TEIL VII. DER STUMME

ARAGON 3. APRIL 1509

1. KAPITEL EIN BRIEF AUS TOLEDO

Neben Nuno Fierro war Miguel de Montenegro der beste Arzt, den Jona je kennengelernt hatte. Ihre Bezirke überschnitten sich, aber die beiden Ärzte halfen sich gegenseitig, ohne sich je als Rivalen zu verstehen. Montenegro war Lehrmeister von Pedro Palma gewesen und hatte den jüngeren Mann vor kurzem zu seinem Teilhaber gemacht.

»Aber Pedro hat Lücken in seinem Wissen und seiner Erfahrung«, sagte Montenegro eines Tages zu Jona, als die beiden sich bei einem Glas Wein in einer Taverne in Saragossa entspannten. »Ich habe vor allem den Eindruck, daß er mehr Erfahrung in der Wissenschaft der Anatomie nötig hat. Er würde viel lernen, wenn er mit Euch arbeiten könnte, falls sich wieder einmal die Gelegenheit ergibt.«

Beide wußten, daß Montenegro Jona bat, Palma an einer Leichenöffnung teilnehmen zu lassen.

Jona achtete Montenegro sehr. Der Ältere war einer der Prüfer gewesen, die Ramon die Zulassung als Arzt erteilt hatten, und es fiel Jona schwer, ihm etwas abzuschlagen. Aber Jona war sich seit seiner Heirat sehr deutlich seiner Verantwortung für Adriana bewußt, und er wollte sie nicht in Gefahr bringen. »Ich halte Euch für einen ausgezeichneten Chirurgen, und Ihr solltet ihn deshalb selbst unterweisen, wie Euer Freund Nuno mich unterwiesen hat«, antwortete er.

Montenegro nickte, denn er verstand Jonas Entscheidung und nahm sie ohne Groll hin. »Wie ist es um Eure Frau bestellt, Ramon?«

»Unverändert, Miguel.«

»Ach ja. Aber wie Ihr wißt, braucht so etwa manchmal seine Zeit. Sie ist eine so bezaubernde Frau. Wollt Ihr sie bitte von mir grüßen?« sagte er, und Jona nickte und trank seinen Wein aus.

Jona konnte nicht abschätzen, ob Adriana unfruchtbar war oder ob der Fehler bei ihm lag, denn seines Wissens hatte er noch nie eine Frau geschwängert. Ihre Kinderlosigkeit war das einzige Unglück in ihrer Ehe. Jona wußte, wie sehr seine Frau sich eine Familie wünschte, und es tat ihm weh, die Traurigkeit in ihrem Blick zu sehen, wenn sie die Kinder anderer Frauen betrachtete.

Er hatte Montenegro um Rat gefragt, und nach dem gemeinsamen Studium der verfügbaren medizinischen Literatur hatten sie beschlossen, ihr einen Aufguß aus Hülsenfrüchten, Kampfer, Zucker, Gerstenessenz und mit Wein vermischter gemahlener Alraunwurzel zu geben, ein Rezept, das angeblich von dem islamischen Arzt Ali ibn Ridwan stammte. Drei Jahre lang nahm Adriana diesen Trank nun schon regelmäßig, zusammen mit anderen Arzneien, doch bislang ohne Ergebnis.

Sie führten ein stilles und geordnetes Leben. Um den Schein zu wahren, begleitete Adriana ihn an mehreren Sonntagen pro Monat in die Kirche, doch ansonsten ging sie nur selten in die Stadt, wo sie als Frau des Medicus mit Hochachtung behandelt wurde. Sie bebaute einen vergrößerten Küchengarten, und zusammen mit Jona hatte sie langsam, aber stetig immer mehr der Obst- und Olivenbäume zum Fruchttragen gebracht. Es machte ihr großen Spaß, das eigene Land zu bearbeiten wie ein peon.

Es war für Jona eine sehr befriedigende Zeit. Zusätzlich zu der Frau, die er liebte, hatte er eine Arbeit, die ihm teuer war, und sogar noch die Freuden der Gelehrsamkeit. Nur wenige Monate nach ihrer Ankunft aus Pradogrande war er auf der letzten Seite des Kanon der Medizin angelangt. Fast widerstrebend hatte er das letzte Blatt mit hebräischen Schriftzeichen übersetzt - eine Warnung an die Ärzte, daß Patienten in einem geschwächten Zustand oder solche, die an Durchfall oder Übelkeit litten, nicht zur Ader gelassen werden sollten.

Und dann war er soweit, daß er auf einem eigenen Blatt die letzten Worte niederschreiben konnte.


Der Beschluß der Arbeit und eine Danksagung


Möge diese unsere kurze Abhandlung über die allgemeinen

Prinzipien der Wissenschaft der Medizin für tauglich befunden werden. Unsere nächste Aufgabe wird ein Buch der Heilkräuter sein, mit Allahs Erlaubnis.

Möge Er unser Beistand sein, und Ihm danken wir für

seine unermüdliche Gnade.


DAS ENDE DES ERSTEN BUCHS DES KANONS DER MEDIZIN VON

AVICENNA DEM ERSTEN DER ÄRZTE.


Jona nahm feinen Sand, um die Tinte zu löschen, und schüttelte ihn vorsichtig wieder ab, bevor er das Blatt oben auf den beträchtlich angewachsenen Manuskriptstapel auf seinem Schreibtisch legte. Er war erfüllt von einer ganz eigenen Freude, die, wie er glaubte, nur Schriftsteller und Gelehrte empfinden können, die sich über lange Zeit hinweg und in völliger Einsamkeit abgemüht haben, um ihr Werk zu vollenden, und er bedauerte, daß Nuno Fierro das Ergebnis des Auftrags nicht mehr sehen konnte, den er seinem Lehrling erteilt hatte.

Jona stellte den spanischen Avicenna in ein Regal und den hebräischen Avicenna wieder in sein Nischenversteck in der Wand, aus dem er nun den zweiten Teil von Nunos Auftrag nahm, die medizinischen Aphorismen des Maimonides. Und da noch Zeit war, bis Adriana ihn zum Abendessen rief, setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch und fing an, die erste Seite zu übersetzen.

Die beiden pflegten nur wenig gesellschaftlichen Umgang. Kurz nach Adrianas Ankunft in Saragossa hatten sie Montenegro zum Abendessen eingeladen. Der kleine, lebhafte Mann war Witwer und hatte ihnen ihre Freundlichkeit vergolten, indem er sie in ein Gasthaus in der Stadt einlud. Aus diesen gegenseitigen Bewirtungen war eine liebgewonnene Gewohnheit geworden.

Adriana war bezaubert von der Geschichte ihres Hauses. »Erzähl mir von den Menschen, die hier gewohnt haben, Ramon«, sagte sie. Es erstaunte sie, daß Reyna Fadique Haushälterin aller drei Ärzte gewesen war, die auf der hacienda gelebt hatten. »Was für eine ungewöhnliche Frau muß sie doch sein, daß sie drei verschiedene Herren ihres Hauses zufriedenstellen konnte«, sagte sie. »Ich würde sie sehr gerne kennenlernen.«

Jona hoffte, sie würde diesen Wunsch wieder vergessen, aber das tat sie nicht, und so ritt er schließlich in das Dorf, um Reyna einzuladen. Sie beglückwünschten sich gegenseitig, denn beide hatten seit ihrer letzten Begegnung geheiratet. Die Arbeit an dem Haus, das ein Rasthaus werden sollte, gedieh prächtig, und Reyna meinte, es freue sie sehr, daß Jonas Frau sie und Alvaro - der mit Familiennamen Saravia hieß - zum Essen in das Haus einlade, in dem sie so lange Dienerin gewesen war.

Als sie dann kamen - und als Geschenke eine Bienenwabe und Wein mitbrachten -, schienen die Frauen sich zu Anfang mit übertriebener Höflichkeit zu begegnen. Jona und der weißhaarige Alvaro brachen zu einem Spaziergang über das Grundstück auf und ließen die Frauen allein, damit sie sich besser kennenlernen konnten. Alvaro war auf einem kleinen Bauernhof aufgewachsen, und er lobte Joans und Adrianas Bemühungen zur Rettung der Bäume. »Wenn Ihr noch mehr Bäume zum Fruchttragen bringt, dann wäre es vielleicht sinnvoll, oben am Hügel, in der Nähe des Obstgartens und des Olivenhains, einen kleinen Schuppen zu bauen, wo man Werkzeug und geerntete Früchte lagern könnte.«

Es schien ein guter Vorschlag, und auf dem Rückweg zum Haus besprachen sie die Kosten der Arbeit und die Menge der Steine, die für die Mauer nötig waren. Dort angekommen, sahen sie, daß die Frauen einander anstrahlten und eifrig miteinander plauderten. Das Essen verlief angenehm, und als die Gäste sich verabschiedeten, umarmten sich die beiden Frauen, die offensichtlich Freundinnen geworden waren.

Adriana sprach voller Zuneigung über Reyna, als sie danach den Tisch abräumte. »Sie ist dir wie eine Mutter, und ich glaube, sie wäre gern Großmutter. Sie hat mich gefragt, ob bei mir was unterwegs ist.«

Jona war entsetzt, wußte er doch, wie traurig das Thema Schwangerschaft seine Frau stimmte. »Was hast du gesagt?«

Adriana lächelte. »Noch nicht, habe ich ihr gesagt, weil wir bis jetzt nur geübt haben.«


Am letzten Tag des Dezember kam ein junger Mönch, den Kopf gegen den Wind eingezogen, auf die hacienda geritten und klopfte an die Tür. »Senor Callico, dieser Brief, der für Euch bestimmt ist, kam mit der Sendung aus Toledo.« Als Jona das Wachssiegel erbrach, sah er, daß der Brief von Padre Francisco Espina stammte.


An Senor Ramon Callico, Medicus von Saragossa, sende ich meine Grüße und die Hoffnung, daß Ihr bei guter Gesundheit seid.

Seit einigen Jahren bin ich nun schon Gehilfe des Hochwürdigen Enrique Sagasta, Weihbischof zu Toledo. Bischof Sagasta ist damit beschäftigt, ein Buch über das Leben der Heiligen zu verfassen, ein gesegnetes Vorhaben, welches die Unterstützung unseres Allerheiligsten Vaters in Rom erhält und zu selbigem beizutragen mir eine Ehre und ein Vergnügen ist. Er ist außerdem Vorsteher des Offiziums für Glaubensangelegenheiten im Toledaner Bistum, in welcher Eigenschaft er Kenntnis von einem Edelmann aus Tembleque erhielt, der von einer schlimmen Krankheit befallen ist.

Graf Fernan Vasca lautet sein Name, Ritter des Ordens zu Calatrava und ein außerordentlich großzügiger Freund der Heiligen Mutter Kirche. Besagte Krankheit hat ihn stumm und starr wie einen Stein gemacht, und doch ist er auf quälende Art lebendig.

Viele Ärzte wurden seinetwegen schon zu Rate gezogen, ohne jeden Erfolg. Eingedenk der Hochachtung, die man Euch in Saragossa, ja in ganz Aragon entgegenbringt, hoffe und bete ich, daß Ihr es einrichten könnt, nach Kastilien zu kommen. Die Kirche und ich selbst würden es als höchste Gunst betrachten, wenn Ihr kommt. Man hat mir versichert, daß Ihr reichlich entschädigt werdet, mit doppelter Bezahlung, falls Ihr eine Heilung erreichen könnt.

Ihr sollt wissen, daß ich täglich im Gebetbuch meines Vaters lese und Euch oft in mein Gebet einschließe, weil Ihr es mir gebracht habt.


Euer Freund in Christus

Padre Francisco Espina, Orden der Prediger


Der Name des Patienten schien vom Blatt hochzuspringen und Jona in die Augen zu stechen.

Natürlich würde er nicht nach Toledo gehen, sagte er sich. Er wollte Adriana nicht verlassen. Tembleque war zu weit entfernt, die Zeit, die eine solche Reise erforderte, wäre zu lang.

Wenn der Graf von Tembleque etwas von ihm zu erwarten hatte, dann Rache. Und doch schien er Nunos Stimme zu hören, die ihn fragte, ob ein Arzt das Recht habe, nur jene Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft zu behandeln, die er schätzte oder für die er Achtung oder Zuneigung empfand.

Im Verlauf dieses Tages und des nächsten rang er sich zu dem Eingeständnis durch, daß er in Tembleque noch etwas zu erledigen hatte. Nur indem er Padre Espinas Ruf, der ihm nun wie ein Wink des Schicksals erschien, folgte, konnte er versuchen, Antworten auf die Fragen zu finden, die ihn sein ganzes Leben lang belastet hatten - Fragen nach den Morden, die seine Familie zerstört hatten.

Anfangs bat Adriana ihn, nicht zu gehen. Dann bat sie ihn, er möge sie mitnehmen.

Die Reise selbst konnte schwierig und gefährlich werden, und er hatte keine Ahnung, was er vorfinden würde, wenn er in Toledo eintraf. »Es ist unmöglich«, sagte er sanft.

Es wäre einfacher gewesen, wenn er Zorn in ihren Augen gesehen hätte, denn was er sah, war Furcht. Einige Male war er zu Patienten gerufen worden, die weiter entfernt wohnten, und sie war für zwei oder drei Tage allein gewesen. Aber diesmal würde er viel länger wegbleiben.

»Ich komme zu dir zurück«, sagte er.

Er gab ihr genug Geld für jeden Notfall. »Was ist, wenn ich einfach damit durchbrenne?« fragte sie.

Er führte sie hinters Haus und zeigte ihr die Stelle, wo er die Ledertruhe mit Manuel Fierros Geld vergraben und einen Misthaufen darübergeschichtet hatte. »Wenn du mich je wirklich verlassen willst, kannst du das alles mitnehmen.«

»Das auszugraben wäre mir viel zuviel Arbeit«, erwiderte sie, und er nahm sie in die Arme und küßte und tröstete sie.

Er ging zu Alvaro Saravia, der versprach, Adriana einmal die Woche zu besuchen und dafür zu sorgen, daß neben dem Kamin immer Feuerholz und im Stall Heu für die Pferde vorrätig war.

Miguel de Montenegro und Pedro Palma waren zwar nicht gerade begeistert, als Jona sie bat, seine Patienten für längere Zeit mitzuversorgen, aber sie schlugen es ihm nicht ab. »Bei Edelleu-ten müßt Ihr aufpassen. Sind sie erst einmal geheilt, hauen sie den Arzt übers Ohr«, sagte Montenegro.

Jona beschloß, die lange Reise nicht auf dem grauen Araber anzutreten, weil das Pferd im Alter etwas langsam geworden war. Manuel Fierros schwarze Stute war noch immer kräftig, und er nahm sie statt dessen. Adriana packte eine Satteltasche mit zwei Broten, gebratenem Fleisch, getrockneten Erbsen und einem Säckchen Rosinen. Morgennebel hing noch über dem Land, als er sie küßte und dann schnell aufbrach.

In gemächlichem Trab ritt er nach Südwesten. Diesmal war es keine Lust für seine Zigeunerseele, unbeschwert reisen zu können. Das Gesicht seiner Frau blieb ihm vor Augen, und er hatte den dringenden Wunsch, das Pferd zu wenden und nach Hause zu reiten, aber er tat es nicht.

Er kam gut voran. An diesem Abend schlug er sein Lager hinter einem Windschutz aus Bäumen auf einem braunen Feld ein gutes Stück von Saragossa entfernt auf. »Gut gemacht«, sagte er zu der Stute, als er ihr den Sattel abnahm. »Du bist ein prächtiges Tier, Hermana«, fügte er hinzu und streichelte das schwarze Pferd.

2. KAPITEL IN DER BURG

Neun Tage später ritt Jona über den roten Lehm der Sagra-Ebene und näherte sich den Mauern Toledos. Schon von weitem sah er die Stadt, scharf und klar auf ihrem hohen Felsen im Licht der Nachmittagssonne. Ein ganzes Leben lag zwischen ihm und dem verängstigten Jungen, der auf einem Esel aus Toledo geflohen war, und doch plagten ihn, als er durch das Bisagra-Tor ritt, düstere Erinnerungen. Er ritt am Sitz der Inquisition vorbei, kenntlich an ihrem steinernen Wappenschild mit Kreuz, Olivenzweig und Schwert. Einst als Junge im Haus seines Vaters hatte er mit angehört, wie David Mendoza Helkias Tole-dano die Bedeutung dieser Symbole erklärte: »Wenn du das Kreuz annimmst, geben sie dir den Olivenzweig. Wenn du dich weigerst, geben sie dir das Schwert.«

Vor dem Bischofspalast band er sein schwarzes Pferd an. Steif von den langen Tagen im Sattel ging er nach drinnen, wo ein Mönch hinter einem Tisch ihn nach seinem Begehr fragte und ihn auf eine Steinbank wies.

Nach kürzester Zeit erschien strahlend Padre Espina. »Wie schön, Euch wiederzusehen, Senior Callico.« Er war älter und reifer geworden, und selbstsicherer, als Jona ihn in Erinnerung hatte. Aus ihm schien ein erfahrener Priester geworden zu sein.

Sie setzten sich und redeten. Padre Espina ließ sich von Sara-gossa erzählen und berichtete kurz über die Freude, die er an seiner Arbeit hatte.

»Wollt Ihr hier übernachten und erst morgen früh nach Tem-bleque reiten?« fragte ihn der Priester. »Ich kann Euch ein klösterliches Mahl und eine Mönchszelle anbieten, in der Ihr Euer müdes Haupt zur Ruhe betten könnt.«

Aber Jona hat kein Verlangen nach einer Mönchszelle. »Nein, ich reite gleich weiter, um den Grafen so schnell wie möglich zu untersuchen.«

Padre Espina beschrieb ihm den Weg nach Tembleque, und Jona wiederholte die Worte, obwohl er sich noch gut an alles erinnerte.

»Der Graf war ohne Verwalter, als er krank wurde«, sagte Espina, »und die Kirche hat ihm, zur Unterstützung seiner Frau, der Gräfin Maria del Mar Cano, einen Verwalter gestellt. Sie ist die Tochter von Gonzalo Cano, einem reichen und einflußreichen Marquis aus Madrid. Der Verwalter ist Padre Alberto Guz-man.« Er sah Jona an. »Wie ich Euch geschrieben habe, hat bereits eine Reihe von anderen Ärzten versucht, dem Grafen zu helfen.«

»Verstehe. Ich kann es auch nur versuchen.«

»Ich weiß es wohl zu schätzen, daß Ihr auf meine Bitte hin so weit geritten seid. Ihr wart mir ein großer Wohltäter, indem Ihr mir die Erinnerung an meinen Vater zurückgegeben habt. Falls ich Euch in irgendeiner Weise helfen kann, laßt es mich bitte wissen.«

»Ich verschreibe Arzneien, aber ich stelle sie nicht her«, sagte Jona. »Kennt Ihr hier in der Gegend einen guten Apotheker?«

Espina nickte. »Santiago Lopez. Er hat sein Geschäft im Schatten der Nordwand der Kathedrale. Geht mit Gott, Senor.«

Der Laden des Apothekers war winzig und unbeaufsichtigt, aber es roch beruhigend stark nach Kräutern. Jona mußte rufen, um den Apotheker aus seiner Wohnung im Obergeschoß zu holen. Er war ein Mann mittleren Alters mit schütteren Haaren, dessen schielende Augen den wachen Verstand hinter seiner Stirn nicht verbergen konnten.

»Habt Ihr Myrte? Springkraut, Acacia nilotica?« fragte ihn Jona. »Und wie steht es mit Stachys officinalis? Koloquinten? Pharbitissamen?«

Lopez betrachtete Jonas Fragen nicht als Beleidigung. »Ich habe sehr viel, Senor. Wie Ihr wißt, kann man nicht alles haben. Solltet Ihr etwas benötigen, das ich nicht habe, werde ich Euch Bescheid geben und, wenn Ihr gestattet, eine oder mehrere Ersatzarzneien vorschlagen.«

Er nickte ernst, als Jona ihm sagte, daß er Arzneien für den Grafen von Tembleque bestellen werde. »Ich hoffe, Ihr habt diesen langen Weg nicht umsonst gemacht, Senor.«

Jona nickte. »Wir werden sehen«, sagte er und verabschiedete sich.

Als er die Burg erreichte, war es bereits seit einer Stunde dunkel, und das Fallgitter war heruntergelassen.

»Heda!« rief Jona.

»... Wer ruft da?«

»Ramon Callico, der Medicus von Saragossa.«

»Wartet.«

Der Wachposten eilte davon und kehrte kurz darauf in Begleitung eines Fackelträgers zurück. Die zwei Gestalten, die zu Jona herunterspähten, zeichneten sich in einem gelben Lichtkegel ab, der sich mit ihnen bewegte.

»Tretet ein, Senor!« rief der Posten.

Das Tor wurde mit einem fürchterlichen Kreischen hochgezogen, und Jonas schwarze Stute scheute, bevor sie mit klappernden Hufen, deren Eisen auf den großen Pflastersteinen Funken schlugen, in den Burghof schoß.

Padre Alberto Guzman, ein rundschultriger, mürrisch drein-blickender Mann, bot ihm Speis und Trank an.

»Ja, vielen Dank, ich hätte gern beides, aber später, nachdem ich den Grafen gesehen habe.«

»Heute nacht stört Ihr ihn besser nicht mehr, sondern wartet mit Eurer Untersuchung bis zum Morgen«, erwiderte der Mönch barsch. Hinter ihm wartete ein stämmiger, rotgesichtiger alter Mann in der derben Kleidung eines peon mit einer Mähne weißer Haare und einem vollen Bart derselben Farbe.

»Der Graf kann sich weder bewegen noch sprechen oder verstehen, wenn man ihn anspricht. Es gibt also keinen Grund für Eure Eile«, fügte Padre Guzman hinzu.

Jona hielt seinem Blick stand. »Trotzdem. Ich brauche Kerzen und Lampen am Bett. Viele, damit es ein helles Licht gibt.«

Padre Guzman kniff verärgert die Lippen zusammen. »Wie Ihr wollt. Padre Sebbo wird sich um das Licht kümmern.« Der alte Mann hinter ihm nickte, und Jona erkannte, daß er Priester, kein Arbeiter war.

Padre Guzman nahm eine Lampe, und Jona folgte ihm mehrere Korridore entlang und steinerne Treppen hoch. Sie kamen durch einen Raum, den Jona wiedererkannte, nämlich den Saal, in dem ihm der Graf nach Ablieferung der Rüstung eine Audienz gewährt hatte, und betraten dann die angrenzende Schlafkammer, eine schwarze Höhle, in der die Lampe des Priesters die Schatten der riesigen Bettstatt träge über die Wände wandern ließ. Die Luft war schwer vom Gestank.

Jona nahm die Lampe und hielt sie dicht an das Gesicht auf dem Bett. Die Augen von Vasca, Graf von Tembleque, schienen an ihm vorbeizustarren. Die linke Seite von Vascas Mund war in einer dauerhaften Hohnfratze nach unten gezogen.

»Ich brauche das Licht.«

Padre Guzman ging zur Tür und rief barsch, doch Padre Sebbo kam bereits in Begleitung von zwei Männern und einer Frau mit

Kerzen und Lampen herbeigeeilt. Nachdem alles zu Jonas Zufriedenheit aufgestellt war und man die Dochte entzündet hatte, war der Graf in Licht getaucht.

Jona beugte sich über das Gesicht. »Graf Vasca«, sagte er. »Ich bin Ramon Callico, der Medicus von Saragossa.« Die Augen starrten ihn an, die Pupillen ungleich geweitet.

»Wie gesagt, er kann nicht sprechen«, bemerkte Guzman.

Vasca war mit einem nicht sehr sauberen Laken bedeckt. Als Jona das Tuch zurückschlug, wurde der Gestank noch stärker.

»Sein Rücken ist von Schwären zerfressen«, sagte Padre Guz-man.

Der Körper auf dem Bett war groß, doch Jona drehte ihn mühelos um und seufzte bei dem Anblick, der sich ihm bot, ein Gewirr häßlicher Furunkel, einige davon eitrig.

»Das sind wundgelegene Stellen«, sagte er. Er zeigte auf die Diener, die vor der Tür warteten. »Sie sollen Wasser über dem Feuer erhitzen und zusammen mit sauberen Tüchern unverzüglich hierherbringen.«

Padre Guzman räusperte sich. »Der letzte Arzt, Carlos Sifrina de Fonseca, hat verboten, den Grafen Vasca zu waschen, damit er nicht die üblen Dämpfe des Wassers aufnehme.«

»Der letzte Arzt, Carlos Sifrina de Fonseca, wurde wahrscheinlich noch nie in seiner eigenen Kacke liegengelassen.« Es war Zeit, das Heft in die Hand zu nehmen, und Jona tat es mit Gelassenheit. »Heißes Wasser in genügender Menge und Seife und weiche Tücher. Ich habe eine Salbe, aber bringt mir Feder und Tinte und Papier, denn ich will unverzüglich aufschreiben, was für andere Mittel und Arzneien ich benötige, und einen Reiter zu Santiago Lopez, den Apotheker von Toledo, schicken. Wenn nötig, soll der Reiter den Apotheker aufwecken.«

Padre Guzman machte ein gequältes, aber ergebenes Gesicht. Als er sich zum Gehen wandte, hielt Jona ihn zurück. »Bringt mir weiche, dicke Vliese, die wir unter ihm ausbreiten können. Sau-ber. Außerdem ein frisches Nachthemd und ein sauberes Laken«, sagte er.

Es war spät geworden, als er endlich fertig war und den mageren Körper gewaschen, die Wunden mit Salbe versorgt, die Schaffelle ausgebreitet und die Bettwäsche und das Nachthemd gewechselt hatte.

Als er sich schließlich dem Essen zuwandte, um seinen knurrenden Magen zu füllen, waren es Brot, ein Stück alter und fettiger Hammel und saurer Wein. Danach führte man ihn in eine kleine Kammer mit einem Bett, das nach dem sauren Körpergeruch seines vorigen Benutzers stank, vielleicht Carlos Sifrina de Fonseca, dachte er, bevor er erschöpft einschlief.

Am nächsten Morgen erhielt er zum Frühstück Brot, Schinken und einen besseren Wein, und er labte sich ausführlich an dem Fleisch.

Da es im Zimmer des Patienten nur ein winziges Fenster hoch oben in der Wand gab, drang kaum Morgenlicht herein. Jona ließ die Diener im Audienzsaal ein Lager auf einem Diwan vor einem größeren, sonnendurchfluteten Fenster herrichten und verlegte den Patienten dorthin.

Bei Tageslicht wirkte Vascas Zustand noch beängstigender als am Abend. Muskelschwund hatte beide Hände in einer offenen, überdehnten Haltung erstarren lassen, so daß die Innenseiten der Fingerknöchel den Scheitel des Bogens bildeten. Jona ließ einen Diener zwei kleine Stücke von einem runden Ast absägen, dann schloß er Vascas Hände um das Holz und band sie mit Tüchern fest.

Alle vier Glieder des Mannes wirkten leblos. Als er mit dem stumpfen Rücken eines Skalpells über Vascas Hände, Waden und Füße strich, schien nur auf der rechten Seite ein Rest von Gefühl vorhanden zu sein, aber im Grunde genommen war der ganze Körper von Lähmung befallen. Das einzige, was der Graf noch bewegen konnte, waren die Augen und die Lider. Vasca konnte die Augen öffnen und schließen, und er konnte etwas ansehen oder den Blick abwenden.

Während der Untersuchung suchte Jona seinen Blick und sprach die ganze Zeit zu ihm. »Spürt Ihr dies, Graf Vasca? Oder dies?«

»Habt Ihr irgendein Gefühl, wenn ich Euch berühre, Graf Vasca?«

»Habt Ihr Schmerzen, Graf Vasca?«

Gelegentlich kam ein Grunzen oder Stöhnen von der hingestreckten Gestalt, doch nie als Antwort auf eine Frage.

Hin und wieder kam Padre Guzman herbei, um Jonas Bemühungen mit unverhülltem Hohn zu betrachten. Schließlich sagte er: »Er versteht nichts. Er fühlt nichts und versteht nichts.«

»Seid Ihr Euch sicher?«

Der Priester nickte. »Ihr habt Euch umsonst hierherbemüht. Er steht am Beginn der göttlichen Reise, die uns allen bevorsteht.«

Am Nachmittag kam eine Frau ins Krankenzimmer. Sie war etwa in Adrianas Alter und hatte gelbe Haare und eine sehr weiße Haut. Ihr Gesicht war hübsch und ein wenig katzenhaft, mit einem kleinen Mund, hohen Wangenknochen und großen Augen, die sie mandelförmig machte, indem sie die Winkel mit schwarzer Tusche verlängerte. Ihr Gewand war kostbar, aber fleckig, und sie roch nach Wein. Im ersten Augenblick glaubte er, sie hätte ein Erdbeermal auf ihrem langen Hals, kam dann aber darauf, daß es ein Fleck war, wie er von einem saugenden Mund gemacht wird.

»Der neue Arzt«, sagte sie und musterte ihn.

»Ja. Und Ihr seid die Condesa?«

»Nämliche. Werdet Ihr etwas für ihn tun können?«

»Das kann ich noch nicht sagen, Condesa... Mir wurde berichtet, er ist schon mehr als ein Jahr krank?«

»Fast vierzehn Monate.«

»Verstehe. Wie lange seid Ihr schon seine Frau?«

»Seit vier Jahren im nächsten Frühling.«

»Wart Ihr bei ihm, als die Krankheit ihn befiel?«

»Hhmm.«

»Es wäre hilfreich, wenn Ihr mir in allen Einzelheiten berichten könntet, was an diesem Tag mit ihm geschehen ist.«

Sie zuckte die Achseln. »Er ritt schon früh zum Jagen aus.«

»Was tat er, als er von der Jagd zurückkehrte?«

»Das war vor vierzehn Monaten, Senor. Aber... soweit ich mich erinnern kann... Nun, zum einen... er nahm mich mit in sein Bett.«

»Das war am späten Vormittag?«

»Mittags.« Sie lächelte den kranken Mann an. »Wenn es ums Bett ging, achtete er nie auf die Zeit. Ob es nun tagsüber war oder mitten in der Nacht.«

»Condesa, wenn Ihr mir die Frage verzeiht... War er tatkräftig bei der Paarung an diesem Tag?«

Sie sah ihn an. »Ich erinnere mich nicht. Aber er war tatkräftig bei allem, was er tat.«

Sie sagte, er habe fast den ganzen Tag über normal gewirkt. »Am späten Nachmittag sagte er mir, sein Kopf tue ihm weh, aber er fühlte sich gut genug, um sich zum Abendessen an den Tisch zu setzen. Als das Geflügel aufgetragen wurde, bemerkte ich, daß sein Mund sich nach unten bog... so wie er jetzt ist. Er schien keine Luft mehr zu bekommen. Und er schien auf seinem Stuhl zusammenzusacken. Seine Jagdhunde mußten getötet werden. Als man ihm helfen wollte, ließen sie niemanden in seine Nähe.«

»Hatte er seit diesem Tag noch so einen Anfall?«

»Noch zweimal. Nach dem ersten Anfall war er nicht so, wie Ihr ihn jetzt seht. Er konnte seine rechten Glieder bewegen, und er konnte sprechen. Obwohl seine Sprache schwerfällig und undeutlich war, konnte er mir Anweisungen für sein Begräbnis ge-ben. Dann traf ihn zwei Wochen nach dem ersten ein zweiter Anfall, und seitdem ist er starr und stumm. Und dann kam vor einem Monat ein dritter Anfall.«

»Ich danke Euch, daß Ihr mir dies alles berichtet habt, Condesa.«

Sie nickte und wandte sich dann der Gestalt auf dem Bett zu. »Er konnte grob sein, wie starke Männer es oft sind. Ich habe ihn grausam handeln sehen. Aber mir war er immer ein freundlicher Herr und Gatte...« Dann wandte sie sich wieder Jona zu.

»Wie nennt man Euch?«

»Callico.«

Einen Augenblick lang sah sie ihm in die Augen, nickte dann und verließ ihn.

3. KAPITEL DIE CONDESA

Jonas Kammer lag an einem Ende des Korridors, das Gemach der Condesa am anderen, und dazwischen befand sich eine weitere Schlafkammer. In der folgenden Nacht sah Jona den anderen Gast auf der Burg. Als Jona spätabends seine Kammer verließ, um seinen Nachttopf auszuleeren, sah er aus dem Gemach der Condesa einen Mann kommen, der etwas in den Armen trug. Zwei Pechfackeln brannten in den Haltern im Gang, und Jona sah ihn deutlich, ein breiter, nackter Mann mit einem fleischigen Gesicht, der seine Kleider in der Hand trug.

Jona hätte sich still verhalten, aber der Mann bemerkte ihn und starrte ihn an.

»Guten Abend«, sagte Jona.

Der andere sagte nichts, sondern ging in die Kammer neben Jonas.

Am nächsten Morgen verlegte Jona den Grafen mit Padre Sebbos Hilfe wieder in das sonnige Zimmer. Er hatte gemerkt, daß der grauhaarige alte Priester der einzige Mensch in der Burg war, mit dem er unbefangen reden konnte.

Sie betteten eben den Grafen auf den Diwan, als ein Mann das Zimmer betrat. Jona erkannte in ihm sofort den Mann, den er wenige Stunden zuvor nackt im Gang gesehen hatte.

»Wo zum Teufel ist sie hin?«

Ein grober Klotz, dachte Jona. Er hatte kleine, mißmutige Augen in einem runden fleischigen Gesicht, einen kurzgeschnittenen schwarzen Bart und einen schwarzen Haarkranz um einen ansonsten kahlen Schädel. Sein Körper war muskelbepackt, allerdings mit einem Hang zum Fett. Er hatte dicke Finger, seine Hände waren wie die eines Gladiators, jede mit einem protzigen, schweren Ring geschmückt.

»Wo ist sie?« bellte er.

»Ich weiß es nicht, Senor.« Jona kannte Padre Sebbo noch nicht sehr lange, aber er merkte an der trockenen, kühlen Stimme des alten Priesters, daß er eine Abneigung hegte gegen diesen Mann, der Jona mit keinem Blick beachtete, sondern sich umdrehte und sie wortlos wieder verließ.

Gemeinsam hüllten Jona und Padre Sebbo Vasca in eine Decke.

»Wer war dieser unhöfliche Herr, mit dem wir eben die Ehre hatten?«

»Das ist Daniel Fidel Tapia«, sagte Padre Sebbo.

Tapia.

Wer war Euer Begleiter in dieser Nacht?

Tapia.

»Wer ist dieser Tapia?«

»Ein Kumpan des Grafen Vasca. In letzter Zeit nennt er sich Teilhaber des Grafen.«

»Und die Frau, nach der er suchte, hat sie keinen Namen?«

»Er wußte, ich würde verstehen, daß er die Condesa suchte. Sie und Tapia sind ganz besondere Freunde«, sagte Padre Sebbo.

Manchmal war Vascas Puls voll und schnell, dann wieder war er wie das Huschen eines kleinen, verängstigten Tieres. Padre Guz-man zeigte sich einmal am Tag für ein paar Augenblicke, meist, um dem Grafen ins Gesicht zu sehen und zu bemerken, daß sein Zustand ihm noch schlimmer vorkomme als am Tag zuvor. »Gott sagt mir, daß er stirbt.«

Warum würde Gott dir das sagen? dachte Jona.

Er bezweifelte zwar, daß er etwas tun konnte, um das Leben des Grafen zu retten, aber er mußte es weiter versuchen. Die Krankheit, die den Grafen langsam tötete, war nicht besonders selten. In seiner Zeit als Medicus hatte Jona schon mehrere gesehen, die daran litten, einige davon mit verzerrtem Mund und nutzlosen, schlaffen Armen und Beinen. Oft war nur eine Seite des Körpers betroffen, in selteneren Fällen beide. Er hatte keine Ahnung, was diesen Zustand verursachte oder ob es etwas gab, das ihn zu heilen vermochte.

Irgendwo in der Vielschichtigkeit des menschlichen Körpers muß es etwas geben, das Kraft und Bewegung eines Menschen steuert, dachte er. Vielleicht glich dieses Etwas in Vascas Körper dem geschwärzten, geschädigten Bereich an Nunos Herzen.

Er wünschte sich, er könnte Graf Vasca nach seinem Tod sezieren.

»Wie gern hätte ich dich in meiner Scheune in Saragossa!« murmelte er.

Die Augen, die eben noch geschlossen gewesen waren, öffneten sich nun und sahen ihn an. Jona hätte schwören mögen, daß der Graf verwirrt dreinblickte, und ihm kam ein schrecklicher Verdacht. Es konnte sein, daß Fernan Vasca zumindest manchmal verstand, was um ihn herum vorging.

Vielleicht aber auch nicht...

Er verbrachte viel Zeit allein mit seinem Patienten, saß am Bett oder beugte sich über ihn, und er sprach zu ihm, doch ihre Blicke trafen sich nicht wieder. Meistens schien Vasca zu schlafen, sein Atem ging dann langsam und schnarchend, und seine Wangen blähten sich bei jedem Ausatmen. Zweimal täglich kam Padre Sebbo und las laut, aber mit brüchiger, heiserer Stimme aus seinem Andachtsbuch. Oft mußte er innehalten, um sich zu räuspern, denn er litt an einem chronischen Katarrh, und Jona verschrieb ihm Kampferöl, wofür der alte Priester ihm dankte.

»Ihr müßt Euch ausruhen, solange ich hier bin. Legt Euch ein wenig aufs Ohr, Senor«, drängte ihn Padre Sebbo, und manchmal floh Jona während der langen Gebetssitzungen. Dann wanderte er durch die stillen Räume der Burg, ohne daß ihn jemand daran hinderte, denn sie war riesig und größtenteils verlassen, ein kaltes und düsteres Heim mit vielen Kaminen, in denen kein Feuer brannte. Jona suchte nach den Dingen, die sein Vater für den Grafen angefertigt, die Vasca aber nie bezahlt hatte. Vor allem die goldene Blume mit dem silbernen Stiel hätte er sehr gerne gefunden, um zu sehen, ob sie so schön war wie in seiner Erinnerung.

Graf Vasca hatte Vorbereitungen für seinen Tod getroffen. In einem Lagerraum stand ein großer Sarg aus Kalkstein, ein mächtiger Sarkophag mit einer eingemeißelten lateinischen Inschrift: CVM MATRE MATRIS SALVVS. Der steinerne Deckel war schwer genug, um Würmer oder Drachen abzuhalten. Aber Jona fand weder die Rose noch ihm vertraute Gegenstände, bis er eine Rüstkammer betrat und beinahe erschrak über einen prächtigen, zur Schlacht gewappneten Ritter.

Es war die Rüstung, die er mit Angel und Paco und Luis geliefert hatte, und mit einem gewissen Staunen strich er über die Ziselierungen, die er unter der Anleitung von Manuel Fierro, dem Waffenschmied von Gibraltar, in den Stahl gehämmert hatte.

Padre Sebbo kam jeden Tag ins Krankenzimmer und machte sich nicht gleich wieder davon, was Jona freute, denn er hatte den alten Priester liebgewonnen. Ihm fiel auf, daß die Hände des alten Mannes so schwielig waren wie die eines peon.

»Padre Sebbo, erzählt mir von Euch.«

»Da gibt es nichts, was der Rede wert wäre, Senor.«

»Das glaube ich durchaus nicht, Padre. Erzählt mir, warum Ihr Euch zum Beispiel nicht kleidet wie andere Priester.«

»Einst trug ich zu meiner maßgeschneiderten schwarzen Tracht die unpassenden Hüllen der Eitelkeit und des Ehrgeizes.

Aber ich versagte in meinen Pflichten und erzürnte meine Oberen, und zur Strafe sandten sie mich aus als Bettelmönch, um das Wort Gottes zu predigen und mein täglich Brot zu erflehen.

Ich meinte, verdammt zu sein, und mit Grausen ging ich davon, um mich in meine Strafe zu fügen. Ich wußte nicht, wohin ich mich wenden sollte, und so ging ich, wohin meine Füße mich trugen.

Anfangs war ich zu stolz und zu überheblich, um zu betteln. Ich aß Beeren aus dem Wald. Und obwohl ich ein Mann Gottes war, stahl ich aus Gärten. Aber Menschen können auch freundlich sein, und die Ärmsten teilten mit mir ihre magere Kost und hielten mich so am Leben.

Mit der Zeit verrottete mein schwarzes Gewand und fiel von mir ab, und ich ging zerlumpt und ungeschoren. Ich lebte und arbeitete mit den Armen, die für mich beteten und ihr Brot und Wasser mit mir teilten, und ich übernahm ihre Kleider, manchmal von Männern, die gestorben waren. Nun verstand ich erst den heiligen Franziskus, obwohl ich nicht nackt in die Welt ging wie er, auch wurde ich nicht blind, und auf meinem Körper zeigten sich keine Stigmata. Ich bin nur ein einfacher, gefallener Mann, aber das Schicksal meinte es gnädig mit mir, und seit vielen Jahren bin ich nun schon Gottes Vagabund.«

»Aber wenn Ihr mit den Armen arbeitet, warum seid Ihr dann hier, auf einer Burg?«

»Von Zeit zu Zeit zieht es mich hierher. Ich bleibe lange genug, um den Dienern und den Soldaten der Wache die Beichte abzunehmen und ihnen die Kommunion zu spenden, und dann ziehe ich weiter. Diesmal hat Padre Guzman mich gebeten zu bleiben, bis der Graf gestorben ist.«

»Padre Sebbo, ich habe Euren Taufnamen noch nicht gehört«, sagte Jona, und der Priester lächelte.

»Sebbo ist nicht mein Familienname. Es ist ein Kosename, den die Leute mir gegeben haben, eine Abkürzung meines Taufnamens, der Sebastian lautet. Ich bin Sebastian Alvarez.«

Jona wollte keine vorschnellen Schlüsse ziehen; schließlich gab es Männer, die denselben Namen hatten. Er betrachtete das Gesicht und versuchte, in die Vergangenheit zu sehen. »Padre, was war Euer kirchliches Amt, bevor Ihr ein Wanderpriester wurdet?«

»Ich denke nur selten daran, denn es kommt mir vor, als wäre ich damals ein anderer Mann in einem anderen Leben gewesen. Ich war Prior der Abtei zur Himmelfahrt Mariä in Toledo«, sagte der alte Mann.

Als Jona an diesem Abend am Bett des Grafen saß, dachte er zurück an die Zeit, bevor sein Bruder Meir ermordet wurde, an die Tage, als sein Vater die ersten Entwurfszeichnungen für das von der Abtei zur Himmelfahrt Mariä bestellte Ziborium machte. Jona hatte den Prior nur zweimal gesehen, als er seinen Vater zu Treffen mit Padre Alvarez in die Abtei begleitet hatte. Er erinnerte sich an einen selbstherrlichen, ungeduldigen Geistlichen und staunte jetzt über die Verwandlung, die stattgefunden hatte. Er war sicher, daß es Padre Sebbo immer wieder zu der Burg zog, weil er, wie Jona, wußte, daß Fernan Vasca hinter dem Diebstahl des Ziboriums und der Reliquie der Santa Ana gesteckt hatte.

Er redete weiter mit dem Grafen in der Hoffnung, ihn so vielleicht ins Bewußtsein zurückzuholen. Doch er wurde es müde, seine eigene Stimme zu hören, die zu einem allem Anschein nach schlafenden Fernan Vasca sprach. Falls Vasca ihn hören konnte, langweilte das leiernde Plappern zweifellos auch ihn. Jona hatte vom Wetter gesprochen, von den Aussichten für die nächste Ernte, von einem Falken, den er hoch oben in den Lüften kreisen sah, ein dunkler Fleck vor den Wolken.

Schließlich versuchte er etwas anderes.

»Graf Vasca, es ist Zeit, daß wir über meine Bezahlung sprechen«, sagte er. »Der Gerechtigkeit halber sollte sie mit dem auf-gerechnet werden, was wir einander in der Vergangenheit schuldeten: Vor zehn Jahren war ich auf dieser Burg, um Euch eine prächtige Rüstung zu liefern, und Ihr gabt mir zehn Maravedi für meine Mühen. Aber wir hatten noch andere Geschäfte, denn ich erzählte Euch von den Reliquien eines Heiligen, und Ihr nahmt dafür zwei Männern das Leben, die mir meins genommen hätten.«

Hinter den geschlossenen Lidern sah er eine Bewegung.

»Ich habe zwei Männer in einer Eremitenhöhle in den Tod geschickt. Und Ihr habt Euch Rivalen vom Hals geschafft und Reliquien bekommen. Erinnert Ihr Euch?«

Die Augen öffneten sich langsam, und Jona sah etwas darin, das er davor noch nicht gesehen hatte.

Neugier.

»Die Welt ist merkwürdig, denn jetzt bin ich kein Rüstungsschmied mehr, sondern ein Arzt, der Euch helfen will. Aber ich brauche Eure Mitarbeit.«

Er hatte sich überlegt, wie er vorgehen würde, falls er den Grafen ins Bewußtsein zurückholen konnte.

»Es ist schwierig, wenn man nicht sprechen kann. Aber es gibt eine Möglichkeit, wie wir miteinander reden können. Ihr blinzelt einmal für ja und zweimal für nein. Haltet die Augen nach jedem Blinzeln kurz geschlossen, damit ich es als Antwort erkennen kann. Einmal für ja, zweimal für nein. Versteht Ihr das?«

Aber Vasca sah ihn nur an.

»Blinzelt einmal für ja und zweimal für nein. Begreift Ihr, Graf Vasca?«

Ein einzelnes Blinzeln. »Gut. Das ist sehr gut, Graf Vasca, Ihr macht das ausgezeichnet. Habt Ihr Gefühl in Euren Beinen oder Füßen?«

Zweimaliges Blinzeln.

»Im Kopf?«

Ein einzelnes Blinzeln.

»Habt Ihr Schmerzen oder Beschwerden im Bereich Eures Kopfes?«

Ja.

»In Mund oder Rachen?«

Nein.

»Der Nase?«

Nein.

»Augen?«

Vasca blinzelte einmal.

»Aha. Die Augen also. Ist es ein stechender Schmerz?«

Nein.

»Ein Jucken?«

Ein Blinzeln, dann blieben die Augen, wie zur Betonung, kurz geschlossen.

»Graf Vasca, erinnert Ihr Euch an Helkias Toledano, der Sil-berschmid in Toledo war?«

Vasca starrte ihn nur an.

»Ihr besitzt eine Reihe von Gegenständen, die er angefertigt hat. Zum Beispiel eine erstaunliche Rose aus Gold und Silber. Ich würde sehr gerne einige der Dinge sehen, die Toledano gemacht hat. Wißt Ihr, wo sie aufbewahrt werden?«

Vasca sah ihn weiter an. Der verunstaltete Mund schien sich nach oben zu ziehen; es war schwer zu sagen, aber Jona meinte Belustigung in den Augen des Grafen zu erkennen.

Antworten erhielt er keine mehr. Er sah nur noch unwillkürliches Zwinkern, unbewußte Lidbewegungen, die keine Antworten auf seine Fragen waren, und kurz darauf schloß Vasca die Augen.

»Verdammt. Graf Vasca? Hola!«

Die Augen blieben geschlossen.

»Die Arbeit der Hände meines Vaters, Euer beschissener Gnaden«, rief er wütend. »Drei große Schüsseln. Vier kleine Silberspiegel und zwei große. Eine goldene Blume mit silbernem Stiel.

Acht kurze Kämme und ein langer Kamm. Und ein Dutzend Trinkkelche aus Silber und Elektrum. Wo ist das alles?«

Er zählte auf und fragte, bis er heiser war, dann gab er es auf. Es war, als wäre der Mann wieder zurückgesunken in eine unerreichbare Tiefe, aus der er nur kurz aufgetaucht war, und Jona wurde sich der Beschränkungen bewußt, die seine Unwissenheit ihm auferlegte. Er wußte nicht, wie er Vasca zurückholen sollte. Er wusch die geschlossenen Augen sanft mit warmem Wasser und schickte einen Reiter zur Apotheke nach einer Augensalbe. Es war ein aufregendes Zwischenspiel gewesen. Jetzt war er allein mit seiner Enttäuschung, doch der kurzzeitige Erfolg munterte ihn auch auf.

Er berichtete der Condesa von den geblinzelten Botschaften, und sie wurde blaß vor Aufregung. »Das will ich auch tun«, sagte sie, doch als sie dann am Bett saß, wurde sie enttäuscht.

Sie hielt Vascas Hand, die noch immer um das runde Aststück gebunden war. »Mein Herr und Gebieter«, sagte sie.

Und wieder, und wieder.

»Mein Herr und Gebieter... mein Herr...«

»Mein Gebieter.«

»Ach Gott, Fernan, mach die Augen auf und schau mich um Himmels willen an.«

Jona verließ taktvoll das Zimmer, doch als er zurückkehrte, schlief Vasca noch immer tief, seine Wangen blähten sich bei jedem Ausatmen.

Am nächsten Tag kam die Frau wieder ins Krankenzimmer. Als sie neben dem Bett Platz nahm, sah Jona zwei frische Blutergüsse auf ihrer linken Wange.

»Condesa... Gibt es etwas, wobei Sie meine Hilfe brauchen?«

Es klang holperig, und sie wurde kühl und hoheitsvoll. »Nein, vielen Dank, Senor.«

Doch früh am nächsten Morgen weckte ihn ein Bediensteter und sagte ihm, der Arzt werde im Gemach der Condesa benötigt. Er fand sie auf dem Bett, mit einem blutigen Tuch am Gesicht. Auf ihrer linken Wange klaffte an der Stelle, wo die Blutergüsse gewesen waren, ein häßlicher, zwei Zoll langer Riß.

»Rührt das von seinem Ring her?«

Sie antwortete nicht. Tapia mußte sie mit der flachen Hand geschlagen haben, denn wäre die Faust geschlossen gewesen, hätte der Ring eine noch schlimmere Verletzung verursacht. Er holte einen gewachsten Faden und eine feine Nadel aus einer Tasche. Bevor er den Riß vernähte, gab er ihr einen Schluck Cognac zu trinken. Dennoch zuckte und stöhnte sie, aber er nahm sich Zeit und nähte mit feinen Stichen. Dann benetzte er ein Tuch mit Wein und drückte es an die Wunde, weil er die Erfahrung gemacht hatte, daß das die Heilung beschleunigte.

Als er fertig war, öffnete sie den Mund, um ihm zu danken, sank aber dann lautlos schluchzend aufs Bett.

»Condesa...« Sie trug ein seidenes Nachthemd, das alles zeigte, was zu sehen war, und er zwang sich, den Blick abzuwenden, während sie sich wieder aufrichtete und sich mit dem Handrücken über die Augen wischte, wie ein kleines Kind.

Er erinnerte sich, was Padre Espina ihm über den Reichtum und Einfluß ihres Vaters in Madrid erzählt hatte.

»Senora, ich glaube, daß Euer Gatte bald sterben wird«, sagte er sanft. »Vielleicht solltet Ihr Euch für den Fall überlegen, den Schutz Eurer Familie aufzusuchen?«

»Tapia sagt, wenn ich davonlaufe, kommt er mir nach. Und tötet mich.«

Jona seufzte. So dumm konnte Tapia nicht sein. Vielleicht konnte er den Mann ja zur Vernunft bringen, oder auch Padre Sebbo oder Padre Espina.

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte er verlegen. Doch seine Verlegenheit wuchs, als er nun mehr über Tapia und die Condesa zu hören bekam, als er wissen wollte.

»Es ist alles meine Schuld«, sagte sie. »Er hatte schon lange ein Auge auf mich geworfen. Ich habe ihn nicht ermutigt, sondern den Hunger in seinen Blicken eher genossen, um ehrlich zu sein. Ich fühlte mich völlig sicher, weil Tapia sich vor meinem Gatten fürchtete und nie versucht hätte, ihm die Frau wegzunehmen.

Daniel Tapia arbeitet seit vielen Jahren für meinen Gatten, als Aufkäufer von heiligen Reliquien. Fernan kennt viele Leute in religiösen Gemeinschaften, und so konnte er es einrichten, daß Ta-pia viele Dinge erwerben konnte.«

Jona wartete schweigend ab.

»Als mein Gatte krank wurde, war ich in großer Sorge. Ich bin eine Frau, die den Trost starker Arme braucht, und so ging ich eines Abends zu Tapia«, sagte sie, und Jona schwieg und bewunderte ihre Aufrichtigkeit.

»Aber es wurde nicht so, wie ich es erhofft hatte. Er ist ein roher Mann. Doch er will mich heiraten, sobald es möglich ist. Es gibt keinen Erben für den Grafentitel, und wenn ich sterbe, fällt der Besitz an die Krone zurück. Daniel Tapia wird jedoch dafür sorgen, daß ich lange lebe«, sagte sie verbittert. »Er will das Geld.«

»Da ist noch etwas«, fügte sie nach einer Pause hinzu. »Er ist überzeugt, daß Fernan hier irgendwo etwas versteckt hat, etwas von großem Wert. Ich denke, jetzt glaubt er mir endlich, daß ich nichts weiß, was ihm weiterhelfen könnte, aber er sucht beständig danach.«

Einen Augenblick lang wagte Jona nicht zu sprechen. »Ist es eine Reliquie?« fragte er schließlich.

»Ich weiß es nicht. Ich hoffe, Sie haben nicht vor, meine Qual mit Ihren eigenen Fragen noch zu vergrößern, Senor«, sagte sie.

Sie stand unsicher auf und führ sich mit der Hand über die Wange. »Wird eine Narbe bleiben?« fragte sie.

»Ja. Eine kleine. Anfangs gerötet, aber das legt sich wieder. Wollen wir hoffen, daß sie so weiß wird wie Eure Haut«, sagte er, nahm seine Tasche und ging zu ihrem Gatten.

4. KAPITEL FRÜHLING

Als Jona sich am nächsten Tag, nachdem Padre Sebbo ihn im Krankenzimmer abgelöst hatte, wieder auf die Suche machte, fand er den Beweis dafür, daß seine Erinnerung an die Arbeit seines Vaters nicht falsch gewesen war.

In einem Kellergelaß voller staubiger Bilderrahmen und kaputter Stühle entdeckte er auf einem Regal eine Doppelreihe schwerer, dunkler Trinkgefäße.

Als er mit einem davon zu einem Fenster ging, sah er, daß es ein von seinem Vater angefertigter Kelch war. Daran bestand kein Zweifel. Zwar war das Gefäß fast schwarz, weil sich das Silber in Jahren der Vernachlässigung stark beschlagen hatte, aber als er es umdrehte, war das HT auf dem Sockel deutlich zu erkennen.

Von seinem Vater eigenhändig dort eingeprägt.

Mit jedem Kelch ging er einzeln ans Fenster. Es waren schlichte, schwere Kelche, wunderschön aus massivem Silber gearbeitet, mit Sockeln aus Elektrum. Zwei der Kelche waren stark zerbeult und zerkratzt, als hätte jemand sie im Zorn von sich geschleudert. Er erinnerte sich, daß der Graf seinem Vater den Preis für zwölf Trinkgefäße schuldete, doch obwohl er das Gelaß aufs sorgfältigste durchsuchte, Stühle und Rahmen verrückte und alle dunklen Ecken abtastete, fanden sich nur zehn Kelche.

In den nächsten beiden Tagen ging er wieder in das Kellergelaß und nahm die Kelche vom Regal, einfach um sie in der Hand

zu wiegen und sich an ihrer Gediegenheit zu erfreuen. Doch als er am dritten Tag in den Keller ging, fand er dort Daniel Tapia, der offensichtlich ebenfalls am Suchen war. Gegenstände aus dem Gelaß lagen auf dem Boden verstreut.

Tapia starrte Jona an. »Was wollt Ihr?«

»Ich will nichts, Senor«, sagte Jona leichthin. »Ich bewundere nur die Schönheit der Burg, so daß ich sie eines Tages meinen Kindern beschreiben kann.«

»Wird der Graf sterben?«

»Ich glaube schon, Senor.«

»Wann?«

Jona zuckte die Achseln und sah ihn ruhig an. Er hatte keinen Beweis dafür, daß Tapia an der Schändung seines Bruders beteiligt gewesen war, aber sein Gefühl sagte ihm, daß es so war. »Euer Name wurde mir von einem früheren Gefährten von Euch genannt, Senor Tapia. Fray Lorenzo de Bonestruca.«

»Der? Ich habe Bonestruca seit Jahren nicht gesehen. Er ist nach Saragossa gegangen.«

»Dort habe ich ihn getroffen.«

Tapia runzelte die Stirn. »Was hat er über mich erzählt?«

»Nur, daß Ihr gelegentlich mit ihm ausgeritten seid und daß sich mit Euch gut zechen ließ. Es war nur eine kurze Bemerkung, während eines Damespiels.«

»Dann hat der Hurensohn bestimmt auch gesagt, wie sehr ich Damespielen hasse. Er hängt also immer noch diesem lächerlichen Zeitvertreib nach?«

»Nein, Senor. Er ist tot. Fray Bonestruca verlor den Verstand und brachte zwei Jahre im Tollhaus von Saragossa zu, wo er an einer Seuche starb, die dessen Insassen heimsuchte.«

Tapia verzog das Gesicht und bekreuzigte sich.

Trotzdem klang seine Stimme wachsam, als er Jona fragte, ob er wegen der Unterhaltung mit Bonestruca beschlossen habe, nach Tembleque zu kommen.

»Nein. Die Diözese bat mich, zu kommen und zu sehen, ob ich dem Grafen helfen könne... Jüngst mußte ich aber die Frau des Grafen Vasca behandeln.« Seit ihrer Hochzeit hatte Adriana ihm viel von den Mißhandlungen erzählt, die sie von ihrem ersten Gatten erlitten hatte. Im Lauf der Zeit hatte er gesehen, wie der Schmerz aus dem Blick seiner Frau wich, aber er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß Männer Frauen schlugen. »Ich hoffe, die Condesa wird keine weiteren Verletzungen erleiden.«

Tapia sah Jona verblüfft an, als könne er nicht glauben, daß der Arzt sich die Freiheit herausnahm, so mit ihm zu reden.

»Verletzungen kommen vor, niemand ist dagegen gefeit«, sagte er. »Zum Beispiel würde ich an Eurer Stelle nicht ohne Begleitung durch die Burg wandern; es könnte ja sein, daß jemand Euch für einen Dieb hält, Senor, und Euch tötet.«

»Es wäre schade um den, der es versuchen sollte, denn es ist lange her, daß ich mich nicht gegen Halsabschneider verteidigen konnte«, sagte Jona und schlenderte betont langsam davon.

Diese Drohung spornte Jona bei seiner Durchsuchung der Burg nur noch mehr an, denn offensichtlich glaubte Tapia, daß hier etwas Wertvolles verborgen war, und wollte nicht, daß ein anderer darüber stolperte. Jona suchte sehr sorgfältig und griff sogar in jede Wandnische, für den Fall, daß man sie ähnlich benutzt hatte wie die Nische in seinem eigenen Haus, die als Versteck für seine hebräischen Manuskripte diente, aber er zog nichts aus diesen dunkeln Löchern bis auf ein Mäusenest und ein paar Spinnweben, und bald fand er sich in den Räumen wieder, die er bereits durchsucht hatte.

In dem Lagerraum stand er vor dem großen steinernen Sarg, einer Ruhestätte, die eines Prinzen würdig gewesen wäre, und las noch einmal die eingemeißelte Inschrift.

CVM MATRE MATRIS SAVVS.

Er verstand so gut wie kein Latein, aber auf dem Weg zum

Krankenzimmer traf er den Verwalter, der einige Arbeiter bei der Ausbesserung des Geländers der großen Treppe überwachte.

»Padre Guzman«, sagte er. »Beherrscht Ihr das Lateinische?«

»Natürlich«, erwiderte Padre Guzman eingebildet.

»Die Inschrift auf dem Steinsarg für den Grafen. Cum matre matris salvus. Was bedeutet das?«

»Daß er nach dem Tod in alle Ewigkeit bei der Jungfrau Maria sein wird«, antwortete Padre Guzman.

Aber warum konnte Jona dann in dieser Nacht nicht schlafen?

Früh am nächsten Morgen, als ein heftiger Frühlingsregen gegen die dünne Alabasterscheibe des Fensters trommelte, stand er auf, nahm eine Fackel aus dem Halter und ging damit in den Lagerraum, wo er sie in die Höhe hielt, um den Sarg bei ihrem flackernden Schein noch einmal zu betrachten.

Als Padre Sebbo am späten Vormittag im Krankenzimmer erschien, erwartete Jona ihn bereits ungeduldig. »Padre, wie gut beherrscht Ihr das Lateinische?«

Padre Sebbo grinste. »Es ist mir eine lebenslange Verführung zur Sünde des Stolzes.«

»Cum matre matris salvus.«

Das Lächeln des Priesters verschwand. »Ts, ts«, machte er unwirsch.

»Was bedeutet es?«

»Wo habt Ihr denn diesen... Spruch her?«

»Padre, wir beide kennen einander noch nicht sehr lange. Aber Ihr müßt selbst wissen, ob Ihr mir trauen könnt.«

Sebbo sah ihn an und seufzte. »Ich kann. Ich muß. Es bedeutet: >Sicher bei der Mutter der Mutter.<«

Jona sah, daß die Röte aus dem Gesicht des alten Priesters gewichen war. »Ich weiß, wonach Ihr seit so vielen Jahren sucht, Pa-dre Sebastian, und ich glaube, wir haben es gefunden.«

Zu zweit untersuchten sie sorgfältig den Sarg. Der mächtige Steindeckel, der am Kopfende des Sarges an der Wand lehnte, bestand aus einem Stück, ebenso wie der Boden des steinernen Behältnisses und drei der Seitenwände.

»Aber schaut hier«, sagte Jona. Die vierte Seitenwand war anders, stärker als die gegenüberliegende. Die Platte mit der lateinischen Inschrift war in den oberen Rand dieser Wand eingelassen.

Jona klopfte darauf, damit Padre Sebbo hören konnte, daß sich darunter ein Hohlraum befand. »Wir müssen die Platte entfernen.«

Der Priester stimmte ihm zu, riet aber zur Vorsicht. »Der Lagerraum liegt zu nahe an den Schlafgemächern. Und nicht weit vom Speisesaal entfernt. Zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten kommen hier Leute vorbei, und die Soldaten der Wache sind schnell gerufen. Wir müssen warten, bis die anderen in der Burg abgelenkt sind.«

Doch die Ereignisse raubten ihnen den Luxus des Wartens, denn sehr früh am nächsten Morgen riß die Dienerin, die an Vascas Bett gewacht hatte, Jona aus dem Schlaf. Der Graf wurde von Krämpfen und Würgereiz geschüttelt. Sein Gesicht war noch schlimmer verzerrt, und die Augen befanden sich nicht mehr auf einer Ebene, das linke hing tiefer als das rechte. Der Puls war voll und schnell, sein Atem kam langsam und röchelnd. Jona hörte ein rasselndes Geräusch, das, wie er sofort erkannte, das Ende ankündigte.

»Holt schnell die Condesa und die Priester«, befahl er der Frau.

Die Condesa und die Priester trafen gemeinsam ein, die Gemahlin des Sterbenden aufgelöst und stumm den Rosenkranz betend, Padre Guzman in seinem Todesgewand - purpurfarbene Soutane und Chorhemd - und so hastig herbeistürzend, daß Pa-dre Sebbo dem jüngeren Priester noch die Stola um den Hals zurechtrückte, als sie zur Tür hereintraten.

Der Graf, dessen Augen jetzt hervortraten, lag in den letzten Zügen; sein Aussehen erinnerte Jona an Hippokrates' Beschreibung des nahenden Todes: »Die Nase spitz, die Schläfen eingefallen, die Ohren kalt und blutleer und verdreht, die Haut des Gesichts hart, gespannt und trocken, die Farbe des Antlitzes schwärzlich.«

Padre Sebbo öffnete das Goldfläschchen mit dem Salböl. Er benetzte Vater Guzmans rechten Daumen mit dem Chrisma, und der Priester salbte Augen, Ohren, Hände und Füße des Grafen. Schwer hing der Duft des Balsams im Zimmer, als der vierzehnte und letzte Graf von Tembleque zum letzten Mal ausatmete, ein langes, ersticktes Seufzen.

»Er ist aller Sünden ledig«, sagte Padre Guzman, »und tritt nun vor unseren Herrn.«

Padre Sebbo und Jona wechselten einen Blick, denn beide wußten sie, daß es nun nicht mehr lange dauern würde, bis der steinerne Sarg in die Erde gesenkt würde.

»Wir müssen der Dienerschaft und den Soldaten das Hinscheiden ihres Herrn und Meisters verkünden und mit ihnen im Burghof eine Gedenkmesse feiern«, sagte Padre Sebbo zu Padre Guzman.

Guzman runzelte die Stirn. »Glaubt Ihr wirklich? Es gibt so viel, das jetzt getan werden muß.«

»Dies sollte zuerst geschehen«, erwiderte der ältere Priester entschieden. »Ich werde Euch ministrieren, aber Ihr müßt die Ansprache nach der Messe halten, denn Ihr seid ein viel besserer Redner als ich.«

»Ach, das stimmt nicht«, erwiderte Padre Guzman bescheiden, aber er war offensichtlich geschmeichelt und deshalb gerne bereit, die Ansprache zu halten.

»Unterdessen«, fuhr Padre Sebastian fort, »muß der Arzt den Verstorbenen waschen und für das Begräbnis vorbereiten«, und Jona nickte.

Er richtete es so ein, daß er mit dieser Aufgabe erst fertig war, als er vom Burghof den Beginn der Messe hören konnte. Kaum drangen der Baß Padre Sebastians und Padre Guzmans höheres Singen sowie die volltönenden Erwiderungen der Gläubigen zu ihm herauf, eilte er in den Lagerraum.

Mit einer chirurgischen Sonde kratzte er den Mörtel vom Rand der Spruchplatte auf dem Sarg weg. Es war eine Verwendung, die Manuel Fierro kaum im Sinn gehabt haben dürfte, als er das Instrument anfertigte, aber es eignete sich vorzüglich. Jona hatte bereits den Mörtel von zwei Seiten der Platte entfernt, als er hinter sich eine Stimme hörte.

»Was treibt Ihr hier, Heiler?«

Daniel Tapias Augen waren auf die Spruchplatte gerichtet, als er den Raum betrat.

»Ich sorge dafür, daß alles in Ordnung ist.«

»Aber natürlich«, erwiderte Tapia. »Ihr glaubt also, daß da was drin ist? Ich hoffe, Ihr habt recht.«

Er zog seinen Dolch aus der Scheide und ging auf Jona zu.

Jona sah sofort, daß Tapia nichts daran lag, Alarm zu schlagen und die Soldaten herbeizurufen, denn er hatte es selbst auf die Diebesbeute abgesehen. Er war so groß wie Jona und viel schwerer; offensichtlich war er überzeugt, daß er es mit seinem Messer allemal mit diesem unbewaffneten Arzt aufnehmen konnte. Jona täuschte einen Hieb mit seiner winzigen Sonde an und sprang zur Seite, als das Messer in weitem Bogen, der ihm den Bauch hätte aufschlitzen sollen, auf ihn zugesaust kam.

Er hatte Glück: Die Klinge verpaßte ihn um Tuchesbreite. Die Spitze traf das Gewebe seines Gewandes und riß es auf, blieb dabei aber kurz hängen, so daß Jona den Arm hinter dem Messer zu fassen bekam.

Er riß daran, mehr unbewußt als mit Absicht, und Tapia verlor das Gleichgewicht und fiel über den offenen Sarg. Er war sehr schnell für einen so kräftigen Mann und hatte noch immer das Messer in der Hand, aber Jona griff unwillkürlich nach dem Sargdeckel, der an der Wand lehnte. Er war so schwer, daß er seine ganze Kraft aufbieten mußte, um ihn zu bewegen, doch kaum hatte die Oberkante sich von der Wand gelöst, trug das Eigengewicht ihn weiter. Tapia rappelte sich schon wieder hoch, doch der mächtige Deckel kam auf ihn herabgesaust wie eine Falle auf ein Tier. Sein Körper dämpfte das Geräusch, statt des Krachens von Stein auf Stein war nur ein dumpfer Schlag zu hören.

Trotzdem war das häßliche Geräusch laut genug, und Jona erstarrte und lauschte. Doch die im Gebet erhobenen Stimmen der Trauergemeinde sangen ohne Unterbrechung weiter.

Tapias Hand hielt noch immer das Messer umklammert, und Jona mußte es ihm entwinden. Behutsam hob er den Steindeckel an, doch die Vorsicht war unnötig.

»Tapia?«

Der Mann atmete nicht. »O nein, verdammt.« Jona sah, daß das Rückgrat gebrochen und Tapia tot war.

Doch für Bedauern blieb ihm keine Zeit. Er trug Tapia in die Kammer neben der seinen und legte ihn aufs Bett. Dann zog er ihm die Oberkleidung aus und schloß ihm die Augen. Im Hinausgehen zog er die Tür hinter sich zu.

Als er nun in den Lagerraum zurückkehrte, mußte er sich sehr beeilen, denn von draußen konnte er hören, daß die Messe vorüber war und Padre Guzmans näselnde Stimme zu Fernan Vascas schmeichlerischem Nachruf ansetzte.

Als er die letzte Schicht Mörtel entfernt hatte, hob er die Platte ab und entdeckte darunter einen Hohlraum.

Beklommen griff er hinein und ertastete ein Nest aus Lumpen. In diesem Nest lag wie ein großes und kostbares Ei ein in feines Leinen gewickelter Gegenstand, und darunter befand sich ein

Beutel aus bestickter Seide. Jona zitterte, als er den Beutel herausholte, denn in ihm fand er, was Tod und Vernichtung über seine Familie gebracht hatte.

An diesem Nachmittag ging Condesa Maria del Mar in Tapias Zimmer und fand ihn tot. Sofort wurden der Arzt und die Priester gerufen.

Zweimal hatte Jona bis dahin den Tod von Menschen verursacht, und jedesmal war er nach langem Kampf mit den Dämonen des Gewissens zu der Überzeugung gekommen, daß er das Recht hatte, sich zu schützen, wenn jemand ihn töten wollte. Jetzt jedoch fand sich der Arzt in der mißlichen Lage, jemanden für tot erklären zu müssen, den er selbst getötet hatte, und es quälte ihn, seinen Beruf auf eine Art zu mißbrauchen, die er Nuno Fierro nicht hätte gestehen wollen.

»Er war sofort tot«, sagte er, was stimmte. Und fügte hinzu: »Er starb im Schlaf«, was nicht stimmte.

»Ist es eine Seuche, die uns alle treffen könnte?« fragte Padre Guzman furchtsam. Jona verneinte es und ergänzte, es sei Zufall, daß der Graf und Tapia am selben Tag gestorben seien. Er war sich bewußt, daß der Condesa bleiches Gesicht sich ihm zuwandte.

»Daniel Tapia hatte keine lebenden Verwandten«, sagte sie. Sie hatte sich nach dem Schrecken der Entdeckung schnell wieder gefangen. »Seine Beerdigung darf die Zeremonien für den Grafen nicht stören«, verkündete sie mit Nachdruck.

So wurde Tapia in das Laken gewickelt, auf dem er lag, und auf die Ebene hinausgeschafft, wo ein Loch gegraben und er unter Gebeten von Padre Guzman in aller Eile beerdigt wurde. Jona war anwesend und sprach das Amen, und zwei Soldaten der Wache schaufelten das Grab und füllten es wieder auf.

Unterdessen war die Arbeit in der Burg weitergegangen. Bei Sonnenuntergang waren die Vorbereitungen für die Bestattung des Grafen zur Zufriedenheit seiner Witwe abgeschlossen, und er lag die ganze Nacht über aufgebahrt im großen Saal der Burg, umringt von einer Vielzahl an Kerzen und bewacht von einer Gruppe Frauen aus der Dienerschaft, die dasaßen und sich in gedämpftem Tonfall unterhielten, bis bei Tagesanbruch die Burg wieder zum Leben erwachte.

Am späten Vormittag wurde der Sarg von zwölf kräftigen Bewaffneten auf die Schultern genommen und auf den Burghof getragen, wo bald Soldaten und Dienerschaft in langsamer Reihe an ihm vorbeizogen. Hätten neugierige Hände die dünnen Ritzen um die Platte mit der lateinischen Inschrift abgetastet, hätten sie festgestellt, daß sie nur von einer dünnen Schicht klebriger Augensalbe an ihrem Platz gehalten wurde, über die man hastig zer-mahlene Mörtelbrocken gestrichen hatte.

Aber kein Blick bemerkte dergleichen, denn alle Augen waren auf die Gestalt im Sarkophag gerichtet. Fernan Vasca, Graf von Tembleque, lag da in ritterlichem Prunk, die Kriegerhände friedlich gefaltet. Er war angetan mit der vollen Pracht seiner Rüstung, das herrliche, von Paco Parmiento geschmiedete Schwert auf der einen, den Helm auf der anderen Seite. Die Mittagssonne funkelte auf dem polierten Stahl, bis der Graf aussah wie ein schlafender Heiliger, den die Flammen verzehrten.

Die Frühlingssonne war sehr stark, und die Rüstung speicherte die Hitze wie ein Kochtopf. Duftkräuter bedeckten das Pflaster und wurden von vorbeiziehenden Füßen zertrampelt, doch bald war der Gestank des Todes übermächtig. Maria del Mar hatte vorgehabt, den Leichnam einige Tage im Burghof aufgebahrt zu lassen, damit die »kleinen Leute« der Umgebung von ihrem Herrn und Grafen Abschied nehmen konnten, doch sie mußte bald einsehen, daß dies unmöglich war.

In einem Winkel des Hofes war, neben den Ruhestätten früherer Grafen des Bezirks, ein Grab ausgehoben worden. Eine Abordnung Soldaten schaffte den Sarg zum Rand des Grabes, doch als der Deckel aufgelegt werden sollte, hieß Maria del Mar die Abordnung mit leiser Stimme innehalten.

Sie eilte in die Burg und kehrte Augenblicke später mit einer einzelnen, langstieligen Rose zurück, die sie ihrem toten Gatten in die Hände schob.

Jona stand acht Schritte entfernt. Erst als die Soldaten den Deckel wieder anhoben und langsam auf den Sarg senkten, kam ihm ein Gedanke, der ihn die Blume genauer ansehen ließ.

Es schien nur eine Rose zu sein. Aber vielleicht die wunderbarste Rose, die er je gesehen hatte.

Jona konnte nicht anders, er mußte einen Schritt auf den Sarg zugehen, aber in diesem Augenblick senkte sich, viel zu schnell, der schwere Steindeckel auf die lateinische Inschrift, den toten Ritter und die goldene Rose mit dem silbernen Stiel.

5. KAPITEL AUFBRUCH

Am Morgen packte Jona gerade seine Satteltaschen, als Maria del Mar Cano zu ihm kam. Sie trug Trauer, ein schwarzes, schweres Reisegewand. Der Schleier ihrer schwarzen Haube verhüllte die kleine Narbe auf ihrer Wange, aus der er erst vor wenigen Tagen die Fäden gezogen hatte.

»Ich gehe nach Hause. Mein Vater schickt einen Bevollmächtigten, der sich um die Fragen von Besitz und Erbschaft kümmern wird. Wollt Ihr mit mir nach Madrid kommen, Arzt?«

»Das ist nicht möglich, Condesa. Meine Frau wartet in Saragossa auf mich.«

»Ach«, sagte sie bedauernd. Aber dann lächelte sie. »Dann müßt Ihr mich eines Tages besuchen, falls Ihr Euch einmal nach Luftveränderung sehnt. Mein Vater wird Euch großzügig entlohnen wollen. Daniel Tapia hätte großes Unglück über mich bringen können.«

Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, daß sie glaubte, er habe den Mann getötet, weil der sie geschlagen hatte.

»Ihr seid verwirrt über das, was hier passiert ist.«

Sie hob ihren Schleier und beugte sich vor. »Ich bin nicht verwirrt. Ihr müßt nach Madrid kommen, denn auch ich möchte Euch großzügig entlohnen«, sagte sie, küßte ihn auf den Mund und ging davon. Er blieb traurig und wütend zurück. Ohne Zweifel würde ihr Vater - oder sonst jemand, der ihre Geschichte hörte - annehmen, daß der Medicus von Saragossa Gift benutzt hatte, um Tapia zu töten. Er wollte nicht, daß ein solches Gerücht die Runde machte.

Maria del Mar Cano war jung und wäre auch noch im Alter eine Versuchung für jeden Mann, aber ihre Anwesenheit in Madrid würde dafür sorgen, daß er nie dorthin reisen würde.

Nachdem er seine Sachen gepackt hatte, war er wieder besserer Stimmung. Als er zum Fenster hinausschaute, sah er die Condesa von Tembleque durchs Haupttor reiten, und mit einer gewissen Belustigung stellte er fest, daß sie auf der Reise nach Madrid gut beschützt sein würde, denn sie hatte sich einen jungen, starken Soldaten der Wache zum Begleiter erwählt.

Im Burghof verabschiedete er sich von den beiden Priestern. Padre Sebbo hatte sein Bündel auf dem Rücken und einen sehr langen Stab in der Hand.

»Wir haben noch über mein Entgelt zu sprechen«, sagte Jona zu Padre Guzman.

»Ach, das Entgelt. Es kann natürlich erst gezahlt werden, wenn der Nachlaß geregelt ist. Man wird es Euch nachsenden.«

»Mir sind zehn silberne Kelche aus dem Besitz des Grafen aufgefallen. Die hätte ich gern als Bezahlung.«

Der priesterliche Verwalter horchte auf, wenngleich mit entsetzter Miene. »Zehn Silberkelche sind viel mehr wert als das Entgelt für einen Mißerfolg«, erwiderte er trocken. Ihr habt ihn nicht am Leben halten können, las Jona in seinem Blick. »Nehmt vier, wenn Ihr wollt.«

»Fray Francisco Espina sagte, ich würde reichlich entschädigt.«

Padre Guzman wußte aus Erfahrung, daß man sich von aufdringlichen bischöflichen Beamten nicht ins Handwerk pfuschen lassen durfte. »Dann sechs«, sagte er, ein harter Verhandler.

»Ich nehme sie, wenn ich die anderen vier kaufen darf. Zwei sind beschädigt.«

Der Verwalter nannte einen Preis, der unverschämt war, doch die Kelche waren für Jona viel mehr wert als Geld, und so stimmte er, wenn auch mit aufgesetztem Widerwillen, sofort zu.

Padre Sebbo hatte dem Wortwechsel mit einem feinen Lächeln gelauscht. Jetzt verabschiedete er sich und schlenderte, mit erhobener Hand und einem letzten Segenswunsch für die Wachen, durch das Tor wie ein Mann, der die Welt zum Ziel hat.

Als Jona eine Stunde später durch dasselbe Tor reiten wollte, wurde er aufgehalten.

»Es tut mir leid, Senor. Wir haben den Befehl, Eure Habe zu durchsuchen«, sagte der Hauptmann der Wache zu ihm.

Sie zogen alles aus seinen Taschen, was er so sorgfältig eingepackt hatte, doch er beherrschte sich, obwohl sein Magen sich verkrampfte.

»Für die Kelche habe ich eine Empfangsbestätigung«, sagte er.

Schließlich nickte der Hauptmann ihm zu, und Jona führte Hermana beiseite, um seine Sachen wieder einzupacken. Dann saß er auf und ließ das Schloß von Tembleque mit Freuden hinter sich.

Sie trafen sich in Toledo vor dem Bischofspalast.

»Keine Schwierigkeiten?«

»Nein«, sagte Padre Sebastian. »Ein Fahrer, der mich kannte, nahm mich in seiner Kutsche mit. Ich bin hier eingezogen wie der Papst.«

Sie gingen ins Gebäude, meldeten sich an und saßen dann schweigend nebeneinander auf einer Bank, bis der Mönch zurückkehrte und sagte, Padre Espina könne sie jetzt zu einem vertraulichen Gespräch empfangen.

Jona wußte, daß es Padre Espina verwirrte, sie beide zusammen zu sehen.

»Ich möchte Euch eine Geschichte erzählen«, sagte Padre Sebastian, als sie Platz genommen hatten.

»Ich höre zu.«

Der weißhaarige alte Mann erzählte von einem jungen Priester, voller Ehrgeiz und gesegnet mit familiären Beziehungen, der um eine Reliquie gebeten hatte, die ihn zum Abt eines großen Klosters machen würde. Er erzählte von Kabale und Diebstahl und Mord. Und vom Arzt von Toledo, der sein Leben auf dem Scheiterhaufen verloren hatte, weil er die Bitte eines Priesters seines erwählten Glaubens nicht hatte abschlagen wollen. »Das war Euer Vater, Padre Espina.«

Padre Sebastian berichtete, daß er in den Jahren seiner Wanderschaft überall nach gestohlenen Reliquien gefragt habe. »Die meisten Leute zuckten nur die Achseln. Es war schwierig, etwas zu erfahren, aber ich schnappte hier und dort ein Wort auf, und alle Worte wiesen mich auf den Grafen Fernan Vasca hin. So lenkte ich meine Schritte immer wieder einmal zur Burg von Tembleque, bis die Leute dort sich an meinen Anblick gewöhnten. Und ich hielt die Augen und Ohren offen, aber erst in diesem Jahr hielt Gott es für angemessen, mich auf der Burg mit diesem Medicus hier zusammenzubringen, wofür ich ihm sehr danke.«

Padre Espina lauschte mit gebannter Aufmerksamkeit, die sich zu Staunen wandelte, als Padre Sebastian einen Gegenstand aus seinem Bündel zog und ihn mit größter Sorgfalt auswickelte.

Die drei Männer verstummten, als sie das Reliquiar vor sich sahen.

Das Silber war schwarz angelaufen, das Gold aber noch rein und strahlend, und die Heiligenfiguren und die Früchte und Pflanzen der Verzierung stachen trotz ihrer Schwärze dem Betrachter ins Auge.

»Gott hat dem Schöpfer die Hände geführt«, sagte Padre Espina.

»Ja«, entgegnete Padre Sebastian. Er nahm den Deckel vom Ziborium, und die drei starrten die Reliquie in der Schale an. Die beiden Priester bekreuzigten sich.

»Seht Euch satt daran«, sagte Padre Sebastian, »denn die Reliquie der Santa Ana und das Reliquiar müssen so schnell wie möglich nach Rom geschickt werden, und unsere Freunde in der päpstlichen Kurie sind berüchtigt für ihre Langsamkeit, wenn es darum geht, die Echtheit einer gestohlenen und wiedergefundenen Reliquie zu bestätigen. Es kann sein, daß wir es nicht mehr erleben.«

»Aber es wird geschehen«, sagte Padre Espina, »und zwar dank Euch beiden. Die Legende der Toledaner Reliquie der Santa Ana ist überall bekannt, und Euch beide wird man als Helden ihrer Rettung feiern.«

»Ihr habt mir erst kürzlich gesagt, daß ich mit Eurer Hilfe immer rechnen könne«, sagte Jona. »Jetzt muß ich Euch um diese Hilfe bitten. Mein Name darf in Zusammenhang mit dieser Angelegenheit nicht erwähnt werden.«

Padre Espina war verwirrt über diese unerwartete Wendung, und er musterte Jona schweigend.

»Was haltet Ihr von Senor Callicos Bitte?« fragte er Padre Sebastian.

»Sie hat meine volle Unterstützung«, erwiderte der alte Priester. »Ich habe seine Rechtschaffenheit kennengelernt. In Zeiten, die sonderbar und schwierig sind, kann es ein Segen sein, unerkannt zu bleiben, sogar für einen Ehrenmann.«

Schließlich nickte Espina. »Mir ist bewußt, daß auch mein Vater zu seiner Zeit eine solche Bitte hätte äußern können. Welche Gründe Ihr auch haben mögt, ich werde Euch keine Sorgen bereiten. Aber gibt es sonst noch etwas, das ich für Euch tun kann?«

»Nein, Padre, vielen Dank.«

Padre Espina wandte sich nun an Padre Sebastian. »Aber wenigstens Ihr als Priester müßt zur Verfügung stehen, um zu bezeugen, was in der Burg von Tembleque vorgefallen ist«, sagte er. »Kann ich Euch nicht eine Stellung verschaffen, in der Ihr nicht mit den Armen wandern und Euer täglich Brot erbetteln müßt?«

Aber Padre Sebastian Alvarez wollte weiter Bettelmönch bleiben. »Santa Ana hat mein Leben und meine Berufung verändert und mich zu einer Priesterschaft geführt, die ich mir so nicht vorgestellt habe. Bitten möchte ich Euch, dafür zu sorgen, daß mein Name nur erwähnt wird, wo es notwendig ist, damit diese meine Priesterschaft fortbestehen kann.«

Padre Espina nickte. »Ihr müßt einen Bericht darüber verfassen, wie diese Gegenstände wiedergefunden wurden. Bischof Enrique Sagasta kennt mich und vertraut mir, als Mensch und als Priester. Ich bin mir sicher, ich kann ihn überreden, daß er diese Kostbarkeiten nach Rom sendet mit der Erklärung, sie seien vom Offizium für Glaubensangelegenheiten des Toledaner Bistums wiederaufgefunden worden, in der Burg von Tembleque nach dem Tod des Grafen Fernan Vasca, der als Reliquienhändler bekannt war. Die uralte Basilika des Konstantin in Rom wurde niedergerissen, und über dem Grab des heiligen Petrus soll eine prächtige Kirche errichtet werden. Bischof Sagasta sehnt sich nach einer Versetzung nach Rom, und ich sehne mich danach, ihn begleiten zu dürfen.«

Er lächelte. »Es dürfte dem Ruf des Bischofs als Kirchenhistoriker nicht schaden, wenn man ihn als den Wiederbeschaffer der Reliquie der Santa Ana und eines solchen Reliquiars betrachtet.«

Die beiden Männer standen vor dem Bischofspalast auf der Straße und sahen einander an.

»Wißt Ihr, wer ich bin?«

Padre Sebastian legte Jona eine schwielige Hand auf den Mund. »Ich will keinen Namen hören.«

Aber er sah Jona tief in die Augen. »Mir ist aufgefallen, daß Eure Züge dem gütigen Gesicht eines Mannes ähneln, den ich früher kannte, eines guten Mannes voller Kunstfertigkeit und meisterhaftem Geschick.«

Jona lächelte. »Lebt wohl, Padre.«

Sie umarmten sich.

»Geht mit Gott, mein Sohn.«

Dann stand Jona da und sah Sebastian Alvarez nach, der mit wehenden weißen Haaren, den langen Stab des Bettelmönchs schwenkend, auf der bevölkerten Straße davonging.

Er ritt an den Stadtrand von Toledo, zu der Wiese, die früher der jüdische Friedhof gewesen war. Schon eine ganze Weile hatten hier keine Schafe oder Ziegen mehr geweidet, das Gras sproß üppig über all den jüdischen Knochen, und er ließ sein Pferd fressen, während er das Kaddisch betete für seine Mutter und Meir und alle, die hier lagen. Dann stieg er wieder in den Sattel und ritt langsam zurück in die Stadt, durch Straßen, auf denen er die glücklichsten und unbeschwertesten Tage seines Lebens verbracht hatte, und hinauf zu dem Weg am Hochufer über dem Fluß.

Die Synagoge war, zumindest für den Augenblick, von Holzhackern übernommen worden. Auf der Eingangstreppe und an der Vorderseite des Gebäudes stapelte sich Feuerholz.

Er hielt sein Pferd an, als er das ehemalige Anwesen der Familie Toledano erreichte.

Noch immer Jude, Abba, rief er stumm.

Der Baum auf dem Grab seines Vaters war mächtig gewachsen, seine belaubten Äste hingen über das niedrige Dach des Hauses, spendeten Schatten und schwankten leicht im Wind.

Stark spürte er die Anwesenheit seines Vaters.

Und ob nun eingebildet oder nicht, er labte sich an ihr. Ohne Worte berichtete er seinem Vater, was sich alles ereignet hatte. Die Toten waren nicht zurückzuholen, was verloren war, blieb verloren, und doch war es ihm, als wäre die Angelegenheit mit dem Reliquiar zu einem Abschluß gekommen und erledigt.

Er tätschelte Hermana, während er das Haus betrachtete, in dem seine Mutter gestorben war.

Sebastian Alvarez hatte gesagt, er sehe aus wie sein Vater. Ähnelte Eleasar auch ihrem Vater? Wenn Jona Eleasar Toledano nun auf der Straße, in einer Menschenmenge begegnete, würde er ihn als seinen Bruder erkennen?

Wohin er den Blick auch wandte, überall sah er einen schmächtigen Jungen mit einem großen Kopf.

Jona, gehen wir zum Fluß?

Jona, kann ich nicht mit dir kommen?

Gestank, der ihm unvermittelt in die Nase stieg, brachte ihn in die Gegenwart zurück; der Buchbinder betrieb also noch immer seine Gerberei.

Ich liebe dich, Abba.

Als er am angrenzenden Grundstück des Nachbarn Marcelo Troca vorbeiritt, sah er, daß er alte Mann noch lebte, er stand auf seiner Weide und legte eben einem burro einen Halfter um.

»Hola!« rief Jona.

»Einen guten Tag, Senor Troca!« fügte er hinzu und drückte seinem Pferd dann die Hacken in die Flanken.

Marcelo Troca stand da, die Hand auf dem Hals des Esels, und schaute verwirrt dem schwarzen Pferd nach, bis der Reiter nicht mehr zu sehen war.

vergleichen, aber das Land und das Haus waren genau das, was Jona sich immer gewünscht hatte.

6. KAPITEL DIE SCHEUNE

Der Ort und er paßten gut zusammen. Das rechteckige Stück Land, eigentlich nur ein langer, flacher Hügel mit einem schmalen Bächlein mittendurch, war kein Garten Eden, und die hacienda war nicht mit einer Burg zu

In diesem Jahr kam der Frühling zeitig nach Saragossa. Die Obst- und Olivenbäume, die er mit Adriana gestutzt und gedüngt hatte, trieben bereits üppig aus, als er nach Hause zurückkehrte. Adriana begrüßte ihn mit Tränen und Lachen, als wäre er von den Toten auferstanden.

Ehrfürchtig betrachtete sie die Silberkelche, die sein Vater angefertigt hatte. Der schwarze Beschlag erwies sich als hartnäckig und tückisch, aber Jona kehrte zusammen, was sich den Winter über auf dem Boden des Hühnerstalls angesammelt hatte, und tauchte jeden Becher in ein Säurebad aus nassem Hühnerkot. Dann rieb und rubbelte er mit dieser schrecklichen Mischung und einem weichen Tuch, und nach kräftigem Bürsten mit Seifenlauge und eifrigem Polieren mit trockenen Tüchern erstrahlten die Gefäße wie Graf Vascas Rüstung. Adriana stellte die Kelche auf ein Tischchen neben dem Kamin, so daß die Flammen sich darin funkelnd spiegelten, und drehte die Kratzer und Dellen der beiden beschädigten Becher zur Wand.

Im Olivenhain unterhalb der Hügelkuppe waren die Bäume bald schwer von kleinen, harten, grünen Früchten, die Adriana verzückt betrachtete. Sie wollte Öl daraus pressen, sobald sie voll ausgereift wären. In Jonas Abwesenheit hatte sie ein paar Ziegen für eine kleine Herde gekauft. Obwohl der Verkäufer behauptet hatte, alle Weibchen seien gedeckt worden, erwies sich nur ein einziges Tier als trächtig. Aber Adriana ließ sich von so etwas nicht verstimmen, denn in der letzten Sommerwoche wurde klar, daß sie selbst schwanger war. Jona freute sich sehr, und Adriana erstrahlte in stiller Verzückung.

Dieses Kind, das erst noch geboren werden mußte, gab den Ausschlag.

Im Frühherbst kamen Reyna und Alvaro zu Besuch, und während die Frauen beieinandersaßen und ein Glas Wein tranken, gingen die beiden Männer zur Hügelkuppe und schritten die Abmessungen der neuen Scheune ab.

Alvaro kratzte sich am Kopf, als er sah, was Jona wollte. »Brauchst du wirklich eine so große Scheune, Ramon?«

Doch Jona nickte nur und lächelte. »Wenn wir schon bauen, dann laß uns richtig bauen.«

Alvaro hatte schon mehrere Häuser errichtet, und Jona gab ihm den Auftrag, die Außenmauern hochzuziehen und mit einem Ziegeldach zu decken, das zum Dach der hacienda paßte. Den ganzen Herbst und Winter über sammelten Alvaro und Lope, der junge Mann, der sein Gehilfe war, Steine und schafften sie mit einem Ochsenkarren auf die Hügelkuppe.

Im März entband Adriana. Nachdem sie eine stürmische Nacht lang in den Wehen gelegen hatte, brachte sie im kalten Licht des Morgens ihr Kind zur Welt. Jona empfing den Knaben mit beiden Händen, und als der Kleine den Mund öffnete und schrie, küßte er die weichen, geröteten Wangen und spürte nun endlich das Eis der Einsamkeit in sich schmelzen.

»Das ist Helkias Callico«, sagte Adriana, und als er ihr den gewickelten Knaben in die Arme legte, sprach sie Worte, die nie geäußert wurden, nicht einmal in Augenblicken größter Vertrautheit. »Sohn von Jona Toledano«, flüsterte sie.

Im folgenden Frühling gruben Alvaro und Lope gemäß Jonas Anweisungen einen flachen Graben und legten das Fundament. Während die Mauern unter ihren Händen wuchsen, beteiligte auch Jona sich an der Arbeit, sooft seine Patienten ihm Zeit dazu ließen. Er lernte, Steine sorgfältig auszuwählen, so daß sie zueinander paßten, und sie so aufeinanderzuschichten, daß aus ihrem Verbund die Stärke der Mauer wurde. Er bestand sogar darauf zu lernen, wie man Mörtel mischte, wie aus zermahlenem Schieferton, Lehm, Sand, Kalkstein und Wasser ein grobes Bindemittel wurde. Alvaro wunderte sich über seine Fragen und seine Tatkraft. »Vielleicht möchtest du ja aufhören, ein Medicus zu sein, und in meinem Gewerbe arbeiten«, sagte er, doch beide genossen die gemeinsame Tätigkeit.

In der ersten Juniwoche wurde die Scheune fertig. Nachdem Alvaro und Lope bezahlt worden waren und sich verabschiedet hatten, fing Jona an, in den kühleren Stunden des Tages allein zu arbeiten und am frühen Morgen und vor Sonnenuntergang zusätzliches Baumaterial zu sammeln. Während des ganzen Sommers und bis in den Herbst wuchtete er auf seinem eigenen Land Felsbrocken und Steine in seinen Karren und lud sie in der Scheune ab.

Es war November, als er die Steine endlich verwenden konnte. Im hinteren Teil der Scheune zog er eine Linie, die einen kleinen Raum vom Rest abtrennte, und errichtete entlang dieser Linie und parallel zur Rückwand eine Innenwand.

Im dunkelsten Winkel der Scheune baute er einen niedrigen, engen Durchgang in diese Wand, und vor diesem Durchgang errichtete er einen Verschlag aus Kiefernbrettern. Der Verschlag war zweigeteilt. Im vorderen Teil stapelte er gehacktes Feuerholz, während er in den hinteren Teil eine niedrige Klapptür einbaute. Die Klapptür erlaubte ihm den Zugang zu dem Geheimzimmer, ließ sich aber, wenn sie nicht gebraucht wurde, hinter aufgestapeltem Feuerholz verstecken.

In den langen, schmalen Raum zwischen den beiden Wänden stellte er einen Tisch und zwei Stühle und versteckte dort alle äußeren Zeichen seines Judeseins - seinen Kidduschkelch, Sabbatkerzen, die zwei medizinischen Bücher auf hebräisch und ein paar vollgekritzelte Blätter mit erinnerten Gebeten, Redewendungen und Legenden.

Am ersten Freitag abend nach Vollendung der Scheune stand er zusammen mit Adriana, die ihren Sohn in den Armen hielt, auf der Hügelkuppe neben Nunos Grab. Gemeinsam blickten sie in den sich verdunkelnden Himmel, bis sie das weiße Glitzern der ersten drei Sterne erkennen konnten.

Zuvor hatte er in der Scheune bereits eine Kerze entzündet, um es nicht nach Beginn des Sabbat tun zu müssen, und in ihrem Licht räumte er nun das Feuerholz weg und öffnete die Klapptür. Er ging als erster hindurch, nahm Adriana dann den Jungen ab und trug ihn gebückt durch die niedrige Tür in den dunklen Raum. Gleich darauf gesellte sich Adriana mit der Lampe zu ihnen.

Es war eine schlichte Feier. Adriana entzündete die Kerzen, und dann sprachen sie gemeinsam den Segen und entboten der Sabbatkönigin den Willkommensgruß. Jona stimmte das Schema an: »Höre, Israel, der Ewige Gott ist ein einiges, ewiges Wesen.«

Mehr an Liturgie gab es nicht.

»Einen friedlichen Sabbat«, sagte er und küßte sie.

»Einen friedlichen Sabbat, Ramon.«

Dann saßen sie in dem stillen Raum.

»Schau das Licht«, sagte Jona zu dem Kind.

Er war nicht Abraham und der kleine Junge nicht Isaak, der auf einem Scheiterhaufen der Inquisition zum Märtyrer werden sollte, ein Brandopfer für Gott.

Dieses geheime Zimmer sollte Helkias erst wieder zu sehen bekommen, wenn er zum Mann geworden war.

Jonas Judesein würde in seiner Seele weiterleben, wo niemand es behelligen konnte, und er würde hierherkommen und die ihm heiligen Dinge besuchen, wann immer es sicher war. Wenn es ihm beschieden war, lange genug zu leben, um seine Kinder ins Alter der Vernunft eintreten zu sehen, würde er jeden Sohn und jede Tochter an diesen geheimen Ort führen.

Er würde Kerzen entzünden und fremdartige Gebete anstimmen, und er würde sich bemühen, der nächsten Generation von Callicos ein Verständnis dafür zu vermitteln, wie es früher gewesen war. Er würde Geschichten erzählen - von Großeltern und Onkeln, die das Kind nie kennengelernt hatte, von einem Mann, der mit Geist und geschickter Hand Schönheit aus Metall geformt hatte, von einer verschwundenen Familie, einer untergegangenen Welt. Alles andere, da waren er und Adriana sich einig, lag in Gottes Hand.

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