde.

Er nickte dem Bettler zu und schlenderte davon. Langsam umkreiste er den ganzen Platz und suchte jeden Eingang, jedes Dach und jedes Fenster nach etwaigen Beobachtern ab.

Doch er sah niemanden, der ihn zu beachten schien, und so kehrte er zu dem Bettler zurück und stöberte noch einmal in dessen Kram. Er suchte sich ein halbes Dutzend Sachen aus, die er weder wollte noch brauchte, und griff wie nebenbei auch zu dem Kelch, und natürlich vergaß er auch das übliche Feilschen nicht.

Zu Hause angekommen, polierte er behutsam den Kelch. Seine Oberfläche wies einige tiefe Kratzer auf, die auch mit ausdauerndstem Polieren nicht zu beseitigen waren, aber trotzdem wurde der Kelch sehr schnell zu einem der Dinge, die er am meisten schätzte.

Der Herbst des Jahres 1507 war feucht und kalt. Auf allen öffentlichen Plätzen war Husten zu hören, und Jona hatte viel zu tun, auch wenn er zeitweise an dem gleichen quälenden Husten litt, der seine Patienten plagte.

Im Oktober wurde er zu Dona Sancha Berga gerufen, einer betagten Alten Christin, die in einem großen und wohl ausgestatteten Haus in einem vornehmen Viertel Saragossas wohnte. Ihr erwachsener Sohn, Don Berenguer Bartolome, und ihre Tochter Monica waren anwesend, als Jona ihre Mutter untersuchte. Sie hatte noch einen weiteren Sohn, Geraldo, einen Kaufmann in Saragossa.

Dona Sancha war die Witwe des berühmten Kartographen Martin Bartolome. Sie war eine schlanke und intelligente Frau von vierundsiebzig Jahren. Sonderlich krank schien sie nicht zu sein, aber wegen ihres Alters verschrieb er ihr viermal täglich Wein in heißem Wasser und schlückchenweise Honig.

»Habt Ihr noch andere Beschwerden, Senora?«

»Nur meine Augen. Meine Sehkraft wird immer schwächer«, sagte Dona Sancha.

Jona zog die Vorhänge auf, um das Sonnenlicht in ihre Kammer zu lassen, und brachte dann sein Gesicht sehr nahe an das ihre. Als er ihre Lider eines nach dem anderen hob, erkannte er eine schwache Trübung ihrer Linse.

»Es ist eine Krankheit, die man catarata nennt.«

»Blindheit im Alter liegt bei uns in der Familie. Meine Mutter war blind, als sie starb«, sagte Dona Sancha schicksalsergeben.

»Kann man gegen diese catarata denn nichts tun?« fragte ihr Sohn.

»Doch, es gibt eine Operation namens >Starstechen<, bei der die getrübte Linse entfernt wird. In vielen Fällen wird dadurch das Sehvermögen etwas verbessert.«

»Glaubt Ihr, daß dieses Starstechen bei mir möglich ist?« fragte Dona Sancha.

Er beugte sich noch einmal über sie und untersuchte ihre Linsen. Dreimal hatte er diese Operation bereits durchgeführt, einmal an einer Leiche und zweimal mit Nuno an seiner Seite, der ihn anleitete. Außerdem hatte er Nuno zweimal dabei zugesehen.

»Seht Ihr im Augenblick noch etwas?«

»Ja«, sagte sie. »Aber es wird immer schlimmer, und ich fürchte mich vor der Blindheit.«

»Ich glaube, daß die Operation bei Euch zu machen ist. Aber ich muß Euch warnen - Ihr dürft nicht zuviel erwarten. Solange Ihr noch Sehkraft habt, wie mangelhaft sie auch sein mag, sollten wir warten. Eine catarata ist leichter zu entfernen, wenn sie reif ist. Ich werde Euch regelmäßig untersuchen und Euch sagen, wann es soweit ist.«

Dona Sancha dankte ihm, und Don Berenguer lud ihn auf ein Glas Wein in seine Bibliothek ein. Jona zögerte. Normalerweise vermied er, soweit möglich, den gefährlichen privaten Kontakt mit Alten Christen, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, nach seiner Familie, nach möglichen kirchlichen Verbindungen oder gemeinsamen Freunden gefragt zu werden. Aber die Einladung war freundlich und wohlwollend, eine Ablehnung wäre schwierig gewesen, und so fand er sich kurz darauf vor dem Kamin in einem wunderschönen Zimmer mit einem Zeichentisch und vier großen Tischen voller Skizzen und Karten wieder.

Don Berenguer war aufgeregt und voller Hoffnung, daß seine Mutter bald wieder würde besser sehen können. »Könnt Ihr uns einen geeigneten Chirurgen empfehlen, der in der Lage ist, die Operation durchzuführen, wenn die catarata reif sind?« fragte er.

»Ich kann es tun«, sagte Jona vorsichtig. »Oder, wenn Euch das lieber ist, wäre meiner Ansicht nach auch Senor Miguel de Montenegro eine ausgezeichnete Wahl.«

»Dann seid Ihr also Chirurg und praktischer Arzt?« fragte Don Berenguer überrascht und goß Wein aus einer schweren Karaffe in zwei Gläser.

Jona lächelte. »Wie Senor Montenegro. Es stimmt, daß viele Heilkundler sich entweder für die Chirurgie oder die Medizin entscheiden. Aber einige Männer, darunter die besten in beiden Berufen, verbinden die Verfahren. Mein verstorbener Meister und Onkel, Senor Nuno Fierro, glaubte, daß Chirurgen allzuoft das Messer als das einzig wahre Heilmittel betrachten, während viele praktische Ärzte fälschlicherweise meinen, sich allein auf die Medizin verlassen zu können, wenn Chirurgie erforderlich ist.«

Don Berenguer nickte nachdenklich und gab Jona ein Glas. Der Wein war mild und sehr gut, von einer Qualität, wie Jona sie eigentlich nur bei adligen Familien erwarten würde. So entspannte er sich bald und genoß die Unterhaltung, denn sein Gast-geber stellte keine Fragen, die ihn in Verlegenheit hätten bringen können.

Don Berenguer verriet ihm, daß er Kartograph war, wie sein Vater und sein Großvater es vor ihm gewesen waren. »Mein Großvater, Blas Bartolome, schuf die ersten wissenschaftlichen Karten der spanischen Küstengewässer«, sagte er. »Mein Vater war vorwiegend mit Flußkarten beschäftigt, während ich mich mit Ausflügen in unsere Gebirgsregionen begnüge, um Höhen, Pfade und Pässe kartographisch zu erfassen.«

Don Berenguer zeigte ihm Karte um Karte, und während die beiden Männer sie gemeinsam studierten, vergaß Jona seine Angst. Er gestand dem Kartographen, daß er in seiner Jugend eine kurze Zeitlang ein gewöhnlicher Seemann gewesen war, und zeigte ihm auf den Karten die Routen seiner Fluß- und Seereisen, denn sein Herz öffnete sich dank des guten Weins und der Gesellschaft dieses interessanten Mannes, der, wie sein Gefühl ihm sagte, sein Freund werden könnte.

5. KAPITEL DER ZEUGE

In der ersten Aprilwoche kam ein Vertreter des alguacil von Saragossa mit der Nachricht zu Jona, daß er als Zeuge vor das städtische Gericht geladen werde, »in einer Sache, die am Donnerstag in vierzehn Tagen verhandelt wird«. Am Abend vor der Verhandlung kam Jona nach unten, als Reyna in ihrem langsam abkühlenden Bad vor dem Feuer saß. Er nahm den Kessel vom Haken über den Flammen, und während er heißes Wasser in die Wanne goß, sprachen sie über seine Vorladung. »Es geht um die zwei Jungen«, sagte er.

Der Fall war bereits im ganzen Bezirk berühmt. An einem Vormittag mitten im Winter waren zwei Knaben, beide vierzehn Jahre alt und seit frühester Kindheit Freunde, wegen eines kleinen Holzpferds in Streit geraten. Die Jungen, Oliverio Pita und Guillermo de Roda, hatten seit Jahren mit diesem Pferd gespielt; manchmal wurde es im Haus des einen, manchmal in dem des anderen aufbewahrt. Es war grob geschnitzt und von keinem besonderen Wert, aber eines Tages stritten sie sich um das Besitzrecht.

Jeder behauptete, es sei sein Eigentum, das er sehr gern mit seinem Freund geteilt habe.

Wie so oft bei Jungen, wurde der Streit handgreiflich. Wären sie nur einige Jahre älter gewesen, hätte eine solche Auseinandersetzung in einer Herausforderung und einem Duell geendet, so aber ließen sie lediglich ihrem Groll und ihren Fäusten freien Lauf. Die ganze Sache wurde jedoch schlimmer, als die Eltern von jedem der Jungen behaupteten, das Pferd sei ein Erbstück ihrer Familie.

Als die beiden sich das nächste Mal trafen, bewarfen sie einander mit Steinen. Oliverio zielte viel besser als sein Gegner und blieb unverletzt, während einige seiner Wurfgeschosse Guillermo trafen, eins davon an der rechten Schläfe. Als dieser mit blutüberströmtem Gesicht nach Hause kam, schickte die erschrockene Mutter sofort nach einem Arzt, und Jona war zum Haus der Rodas geritten, um den Jungen zu behandeln. Der Vorfall wäre wohl mit der Zeit in Vergessenheit geraten, hätte Guillermo sich nicht einige Zeit danach ein Fieber zugezogen, das ihn das Leben kostete.

Jona hatte den gramgebeugten Eltern erklärt, daß Guillermo an einer ansteckenden Krankheit gestorben sei und nicht an der harmlosen Verletzung, die er einige Wochen zuvor erlitten hatte. Ramiro de Roda jedoch war in seinem Kummer zum alguacil gegangen und hatte Klage gegen Oliverio Pita erhoben mit der Behauptung, die Krankheit sei eine Folge der Kopfverletzung gewesen und Oliverio deshalb schuld an Guillermos Tod. Nun hatte der alguacil eine Anhörung angesetzt, um zu entscheiden, ob der Junge des Mordes angeklagt werden sollte.

»Es ist eine Tragödie«, sagte Reyna, »und jetzt wird auch noch der Medicus von Saragossa mit hineingezogen.« Sie spürte sehr wohl, daß Jona sich große Sorgen machte. »Aber was hast du in dieser Geschichte der zwei Jungen zu befürchten?«

»Ich muß eine mächtige Familie Saragossas vor den Kopf stoßen. Wie wir beide wissen, können Ärzte anonym bei der Inquisition angeschwärzt werden. Ich bin nicht eben erpicht darauf, mir die Rodas zu Feinden zu machen.«

Reyna nickte. »Und du wagst es auch nicht, dich dem Befehl des alguacil zu widersetzen?«

»Nein. Außerdem geht es darum, daß der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Mir bleibt nur eine Möglichkeit.« »Und die wäre?« fragte Reyna und seifte sich den Arm ein. »Ich muß vor Gericht auftreten und die Wahrheit sagen«, entgegnete Jona.

Die Anhörung wurde in einem kleinen Sitzungssaal im Obergeschoß des Rathauses abgehalten, der bereits überfüllt war, als Jona eintraf.

Jose Pita und seine Frau Rosa Menendez sahen Jona direkt an, als er den Saal betrat. Sie waren bald nach Klageerhebung gegen ihren Sohn zu ihm gekommen und hatten ihm die Lage der Dinge erklärt, so wie sie sie sahen.

Der Junge Oliverio Pita saß alleine und starrte mit großen Augen den ernst und geschäftsmäßig dreinblickenden Richter an, der ohne weitere Verzögerung die Sitzung eröffnete, indem er mit seinem großen Amtsring auf den Tisch klopfte.

Alberto Porreno, der Kronanwalt, den Jona flüchtig kannte, war ein kleiner Mann, dessen Kopf dank einer dichten Mähne schwarzer Haare größer wirkte, als er tatsächlich war. Er rief Ramiro de Roda als seinen ersten Zeugen auf.

»Senor Roda, Euer Sohn Guillermo de Roda starb im Alter von vierzehn Jahren am 14. Februar im Jahre des Herrn 1508?«

»Ja, Senor.«

»Woran starb er, Senor?«

»Er wurde am Kopf getroffen von einem Stein, der im Zorn nach ihm geworfen wurde, und die gefährliche Verletzung führte zu einer schrecklichen Krankheit, die ihn hinwegraffte.« Er sah zu Jona hinüber. »Der Arzt konnte Guillermo, meinen einzigen Sohn, nicht retten.«

»Wer warf den Stein?«

»Er.« Er streckte den Arm aus und deutete auf den Angeklagten. »Oliverio Pita.« Der Junge wurde sehr blaß und starrte auf den Tisch.

»Woher wißt Ihr das?«

»Der Vorfall wurde beobachtet von einem gemeinsamen Nachbarn, Senor Rodrigo Zurita.«

»Ist Senor Zurita anwesend?« fragte der Kronanwalt, und als ein dünner, weißbärtiger Mann die Hand hob, wandte er sich ihm zu.

»Wie kam es, daß Ihr beobachten konntet, wie die beiden Jungen sich mit Steinen bewarfen?«

»Ich saß vor meinem Haus, um mich in der Sonne zu wärmen. Ich habe alles gesehen.«

»Was habt Ihr gesehen?«

»Ich habe gesehen, wie Jose Pitas Sohn, dieser Bursche da, den Stein warf, der den armen Guillermo, den guten Jungen, traf.«

»Habt Ihr gesehen, wo er ihn traf?«

»Ja. Er traf ihn am Kopf«, sagte er und deutete zwischen den Augen auf seine Stirn. »Ich habe es deutlich gesehen. Er wurde so grausam getroffen, daß ich Blut und Eiter aus der Wunde kommen sah.«

»Vielen Dank, Senor.«

Senor Porreno wandte sich jetzt an Jona. »Senor Callico, Ihr habt den Jungen nach dem Vorfall behandelt?«

»Ja, Senor.«

»Und was habt Ihr festgestellt?«

»Er konnte von dem Stein nicht voll getroffen worden sein«, erwiderte Jona mit einigem Unbehagen. »Er hatte ihn eher im Bereich der rechten Schläfe gestreift, knapp über und vor dem rechten Ohr.«

»Nicht hier?« Der Kronanwalt zeigte auf die Mitte von Jonas Stirn.

»Nein, Senor. Hier«, sagte Jona und zeigte auf seine Schläfe.

»Konntet Ihr an der Wunde sonst noch etwas feststellen?«

»Es war eine geringfügige Wunde. Eher ein Kratzer. Ich wusch ihm das getrocknete Blut vom Gesicht und von dem Kratzer.

Solche Schürfwunden und Kratzer heilen für gewöhnlich sehr gut, wenn man sie mit Wein auswäscht, deshalb habe ich ein Tuch mit Wein getränkt und die Wunde ausgewischt, sie ansonsten aber in Ruhe gelassen. Zu der Zeit«, fuhr Jona fort, »drängte sich mir der Gedanke auf, daß Guillermo großes Glück gehabt hatte, denn wenn der Stein ihn ein Stückchen weiter links getroffen hätte, wäre seine Verletzung viel ernster gewesen.«

»Ist es keine ernste Verletzung, wenn Blut und Eiter aus der Wunde treten?«

Jona seufzte insgeheim, doch die Wahrheit konnte er nicht umgehen.

»Es gab keinen Eiter.« Er bemerkte Senor Zuritas wütende Blicke. »Eiter ist nicht etwas, das sich immer unter der Haut des Menschen befindet und hervortritt, sobald die Haut verletzt wird. Eiter tritt oft nach einer Verletzung auf, wenn wegen eines Risses in der Haut eine offene Wunde unter den Einfluß fauliger Dämpfe in der Luft kommt, etwa des Gestanks von Kot oder verfaulendem Fleisch. Als ich die Wunde das erste Mal untersuchte, war kein Eiter zu sehen, und es gab auch keine Absonderungen irgendwelcher Art, als ich Guillermo drei Wochen später noch einmal sah. Zu der Zeit hatte sich bereits ein Schorf auf dem Kratzer gebildet. Die Wunde fühlte sich kühl an und sah nicht entzündet aus. Ich betrachtete ihn als fast geheilt.«

»Aber zwei Wochen später war er tot«, bemerkte der Kronanwalt.

»Ja. Aber nicht wegen der leichten Verletzung am Kopf.«

»Woran starb er dann, Senor?«

»An einem abgehackten Husten und Schleim in der Lunge, was schließlich zu seinem tödlichen Fieber führte.«

»Und was verursachte diese Krankheit?«

»Das weiß ich nicht, Senor. Es wäre mir lieber, wenn ich es wüßte. Ein Arzt sieht eine solche Krankheit mit entmutigender Regelmäßigkeit, und einige der Betroffenen sterben.«

»Seid Ihr sicher, daß der von Oliverio Pita geworfene Stein nicht die Ursache für den Tod von Guillermo de Roda war?«

»Dessen bin ich mir sicher.«

»Seid Ihr bereit, Euren Eid darauf zu leisten, Senor Medicus?«

»Das bin ich.«

Als die stadteigene Bibel gebracht wurde, legte Jona seine Hand darauf und schwor, daß seine Aussage der Wahrheit entspreche.

Der Kronanwalt nickte und befahl dem Angeklagten aufzustehen. Der Richter warnte den Jungen, daß er schnelle und schwere Strafe zu erwarten habe, falls eine seiner Taten ihn wieder vor die Schranken dieses Gerichts bringen sollte. Dann klopfte er ein letztes Mal mit seinem schweren Ring auf den Tisch und erklärte Oli-verio Pita für frei.

»Senor«, sagte Jose Pita. Er hatte noch immer seinen weinenden Sohn im Arm. »Wir sind für alle Zeit in Eurer Schuld.«

»Ich habe nur die Wahrheit bezeugt«, sagte Jona.

Dann flüchtete er, und während er aus der Stadt hinausritt, versuchte er die kalte Abneigung zu vergessen, die er in Ramiro de Rodas Augen gesehen hatte. Er wußte, die Familie Roda und ihre Freunde würden bis ins Grab glauben, daß der junge Guillermo von einem geworfenen Stein getötet worden war, aber Jona hatte die Wahrheit bezeugt und war froh, daß er es hinter sich hatte.

Vom anderen Ende der Straße kam eine Gestalt auf ihn zu. Je näher sie einander kamen, um so deutlicher erkannte Jona den Mann.

Ein Geistlicher in schwarzer Kutte.

Ein Mönch. Groß.

O Gott, dachte Jona, denn jetzt sah er den unverkennbaren Buckel, den der Mann trug.

Sonst war niemand in der Nähe, nichts, was die Aufmerksamkeit hätte ablenken können, als Reiter und Fußgänger sich einan-der näherten. Sollte er an Fray Lorenzo de Bonestruca einfach vorbeireiten, als würde er ihn nicht kennen? Nein, entschied er, zu groß war die Gefahr, daß Bonestruca sich an ihn erinnerte. Denn Bonestruca wußte, daß jemand, der ihm einmal begegnet war, ihn wegen seines Aussehens so leicht nicht wieder vergessen würde.

»Ich wünsche Euch einen guten Tag«, sagte Jona, als sie sich begegneten, und Bonestruca nickte knapp.

Doch bevor Jonas Pferd ein halbes Dutzend Schritte gegangen war, hörte er die Stimme.

»Senor!«

Er wendete den grauen Araber und kehrte zu dem Mönch zurück.

»Ich meine Euch zu kennen, Senor.«

»Ja, Fray Bonestruca. Wir haben uns vor Jahren in Toledo kennengelernt.«

Bonestruca hob die Hand. »Ja, in Toledo. Aber... Euer Name...«

»Ramon Callico. Ich war nach Toledo gekommen, um dem Grafen von Tembleque eine Rüstung zu liefern.«

»Mein Gott, ja, der Lehrling des Waffenschmieds aus Gibraltar! Ich habe Graf Vascas schöne Rüstung bewundert, auf die er zu Recht stolz ist. Seid Ihr mit einem ähnlichen Auftrag hier in Saragossa?«

»Nein, ich wohne hier. Mein Meister und Onkel, der Waffenschmied Manuel Fierro, starb, und ich kam nach Saragossa, um bei seinem Bruder Nuno, einem Arzt, in die Lehre zu gehen.«

Bonestruca nickte interessiert. »Ich muß sagen, Ihr seid mit Onkeln wohl ausgestattet.«

»Da stimme ich Euch zu. Leider hat Nuno auch das Zeitliche gesegnet, und jetzt bin ich der Medicus dieses Ortes.«

»Der Medicus... Nun, dann werden wir uns gelegentlich sehen, denn ich habe mich hier niedergelassen.« »Ich bin mir sicher, daß Saragossa Euch gefallen wird, es ist eine Stadt guter Menschen.«

»Wirklich? Wahrhaft gute Menschen sind ein unbezahlbarer Schatz. Aber ich mußte feststellen, daß sich unter dem Anschein der Rechtschaffenheit oft etwas Dunkleres und viel Unfreundlicheres als Güte verbirgt.«

»Das ist sicher wahr.«

»Es ist schön, einen Bekannten zu treffen, wenn man entwurzelt und an einen fremden Ort versetzt wird. Wir müssen uns wiedersehen, Senor Callico.«

»Ja, das müssen wir unbedingt.«

»Einstweilen sei Christus mit Euch.«

»Und mit Euch, Fray Bonestruca.«

6. KAPITEL DAS HAUS DES MÖNCHS

Fray Lorenzo de Bonestrucas Versetzung nach Saragossa war keine Belohnung oder Beförderung gewesen, sondern eher ein Tadel und eine Strafe. Urheber seiner Schwierigkeiten waren seine verstorbene Königin, Isabella von Spanien, und der Erzbischof Francisco Jimenez de Cisneros gewesen. Als Cis-neros 1495 Erzbischof von Toledo geworden war, hatte er die Königin für einen Feldzug zur Reformation des spanischen Klerus gewinnen können, der dem Laster und der Verderbtheit anheimgefallen war. Viele Geistliche hatten sich eine üppige Lebensart angewöhnt, sie besaßen ausgedehnte Ländereien, Bedienstete, Geliebte und alle äußeren Zeichen des Reichtums.

Cisneros und Isabella teilten die Gruppierungen der Kirche unter sich auf. Die Königin reiste zu den Nonnenklöstern, wo sie ihre Stellung und ihre ganze Überredungskunst in die Waagschale warf und den Ordensfrauen so lange mit Schmeicheleien und Drohungen zusetzte, bis sie bereit waren, zu dem einfachen Leben zurückzukehren, das ein Wesensmerkmal der frühen Kirche gewesen war. Der Erzbischof besuchte, in einfacher brauner Kutte und mit einem Maultier als einziger Begleitung, jedes Mönchskloster, katalogisierte seinen Reichtum und drängte die Brüder dazu, alles, was sie nicht unbedingt zum Leben brauchten, den Armen zu stiften.

Bonestruca hatte sich im Netz der Reform verfangen.

Bonestruca hatte nur vier Jahre lang als zölibatärer Mönch gelebt. Nachdem sein Körper einmal von der Süße der Vereinigung mit weiblichem Fleisch gekostet hatte, gab er sich häufig und bedenkenlos der geschlechtlichen Leidenschaft hin. Seit zehn Jahren hatte er eine Geliebte, eine Frau namens Maria Juana Salazar, mit der er drei Kinder gezeugt hatte. Sie war seine Frau in jeder Hinsicht bis auf den Namen, und er hatte gar nicht versucht, aus ihrer Rolle in seinem Leben ein großes Geheimnis zu machen; das war auch nicht nötig, denn er tat nur, was so viele andere taten. So aber kam es, daß eine ganze Reihe von Leuten über Fray Bonestruca und Maria Juana Salazar Bescheid wußten, als die große Tugendreform in Schwung kam. Zuerst erhielt der alte Priester, der seit Jahren sein Beichtvater war, den Auftrag, ihn zu warnen, daß die Tage des süßen Lebens vorüber und Reue und wahre Veränderung die Schlüssel zum Überleben seien. Als Bonestruca diese Warnung in den Wind schlug, wurde er zu einem Gespräch mit dem Erzbischof in die Diözesankanzlei bestellt.

Cisneros verschwendete keine Zeit mit Höflichkeiten. »Ihr müßt Euch dieses Weib vom Hals schaffen. Ihr müßt es sofort tun. Wenn Ihr es nicht tut, bekommt Ihr Ärger.«

Jetzt verlegte Bonestruca sich auf Heimlichtuerei und List. Er brachte Maria Juana und die Kinder in ein anderes Dorf auf halbem Wege zwischen Toledo und Tembleque und erzählte niemandem davon. Seine Besuche plante er sehr umsichtig, und manchmal hielt er sich über Wochen von ihnen fern.

Dennoch erhielt er eines Tages die Nachricht, daß er wieder in der Kanzlei zu erscheinen habe. Diesmal wurde er von einem Dominikaner empfangen, der ihm mitteilte, daß er wegen seines Ungehorsams ins Offizium der Inquisition von Saragossa versetzt worden sei. Er erhielt den Befehl, sofort nach Saragossa aufzubrechen.

»Und zwar allein«, hatte der Priester mit einem boshaften Grinsen hinzugefügt.

Bonestruca hatte gehorcht, doch am Ende dieser langen Reise hatte er begriffen, daß das, was andere als eine Strafe für ihn betrachtet hatten, ihm in Wahrheit jene Ungestörtheit bot, die er brauchte.

Etwa vier Wochen nach der Begegnung mit dem Inquisitor auf der Straße erhielt Jona Besuch von einem Novizen in brauner Kutte, der ihm sagte, daß Fray Bonestruca den Arzt sofort auf der plaza mayor zu sehen wünsche.

Jona folgte dem Ruf, und Fray Bonestruca erwartete ihn im Schatten des einzigen Baumes auf dem Platz.

Der Mönch nickte ihm zu und erhob sich von der Bank. »Ich werde Euch an einen Ort bringen. Ihr dürft keinem Menschen ein Wort über das, was Ihr sehen und tun werdet, verraten, denn sonst bekommt Ihr meinen Zorn zu spüren. Und ich verspreche Euch, mein Zorn kann furchtbar sein. Habt Ihr mich verstanden?«

Jona bemühte sich, gelassen zu bleiben. »Ich habe verstanden«, erwiderte er ruhig.

»Dann kommt mit mir.«

Er ging voraus, und Jona folgte ihm auf dem Pferd. Bonestruca drehte sich mehrmals um und schaute über Jona hinweg, um sich zu versichern, daß man ihnen nicht folgte. Bald kamen sie zum Fluß. Bonestruca zögerte nicht lange und hob seine schwarze Kutte, damit das flache, aber lebhaft strömende Wasser sie nicht benetzte. Am anderen Ufer führte er Jona zu einer kleinen, aber guterhaltenen finca, deren neue Fensterrahmen auf eine kürzliche Instandsetzung hindeuteten. Bonestruca öffnete die Tür und trat ohne Klopfen ein. Jona sah mehrere Taschen aus Tuch und Leder und eine noch ungeöffnete und nicht ausgepackte Kiste. Eine Frau hielt einen Säugling im Arm, neben ihr standen zwei Kinder, die sich an ihren Rock klammerten.

»Das ist Maria Juana«, sagte Bonestruca.

Jona nahm seinen Hut ab. »Senora.«

Sie war eine stämmige Frau mit brauner Haut und einem herzförmigen Gesicht mit großen dunklen Augen und sehr vollen, roten Lippen. Milchflecken zeigten sich auf dem Stoff über ihren üppigen Brüsten. »Das ist Callico, ein Arzt«, sagte Bonestruca zu ihr. »Er wird nach Filomena sehen.«

Gegenstand seiner Sorge war der Säugling, der offensichtlich fieberte und von Pusteln um den Mund geplagt wurde. Das älteste Kind, Hortensia, war sieben, und es gab noch einen fünfjährigen Jungen namens Dionisio. Jona wurde das Herz schwer, als er die Kinder sah. Die Beine der beiden Mädchen waren mißgebildet, und alle drei hatten die unverkennbaren, weit auseinanderstehenden Zähne, auf die zu achten sein alter Meister ihn gelehrt hatte.

Bonestruca erklärte Jona, die drei Kinder seien erschöpft und nicht ganz auf der Höhe, weil sie erst vor zwei Tagen mit ihrer Mutter aus Toledo eingetroffen seien. »Was Filomenas Pusteln angeht, weiß ich, daß die wieder vergehen. Ich erinnere mich noch gut, daß die anderen Kinder sie auch hatten.«

»Seid Ihr der Vater der Kinder, Fray Bonestruca?«

»Natürlich.«

»Als Ihr jünger wart... hattet Ihr da je die Lues, malum vene-reum?«

»Bekommen es nicht die meisten jungen Männer früher oder später mit der Lues zu tun? Ich war übersät mit Pusteln wie Schuppen. Aber nach einer Weile war ich wieder geheilt, und die Symptome sind nie zurückgekehrt.«

Jona nickte taktvoll. »Nun... Ihr habt die Lues an Eure... an Maria Juana weitergegeben.«

»Das stimmt.«

»Und sie hat bei der Geburt jedes Eurer Kinder damit angesteckt. Es war die Lues, die den Mädchen die Beine so verbogen hat.«

»Warum sind dann die Beine meines Sohns gerade?«

»Die Krankheit wirkt sich nicht bei jedem gleich aus.«

»Dann war es also die Lues, die ihnen die krummen Beine gegeben hat! Und ich dachte schon, es sei ein Erbe meines eigenen, ungestalten Körpers, obwohl keines der Kinder mit einem Buckel geboren wurde.«

Bonestruca schien fast glücklich darüber, daß diese Krankheit daran schuld war und nicht seine eigenen mißgebildeten Knochen.

»Die Pusteln vergehen schließlich wieder«, sagte der Mönch fröhlich.

Aber die krummen Beine und die auseinanderstehenden Zähne nicht, dachte Jona. Und wer weiß, welche anderen Tragödien die Lues in ihr Leben bringt.

Er untersuchte die Kinder und verschrieb eine Salbe für die Pusteln des Säuglings. »Ich werde sie mir in einer Woche noch einmal ansehen«, sagte er. Als Bonestruca ihn fragte, was er ihm schulde, nannte Jona sein übliches Honorar für einen Hausbesuch und bemühte sich dabei um einen sachlichen, geschäftsmäßigen Ton. Ihm stand nicht der Sinn nach einer Freundschaft mit Fray Bonestruca.

Am nächsten Tag brachte ein Mann namens Evaristo Montalvo seine betagte Frau, Blasa de Gualda, zum Arzt.

»Sie ist blind, Senor.«

»Gestattet mir, sie anzusehen«, sagte Jona und führte die Frau ins helle Licht vor dem Fenster.

Deutlich sah er die Trübung in beiden Augen. Sie war fortgeschrittener als die ähnliche Trübung, die er vor kurzem in den Augen von Dona Sancha Berga, Don Berenguer Bartolomes Mutter, festgestellt hatte. Diese hier war so ausgereift, daß die Linsen der Frau einen gelblichweißen Farbton angenommen hatten.

»Könnt Ihr mir helfen, Senor?«

»Ich kann nicht versprechen, Euch zu helfen, Senora. Aber ich kann es versuchen, wenn Ihr das wollt. Dazu wäre allerdings eine Operation erforderlich.«

»Ihr wollt mir in die Augen schneiden?«

»Ja, schneiden. Ihr habt in beiden Augen eine Krankheit, die man catarata nennt. Die Linsen sind getrübt, und das verhindert, daß Ihr seht, so wie eine Sonnenblende verhindert, daß Licht in ein Fenster fällt.«

»Ich will wieder sehen, Senor.«

»Ihr werdet nie wieder so sehen können, wie Ihr es in Eurer Jugend konntet«, sagte er sanft. »Auch wenn wir erfolgreich sind, werdet Ihr entfernte Gegenstände nicht erkennen können. Ihr werdet nur wieder sehen können, was dicht vor Euch ist.«

»So würde ich wenigstens wieder kochen können. Und vielleicht sogar nähen, mh?«

»Vielleicht... aber wenn es mißlingt, seid Ihr mit Sicherheit für immer blind.«

»Blind bin ich jetzt schon, Senor. Ich bitte Euch deshalb, diese... Operation zu versuchen.«

Jona bat sie, früh am nächsten Morgen wiederzukommen. An diesem Nachmittag richtete er den Operationstisch her und alle Instrumente, die er brauchen würde, und den ganzen Abend saß er beim Licht der Öllampe da und las mehrere Male, was Teodorico Borgognoni über das Starstechen geschrieben hatte.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte er zu Reyna. Indem er ihr die Lider anhob, zeigte er ihr, wie sie die Augen der Patientin offenhalten mußte, damit sie nicht blinzelte.

»Ich glaube aber nicht, daß ich zusehen kann, wie du ins Auge schneidest«, sagte sie.

»Du kannst den Blick abwenden, aber du mußt ihr die Augen unbedingt offenhalten. Kannst du das tun?«

Reyna nickte zweifelnd, erwiderte aber, daß sie es versuchen wolle.

Als Evaristo Montalvo am nächsten Morgen mit Blasa de Gualda ins Behandlungszimmer kam, schickte Jona den alten Mann zuerst auf einen langen Spaziergang, bevor er Blasa zwei Becher mit starkem Schnaps gab, in dem er Schlafpulver aufgelöst hatte.

Er und Reyna halfen der alten Frau auf den Tisch und fesselten sie dann mit starken Gewebestreifen, die breit genug waren, um ihr nicht ins Fleisch zu schneiden, an Hand- und Fußgelenken sowie der Stirn so darauf fest, daß sie sich nicht mehr bewegen konnte.

Er nahm das kleinste Skalpell aus der Fierro-Sammlung und nickte Reyna zu. »Laß uns anfangen.«

Als die Lider angehoben waren, setzte er eine Reihe winziger Schnitte rund um die Linse des linken Auges.

Blasa zog scharf den Atem ein.

»Es dauert nicht lange«, sagte Jona. Er benutzte die schmale, scharfe Klinge als Hebel, um die getrübte Linse anzuheben und zur Seite zu kippen. Dann wiederholte er den Vorgang im rechten Auge.

Als er fertig war, dankte er Reyna und hieß sie die Lider loslassen. Sie banden Blasa vom Tisch los und bedeckten ihre Augen mit kühlen, feuchten Tüchern.

Nach einer Weile nahm Jona die Tücher wieder ab und beugte sich über sie. Ihre geschlossenen Augen tränten, oder sie weinte, und er wischte ihr sanft die Wangen.

»Senora de Gualda. Öffnet die Augen.«

Ihre Lider hoben sich. Sie blinzelte gegen das Licht und sah dann zu ihm hoch.

»... Ihr habt ein sehr gutes Gesicht, Senor«, sagte sie.

Jona hatte gehofft, Bonestruca würde bei seinem nächsten Besuch auf der finca am Fluß abwesend sein, doch als der Mönch ihn an der Tür begrüßte, verbarg er seine Enttäuschung. Die Kinder, die sich inzwischen von den Mühen der Reise erholt hatten, wirkten kräftiger und recht frohgemut, und Jona sprach über ihre

Ernährung mit ihrer Mutter, die mit beiläufigem Stolz erklärte, ihre Kinder seien an reichlich Fleisch und Eier gewöhnt.

»Und ich bin an erstklassigen Wein gewöhnt«, sagte Bone-struca leichthin, »den ich jetzt unbedingt mit Euch teilen will.«

Es war offensichtlich, daß er eine Ablehnung nicht dulden würde, und so ließ sich Jona in ein Arbeitszimmer führen, wo er wieder einmal um seine Fassung ringen mußte, denn dieses Zimmer enthielt Erinnerungsstücke an den Kampf des Mönchs gegen die Juden: eine Sammlung von Gebetsriemen, ein Käppchen und - ein unglaublicher Anblick für Jona - eine Torarolle.

Der Wein war wirklich gut. Während Jona nippte und sich bemühte, die Torarolle nicht anzustarren, musterte er seinen Gastgeber, der sein Todfeind war, und fragte sich, wie schnell er dem Haus dieses Mannes würde entfliehen können.

»Kennt Ihr das Damespiel?« fragte Bonestruca.

»Nein, von einem Damespiel habe ich noch nie etwas gehört.«

»Es ist ein ausgezeichnetes Spiel, das den Verstand anregt. Ich bringe es Euch bei«, sagte er, und zu Jonas Verärgerung stand er auf und holte aus einem Regal ein quadratisches Spielbrett, das er auf den kleinen Tisch zwischen ihnen legte, sowie zwei Stoff-säckchen.

Das Brett war in helle und dunkle Quadrate unterteilt, insgesamt vierundsechzig, wie Bonestruca sagte. Jedes der Säckchen enthielt zwölf kleine, glatte Steine; die Steine in dem einen Säckchen waren schwarz, die in dem anderen dagegen hellgrau. Bonestruca gab Jona die schwarzen Steine und sagte ihm, er müsse sie auf die dunklen Quadrate der ersten drei Reihen des Bretts setzen, während er selbst dies auf seiner Seite mit den hellen Steinen tat. »So haben wir uns sechs Reihen Soldaten aufgestellt, und jetzt sind wir im Krieg, Senor!«

Der Mönch zeigte ihm, daß man mit einem Stein nur schräg nach vorne zu einem angrenzenden Quadrat ziehen durfte. »Schwarz eröffnet. Wenn einer meiner Soldaten auf einem an-grenzenden Feld steht und sich dahinter ein leeres Feld befindet, muß er gefangen, das heißt übersprungen, und entfernt werden. Die Soldaten dürfen sich nur vorwärts bewegen, aber wenn ein Held die hinterste Reihe des Gegners erreicht, wird er zum Monarchen gekrönt, indem man einen Stein derselben Farbe auf ihn legt. So ein Doppelstein kann sich nach vorne und nach hinten bewegen, denn niemand darf einem König vorschreiben, wohin er gehen soll.

Eine Armee ist besiegt, wenn alle Soldaten des Gegners gefangen sind oder sich nicht mehr bewegen können.« Bonestruca brachte alle Steine wieder in die Ausgangsposition. »Und jetzt, Arzt, greift mich an!«

Sie spielten fünf Kriegsspiele. Die ersten zwei Schlachten waren für Jona schnell vorüber, aber er lernte dabei, daß er nicht einfach nur aufs Geratewohl ziehen durfte. Ein paarmal verleitete Bonestruca ihn zu einem törichten Zug, indem er einen seiner Soldaten opferte, um dann mehrere von Jonas Steinen zu schlagen. Nach einer Weile konnte Jona eine Falle bereits erkennen und sie vermeiden.

»Ah, Ihr lernt schnell«, sagte der Mönch. »Ihr werdet in kürzester Zeit ein würdiger Gegner sein, das sehe ich jetzt schon.«

Was Jona sehen konnte, war, daß das Spiel eine beständige Überwachung des Bretts erforderte, um die Absichten des Gegners erkennen und die eigenen Möglichkeiten abschätzen zu können. Er merkte sich, was Bonestruca tat, um ihn in Fallen zu locken. Am Ende des fünften Spiels beherrschte er bereits einige der möglichen Verteidigungszüge.

»Ah, Senor, Ihr seid so schlau wie ein Fuchs oder ein General«, sagte Bonestruca, doch dank seines geschliffenen Verstands hatte er Jona in allen Spielen sehr schnell besiegt.

»Ich muß jetzt gehen«, sagte Jona widerstrebend.

»Dann müßt Ihr wiederkommen und noch einmal mit mir spielen. Morgen nachmittag oder übermorgen?«

»Ich fürchte, meine Nachmittage sind mit Patienten ausgefüllt.«

»Ich verstehe, ein vielbeschäftigter Arzt. Und wenn wir uns am Mittwoch abend hier wiedertreffen? Kommt, so früh Ihr könnt, ich werde hiersein.«

Warum nicht? fragte sich Jona. »Gut, ich komme«, sagte er. Er war begierig darauf zu verstehen, wie Bonestrucas Verstand arbeitete, und das ließ sich am Damespiel gut ablesen.

Am Mittwoch abend kehrte er in die finca am Fluß zurück. Er saß mit Bonestruca im Arbeitszimmer, trank den guten Wein, knackte Mandeln und aß von den angebotenen Speisen, während sie aufs Spielbrett starrten und ihre Züge machten.

Jona studierte das Brett und das Gesicht seines Gegners, um zu erkennen, wie der Mönch dachte, doch Bonestrucas Züge verrieten ihm nichts.

Mit jeder Runde, die sie spielten, lernte er ein bißchen mehr über das Damespiel und ein klein wenig auch über Bonestruca. An diesem Abend spielten sie fünf Spiele, wie auch schon beim ersten Mal.

»Die Spiele dauern jetzt schon viel länger«, bemerkte Bone-struca. Als er vorschlug, sich am Mittwoch der folgenden Woche wiederzutreffen, sagte Jona so bereitwillig zu, daß der Mönch lächelte.

»Ah, ich sehe, das Spiel hat Eure Seele gepackt.«

»Nein, nur meinen Verstand, Fray Bonestruca.«

»Dann nehme ich mir bei unseren nächsten Spielen Eure Seele vor«, sagte Bonestruca.

Jona brauchte noch zwei Dame-Abende, bis er das erste Spiel gewann, und dann gewann er wieder einige Wochen nicht mehr. Aber danach gewann er häufiger, und je besser er Bonestrucas Strategie durchschaute, desto härter umkämpft waren und desto länger dauerten die Spiele.

Er hatte den Eindruck, daß Bonestruca so Dame spielte, wie er das Leben spielte, indem er täuschte, sich verstellte und seinen Gegner foppte. Der Mönch begrüßte ihn immer mit einer entwaffnenden, sonnigen Freundlichkeit, aber Jona konnte sich in seiner Gegenwart nie so recht entspannen; zu deutlich war ihm bewußt, daß knapp unter dieser Oberfläche etwas Dunkles lauerte.

»Ganz so erstklassig scheint Euer Verstand doch nicht zu sein, Arzt«, sagte Bonestruca verächtlich nach einem leichten Sieg. Und doch bestand er nach jedem Spieleabend darauf, daß Jona sehr bald wieder mit ihm spiele.

Jona bemühte sich, ihm ebenbürtig zu werden. Er vermutete, daß Bonestruca ein Maulheld war, der durch die Angst seines Gegenübers noch mächtiger wurde, aber Schwäche zeigte, wenn der andere sich nicht einschüchtern ließ.

»Ich bin erst kurze Zeit in Saragossa, und doch habe ich schon einen Juden entlarvt«, sagte der Mönch eines Mittwoch abends und übersprang einen von Jonas Soldaten.

»Oh?« entgegnete Jona beiläufig. Er machte einen Zug, um den Angriff abzuwehren.

»Ja, einen rückfälligen Juden, der vorgibt, ein Alter Christ zu sein.«

Hatte Bonestruca ihn durchschaut? Würde der Mönch ihn jetzt vernichten? Jona hielt den Blick aufs Brett gerichtet. Er schob einen Soldaten auf ein Feld, wo Bonestruca ihn übersprang, und übersprang dann zwei von Bonestrucas Steinen. »Eure Seele freut es, einen Juden zu fangen. Ich höre das an Eurer Stimme«, sagte er und wunderte sich dabei über die Gelassenheit in seiner eigenen Stimme.

»Denkt darüber nach. Steht nicht geschrieben, daß, wer Wind sät, Sturm ernten wird?«

Zum Teufel mit ihm, dachte Jona, hob den Blick vom Brett und sah dem Mönch in die Augen. »Steht aber nicht auch geschrieben, daß selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen?«

Bonestruca lächelte. Offensichtlich bereitete ihm der Wortwechsel Freude. »So steht es geschrieben, bei Matthäus. Aber... bedenkt: >Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er tot ist. Und wer lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben.< Ist es dann nicht eine barmherzige Tat, eine unsterbliche Seele vor der Hölle zu retten? Denn genau das tun wir, wenn wir Juden mit Christus versöhnen, bevor wir sie den Flammen übergeben. Wir beenden ein trauriges Leben im Irrtum und gewähren ihnen Frieden und Herrlichkeit in alle Ewigkeit.«

»Und was geschieht mit einem, der sich dieser Versöhnung verweigert?«

»Matthäus rät uns: >Wenn dich dein rechtes Auge zur Sünde verführt, so reiß es aus und wirf es von dir; denn es ist besser für dich, daß eins deiner Glieder verlorengeht und nicht dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird.<«

Mit einem Lächeln erzählte er, daß der Jude, der vorgab, ein Alter Christ zu sein, schon bald verhaftet würde.

Eine schlaflose Nacht und den ganzen nächsten Tag lang plagten Jona die schlimmsten Befürchtungen. Er war bereit zu fliehen, um sein Leben zu retten, anderereits kannte er Bonestrucas Denkweise inzwischen gut genug, um zu vermuten, daß diese Erwähnung eines falschen Alten Christen vielleicht nichts anderes war als eine Falle. Angenommen, Bonestruca wollte nur sehen, ob der Arzt den Köder schluckte und sich aus dem Staub machte? Wenn der Inquisitor nichts anderes hatte als einen Verdacht, wäre Jona gut damit beraten, sein Leben wie gewohnt weiterzuführen.

An diesem Morgen hielt er seine alltägliche Sprechstunde im

Behandlungszimmer ab. Am Nachmittag besuchte er Patienten. Er war eben nach Hause zurückgekehrt und sattelte das Pferd ab, als zwei Soldaten des alguacil den Weg zum Haus entlanggeritten kamen.

Er hatte so etwas erwartet und war bewaffnet. Warum sollte er sich jenen ergeben, die ihn vor die Inquisition bringen wollten? Wenn sie versuchten, ihn zu verhaften, konnte er sich mit seinem Schwert vielleicht gegen sie verteidigen, und falls er dabei umkam, war das immer noch besser als der Tod in den Flammen.

Aber einer der Reiter beugte sich respektvoll zu ihm hinab.

»Senor Callico, der alguacil bittet Euch, uns unverzüglich zum Gefängnis von Saragossa zu begleiten, denn dort werden Eure Fähigkeiten als Arzt benötigt.«

»Inwiefern?« fragte Jona, alles andere als überzeugt.

»Ein Jude hat versucht, sich seinen Pimmel abzuschneiden«, erwiderte der Soldat unverblümt, und sein Begleiter kicherte.

»Wie heißt der Jude?«

»Bartolome.«

Es war ein Schlag, der Jona fast körperlich traf. Er erinnerte sich an das wunderschöne Haus, an den aristokratischen Mann, mit dem er sich in dem prächtigen Arbeitszimmer voller Karten und Skizzen so geistreich unterhalten hatte.»Don Berenguer Bartolome? Der Kartograph?«

Der Soldat zuckte die Achseln, doch sein Begleiter nickte und spuckte aus.

»Genau der«, sagte er.

Im Gefängnis saß hinter einem Tisch ein Priester in schwarzer Soutane, der wahrscheinlich die Aufgabe hatte, die Namen all derer zu notieren, die Gefangene besuchen wollten.

»Wir haben den Arzt gebracht«, sagte der Soldat.

Der Priester nickte. »Don Berenguer hat seinen Wasserbecher zerbrochen und sich mit einer Scherbe selbst beschnitten«, er-klärte er Jona und bedeutete der Wache, die äußere Tür zu öffnen. Der Soldat führte Jona einen Gang entlang zu einer Zelle, in der Berenguer auf dem Boden lag. Er schloß die Tür auf, ließ Jona eintreten und verschloß sie dann wieder.

»Wenn Ihr fertig seid, ruft nach mir, und ich lasse Euch wieder heraus«, sagte er und ging davon.

Berenguers Hose war steif vor Blut. Ein Ehrenmann und ein Abkömmling von Ehrenmännern, dachte Jona, ein geachteter Bürger, dessen Großvater die Küste Spaniens kartographiert hatte. Nach Blut und Urin stinkend, lag er auf dem Zellenboden.

»Es tut mir leid, Don Berenguer.«

Berenguer nickte. Er stöhnte, als Jona ihm die Hose öffnete und auszog.

Jona hatte immer eine Flasche mit starkem Schnaps in seiner Arzttasche. Berenguer nahm sie gierig an und trank unaufgefordert in großen Schlucken.

Der Penis sah entsetzlich aus. Jona erkannte, daß Berenguer einen Großteil der Vorhaut abgeschnitten hatte, Reste waren jedoch noch vorhanden, und die Schnittränder waren stark ausgefranst. Er wunderte sich, daß Berenguer es mit nichts als einer Scherbe überhaupt geschafft hatte. Er wußte, daß die Schmerzen sehr schlimm sein mußten, und es tat ihm leid, ihm noch mehr zuzufügen, holte aber dennoch ein Skalpell aus der Tasche, stutzte die ausgefransten Ränder zurecht und beendete die Beschneidung. Der Mann auf dem Boden stöhnte und trank gierig den letzten Schluck aus der Flasche.

Danach lag er schwer atmend am Boden, während Jona eine lindernde Salbe auftrug und einen lockeren Verband anlegte.

»Zieht die Hose nicht wieder an. Wenn Euch kalt ist, deckt Euch zu, haltet aber die Decke mit den Händen von Euch entfernt.«

Die beiden sahen sich an.

»Warum habt Ihr das getan? Was bringt es Euch?«

»Das würdet Ihr nicht verstehen«, sagte Don Berenguer.

Jona seufzte und nickte. »Ich komme morgen wieder, wenn man es mir erlaubt. Habt Ihr irgendeinen Wunsch?«

»...Wenn Ihr meiner Mutter ein wenig Obst bringen könntet... «

Jona war entsetzt. »Dona Sancha Berga ist hier?«

Berenguer nickte. »Wir alle. Meine Mutter. Meine Schwester Monica und ihr Gatte Andres, und mein Bruder Geraldo.«

»Ich werde tun, was ich kann«, erwiderte Jona betroffen und rief die Wache, damit sie ihm die Zelle aufsperre.

In der Eingangshalle, bevor Jona sich nach dem Zustand der anderen Mitglieder der Familie Berenguer erkundigen konnte, fragte ihn der Priester, ob er auch nach Dona Sancha sehen könne. »Sie braucht dringend einen Arzt«, sagte der Priester. Er schien ein anständiger junger Mann zu sein, der sich Sorgen machte.

Als Jona zu Dona Sancha gebracht wurde, sah er die schöne alte Frau auf ihrem Lager liegen wie eine geknickte Blume. Sie starrte ihn blicklos an, und er erkannte, daß ihre catarata gereift waren, beinahe so weit fortgeschritten, daß eine Operation angebracht wäre, aber Jona wußte, daß er den Star in diesen Augen nie stechen würde.

»Hier ist Callico, der Arzt, Senora«, sagte er sanft.

»... Ich bin... verletzt, Senor.«

»Wie seid Ihr zu diesen Verletzungen gekommen, Senora?«

»...Man hat mich auf das Streckbett gespannt.«

Er sah, daß die Folter ihr die rechte Schulter ausgekugelt hatte, und er mußte zwei Wachen zu Hilfe rufen, um sie ihr wieder einzurenken. Während der Prozedur schrie sie leise, und danach konnte sie nicht aufhören zu weinen.

»Senora. Ist die Schulter jetzt nicht besser?«

»Ich habe meine schönen Kinder ins Verderben gestürzt«, flüsterte sie.

»Wie geht es ihr?« fragte der Priester.

»Sie ist alt, ihre Knochen sind weich und spröde. Ich bin mir sicher, daß sie vielfache Brüche hat. Ich glaube, sie stirbt«, erwiderte Jona. Voller Verzweiflung ritt er vom Gefängnis nach Hause.

Als er am nächsten Tag mit Rosinen, Datteln und Feigen zurückkehrte, mußte er feststellen, daß Don Berenguer noch immer an starken Schmerzen litt.

»Wie geht es meiner Mutter?«

»Ich tue für sie, was ich kann.«

Berenguer nickte. »Ich danke Euch.«

»Wie ist es zu all dem gekommen?«

»Wir sind Alte Christen und haben das auch immer kundgetan. Die katholische Familie meines Vaters reicht weit zurück. Die Eltern meiner Mutter waren konvertierte Juden, und sie wuchs mit gewissen harmlosen Ritualen auf, die auch bei uns eine Familientradition wurden. Sie erzählte uns Geschichten aus ihrer Kindheit und zündete jeden Freitag bei Einbruch der Dämmerung Kerzen an. Ich weiß nicht genau, warum, vielleicht im Andenken an ihre Verstorbenen. Und jede Woche versammelte sie an diesem Abend ihre Kinder zu einem reichhaltigen Mahl, mit Dankgebeten für die Speise und den Wein.«

Jona nickte.

»Irgend jemand hat sie angezeigt. Sie hatte keine Feinde, aber... kürzlich mußte sie eine Dienerin wegen wiederholter Trunkenheit entlassen. Es ist möglich, daß diese Küchenmagd Urheberin all unserer Schwierigkeiten ist.

Ich mußte mir die Schreie meiner Mutter anhören, während man sie folterte. Könnt Ihr Euch dieses Grauen vorstellen? Danach sagten mir die Männer, die mich verhörten, daß meine Mutter schließlich uns alle, meine Brüder und Schwestern - und sogar unseren seligen Vater - des heimlichen Judaisierens beschuldigt habe.

Ich wußte also, daß wir verloren sind, jeder einzelne von uns. Meine Familie, die immer in dem Bewußtsein gelebt hat, Alte Christen zu sein. Und doch ist ein Teil von uns jüdisch, so daß wir weder ganz katholisch noch ganz jüdisch waren, so als würden wir zwischen zwei Ufern treiben. In meiner Verzweiflung wuchs in mir die Überzeugung, daß ich, wenn ich schon als Jude auf dem Scheiterhaufen verbrannt würde, als Jude vor meinen Schöpfer treten sollte, und so habe ich meinen Trinkbecher zerbrochen und mich mit einer Scherbe beschnitten.

Ich weiß, daß Ihr das nicht verstehen könnt«, sagte er zu Jona, wie schon am Abend zuvor.

»Ihr irrt Euch, Don Berenguer«, erwiderte Jona. »Ich verstehe Euch sehr gut.«

Als Jona das Gefängnis verließ, hörte er eine Wache mit dem jungen Priester sprechen. »Ja, Padre Espina«, sagte der Mann.

Jona drehte sich um und kehrte zu dem Priester zurück.

»Padre«, sagte er. »Hat er Euch Espina genannt?«

»So heiße ich.«

»Darf ich Euch nach Eurem vollen Namen fragen?«

»Ich bin Francisco Espina.«

»Ist Eure Mutter zufällig Estrella de Aranda?«

»Estrella de Aranda war meine Mutter. Sie ist nicht mehr. Ich bete für ihre Seele.« Er starrte Jona an. »Kenne ich Euch, Senor Medicus?«

»Wurdet Ihr in Toledo geboren?«

»Ja«, erwiderte der Priester zögernd.

»Ich habe etwas, das Euch gehört«, sagte Jona zu ihm.

7. KAPITEL EINE ERFÜLLTE PFLICHT

Als Jona das Gebetbuch zum Gefängnis brachte, führte der junge Priester ihn einen feuchten Steinkorridor entlang in eine kleine Kammer, wo sie sich unbeobachtet unterhalten konnten. Er nahm das Gebetbuch entgegen, als wäre es verhext. Jona sah zu, wie er es aufschlug und las, was hinter dem Deckblatt geschrieben stand.

Für meinen Sohn Francisco Espina diese Worte des täglichen Gebets zu Jesus Christus, unserem himmlischen Retter, mit der unsterblichen Liebe seines irdischen Vaters. Bernardo Espina.

»Was für eine merkwürdige Widmung von einem verurteilten Ketzer!«

»Euer Vater war kein Ketzer!«

»Mein Vater war ein Ketzer, Senor, und brannte dafür auf dem Scheiterhaufen. In Ciudad Real. Es geschah, als ich noch ein Kind war, aber ich weiß darüber Bescheid. Ich kenne seine Geschichte.«

»Dann kennt Ihr sie falsch, und vor allem nicht ganz, Padre Espina. Ich war dort, in Ciudad Real. Ich habe Euren Vater vor seinem Tod jeden Tag gesehen. Als ich ihn kennenlernte, war ich noch ein Knabe und er ein Mann, ein sehr fähiger und mitfühlender Arzt. Da ihm der Tod bevorstand und er sonst keinen Freund mehr in seiner Nähe hatte, bat er mich, dieses Gebetbuch seinem Sohn zu bringen. Ich habe Euch all diese Jahre gesucht.«

»Wißt Ihr sicher, was Ihr da sagt, Senor?«

»Vollkommen, Euer Vater war unschuldig in allem, weswegen er hingerichtet wurde.«

»Seid Ihr Euch dessen gewiß?« fragte der Priester mit leiser Stimme.

»Ganz gewiß, Padre Espina. Er las seine täglichen Gebete aus diesem Buch, fast bis zu dem Augenblick seiner Hinrichtung. Als er für Euch diese Widmung schrieb, vermachte er Euch seinen Glauben.«

Padre Espina schien jemand zu sein, der es gewohnt war, seine Gefühle zu beherrschen, nun aber verriet ihn seine Blässe. »Ich wurde von der Kirche großgezogen. Mein Vater war die Schande meines Lebens. Man hat mich mit dem Gesicht in seine angebliche Abtrünnigkeit gestoßen, wie man einem jungen Hund die Schnauze in die eigene Pisse stößt, damit dergleichen nie wieder passiert.«

Sehr ähnlich sieht er seinem Vater nicht, dachte Jona, nur die Augen sind die von Bernardo Espina. »Euer Vater war der gläubigste und standhafteste Christ, den ich je gekannt habe, und ich kann mich an kaum einen besseren Mann erinnern«, sagte er zu dem jungen Priester.

Sie saßen lange da und unterhielten sich mit leisen, ruhigen Stimmen. Padre Espina berichtete, daß seine Mutter Estrella de Aranda nach der Hinrichtung seines Vaters in den Convento de la Santa Cruz gegangen sei, um Nonne zu werden, und ihre drei Kinder in die Obhut der Familien ihrer Vettern und Basen in Es-calona gegeben habe. Binnen eines Jahres sei sie an einem bösartigen Fieber gestorben, und als ihr Sohn zehn Jahre alt war, hätten seine Verwandten ihn den Dominikanern übergeben, und seine Schwestern, Marta und Domitila, hätten den Schleier genommen. Alle drei seien in den weiten Gefilden der Kirche verschwunden.

»Ich habe meine Schwestern seit der Zeit bei unseren Verwandten in Escalona nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, wo Domitila sich aufhält und ob sie noch lebt. Daß Marta in einem Konvent in Madrid ist, habe ich vor zwei Jahren erfahren. Ich träume davon, sie eines Tages zu besuchen.«

Jona erzählte auch ein wenig über sich selbst. Er berichtete ihm, daß er nach seiner Zeit als Gefängnisjunge in Ciudad Real Lehrling gewesen sei, zuerst bei dem Waffenschmied Manuel Fierro und dann bei dem Arzt Nuno Fierro, worauf er schließlich zum Medicus von Saragossa geworden sei.

Wenn er dem jungen Priester gewisse Dinge verschwieg, dann nur, weil er spürte, daß es auch Dinge gab, über die Padre Espina sich nicht frei zu sprechen gestattete. Doch Jona erfuhr, daß er nur vorübergehend zur Inquisition versetzt worden sei und für ihr Tun wenig übrig habe.

Erst vor acht Monaten sei er zum Priester geweiht worden. »Ich werde in ein paar Tagen von hier weggehen. Einer meiner Lehrer, Padre Enrique Sagasta, wurde zum Weihbischof von Toledo ernannt. Er hat mich zu seinem Helfer erkoren. Er ist ein berühmter katholischer Gelehrter und Historiker und fördert mich in meinem Wunsch, ihm nachzufolgen. So werde ich ebenfalls zum Lehrling, wie Ihr einer wart.«

»Euer Vater wäre stolz auf Euch, Padre Espina.«

»Ich kann Euch nicht genug danken, Senor. Ihr habt mir meinen Vater zurückgegeben.«

»Darf ich morgen wiederkommen, um meine Patienten zu besuchen?«

Padre Espina war sichtlich verlegen. Jona wußte, daß er nicht undankbar erscheinen wollte, jedoch auch nicht zuviel gestatten konnte, ohne sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen. »Ihr könnt morgens noch einmal kommen. Aber ich muß Euch warnen, es kann gut der letzte Besuch sein, der Euch gestattet wird.«

Als er am nächsten Morgen wiederkehrte, erfuhr er, daß Dona Sancha Berga in der Nacht gestorben war.

Don Berenguer nahm die Nachricht vom Tod seiner Mutter gelassen auf. »Ich bin froh, daß sie frei ist«, sagte er.

Den überlebenden Familienmitgliedern hatte man an diesem Morgen mitgeteilt, daß sie rechtskräftig wegen Ketzerei verurteilt waren und man sie demnächst bei einem Autodafe hinrichten würde. Jona wußte, es gab keine taktvolle Art, über das zu sprechen, was seine Seele belastete.

»Don Berenguer, Verbrennen ist die schlimmste Art zu sterben.«

Sie sahen sich an und wußten beide, was es bedeutete: schreckliche, lang dauernde Schmerzen, verkohlendes Fleisch, kochendes Blut.

»Warum sagt Ihr mir etwas so Grausames? Glaubt Ihr, ich weiß das nicht?«

»Es gibt eine Möglichkeit, dem zu entkommen. Ihr müßt Euch wieder mit der Kirche versöhnen.«

Berenguer schaute ihn an und sah einen vorwufsvollen Christen, den er zuvor noch nicht gekannt hatte. »Muß ich das wirklich, Senor?« fragte er kalt. »Es ist zu spät. Das Urteil ist in Erz gegossen.«

»Zu spät, um Euer Leben zu retten, aber nicht zu spät, um Euch ein schnelles Ende durch die Garrotte zu erkaufen.«

»Glaubt Ihr, ich habe mir nur aus einer Laune heraus ins Fleisch geschnitten und mich an den Glauben meiner Mutter gebunden, nur um ihm gleich wieder zu entsagen? Habe ich Euch nicht von meiner Entschlossenheit erzählt, als Jude zu sterben?«

»Ihr könnt in Eurem Herzen als Jude sterben. Ihr braucht ihnen nur zu sagen, daß Ihr bereut, und könnt Euch so Erleichterung erkaufen. Ihr seid auf ewig Jude, weil nach dem jüdischen Gesetz der Glaube von der Mutter an das Kind weitergeben wird. Wie Eure Mutter von einer jüdischen Mutter geboren wurde, so auch Ihr. Keine Erklärung kann das ändern. Nach dem uralten Gesetz Moses seid Ihr ein Jude, und indem Ihr sagt, was sie hören wollen, erkauft Ihr Euch nur eine schnelle Erdrosselung und entgeht der Qual eines langsamen und schrecklichen Todes.«

Berenguer schloß die Augen. »Und doch wäre es der Weg eines Feiglings, der mich des letzten edlen Augenblicks, der einzigen Befriedigung, die ich in meinem Sterben finden kann, berauben würde.«

»Nein, feige wäre es nicht. Die meisten Rabbis sind der Ansicht, daß es keine Sünde ist, wenn man unter Zwang konvertiert.«

»Was wißt Ihr denn von Rabbis und dem mosaischen Gesetz?« Berenguer starrte ihn an. Jona sah in den Augen des anderen Mannes, wie ihm die Erkenntnis dämmerte.

»Mein Gott«, sagte Berenguer.

»Könnt Ihr Euch mit den anderen Mitgliedern Eurer Familie in Verbindung setzen?«

»Manchmal führt man uns zur gleichen Zeit in den Hof. Dort ist es möglich, ein paar Worte zu wechseln.«

»Ihr müßt ihnen sagen, daß sie Jesus suchen sollen, um die Gnade eines schnelleren Todes zu erlangen.«

»Meine Schwester Monica und ihr Mann Andres sind fromme Christen. Ich werde meinem Bruder Geraldo raten zu tun, was Ihr vorschlagt.«

»Man wird mir nicht mehr gestatten, Euch noch einmal zu besuchen.« Jona ging zu Berenguer, umarmte ihn und küßte ihn auf beide Wangen.

»Auf daß wir uns an einem glücklicheren Ort wiedersehen«, sagte Don Berenguer. »Gehet in Frieden.«

»Der Friede sei mit Euch«, erwiderte Jona und rief die Wache.

An diesem Mittwochabend, mitten in einem Spiel, das Jona gewann, verließ Fray Bonestruca das Brett und begann, vor seinen

Kindern herumzutollen. Eine Weile wirkte es recht bezaubernd. Bonestruca schnitt Grimassen und gab leise, fröhliche Geräusche von sich, während er hin und her hüpfte. Seine Kinder lachten und deuteten auf ihn, und Dionisio lief zu seinem kaspernden Vater und warf eine kleine Holzkugel nach ihm.

Der Mönch alberte immer weiter. Sein Grinsen verschwand, die Geräusche klangen weniger fröhlich, dafür immer kehliger, doch er hüpfte und tollte weiter. Sein Gesicht wurde rosig vor Anstrengung und dann dunkel und verzerrt, aber die große Gestalt tanzte und wirbelte herum, die schwarze Kutte wehte, der Buckel hüpfte, und das Gesicht wurde häßlich vor Zorn.

Die Kinder verstummten und sahen verängstigt drein. Sie flohen vor ihm, starrten ihn mit weit aufgerissenen Augen an, und das Mädchen Hortensia öffnete den Mund wie zu einem tonlosen Schrei. Maria Juana, ihre Mutter, sprach leise mit ihnen und führte sie aus dem Zimmer. Jona wäre am liebsten auch gegangen, doch er konnte es nicht. Er saß am Tisch und sah zu, wie der schreckliche Tanz allmählich langsamer wurde. Schließlich hörte er ganz auf, und Bonestruca sank vor Erschöpfung auf die Knie.

Kurz darauf kam Maria Juana zurück. Sie wischte dem Mönch mit einem feuchten Tuch das Gesicht und ging wieder hinaus, um Wein zu holen. Bonestruca trank zwei Gläser und ließ sich dann von ihr zurück zu seinem Stuhl fuhren.

Es dauerte eine Weile, bis er den Kopf hob. »Manchmal überkommen mich solche Anfälle.«

»Verstehe«, sagte Jona.

»Ach wirklich? Und was genau versteht Ihr daran?«

»Nichts, Senor. Das ist nur eine Redensart.«

»Das ist mir auch schon in der Gesellschaft von Priestern und Mönchen geschehen, mit denen ich arbeite. Sie beobachten mich.«

Ist das nur die Einbildung des kranken Mannes? fragte sich Jona.

»Sie haben mich bis hierher verfolgt. Sie wissen von Maria Juana und den Kindern.«

Das dürfte stimmen, dachte Jona. »Was werden sie tun?«

Bonestruca zuckte die Achseln. »Ich vermute, sie warten, um zu sehen, ob diese Anfälle nur etwas Vorübergehendes sind.« Mit einem Stirnrunzeln sah er Jona an. »Was meint Ihr, was die Ursache ist?«

Es war eine Form des Wahnsinns. Das dachte sich Jona, konnte es aber nicht sagen. Nuno hatte ihm einmal bei einem Gespräch über Geisteskrankheiten gesagt, daß er in der Krankengeschichte der Patienten, die er behandelt hatte, eine Gemeinsamkeit entdeckt habe. Die Gemeinsamkeit bestand darin, daß die Betroffenen in ihrer Jugend am malum venereum gelitten hatten und erst Jahre später dem Wahnsinn anheimgefallen waren. Nuno hatte diese Beobachtungen nicht zu einer Theorie verfestigt, sie waren ihm aber doch so bedeutsam erschienen, daß er sie an seinen Lehrling weitergegeben hatte, und jetzt fielen sie Jona wieder ein.

»Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber... vielleicht hat es mit der Lues zu tun.«

»Die Lues, also wirklich. Ihr täuscht Euch, Arzt, denn ich hatte seit Jahren keine Lues mehr. Es ist der Satan, der mit mir um meine Seele streiten will. Es ist eine mühselige Arbeit, mit dem Teufel zu kämpfen, aber bis jetzt habe ich den Erzfeind jedesmal in die Flucht geschlagen.«

Jona war sprachlos, aber eine Erwiderung war auch nicht nötig, denn Bonestruca wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Damebrett zu. »Wart Ihr an der Reihe, um mit Euren Soldaten einen Schlag zu führen, oder ich?«

»Ihr, Senor«, antwortete Jona.

Er war verwirrt und spielte den Rest des Abends schlecht, während Bonestruca erfrischt und wieder völlig klar im Kopf zu sein schien. Der Mönch beendete das Spiel in kurzer Zeit und war fröhlich und zufrieden mit seinem Sieg.

Trotz Padre Espinas Warnung ging Jona am folgenden Tag noch einmal zum Gefängnis und versuchte, Don Berenguer zu sehen, aber auf Espinas Platz saß ein alter Priester, der ihn nur ansah, den Kopf schüttelte und ihn wieder wegschickte.

Das Autodafe fand sechs Tage später statt. Am Morgen vor den Hinrichtungen verließ der Medicus Ramon Callico die Stadt und ritt eine weite Strecke, um Patienten am Rande des Bezirks zu besuchen, eine Reise, die ihn über mehrere Tage von zu Hause wegführte.

Er befürchtete, daß er diesmal zu weit gegangen war und Be-renguer unter der Folter vielleicht den Namen eines weiteren Judaisierers in Saragossa preisgab, doch nichts dergleichen geschah. Als Jona nach Saragossa zurückkehrte, gab es einige unter seinen Patienten, die ihm nur zu bereitwillig und in allen Einzelheiten von diesem Akt des Glaubens berichteten, der wie immer sehr gut besucht gewesen war. Jedes Mitglied der Familie Bartolome war im Stand der Gnade gestorben, alle hatten das Kreuz geküßt, das man ihnen hinhielt. Und dann waren sie vor Entzünden des Scheiterhaufens erdrosselt worden, mit ein paar schnellen Umdrehungen der Schraube, welche die Garrotte spannte.

8. KAPITEL DAMESPIELE

Als Jona das nächste Mal zum Damespielen in die finca am Fluß kam, sah er, daß Maria Juana einen großen, dunklen Fleck unter ihrem geschwollenen rechten Auge und auf einem Großteil der Wange hatte, und bemerkte auch einige Blutergüsse auf den Armen des kleinen Mädchens Hortensia.

Bonestruca begrüßte ihn mit einem Nicken und sprach nur wenig. Während des ersten Spiels war er noch ganz bei der Sache, so daß er es nach hartem Kampf gewinnen konnte. Beim zweiten Spiel wirkte er mürrisch und spielte schlecht, und bald war offensichtlich, daß er es verloren hatte.

Als die kleine Filomena zu schreien anfing, sprang Bonestruca auf. »Ich will Ruhe!«

Maria Juana nahm den Säugling in den Arm und scheuchte die Kinder hastig ins andere Zimmer. Nun spielten die Männer in einer Stille, die nur vom Klappern der Steine auf dem Brett unterbrochen wurde.

Während des dritten Spiels brachte Maria Juana ihnen einen Teller mit Datteln und füllte ihre Weingläser nach.

Bonestruca starrte sie mißmutig an, bis sie das Zimmer verließ. Dann wandte er sich Jona zu. »Wo wohnt Ihr gleich wieder?«

Als Jona es ihm sagte, nickte er. »Dann wollen wir nächste Woche dort Dame spielen. Ist Euch das recht?«

»Ja, natürlich«, sagte Jona.

Reyna war das alles andere als recht. Sie erkannte den Besucher sofort, als er an der Haustür erschien. Jeder in Saragossa kannte den buckligen Mönch und wußte, was er war.

Sie ließ ihn ein, bot ihm einen Sessel an und meldete dann Jona den Besucher. Als sie den beiden Wein und Erfrischungen brachte, hielt sie den Blick gesenkt und zog sich so schnell wie möglich wieder zurück.

Es war offensichtlich, daß Jonas Umgang mit Bonestruca ihr angst machte. Am nächsten Tag sah er die Verwirrung in ihrem Gesicht, aber sie stellte ihm keine Fragen. Wie immer war sie sich ihrer Rolle völlig im klaren - es war sein Haus, und sie war seine Dienstmagd an jedem Ort, außer im Bett. Aber eine Woche später ging sie für drei Tage in ihr Dorf, und als sie zurückkehrte, sagte sie ihm, daß sie sich ein eigenes Haus gekauft habe und ihn verlassen werde.

»Wann?« fragte Jona bestürzt.

»Ich weiß es noch nicht. Bald.«

»Und warum?«

»Um nach Hause zurückzukehren. Das Geld, das Nuno mir hinterlassen hat, hat mich nach den Maßstäben meines Dorfes zu einer sehr reichen Frau gemacht.«

»Du wirst mir fehlen«, sagte er aufrichtig.

»Aber nicht sehr. Ich bin für dich doch nur eine Annehmlichkeit.« Als er Einspruch erheben wollte, hob sie die Hand. »Jona. Ich bin alt genug, um deine Mutter zu sein. Es ist schön, deine Zärtlichkeit zu spüren, wenn wir das Bett teilen, aber viel öfters sehe ich in dir einen Sohn oder einen Neffen, den ich sehr mag.«

Er brauche sich keine Sorgen zu machen, sagte sie ihm. »Ich werde dir ein starkes Mädchen schicken, das mich ersetzt, ein junges Mädchen, das ordentlich zupacken kann.«

Zehn Tage später kam ein Junge aus Reynas Dorf mit einem Eselskarren zu Jonas Haus und half ihr beim Aufladen. Die weni-gen Habseligkeiten, die sie während ihrer Arbeit für drei Herren angesammelt hatte, paßten problemlos auf den kleinen Karren.

»Reyna. Bist du sicher, daß du das tun willst?« fragte Jona, und sie erwiderte mit einer Geste, die das Verhältnis zwischen Herr und Dienerin, unter dem sie gelebt hatten, sprengte. Sie strich ihm mit warmer Hand über die Wange, und der Blick, den sie ihm schenkte, enthielt Zärtlichkeit und Ehrerbietung, aber auch einen unmißverständlichen Abschied.

Als sie weg war, herrschte Stille in allen Räumen, und für Jona wirkte das Haus plötzlich leer und leblos.

Er hatte vergessen, wie bitter Einsamkeit schmeckte. Er stürzte sich in die Arbeit, ritt immer größere Strecken, um sich um die zu kümmern, die ihn brauchten, und blieb länger als nötig in den Häusern seiner Patienten, nur um unter Menschen zu sein. Mit Krämern unterhielt er sich ausführlich über ihr Geschäft und mit Bauern über ihre Ernte. Auf seinem eigenen Land stutzte er ein weiteres Dutzend der alten Olivenbäume. Auch brachte er mehr Zeit als bisher mit der Übersetzung des Avicenna zu; einen großen Teil des Kanons der Medizin hatte er bereits übertragen, und dies machte ihn stolz und spornte ihn an.

Reyna hielt Wort und schickte ihm eine junge Frau namens Carla Montesa, die ihm als Haushälterin dienen sollte. Sie war ein stämmiges Mädchen, das gerne arbeitete und ihm das Haus sauberhielt, aber sie redete kaum, und ihm schmeckte nicht, was sie kochte. Nach einigen Wochen schickte er sie wieder weg. Als Ersatz schickte Reyna ihm nun Petronila Alvarez, eine Witwe mit Gesichtswarzen; sie kochte zwar gut, lenkte ihn aber ab, weil sie zuviel redete, und er behielt sie nur vier Tage.

Danach schickte Reyna niemanden mehr.

Bald war es soweit, daß er seine allwöchentlichen Spielschlachten mit Bonestruca am Damebrett fürchtete, denn er wußte nie, ob der Mönch ihm als scharfsinniger Gegner entgegentreten würde oder als übellauniger Mann, dem Vernunft und Seelenruhe immer mehr entglitten.

Eines Mittwoch abends empfing ihn Maria Juana an der Tür der finca und führte ihn in das hintere Zimmer, wo Bonestruca am Tisch saß, vor sich einen Stapel alter Schriften und nicht das Damebrett. Der Mönch betrachtete sein Gesicht in einem Handspiegel.

Anfangs ließ Bonestruca Jonas Gruß unbeantwortet. Dann fragte er, den Blick noch immer auf den Spiegel gerichtet: »Seht Ihr Böses, wenn Ihr mich anschaut, Arzt?«

Jona wählte seine Antwort mit Bedacht: »Ich sehe ein sehr schönes Gesicht.«

»Ebenmäßige Züge, würdet Ihr sagen?«

»Höchst wohlgeformt, Senor.«

»Das Gesicht eines gerechten Mannes?«

»Ein Gesicht, das erstaunlich unschuldig ist, als hätten ihm die Jahre nichts anhaben können.«

»Kennt Ihr das lange Gedicht mit dem Titel Die göttliche Komödie von dem Florentiner Dante Alighieri?«

»Nein, Senor.«

»Schade.« Bonestruca nahm eins der zerfledderten Blätter vom Tisch und begann zu lesen:

»Hütt' ein Gesicht wie Biedermanns Gesicht, gar gütig anzu-schaun, von zarter Haut, der überige Leib war eine Schlange. Zwei Tatzen hatt' es, haarig bis zur Achsel, auf Brust und Kücken und an beiden Seiten war's ganz bemalt mit Knoten und mit Ringlein... «

Nun sah er Jona an. »Das ist aus dem ersten Teil des Gedichts mit dem Titel >Inferno<. Die Beschreibung eines entstellten und abscheulichen Ungeheuers aus den tiefsten Kreisen der Hölle.«

Jona wußte nicht, was er antworten sollte. Er meinte sich zu erinnern, daß dieser Florentiner Dichter schon lange tot war, denn sonst hätte er sich vielleicht gefragt, ob Dante diesen Mönch gekannt hatte.

Bonestruca starrte weiter in den Spiegel.

»Soll ich das Brett holen und die Steine aufstellen?« fragte Jona und ging zum Tisch. Dabei sah er die Rückseite des Spiegels und erkannte, daß er aus Silber war, wenn auch stark angelaufen. Am unteren Ende des Handgriffs entdeckte er das Zeichen des Silberschmieds: HT. Und wußte sofort, daß es einer der Spiegel war, die sein Vater für den Grafen von Tembleque angefertigt hatte.

»Fray Bonestruca«, sagte er und hörte dabei die verräterische Spannung in seiner Stimme, doch Bonestruca schien sie nicht zu bemerken. Seine Augen waren auf das Spiegelbild gerichtet, doch blicklos, wie die eines Blinden oder eines Menschen, der mit offenen Augen schlief.

Mit einer Hast, die er nicht zügeln konnte, griff Jona nach diesem Stück, das sein Vater angefertigt hatte. Doch als er es Bone-struca aus der Hand zu nehmen versuchte, merkte er, daß dessen Finger steif und unbeweglich waren. Er bemühte sich, den Spiegel dem Griff des Mönchs zu entwinden, bis ihm plötzlich der Gedanke kam, daß Bonestruca den Wahnsinn vielleicht nur vorschützte und alles mitbekam. Entsetzt verließ er ihn und stürzte zur Tür.

»Senor?« frage Maria Juana, als er das vordere Zimmer betrat, doch in seiner Verwirrung eilte er an ihr vorbei und floh aus der

finca.

Als er am folgenden Nachmittag nach den Patientenbesuchen zu seinem Haus zurückritt, wartete Maria Juana vor der Scheune auf ihn. Sie saß in dem Schatten, den ihr angebundener Esel warf, und stillte ihr Kleines.

Er lud sie ins Haus ein, doch sie lehnte ab, weil sie zu ihren anderen Kindern zurückkehren müsse, wie sie sagte. »Was soll ich nur mit ihm tun?« fragte sie.

Jona konnte nur den Kopf schütteln. Die Frau erfüllte ihn mit großem Mitleid. Er stellte sich vor, wie sie einmal gewesen sein mußte, ein törichtes Mädchen vielleicht, jünger und hübscher. Hatte Bonestruca ihr die Angst vor ihm genommen und sie verführt? War sie beim ersten Mal geschändet worden? Oder war sie eine ruchlose Dirne gewesen, die es vielleicht höchst unterhaltsam fand, sich mit einem so merkwürdigen Geistlichen niederzulegen, ohne zu wissen, was für ein Leben ihr bevorstand?

»Er wird immer unberechenbarer.«

»Wann hat das angefangen?«

»Vor einigen Jahren. Es wird immer schlimmer. Was ist die Ursache?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht hat es etwas mit der Lues zu tun, die er lange hatte.«

»Er hat seit vielen Jahren nicht mehr an der Lues gelitten.«

»Ich weiß, aber das ist das Wesen dieser Krankheit. Vielleicht leidet er jetzt wieder an ihr.«

»Kann man denn nichts tun?«

»Um Euch die Wahrheit zu sagen, Senora, ich weiß weder etwas über die Ursache eines gestörten Geistes, noch kann ich Euch an einen Kollegen verweisen, der in der Behandlung dieser Krankheit beschlagener ist. Der Wahnsinn ist für uns Geheimnis und Magie... Wie lange saß er gestern abend noch bewegungslos vor dem Spiegel?«

»Sehr lange, bis kurz vor Mitternacht. Ich gab ihm dann heißen Wein, und er trank ihn und fiel ins Bett und schlief sofort ein.«

Jona selbst hatte schlecht geschlafen, nachdem er noch lange wach gesessen und beim Kerzenschein über den Wahnsinn gelesen hatte. Im Jahr zuvor hatte er das Einkommen von zwei Monaten darangegeben, um die medizinische Bibliothek, die Nuno hinterlassen hatte, um ein Traktat mit dem Titel De Parte Opera-tiva zu erweitern. Darin schrieb Arnau de Vilanova, daß es zu

Wahnsinn komme, wenn ein Übermaß an Galle trockne und das Hirn erhitze, was Ruhelosigkeit, Geschrei und Angriffslust zur Folge habe. »Wenn Fray Bonestruca... sich aufregt, müßt Ihr ihm einen Aufguß aus Tamarinde und Borretsch in kaltem Wasser geben.« Für Zeiten wie am Abend zuvor, als Bonestruca wie betäubt gewesen war -Vilanova sagte, die Franzosen nannten solche Anfälle folie pamlytique-, gab Avicenna an, daß der Patient gewärmt werden müsse, und Jona verschrieb gemahlenen Paprika vermischt mit heißem Wein.

Maria Juana war verzweifelt. »In letzter Zeit verhält er sich so merkwürdig. Er ist fähig zu... unbesonnenen Handlungen. Ich fürchte um unsere Zukunft.«

Es war ein hartes Leben für diese Frau und ihre Kinder, die so abhängig waren von dem buckligen Mönch. Jona schrieb ihr das Rezept aus und hieß sie, damit zu Fray Medinas Apotheke zu gehen. Und während er sein Pferd absattelte, sah er ihr nach, wie sie auf ihrem Esel davonritt.

Er hätte gern ein paar Tage gewartet, bevor er zu der finca zurückkehrte, doch er ging schon am nächsten Morgen wieder hin, weil er um die Frau und ihre Kinder fürchtete.

Doch als er ankam, saß Bonestruca untätig im hinteren Zimmer des Hauses. Maria Juana flüsterte ihm zu, daß er geweint habe. Der Mönch erwiderte Jonas Gruß mit einem Nicken.

»Wie geht es Euch heute, Fray Bonestruca?«

»... Schlecht. Wenn ich scheiße, brennt es wie Feuer.«

»Das kommt von dem Tonikum, das ich verschrieben habe. Das Brennen vergeht wieder.«

»Wer seid Ihr?«

»Ich bin Callico, der Arzt. Erinnert Ihr Euch nicht an

mich?«

»... Nein.«

»Erinnert Ihr Euch an Euren Vater?«

Bonestruca sah ihn an.

»Eure Mutter?... Nun gut, macht nichts, Ihr werdet Euch schon wieder an sie erinnern. Seid Ihr traurig, Senor?«

»... Natürlich bin ich traurig. Ich war mein ganzes Leben lang traurig.«

»Aus welchem Grund?«

»Weil Er am Kreuze starb.«

»Das ist ein guter Grund, um traurig zu sein. Trauert Ihr vielleicht auch um andere, die getötet wurden?«

Der Mönch sah ihn an, antwortete aber nicht.

»Erinnert Ihr Euch an Toledo?«

»Toledo, j a... «

»Erinnert Ihr Euch an die plaza mayor? Die Kathedrale? Das Hochufer am Fluß?«

Bonestruca sah ihn schweigend an.

»Erinnert Ihr Euch, daß Ihr eines Nachts ausgeritten seid?«

Schweigen.

»Erinnert Ihr Euch, daß Ihr eines Nachts ausgeritten seid?« wiederholte Jona. »Und mit wem?«

Bonestruca sah ihn an.

»Wer war Euer Begleiter in dieser Nacht?«

Alles war still im Zimmer. Die Zeit verging.

»Tapia«, sagte Bonestruca.

Jona hatte den Namen deutlich gehört. »Tapia?« fragte er, aber Bonestruca versank wieder in Schweigen.

»Erinnert Ihr Euch an den Jungen, der das Ziborium zur Abtei brachte? Der Junge, der in den Olivenhain verschleppt und dort getötet wurde?«

Bonestruca wandte den Blick ab. Er redete zu sich selbst, so leise, daß Jona sich vorbeugen mußte, um ihn zu verstehen.

»Die sind überall, die Juden. Verflucht sollen sie sein«, flüsterte er.

Am nächsten Tag kam Maria Juana allein und völlig verstört zu Jona, auf ihrem Esel, der aussah, als wäre er mit der Peitsche geschlagen worden.

»Man hat ihn in das kleinere Gefängnis gebracht, wo die Verrückten und die Armen eingesperrt werden.«

Sie sagte, sie habe die Kinder bei einem Nachbarmädchen gelassen, und Jona befahl ihr, zu ihnen zurückzukehren. »Ich gehe zum Gefängnis und sehe nach, ob ich etwas für ihn tun kann«, sagte er und ging sofort in den Stall, um sein Pferd zu satteln.

Das Gefängnis für Arme und Verrückte war berüchtigt für ausgesprochen schlechtes und sehr wenig Essen, und so hielt er unterwegs an, um einen Laib Brot und zwei kleine Ziegenkäse zu kaufen. Das Herz wurde ihm schwer, als er das Gefängnis erreichte, denn der Ort war ein Angriff auf alle Sinne. Noch bevor er unter dem hochgezogenen Fallgitter des Tores hindurchging, überfiel ihn der entsetzliche Gestank - eine Essenz aus Kot und Schmutz - mit solcher Macht, daß sich ihm der Magen umdrehte, während die Kakophonie aus Schreien, Flüchen und Verwünschungen, Lachen und Klagen, Gebeten und Gebrabbel in den großen allgemeinen Lärm einging, wie Bäche, die zum Tosen eines mächtigen Stroms beitragen. Der Lärm eines Irrenhauses.

Der Inquisition war dieser Ort gleichgültig, und eine kleine Münze erkaufte ihm die Aufmerksamkeit des Wachpostens.

»Ich möchte zu Fray Bonestruca.«

»Na, dann schaut mal, ob Ihr ihn in diesem Haufen Menschheit findet«, erwiderte der Posten. Es war ein Mann mittleren Alters mit ausdruckslosen Augen und einem teigigen, pockennarbigen Gesicht. »Wenn Ihr mir das Essen gebt, sorge ich dafür, daß er es bekommt. Wenn Ihr es ihm gebt, ist es vergeudet. Dann stürzen sich die anderen auf ihn und nehmen es ihm weg.«

Als Jona den Kopf schüttelte, sah der Posten ihn böse an.

Es gab keine Zellen, nur eine Abtrennung aus den schweren Eisenstreben, aus denen auch das Fallgitter bestand. Auf der einen

Seite waren der Posten und Jona. Auf der anderen Seite befand sich eine weite offene Fläche, eine von Verlorenen bevölkerte Welt.

Jona stand am Gitter und starrte in den riesigen Käfig voller Leiber auf der anderen Seite. Wer die Mittellosen waren, konnte er nicht erkennen, denn alle, die er ansah, schienen wahnsinnig zu sein.

Schließlich entdeckte er den Mönch, der zusammengesunken an der hinteren Wand auf dem Lehmboden saß.

»Fray Bonestruca!«

Jona wiederholte den Namen mehrmals, doch seine Stimme ging in dem Tumult unter. Der Mönch hob nicht einmal den Kopf. Immerhin erregten seine Rufe die Aufmerksamkeit eines zerlumpten Mannes, der hungrig das Brot anstarrte. Jona brach ein Stück von dem Laib ab und streckte es durch das Gitter, wo es gepackt und sofort verschlungen wurde.

»Bring mir den Mönch«, sagte Jona und zeigte auf Bonestruca, »und du bekommst einen halben Laib.«

Der Mann ging sofort nach hinten, zerrte den sitzenden Bo-nestruca auf die Füße und führte ihn zu Jona an das Gitter. Jona gab dem Mann den versprochenen halben Laib, doch der entfernte sich nur ein paar Schritte und starrte gierig die übrigen Lebensmittel in Jonas Hand an.

Mehr und mehr Gefangene drängten sich heran.

Fray Bonestruca sah Jona an. Es war kein leeres Starren. Ein gewisses Maß an Vernunft lag in dem Blick, ein gewisses Maß an Verstehen und Grauen, aber kein Wiedererkennen. »Ich bin Cal-lico«, sagte Jona. »Erinnert Ihr Euch nicht, Ramon Callico, der Arzt?... Ich habe Euch ein paar Kleinigkeiten gebracht«, sagte er und reichte die beiden Käse durch das Gitter, die Bonestruca wortlos annahm.

»Fray Bonestruca. Ihr habt mir gesagt, daß Ihr des Nachts mit einem Begleiter namens Tapia ausgeritten seid. Was könnt Ihr mir sonst noch über Senor Tapia sagen?«

Bonestruca wandte den Blick ab, und Jona erkannte, daß es sinnlos war, weiter mit Fragen in ihn zu dringen.

»Ich kann nichts für Eure Freilassung tun, außer Ihr zeigt Euch wieder im Vollbesitz Eurer geistigen Kräfte«, fügte er noch hinzu, weil er sich dazu verpflichtet fühlte. Angesichts dessen, was er hier sah, roch und hörte, kam ihm diese Mitteilung nicht leicht über die Lippen, obwohl ein Teil von ihm diesen Bonestruca wegen seiner schrecklichen Verbrechen gegen die Familie Toledano und so viele andere immer hassen würde.

Er reichte den halben Laib Brot durch das Gitter; um ihn entgegenzunehmen, mußte Bonestruca die beiden Käse von der rechten in die linke Hand nehmen, und dabei fiel ihm einer zu Boden. Der zerlumpte Mann griff sofort danach, während ein nackter Junge Bonestruca das Brot aus der Hand riß. Nun faßten viele Hände nach dem Jungen; die Menge der Leiber wogte und zappelte, und Jona mußte an einen Fischschwarm im Meer denken, der sich wie rasend auf seine Beute stürzte.

Eine kahlköpfige alte Frau warf sich gegen das Gitter und griff mit dürrer Klaue nach Jonas Arm auf der Suche nach Essen, das er nicht mehr hatte. Und während der zurücksprang, um sich zu befreien, um dem Gestank und dem Grauen dieses verfluchten Ortes zu entfliehen, sah er, daß Bonestruca mit mächtiger Faust um sich schlug, bis der bucklige Mann alleine dastand, den Mund aufgerissen zu einem Schrei wölfischer Verzweiflung, halb Heulen und halb Brüllen, einem Schrei, der noch lange in Jonas Ohren widerhallte.

Er ritt zu der finca am Fluß und zwang sich dazu, Maria Juana seine Befürchtung mitzuteilen, daß Bonestrucas Wahnsinn sich eher verschlimmern als bessern würde. Sie hörte ihm tränenlos zu, hatte sie doch diese Nachricht zwar befürchtet, aber auch erwartet.

»Drei Männer der Kirche waren hier. Sie wollen mich und meine Kinder heute nachmittag abholen. Sie haben versprochen, uns in einen Konvent und nicht ins Armenhaus zu bringen.«

»Es tut mir leid, Senora.«

»Kennt Ihr vielleicht ein Haus hier in der Nähe, wo eine Haushälterin gebraucht wird? Ich scheue harte Arbeit nicht. Die Kinder essen sehr wenig.«

Ihm fiel nur sein eigenes Haus ein. Er stellte sich vor, wie es wäre, mit ihnen zu leben, sein Leben dieser armen, unglücklichen Frau und diesen armen, unglücklichen Kindern zu widmen und zuzusehen, wie die Zeit die Wunden heilte. Aber er wußte, daß er nicht gut genug, nicht stark genug, nicht selbstlos genug für eine solche Geste war.

So verbannte er diese Vorstellung aus seinem Kopf und dachte statt dessen an Bonestrucas Sammlung von jüdischen Dingen. Die Gebetsriemen. Die Tora! »Seid Ihr vielleicht bereit, mir einige Dinge aus Bonestrucas Besitz zu verkaufen?«

»Als die Männer heute morgen kamen, haben sie alles mitgenommen.« Sie führte ihn ins Nachbarzimmer. »Seht Ihr?«

Von all den Dingen waren nur noch das schlichte Damebrett und die kleinen Steine, die als Spielfiguren dienten, übrig. Sogar das Buch mit Dantes Gedicht hatten sie mitgenommen, aber zu hastig, denn unter dem Spielbrett fand er noch einige lose Blätter. Er nahm sie zur Hand und las die oberste Seite, die, wie er schnell erkannte, eine Beschreibung der Hölle enthielt:


Von hier aus hörten wir im anderen Graben

ein schnaubend Volk sich selbst mit Händen schlagend,

das drangvoll stöhnt und hockt in seinem Jammer.

Die Wände waren teigig überkrustet

von einem schimmeligen Niederschlag

des dicken Dunstes, ein Schreck für Aug und Nase.

Der Grund so finster, daß das Auge nichts

erkennt, es sei denn von dem höchsten Punkt

des Brückenbogens senkrecht überm Pfuhl. Wir

kamen hin. Von dort aus sah ich Menschen, im

Graben unten eingetaucht in Kot, der wie ein

Abfluß von Kloaken war. Indes ich mit den

Augen drunten suchte, ersah ich einen, dessen

Kopf so dreckig, daß Laie oder Klerus eines war...


Jona begriff plötzlich, daß keine Strafe, die Gott oder Mensch ersinnen mochten, schlimmer sein konnte als das Leben, das Lo-renzo de Bonestruca jetzt erwartete. Vom Grauen gepackt, nahm er das Damespiel entgegen, das sie ihm in die Hände gab. Dann schüttete er alles Gold und Silber aus seiner Börse auf den Tisch, gab die Frau und ihre Kinder der Obhut Gottes anheim und ritt davon.

9. KAPITEL DER RITT NACH HUESCA

Fiebererkrankungen waren immer ein Problem, aber gegen Ende des Winters hielt Jona vor allem ein gehäuftes Auftreten von fiebrigem Husten auf Trab. Die Hausbesuche glichen sich:

»Senor Callico, mir tun alle Knochen weh (Husten)...

Der Soor ist so schlimm, daß ich nicht schlucken kann... die Schmerzen (Husten).«

»Manchmal ist es, als würde ich brennen, und dann zittere ich wieder vor Kälte (Husten).«

Ein alter Mann, ein Knabe, zwei alte Frauen und ein Kind starben. Für Jona war es schrecklich, daß er sie nicht retten konnte, aber dann hörte er wieder Nuno sagen, er solle sich um die Lebenden kümmern. Er ging von Haus zu Haus und verschrieb warme Getränke, erhitzten Wein mit Honig. Und Theriak gegen das Fieber.

Es war durchaus keine Pandemie, nicht einmal eine richtige Epidemie, aber er hatte sehr viele Hausbesuche zu machen. Solange nur die Fieberzyklen der Patienten nicht alle am selben Tag anfingen und endeten, sagte er sich, würde er es schon schaffen. Und jedem Patienten versprach er, daß die Krankheit wie durch Zauberhand verschwinden würde, wenn er nur zehn Tage lang seine Anweisungen streng befolgte.

Wenn er abends heimkam, war er oft zu müde, um noch Hausarbeiten zu erledigen oder sich etwas zu kochen. Manchmal stellte er die Damesteine auf das Brett und versuchte zu spielen, indem er für beide Seiten zog, aber so machte das Spiel keinen Spaß.

Ein Gefühl der Unzufriedenheit und Ruhelosigkeit wurde immer stärker in ihm, und als seine Patienten schließlich nicht mehr fieberten und kaum mehr husteten, beschloß er, einen Tag freizunehmen und Reyna zu besuchen.

Der Ort, in dem sie wohnte, war nur eine Ansammlung von winzigen Bauernhöfen und Holzfällerhütten, einen halbstündigen Ritt von den Außenbezirken Saragossas entfernt. Er hatte keinen Namen und keine eigene Verwaltung, aber die Menschen, die dort seit Generation lebten, fühlten sich zusammengehörig, und sie hatten sich angewöhnt, den Ort El Pueblecito, das Dörfchen, zu nennen.

In der kleinen Siedlung angekommen, hielt er sein Pferd vor einer alten Frau an, die in der Sonne saß. Er fragte nach Reyna, und sie schickte ihn zu einem Haus neben dem eines Sägers. Dicht neben diesem Haus standen zwei Männer im Lendenschurz - ein Mann mit langen weißen Haaren und ein jüngerer, muskulöserer Kerl - in einer Grube und zogen, die schweißfeuchte Haut mit Sägemehl bestäubt, eine lange Säge über einen Kiefernstamm.

Im Haus fand er Reyna auf Händen und Knien; sie wischte eben den Steinboden. Sie sah so gesund aus wie eh und je, nur etwas älter, als er sie in Erinnerung hatte. Als sie sah, wer eingetreten war, hörte sie auf zu wischen und lächelte. Dann stand sie auf und wischte sich die Hände an ihrem Kittel trocken.

»Ich habe dir Wein mitgebracht. Die Sorte, die du magst«, sagte er, und sie nahm den Krug entgegen und dankte ihm.

»Nimm doch am Tisch Platz«, sagte sie und holte zwei Gläser und einen Krug, der, wie sich zeigte, Cognac enthielt.

»Salud.«

»Salud.« Der Cognac war gut. Und so stark, daß Jona blinzelte.

»Hast du inzwischen eine Haushälterin gefunden?«

»Noch nicht.«

»Dabei habe ich dir zwei gute Frauen geschickt. Carla und Pe-tronila. Sie haben gesagt, du hättest sie wieder weggeschickt.«

»Vielleicht war ich zu sehr an deine Art der Haushaltsführung gewöhnt.«

»Du mußt einsehen, daß es Veränderungen gibt. Das ganze Leben besteht aus Veränderungen«, sagte sie. »Willst du, daß ich dir noch eine andere schicke? Im Frühling kommt wieder die Zeit für den großen Hausputz.«

»Ich werde mein Haus selber putzen.«

»Du? Du bist doch der Arzt. Du darfst deine Zeit nicht so vergeuden«, sagte sie streng.

»Du hast hier ein sehr schönes Haus gefunden«, bemerkte er, um das Thema zu wechseln.

»Ja, und ich will ein Rasthaus daraus machen. Es gibt sonst nirgendwo in der Nähe Obdach gegen Entgelt, und wir liegen an der Straße nach Monzon und Katalonien, auf der viele Reisende unterwegs sind.« Sie habe noch nicht angefangen, zahlende Gäste aufzunehmen, sagte sie, da in dem Haus noch zusätzliche Schreinerarbeiten nötig seien, bevor es als Gasthof dienen könne.

Sie saßen da und tranken Cognac, und während er ihr Klatsch und Neuigkeiten aus Saragossa berichtete, erzählte sie ihm vom Leben im Dorf. Von draußen kam leise das Ratschen der Säge.

»Wann hast du das letzte Mal gegessen?«

»Heute, frühmorgens.«

»Dann koche ich dir jetzt etwas.«

»Ich hätte gern geschmortes Geflügel.«

»... Ich koche dieses Gericht nicht mehr.«

Sie setzte sich wieder und sah ihn an. »Hast du die zwei Männer gesehen, die draußen Holz sägen?«

»Ja.«

»Einen der beiden werde ich bald heiraten.«

»Aha. Den Jüngeren?«

»Nein, den anderen. Sein Name ist Alvaro.« Sie lächelte.

»Seine Haare sind weiß, aber er ist sehr stark«, sagte sie trocken. »Und er ist ein hervorragender Arbeiter.«

»Ich wünsche dir das Glück, das zu verdienst, Reyna.«

»Danke.«

Sie merkte, daß er ins Dorf gekommen war, um sie zur Rückkehr zu überreden, das wußte er, aber sie lächelten einander an, und nach einer Weile stand sie wieder auf und stellte Essen auf den Tisch: einen Laib frisches Brot, hartgekochte Eier, Knoblauchpaste, einen halben gelben Käse, Zwiebeln und winzige, köstliche Oliven.

Sie tranken beide einige Becher des Weins, den er mitgebracht hatte, und nach einer Weile verabschiedete er sich. Draußen hoben die Männer eben einen neuen Baumstamm in die Grube.

»Einen guten Nachmittag«, sagte Jona. Der Jüngere antwortete nicht, aber der Mann namens Alvaro nickte, während er zur Säge griff.

Jona wußte, daß das Pessach-Fest bevorstand, nur nicht genau wann, und so stürzte er sich in den Frühjahrsputz - er wischte und schrubbte, öffnete alle Fenster, um die frische, kühle Luft hereinzulassen, klopfte und lüftete die Teppiche und schnitt frische Binsen, die er auf den Steinboden streute. Er nutzte sein Alleinsein, um so etwas wie ungesäuertes Brot herzustellen, das er in ungleichen Fladen auf einem Blech über dem Feuer buk. Das Ergebnis war ein bißchen verbrannt und etwas weicher, als es sein sollte, aber es waren eindeutig Matzen, und er aß sie triumphierend zu seinem Ein-Mann-Sedermahl, Lammkeule mit bitteren Kräutern, die ihn an die Leiden der Kinder Israels auf der Flucht nach Ägypten erinnern sollten.

»Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?« fragte er das stille Haus, aber es kam keine Antwort, nur Schweigen, das bitterer war als die Kräuter. Weil er sich des genauen Tages nicht sicher war, feierte er Seder an jedem Abend der Woche, und drei-mal ließ er sich das Lammfleisch schmecken, bevor es schlecht wurde, und vergrub es dann im Obstgarten auf dem Hügel.

Einige Tage lang sah es so aus, als hätte der Winter sich verabschiedet, aber dann kehrte er mit Kälte und Regen zurück und verwandelte die Straßen in Ströme aus tiefem, kaltem Schlamm. Stundenlang saß er an seinem Tisch und hing seinen Gedanken nach. Er war ein wohlhabender Mann, ein geachteter Arzt, der in einem soliden Steinhaus lebte, umgeben von gutem Land, das ihm gehörte. Und doch schien er manchmal in schlaflosen Nächten die Stimme seines Vaters zu hören, die ihm sanft, aber doch lauter als das schrille Heulen des Regenwindes sagte, daß er nur zum Teil lebendig sei.

Er sehnte sich nach etwas Namenlosem, etwas, das er nicht benennen konnte. Wenn er schlief, träumte er von den Toten oder von Frauen, die seinem schlafenden Körper den Samen entzogen. Manchmal war er überzeugt, daß er so verrückt werden würde wie der Mönch, und als schließlich die warmen und sonnigen Tage anbrachen, betrachtete er die neue Jahreszeit mit Argwohn, denn er konnte nicht glauben, daß das schlechte Wetter wirklich vergangen war.

Es war ein Glück, daß die Fiebererkrankungen nicht zurückkehrten, denn in einem Gespräch mit Fray Luis Guerra Medina erfuhr er, daß es im ganzen Bezirk keinen Theriak mehr zu kaufen gab. Theriak war eine hervorragende Arznei gegen Fieber und das beste Mittel gegen alle Krankheiten des Magens und der Verdauungsorgane, sogar gegen solche, die durch Vergiftungen hervorgerufen wurden. Aber er war schwer herzustellen und teuer, weil der beste Theriak aus siebzig verschiedenen Kräutern bestand. Und schlimmer noch, er war rar.

»Wie können wir mehr bekommen?« fragte er Fray Medina.

»Ich weiß es nicht«, antwortete der alte Franziskaner besorgt. »In guter Qualität bekommt man ihn nur von der Familie Aure-lio in Huesca. Bis jetzt bin ich jedes Jahr selbst nach Huesca gereist, um von den Aurelios Theriak zu kaufen. Aber es ist ein fünftägiger Ritt, und ich bin zu alt. Ich schaffe es nicht mehr.«

Jona zuckte die Achseln. »Dann schicken wir eben einen Reiter.«

»Nein. Wenn ich jemanden schicke, der sich mit Theriak nicht auskennt, geben sie ihm eine Mischung, die als Medizin nichts mehr taugt, weil sie Jahre alt ist. Er muß von jemandem gekauft werden, den sie achten, weil er weiß, wie guter Theriak aussehen und beschaffen sein muß. Er muß frisch gemischt werden, und wir benötigen eine Menge, die mindestens ein Jahr reicht.«

Jona war sein Haus zum Gefängnis geworden, und hier ergab sich eine Möglichkeit zur Flucht.

»Nun gut. Dann reite ich nach Huesca«, sagte er.

Ärzte in den umliegenden Gemeinden - Miguel de Montenegro und ein anderer Arzt namens Pedro Palma, für den Montenegro sich verbürgte - versprachen, sich um Senor Callicos Patienten zu kümmern, nicht zuletzt auch, weil sie wußten, daß der Theriak, den er kaufen wollte, auch ihnen und ihren Patienten zugute kommen würde. Er nahm den grauen Araber und ein einzelnes Maultier. Wie gewöhnlich hellte seine Stimmung sich auf, kaum daß er im Sattel saß. Das Wetter war gut, und er hätte durchaus schneller vorwärts kommen können, aber der Araber wurde langsam alt, und er wollte das Tier schonen, weil ihm Eile unnötig erschien. Der Weg war nicht schwierig. Im Vorgebirge gab es Täler mit Weiden, auf denen Rinder und Schafe grasten, und kleine Höfe, wo Schweine in Äckern wühlten, auf denen bald Getreide oder Gemüse wachsen würde. Für sein Nachtlager wählte er sich immer ein schönes Fleckchen. Aus den Hügeln wurden bald kleinere Berge und dann größere.

In Huesca angekommen, suchte er sofort nach dem Anwesen der Familie Aurelio. Sie betrieben ihr Geschäft in einer umge-bauten Scheune, in der es nach einer Vielzahl von Kräutern duftete. Drei Männer und eine Frau waren damit beschäftigt, die getrockneten Pflanzen zu pulversieren und zu mischen. Der Kräutermeister, Reinaldo Aurelio, war ein freundlicher, scharfsinniger Mann in einer groben Lederschürze voller Pflanzenstaub.

»Und was kann ich für den Senor tun?«

»Ich brauche Theriak. Ich bin Ramon Callico, der Medicus von Saragossa. Und kaufe im Auftrag von Fray Luis Guerra Medina von Saragossa.«

»Oh, für Fray Luis. Aber warum kommt er nicht selbst? Wie steht es um seine Gesundheit?«

»Er ist bei guter Gesundheit, aber er wird langsam alt, und deshalb hat er mich geschickt.«

»Aber natürlich haben wir Theriak für Euch, Senor Callico.« Er ging zu einem Regal und öffnete einen hölzernen Behälter.

»Darf ich ihn sehen?« fragte Jona. Er zerbröselte eine Prise zwischen den Fingern, schnupperte daran und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er leise. »Wenn ich Fray Luis dies bringe, kastriert er mich, und zwar mit Recht.«

Der Kräutermeister lächelte. »Fray Luis ist höchst anspruchsvoll.«

»Wofür wir Ärzte ihm dankbar sind. Ich brauche eine große Menge frischen Theriak, so viel, daß Fray Luis alle Ärzte in der Umgebung von Saragossa damit versorgen kann.«

Senor Aurelio nickte. »Das ist zu machen, aber wir brauchen natürlich einige Zeit, um so viel frischen Theriak herzustellen.«

»Wie lange?«

»Mindestens zehn Tage. Vielleicht ein bißchen länger.«

Jona hatte gar keine andere Wahl, als damit einverstanden zu sein. Und eigentlich mißfiel ihm diese Verzögerung durchaus nicht, denn so hatte er Zeit, die Pyrenäen zu erkunden. Sie berechneten, was die Kräuter kosten würden, und er zahlte im voraus. Fray Luis hatte gesagt, daß man sich auf das Wort der Aure-lios verlassen könnte, und Jona wollte sich auf dem Ausflug nicht mit Gold belasten. Der Kräutermeister gestattete ihm, sein Maultier während der Zeit unterzustellen, und Jona versprach, mindestens vierzehn Tage fortzubleiben, so daß sie genügend Zeit für ihre Arbeit hätten.

Er ritt genau nach Norden, wieder durch ein Vorgebirge. Er hatte gehört, daß sich zwischen Huesca und der Grenze zu Frankreich die Berge so steil erhoben, daß sie den Himmel zu berühren schienen. Und wirklich sah er schon nach kurzer Zeit Berge, einige davon mit schneebedeckten Gipfeln. In einer üppig blühenden Frühlingswiese entdeckte er einen Bach voller winziger, leuchtendbunter Forellen. Schnell zog er eine Schnur mit Haken aus seiner Tasche und eine kleine Blechbüchse mit Würmern aus seinem Misthaufen zu Hause. Die Fische bissen bereitwillig an, und viel zu schnell hatte er ein Essen beisammen. Jede Forelle war nicht mehr als ein Happen, aber sie waren schnell ausgenommen, und er spießte sie auf einen grünen Zweig, briet sie über einem kleinen Feuer und ließ sich dann das Fleisch samt den geschmolzenen Gräten schmecken.

Eine Weile ließ er sein Pferd noch in der üppigen Wiese grasen und folgte dann dem Pfad in die Berge. Die unteren Regionen waren dicht mit Buchen, Kastanien und Eichen bestanden, die nach einer Weile von Fichten und Kiefern abgelöst wurden. In größerer Höhe, das wußte er, würde der Baumbestand immer dünner werden und ganz verschwinden, bis schließlich nur noch spärlicher Niederwuchs den felsigen Boden bedeckte. Die warme Sonne schickte Schmelzwasser plätschernd und rauschend zu Tal, ein Bach war zu einem tosenden, reißenden Fluß angeschwollen.

Am Nachmittag sah er in einem Fichtenwäldchen seinen ersten Schnee. Die Spuren eines Bären zeichneten sich darin so deutlich und scharf umrissen ab, daß sie nur frisch sein konnten. Die Luft war kühler hier, und die Nacht würde kalt sein; da Jona aber lie-ber in der milderen Luft weiter unten übernachten wollte, wendete er sein Pferd und ritt weiter abwärts, bis er zu einem passenden Flecken im Schutz einer großen Kiefer kam, die ihm auch tote Äste als Brennstoff bot. Da ihm die Bärenspuren noch im Gedächtnis waren, band er sein Pferd gleich in der Nähe an und hielt das Feuer die ganze Nacht am Brennen. Dazu stand er hin und wieder auf und brach tote Äste mit einem Krachen, das laut seine Anwesenheit verkündete, vom lebenden Baum, und wenn das Feuer dann wieder loderte, schlief er weiter.

Am Nachmittag des dritten Tages nach seinem Aufbruch von Huesca ließ tiefer Schnee auf einem hochgelegenen Paß ihn umkehren. Zwar hätte er gefahrlos hindurchreiten können, doch für das Pferd wäre es eine Qual gewesen, die er ihm ersparen wollte. Beim Abstieg hielt er Ausschau nach einem Seitenpfad, der ihn um den Berg herumführen würde, entdeckte aber keinen. Erst als der graue Araber von sich aus abbiegen wollte, sah er, was das Pferd entdeckt hatte, einen Pfad, der in der Wand aus Bäumen fast nicht zu erkennen war. Als er ihn erkundete, wurde daraus ein breiter, steiniger Weg entlang eines rauschenden Bachs, der sich im Lauf der Jahrhunderte sein Bett in einen steilen Felsabhang gegraben hatte.

Er folgte diesem Weg in die Tiefe.

Nach langem Abstieg roch er schließlich Holzfeuer, und kurz darauf führte ihn der Weg aus dem Wald heraus und in ein kleines Tal, in dem er ein Dorf erblickte. Er sah vielleicht ein Dutzend kleiner Steinhäuser mit steilen Schieferdächern sowie das kreuzgeschmückte Dach einer Kirche, das die anderen überragte. Kühe und Pferde grasten auf einer Weide, und er sah einige bestellte Felder mit schwarzer Erde.

An zwei Häusern ritt er vorbei, ohne einen Menschen zu sehen, aber aus dem dritten Haus war eine Frau zum Bach gegangen, um Wasser zu holen, und kehrte jetzt mit dem vollen Eimer zurück. Als sie ihn sah, begann sie verängstigt zu laufen, so daß das Wasser aus dem Eimer schwappte, aber er war bei ihr, lange bevor sie den Schutz des Hauses erreicht hatte.

»Ich wünsche Euch einen guten Tag. Was ist das für ein Dorf, wenn ich fragen darf?«

Sie blieb wie erstarrt stehen. »Das ist Pradogrande, Senor«, sagte sie mit klarer, aber zurückhaltender Stimme, und als er noch ein Stückchen näher an sie heranritt, verschlug es ihm beim Anblick ihres Gesichts den Atem. »Ines! Seid Ihr das?«

Er stieg schwerfällig ab, und sie wich erschrocken zurück. »Nein, Senor.«

»Ihr seid nicht Ines Saadi Denia, Tochter von Isaak Saadi?« fragte er töricht. Das Mädchen starrte ihn an.

»Nein, Senor. Ich bin Adriana. Ich bin Adriana

Chacon.«

Du Narr, sagte er sich, natürlich. Dies war eine junge Frau. Als er Ines das letzte Mal gesehen hatte, war sie nur wenig jünger gewesen als dieses Mädchen, und seitdem waren so viele schwere Jahre vergangen.

»Ines war meine Tante, möge ihre Seele in Frieden

ruhen.«

Ines war also tot. Es gab ihm einen Stich ins Herz, als er dies hörte: noch eine Tür, die zugeschlagen war. »Möge sie in Frieden ruhen«, murmelte er.

»Ich erinnere mich an Euch«, sagte er plötzlich. Er erkannte, daß diese junge Frau das Kind gewesen war, um das Ines sich gekümmert hatte, die kleine Tochter ihrer älteren Schwester Felipa. Er erinnerte sich an die Spaziergänge mit Ines in Granada, mit dem kleinen Mädchen zwischen ihnen beiden, ein Händchen in seiner, das andere in Ines' Hand.

Die Frau sah ihn unsicher an.

Jona wirbelte herum, als ein Schrei verkündete, daß seine Anwesenheit entdeckt worden war. Männer kamen auf sie zugestürzt, drei aus der einen Richtung, zwei aus der anderen, und sie hielten ihre Werkzeuge wie Waffen, mit denen sie einen Eindringling töten würden.

10. KAPITEL DIE BERGWIESE

Bevor die rennenden Feldarbeiter sie erreicht hatten, kam ein schlanker, drahtiger Mann aus einem der nahen Häuser. Er war gealtert, aber nicht so stark, daß Jona nicht sofort Mica Benzaquen erkannt hätte, Freund und Nachbar der Saadis in Granada. Benzaquen war mittleren Alters gewesen, als Jona ihn kennenlernte; jetzt war er noch immer kräftig, aber ein alter Mann. Er sah Jona lange an, und als er lächelte, wußte Jona, daß Benzaquen ihn ebenfalls wiedererkannt hatte.

»Ihr habt Euch gut entwickelt, Senor«, sagte Benzaquen. »Als ich Euch kennenlernte, wart Ihr ein riesiger, zerlumpter junger Schäfer, nichts als Haare und Bart, als würdet Ihr einen Strauch auf dem Kopf tragen. Aber wie lautet gleich wieder Euer Name? Er ist wie der Name einer schönen Stadt...«

Jona erkannte, daß es ihm in der kurzen Zeit, die er an diesem entlegenen Ort verbringen würde, unmöglich sein würde, als Ramon Callico aufzutreten. »Toledano.«

»Ach ja, Toledano, bei meiner Seele!«

»Jona Toledano. Es freut mich, Euch wiederzusehen, Senor Benzaquen.«

»Wo lebt Ihr jetzt, Senor Toledano?«

»In Guadalajara«, sagte Jona, denn er wagte es nicht, den Namen Toledano mit Saragossa in Verbindung zu bringen. Zu seinem Bedauern hatte die Frau ihren Eimer wieder aufgenommen und war davongegangen, während er und Benzaquen sich begrüßten. Die herbeistürzenden Männer hatten ihre Schritte verlangsamt, nachdem sie gesehen hatten, daß Schwert und Dolch des Fremden in ihren Scheiden blieben. Als sie ankamen, noch immer mit den Werkzeugen in den Händen, mit denen sie Jona hätten aufspießen und zerhacken können, standen er und Benzaquen entspannt beieinander und unterhielten sich freundschaftlich.

Benzaquen stellte Pedro Abulafin, David Vidal und Durante Chazan Halevi vor und dann noch eine zweite Gruppe, Joaquin Chacon, Asher de Segarra und Jose Diaz.

Einige Männer kümmerten sich um Jonas Pferd, während Ben-zaquen ihn zu seinerfinca führte. Lea Chazan, Benzaquens Gattin, war eine herzliche, grauhaarige Frau mit all den Tugenden einer spanischen Mutter. Sie gab Jona eine Schüssel mit heißem Wasser und ein Tuch und führte ihn in die Scheune, wo er sich ungestört waschen und erfrischen konnte. Als er zurückkehrte, zog bereits der Duft bratenden Milchlamms durchs Haus. Sein Gastgeber erwartete ihn mit einem Krug und zwei Gläsern. »Besucher sind in unserem kleinen Tal äußerst selten, und deshalb ist dies ein besonderes Ereignis«, sagte Benzaquen, schenkte Cognac ein, und die beiden stießen auf die Gesundheit an.

Benzaquen war bereits Jonas Araber aufgefallen und die ausgezeichnete Qualität seiner Kleidung und Bewaffnung. »Ihr seid aber kein Schäfer mehr«, sagte er und lächelte.

»Ich bin Medicus.«

»Medicus? Wie schön!« erwiderte Benzaquen. Bei dem ausgezeichneten Essen, das kurz darauf von seiner Frau aufgetragen wurde, erzählte er Jona, wie es den Konvertiten ergangen war, nachdem ihre Lebenswege sich getrennt hatten.

»Wir haben Granada in einer Karawane verlassen, insgesamt achtunddreißig Wagen und alle mit dem Ziel Pamplona, der Hauptstadt von Navarra, das wir nach einer langsamen und beschwerlichen Reise auch erreichten.«

Zwei Jahre seien sie in Pamplona geblieben. »Einige von unseren Leuten haben dort geheiratet. Darunter auch Ines Denia. Sie wurde die Frau von Isidoro Sabino, einem Schreiner«, sagte Benzaquen mit einer gewissen Zurückhaltung, denn beide Männer hatten unangenehme Erinnerungen an ihre Unterhaltung über Ines Denia bei ihrer letzten Begegnung.

»Leider«, fuhr Benzaquen fort, »war für uns aus Granada die glückliche Zeit in Pamplona von Tragödien überschattet.« Einer von fünf Neuen Christen aus Granada sei in Pamplona am hitzigen Fieber und der roten Ruhr gestorben. Vier Angehörige der Familie Saadi seien in diesem schrecklichen Monat des Nissan grausam und schnell dahingerafft worden. »Isaak Saadi und seine Frau Suleika Denia starben binnen Stunden nacheinander. Dann wurde ihre Tochter Felipa krank und starb, und schließlich sowohl Ines als auch ihr frischgebackener Ehemann Isidoro Sabino, die noch nicht einmal drei Monate verheiratet gewesen waren.

Die Einwohner von Pamplona warfen uns Neuankömmlingen vor, wir hätten den Tod über ihre Stadt gebracht, und nachdem die Seuche ihren Lauf genommen hatte, mußten diejenigen von uns, die überlebt hatten, aufs neue fliehen.

Nach heftigem Disput beschlossen wir, über die Grenze nach Frankreich zu gehen und zu versuchen, uns in Toulouse niederzulassen, doch diese Entscheidung war umstritten. Ich zum Beispiel war unglücklich über die Route und das Ziel«, sagte Benza-quen. »Ich gab zu bedenken, daß Toulouse seit Jahrhunderten dafür berüchtigt ist, Grausamkeiten gegen Juden zuzulassen, und daß zwischen uns und Frankreich die hohen Pyrenäen lägen, die wir mit unseren Wagen überqueren müßten, was mir so gut wie unmöglich erschien.«

Aber einige von Benzaquens Mitkonvertiten hatten über seine Ängste gespottet und darauf hingewiesen, daß sie als Katholiken nach Frankreich kämen und nicht als Juden. Und was die Überquerung des Gebirges angehe, so wüßten sie, daß es in dem Dorf

Jaca, das vor ihnen liege, Bergführer gebe, Konvertiten wie sie selbst, die sie gegen Bezahlung über die Berge bringen würden. Falls es mit den Wagen nicht zu schaffen sei, sagten sie, würden sie ihren wertvollsten Besitz auf Maultieren nach Frankreich bringen. Und so hatte sich die Wagenkolonne auf den Weg nach Jaca gemacht.

»Wie habt ihr dieses Tal gefunden?« fragte Jona.

Benzaquen lächelte. »Durch Zufall.«

Auf den langen, bewaldeten Berghängen waren Lagerplätze für eine so große Gruppe immer schwer zu finden. Oft schliefen die Reisenden in ihren Wagen, die sie in langer Reihe entlang des Pfades aufstellten. In einer solchen Nacht hatte sich, während sie schliefen, eins von Benzaquens Zugpferden - ein wertvolles und dringend benötigtes Tier - losgerissen und aus dem Staub gemacht. »Als wir im ersten Morgenlicht sein Fehlen entdeckten, machte ich mich mit vier Männern sofort auf die Suche, nicht ohne das Vieh zu verfluchen.«

Plattgedrücktem Strauchwerk und abgebrochenen Ästen, gelegentlichen Hufspuren und Kothaufen folgend, stießen die Männer auf einen natürlichen Felspfad, der an einem rauschenden Bach in die Tiefe führte. Als sie schließlich aus dem Wald heraustraten, sahen sie das Pferd auf der fetten Weide eines kleinen, versteckten Tals grasen.

»Wir waren sofort beeindruckt von dem guten Wasser und dem saftigen Gras. Wir kehrten zur Karawane zurück und führten die anderen zu dem Tal, weil es einen sicheren und geschützten Rastplatz bot. Den natürlichen Pfad mußten wir nur an zwei Stellen etwas verbreitern und ein paar große Felsen aus dem Weg räumen, und dann konnten wir die Wagen in das Tal bringen. Zuerst wollten wir nur vier oder fünf Tage bleiben, damit Menschen und Tiere sich ausruhen und neue Kraft schöpfen konnten.«

Aber alle seien beeindruckt gewesen von der Schönheit des Tals und der offensichtlichen Fruchtbarkeit des Bodens, sagte er.

Natürlich war den Reisenden auch nicht entgangen, wie wunderbar abgelegen dieser Ort war. Nach Osten waren es zwei schwierige Tagesreisen bis zum nächsten Dorf, Jaca, das selbst eine einsame, nur von wenigen Reisenden besuchte Gemeinde war. Und nach Südosten waren es drei ähnlich schwierige Tagesreisen bis zur nächsten Stadt, Huesca. Einigen der Neuen Christen ging auf, daß Menschen hier in Frieden leben konnten, ohne je einen Inquisitor oder einen Soldaten zu sehen. Und so kamen sie auf den Gedanken, daß sie vielleicht gar nicht weiterreisen, sondern in dem Tal bleiben und es sich zur Heimat machen sollten.

»Aber nicht alle waren dieser Meinung«, sagte Benzaquen. »Nach langem Hin und Her beschlossen siebzehn von den sechsundzwanzig Familien, die Pamplona verlassen hatten, in dem Tal zu bleiben. Alle halfen zusammen, um die neun Familien, die nach Toulouse wollten, wieder auf den Weg zu bringen. Es dauerte den ganzen Vormittag und einen Großteil des Nachmittags, bis ihre Wagen wieder hoch zum Weg geschafft waren. Nach Umarmungen und einigen Tränen verschwanden sie über den Berg, und diejenigen von uns, die nicht mit ihnen gehen wollten, kehrten in das Tal zurück.«

Unter den Siedlern waren vier Familien, die ihren Lebensunterhalt als Bauern verdient hatten. Bei den Planungen der Reisen von Granada nach Pamplona und dann nach Toulouse hatten die Bauern beschämt zurückstehen und alle Vorbereitungen und Entscheidungen den Händlern überlassen müssen, deren Reiseerfahrung und Weltklugheit der Gruppe allerdings gut zustatten gekommen war.

Jetzt aber wurden die Bauern zu den Anführern der Siedlung, sie erkundeten und parzellierten das Tal und bestimmten, was angebaut werden sollte und wo. Überall im Tal wuchs fettes, gesundes Gras, und von Anfang an erhielt der Ort den Namen Pra-dogrande, Bergwiese.

Gemeinsam unterteilten die Männer jeder Familie das Tal in siebzehn gleichwertige Grundstücke, gaben jeder Parzelle eine Nummer und zogen dann die Nummern aus einem Hut, um das Los über die Besitzverhältnisse entscheiden zu lassen. Man kam überein, Aussaat und Ernte gemeinsam zu erledigen und die Reihenfolge, in der die Parzellen bearbeitet wurden, jedes Jahr zu ändern, so daß kein Besitzer einen dauerhaften Vorteil erhielt. Die vier Bauern schlugen vor, wo die Häuser errichtet werden sollten, um Sonne und Schatten zu nutzen und vor den Elementen geschützt zu sein. Die fincas wurden eine nach der anderen errichtet, alle in gemeinsamer Arbeit. Auf den Berghängen gab es genügend Steine, und daraus entstanden solide Bauernhäuser mit Stall und Scheune entweder unter oder neben den Wohnräumen.

Im ersten Sommer im Tal bauten sie drei fincas, in denen sich die Frauen und Kinder in diesem Winter zusammendrängten, während die Männer in den Wagen Unterschlupf fanden. In den folgenden fünf Sommern wurden die übrigen Häuser und die Kirche errichtet.

Die vier erfahrenen Bauern wurden die Einkäufer der Gemeinde. »Zuerst gingen sie nach Jaca«, sagte Benzaquen, »wo sie ein paar Schafe und etwas Saatgut kauften, aber Jaca war zu klein, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und so machten sie sich beim nächsten Mal auf die längere Reise nach Huesca, wo sie eine größere Auswahl an Vieh angeboten fanden. Von dort brachten sie uns Säcke mit gutem Saatgut, eine Reihe von Werkzeugen, Obstbaumsetzlinge, weitere Schafe und Ziegen, Schweine, Hühner und Gänse.«

Einer der Männer war Sattler gewesen und ein anderer Schreiner, und beide Berufe waren für die neugegründete Gemeinde ein Segen. »Aber die meisten von uns waren Händler gewesen. Als wir beschlossen, in Pradogrande zu bleiben, wußten wir, daß wir unser Leben würden ändern müssen. Am Anfang war es entmutigend und schwer, die Körper von Händlern an die schwere

Arbeit zu gewöhnen, aber wir waren neugierig auf das, was die Zukunft uns bringen würde, und sehr lernbegierig.

Seit elf Jahren sind wir nun da, und wir haben den Boden urbar gemacht und Felder und Obstgärten angelegt«, schloß Ben-zaquen.

»Ihr habt viel erreicht«, erwiderte Jona ehrlich beeindruckt.

»Es wird bald dunkel, aber morgen will ich Euch durch das Tal führen, damit Ihr es mit eigenen Augen sehen könnt.«

Jona nickte abwesend. »Diese Frau Adriana... ist ihr Gatte auch ein Bauer?«

»Jeder in Pradogrande ist Bauer. Aber Adrianas Mann ist nicht mehr. Sie ist Witwe«, sagte Benzaquen, schnitt noch eine Scheibe vom Lamm ab und drängte seinen Gast, die Gelegenheit zu nutzen und sich an dem guten Fleisch satt zu essen.

»Er sagt, er erinnert sich an mich als kleines Kind«, sagte Adriana Chacon an diesem Abend zu ihrem Vater. »Das ist merkwürdig, denn ich erinnere mich überhaupt nicht an ihn. Erinnerst du dich an ihn?«

Joaquin Chacon schüttelte den Kopf. »Nein. Aber vielleicht habe ich ihn einmal getroffen. Dein Großvater Isaak kannte sehr viele Leute.«

Es kam ihr merkwürdig vor, daß dieser Neuankömmling behaupten konnte, Dinge über sie zu wissen, an die sie sich nicht erinnern konnte. Wenn sie an ihre Kindheit zurückdachte, war es, als würde sie von einer Bergspitze auf eine weite Landschaft herabblicken; das Nahe war klar und deutlich, doch weiter Zurückliegendes verschwamm in der Entfernung, bis nichts mehr zu erkennen war. Sie hatte überhaupt keine Erinnerungen an Granada und nur wenige an Pamplona. Sie erinnerte sich daran, lange Zeit auf einem Wagen gefahren zu sein. Die Wagen waren mit einem Sonnenschutz überspannt, aber es war sehr heiß, und sie reisten fast nur in den frühen Morgenstunden und am späten Nachmit-tag und rasteten in der Mittagshitze an schattigen Plätzchen. Sie erinnerte sich an das heftige und beständige Holpern des Wagens auf unwegsamen Pfaden, an das Knarzen des Ledergeschirrs, an das Trappeln der Hufe. An den ewigen Staub, der manchmal zwischen den Zähnen knirschte. An den grasigen Geruch der Kotkugeln, die Pferde und Maultiere hinter sich ließen und die von den Rädern der Wagen, die ihnen folgten, platt gedrückt wurden.

Adriana war acht Jahre alt damals, und verzweifelt vor Einsamkeit saß sie allein auf der Ladefläche des Wagens und sehnte sich nach ihren Lieben, die sie erst kürzlich verloren hatte. Ihr Vater, Joaquin Chacon, behandelte sie zärtlich, wenn er daran dachte, aber meistens saß er vorne auf dem Bock und lenkte stumm und fast blind vor eigenem Kummer seine Pferde. Ihre Erinnerung an die Ereignisse während der Fahrt durchs Gebirge waren verschwommen, sie wußte nur noch, daß sie eines Tages in dieses Tal gekommen waren und sie froh gewesen war, daß die Reise ein Ende hatte.

Ihr Vater, der im früheren Leben Seidenhändler gewesen war, leistete jetzt seinen Teil der Landarbeit, aber in den ersten Jahren in Pradogrande hatte er am Bau der Häuser mitgearbeitet. Er war ein achtbarer Maurer geworden und hatte gelernt, Steine so überlappend zu setzen, daß standhafte Mauern daraus wurden. Die Häuser, die sie aus Flußsteinen und Holzstämmen errichteten, wurden den Familien in der Reihenfolge ihrer Größe zugeteilt. So mußten Adriana und ihr Vater fünf Jahre lang in den Häusern der anderen leben, da ihr Haus als letztes gebaut wurde. Es war außerdem das kleinste, aber so solide gebaut wie die anderen, und als sie endlich einzogen, erschien es ihr wie der Himmel der Ungestörtheit. Dieses Jahr - das Jahr, als sie dreizehn wurde - war ihre glücklichste Zeit in Pradogrande. Sie war die Herrin im Haus ihres Vaters und vernarrt in das Tal wie alle anderen. Sie kochte und putzte, und sie sang bei der Arbeit, so zufrieden war sie mit ihrem Schicksal. Es war das Jahr, in dem ihre Brüste sprossen; es ängstigte sie ein wenig, und doch schien es ganz natürlich, weil alles um sie herum wuchs und gedieh. Ihre erste Blutung hatte sie mit elf gehabt, und Leona Patras, die betagte Gattin von Abram Montelvan, war sehr freundlich zu ihr gewesen und hatte ihr gezeigt, was sie in den Zeiten ihrer Regel tun mußte.

Im Jahr darauf erlebte die Gemeinde ihren ersten Todesfall. Fineas ben Sagan starb an einer Lungenkrankheit. Drei Monate nach Sagans Beerdigung sagte Adrianas Vater zu ihr, daß er Carlos' Witwe, Sancha Portal, heiraten werde. Joaquin erklärte seiner Tochter, daß die schwer arbeitenden Männer Pradograndes einerseits Zuwanderung von außen zwar ablehnten, sich andererseits aber bewußt waren, daß sie im Lauf der Jahre jedes zusätzliche Paar Hände dringend brauchen würden. Man war übereinstimmend der Meinung, daß große Familien der Schlüssel zur Zukunft waren, und so wurden alleinstehende Erwachsene ermutigt, so bald wie möglich zu heiraten. Sancha Portal war bereit, Joaquin zu heiraten; sie war eine noch immer gutaussehende und kräftige Frau, und er war mit Freuden bereit, seine Pflicht zu erfüllen. Nun sagte er Adriana, daß er zu Sancha ziehen würde, doch sie hatte fünf Kinder, und das Haus war bereits überfüllt. Adriana sollte deshalb im kleinen Haus ihres Vaters wohnen bleiben und ihre neue Familie an Sonn- und Feiertagen besuchen.

Nachdem in der Mitte des Dorfes eine kleine Kirche und ein Pfarrhaus errichtet worden waren, hatte Joaquin zu der Abordnung gehört, die nach Huesca gereist war, um bei den dortigen Kirchenoberen die Zuweisung eines Priesters für ihre neue Gemeinde zu erbitten. Padre Pedro Serafino, ein stiller, schüchterner Mann in Schwarz, hatte sie zurück nach Pradogrande begleitet und Joaquin und Sancha getraut. Bei seiner Rückkehr nach Huesca berichtete er seinen Vorgesetzten von der neuen kleinen Kirche und dem gemütlichen, aber leeren Pfarrhaus, und einige Monate später kam der Mönch eines Tages aus dem Wald geritten und verkündete den Siedlern, daß er zu ihrem Priester bestellt worden war.

Die Dörfler besuchten mit Freuden seine Messe, denn sie fühlten sich so katholisch wie ein Bischof. »Falls jetzt je feindselige Augen unsere Gemeinde mustern sollten«, hatte Joaquin seiner Tochter gesagt, »wird nicht einmal die Inquisition die herausragende Stellung unserer Kirche und unseres Pfarrhauses leugnen können. Und wenn sie sehen, wie unser Priester unermüdlich auf seinem kleinen Maultier durchs Tal reitet, werden sie zu dem Schluß kommen müssen, daß Pradogrande eine Gemeinde echter Christen ist.«

In diesen Tagen war Adriana froh, allein zu leben. Es war einfach, das Haus ordentlich und sauber zu halten, wenn nur ein Mensch darin wohnte. Sie hatte viel zu tun, buk Brot und zog in ihrem Garten Gemüse, um die große Familie ihres Vaters zu unterstützen, und spann die Wolle seiner Schafe. Anfangs lächelten alle, wenn sie Adriana sahen, die Frauen wie die Männer. Ihr Körper entwickelte sich nun endgültig zu dem einer Frau; ihre Brüste wuchsen zwar nicht groß, waren aber wohlgeformt, und ihre junge Gestalt war groß und geschmeidig und sehr fraulich. Bald merkten die Ehefrauen des Dorfes, wie die Männer das Mädchen anstarrten, und einige Frauen klangen auf einmal kalt und verärgert, wenn sie mit ihr sprachen. Sie hatte zwar noch keine Erfahrung, wohl aber Wissen; einmal hatte sie Pferde bei der Paarung gesehen und beobachtet, wie der wiehernde Hengst mit einem Geschlechtsteil wie ein Knüppel auf den Rücken der Stute gestiegen war. Auch hatte sie Böcke und Schafsweibchen beobachtet. Sie wußte, daß Menschen sich anders paarten, und fragte sich, was genau wohl vor sich ging, wenn Männer sich mit Frauen niederlegten.

Adriana war sehr bekümmert, als Leona Patras in diesem Frühling krank wurde. Sie besuchte sie und bemühte sich, ihre Freundlichkeit zu vergelten, indem sie für ihren betagten Gatten Abram Montelvan kochte, Wasser auf dem Feuer erhitzte, um der kranken Frau mit dem Dampf das Atmen zu erleichtern, und ihr die Brust mit Gänseschmalz und Kampfer einrieb. Aber Leonas Husten wurde immer schlimmer, und kurz vor Beginn des Sommers starb sie. Adriana weinte bei der Beerdigung; ihr schien, als nähme der Tod ihr jede Frau, die ihr mit Liebe begegnete.

Bevor Leona in die Erde gelegt wurde, half sie, sie zu waschen, sie putzte das Haus der Toten und kochte Abram Montelvan einige Mahlzeiten, die sie dem Witwer auf den Tisch stellte.

In diesem Sommer zeigte sich das Tal in beinahe erdrückender Schönheit, in den fruchtschweren Bäumen und dem hohen Gras tummelten sich Singvögel mit leuchtendem Gefieder; die Luft war schwer von Blütenduft. Manchmal war Adriana wie betrunken vom Liebreiz des Landes, so daß ihre Gedanken sogar mitten in einem Gespräch abschweiften. Deshalb glaubte sie zuerst auch, sie habe sich verhört, als ihr Vater ihr sagte, sie solle Abram Montelvan heiraten.

Bevor sie und ihr Vater in das letzte Haus einziehen konnten, das in Pradogrande erbaut worden war, waren sie bei verschiedenen anderen Familien untergekommen, darunter auch im Haus von Abram Montelvan und Leona Patras. Ihr Vater wußte, daß Abram Montelvan schwierig war, ein säuerlich riechender alter Mann mit hervorquellenden Augen und einem aufbrausenden Wesen, aber er sagte ihr ganz unverblümt: »Abram ist bereit, dich zu nehmen, und sonst gibt es niemanden für dich. Wir sind nur siebzehn Familien. Wenn man mich und den verstorbenen Fineas ben Sagan abzieht, dessen Familie nun meine Familie ist, gibt es nur fünfzehn Familien, aus deren Männern du dir einen Gatten erwählen kannst. Aber alle diese Männer sind bereits Ehegatten und Väter. Du müßtest darauf warten, daß die Frau eines der Männer stirbt.«

»Dann warte ich lieber«, sagte sie ungehalten, aber Joaquin schüttelte den Kopf.

»Du mußt deine Pflicht gegenüber der Gemeinschaft erfül-len«, sagte er, und er ließ sich nicht davon abbringen. Wenn sie ihm nicht gehorche, würde sie ihm Schande machen, sagte er, und am Ende fügte sie sich.

Bei der Hochzeit wirkte Abram Montelvan abwesend. Während der Messe in der Kirche redete er nicht mit ihr und sah sie nicht einmal an. Die Feierlichkeiten danach wurden in drei Häusern abgehalten, und es war ein ausgelassenes Fest mit drei Arten von Fleischgerichten - Lamm, Zicklein und Huhn - und Tanz bis in die frühen Morgenstunden. Adriana und ihr Bräutigam brachten in jeder der drei fincas einen Teil des Abends zu und beendeten die Festlichkeiten in Sancha Portals Haus, wo Padre Serafino ein Glas mit ihnen trank und sie wiederholt auf die Heiligkeit der Ehe hinwies.

Abram war beschwipst, als sie Sancha Portals Haus unter allgemeinem Hochrufen und Gelächter verließen. Auf dem Weg zu seinem Wagen stolperte er mehrmals, und dann fuhren sie im kalten Licht des Mondes zu seinem Haus. Sie entkleidete sich in seinem Schlafzimmer und lag schließlich, voller Angst zwar, aber schicksalsergeben, auf dem Bett, in dem ihre Freundin Leona Pa-tras gestorben war. Er hatte einen häßlichen Körper, mit einem Hängebauch und dürren Armen. Er hieß sie die Beine spreizen und rückte die Öllampe heran, um ihre Nacktheit besser betrachten zu können. Aber allem Anschein nach war die Paarung für die Menschen schwieriger als für die Pferde und Schafe, die sie beobachtet hatte, denn als er sie bestieg, konnte er mit seinem schlaffen Geschlecht nicht in sie eindringen, obwohl er stieß und drängte und sie, mit feuchtem Atem ihr Gesicht bespritzend, verfluchte. Schließlich rollte er von ihr herunter, schlief und überließ es ihr, die Lampe zu löschen. Den Rest der Nacht lag sie schlaflos am äußersten Rand des Bettes, so weit wie möglich von ihm entfernt.

Am nächsten Morgen versuchte er es noch einmal, doch das Ergebnis seines angestrengten Grunzens war nicht mehr als ein wenig weißliche Flüssigkeit, die in den feinen Haaren ihrer Lenden klebte, bis er das Haus verließ und sie sich von seinen Hinterlassenschaften reinigen konnte.

Er erwies sich als mürrischer Gatte, den sie schnell zu fürchten lernte. Schon am ersten Tag ihrer Ehe schlug er sie und schrie: »Nennst du das einen Eierkuchen?« An diesem Nachmittag befahl er ihr, tags darauf ein Mahl für neun Personen zu kochen. Sie schlachtete zwei Hühner und rupfte und schmorte sie, buk Brot und holte frisches Wasser als kühlen Trank. Ihr Vater und ihre Stiefmutter kamen zum Abendessen, wie auch Abrams Sohn An-selmo und dessen Frau Azucena Aluza mit ihren drei Kindern -zwei Töchter, Clara und Leonor, und ein kleiner Junge namens Jose, für die Adriana nun eine vierzehnjährige Großmutter war. Niemand sprach mit ihr, während sie die Speisen auftrug, nicht einmal ihr Vater, der lachend zuhörte, wie Anselmo die Schrullen seiner Ziegen beschrieb.

Zu ihrem Kummer bedrängte ihr Gatte sie weiterhin im Bett, und etwa drei Wochen nach der Hochzeit war es soweit, daß er steif genug war, um in sie einzudringen. Sie schrie schwach auf, als ein reißender Schmerz sie durchfuhr, und lauschte angewidert seinem prahlerischem Gebrabbel, als er sich fast augenblicklich klebrig wieder zurückzog und sich beeilte, die Tröpfchen Blut, die seine Manneskraft bewiesen, mit einem Lumpen aufzufangen.

Danach ließ er sie für lange Zeit größtenteils in Ruhe, als fände er nach erfolgreicher Besteigung des Bergs weitere Versuche unnötig. Nur daß sie oftmals am Morgen von seinen verhaßten Händen geweckt wurde, die unter dem Hemd, in dem sie schlief, zwischen ihren Beinen wühlten auf eine Art, die man nie als zärtlich beschreiben konnte. Meistens beachtete er sie überhaupt nicht, doch er gewöhnte sich an, sie häufig und heftig zu schlagen.

Seine altersfleckigen Hände ballten sich zu harten Fäusten.

Und einmal, als ihr das Brot verbrannte, schlug er sie mit einer Gerte auf die Beine.

»Bitte, Abram! Bitte nicht! Nein, nein«, schrie sie und weinte, doch er erwiderte nichts, sondern atmete nur schwer zwischen den Schlägen.

Er sagte ihrem Vater, daß er gezwungen sei, sie wegen ihrer Unzulänglichkeiten zu schlagen, und ihr Vater kam zu ihr ins Haus, um mit ihr zu reden.

»Du mußt aufhören, dich wie ein halsstarriges Kind zu betragen, und lernen, eine gute Ehefrau zu sein«, sagte er zu ihr, und sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, versprach aber, sich zu bessern.

Während sie lernte, alles so zu machen, wie Abram es wünschte, wurden die Schläge weniger, doch sie hörten nie ganz auf, und mit jedem Monat wurde er reizbarer. Das Hinlegen tat ihm weh, und er ging steif und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Hatte er zuvor schon wenig Geduld gehabt, hatte er nun gar keine mehr.

Ihr Leben änderte sich eines Abends, als sie etwas mehr als ein Jahr verheiratet waren. Sie kochte das Abendessen, trug es aber nicht auf, weil sie, als sie ihm Wasser in seinen Becher gießen wollte, ein wenig auf den Tisch spritzte und er aufsprang und ihr mit der Faust auf die Brust schlug. Es war ihr zuvor noch nie in den Sinn gekommen, doch jetzt stürzte sie sich auf ihn und schlug ihm zweimal mit solcher Kraft ins Gesicht, daß er zu Boden gefallen wäre, wenn er nicht rückwärts in seinen Stuhl hätte taumeln können.

Dann stand sie über ihm. »Ihr rührt mich nicht mehr an, Senor! Nie mehr.«

Abram starrte sie verblüfft an und fing an zu weinen, vor Demütigung und hilflosem Zorn.

»Habt Ihr mich verstanden?« fragte sie, aber er antwortete nicht.

Als sie ihn durch ihre Tränen hindurch anstarrte, sah sie, daß er ein niederträchtiger alter Mann war, aber auch dumm und schwach, niemand, den sie fürchten mußte. Sie ließ ihn auf seinem Stuhl sitzen und ging nach oben. Nach einer Weile kam auch er die Treppe hochgekrochen, zog sich langsam aus und ging ins Bett. Und diesmal war er es, der am äußersten Rand lag, so weit von ihr entfernt wie möglich.

Adriana war überzeugt, daß er zum Priester oder zu ihrem Vater gehen würde, und erwartete schicksalsergeben die Strafe, die sie bestimmen würden, ob es nun Schläge mit der Peitsche waren oder Schlimmeres.

Doch sie hörte nicht einmal ein tadelndes Wort, und mit der Zeit erkannte sie, daß er sich nicht über sie beschweren würde, weil er den Spott fürchtete, der daraus entstehen konnte, und er von den anderen Männern lieber als mächtiger alter Löwe betrachtet wurde, der eine so junge Frau durchaus noch beherrschen konnte.

Danach ging sie jeden Abend mit einer Decke in die Wohnstube im Erdgeschoß und legte sich dort auf den Boden. Jeden Tag arbeitete sie in seinem Garten und kochte für ihn, wusch seine Kleider und hielt sein Haus in Ordnung. Wenige Tage vor ihrem zweiten Hochzeitstag fing er an zu husten und legte sich ins Bett, das er nie mehr verließ. Neun Wochen pflegte sie ihn, erhitzte ihm Wein und Ziegenmilch, fütterte ihn und setzte ihn auf den Topf, wischte ihm den Hintern und wusch seinen Körper.

Als er starb, überkam sie eine tiefe Dankbarkeit und zum ersten Mal in ihrem Erwachsenenleben ein Gefühl des Friedens.

Danach ließ man sie taktvollerweise eine Weile in Ruhe, wofür sie sehr dankbar war.

Aber weniger als ein halbes Jahr nach Abrams Tod kam ihr Vater auf ihre Stellung als Witwe in Pradogrande zu sprechen.

»Die Männer haben beschlossen, daß Besitz nur gehalten werden kann im Namen eines Mannes, der zur Feldarbeit beiträgt.«

Sie musterte ihn. »Dann werde ich zur Feldarbeit beitragen.«

Er lächelte sie an. »Du wirst nicht genügend schwere Arbeit leisten können.«

»Ich kann es ebensogut lernen wie ein Seidenhändler. Ich kann sehr gut gärtnern. Auf dem Feld würde ich schwerer arbeiten, als Abram Montelvan es tun konnte.«

Ihr Vater lächelte noch immer. »Wie dem auch sei, es ist nicht erlaubt. Um den Besitz zu erhalten, müßtest du verlobt sein. Anderenfalls wird dein Land unter den anderen Bauern aufgeteilt.«

»Ich will nicht heiraten, nie mehr.«

»Abrams Sohn Anselmo will deinen Besitz ungeteilt und in seiner Familie halten.«

»Wie will er das tun? Möchte er mich zu seiner zweiten Frau nehmen?«

Ihr Vater runzelte über ihren Ton die Stirn, bewies aber Geduld. »Er schlägt vor, daß du in eine Verlobung mit seinem ältesten Sohn Jose einwilligen solltest.«

»Seinem ältesten Sohn! Jose ist ein kleiner Junge von nur sieben Jahren!«

»Trotzdem wird die Verlobung dafür sorgen, daß das Land in einer Hand bleibt. Es gibt sonst niemanden für dich«, sagte ihr Vater mit denselben Worten wie damals, als er ihr befahl, Abram Montelvan zu heiraten. Er zuckte die Achseln. »Du sagst, du willst nicht heiraten. Vielleicht stirbt ja Jose noch in seiner Jugend. Und wenn nicht, wird es Jahre dauern, bis er erwachsen ist. Es kann ja sein, daß er sich gut entwickelt. Und vielleicht gewinnst du ihn lieb, wenn er erst zum Mann geworden ist.«

Adriana war nie bewußt gewesen, welche Abneigung sie gegen ihren Vater empfand. Sie sah zu, wie er in ihrem Gemüsekorb wühlte und die grünen Zwiebeln herausnahm, die sie am Vormittag für sich selbst geerntet hatte. »Ich nehme diese mit für

Sancha, denn ihr sind deine Zwiebeln lieber als alle anderen«, sagte er und strahlte, weil er sie damit zu loben glaubte.

Die zweite Verlobung gewährte ihr eine Zeit ohne Belästigungen. Drei Aussaaten und drei Ernten waren seit Abram Montelvans Tod ins Land gezogen. Jeden Frühling war die fette Erde bestellt, jeden Sommer das Heu gemäht und aufgeschobert, jeden Herbst der Grannenweizen geschnitten worden, ohne daß die Männer sich sonderlich beklagt hätten. Einige Ehefrauen im Tal begegneten Adriana wieder mit Feindseligkeit. Ein paar der Männer hatten es nicht beim Starren bewenden lassen, sondern Adriana ihr Begehren mit zärtlichen Worten bekundet, doch ihr Ehebett war ihr noch unerfreulich frisch in Erinnerung, und sie wollte nichts von den Männern. Statt dessen lernte sie, ihre Zudringlichkeiten mit einem Witz oder einem Lächeln über ihre Dummheit abzuweisen.

Manchmal, wenn sie ihre finca verließ und durch das Tal wanderte, sah sie den Jungen, dem sie versprochen war. Jose Montelvan war klein für sein Alter und hatte einen dunklen Schopf lockiger Haare. Wenn er im Freien spielte, wirkte er wie ein vielversprechender Junge. Inzwischen war er zehn. Wie alt war alt genug? Ein Junge sollte mindestens vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein, vermutete sie, bevor man ihm die Pflichten eines Mannes übertragen konnte.

Als sie eines Tages nah an ihm vorbeiging, sah sie seine Nase triefen. Sie blieb stehen, zog ein Tuch aus ihrer Tasche und wischte dem erstaunten Jungen die Nase. »Ihr dürft nie mit einer Rotzfahne in mein Bett kommen, Senor. Das müßt Ihr mir versprechen«, sagte sie und konnte übers Leben lachen, als er wie ein erschrockener Hase davonlief.

In ihr wuchs ein kleiner Klumpen der Kälte wie ein ungewolltes Kind. Sie hatte keine Möglichkeit zur Flucht, dachte aber immer öfter daran, einfach davonzugehen, höher und immer höher in die Berge zu steigen, bis sie nicht mehr gehen konnte. Sie hatte keine Angst vor dem Tod, doch die Aussicht, von Tieren gefressen zu werden, behagte ihr nicht.

Adriana hatte gelernt, daß es töricht war, von der Welt Gutes zu erwarten. An dem Nachmittag, als der Fremde aus dem Wald gekommen war, wie ein verfluchter Bitter in seinem verrosteten Brustpanzer und auf seinem wunderschönen grauen Pferd, wäre sie vor ihm davongelaufen, wenn es möglich gewesen wäre. Und so war sie alles andere als erfreut, als Benzaquen am nächsten Morgen an ihre Tür klopfte und sie ehrerbietig fragte, ob sie an seiner Stelle dem Fremden das Tal zeigen könne. »Meine Schafe haben angefangen, Junge zu werfen, und ich muß mich heute um sie kümmern«, sagte er, und so blieb ihr keine andere Wahl, als zuzustimmen.

Er erzählte ihr, was er über den Mann wußte, der Medicus in Guadalajara sei, wie er sagte.

11. KAPITEL EIN ARZT AUF BESUCH


Jona hatte in Benzaquens Heuschober gut geschlafen. Da er Benzaquens Frau keine Arbeit machen wollte, schlich er sich ins Haus, während sie noch schliefen, nahm ein brennendes Kohlestück vom Feuer, entzündete damit ein Feuer am Bach, der am Haus vorbeifloß, und kochte sich aus seinen zur Neige gehenden Vorräten einen Erbsbrei. So war er satt und ausgeruht, als Adriana Chacon zu ihm kam und ihm sagte, sie werde ihn an Benzaquens Stelle durchs Dorf führen. Er brauche sein Pferd nicht zu satteln, fügte sie hinzu. »Heute werde ich Euch die östliche Seite des Tals zeigen. Da gehen wir besser zu Fuß. Vielleicht zeigt Euch morgen jemand anders den anderen Teil, und dann könnt Ihr reiten«, sagte sie, und er nickte. Er staunte noch immer über ihre große Ähnlichkeit mit Ines, doch bei genauerer Betrachtung sah er, daß es auch Unterschiede gab: Sie war größer als Ines und hatte breitere Schultern und einen kleineren Busen. Ihr schlanker Körper war so ansehnlich wie ihr interessantes Gesicht; im Gehen zeichneten sich ihre runden Schenkel im grauen Tuch ihres Gewands ab. Doch man spürte, daß sie sich ihrer Schönheit nicht bewußt war; sie hatte keine törichte Geziertheit an sich.

Er nahm den kleinen, mit einem Tuch bedeckten Korb, den sie mitgebracht hatte, und trug ihn beim Gehen. Als sie an einem Feld vorbeikamen, auf dem Männer arbeiteten, hob sie die Hand zum Gruß, unterbrach sie aber nicht in ihrer Arbeit, um ihn vorzustellen. »Dieser Mann da bei der Aussaat ist mein Vater, Joaquin Chacon«, sagte sie.

»Ja, ich habe ihn gestern schon kennengelernt. Er gehörte zu denen, die herbeigestürzt kamen, um Euch zu helfen.«

»Auch er kann sich nicht an Euch erinnern«, sagte sie ihm.

»Kein Wunder. Als ich in Granada war, sagte man mir, daß er im Süden sei, um Seide zu kaufen.«

»Mica Benzaquen hat mir erzählt, daß Ihr damals meine Tante heiraten wolltet.«

Mica Benzaquen ist ein verdammtes Klatschmaul, dachte Jona, aber er hatte ja recht. »Ja, ich wollte Ines Saadi Denia heiraten. Benzaquen war ein enger Freund Eures Großvaters. Er diente als Vermittler und horchte mich für Isaak Saadi nach meiner Vermögenslage aus. Ich war jung und sehr arm, und meine Zukunftsaussichten waren düster. Ich hatte gehofft, Isaak Saadi würde mir den Seidenhandel beibringen, aber Benzaquen sagte mir, daß Isaak Saadi bereits einen Schwiegersohn habe, der bei ihm arbeite - Euer Vater -, und daß Ines einen Mann mit einem eigenen Geschäft oder Gewerbe heiraten müsse. Er gab mir deutlich zu verstehen, daß Euer Großvater keinen Schwiegersohn brauchen könne, den er unterstützen müsse, und schickte mich weg.«

»Und das hat Euch schwer getroffen?« fragte sie, doch leichthin, als wollte sie andeuten, daß nach all den Jahren diese Zurückweisung in der Jugend nicht mehr so schrecklich sein könne.

»Das war ich wirklich, doch nicht nur, weil ich Ines, sondern auch, weil ich Euch verloren hatte. Ich wollte sie heiraten, doch auch ihre kleine Nichte hatte mich verzaubert. Nachdem Ihr geflohen wart, fand ich einen glatten, roten Kiesel, mit dem Ihr immer gespielt hattet. Ich nahm ihn als Andenken und hatte ihn mehr als ein Jahr lang, bevor ich ihn verlor.«

Sie sah ihn an. »Tatsächlich?«

»Bei Gott. Es ist wirklich schade, daß Isaak mich nicht in seine

Familie aufnahm. Ich hätte Euer Onkel sein und zu Eurer Erziehung beitragen können.«

»Ihr hättet aber auch mit Ines in Pamplona sterben können, an Isidoro Sabinos Stelle«, erwiderte sie.

»Was für eine vernünftige Frau Ihr doch seid. Das hätte tatsächlich passieren können.«

Sie kamen zu einem stinkenden Pferch, in dem sich viele Schweine im Schlamm wälzten. Dahinter standen ein Räucherhaus und ein hagerer Schweinefarmer, den Adriana Jona als Ro-dolfo Garcia vorstellte.

»Ich habe schon gehört, daß wir einen Besucher von außerhalb haben«, sagte Garcia.

»Ich bin hier, um ihm den Stolz des Tals zu zeigen«, erwiderte sie. Sie führten Jona in das Rauchhaus, wo große, dunkle Schlegel von der Traufe hingen. Adriana erklärte ihm, daß die Schweine mit Eicheln aus dem Bergwald gefüttert würden. »Die Schinken werden mit Kräutern und Gewürzen eingerieben und langsam geräuchert, und das Ergebnis ist ein mageres, dunkles Fleisch mit kräftigem Geschmack.«

Auf Garcias Feldern spitzten bereits erste grüne Triebe aus der Erde. »Seine Saat ist im Frühjahr immer die erste, die angeht«, sagte sie zu Jona, und der Bauer erklärte ihm, daß er das den Schweinen zu verdanken habe. »Einmal pro Jahr verlege ich ihre Pferche. Und wo ich sie hinstelle, graben sie mit ihren scharfen Hufen und den wühlenden Schnauzen die Grasnarbe zusammen mit ihrem Kot unter, so daß eine fette Erde entsteht, die förmlich nach Samen schreit.«

Sie verabschiedeten sich von ihm und gingen weiter. An einem Bach entlang wanderten sie durch Feld und Wald, bis sie zu einer nach frischen Spänen duftenden Holzwerkstatt kamen, in der ein Mann namens Jacob Orabuena stabile Möbel und Holzwerkzeuge anfertigte und Bauholz sägte. »Hier auf dem Berg gibt es genug Holz, um mich für immer in Arbeit zu halten«, sagte er zu

Jona, »aber wir sind nur eine kleine Gruppe, und der Bedarf an den Dingen, die ich herstelle, ist schnell befriedigt. Die Abgeschiedenheit dieses Tales, die wir um unserer Sicherheit willen schätzen, macht es uns unmöglich zu verkaufen, was wir herstellen. Und obwohl wir hin und wieder einen Wagen oder zwei mit Waren volladen und die schwierige Reise nach Jaca oder Huesca auf uns nehmen, müssen wir verhindern, daß die Leute auf der Suche nach Rodolfos guten Schinken oder meinen Möbeln hierherkommen. Wir dürfen keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Und deshalb helfe ich auf den Feldern, wenn ich in der Werkstatt keine Arbeit habe.«

Dann bat er Jona um einen Gefallen. »Senora Chacon sagt, daß Ihr Arzt seid.«

»Ja?«

»Meine Mutter hat oft Kopfweh. Wenn es auftritt, sind es schreckliche Schmerzen.«

»Ich sehe sie mir sehr gerne an«, erwiderte Jona. Dann fiel ihm etwas ein.

»Sagt ihr... und jedem, der einen Arzt aufsuchen will... daß ich morgen vormittag in Mica Benzaquens Scheune zu finden bin.«

Orabuena lächelte und nickte. »Ich bringe meine Mutter zu Euch«, sagte er.

Sie folgten weiter dem Bach bis zu einem schattigen Tümpel, an dem sie rasten konnten. Der kleine, tuchbedeckte Korb, den er für sie trug, enthielt Brot, Ziegenkäse, grüne Zwiebeln und Rosinen, und dazu tranken sie kaltes Wasser aus dem Bach, das sie mit bloßen Händen schöpften. Ihr Trinken schreckte Forellen von beträchtlicher Größe auf, die sich ins Gewirr der Wurzeln am unterspülten Ufer flüchteten.

»Euer Tal ist ein wunderbarer Ort zum Leben«, sagte er.

Sie antwortete nicht, sondern schüttelte das Tuch aus, so daß die Brotkrumen als Fischfutter in den Tümpel rieselten. »Ich glaube, es ist Zeit für eine Siesta«, sagte sie, lehnte sich mit dem Rücken an einem Baumstamm und schloß die Augen. Er folgte ihrem klugen Beispiel. Nur der Gesang der Vögel war zu hören und das Plätschern des Wassers, und er ruhte eine Weile, ein traumloses Dösen. Als er die Augen wieder öffnete, schlief sie noch, und er betrachtete sie in aller Ruhe. Sie hatte das Saadi-Ge-sicht, die lange, gerade Nase, den breiten, dünnlippigen Mund mit den sinnlichen Winkeln, die ihre Gefühle verrieten. Er war sich irgendwie sicher, daß sie eine zu starker Leidenschaft fähige Frau war, und doch schien ihr nicht daran gelegen zu sein, einen Mann zu bezaubern, denn er bemerkte an ihr keins der kleinen Zeichen, mit denen andere Frauen, wie zurückhaltend auch immer, ihre Bereitschaft andeuten. Vielleicht war es einfach so, daß er ihr gleichgültig war. Vielleicht betrauert sie aber auch immer noch ihren toten Gatten, dachte er, und einen törichten Augenblick lang beneidete er ihren entschlafenen Liebhaber. Ihr Körper war schlank, aber kräftig. Sie hat sehr gute Knochen, dachte er, und in diesem Augenblick öffnete sie die Augen und sah Jona an, der versunken ihren Wuchs musterte.

»Sollen wir jetzt weitergehen?« fragte sie, und er nickte und stand auf. Als er ihr die Hand reichte, um ihr aufzuhelfen, spürte er, daß ihre Finger kühl und trocken waren.

Am Nachmittag besuchten sie die Ziegen- und Schafherden, und er lernte einen Mann kennen, der tagaus tagein an den Wasserläufen entlangwanderte, um Steine zu sammeln, die für den Hausbau verwendet werden konnten. Wie Naturdenkmale stapelten sie sich vor seinem Haus und warteten auf den Tag, daß jemand etwas bauen wollte.

Sie waren beide müde, als Adriana ihn am späten Nachmittag zu Benzaquens finca zurückbrachte. Sie hatten sich bereits verabschiedet und waren ihrer Wege gegangen, als sie sich noch einmal umdrehte.

»Wenn Ihr morgen als Arzt fertig seid, zeige ich Euch sehr gern des Rest des Tales«, sagte sie, und er dankte ihr noch einmal für ihre Freundlichkeit und fügte hinzu, daß er sich darauf freue.

Früh am nächsten Morgen kam als erste Patientin eine Frau namens Viola Violante zu dem Arzt auf Besuch. »Der Teufel sitzt in meinem Augenzahn«, sagte sie.

Als er ihr in den geöffneten Mund spähte, sah er sofort, was sie quälte, denn ein Schneidezahn war verfärbt und das Zahnfleisch darum herum sehr blaß. »Wenn ich Euch nur schon früher gesehen hätte, Senora«, murmelte er, doch er hatte eine Zange in seiner Arzttasche, und der Zahn mußte auf jeden Fall gezogen werden. Wie Jona befürchtet hatte, war er bereits verfault und brach während des Ziehens. Obwohl er sich anstrengen mußte, um alle kranken Wurzelteile zu entfernen, lagen am Ende die Bruchstücke im Staub vor Senora Violantes Füßen. Blut spuckend, aber voll des Lobes für seine Arbeit, entfernte sie sich.

Inzwischen hatten sich mehrere Leute versammelt, und er war den ganzen Vormittag über beschäftigt. Er kümmerte sich um jeden Patienten einzeln, und um ungestört zu sein, bat er die anderen, ein Stückchen weiter weg zu warten. Durand Chazan Ha-levi stutzte er einen eingewachsenen Zehennagel und hörte dann zu, wie Asher de Segarra den Durchfall beschrieb, der ihn immer wieder plagte.

»Ich habe keine Arznei bei mir, und Ihr seid weit weg von der nächsten Apotheke«, sagte er zu Senor Segarra. »Aber bald blühen die Rosen. Wenn Ihr einen Becher voll Blütenblätter mit Honig in Wasser kocht, den Sud gut auskühlen laßt und ein Hühnerei hineinquirlt, bekommt Ihr einen Trank, der Eure Beschwerden lindert.«

Mittags brachte Lea Chazan ihm Brot in einer Schüssel Brühe, und er aß dankbar und machte sich dann wieder daran, Karbunkel zu stechen, über Verdauung und Ernährung zu sprechen und

Leute mit einem Becher zum Pinkeln hinter die Scheune zu schicken, damit er ihren Urin untersuchen konnte.

Irgendwann kam Adriana Chacon. Sie stand da und unterhielt sich mit den Wartenden. Ein paarmal wandte sie den Blick zur Scheune, wo er jemanden behandelte.

Doch als er das nächste Mal den Kopf hob, weil er sie sehen wollte, war sie verschwunden.

Am nächsten Morgen erschien Adriana auf einer moosbraunen Stute mit dem Namen Dona. Zuerst ritten sie zur Kirche, wo sie ihm Padre Serafino vorstellte. Der Priester fragte ihn, woher er komme, und Jona sagte ihm, aus Guadalajara. Padre Serafino spitzte die Lippen. »Ihr seid weit gereist.«

Das Schlimme am Lügen, das hatte Jona schon vor langer Zeit erkannt, war, daß eine Lüge viele weitere nach sich zog. So beeilte er sich, das Thema zu wechseln, und lobte die kleine, aus Stein und Balkenwerk erbaute Kirche. »Hat sie auch einen Namen?« fragte er.

»Ich habe mir schon einige Namen überlegt, die ich den Gemeindemitgliedern vorschlagen will, denn sie müssen mich bei dieser Entscheidung beraten. Zuerst dachte ich an >Kirche zum heiligen Dominik< aber viele andere Kirchen tragen diesen Namen bereits. Was meint Ihr dazu, wenn ich sie >Kirche zu Cosme und Damian< nenne?«

»Waren das Heilige, Padre?« fragte Adriana.

»Nein, mein Kind, das waren frühe Märtyrer, zwei in Arabien geborene Zwillingsbrüder. Sie wurden beide Ärzte, die sich ohne Bezahlung um die Armen kümmerten und viele heilten. Als der römische Kaiser Diokletian anfing, die Christen zu verfolgen, befahl er den Brüdern, ihrem Glauben zu entsagen, und als sie sich weigerten, ließ er sie mit dem Schwert köpfen. - Ich habe heute morgen von einem anderen Arzt gehört, der Leidende behandelt und jede Bezahlung abgelehnt hat«, ergänzte er.

Jona sah sich ungerechtfertigterweise gelobt und wollte nicht in einem Atemzug mit Märtyrern genannt werden. »Normalerweise nehme ich für meine Dienste Bezahlung an, und zwar sehr gerne«, sagte er. »Aber im Augenblick bin ich ein Gast in diesem Tal. Das wäre ein armseliger Gast, der von seinen Gastgebern Bezahlung annehmen würde.«

»Ihr habt selbstlos gehandelt«, sagte Padre Serafino, der sich von seiner Meinung nicht abbringen ließ. Er segnete sie, als sie sich verabschiedeten.

Am anderen Ende des Tals standen mehrere fincas, die Häuser von Schäfern, die sich große Schaf- und Ziegenherden aufgebaut hatten. Doch Jona und Adriana hielten nicht an, um an die Türen zu klopfen, sondern ließen ihre Pferde in stiller Eintracht vorbeitrotten.

Er hatte sie gebeten, kein Essen mitzunehmen, weil er für sie beide Forellen fangen wollte, doch sie hatte ein wenig Brot und Käse dabei, und das schlichte Mahl genügte ihnen, so daß er sich die einfache Übung mit der Angelschnur ersparte. Sie banden die Pferde auf einem schattigen Grasstück in der Nähe an und verbrachten die Mittagszeit wie tags zuvor schlafend unter einem Baum am Bach.

Der Tag wurde sehr heiß, und Jona schlummerte friedlich und lange. Als er aufwachte, glaubte er, sie schlafe noch, und er ging zum Bach und spritzte sich das sehr kalte Wasser ins Gesicht. Doch kurz darauf stand sie ebenfalls auf und kniete sich neben ihn, um es ihm gleichzutun. Dann schöpften sie mit bloßen Händen Wasser und tranken, und dabei sahen sie einander über die tropfenden Finger hinweg direkt in die Augen, aber sie wandte den Blick sofort wieder ab. Auf dem Rückweg ließ er sie ein Stückchen voranreiten, damit er betrachten konnte, wie sie mit vollkommen geradem Rückgrat im Sattel saß und auch bei einem kurzen Galopp behende ihr Gleichgewicht behielt. Manchmal wehten ihre offenen braunen Haare im leichten Wind.

Vor ihrem Haus sattelte er ihr Pferd ab. »Danke, daß Ihr mich heute wieder herumgeführt habt«, sagte er, und sie lächelte und nickte. Er wollte noch nicht gehen, doch von ihr kam keine Einladung zum Bleiben.

Er ritt zu Benzaquen zurück und ließ seinen grauen Araber in der Nähe grasen. Die Männer des Tals hatten angefangen, einen Graben auszuheben, um Wasser vom Bach zu den trockenen Teilen der Weide zu leiten. Eine Stunde lang half er ihnen und trug Eimer mit Aushub zu einer Senke, wo er die Erde ausbreitete, doch nicht einmal die schwere Arbeit konnte die eigenartige Ruhelosigkeit und Reizbarkeit, die ihn erfaßt hatte, vertreiben.

Der folgende Tag war ein Samstag. Beim Aufwachen war sein erster Gedanken, daß er sofort zu Adriana Chacon gehen wollte, doch schon kam Mica Benzaquen in die Scheune und fragte ihn, ob er nicht mit einigen Männern in den Wald gehen und ihnen Heilkräuter zeigen könne, mit denen sie Krankheiten bekämpfen konnten, wenn sie nach Senor Toledanos Abreise wieder ohne Arzt wären.

»Außer natürlich, Ihr habt vor, für immer hierzubleiben«, sagte Mica. Jona spürte, daß dies nicht nur im Spaß gesprochen war, doch er lächelte und schüttelte den Kopf.

Kurz darauf machte er sich mit Benzaquen, Asher de Segarra und Pedro Abulafin auf den Weg. Er war sicher, daß er aus Unwissenheit einige wertvolle Pflanzen übersehen würde, aber Nuno hatte ihn gut ausgebildet, und er wußte, daß diese Männer mitten in einer Fundgrube für Apotheker lebten. Noch auf der Wiese zeigte er ihnen eine Wickenart, die Geschwüre linderte oder, mit Wein zu einer Paste vermischt, gegen Schlangenbisse half. Und Lupinen, die, mit Wein genommen, Ischiasschmerzen linderten und mit Essig Würmer aus dem Darm vertrieben. In ihren Gemüsegärten, belehrte er sie, wüchsen weitere wertvolle Pflanzen. »Linsen, mit ihren Schalen gegessen, besänftigen die

Eingeweide bei Durchfall. Wie auch Mispeln, wenn man sie kleinhackt und mit Wein oder Essig vermischt. Rhabarber regt einen trägen Darm an. Sesamsamen in Wein helfen gegen Kopfschmerzen, und weiße Rüben lindern die Gicht.«

Im Wald zeigte er ihnen wilde Erbsen, gut gegen Krätze und Gelbsucht, wenn mit Gerste und Honig vermischt. Und Griechisches Heu, das, mit Salpeter und Essig vermischt, die monatlichen Krämpfe der Frauen linderte. Und Hyazinthen, die, mit einem Fischkopf verbrannt und mit Olivenöl vermischt, eine gute Salbe gegen schmerzende Gelenke ergaben.

Zwischendurch machte Pedro Abulafin, dessenfinca am nächsten lag, sich davon und kehrte kurz darauf mit zwei Broten und einem Krug zurück, und die Männer setzten sich auf Felsen am Bach, teilten und aßen das Brot und ließen den Krug herumgehen. Er enthielt einen säuerlichen Wein, den man hatte reifen lassen, bis er fast so stark wie Cognac war.

Die vier Männer waren heiter und voll guter Kameradschaft, als sie den Wald verließen. Jona fragte sich, ob noch Zeit war für den Besuch bei Adriana, an den er frühmorgens gedacht hatte, doch als sie zu Benzaquens Scheune zurückkehrten, wartete Rodolfo Garcia bereits auf sie.

»Ich frage mich, ob Ihr mir wohl helfen könnt, Senor. Es geht um eine meiner besten Säue. Sie versucht zu werfen, aber nach einem ganzen Tag Wehen rührt sich noch immer nichts. Ich weiß, daß Ihr ein Arzt für Menschen seid, aber...«

Und so brach Jona in Garcias Begleitung unverzüglich zum Schweinestall auf, wo die trächtige Sau schwach atmend und offensichtlich in Schwierigkeiten auf der Seite lag. Er zog sein Hemd aus und schmierte sich Hand und Arm mit Schmalz ein. Mit wenigen Handgriffen zog er ein dralles totes Ferkel aus der Sau, und es war, als hätte er eine Flasche entkorkt. Innerhalb kurzer Zeit kamen acht lebendige Ferkel hervor und saugten schon bald darauf die Milch ihrer Mutter.

Jonas Bezahlung bestand aus einem Bad. Garcias Zuber wurde in die Scheune gebracht, und der Schweinezüchter trug zwei große Töpfe heißes Wasser herbei. Zufrieden saß Jona in der Wanne und schrubbte sich sauber. Als er in Benzaquens Haus zurückkehrte, fand er auf dem Tisch einen von Lea Chazan für ihn hergerichteten, abgedeckten Teller mit Brot und einem kleinen Käse sowie einen Becher mit süßem, leichtem Wein. Jona aß, ging dann nach draußen und pinkelte im Mondlicht an einen Baum. Anschließend kletterte er in den Heuschober, zog seine Decke vor die unverglaste Fensterluke, damit er die Sterne sehen konnte, und schlief sofort ein.

Am Sonntag morgen begleitete er Mica und Lea zur Kirche, wo er sah, daß Adriana neben ihrem Vater saß und dessen Frau neben ihm auf der anderen Seite. Es gab zwar leere Bänke, doch Jona ging direkt zu Adriana und setzte sich neben sie. Lea und Mica folgten ihm und nahmen links von ihm Platz.

»Guten Morgen«, sagte er zu Adriana.

»Guten Morgen.«

Er wollte noch mit ihr reden, doch der Beginn des Gottesdienstes verhinderte es. Padre Serafino hielt die Messe sachlich und nüchtern. Manchmal berührten sich ihre Körper, wenn sie sich hinknieten oder aufstanden. Jona war sich bewußt, daß die Leute sie beobachteten.

Padre Serafino verkündete, daß er am Vormittag zur westlichen Weide kommen würde, um den Bewässerungsgraben zu segnen. Nach dem Schlußgesang stellten die Gläubigen sich in einer Reihe auf. Während der Priester zum Beichtstuhl ging, sagte Lea, wenn Senor Toledano nicht zu beichten wünsche, sollten sie am besten sofort gehen, da sie Erfrischungen vorbereiten müsse für die Einwohner von Pradogrande; diese würden heute in ihr Haus kommen, um ihren Gast kennenzulernen und ihm die Ehre zu erweisen. Erleichtert folgte Jona ihr zur Tür hinaus.

Die Besucher kamen beladen mit Geschenken für ihn, Honigkuchen, Olivenöl, Wein, einem kleinen Schinken. Jacob Ora-buena schenkte ihm eine bemerkenswerte Schnitzerei, eine Drossel in vollem Flug, lebensecht bemalt mit Farben, die er aus Waldkräutern gewonnen hatte. Adriana kam mit Vater und Stiefmutter, aber er fand keine Gelegenheit, allein mit ihr zu reden. Nach einer Weile ging sie wieder, und er kochte innerlich vor Wut.

12.KAPITEL ADRIANA CHACON


Adriana hatte beobachtet, wie Jona in Micas Scheune Patienten behandelte, und es beeindruckte sie, wie vertieft er - in seine Arbeit war und wie ehrerbietig er jeden Patienten behandelte. Sie sah, daß er ein sanfter Mann war.

»Anselmo Montelvan ist wütend«, sagte ihr Vater am Sonntag zu ihr. »Er sagt, man sieht dich zu häufig mit diesem Arzt. Er sagt, das entehrt seinen Sohn, deinen Verlobten.« »Anselmo liegt nur wenig an seinem Sohn und erst recht nichts an mir«, erwiderte sie. »Ihm geht es nur darum, das Land in die Finger zu bekommen, das seinem Vater gehörte.«

»Es wäre am besten, wenn man dich nicht mehr mit Senor To-ledano sieht. Außer natürlich, wenn du glaubst, daß seine Absichten ernsthaft sind. Es wäre gut, wenn wir ein Arzt hätten, der hier im Dorf lebt.«

»Ich habe keinen Grund zu glauben, daß er überhaupt irgendwelche Absichten hat«, sagte sie gereizt.

Trotzdem machte ihr Herz einen Satz, als Jona Toledano am Montag morgen an ihrer Tür erschien.

»Geht Ihr mit mir spazieren, Adriana?«

»Ich habe Euch doch schon beide Seiten des Tales gezeigt, Senor.«

»Bitte, zeigt sie mir noch einmal.«

Gemächlich plaudernd schlenderten sie wieder am Bach ent-lang. Mittags nahm er seine Angelschnur aus der Tasche und ein winziges Döschen mit Würmern, die er in dem frisch ausgehobenen Graben in der Wiese gesammelt habe, wie er sagte. Sie ging nach Hause, um eine glühende Kohle von ihrer Kochstelle zu holen, und als sie mit dem Kohlestückchen in einem kleinen Blecheimer zurückkehrte, hatte er bereits für jeden vier kleine Forellen gefangen und ausgenommen. Für das Feuer brach er trockene Äste von den Bäumen, und bald darauf aßen sie das süße, angekohlte Forellenfleisch mit ihren Händen und leckten sich danach die Finger sauber.

Zur Siesta legte er sich dicht neben sie. Während sie langsam eindöste, war sie sich seines ruhigen Atmens, des Hebens und Senkens seiner Brust bewußt. Als sie aufwachte, saß er nahe bei ihr, ein großer, stiller Mann, der über sie wachte.

Jeden Tag gingen sie miteinander spazieren. Die Dorfbewohner gewöhnten sich an ihren Anblick, wie sie, ins Gespräch vertieft oder in freundschaftlichem Schweigen, nebeneinanderher schlenderten. Am Donnerstag vormittag lud sie ihn in ihr Haus ein, um ihm ein Mittagessen zu kochen, und es war, als hätte sie eine unsichtbare Grenze überschritten. Auf dem Weg dorthin fing sie an, von der Vergangenheit zu sprechen. Ohne Einzelheiten zu nennen, erzählte sie ihm, daß ihre Ehe mit Abram Montelvan schwierig und unglücklich gewesen sei. Sie erzählte ihm, was sie noch von ihrer Mutter, ihren Großeltern und ihrer Tante Ines wußte. »Ines war noch mehr eine Mutter für mich als Felipa. Eine von beiden zu verlieren wäre eine Katastrophe gewesen, aber sie starben beide, und dann auch noch mein Großvater und meine geliebte Großmutter Suleika.«

Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Erzählt mir von Eurer Familie«, sagte sie.

Er erzählte ihr furchterregende Geschichten. Von seiner Mutter, die an einer Krankheit gestorben war. Von einem ermordeten älteren Bruder und von einem Vater, der von einem judenhassen-den Pöbel erschlagen worden war. Von einem jüngeren Bruder, den man ihm entrissen hatte.

»Schon vor langer Zeit habe ich mich mit dem Verlust derer abgefunden, die tot sind. Viel schwerer fällt es mir jedoch, meinen Bruder Eleasar nicht dauernd zu betrauern, weil ich tief in mir drinnen spüre, daß er noch am Leben ist. Wenn es so ist, dann ist er inzwischen ein erwachsener Mann, aber wo auf dieser weiten Welt lebt er? Er ist so gründlich aus meinem Leben verschwunden wie die anderen. Ich weiß, daß er lebt, aber ich werde ihn nie wiedersehen, und das ist kaum zu ertragen.«

Die Männer, die den Graben aushoben, arbeiteten gerade an einer Stelle dicht bei Adrianas Haus und jetzt sahen sie zu, wie dieser Mann und diese Frau, abwechselnd redend und zuhörend, dicht nebeneinander an ihnen vorbeigingen.

Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, wollte Adriana ihm sagen, er solle sich in die Wohnstube setzen, aber ihre Worte erstarben ihr im Mund, denn sie hatten sich unbewußt einander zugewandt, und er küßte ihr Gesicht. Kurz darauf erwiderte sie seine Küsse, und ihre Münder und ihre Körper berührten sich.

Sie war verwirrt von ihrer gegenseitigen Leidenschaft, doch als er erst ihren Rock und dann ihr Untergewand anhob, bekam sie es mit der Angst. Sie wollte fliehen, als sie seine Hand spürte. Das muß etwas sein, was alle Männer tun, nicht nur Abram Montel-van, dachte sie voller Entsetzen und Abscheu. Doch während sein Mund ihr mit sanften Küssen huldigte, sprach seine Hand zu ihr, und es war anders. Liebevoll. Und eine Wärme stieg in ihr auf und kroch ihr als köstliche Schwäche in die Glieder, bis sie auf kraftlose Knie niedersank. Auch er sank auf die Knie und küßte und streichelte sie weiter.

Von draußen kam die Stimme eines der Männer, der einem anderen weiter weg etwas zurief: »Nein, nein. Du mußt die verdammten Steine wieder auf den Damm legen. Ja, wieder auf den Damm, sonst hält er dem Wasser nicht stand.«

Im Haus lagen Adriana und Jona halb angezogen beieinander, und die Binsen auf dem Boden unter ihnen raschelten und knisterten.

Als sie sich ihm darbot, war alles ganz einfach. Er hatte nicht Abrams Schwierigkeiten, er hatte überhaupt keine Schwierigkeiten, na ja, ein Arzt, dachte sie verwegen... Sie wußte, es war schwärzeste Sünde, dies für den freudigsten Augenblick ihres Lebens zu halten, aber dieser Gedanke, jeder Gedanke entfloh ihr, als sie plötzlich wieder Furcht beschlich. Denn etwas nie Gekanntes geschah mit ihr. Sie meinte den Tod herannahen zu spüren. O Gott, bitte, flehte sie, aufs wunderbarste lebendig bis zum Ende, als ihre ganze Welt zu zittern und zu schwanken begann, und mit beiden Händen klammerte sie sich an Jona Tole-dano, um nicht zu fallen.

An den nächsten beiden Abenden spielte Jona ein neues Spiel, wenn der Tag verlosch; früh sagte er Mica und Lea gute Nacht und wartete dann ungeduldig auf die volle, pflaumenfarbene Dunkelheit, die es ihm gestattete, ungesehen aus Benzaquens Scheune zu schlüpfen. Er mied das Mondlicht, drückte sich in den Schatten, wo er ihn fand, und schlich so verstohlen zu ihrem Haus wie einer, der Kehlen durchschneiden will. In beiden Nächten war die Tür für ihn geöffnet, und sie stand gleich dahinter und stürzte sich auf ihn mit einer Begierde, die seiner nicht nachstand. Jedesmal schickte sie ihn lange vor Tagesanbruch wieder weg, denn alle Dörfler waren Bauern, die früh aufstanden, um ihre Tiere zu versorgen.

Sie glaubten, unauffällig und vorsichtig zu sein. Vielleicht waren sie es auch, doch am Freitag morgen bat Benzaquen Jona, ihn zu begleiten. »Damit wir uns besprechen können.«

Die beiden gingen zu Fuß zu einer Stelle ein Stückchen außerhalb des Dorfes. Mica zeige ihm einen breiten Streifen grünenden Landes, der sich vom Fluß bis zum Fuß des Berges erstreckte.

»Das Grundstück liegt genau in der Mitte des Tales«, sagte Mica. »Eine gute Lage, leicht zu erreichen von jedem Dorfbewohner, der einen Arzt braucht.«

Jona dachte an eine frühere Zeit, als er der Werbende gewesen war und Benzaquen ihn kurzerhand abgewiesen hatte. Er vermutete, daß Mica nun für das Dorf um ihn warb.

»Dieses Land war Eigentum des verstorbenen Fireas ben Sa-gan, gehört aber seit seiner Heirat Joaquin Chacon. Er hat bemerkt, daß Ihr ein Auge auf seine Tochter geworfen habt, und mich gebeten, es Euch beiden anzubieten.«

Sie benutzten Adriana als Köder, erkannte er. Es war ein schönes Stück bewaldeten Landes, wo ein Haus an erhöhter Stelle stehen konnte und doch so nahe am Bach, daß man sein Plätschern hörte. Eine Familie, die hier lebte, konnte an warmen Sommertagen in den Tümpeln planschen. Vorne lag ein kleines Feld, hinten erhob sich die bewaldete Bergflanke.

»Es liegt sehr günstig im Tal. Jeder könnte zu Fuß zu Euch kommen. Die Männer würden Euch ein schönes Haus bauen. Wir sind nur eine kleine Gemeinde«, sagte Benzaquen. »Ihr würdet neben den Menschen auch Tiere behandeln müssen, und vielleicht auch ein wenig Land bestellen, wenn Ihr wollt.«

Es war ein gutes Angebot und verdiente eine Antwort. Eine höfliche Ablehnung lag Jona auf den Lippen; zwar hatte er das Tal als Garten Eden gesehen, doch nie für sich selbst. Er wollte aber nicht ablehnen, bevor er wußte, welche Auswirkungen seine Entscheidung auf Adriana Chacons Lebens haben würde.

»Laßt mich darüber nachdenken«, sagte er, und Benzaquen nickte, froh darüber, daß er nicht gleich eine endgültige Ablehnung erhalten hatte. Auf dem Rückweg bat er Benzaquen, etwas für ihn zu tun. »Erinnert Ihr Euch noch an den Abend, als wir uns in Isaak Saadis Haus in Granada trafen, an diese Sabbatfeier nach der alten Religion? Würdet Ihr Eure Freunde heute abend zu einer solchen Feier einladen?«

Benzaquen runzelte die Stirn. Er musterte Jona und sah nun vielleicht Schwierigkeiten, die er zuvor nicht erkannt hatte, doch dann lächelte er ein wenig gequält. »Wenn es etwas ist, das Ihr Euch unbedingt wünscht...«

»Das ist es, Mica.«

»Dann will ich den Männern Bescheid geben.«

Doch an diesem Abend kamen nur Asher de Segarra und Pedro Abulafin zu Benzaquen, und an ihrer verlegenen Art merkte Jona, daß sie nicht aus Frömmigkeit gekommen waren, sondern weil sie ihn als Menschen schätzengelernt hatten.

Gemeinsam saßen sie da und warteten, bis am Himmel der dritte Stern sichtbar wurde, der den Beginn des Sabbat ankündigte.

»Ich weiß nicht mehr viel von den Gebeten«, sagte Asher.

»Ich auch nicht«, sagte Jona. Er hätte ihnen das Schema vorbeten können. Aber am vergangenen Sonntag hatte Padre Sera-fino von der Dreifaltigkeit gesprochen und seiner Gemeinde gesagt: »Es sind drei. Der Vater erschafft. Der Sohn rettet die Seelen. Der Geist läutert die Sünder dieser Welt.«

Das war es, woran die Neuen Christen Pradograndes jetzt glaubten, erkannte Jona. Sie schienen glücklich zu sein als Katholiken, solange nur die Inquisition sie in Ruhe ließ. Wer war Jona Toledano, daß er sie bitten durfte zu singen: »Höre, Israel, der Ewige unser Gott ist ein einiges, ewiges Wesen.«

Asher de Segarra legte Jona die Hand auf die Schulter. »Es bringt nichts, der Vergangenheit nachzutrauern.«

»Ihr habt recht«, sagte Jona.

Bald darauf dankte er ihnen und wünschte ihnen eine geruhsame Nacht. Es waren gute Männer, aber wenn er keinen Minjan echter Juden haben konnte, wollte er auch die widerwillige Teilnahme dieser Abtrünnigen nicht, die nur beteten, um ihm einen Gefallen zu tun. Er wußte, er würde mehr Trost finden, wenn er alleine betete, wie er es schon seit vielen Jahren tat.

An diesem Abend in Adrianas Haus hielt er einen Holzspan an ihr Kochfeuer, bis er brannte, und zündete damit ihre Lampe an. »Setz dich, Adriana«, sagte er. »Es gibt Dinge, die ich dir sagen muß.«

Im ersten Augenblick erwiderte sie gar nichts. »...Geht es darum, daß du bereits eine Frau hast?«

»Ich habe bereits einen Gott.«

In knappen Worten erzählte er ihr, daß er ein Jude sei, dem es gelungen war, seit seiner Kindheit sowohl der Konversion wie der Inquisition zu entgehen. Aufrecht und still saß sie auf ihrem Stuhl, hörte ihm zu, und ihr Blick verließ nie sein Gesicht.

»Ich wurde gefragt, ob ich hier in Pradogrande bleiben will, von deinem Vater und anderen. Aber ich könnte hier nicht leben, wo jeder alles vom anderen weiß. Ich kenne mich. Ich würde mich nicht ändern, und früher oder später würde mich jemand aus Angst verraten.«

»Lebst du an einem sichereren Ort?«

Er erzählte ihr von der hacienda, auf der er abgeschieden und sicher leben konnte, nahe genug an der Stadt, aber doch vor neugierigen Blicken geschützt. »Die Inquisition ist dort zwar einflußreich, aber man hält mich für einen Alten Christen. Ich gehe zur Messe. Ich bezahle der Kirche den Zehnten meines hervorragenden Einkommens. Man hat mich noch nie behelligt.«

»Bring mich weg von hier, Jona.«

»Ich würde dich gerne als meine Frau nach Hause führen, aber ich bin voller Angst. Wenn man mich eines Tages entlarvt, werde ich brennen. Und meine Frau hätte einen schrecklichen Tod zu erwarten.«

»Ein schrecklicher Tod kann jederzeit über jeden kommen«, sagte sie gelassen, und wieder erkannte er, daß sie immer nüchtern und vernünftig dachte. Jetzt stand sie auf, kam zu ihm und drückte ihn fest. »Es ehrt mich, daß du dein Leben in meine Hände gibst, indem du dich mir anvertraust. Du hast bis jetzt überlebt. Wir wer-den gemeinsam überleben.« Ihr Gesicht war feucht an dem seinen, und doch spürte er, wie ihre Mundwinkel sich zu einem Lächeln hoben. »Ich glaube, du wirst in meinen Armen sterben, wenn wir beide sehr alt sind... Wir müssen sofort von hier weg. Die Leute in diesem Tal sind so furchtsam. Wenn sie wissen, daß du ein Jude bist und von der Inquisition gesucht wirst, bringen sie dich eigenhändig um. Merkwürdig«, sagte sie. »Dein Volk war auch mein Volk. Als ich noch ein kleines Kind war, beschloß mein Großvater Isaak, daß wir nicht länger Juden sein dürfen. Und doch bereitete meine Großmutter Suleika für den Rest ihres Lebens jeden Freitagabend ein Festmahl für die ganze Familie zu und entzündete die Sabbatkerzen. Ich habe noch ihre kupfernen Kerzenhalter.« »Die nehmen wir mit.«

Als am nächsten Morgen die Schwärze der Nacht dem ersten grauen Licht wich, brachen sie auf und ritten den steinigen Pfad hoch, der aus dem Tal herausführte. Jona war ängstlich; er erinnerte sich an einen anderen Ritt bei Tagesanbruch, mit Manuel Fierro, an jenen Morgen, als wie aus dem Nichts ein Pfeil gekommen war, um das Leben des Mannes zu beenden, den er immer noch als seinen Meister betrachtete.

Jetzt versuchte niemand, sie zu töten. Dennoch blieb er wachsam und ließ die Pferde laufen, bis sie den Gebirgspfad verlassen hatten und auf die Straße nach Huesca eingebogen waren, doch von Verfolgern war nie etwas zu sehen.

Immer wenn er sie anschaute, hätte er am liebsten gejauchzt vor Glück.

In Huesca sah er, daß die Familie Aurelio bereits ein großes Bündel Theriak in ausgezeichneter Qualität vorbereitet hatte. Kurze Zeit darauf hatte er sein Lasttier aus dem Stall geholt, und sie waren wieder unterwegs. Von nun an beeilte er sich nicht mehr, sondern achtete darauf, die Tagesstrecken kurz zu halten, damit Adriana sich nicht überanstrengte.

Unterwegs gestand er ihr die Ausflüchte, die er in Pradogrande benutzt hatte - daß er nicht aus Guadalajara stamme und sie sich daran gewöhnen müsse, die Frau von Ramon Callico, dem Me-dicus von Saragossa, zu sein. Adriana verstand sofort den Grund für seine Lügen. »Ich mag den Namen Ramon Callico«, sagte sie, und von da an nannte sie ihn auch so, um sich daran zu gewöhnen.

Als sie schließlich Saragossa erreichten, sah sie sich die Stadt genau an, und als sie auf den Zuweg zu seinem Haus einbogen, war sie aufgeregt und neugierig. Jona sehnte sich nach einem Bad, einer Schüssel Grütze, einem Glas Wein und Adriana in seinem Bett, gefolgt von einem langen Schlaf, doch sie bettelte, bis er sie schließlich herumführte, mit ihr über das Grundstück spazierte und ihr zeigte, was es zu sehen gab, die Olivenbäume, Nunos Grab, den Bach mit seinen winzigen Forellen, die Obstbäume, den vernachlässigten Garten, der inzwischen mehr als verwildert war, und die hacienda.

Als er danach endlich bekommen hatte, wonach ihm verlangte, schliefen sie den halben Tag und die ganze Nacht.

Am nächsten Tag vermählten sie sich selbst. Jona band vier gerade Stecken an Stühle in der Wohnstube und hängte eine Decke darüber, als Hochzeitsbaldachin. Er zündete Kerzen an, und dann standen sie nebeneinander wie unter einem Zelt. »Gesegnet seist du, o Herr unser Gott, der uns mit seinen Geboten geheiligt und mir diese Braut gebracht hat.«

Sie sah ihn an. »Gesegnet seist du, o Herr unser Gott, der uns mit seinen Geboten geheiligt und mir diesen Bräutigam gebracht hat«, wiederholte sie mit feuchten, aber strahlenden Augen. Er schob ihr den Silberring auf den Finger, den sein Vater zu seinem dreizehnten Geburtstag für ihn gemacht hatte, doch er war sehr groß. »Das macht nichts«, sagte er zu ihr. »Dann trägst du ihn eben an einer kleinen Kette um den Hals.«

Er zertrat ein Glas unter dem Absatz als Symbol der Trauer über die Zerstörung des Tempels in Jerusalem, in Wahrheit aber hatten sie an diesem Tag nur wenig Trauer in ihren Herzen.

»Masel-tow, Adriana.«

»Masel-tow, Jona.«

Anstelle einer Hochzeitsfeier ging sie in den Garten und jätete Unkraut und dünnte die Zwiebeln aus. Jona ritt zum Hof seines Patienten Pascual Cabrera, um das schwarze Pferd zurückzuholen, das er bei ihm untergestellt hatte. Bald rannte der Rappe zusammen mit dem grauen Araber und Adrianas Pferd Dona über die Weide.

»Warum nennst du deine Pferde nur das Schwarze und das Graue?« fragte sie. »Warum haben sie keinen Namen?«

Wie sollte er ihr erklären, daß er vor langer Zeit einmal einen Esel mit zwei Namen gehabt und verloren hatte und daß er seit dieser Zeit keinem Tier mehr einen Namen geben konnte? Er zuckte nur die Achseln und lächelte.

»Darf ich ihnen Namen geben?« fragte sie, und er erwiderte, das wäre schön. Sein grauer Araber wurde zu Sultan. Adriana meinte, die schwarze Stute, die Manuel Fierro gehört hatte, sehe aus wie eine Nonne, und sie nannte das Pferd deshalb Hermana, Schwester.

An diesem Nachmittag begann sie, auf der hacienda, zu arbeiten. Das Haus war in seiner Abwesenheit ein wenig muffig geworden, und so riß sie Türen und Fenster auf, um frische Luft hereinzulassen. Sie schrubbte und wischte und polierte. Sie sammelte frische Binsen für den Boden und rückte die bequemen Sessel ein Stückchen näher ans Feuer. Die Kerzenhalter ihrer Großmutter und den geschnitzten Vogel aus Pradogrande stellte sie auf den Kaminsims. Binnen zwei Tagen war es, als hätte sie schon immer hier gelebt, und die hacienda war Adrianas Heim geworden.

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