TEIL V. DER WAFFENSCHMIED VON GIBRALTAR

ANDALUSIEN 12. APRIL 1496

1. KAPITEL EIN GEWÖHNLICHER SEEMANN

Die Pferdehändler blieben zu lange in Baena, weil der Zigeuner, dem sie dort fünf Pferde übergaben, für sie ein Fest veranstaltete, und auch in Jaen, wo sie noch einmal ein halbes ^^ Dutzend Tiere ablieferten. Als auch die restlichen neun Tiere bei ihrem Käufer, einem Händler in Andujar, angelangt waren, hatten Jona und die Brüder schon fast einen ganzen Tag verloren. Nun endlich ritten sie zum Hafen und hätten eigentlich erwartet, daß das Schiff aus Afrika bereits an- und wieder abgelegt hatte, doch es lag tatsächlich noch am Pier vertäut. Macot wurde von dem Kapitän, einem Berber im Burnus mit einem langen, buschigen grauen Bart, herzlich begrüßt. Er übernahm Macots Paket und erklärte, daß auch sein Schiff Verspätung habe. Aus Tanger hatte er eine Ladung Hanf mitgebracht, die er auf der Fahrt den Fluß hoch verkauft hatte, und er würde nach Tanger zurückkehren, nachdem er in Cordoba, Sevilla, den kleinen Häfen am Golf von Cadiz und in Gibraltar Ladung an Bord genommen hatte.

Macot sprach ernst mit dem Seemann und deutete dabei auf Jona, und der Kapitän nickte ohne Begeisterung, nachdem er ihm eine Weile zugehört hatte.

»Es ist abgemacht«, sagte Macot zu Jona. Die Brüder umarmten ihn. »Geh mit Gott«, sagte Macot.

»Mögt auch ihr mit Gott gehen«, erwiderte Jona. Als sie, mit seinem Pferd an der Leine, davonritten, sah er ihnen wehmütig nach und wünschte sich, er könnte mit ihnen nach Granada zurückkehren.

Der Kapitän machte ihm sofort klar, daß er als Handlanger und nicht als Gast reisen würde, und Jona mußte sich in die Mannschaft einreihen, die gerade für Afrika bestimmtes Olivenöl einlud.

An diesem Abend, während der arabische Kapitän seinen flachen Kahn auf der starken Strömung des oberen Guadalquivir flußabwärts treiben ließ, saß Jona, mit dem Rücken an ein großes Ölfaß gelehnt, an Deck. Während die dunklen Ufer an ihnen vorbeizogen, spielte er leise auf seiner Gitarre und versuchte nicht daran zu denken, daß er keine Ahnung hatte, wohin sein Leben ihn führte.

Auf dem afrikanischen Schiff war er der Niedrigste der Niedrigen, denn er mußte alles über das Leben an Bord lernen, vom Setzen und Einholen des einzigen dreieckigen Segels bis zur sichersten Art, die Last in dem offenen Fahrzeug zu verstauen, damit sich im Falle eines Sturms keine Kiste oder Tonne losriß und das Schiff beschädigte oder sogar zum Kentern brachte.

Der Kapitän, Mahmouda mit Namen, war ein roher Kerl, der mit den Fäusten zuschlug, wenn ihm etwas nicht paßte. Die Mannschaft - zwei Schwarze, Jesus und Alvaro, und zwei Araber, Yephet und Darb, die sich beim Kochen abwechselten - schlief unter den Sternen oder im Regen, wo immer sie gerade ein Plätzchen fand. Alle vier waren aus Tanger, muskulöse peones, mit denen Jona gut auskam, weil sie jung und lebhaft waren. Wenn er nachts die Gitarre spielte, sangen manchmal diejenigen, die keine Wache hatten, mit ihm, bis Mahmouda sie anschrie, sie sollten endlich ihre Klappe halten und sich schlafen legen.

Die Arbeit war nicht sonderlich schwer, außer wenn sie einen Hafen erreichten. In den dunklen ersten Stunden des dritten

Tages, den Jona an Bord verbrachte, legte das Schiff in Cordoba an, um noch mehr Ladung aufzunehmen. Jona arbeitete mit Alvaro zusammen, und jeder faßte ein Ende der großen und schweren Kisten. Sie schufteten im Licht von Pechfackeln, die einen fürchterlichen Gestank verströmten. Am anderen Ende des Piers wurde eben eine Gruppe niedergeschlagen dreinblickender Gefangener in Ketten an Bord eines Schiffes verfrachtet.

Alvaro grinste einen der bewaffneten Bewacher an. »Ihr habt aber viele Gefangene«, sagte er.

Der Mann spuckte aus. »Konvertiten.«

Jona beobachtete die Gefangenen, während er weiterarbeitete. Sie wirkten benommen. Einige hatten bereits schwärende Wunden, die jede ihrer Bewegungen schmerzhaft machten, so daß sie ihre Fußketten hinter sich herschleiften, als wären sie alte Männer, denen jeder Schritt weh tat.

Der Großteil der Schiffsfracht bestand aus Seilen und Tauwerk, Messern und Dolchen sowie Öl, das nach einer durch Dürre bedingten schwachen Olivenernte knapp war. In den acht Tagen, die sie bis zur langen, breiten Mündung des Guadalquivir brauchten, war der Kapitän bestrebt gewesen, noch mehr Öl zu kaufen, denn die Händler in Tanger warteten sehnlichst darauf. Doch in Jerez de la Frontera, wo er sich eine große Ladung des erstklassigen Olivenöls der Gegend erhofft hatte, erwartete ihn nur ein kleinlauter Vertreter des Händlers.

»Kein Öl? Verdammt!«

»In drei Tagen. Es tut mir sehr leid. Aber bitte wartet. In drei Tagen kriegt Ihr alles, was Ihr kaufen wollt.«

»Verdammt!«

Während sie warteten, ließ Mahmouda die Mannschaft kleinere Arbeiten an Bord erledigen. Schlecht gelaunt, wie er war, schlug er Alvaro, weil der sich für seinen Geschmack nicht schnell genug bewegte.

Die Gefangenen, die Jona in Cordoba gesehen hatte, hatte man offenbar nach Jerez de la Frontera gebracht - wie so viele ehemalige Juden und ehemalige Moslems, die man in einem halben Dutzend Städten am Fluß verhaftet hatte, weil sie sich angeblich von Christus wieder losgesagt hatten. Ein großer Trupp Soldaten war in der Stadt. Die rote Flagge, die eine bevorstehende Hinrichtung ankündigte, wehte, und die Menschen strömten nach Jerez de la Frontera, um einem großen Autodafe beizuwohnen.

Am zweiten Tag der Wartezeit riß dem ewig schlechtgelaunten Mahmouda der Geduldsfaden, als Yephet, der eben die Fracht umschichtete, um für das erwartete Öl Platz zu schaffen, ein Faß umstieß. Es floß nichts aus, und das Faß war schnell wieder aufgerichtet, aber Mahmoudas Zorn war durch nichts zu bändigen.

»Hundsfott!« schrie er. »Dreckskerl! Abschaum der Erde!« Er schlug Yephet mit den Fäusten zu Boden, nahm dann ein Stück Tau in die Hand und prügelte auf ihn ein.

Jona spürte eine rasende Wut in sich aufsteigen. Er sprang vor, aber Alvaro packte ihn und hielt ihn fest, bis das Prügeln vorüber war.

An diesem Abend verließ der Kapitän das Schiff, um sich im Hafen ein Bordell zu suchen, das ihm Wein und Weiber bot.

Die Mannschaft rieb Yephets zerschundenen Körper mit ein wenig von ihrem kostbaren Öl ein.

»Ich glaube nicht, daß du von Mahmouda etwas zu befürchten hast«, sagte Alvaro zu Jona. »Er weiß, daß du unter dem Schutz der Roma stehst.«

Jona dagegen war davon überzeugt, daß Mahmouda in seiner blinden Wut für Vernunft nicht zugänglich war, und sich selber traute er nicht zu, einer weiteren Prügelei untätig zuzusehen. Bald nach Einbruch der Nacht packte er seine Habseligkeiten zusammen, kletterte geräuschlos an Land und ging in die Dunkelheit davon.

Fünf Tage wanderte er ohne Eile durch andalusisches Land, denn er hatte kein Ziel. Die Straße folgte der Küste, und er genoß den Anblick des Meeres. Manchmal führte der Weg ein Stück ins Landesinnere, aber schon nach einer kurzen Strecke konnte Jona wieder blaues Wasser sehen. In mehreren kleinen Dörfern sah er Fischerboote. Einige waren von Sonne und Salz silbriger gebleicht als andere, aber alle waren sie gut in Schuß gehalten von Männern, die ihren Lebensunterhalt mit ihnen verdienten. Überall sah Jona Männer, die ihren einfachen Tätigkeiten nachgingen, die Netze flickten oder einen Bootsrumpf kalfaterten und pichten, und manchmal versuchte er, mit ihnen zu reden, doch sie hatten wenig zu sagen, wenn er sie nach Arbeit fragte. Vermutlich waren die Mannschaften der Fischerboote miteinander verwandt oder durch jahrelange Familienfreundschaften verbunden, und das war der Grund, warum es für Fremde keine Arbeit gab.

In der Stadt Cadiz wendete sich sein Glück. Er war gerade im Hafen, als einem der Männer, die eben ein Schiff entluden, ein Mißgeschick passierte. Er machte einen Fehltritt, da er wegen der Größe des Stoffballens, den er trug, nichts sehen konnte, stolperte und fiel von der Laufplanke. Der Stoffballen landete im weichen Sand, doch der Mann schlug sich den Kopf an einem eisernen Poller an.

Jona wartete, bis der verletzte Matrose zu einem Arzt geschafft worden war und die Schaulustigen sich wieder zerstreut hatten, dann ging er zu dem Schiffsmaat, einem grauhaarigen Seemann in mittleren Jahren mit einem harten, narbigen Gesicht und einem Tuch auf dem Kopf.

»Ich bin Ramon Callico und könnte Euch mit der Fracht helfen«, sagte er, und als der Maat den großen, muskulösen Körper des jungen Mannes sah, schickte er ihn mit einem Nicken an Bord, wo andere ihm sagten, was er aufheben und wo er es abstellen sollte. Er trug Fracht in den Laderaum, wo zwei Männer, Joan und Cesar, wegen der Hitze fast nackt arbeiteten. Meistens verstand Jona ihre Befehle, doch manchmal mußte er sie bitten, ihre Worte zu wiederholen, die zwar spanisch klangen, es aber nicht waren.

»Hörst du schlecht?« fragte Cesar verärgert.

»Was für eine Sprache sprecht ihr denn?« fragte Jona, und Cesar grinste.

»Das ist Katalanisch. Wir sind alle Katalanen. Jeder auf diesem Schiff.« Aber danach sprachen sie mit Jona kastilisches Spanisch, was für ihn eine große Erleichterung war.

Noch vor Abschluß des Beladens brachte ein Laufbursche des Arztes die Nachricht, daß der gestürzte Matrose schwer verletzt sei und für eine längere Pflege in Cadiz bleiben müsse.

Der Kapitän war an Deck erschienen. Er war jünger als der Maat, ein Mann mit sehr aufrechter Haltung, dessen Haare und kurzer Bart noch keine Spur von Grau zeigten. Der Maat eilte zu ihm, und Jona, der in der Nähe arbeitete, hörte ihre Unterhaltung.

»Josep muß zur Behandlung hierbleiben«, sagte der Maat.

»Hmmm.« Der Kapitän runzelte die Stirn. »Ich fahre nicht gerne mit unvollständiger Mannschaft.«

»Verstehe. Der da, der ihn beim Beladen ersetzt hat... Er scheint mit Freude zu arbeiten.«

Jona sah, daß der Kapitän ihn musterte. »Nun gut. Sprecht mit ihm.«

Der Maat kam zu Jona. »Seid Ihr ein erfahrener Seemann, Ramon Callico?«

Jona wollte nicht lügen, aber er hatte fast kein Geld mehr und brauchte Essen und Obdach. »Ich habe Erfahrung auf einem Flußkahn«, sagte er, was in gewisser Weise der Wahrheit entsprach. Doch gleichzeitig war es eine Lüge, weil er nicht erwähnte, daß er nur so kurz auf dem Kahn gedient hatte. Wie auch immer, er wurde eingestellt und sofort zu den anderen geschickt, um an Leinen zu ziehen, die drei kleine dreieckige Segel entfalte-ten. Als das Schiff weit genug vom Ufer entfernt war, hißten die Matrosen das Großsegel, das sich mit einem lauten Knallen öffnete, im Wind blähte und sie aufs offene Meer hinaustrug.

Die Mannschaft bestand aus sieben Männern - und nach wenigen Tagen kannte er sie alle: Jaume, der Schiffszimmermann; Carles, der Taue reparieren konnte und beständig mit den Leinen beschäftigt war; Antoni, der Smutje, dem der kleine Finger der linken Hand fehlte; und Maria, Cesar und Joan, die, wie Jona, taten, was immer man ihnen befahl. Der Zahlmeister war ein kleiner Mann, der es irgendwie schaffte, ein blasses Gesicht zu behalten, während alle anderen sonnenverbrannt waren. Er wurde von allen nur Senor Mezquida genannt, seinen Vornamen erfuhr Jona nie. Der Kapitän hieß Pau Roure. Man sah ihn nur selten, denn er brachte viel Zeit in seiner Kabine zu. Wenn er an Deck kam, sagte er nie ein Wort zur Mannschaft, sondern ließ ihr seine Befehle vom Maat übermitteln, der Gaspar Guells hieß. Manchmal schrie Guells seine Befehle, aber niemand an Bord wurde geschlagen.

Das Schiff trug den Namen La Leona, die Löwin. Es hatte zwei Masten und sechs Segel, die Jona bald auseinanderzuhalten lernte: ein mächtiges, rechteckiges Großsegel, ein etwas kleineres Besansegel und zwei dreieckige Toppsegel über den beiden sowie zwei kleine Klüver, die sich über den Bugspriet spannten, eine geschnitzte Figur mit einem lohfarbenen Löwenkörper und dem Alabastergesicht einer Frau. Der Großmast war höher als der Be-sanmast, so hoch, daß Jona von dem Augenblick an, da das Schiff unter einer steifen Brise in Fahrt kam, Angst hatte, irgendwann einmal dort hinaufgeschickt zu werden.

In der ersten Nacht, als es für ihn eigentlich Zeit war, seine vier Stunden zu schlafen, ging er statt dessen zur Strickleiter und kletterte hoch, bis er sich auf halber Höhe des Hauptmastes befand. Das tief unter ihm liegende Deck war schwarz bis auf das trübe

Licht der Positionslampen. Um das Schiff erstreckte sich die grenzenlose See, dunkel wie vino tinto. Da er sich nicht überwinden konnte, noch höher zu steigen, kletterte er wieder hinab.

Man sagte ihm, daß das Schiff klein sei für ein Salzwasserfahrzeug, ihm aber kam es im Vergleich zu dem Flußkahn riesig vor. In dem feuchten Laderaum gab es eine winzige Kabine mit sechs Kojen für Passagiere und eine noch kleinere Kabine, die sich die drei Offiziere teilten. Die Mannschaft schlief an Deck, wann immer sie Zeit dazu fand. Jona hatte sich ein Plätzchen hinter dem Rudersteven ausgesucht. Wenn er dort lag, konnte er hören, wie das Wasser über den geschwungenen Rumpf rauschte, und wenn der Kurs geändert wurde, spürte er das Beben des Ruders, das sich unter ihm bewegte.

Das offene Meer war mit dem Fluß nicht zu vergleichen. Jona genoß die frische Luft, die ihm ins Gesicht blies, und ihren feuchten Salzgeruch, doch meistens bereiteten ihm die Schlingerbewegungen des fahrenden Schiffes Übelkeit. Manchmal würgte und spie er, sehr zur Belustigung aller, die ihm dabei zusahen. Jeder auf dem Schiff war mehr als zehn Jahre älter als er, und alle sprachen katalanisch. Wenn sie daran dachten, sprachen sie mit Jona spanisch, aber sie dachten nur selten daran und sprachen nicht oft mit ihm. Von Anfang an wußte er, daß es für ihn eine einsame Schiffsreise sein würde.

Jonas Unerfahrenheit wurde Offizieren und Mannschaft sofort offenkundig. Die meiste Zeit beschäftigte ihn der Maat mit niederen Tätigkeiten, als nautischen peon. An seinem vierten Tag an Bord kam ein Sturm auf, und das Schiff wurde hin und her geworfen. Jona stolperte zur Leeseite, um sich zu erbrechen, doch der Maat befahl ihn in die Takelage, und während er auf der Strickleiter nach oben kletterte, vertrieb die Angst seine Übelkeit. Er stieg viel höher als bei seinem ersten Versuch, über das Großsegel hinaus. Die Leinen, die das dreieckige Toppsegel straffen, waren bereits gelöst, aber menschliche Hände mußten das Segel herunterziehen und an der Spiere befestigen. Um das zu tun, mußten die Männer sich an der Spiere festhalten und von der Strickleiter auf ein schmales Tau treten. Ein Matrose balancierte bereits auf dem Tau entlang, als Jona die Spiere erreichte. Einen Moment lang zögerte er, doch als die zwei Männer unter ihm auf der Leiter zu fluchen anfingen, klammerte er sich an der Spiere fest, trat auf das schwankende Tau und schob seine Füße über den unsicheren Halt. Die vier Männer hielten sich mit einer Hand an der Spiere fest und zerrten mit der anderen am Segel, während die Masten zitterten und schwankten. Das Schiff legte sich von einer Seite auf die andere, und wenn im Stampfen der Bug wegtauchte, sahen die Männer in der Höhe tief unter sich den weißen Schaum des wütenden Meeres.

Schließlich war das Segel vertäut, und Jona tastete sich zur Strickleiter zurück und kletterte zitternd wieder auf das Deck hinunter. Er konnte nicht glauben, was er getan hatte. Einige Minuten achtete niemand auf ihn, dann schickte ihn der Maat unter Deck, um die Vertäuung der Fracht im ächzenden Laderaum zu überprüfen.

Manchmal schwammen geschmeidige, dunkle Delphine neben dem Schiff her, und einmal sah Jona einen Fisch, der so groß war, daß sein Anblick ihn mit Entsetzen erfüllte. Er war ein guter Schwimmer, schließlich war er an einem Fluß aufgewachsen, aber die Strecke, die er schwimmen konnte, war begrenzt. Kein Land war in Sicht, nur Meer in jeder Richtung. Und auch wenn er an Land schwimmen könnte, wäre er eine verlockende Beute für die Ungeheuer, davon war er überzeugt. Er dachte an die Geschichte seines biblischen Namensvetters und stellte sich vor, wie der Leviathan aus der unergründlichen Tiefe in die Höhe schoß, angelockt von den sonnenbeschienenen Bewegungen von Jonas Armen und Beinen an der Wasseroberfläche, so wie eine Forelle von den Zuckungen eines lebendigen Köders am Haken angelockt wird. Mit einem Mal fühlte sich das Deck unter seinen Füßen dünn und wenig beständig an.

Noch viermal wurde er in die Takelage geschickt, doch er konnte sich nie so recht damit anfreunden, und er wurde auch kein richtiger Seemann, der verschiedene Grade der Übelkeit tapfer ertrug, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Indes segelte das Schiff an der Küste entlang und lief die Häfen von Malaga, Cartagena, Alicante, Denia, Valencia und Tarragona an, um Fracht zu löschen und neue Waren und Passagiere an Bord zu nehmen. Siebzehn Tage nachdem sie Cadiz verlassen hatten, trafen sie in Barcelona ein, von wo sie in südöstlicher Richtung nach Menorca weitersegelten.

Menorca, das weit draußen auf See lag, erwies sich als eine Insel mit zerklüfteter Küste, die von Fischern und Bauern bevölkert wurde. Jona gefiel die Vorstellung, an so einem klippengesäumten Ort zu leben. Und ihm kam der Gedanke, daß die Insel vielleicht abgelegen genug war, um ihm Zuflucht vor wachsamen Augen zu bieten. Doch in dem menorcinischen Hafen Ciudadela nahm das Schiff drei schwarzgewandete Dominikanermönche an Bord. Einer der Mönche setzte sich sofort auf ein Faß und schlug sein Gebetbuch auf, aber die beiden anderen stellten sich an die Reling und unterhielten sich leise eine Weile. Dann sah der eine Jona an und krümmte den Zeigefinger.

Jona zwang sich, zu ihnen zu gehen. »Senor?« fragte er. Seine Stimme klang in seinen Ohren wie ein Krächzen.

»Wohin fährt dieses Schiff, wenn es die Insel verläßt?«

Der Mönch hatte kleine braune Augen. Sie waren ganz anders als die grauen Augen Bonestrucas, aber die schwarze Dominikanerkutte genügte, um Jona in Angst und Schrecken zu versetzen.

»Das weiß ich nicht, Senor.«

Der andere Mönch schnaubte und sah ihn streng an. »Der da hat keine Ahnung. Er geht, wohin das Schiff geht. Du mußt einen Offizier fragen.«

Jona deutete zu Gaspar Guells, der am Bug stand und sich mit dem Zimmermann unterhielt. »Das ist der Maat, Senor«, sagte er, und die beiden gingen in den Bug, um mit Guells zu reden.

La Leona brachte diese beiden Mönche bis zu der größeren Insel, Mallorca. Der dritte Mönch schlug sein Gebetbuch gerade rechtzeitig zu, um auf der kleineren Insel Ibiza, die weiter im Süden lag, von Bord zu gehen.

Jona würde wohl weiter ein Leben der Täuschung und Verstellung führen müssen, denn eines war gewiß: Die Inquisition war überall.

2. KAPITEL DER LEHRLING

Das Schiff kehrte schließlich nach Cadiz zurück, und sie hatten kaum mit dem Ausladen begonnen, als der Matrose, dessen Stelle Jona eingenommen hatte, zurückkehrte, nun wieder gesund und nur mit einer bleichen Narbe auf der Stirn, die von seinem Mißgeschick zeugte.

Er wurde von Maat und Mannschaft mit fröhlichen Rufen -»Josep! Josep!« - begrüßt, und Jona erkannte, daß damit seine Anstellung auf der Leona zu Ende war. Ihm war das auch durchaus recht. Gaspar Guells dankte ihm und zahlte ihn aus, und als Jona von Bord ging, war er froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

Er wanderte auf der Küstenstraße nach Südosten; tagsüber war es heiß und nachts mild. Jeden Abend vor Einbruch der Dunkelheit suchte er sich einen Heuschober, in dem er schlafen konnte, oder wenigstens einen Strand mit weichem Sand, doch wenn er beides nicht fand, begnügte er sich mit dem, was es eben gab. Am Morgen, wenn die Sonne schon warm war, nahm er oft ein Bad in dem herrlichen Meer, doch er schwamm nie weit hinaus, weil er fürchtete, jeden Augenblick die scharfen Zähne oder die Fangarme eines Ungeheuers zu spüren. Wenn er dann später an einen Bach oder eine Pferdetränke kam, wusch er sich das Meersalz ab, das auf seiner Haut getrocknet war. Einmal nahm ihn ein Bauer eine längere Strecke auf seinem mit Heu beladenen Ochsenfuhrwerk mit. Unterwegs hielt er plötzlich an.

»Weißt du, wo du bist?« fragte er, und Jona schüttelte verwirrt den Kopf.

»Das ist das Ende von Spanien. Der südlichste Punkt der Iberischen Halbinsel«, sagte der Mann stolz, als wäre es eine persönliche Leistung.

Nur noch einmal erhielt Jona auf seiner Wanderung eine Mitfahrgelegenheit, auf einem Karren voller Stockfisch, dessen Besitzer er beim Ausladen half, als sie das Dorf Gibraltar am Fuße eines hoch aufragenden Felsens erreichten.

Jona bekam einen Bärenhunger, als er den Stockfisch auslud, ohne ihn kosten zu können. Doch in dem Dorf gab es eine Schenke, und er beschloß, seinen Hunger und Durst hier zu stillen. Das Wirtshaus bestand aus einem niedrigen Raum, der nach dem verschütteten Wein, den Holzfeuern und dem Schweiß vieler Jahre roch. An zwei langen Tischen saß ein halbes Dutzend Männer und trank, einige aßen auch aus einem Kessel mit Fischeintopf, der auf der Feuerstelle simmerte. Jona bestellte einen Becher Wein, der sauer war, und eine Schüssel Eintopf, der gut war, mit viel Fisch und Zwiebeln und Kräutern. Zwar fanden sich viele und scharfe Gräten darin, doch Jona aß langsam und mit solchem Genuß, daß er sich gleich noch eine zweite Schüssel bestellte, als er fertig war.

Während er darauf wartete, kam ein alter Mann in die Schenke und setzte sich auf den freien Platz neben Jona. »Ich bekomme eine Schale Wein, Senor Bernaldez«, rief er dem Wirt zu, der ihn nur angrinste und frischen Eintopf in Jonas Schüssel löffelte.

»Nur wenn du unter diesen braven Männern einen Gönner findest«, gab er ihm zur Antwort, und die Männer an den Tischen lachten, als hätte er etwas sehr Lustiges gesagt.

Der alte Mann hatte runde Schultern und weiche Züge; sein schütteres weißes Haar und die Verletzlichkeit in seinem Gesicht erinnerten Jona sofort an Geronimo Pico, den alten Schäfer, dessen Sterben er begleitet und dessen Herde er für einige Jahre gehütet hatte. »Gebt ihm etwas zu trinken«, sagte er zum Wirt. Doch dann dachte er an seine beschränkten Mittel und fügte hinzu: »Einen Becher, keine Schale.«

»Ah, Vicente, da hast du dir aber einen großzügigen Spender aufgetan!« rief ein Mann am anderen Tisch. Er sagte es höhnisch und ohne Humor, dennoch lachten die anderen. Der Sprecher war klein und dünn, mit dunklen Haaren und einem kleinen Schnurrbart. »Du bist eine elende alte Ratte, Vicente, weil du den Hals nie vollkriegst«, sagte er.

»Ach, Luis, mach doch dein Lästermaul zu«, sagte einer der anderen mit Überdruß in der Stimme.

»Möchtest du es mir vielleicht zumachen, Jose Gripo?«

Diese Frage erschien Jona nun wirklich spaßig, denn Jose Gripo war groß und breit, zwar nicht mehr der Allerjüngste, aber doch viel jünger und stärker als der andere Mann; in Jonas Augen hätte Luis bei einem Kampf auf jeden Fall den kürzeren gezogen.

Aber beide lachten. Jona sah, daß der Mann neben Luis aufstand. Er sah jünger aus als Luis, von durchschnittlicher Größe, aber schlank und muskulös. Er war sehr gut in Form. Sein Gesicht war kantig und straff, und seine Nase hatte einen kräftigen Haken. Er starrte Jose Gripo an und machte einen Schritt auf ihn zu.

»Setz dich oder schieb deinen Arsch hier raus, Angel«, sagte Bernaldez, der Wirt. »Euer Meister hat mir gesagt, daß ich ihm sofort Bescheid geben soll, wenn ich mit dir und Luis noch einmal Schwierigkeiten bekomme.«

Der Mann hielt sofort inne und starrte den Wirt an. Dann zuckte er die Achseln und grinste. Er griff nach seinem Becher, leerte ihn in einem Zug und knallte ihn auf den Tisch. »Dann laß uns gehen, Luis, denn ich habe keine Lust, Freund Bernaldez heute abend noch mehr Geld in den Rachen zu schmeißen.«

Der Wirt sah zu, wie die beiden die Schenke verließen, und trug dann Jona seinen Eintopf auf. Einen Augenblick später brachte er auch dem alten Mann seinen Wein. »Da, Vicente. Der ist umsonst. Das sind üble Halunken, diese beiden.«

»Ein merkwürdiges Paar«, sagte Jose Gripo. »Ich hab das schon öfters erlebt - Luis fordert mit voller Absicht jemanden heraus, und dann springt Angel Costa in die Bresche und schlägt sich für ihn.«

»Angel Costa ist ein guter Kämpfer«, sagte ein Mann am Nebentisch. »Sollte er auch, immerhin ist er Manuel Fierros Waffenmeister.«

»Ja, er ist ein alter Soldat und weiß gut zu kämpfen, aber er ist auch ein richtiger Mistkerl«, sagte Gripo.

»Auch Luis ist ein unangenehmer Zeitgenosse«, sagte Vicente. »Ich weiß das leider nur zu gut, da wir unter einem Dach wohnen. Aber er ist ein hervorragender Metallbearbeiter, das muß ich ihm zugestehen.«

Die letzte Bemerkung weckte Jonas Aufmerksamkeit. »Auch ich habe schon Metall bearbeitet und suche eine Anstellung. Was für eine Art von Metallbearbeitung wird denn hier betrieben?«

»Ein Stückchen weiter unten an der Straße gibt es eine Waffenschmiede«, sagte Gripo. »Hast du Erfahrung mit Waffen?«

»Ich kann mit einem Dolch umgehen.«

Gripo schüttelte den Kopf. »Ich meine die Herstellung von Waffen.«

»Darin habe ich keine Erfahrung. Aber ich habe eine längere Lehrzeit in der Silberbearbeitung hinter mir und auch einige Erfahrungen mit Eisen und Stahl.«

Mit einem Seufzen trank Vicente seinen Wein aus. »Dann mußt du unseren Meister Fierro aufsuchen, den Waffenschmied von Gibraltar.«

An diesem Abend bezahlte Jona Bernaldez ein paar Sueldo, damit er vor der Feuerstelle der Schenke schlafen durfte. Für den Betrag erhielt er am nächsten Morgen auch eine Schüssel Grütze zum Frühstück, so daß er satt und ausgeruht war, als er die Schenke verließ und sich, Bernaldez' Beschreibung folgend, auf den Weg zur Waffenschmiede machte. Es war nur ein kurzer Spaziergang. Der riesige Felsen Gibraltars ragte steil über Grundstück und Gebäuden von Manuel Fierros Waffenschmiede auf, und dahinter lag das Meer.

Der Waffenschmied erwies sich als kleiner, breitschultriger Mann mit zerfurchtem Gesicht und einem Schopf drahtiger weißer Haare. Seine Nase war, ob von Geburt an oder durch einen Unfall, leicht nach links verbogen, was das Ebenmaß seiner Züge störte, seinem Gesicht aber etwas Gemütliches und Freundliches gab. Jona erzählte ihm eine Geschichte, die beinahe stimmte: daß er Ramon Callico heiße und daß er Lehrling von Helkias Toledano, dem Silberschmiedmeister von Toledo, gewesen sei, bis die Vertreibung der Juden Toledano aus der Stadt gejagt und seiner, Ramons, Lehrzeit ein Ende gesetzt hatte. Später habe er in den Werkstätten der Roma in Granada einige Monate Metalle bearbeitet.

»Roma?«

»Zigeuner.«

»Zigeuner!« Fierro klang eher belustigt als verächtlich. »Ich werde dir einige Prüfungsaufgaben stellen.«

Während sie sich unterhielten, hatte der Meister an einem Paar silberner Sporen gearbeitet, die er jetzt weglegte und statt dessen eine kleine Stahlplatte in die Hand nahm.

»Ziseliere dieses Stück Stahl, als wäre es ein silberner Sporn.«

»Ich würde lieber den Sporn bearbeiten«, sagte Jona, doch der Meister schüttelte den Kopf. Ohne ein weiteres Wort und offensichtlich auch ohne große Hoffnungen wartete Fierro ab.

Doch er merkte auf, als Jona die Platte ohne viel Umstände zi-selierte und dann, als zweite Prüfung, eine ordentliche Naht zwischen zwei ausgemusterten Teilen eines stählernen Ellbogenschützers zustande brachte.

»Hast du noch andere Fertigkeiten?«

»Ich kann lesen. Und leserlich schreiben.«

»Tatsächlich?« Fierro beugte sich vor und musterte ihn neugierig. »Das sind keine Fähigkeiten, die man bei Lehrlingen häufig findet. Wie bist du dazu gekommen?«

»Mein Vater hat es mir beigebracht. Er war ein gelehrter Mann.«

»Ich biete dir eine Lehre an. Zwei Jahre.«

»Ich bin bereit dazu.«

»In unserem Gewerbe ist es üblich, daß der Lehrling für die Unterweisung bezahlt. Bist du dazu in der Lage?«

»Leider nicht.«

»Dann mußt du am Ende der Lehrzeit ein Jahr lang für verminderten Lohn bei mir arbeiten. Und danach, Ramon Callico, können wir uns darüber unterhalten, ob du als Waffenschmiedgeselle in meine Dienste trittst.«

»Ich bin einverstanden«, sagte Jona.

Die Werkstatt gefiel Jona. Es bereitete ihm Vergnügen, wieder mit Metall zu arbeiten, auch wenn diese Tätigkeit eine neue Erfahrung war, da bei der Herstellung von Waffen und Rüstungen Techniken benutzt wurden, die er noch nicht kannte, so daß er zugleich Neues lernen und Fertigkeiten anwenden konnte, die er bereits beherrschte.

Auch seinen neuen Arbeitsplatz mochte er. Unaufhörlich war das Lärmen von Hämmern auf Metall zu hören, Klirren und Scheppern, manchmal rhythmisch und manchmal nicht, und oft aus mehreren Hütten gleichzeitig, eine Art metallischer Musik. Und Fierro war ein sehr guter Lehrer.

»Spanien kann stolz sein auf vieles, was es zur Eisenbearbei-tung beigetragen hat«, sagte er und fing an zu erzählen. »Jahrtausendelang wurde das Erz in ein tiefes Holzkohlenfeuer gelegt, das nicht heiß genug war, um das entstehende Eisen zu schmelzen, aber heiß genug, um es so weich zu machen, daß es gehämmert und geschmiedet werden konnte.«

Wiederholtes Erhitzen und Schmieden, Erhitzen und Schmieden beseitige Unreinheiten und ergebe schließlich Schmiedeeisen, sagte er.

»Dann lernten unsere Eisenmacher, das Feuer heißer zu machen, indem sie durch eine Röhre Luft hineinbliesen, und später, indem sie einen Blasebalg benutzten. Im achten Jahrhundert erfanden spanische Eisenarbeiter einen besseren Schmelzofen, den man >Die katalanische Esse< nennt. Erz und Holzkohle werden im Ofen gemischt, und von unten wird mit Hilfe von Wasserkraft Luft ins Feuer geblasen. Das ermöglicht es uns, besseres Schmiedeeisen viel schneller herzustellen. Stahl erhält man, indem man sämtliche Unreinheiten beseitigt und dem Eisen den Großteil des Kohlenstoffs entzieht. Wie geschickt ein Schmied auch sein mag, seine Rüstung kann nur so gut sein wie der Stahl, aus dem sie gemacht wurde.«

Fierro hatte die Stahlbearbeitung als Lehrling bei einem maurischen Schwertmacher gelernt. »Die Mauren machen den besten Stahl und die besten Schwerter.« Er lächelte Jona an. »Ich bin bei einem Mauren in die Lehre gegangen und du bei einem Juden«, sagte er.

Jona stimmte ihm zu, daß dies denkwürdig sei, und machte sich daran, seinen Arbeitsplatz aufzuräumen, um das Gespräch möglichst rasch zu beenden.

Am fünfzehnten Tag von Jonas Lehrzeit kam Angel Costa zu ihm, als er gerade auf einer Bank in der Kochhütte saß und seine morgendliche Grütze aß. Costa war unterwegs zur Jagd und trug seinen Langbogen und einen Köcher mit Pfeilen. Er baute sich vor Jona auf und starrte ihn mit finsterem Gesicht an, ohne etwas zu sagen. Jona ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen, sondern beendete seelenruhig seine Mahlzeit.

Als er fertig war, stellte er seine Schüssel ab und stand auf. Er wandte sich zum Gehen, aber Costa versperrte ihm den Weg.

»Was ist?« fragte Jona sanft.

»Bist du gut mit dem Schwert, Lehrling?«

»Ich habe noch nie ein Schwert benutzt.«

Costas Grinsen war keinen Deut angenehmer als sein Blick. Er nickte und ging davon.

Der Koch, den man den anderen Manuel nannte, weil er denselben Vornamen hatte wie der Meister, hob den Blick von dem Topf, den er eben mit Sand schrubbte, und sah dem Waffenmeister nach, der über den Hof ging. Dann spuckte er aus. »Den nicht zu mögen ist ganz leicht. Er sagt, er ist Gottes Stellvertreter im Räucherhaus, wo er uns jeden Morgen und jeden Abend auf Knien beten läßt.«

»Warum laßt ihr euch das gefallen?«

Betrübt über Jonas Unwissenheit, verzog der Koch das Gesicht. »Wir haben Angst vor ihm«, sagte der andere Manuel.

Das Lehrlingsdasein hatte seine Vorteile, denn Jona wurde auch zum Laufburschen bestimmt und in die Läden und Lagerhäuser ganz Gibraltars geschickt, so daß er die Gelegenheit bekam, etwas über seine neue Heimat zu erfahren. Der Ort schmiegte sich an den Fuß des großen Felsens und wuchs ein Stückchen den Hang hoch. Fierro machte Geschäfte mit vielen Lieferanten, und einige dieser Händler, die stolz auf ihr Städtchen waren, beantworteten bereitwillig Jonas Fragen.

Der Gehilfe des Böttchers erklärte ihm, daß dieser fremdländische Ort deshalb so maurisch wirke, weil ihn die Mauren siebenhundertfünfzig Jahre lang bewohnt hatten, bis die Spanier ihn im Jahre 1462, »am Festtag des heiligen Bernhard«, zurückerober-ten. Der Besitzer des Kramladens, kein anderer als Jose Gripo, den Jona bereits in der Schenke kennengelernt hatte, hatte viel zu tun, aber während er Seile abmaß und aufwickelte, verriet er Jona, daß der Name Gibraltar eine Verfälschung von Dschebel al Tarik sei, Arabisch für »Felsen des Tarik«. Und der betagte Gehilfe des Krämers, ein schlanker alter Mann mit feinen Gesichtszügen, der Tadeo Deza hieß, fügte hinzu: »Tarik war der maurische Feldherr, der die erste Festung am Fuße des Felsens erbaute.«

Von den Männern, mit denen Jona in Fierros Waffenschmiede arbeitete, erfuhr er nur wenig über Gibraltar. Es gab dort sechs peones, deren Hauptaufgabe es war, Grundstück und Gebäude in Schuß zu halten und das schwere Metall aus den Lagerräumen in die Werkstätten und nach der Bearbeitung wieder zurück in die Lagerräume zu schaffen. Diese Handlanger wohnten mit Angel Costa und dem anderen Manuel in einem schuppenähnlichen Gebäude, das sie Räucherhaus nannten. Die beiden obersten Handwerker, Luis Planas und Paco Parmiento, waren reife Männer und die Könige der Werkstätten. Parmiento, ein Witwer, war Schwertmachermeister, während Planas, der nie geheiratet hatte, ein Meister der Rüstungsherstellung war. Jona erhielt einen Platz in der Arbeiterhütte zugewiesen, wo die beiden zusammen mit Vicente wohnten, dem alten Mann, dem Jona in der Dorfschenke einen Wein ausgegeben hatte. Vicente hatte Schwierigkeiten, den Namen des neuen Lehrlings zu behalten.

»Wer bist du gleich wieder, junger Fremder?« fragte er und stützte sich auf den Besen, mit dem er den Lehmboden gefegt hatte.

»Ich heiße Ramon Callico, Onkel.«

»Mein Name ist Vicente Deza, und ich bin nicht dein Onkel, denn dann wäre dein Erzeuger ein Hurensohn.« Er lachte über seinen eigenen schwachen Witz, und Jona mußte grinsen.

»Bist du denn verwandt mit Tadeo Deza aus dem Krämerladen?«

»Ja, ich bin ein Vetter von Tadeo, aber er leugnet es, weil ich ihm mit meiner Weinbettelei manchmal Schande bereite, wie du selbst schon erlebt hast.« Der alte Mann kicherte noch einmal und betrachtete ihn dann neugierig. »Dann wohnen wir hier also Seite an Seite, zusammen mit Luis und Paco. Du hast Glück, denn das ist eine gute und wasserdichte Hütte, sorgfältig erbaut von Juden.«

»Wie kam es, daß sie von Juden erbaut wurde, Vicente?« fragte Jona und versuchte, so beiläufig zu klingen wie möglich.

»Die waren früher sehr zahlreich hier. Bis vor ungefähr zwanzig Jahren, vielleicht auch noch ein bißchen mehr, ein paar gute Katholiken gegen jene aufbegehrt haben, die sich Neue Christen nannten. Aber das waren keine echten Christen gewesen, Juden waren das. Hunderte von ihnen waren aus Cordoba und Sevilla gekommen, weil sie dachten, Gibraltar, das erst kurz davor von den Mauren zurückerobert worden und nur dünn besiedelt war, könnte ein sicherer und gemütlicher Hafen für sie sein, und hatten mit dem Grafen Medina Sidonia, dem Herrn dieses Ortes, verhandelt.

Sie gaben dem Grafen Geld und erklärten sich bereit, eine berittene Einheit zu bezahlen, die hier stationiert werden sollte. Zahlreiche Siedler ließen sich hier nieder und errichteten Gebäude, in denen sie wohnten und arbeiteten. Aber die Kosten für den Unterhalt der Berittenen und für die Feldzüge gegen die Portugiesen hatten ihr Vermögen sehr schnell aufgezehrt. Als der Graf erfuhr, daß ihre Mittel erschöpft waren, rückte er mit Soldaten an, und bald waren die Juden wieder verschwunden.

Diese Hütte und das Räucherhaus hatten sie erbaut, um darin Fisch zu räuchern und zu lagern, der mit Schiffen in die Hafenstädte geschickt wurde. Wenn du an einem feuchten Tag tief Luft holst, kannst du den Rauch noch riechen. Unser Meister hat das verlassene Grundstück vom Grafen gepachtet und den Stall und die Arbeitshütten errichtet, die du jetzt siehst.« Der alte Mann verzog das Gesicht und zwinkerte mit dem linken Auge. »Wenn du etwas über die Vergangenheit erfahren willst, mußt du zu mir kommen, Senor. Denn Vicente Deza weiß viele Dinge.«

Später an diesem Tag brachte Jona Material in die Arbeitshütte, die von einem anderen seiner Wohnungsgenossen, Paco Par-miento dem Schwertmacher, geleitet wurde. Jona hatte den Eindruck, daß mit Parmiento gut auszukommen war. Er war kahlköpfig und neigte zu Fettleibigkeit. Sein glattrasiertes Gesicht zeigte auf der linken Wange eine bleiche Narbe, und sein Blick wirkte manchmal abwesend, denn er dachte beständig über Verbesserungsmöglichkeiten in der Gestaltung und Herstellung von Schwertern nach, und oft merkte er gar nicht, was um ihn herum vorging. Er murmelte Jona zu, daß man von ihnen allen erwarte, ihre Hütte sauber und ordentlich zu halten. »Aber wir haben Glück, denn der alte Vicente Deza kümmert sich darum.«

»Ist Vicente Deza ein Rüstungsschmied? Oder vielleicht ein Schwertmacher, wie Ihr?«

»Der? Der hat noch nie Metall bearbeitet. Er wohnt nur dank der Barmherzigkeit unseres Meisters bei uns. Du darfst nicht alles glauben, was der alte Vicente sagt«, warnte der Schwertmacher, »denn sein Geist ist beschränkt, und er hat den Verstand eines langsamen Kindes. Oft sieht er Sachen, die gar nicht da sind.«

Wie in den meisten der felsigen Orte, die Jona in Spanien gesehen hatte, gab es auch in Gibraltar Höhlen, und die größte davon war ein geräumiges Gewölbe knapp unterhalb der Spitze des Felsens. Fierro kaufte einen Großteil seines Stahls von Mauren in Cordoba, aber er hatte immer auch einen Vorrat eines besonderen Eisenerzes, das in einem Winkel dieser großen Höhle abgebaut wurde. Den Eingang zu dieser Höhle erreichte man über einen schmalen Pfad, der an der Felsflanke hochführte.

Dreimal nahm der Meister Jona mit zu dieser Höhle, und dann ritten sie auf zwei Eseln den schmalen, steilen Pfad hoch. Jona wünschte sich jedesmal, er hätte Mose als Reittier, denn der Pfad führte immer und immer weiter in die Höhe - viel höher als das Krähennest jedes Segelschiffes -, und jeder Fehltritt hätte einen tiefen und tödlichen Sturz bedeutet. Aber die Esel kannten den Pfad, und sie scheuten nicht einmal, als eine Horde zimtfarbener Affen ihnen den Weg versperrte.

Fierro lächelte, als er sah, daß Jona über das plötzliche Auftauchen dieser Tiere erschrak. Es waren sechs große, schwanzlose Affen. Eines der Weibchen säugte ein Kleines.

»Die leben hier oben«, sagte Fierro. Aus einem Sack holte er einige Handvoll altbackenen Brotes und überreifer Früchte und warf sie ein Stückchen abseits des Pfads auf den Hang. Die Tiere räumten sofort den Weg, um sich das Fressen zu holen.

»Solche Tiere habe ich in Spanien noch nie gesehen.«

»Einer Legende nach sind sie durch einen natürlichen Tunnel aus Afrika gekommen, der angeblich unter der Meerenge hindurchführt und in einer der Höhlen Gibraltars endet«, sagte Fierro. »Obwohl ich es für wahrscheinlicher halte, daß sie von einem Schiff stammen, das an unserem Felsen gestrandet ist.«

Hier, auf dem Gipfel des Felsens, klang die Legende durchaus einleuchtend, denn die Küste Afrikas erschien in der klaren Luft täuschend nah.

»Wie weit ist Afrika entfernt, Senor Fierro?«

»Bei gutem Wind eine halbe Tagesreise. Wir stehen hier auf einer der berühmten Säulen des Herkules«, sagte der Meister. Er deutete zur anderen Säule des Herkules, einem Berg in Marokko auf der gegenüberliegenden Seite der Meerenge. Das Wasser, das die beiden Säulen trennte, glitzerte tiefblau unter der goldenen Sonne.

Fünf Tage nach ihrem ersten Wortwechsel sprach Angel Costa Jona ein zweites Mal an.

»Kannst du gut mit Pferden umgehen, Callico?« »Nicht sehr. Ich hatte mal einen Esel.«

»Ein Esel paßt auch zu dir.«

»Warum fragt Ihr mich das alles? Sucht Ihr Männer für einen Feldzug?«

»Nicht unbedingt«, sagte Costa und ging davon.

Nachdem Jona viele Tage nichts anderes hatte tun dürfen, als Botengänge zu erledigen, Erz zu schaufeln und Stahl zu schleppen, erhielt er nun endlich eine Aufgabe, die es ihm gestattete, Metall zu bearbeiten, auch wenn es nur eine niedere Tätigkeit war. Er war aufgeregt, denn er sollte für Luis Planas arbeiten, dessen schlechte Laune und aufbrausendes Temperament er bereits miterlebt hatte. Aber zu seiner Erleichterung war Luis an diesem Tag nur ein wenig wortkarg und mürrisch, er war vor allem ein Mann, dem seine Arbeit am Herzen lag. Er trug Jona auf, verschiedene Teile einer Rüstung zu schleifen. »Du mußt auch noch den kleinsten Makel in der Oberfläche des Stahls aufspüren, jede winzige Andeutung eines Kratzers, und dann mußt du polieren und polieren, bis sie nicht mehr da sind«, sagte ihm Luis.

Also polierte Jona mit Macht und Begeisterung. Als nach mehr als einer Woche eifrigen und kräftigen Rubbelns die Stücke in Hochglanz erstrahlten, erfuhr er, daß er Teile eines Küraß bearbeitet hatte - die beiden Hälften des Brustpanzers. »Jedes einzelne Stücke muß makellos sein«, sagte Luis streng. »Sie gehören zu einer prächtigen Rüstung, an der die Fierro-Schmiede seit mehr als drei Jahren arbeitet.«

»Für wen wird diese Rüstung gefertigt?« fragte Jona.

»Für einen Edelmann aus Tembleque. Graf Fernan Vasca mit Namen.«

Jona pochte das Herz in der Brust, schneller und fester, so schien es ihm, als die Schläge von Luis Planas' Hammer.

Wie weit er auch fliehen mochte, Toledo schien ihn immer zu verfolgen!

Er erinnerte sich noch an die Schulden, die der Graf Vasca bei seinem Vater hinterlassen hatte: neunundsechzig Real und sechzehn Maravedi für eine Anzahl von Kunststücken aus Helkias' Silberschmiede, darunter eine bemerkenswerte und einzigartige goldene Rose mit silbernem Stiel, eine Reihe silberner Spiegel und silberner Kämme und ein Satz aus zwölf Trinkkelchen...

Es war eine ärgerliche Schuld, die Jona ben Helkias, wenn er sie nur eintreiben könnte, das Leben bedeutend einfacher machen würde.

Doch er wußte nur zu gut, daß er das nicht konnte.

3. KAPITEL HEILIGE UND GLADIATOREN

Als Fierro merkte, daß der neue Lehrling in jeder Hinsicht verläßlich zu sein schien, erhielt Jona den Auftrag, den Küraß von Graf Vascas Rüstung mit einem Muster zu verzieren. Dazu mußte er, anhand von Linien, die von Fierro oder Luis Planas kaum sichtbar auf der Stahloberfläche vorgezeichnet worden waren, mit einem Hammer und einer Punze winzige Einkerbungen in den Brustharnisch treiben. Silber war leichter zu ziselieren als Stahl, aber das härtere Metall bot auch einen Schutz gegen bestimmte Fehler, die in Silber verhängnisvoll gewesen wären. Anfangs hämmerte Jona nur leicht, um sich zu versichern, daß er die Punze auch richtig gesetzt hatte, und ließ erst dann einen kräftigeren Schlag folgen, um die Einkerbung zu vollenden; doch im Verlauf der Arbeit kehrten seine sichere Hand und sein Selbstbewußtsein zurück.

»Manuel Fierro legt Wert darauf, daß seine Rüstungen mehrfach ausprobiert werden«, sagte Paco Parmiento eines Morgens zu Jona. »Deshalb veranstalten wir von Zeit zu Zeit ein Turnier. Der Meister läßt dann seine Arbeiter Ritter spielen, damit er feststellen kann, welche Veränderungen an seinen Entwürfen nötig sind. Er will, daß du daran teilnimmst.«

Zum ersten Mal ergaben nun Angel Costas Fragen einen, wenn auch beunruhigenden Sinn. »Natürlich, Senor«, sagte Jona.

So geschah es, daß er sich am nächsten Morgen auf einem großen, runden Turnierplatz wiederfand, angetan mit Unterwäsche aus gepolstertem Gewebe und ängstlich die zerlegte, angerostete und schlecht gepflegte Rüstung betrachtend, die Paco Parmiento ihm umschnallte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes wurde Angel Costa von seinem Freund Luis angezogen, während die anderen Arbeiter sich am Rand des Turnierplatzes drängten wie Zuschauer bei einem Hahnenkampf.

»Vicente, geh in die Hütte und richte dem Jungen sein Lager her, denn er wird es bald nötig haben!« rief Luis, und die Umstehenden lachten und johlten.

»Hör nicht auf den«, sagte Paco. Schweiß tropfte ihm vom kahlen Schädel.

Der Küraß wurde Jona über den Kopf geschoben und so befestigt, daß er Brust und Rücken bedeckte. Kettenpanzer schützten Arme und Beine, Diechlinge bedeckten die Oberschenkel. Man schnallte ihm Stahlschützer um Schultern, Ellbogen, Unterarme und Knie, Beinröhren bedeckten seine Schienbeine. Die Füße steckten in Schuhen aus Schichtstahl. Als der Helm auf Jonas Kopf saß, klappte Paco das Visier herunter.

»Ich kriege keine Luft, und ich kann nichts sehen«, sagte Jona mit bemüht ruhiger Stimme.

»Durch das Lochblech kannst du atmen«, sagte Parmiento.

»Kann ich nicht.«

Unwirsch klappte Paco das Visier wieder hoch. »Dann laß es offen«, sagte er. »Das machen alle so.« Jona verstand sehr gut, warum.

Er erhielt lederne Handschuhe mit Stahlverstärkungen an den Fingern und einen runden Schild. Das alles kam noch zu dem großen Gewicht hinzu, das er bereits am Körper trug.

»Zu deiner Sicherheit wurde die Spitze des Schwerts abgerundet, und die Schneiden wurden stumpf geschliffen, so daß es eher ein Knüppel ist als ein Schwert«, sagte Parmiento und gab ihm die Waffe. Das Schwert fühlte sich merkwürdig in Jonas Hand an, denn er konnte sie in dem steifen Handschuh nur wenig bewegen.

Angel Costa war ähnlich ausgerüstet, und nun war es soweit, daß sie aufeinander losgingen. Jona überlegte sich noch, wie er am besten zuschlagen sollte, als Costas Schwert bereits auf seinen Helm niedersauste und er gerade noch den Arm mit dem Schild hochreißen konnte.

Der Arm wurde ihm bald bleischwer, während Costa immer und immer wieder zuschlug, mit einer solchen Schnelligkeit und unverminderter Kraft, daß Jona sich nicht mehr schützen konnte, als das Schwert plötzlich in Brusthöhe auf ihn zukam. Costa versetzte ihm einen Schlag in die Rippen, der seinen Körper gespalten hätte, wenn die Klinge scharf und die Rüstung weniger widerstandsfähig gewesen wäre. Doch auch so spürte er, trotz gepolsterter Unterwäsche und wohlgeschmiedetem Stahl, den Aufprall des Schwertes bis in die Knochen, und das war nur der Auftakt für eine Vielzahl von Angriffen, denn Costa ließ einen schrecklichen Schlag nach dem nächsten auf ihn herniederprasseln.

Jona gelang es nur zweimal, Costa einen Schlag zu versetzen, bis der Meister mit einem Stab, den er zwischen sie senkte, den Kampf beendete, aber allen Zuschauern war klar, daß Angel Jona in einem richtigen Gefecht sofort getötet hätte. Er hätte ihm zu jedem Zeitpunkt den golpe de gracia, den Gnadenstoß, versetzen können.

Keuchend und mit schmerzverzerrtem Gesicht saß Jona auf einer Bank und ließ sich von Paco aus seiner schweren Rüstung schälen.

Der Meister kam zu ihm und stellte ihm viele Fragen. Hatte die Rüstung ihn behindert? Hatte ein Scharnier sich verklemmt? Hatte Jona irgendwelche Vorschläge, wie man die Rüstung noch schützender und weniger einschränkend machen könnte? Jona antwor-tete ihm wahrheitsgemäß, die Erfahrung sei für ihn so fremd gewesen, daß er auf solche Dinge kaum hatte achten können.

Der Meister brauchte Jona nur ins Gesicht zu sehen, um zu erkennen, wie gedemütigt er war.

»Du darfst nicht hoffen, Angel Costa in so einem Wettstreit zu besiegen«, sagte der Waffenschmied. »Das gelingt hier keinem Mann. Costa hat achtzehn Jahre lang Blut geschmeckt als Feldwebel im beständigen und erbitterten Kampf gegen die Sarazenen, und wenn wir jetzt bei diesen Spielen unseren Stahl ausprobieren, tut er noch immer gern so, als würde er auf Leben und Tod kämpfen.«

Jona hatte eine große und dunkel verfärbte Prellung auf der linken Seite seines Brustkorbs und so starke Schmerzen, daß er sich fragte, ob seine Rippen nicht einen dauerhaften Schaden davongetragen hatten. Einige Nächte lang konnte er nur auf dem Rücken liegen, und als er in einer davon vor Schmerzen nicht schlafen konnte, drang von der anderen Seite der Hütte kummervolles Jammern an sein Ohr.

Als er sich, nun selber unterdrückt aufstöhnend, erhob, merkte er, daß die heiseren Geräusche von Vicente Deza kamen. Er ging im Dunkeln zu dem alten Mann und kniete sich an sein Lager.

»Vioente?«

»Peregrino... Santo Peregrino...«

Vicente schluchzte abgehackt. »El Compasivo! Santo Peregrino El Compasivo!«

Heiliger Pilger der Barmherzige. Was hatte das zu bedeuten?

»Vicente«, sagte Jona noch einmal, aber der alte Mann hörte ihn nicht und plapperte unaufhörlich Gebete, in denen er Gott und diesen Pilgerheiligen anrief. Jona legte ihm die Hand auf die Stirn und seufzte, als er die Hitze in Vicentes Gesicht spürte.

Beim Aufstehen stieß er Vicentes Wasserflasche um, die mit einem Klirren zu Boden fiel.

»Was zum Teufel?« rief von seiner Ecke her Luis Planas, der aufgewacht war und nun auch Paco Parmiento aufweckte.

»Was ist?« fragte Paco.

»Es ist Vicente. Er liegt im Fieber.«

»Sieh zu, daß er still ist, oder bring ihn zum Sterben nach draußen«, sagte Luis.

Zuerst wußte Jona nicht, was er tun sollte. Aber dann fiel ihm ein, was Abba getan hatte, wenn er und Meir Fieber hatten. Er verließ die Hütte und stolperte durch die Nacht zur Schmiede, in der ein mit Asche belegtes Feuer flackerte wie eine Drachenzunge und einen roten Schein auf Tische und Werkzeuge warf. Er hielt eine Kerze an die Kohlen und zündete damit eine Öllampe an, in deren Licht er eine Schüssel suchte und mit Wasser aus einem Krug füllte. Dann nahm er sich einige von den Lumpen, die fürs Metallpolieren zurechtgeschnitten worden waren.

Er kehrte in die Hütte zurück und stellte die Lampe auf den Boden.

»Vicente«, sagte er.

Der alte Mann hatte sich voll bekleidet ins Bett gelegt, und nun zog Jona ihn aus. Vielleicht machte er mehr Lärm als nötig, oder vielleicht riß das flackernde Licht der Lampe Luis Planas wieder aus dem Schlaf.

»Der Teufel soll dich holen!« Luis setzte sich auf. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst ihn fortschaffen?«

Herzloser Mistkerl. Jona spürte Empörung in sich aufsteigen.

»Hör mal...«, sagte Luis.

Jona drehte sich um und machte einen Schritt auf ihn zu. »Leg dich schlafen.« Er gab sich Mühe, nicht respektlos zu klingen, aber die Wut machte seine Stimme heiser.

Einige Augenblicke lang verharrte Luis in halb sitzender Haltung und starrte quer durch den Raum böse diesen Lehrling an, der es wagte, so mit ihm zu sprechen. Schließlich legte er sich wieder hin und drehte das Gesicht zur Wand.

Paco war ebenfalls aufgewacht. Er hatte den Wortwechsel zwischen Luis und Jona gehört und lachte nun auf seinem Lager in sich hinein.

Vicentes Körper schien nur aus schmutziger Haut und Knochen zu bestehen, und seine Füße waren dreckverkrustet, aber Jona zwang sich, ihn sorgfältig zu waschen. Zweimal wechselte er das Wasser und rieb ihn danach mit trockenen Lumpen ab, damit er sich nicht erkältete.

Am nächsten Morgen war das Fieber gesunken. Jona ging in die Küche und bat den anderen Manuel, die Frühstücksgrütze mit heißem Wasser zu verdünnen. Dann trug er eine Schüssel in die Hütte und fütterte den alten Mann, ohne sich darum zu kümmern, daß er dabei sein eigenes Frühstück verpaßte. Als er anschließend in Luis' Hütte eilte, um sich zur Arbeit zu melden, fing der Meister ihn ab.

Jona wußte, daß Luis sich höchstwahrscheinlich bei Fierro über seine Unverschämtheit beschwert hatte, und machte sich auf eine Rüge gefaßt, aber der Meister fragte ihn nur mit ruhiger Stimme: »Wie geht es Vicente?«

»Ich glaube, er wird wieder gesund. Das Fieber ist verschwunden.«

»Das ist gut. Ich weiß, daß es manchmal schwierig ist, ein Lehrling zu sein. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als ich Lehrling von Abu Adal Khira in Velez Malaga war. Er war einer der besten muslimischen Rüstungsschmiede. Inzwischen ist er tot, und seine Rüstungen gibt es nicht mehr.

Luis war mit mir Lehrling, und als ich nach Gibraltar ging, um meine eigene Schmiede zu eröffnen, nahm ich ihn mit. Luis ist ein sehr schwieriger Mensch, aber ein ausgezeichneter Rüstungsschmied. Ich brauche ihn in meiner Werkstatt. Verstehst du, was ich damit sagen will?«

»Ja, Meister.«

Fierro nickte. »Es war ein Fehler von mir, Vicente und Luis Pla-nas in derselben Hütte unterzubringen. Kennst du die kleine Hütte hinter der Schmiede?«

Jona nickte.

»Sie ist gut gebaut. Es sind nur ein paar Werkzeuge drin. Bring die Werkzeuge woandershin, und dann kannst du mit Vicente in dieser Hütte wohnen. Vicente hatte großes Glück, daß du ihm gestern nacht geholfen hast, Ramon Callico. Das hast du gut gemacht. Aber ein Lehrling sollte auch so klug sein zu bedenken, daß eine grobe Unverschämtheit gegenüber einem Handwerksmeister in dieser Werkstatt kein zweites Mal geduldet wird. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, Senor«, sagte Jona.

Luis war erbost darüber, daß Fierro den Lehrling nicht verprügelt und fortgejagt hatte. Ein paar Tage lang war er Jona gegenüber streng und kalt, und Jona bemühte sich, ihm keinen Grund mehr zur Klage zu geben, während er endlos Rüstungsteile polierte. Das Stahlkleid für den Grafen von Tembleque stand kurz vor der Vollendung, und Jona bearbeitete Stück um Stück, bis sie in einem weichen Glanz erstrahlten, den sogar Luis als unübertrefflich anerkennen mußte.

Es war eine Erleichterung für Jona, als man ihn wieder ausschickte, um bei den Händlern des Dorfes Vorräte zu besorgen.

Während er im Kramladen darauf wartete, daß Tadeo Deza Fierros Bestellungen zusammensuchte, erzählte er dem betagten Gehilfen, daß sein Vetter Vicente mit heftigem Fieber darniedergelegen habe.

Tadeo hielt inne. »Geht's aufs Ende zu?«

»Nein. Das Fieber ist gefallen und gestiegen, gefallen und gestiegen, aber jetzt scheint er sich wieder zu erholen.«

Tadeo Deza schnaubte. »Der ist zu blöd zum Sterben«, sagte

er.

Jona hatte sich mit seinem vollen Sack bereits zum Gehen gewandt, als ihm plötzlich etwas einfiel und er sich noch einmal umdrehte.

»Tadeo, wißt Ihr etwas über einen Santo Peregrino El Com-pasivo?«

»Ja, das ist ein örtlicher Heiliger.«

»Heiliger Pilger der Barmherzige. Ein merkwürdiger Name.«

»Er hat vor mehreren hundert Jahren in dieser Gegend gelebt. Angeblich war er ein Fremder, vielleicht aus Frankreich oder Deutschland. Auf jeden Fall war er in Santiago de Compostela gewesen, um vor den Reliquien des heiligen Jakobus zu beten. Hast du vielleicht selbst schon die Wallfahrt nach Santiago de Compo-stela gemacht?«

»Nein, Senor.«

»Eines Tages mußt du das tun. Jakobus war der dritte Apostel, den unser Herr erwählt hat. Er war Zeuge der Verklärung Christi und ist so heilig, daß Kaiser Karl der Große seinen Untertanen befahl, alle Pilger, die die Reliquien dieses Heiligen besuchten, mit Wasser, Obdach und Feuer zu versorgen.

Auf jeden Fall wurde der fremde Pilger, von dem wir sprechen, nach Tagen des Gebets vor den Reliquien des Apostels selbst verwandelt. Anstatt zu dem Leben zurückzukehren, das er vor seiner Pilgerschaft geführt hatte, wanderte er nach Süden und landete schließlich in dieser Gegend. Hier verbrachte er den Rest seiner Tage und kümmerte sich um die Kranken und die Bedürftigen.«

»Wie lautete sein Taufname?«

Tadeo zuckte die Achseln. »Das ist nicht bekannt. Deshalb nennt man ihn >Heiliger Pilger der Barmherzigem Wir wissen auch nicht, wo er beerdigt liegt. Einige sagen, daß er als sehr alter Mann einfach wieder von hier fortging, so wie er gekommen war. Aber andere sagen, daß er allein lebte und allein starb, an einem Ort irgendwo hier in der Gegend, und in jeder Generation haben Männer es sich zum Anliegen gemacht, sein Grab zu finden, aber ohne Erfolg. Wo hast du denn von diesem örtlichen Heiligen erfahren?« fragte Tadeo.

Jona wollte Vicente nicht erwähnen, um dessen Vetter nicht noch mehr Grund zum Spotten zu geben. »Ich habe jemanden über ihn reden hören, und das hat mich neugierig gemacht.«

Tadeo grinste. »Wahrscheinlich jemand in einer Schenke, denn oft führt der Wein einem Mann seine Sündhaftigkeit vor Augen und weckt die Sehnsucht nach der selig machenden Gnade der Engel.«

Jona war froh, als Fierro ihn in Paco Parmientos Werkstatt schickte, um dem Schwertmacher zur Hand zu gehen. Paco setzte Jona sofort an die Arbeit und gab ihm verschiedene Waffen, die er schärfen und polieren sollte, kurze Kavalleriedegen und die wunderschönen, doppelschneidigen und vom Heft zur Spitze sich verjüngenden Langschwerter, wie Edelmänner und Ritter sie führten. Dreimal gab Paco ihm das erste Schwert zurück, das er geschärft hatte. »Zwar ist es der Arm des Kämpfers, der die Arbeit tut, aber das Schwert muß ihm dabei helfen. Jede Schneide muß so scharf geschliffen sein, wie der Stahl es zuläßt.«

Jona mochte Paco, obwohl er ein strenger Zuchtmeister war. Während Luis ihn an einen Fuchs erinnerte, mußte er bei Paco an einen sanftmütigen Bären denken. Er war linkisch und vergeßlich, wenn er nicht an seiner Werkbank stand, doch sobald er sich an die Arbeit machte, wurden seine Bewegungen sicher und geschickt, und der Meister erzählte Jona, daß seine Klingen sehr gefragt seien.

In Luis' Hütte hatte Jona so gut wie schweigend gearbeitet, jetzt aber merkte er, daß Paco bei der Arbeit bereitwillig auf seine Fragen einging.

»Seid Ihr auch mit dem Meister und Luis in die Lehre gegangen?« fragte ihn Jona.

Paco schüttelte den Kopf. »Ich bin älter als die beiden. Als sie zur Lehre gingen, war ich bereits Geselle in Palma. Dort hat der Meister mich ausfindig gemacht und hierhergerufen.«

»Was tut Angel in dieser Werkstatt?«

Paco zuckte die Achseln. »Der Meister entdeckte ihn, kurz nachdem er das Soldatenhandwerk an den Nagel gehängt hatte, und brachte ihn als Waffenmeister hierher, denn er ist wahrlich ein Krieger, ein Meister aller Waffen. Wir haben versucht, ihm die Metallbearbeitung beizubringen, aber er hat kein Geschick für diese Arbeit, und so übertrug ihm Senor Fierro die Leitung der

peones.«

Wenn der Meister anwesend war, sprachen sie weniger, dennoch blieb die Arbeit entspannt. An einer zweiten Werkbank in der Hütte des Schwertmachers arbeitete Manuel Fierro häufig an einem Vorhaben, das ihm eine Herzensangelegenheit war. Sein Bruder, Nuno Fierro, der Arzt von Saragossa, hatte ihm durch fahrende Kaufleute Skizzen von einer Reihe von chirurgischen Instrumenten zukommen lassen. Der Meister benutzte harten Stahl, gewonnen aus dem besonderen Erz, das er und Jona aus der Höhle über Gibraltar geholt hatten, um daraus mit eigenen Händen Werkzeuge für seinen Bruder zu fertigen: Skalpelle, Lanzetten, Sägen, Kratzer, Sonden und Pinzetten.

Wenn der Meister nicht da war, führte Paco Jona die Instrumente als Beispiele für herausragende Metallbearbeitung vor. »Für jedes dieser kleinen Werkzeuge wendet er so viel Sorgfalt auf, wie er es für ein ganzes Schwert oder einen Spieß tun würde. Es ist eine Arbeit, die er mit Liebe vollbringt.«

Voller Stolz erzählte er Jona, daß er Fierro geholfen habe, des Meisters eigenes Schwert aus diesem besonderen Stahl zu schmieden. »Es mußte eine einzigartige Klinge sein, denn Manuel Fierro weiß mit einem Schwert besser umzugehen als jeder, den ich kenne.«

Jona hielt einen Augenblick im Polieren inne. »Ist er besser als Angel Costa?«

»Angel hat im Krieg gelernt, ein Meister des Tötens zu werden. Mit allen anderen Waffen ist er unerreicht. Aber mit dem Schwert allein ist der Meister der bessere Mann.«

Jonas geprellte Rippen waren kaum verheilt, als man ihm schon wieder befahl, in einem Turnier gegen Angel Costa anzutreten. Diesmal saß er, erneut in voller Rüstung, auf einem grauen arabischen Schlachtroß und galoppierte, eine Lanze mit einer gepolsterten Holzkugel als Spitze in der Armbeuge, auf Angel zu, der mit einer ähnlichen Lanze im Anschlag auf einem glänzend braunen Schlachtroß auf ihn zustürmte.

Jona war es nicht gewöhnt, auf einem temperamentvollen Pferd zu reiten, und so war er vollauf damit beschäftigt, oben zu bleiben. Die Kugel am Ende seiner Lanze schwankte und zuckte, während er auf dem Rücken seines Tieres hin und her geworfen wurde.

Die Pferde waren durch eine Holzwand geschützt, die zwischen den Kämpfenden verlief, die Reiter jedoch waren ungeschützt.

Zeit zur Vorbereitung gab es keine, nur ein kurzes Hufgetrappel, und dann stießen die beiden aufeinander. Jona sah die Kugel an Angels Lanze größer und größer werden, bis sie riesig war wie der Vollmond und schließlich wie das Leben selbst, und dann traf sie ihn und riß ihn vom Pferd und zu Boden, in eine demütigende und schändliche Niederlage.

Costa war nicht sehr beliebt. Es gab kaum Jubel, nur Luis genoß jede Sekunde. Als Paco und einige andere den benommenen Jona aus seiner Rüstung befreiten, sah er, daß Luis auf ihn zeigte und lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen.

An diesem Nachmittag versuchte Jona, sich nicht anmerken zu lassen, daß er hinkte. Er ging zum Räucherhaus und fand dort Angel Costa, der an einem Wetzstein Speerspitzen schärfte.

»Hola«, sagte er, aber Costa erwiderte den Gruß nicht und arbeitete ungerührt weiter.

»Ich kann nicht kämpfen.«

Costa ließ sein heiseres Lachen ertönen. »Nein«, pflichtete er ihm bei.

»Ich würde gern lernen, wie man mit Waffen umgeht. Wärt Ihr vielleicht bereit, es mir beizubringen?«

Costa starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich unterweise nicht.« Behutsam prüfte er mit der Fingerkuppe die Schärfe einer Pfeilspitze. »Aber ich will dir sagen, was du tun mußt, um meine Kunst zu erlernen. Du mußt Soldat werden und zwanzig Jahre lang gegen die Mauren kämpfen. Du mußt töten und töten, mit jeder Waffe, die du in die Hand bekommst, und manchmal mit bloßen Händen, und wann immer möglich, mußt du dem Erschlagenen seine Rute abschneiden. Und wenn du dann mehr als hundert beschnittene Pimmel beisammen hast, kannst du zurückkommen und mich herausfordern und deine Sammlung von Pimmeln gegen meine setzen. Und dann werde ich dich sehr schnell töten.«

Fierro, den Jona vor dem Stall traf, war freundlicher zu ihm. »Kein guter Tag für dich, was, Ramon?« fragte er fröhlich. »Bist du verletzt?«

»Nur mein Stolz, Meister.«

»Ich möchte dir einen Rat geben. Du mußt von Anfang an die Lanze viel fester packen, mit beiden Händen, und du mußt dir das hintere Ende der Waffe fest zwischen Ellbogen und Körper klemmen. Sieh deinen Gegner an und laß ihn nicht aus den Augen, während er auf dich zukommt, und dann folge ihm mit der Spitze deiner Lanze, so daß sie seinen Körper trifft, als wäre der Zusammenprall vorherbestimmt.«

»Ja, Senor«, sagte Jona, aber so mutlos, daß Fierro lächeln mußte.

»Es ist nicht aussichtslos, aber du reitest ohne Selbstvertrauen. Du mußt eins werden mit dem Pferd, damit du die Zügel schießen lassen und dein ganzes Augenmerk auf die Lanze rich-ten kannst. Wenn du an einem Tag einmal wenig Arbeit hast, dann hol dir das graue Pferd aus dem Stall und reite mit ihm aus, aber striegle es danach und gib ihm Futter und Wasser. Ich glaube, die Übung wird dir und dem Tier guttun.«

Müde und zerschlagen schleppte Jona sich an diesem Abend in die Hütte und ließ sich auf sein Lager sinken.

Vicente sah von seiner Pritsche aus zu ihm herüber. »Wenigstens bist du noch am Leben. Angel hat eine verschlagene Seele.« Der alte Mann redete wieder normal und schien bei Sinnen zu sein.

»Ist das Fieber nicht zurückgekehrt?«

»Anscheinend nicht.«

»Gut, Vicente, das freut mich.«

»Ich danke dir, daß du dich während meiner Krankheit um mich gekümmert hast, Ramon Callico.« Er hustete und räusperte sich. »Ich hatte im Fieber schreckliche Träume. Habe ich wirr geredet?«

Jona lächelte ihn an. »Nur ein paarmal. Manchmal hast du zum heiligen Pilger gebetet.«

»Zum heiligen Pilger. Wirklich?«

Einen Augenblick lang schwiegen sie, und dann setzte Vicente sich mühsam auf. »Es gibt etwas, das ich dir gern sagen möchte, Ramon. Etwas, das ich mit dir teilen möchte, weil du der einzige bist, der sich um mich gekümmert hat.«

Jona sah ihn besorgt an, denn Vicentes Stimme klang plötzlich wieder so angespannt und schrill, daß er glaubte, das Fieber wäre zurückgekehrt. »Was denn, Vicente?«

»Ich habe ihn entdeckt.«

»Wen...?«

»Santo Peregrino El Compasivo. Ich habe den Heiligen der Pilger gefunden«, sagte Vicente Deza.

»Vicente, was redest du da?« Jona sah den alten Mann beküm-mert an. Seit der Nacht seines Deliriums waren erst drei Tage vergangen.

»Du glaubst, ich bin nicht bei mir. Ich verstehe.«

Vicente hatte recht, er glaubte wirklich, der alte Mann sei verrückt, wenngleich auf harmlose Weise.

Vicente schob die Hände unter sein Lager. Er zog etwas hervor und krabbelte damit wie ein Kind zu Jona. »Nimm es«, sagte er, und Jona fand einen Gegenstand in seiner Hand. Er war klein und dünn. Er hielt ihn hoch, um ihn in dem trüben Licht besser erkennen zu können.

»Was ist das?«

»Ein Knochen. Vom Finger des Heiligen.« Er packte Jona am Arm. »Du mußt mit mir kommen, Ramon, und es dir selbst anschauen. Laß uns am Sonntag morgen hingehen.«

Verdammt. Den Sonntagvormittag hatten die Arbeiter frei, damit sie den Gottesdienst besuchen konnten. Jona reute es, die wenigen kostbaren Stunden, die er für sich selbst hatte, zu vergeuden. Er wollte dem Rat des Meisters folgen und mit dem grauen Araber ausreiten, befürchtete aber, daß Vicente ihm keine Ruhe lassen würde, wenn er dessen Behauptungen keine Beachtung schenkte.

»Ja, wir gehen am Sonntag hin, wenn wir dann beide laufen können«, sagte er und gab ihm den Knochen zurück.

Er machte sich Sorgen um Vicente, der nicht aufhörte, ihm in fiebrigem Flüsterton von seiner Entdeckung zu erzählen. In jeder anderen Hinsicht schien er jedoch von seiner Krankheit genesen zu sein; er wirkte wach und bei Kräften, und sein Appetit sowohl auf Essen wie auf Wein war auf erstaunliche Art zurückgekehrt.

Jonas Befürchtung, daß Vicente ihm keine Ruhe lassen würde, wenn er nicht darauf einging, wurde immer stärker.

So kam es, daß die beiden am darauffolgenden Sonntag morgen die Landbrücke überquerten, die Gibraltar mit Spanien ver-band. Auf dem Festland angekommen, wanderten sie eine halbe Stunde nach Osten, bis Vicente die Hand hob.

»Wir sind da.«

Jona sah nichts anderes als einen einsamen Flecken sandiger Erde, aus dem sich zahlreiche flache Granitfelsen erhoben. Er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken, und doch folgte er Vi-cente, der über die Felsgebilde kletterte, als wäre er keinen Tag krank gewesen.

Schließlich fand Vicente dicht am Pfad die Felsen, nach denen er Ausschau gehalten hatte, und Jona sah, daß sich genau in der Mitte der Gruppe ein breiter Spalt öffnete. Eine Felsplatte überragte schräg abfallend die Öffnung. Zu sehen war sie nur, wenn man direkt darüber stand.

Vicente hatte in einem Metallkästchen ein glühendes Kohlestück mitgebracht, und Jona blies nun auf die Kohle und entzündete daran zwei Kerzenstummel.

Regenwasser wurde von der Felsrampe, die ein Stückchen weiter hinten im Sandboden endete, an der Öffnung vorbeigeleitet. Die Höhle, die sich unter den Felsen befand, war trocken und etwa so groß wie Mingos Höhle auf dem Sacromonte. Sie endete in einem schmalen Spalt, der offensichtlich eine Verbindung zur Oberfläche hatte, denn Jona spürte einen Luftzug.

»Schau«, sagte Vicente.

Im flackernden Licht sah Jona ein Skelett. Die Knochen des Oberkörpers schienen noch unversehrt, aber die Knochen der Beine und Füße waren ein Stückchen weggezerrt worden, und als Jona sich mit der Kerze über sie kniete, sah er, daß ein Tier sie angenagt hatte. Von den Kleidern, die den Körper bedeckt hatten, waren nur noch Fetzen vorhanden, die im Umkreis verstreut lagen. Jona vermutete, daß das Tuch von Tieren gefressen worden war, die das Salz des Schweißes angelockt hatte.

»Und da!«

Es war ein schlichter, aus Ästen errichteter Altar. Davor stan-den drei irdene Töpfe. Ihr Inhalt war längst gefressen worden, vermutlich von demselben Lebewesen, das die Knochen angenagt hatte.

»Opfergaben«, sagte Jona. »Vielleicht für eine heidnische Gottheit.«

»Nein«, sagte Vicente. Er ging mit seiner Kerze an die gegenüberliegende Wand, an der ein großes Kreuz lehnte.

Dann beleuchtete er den Fels neben dem Kreuz, und Jona sah, daß dort das Symbol der frühesten Christenheit, das Zeichen des Fisches, eingeritzt war.

»Wann hast du das gefunden?« fragte Jona, als sie zur Schmiede zurückkehrten.

»Vielleicht einen Monat nach deiner Ankunft. Eines Tages ergab es sich, daß ich eine Flasche Wein in meinem Besitz fand... «

»Du hast sie in deinem Besitz gefunden?«

»Ich habe sie aus der Schenke gestohlen, als Bernaldez gerade beschäftigt war. Aber dazu müssen mich die Engel verleitet haben, denn als ich mit der Flasche wegging, um sie ungestört trinken zu können, wurden meine Schritte zu diesem Ort geleitet.«

»Und was willst du mit diesem Wissen machen?«

»Es gibt Leute, die für heilige Reliquien viel Geld bezahlen. Ich möchte, daß du mit ihnen verhandelst. Du mußt den besten Preis herausschlagen.«

»Nein, Vicente.«

»Ich werde dich natürlich gut dafür bezahlen.«

»Nein, Vicente.«

Ein gerissenes Funkeln blitzte in Vicentes Augen auf. »Siehst du, genau deshalb glaube ich, daß du erfolgreich verhandeln wirst. Nun gut. Du sollst die Hälfte von allem haben. Eine ganze Hälfte.« »Ich handle nicht mit dir. Die Männer, die Reliquien kaufen und verkaufen, sind böse Schlangen. Ich an deiner Stelle würde in die Kirche im Dorf gehen und den Priester - wie heißt er gleich wieder?«

»Padre Vasquez.«

»Ja. Ich würde Padre Vasquez hierherführen und ihn bestimmen lassen, ob diese Überreste tatsächlich die eines Heiligen sind.«

»Nein!« Vicente wirkte plötzlich wieder fiebrig, sein Gesicht war von Zorn gerötet. »Gott hat meine Schritte zu dem Heiligen gelenkt. Gott hat sich überlegt: >Bis auf seine Schwäche für starke Getränke ist Vicente kein übler Kerl. Ich will ihm Glück bringen, damit er seine Tage in Bequemlichkeit beenden kann.<«

»Es ist deine Entscheidung, Vicente. Aber ich werde mich nicht daran beteiligen.«

»Dann mußt du den Mund halten über alles, was du heute morgen gesehen hast.«

»Es wird mir ein Vergnügen sein, es zu vergessen.«

»Denn wenn du daran denken solltest, die Reliquien selbst zu verkaufen, ohne Vicente, werde ich dafür sorgen, daß es dir schlecht bekommt.«

Jona sah ihn erstaunt an, denn es wunderte ihn, daß Vicente so schnell vergessen haben sollte, wer ihn in seiner Krankheit gepflegt hatte. »Mach mit den Reliquien, was du willst, und sei verdammt«, erwiderte er knapp, und dann kehrten sie in angespanntem Schweigen nach Gibraltar zurück.

4. KAPITEL DIE AUSERWÄHLTEN

Am darauffolgenden Sonntag führte Jona im ersten Morgenlicht den grauen Araber aus dem Stall und verließ das Grundstück, bevor die anderen Arbeiter aufwachten. Anfangs versuchte er sich nur an das Gefühl zu gewöhnen, auf dem Rücken dieses Tieres zu sitzen. Bis er dann den Mut aufbrachte, die Zügel schießen zu lassen, vergingen drei Wochen. Der Meister hatte ihm gesagt, es genüge nicht, einfach nur im Sattel zu bleiben, er müsse lernen, das Pferd ohne Zügel oder Zaumzeug zu lenken. Wenn er wolle, daß das Pferd galoppierte, ein Tritt mit den Hacken. Ein kurzer Druck mit beiden Knien, um das Tier anzuhalten. Eine schnelle Abfolge von Knieschlüssen, und das Pferd ging rückwärts.

Zu seiner Freude merkte er bald, daß das Pferd dazu abgerichtet war, genau diesen Befehlen zu folgen. Unermüdlich übte Jona, er lernte, seine Bewegungen dem Auf und Ab des Galopps anzupassen, einen abrupten Halt abzufangen oder in den Schritt zu wechseln.

Er kam sich vor wie ein Knappe, der lernte, ein Ritter zu werden.

So vergingen Spätsommer, Herbst und Winter von Jonas erstem Lehrjahr. So weit im Süden setzte der Frühling zeitig ein. An einem sonnigen, milden Tag untersuchte Manuel Fierro jedes Einzelteil der Rüstung des Grafen Vasca und trug Luis Planas auf, sie zusammenzubauen.

Dann stand sie im Hof neben einem herrlichen Schwert, das Paco Parmiento gemacht hatte, und die Sonne ließ das polierte Metall in seiner ganzen Pracht erstrahlen. Der Meister verkündete, er habe vor, einen Trupp Männer auszuschicken, um die Rüstung dem Edelmann in Tembleque zu liefern, aber die Abordnung könne erst aufbrechen, wenn andere, dringende Arbeiten abgeschlossen seien.

So machten die Metallarbeiter sich frisch ans Werk, und die Schmiede hallte wider von hämmernder Geschäftigkeit. Der bevorstehende Abschluß verschiedener Aufträge und das Einsetzen des Frühlings erfüllten Fierro mit frischer Tatkraft, und er verkündete, daß vor der Abreise des Liefertrupps wieder ein Turnier veranstaltet werde.

An den folgenden beiden Sonntagvormittagen ritt Jona auf eine einsame Wiese und übte das Reiten mit der Lanze im Anschlag. Während der Araber über das freie Feld galoppierte, hielt er die Kugelspitze unverwandt auf einen Busch gerichtet, der ihm als Ziel diente.

An mehreren Abenden kam Vicente sehr spät in die Hütte, wo er sich auf sein Lager fallen ließ und völlig berauscht sofort anfing zu schnarchen. Im Kramladen schimpfte Tadeo Deza über seinen Vetter. »Er wird schnell und auf unangenehme Art betrunken, und dann belohnt er jene, die ihm auch nur den billigsten Wein ausgeben, mit wilden Geschichten.«

»Was für wilde Geschichten?« fragte Jona.

»Er behauptet, einer von Gottes Auserwählten zu sein. Sagt, er hätte die Knochen eines Heiligen gefunden. Sagt, daß er der Heiligen Mutter Kirche bald ein großzügiges Geschenk machen wird. Dabei hat er noch nicht einmal das Geld, um seinen Wein zu bezahlen.«

»Ach ja«, erwiderte Jona verlegen. »Er schadet niemandem -außer vielleicht sich selbst.«

»Ich glaube, am Ende wird mein Vetter Vicente sich mit seinem Saufen noch selber umbringen.«

Manuel Fierro fragte Jona, ob er noch einmal an einem Turnier teilnehmen würde. Auch diesmal sollte er wieder zu Pferde gegen Angel Costa antreten. Jona stimmte zu; vielleicht wollte der Meister ja sehen, ob Jonas Übungen mit dem Araber gefruchtet hatten.

In der Morgenkühle des übernächsten Tages half Paco Par-miento ihm wieder einmal in die zerbeulte Übungsrüstung, während auf der anderen Seite des Turnierplatzes Luis laut lachend Knappe und Pferdeknecht spielte und Costa aufwartete.

»Ach, Luis!« rief Costa und zeigte in gespielter Angst auf Jona. »Siehst du, wie groß er ist? Ich fürchte, er ist ein Riese. O weh! Was sollen wir nur tun?« Und er schüttelte sich vor Lachen, als Luis Planas die Hände faltete und sie zum Himmel hob, als würde er um Gnade bitten.

Parmientos sonst so friedliches Gesicht glühte vor Zorn. »Die beiden sind Abschaum«, sagte er.

Jeder der Wettkämpfer ließ sich beim Aufsteigen helfen. Costa war geübt darin und saß in wenigen Augenblicken auf seinem Pferd. Jona war ungeschickter; es fiel ihm schwer, das durch die Rüstung schwere und steife Bein zu heben und es über den grauen Araber zu schwingen, und er nahm sich vor, den Meister deswegen um Rat zu fragen, obwohl das vielleicht gar nicht nötig war, denn Fierro, der bei seinen Arbeitern stand, sah aufmerksam zu, und für gewöhnlich entging ihm fast nichts.

Als beide in den Sätteln saßen, drehten sie ihre Pferde einander zu. Jona gab sich Mühe, unsicher zu wirken, mit der Linken hielt er die Zügel umklammert, während die Lanze locker in seiner Rechten lag, so daß die Spitze zitternd nach unten zeigte.

Als der Meister zum Zeichen des Beginns sein Taschentuch senkte, ließ Jona die Zügel los, und während der Araber losstürmte, umklammerte er fest und mit beiden Händen die Lanze. Er war mittlerweile daran gewöhnt, auf ein Ziel zuzureiten, und es zermürbte ihn, dieses Ziel nun auf sich zukommen zu sehen, dennoch hielt er die Lanze fest auf den gegnerischen Reiter gerichtet. Seine Kugelspitze traf Angels Brustpanzer genau in der Mitte. Costas Lanze glitt von Jonas Schulter ab, ohne Schaden anzurichten, und einen Augenblick lang glaubte er, gewonnen zu haben, aber seine Lanze bog sich und brach, und so blieb Costa im Sattel, während sie aneinander vorbeigaloppierten.

Am Ende der Trennwand wendeten beide ihre Pferde. Der Meister machte keine Anstalten, das Turnier für beendet zu erklären, und so warf Jona seinen Lanzenstummel fort und ritt unbewaffnet auf Angel zu.

Je näher sie einander kamen, um so größer wurde die Spitze von Angels Lanze, doch als Costa nur noch zwei Hufschläge entfernt war, drückte Jona dem Araber beide Knie in die Flanken, und das Pferd blieb sofort stehen.

Die Lanze verfehlte Jona nur um Handbreite, und er hatte die Geistesgegenwart, die Waffe zu packen und fest daran zu reißen, während er mit den Knien seinem braven Tier den Befehl gab, rückwärts zu gehen. Angel Costa wäre beinahe gestürzt, er konnte sich nur im Sattel halten, weil er, während sein Pferd weiterrannte, die Lanze losließ. Jona hielt die Lanze fest umklammert, während er sich von seinem Araber ans andere Ende tragen ließ. Als sie sich jetzt wieder einander zudrehten, war es Jona, der die Lanze in der Hand hielt, während Angel der Unbewaffnete war.

Die Jubelschreie der Arbeiter waren Musik in Jonas Ohren, doch sein Hochgefühl verflog, als der Meister das Zeichen zum Abbruch gab.

»Das hast du sehr gut gemacht. Großartig!« sagte Paco, als er ihm aus der Rüstung half. »Ich glaube, der Meister hat das Turnier beendet, um seinem alten Kämpen die Demütigung zu ersparen.«

Jona schaute hinüber zum anderen Ende des Platzes, wo Luis gerade Angel Costa aus seinem Stahlkleid befreite. Nun lachte Costa nicht mehr. Luis beschwerte sich beim Meister, der nur dastand und ihn kalt anstarrte.

»Oje, das ist ein schlechter Tag für unseren Waffenmeister«, sagte Paco leise.

»Warum? Er blieb doch im Sattel. Das Turnier ist ohne Sieger geblieben.«

»Darum ist er ja so wütend, Ramon Callico. Für einen wilden Teufel wie Angel Costa ist Nichtgewinnen gleichbedeutend mit Verlieren. Er wird dir diesen Tag nicht danken«, sagte der Schwertmacher.

Als Jona in seine Hütte zurückkehrte, war niemand da. Er war enttäuscht, denn er hatte Vicente nicht unter den Zuschauern gesehen und hätte sich so gerne die Freude gegönnt, in allen Einzelheiten davon zu berichten.

Das Tragen der Rüstung und die Anspannung des Kampfes hatten ihn erschöpft, und so schlief er sofort ein, kaum daß er sich auf sein Lager legte. Erst am nächsten Morgen wachte er wieder auf. Er war noch immer allein, und es schien ihm, als wäre Vicente die ganze Nacht nicht in der Hütte gewesen.

Paco und Manuel Fierro waren bereits bei der Arbeit, als er die Hütte des Schwertmachers betrat.

»Das hast du gestern sehr gut gemacht«, sagte der Meister mit einem Lächeln.

»Vielen Dank, Senor«, erwiderte Jona erfreut.

Man gab ihm Dolche zum Schärfen. »Habt Ihr Vicente gesehen?« fragte er.

Beide Männer schüttelten den Kopf.

»Er war heute nacht nicht in unserer Hütte.«

»Er ist ein Säufer, und wahrscheinlich hat er seinen Rausch hinter einem Busch oder unter einem Baum ausgeschlafen«, sagte Paco. Dann verstummte er, denn ihm war wohl eingefallen, daß der alte Mann ein Liebling Fierros war.

»Ich hoffe, daß seine Krankheit nicht zurückgekehrt ist und ihm auch sonst kein Mißgeschick widerfahren ist«, bemerkte Fierro.

Jona nickte besorgt.

»Ich möchte Bescheid erhalten, wenn ihr ihn das nächste Mal seht«, sagte der Meister, und Jona und Paco entgegneten, daß sie es ihm melden würden.

Wäre Fierro bei der Arbeit an den Büchern seiner Werkstatt nicht das Tintenpulver ausgegangen, hätte sich Jona nicht im Dorf aufgehalten, als man Vicente fand. Er war eben auf dem Weg zum Kramladen, als vom Hafen unterhalb der Hauptstraße Lärm und Geschrei heraufdrangen.

»Ein Ertrunkener! Ein Ertrunkener!«

Zusammen mit anderen Neugierigen rannte Jona zum Hafen hinunter, und als er dort ankam, sah er, daß Vicente triefnaß aus dem Wasser gezogen wurde.

Die dünnen Haare klebten ihm am Kopf, darunter war die Kopfhaut des alten Mannes zu sehen. Auf der linken Seite des Schädels klaffte eine tiefe Wunde. Die Augen starrten blicklos.

»Sein Gesicht ist ja ganz zerschlagen«, sagte Jona.

»Bestimmt ist er gegen Felsen und die Uferbefestigung geschlagen«, sagte Jose Gripo mitfühlend.

Tadeo Deza kam aus dem Kramladen gelaufen, um nachzusehen, was der Lärm zu bedeuten hatte. Er sank auf die Knie und drückte sich Vicentes nassen Kopf an die Brust. »Mein Vetter... mein Vetter... «

»Wohin sollen wir ihn bringen?« fragte Jona.

»Meister Fierro hat ihn sehr gern gemocht«, sagte Gripo. »Vielleicht erlaubt er, daß Vicente auf dem Grundstück hinter der Werkstatt beerdigt wird.«

Als Vicente fortgetragen wurde, ging Jona mit Gripo und Tadeo hinter der Leiche her. Tadeo war erschüttert. »Als Jungen waren wir Spielkameraden. Wir waren unzertrennliche Freunde... Als Mann hatte er gewisse Schwächen, aber in seinem Herzen war er ein guter Mensch.« Vicentes Vetter, der so schlecht von ihm gesprochen hatte, als er noch am Leben war, brach in Tränen aus.

Gripo hatte richtig vermutet: Fierros Freundlichkeit Vicente gegenüber veranlaßte den Meister zu einer letzten Geste der Barmherzigkeit. Vicente wurde auf einem kleinen Rasenstück hinter der Schwertmacherhütte beerdigt. Die Arbeiter erhielten frei, so daß sie sich in der heißen Sonne versammeln und miterleben konnten, wie Vicentes Leiche von Padre Vasquez feierlich der Erde übergeben wurde. Dann kehrten alle an ihre Arbeit zurück.

Der Tod warf seinen Schatten. Die Hütte, die Jona mit Vicente bewohnt hatte, war jetzt leer und still. Einige Nächte lang schlief Jona unruhig, immer wieder wachte er auf, und dann lag er da und lauschte dem Rascheln der Mäuse.

Jeder in der Werkstatt arbeitete schwer, um fertigzustellen, was an Aufträgen abzuschließen war, bevor die Abordnung nach Tembleque aufbrach, um dem Grafen Vasca seine Rüstung und sein Schwert zu bringen. Deshalb runzelte Manuel Fierro auch mißmutig die Stirn, als ein Junge mit der Nachricht kam, daß ein Verwandter von Ramon Callico in Gibraltar eingetroffen sei und Senor Callicö in der Dorfschenke zu sprechen wünsche.

»Du mußt natürlich hingehen«, sagte Fierro zu Jona, der dabei war, Schwerter zu schärfen. »Aber vergiß nicht zurückzukehren, sobald du ihn gesprochen hast.«

Jona dankte ihm bedrückt und machte sich auf den Weg. Den

Kopf in Aufruhr, schlich er ins Dorf, so langsam er konnte. Der Mann, der ihn erwartete, war nicht Onkel Aaron, das war klar. Ramon Callicö war ein erfundener Name, den Jona sich zugelegt hatte, als er einen Namen brauchte. Konnte es sein, daß es hier in der Nähe einen echten Ramon Callicö gab und daß Jona Tole-dano nun den Verwandten dieses Mannes treffen würde?

Zwei Männer warteten zusammen mit dem Jungen, der die Nachricht überbracht hatte, vor der Schenke. Jona sah, daß der Junge ihn den Männern zeigte, dann eine Münze erhielt und davonlief.

Als er auf sie zuging, fiel ihm auf, daß der eine gekleidet war wie ein Edelmann, in Brustharnisch und feinem Tuch. Er trug einen kurzen gepflegten Kinnbart. Der andere Mann hatte einen struppigen Bart und derbere Kleidung, aber auch er trug ein Schwert. Zwei prächtige Pferde waren vor der Seitentür der Schenke angebunden.

»Senor Callicö?« fragte der Mann mit dem Kinnbart.

»Ja.«

»Laßt uns ein wenig Spazierengehen, während wir uns unterhalten, denn wir sind sattelmüde.«

»Wie heißt Ihr, Senores? Und wer von Euch ist mein Verwandter?«

Der Mann lächelte. »Sind wir denn nicht alle Verwandte im Herrn?«

Jona musterte die beiden.

»Mein Name ist Anselmo Lavera.«

Jona erinnerte sich, daß Mingo den Namen erwähnt hatte. La-vera war der Mann, der hier im Süden Spaniens den Handel mit gestohlenen Reliquien beherrschte.

Lavera stellte den anderen Mann nicht vor, der auch von sich aus nichts sagte. »Vicente Deza hat uns gebeten, Euch aufzusuchen.«

»Vicente Deza ist tot.« »Wie traurig. Ein Unfall?«

»Er ist ertrunken und wurde erst vor wenigen Tagen begraben.« »Was für ein Unglück. Er sagte uns, Ihr wüßtet, wo sich eine gewisse Höhle befindet.«

Jona war sich ganz sicher, daß die beiden Vicente umgebracht hatten. »Sucht Ihr eine der Höhlen im Felsen von Gibraltar?« fragte er.

»Sie befindet sich nicht im Felsen. Nach dem, was Deza uns gesagt hat, befindet sie sich irgendwo ein Stück weit von Gibraltar entfernt.«

»Von einer solchen Höhle weiß ich nichts, Senor.«

»Ich verstehe, manchmal fällt es einem schwer, sich zu erinnern. Aber wir wollen Eurer Erinnerung auf die Sprünge helfen. Und wenn Ihr Euch erinnert, werden wir Euch großzügig belohnen.«

»Wenn Vicente Euch meinen Namen genannt hat, warum hat er Euch dann nicht den Ort beschrieben, den Ihr sucht?«

»Wie gesagt, sein Tod war höchst unglücklich. Er wurde ermutigt, sich zu erinnern, aber die Ermutigung war ungeschickt und etwas überschwenglich.«

Jona lief es kalt über den Rücken, als er hörte, wie seelenruhig Lavera ein solch schreckliches Geständnis von sich gab.

»Ich war nicht dabei, müßt Ihr wissen. Ich hätte es besser gemacht. Als Vicente dann bereit war, den Ort zu nennen, war er nicht mehr in der Lage dazu. Aber als man ihn ermutigte zu sagen, wer uns sonst noch weiterhelfen könnte, nannte er sofort Euren Namen.«

»Ich werde mich umhören, ob irgend jemand etwas von einer Höhle weiß, die Vicente kannte«, sagte Jona.

Der Mann mit dem kurzen Bart nickte. »Hattet Ihr Gelegenheit, Vicente zu sehen, bevor er begraben wurde?«

»Ja.«

»Armer Kerl. So jämmerlich zu ertrinken. War er übel zugerichtet?«

»Ja.«

»Schrecklich. Die See hat kein Erbarmen.«

Anselmo Lavera sah Jona an. »Man verlangt andernorts nach uns, und wir müssen eilen. Aber in zehn Tagen werden wir wieder hier durchkommen. Denkt an die Belohnung, und denkt daran, was der arme Vicente von Euch erwartet hätte.«

Jona wußte, daß er weit weg sein mußte von Gibraltar, wenn sie zurückkehrten. Sie würden ihn töten, wenn er ihnen die Lage des Heiligengrabs nicht verriet, und auch wenn er es täte, würden sie ihn töten, weil er gegen sie Zeugnis ablegen konnte.

Das machte ihn traurig, weil er zum ersten Mal seit seinem Weggang aus Toledo sowohl den Ort mochte, an dem er sich befand, als auch die Arbeit, die er tat. Fierro war ein gütiger, freundlicher Mensch, ein Meister, wie man ihn nur sehr selten fand.

»Wir wollen, daß Ihr gut nachdenkt, damit Ihr Euch an das erinnert, was wir wissen müssen. Sind wir uns einig, mein Freund?«

Laveras Stimme war nie unangenehm gewesen, aber Jona erinnerte sich an die Wunde in Vicentes Kopf und an den schauerlichen Zustand seines Gesichts und seines Körpers.

»Ich werde mir Mühe geben, mich zu erinnern, Senor«, erwiderte er höflich.

»Hast du deinen Verwandten getroffen?« fragte Fierro, als Jona zurückkehrte.

»Ja, Meister. Ein entfernter Verwandter mütterlicherseits.«

»Die Familie ist wichtig. Es ist gut, daß er gerade jetzt kam, denn in ein paar Tagen wirst du schon fort sein.« Fierro berichtete, er habe beschlossen, Paco Parmiento, Luis Planas, Angel Costa und Ramön Callicö nach Tembleque zu schicken, um dem Grafen Vasca seine Rüstung zu bringen. »Paco und Luis können mit ihren Fähigkeiten noch etwaige Änderungen vornehmen, die nach der Übergabe nötig sein sollten. Angel wird der Führer eurer kleinen Karawane sein.«

Fierro fuhr fort, er wollte, daß Ramön Callicö dem Grafen die Rüstung übergebe, »weil du ein reineres Spanisch als die anderen sprichst und weil du lesen und schreiben kannst. Ich will eine schriftliche Bestätigung des Grafen von Tembleque über den Erhalt der Rüstung. Haben wir uns verstanden?«

Jona brauchte eine Weile, bis er antwortete, denn er schickte zuvor ein Dankgebet zum Himmel.

»Ja, Senor, ich habe verstanden.«

Obwohl Jona froh war, weit weg zu sein von Gibraltar, wenn An-selmo Lavera zurückkehrte, ängstigte ihn doch der Gedanke, in die Toledaner Gegend zurückzukehren. Doch dann sagte er sich, daß er Toledo als Knabe verlassen hatte und nun als großer, kräftiger Mann zurückkehrte, mit Gesichtszügen, die Wachstum, Männlichkeit und die gebrochene Nase verändert hatten, einem dichten Bart und langem Haar sowie einem neuen Namen, der sich bereits an vielen Orten bewährt hatte.

Fierro rief die vier Mitglieder der Reisegruppe zusammen und nahm kein Blatt vor den Mund, als er ihnen seine Anweisungen gab. »Es ist gefährlich, an fremde Orte zu reisen, und ich befehle euch deshalb, einträchtig zusammenzuarbeiten und nicht gegeneinander. Angel ist während der Reise euer Anführer, ihm obliegt der Schutz der Gruppe, und er ist mir persönlich für die Sicherheit von jedem von euch verantwortlich. Luis und Paco sind verantwortlich für den Zustand der Rüstung und des Schwerts. Ramön Callicö wird dem Grafen Vasca die Rüstung übergeben, sich versichern, daß er damit zufrieden ist, bevor ihr wieder abreist, und sich vom Grafen eine schriftliche Empfangsbestätigung aushändigen lassen und mir zurückbringen.«

Dann fragte er einen nach dem anderen, ob er seine Anweisungen verstanden habe, und jeder bejahte es.

Fierro überwachte die sorgfältigen Vorbereitungen für die Reise. Als Wegzehrung erhielten sie nur ein paar Säcke mit getrockneten Erbsen und hartem Zwieback. »Angel muß unterwegs jagen, um euch mit frischem Fleisch zu versorgen«, sagte der Meister.

Jeder der vier Männer erhielt ein Pferd zugewiesen. Die Rüstung des Grafen Vasca sollte von vier Packeseln befördert werden. Damit die Erscheinung seiner Arbeiter Fierro keine Schande machte, erhielten sie neue Kleidung, zusammen mit der strengen Ermahnung, daß sie sie erst anlegen dürften, wenn sie sich Tem-bleque näherten. Alle vier wurden mit Schwertern ausgestattet, und Costa und Jona erhielten Brustharnische. Costa schnallte sich große, rostige Sporen an die Stiefel und versorgte sich mit einem Langbogen und einem großen Vorrat an Pfeilen.

Paco lächelte. »Angel mit seiner beständig mürrischen Miene ist der geborene Anführer«, flüsterte er Jona zu, der froh war, daß neben den beiden anderen auch Paco ihn auf dieser Reise begleitete.

Als alles bereit war, führten die vier Reisenden ihre Tiere die Laufplanke des ersten Küstenschiffes hoch, das in Gibraltar festmachte. Zu Jonas Überraschung war es die Leona. Der Kapitän begrüßte jeden Fahrgast mit herzlichen Worten.

»Hola! Ihr seid das«, sagte er zu Jona. Obwohl der Kapitän, solange Jona zur Schiffsmannschaft gehört hatte, nie ein Wort an ihn gerichtet hatte, verbeugte er sich jetzt vor ihm und lächelte. »Seid mir aufs neue willkommen an Bord der Leona, Senor.« Paco, Angel und Luis sahen überrascht zu, wie auch andere Mitglieder der Mannschaft ihn begrüßten.

Die Tiere wurden auf dem Achterdeck an der Reling festgebunden, und als Lehrling hatte Jona die Aufgabe, jeden Tag Heu aus dem Laderaum zu holen und sie zu füttern.

Zwei Tage nach dem Auslaufen wurde die See kabbelig, und

Luis nahm das so mit, daß er sich übergeben mußte. Angel Costa und Paco machten die Bewegungen des Schiffes nichts aus, und auch Jona nicht, wie er zu seiner Überraschung und Freude feststellte. Als der Maat den Befehl zum Segelreffen gab, lief er unwillkürlich zur Strickleiter am Hauptmast, kletterte hinauf und half den Matrosen beim Einholen und Festmachen der Segel. Als er dann wieder auf Deck war, grinste der Matrose namens Josep, dessen Verletzung Jona damals den Platz in der Schiffsmannschaft verschafft hatte, ihn an und klopfte ihm auf die Schulter. Doch als Jona danach überlegte, was er da eigentlich getan hatte, erkannte er, daß er, falls er über Bord gegangen wäre, wohl von seinem Brustharnisch in die Tiefe gezogen worden und ertrunken wäre, und für den Rest der Fahrt dachte er immer daran, daß er nur Fahrgast war.

Für die vier aus Gibraltar waren die Tage unter Segel eine Zeit voller Langeweile. Früh am Morgen des dritten Tages packte Angel seinen Langbogen und einige Pfeile aus und machte sich daran, Vögel zu schießen.

Die anderen setzten sich, um ihm zuzusehen. »Angel ist mit dem Bogen so gut wie ein verdammter ingles«, sagte Paco zu Jona. »Er stammt aus einem kleinen Dorf in Andalusien, das berühmt ist für seine guten Bogenschützen, und seine erste Schlacht bestritt er als Bogenschütze der Landwehr.«

Aber Gaspar Guells, der Maat, rannte zu Costa. »Was tut Ihr da, Senor?«

»Ich will ein paar Seevögel schießen«, sagte Angel und legte einen Pfeil auf die Sehne.

Der Maat war entsetzt. »Nein, Senor. Auf der Leona werdet Ihr keine Seevögel töten, denn dies würde sicheres Unheil über uns und das Schiff bringen.«

Costa sah Guells böse an, doch Paco beeilte sich, ihn zu besänftigen. »Bald sind wir an Land, Angel, und dann hast du genügend Gelegenheit zum Jagen. Bei deinem Können wirst du uns alle mit Fleisch versorgen.« Zur allgemeinen Erleichterung löste Costa darauf die Sehne vom Bogen und legte ihn weg.

Die Fahrgäste saßen beisammen und betrachteten Himmel und Meer. »Erzähl uns vom Krieg, Angel«, sagte Luis. Angel war immer noch wütend, aber Luis drängte ihn so lange, bis er einverstanden war. Anfangs hörten die Männer seinen Erinnerungen ans Soldatenleben aufmerksam zu, denn keiner von ihnen war je im Krieg gewesen. Doch schon bald hatten sie genug von den Geschichten über Gemetzel und Blutvergießen, über verbrannte Dörfer, geschlachtetes Vieh und geschändete Frauen. Ihre Neugier verlosch, lange bevor Angel mit seinen Erzählungen fertig war.

Die vier waren neun Tage an Bord der Leona. Die Eintönigkeit des Schiffslebens zermürbte sie, und manchmal erhitzten sich die Gemüter. So kamen sie bald stillschweigend überein, daß jeder einen Großteil des Tages für sich blieb. Jona dachte über ein Problem nach, das ihm nicht mehr aus dem Kopf ging. Sollte er nach Gibraltar zurückkehren, würde Anselmo Lavera ihn töten, da war er sich ganz sicher. Doch Costas Zwist mit Gaspar Guells hatte ihn dazu gebracht, sein Problem in neuem Licht zu sehen. Angels Macht war durch die größere Macht, die der Maat an Bord des Schiffes hatte, überwunden worden. Eine Gewalt konnte folglich durch eine größere Gewalt in Schach gehalten werden.

Jona sagte sich, daß er eine größere Macht als Anselmo Lavera finden müsse, eine Kraft, die die Bedrohung durch den Reliquiendieb beseitigen konnte. Zuerst erschien ihm dieser Gedanke grotesk, doch während er Stunde um Stunde dasaß und aufs Meer hinausstarrte, reifte in seinem Kopf ein Plan.

Immer wenn das Schiff in einem Hafen anlegte, führten die vier Männer ihre Tiere an Land und bewegten sie, und als die Leona schließlich in den Hafen von Valencia einfuhr, waren Pferde und Lasttiere in gutem Zustand.

Jona hatte schreckliche Geschichten über Valencia aus der Zeit der Judenvertreibung gehört. Daß es damals im Hafen von Schiffen wimmelte, die in einem sehr schlechten Zustand waren und nur unter Segeln standen, weil ihre Besitzer sich am Fahrgeld der Flüchtlinge bereichern wollten. Daß die Frachträume schier barsten vor hineingepferchten Männern, Frauen und Kindern. Daß, als Krankheiten ausbrachen, sieche Fahrgäste auf unbewohnten Inseln zum Sterben ausgesetzt wurden. Daß einige Mannschaften, kaum daß sie auf hoher See waren, die Fahrgäste töteten und ihre Leichen ins Wasser warfen.

Doch an dem Tag, als Angel seinen Trupp von der Leona, wegführte, schien hell die Sonne, und im Hafen von Valencia war es friedlich und still.

Jona wußte, daß sich seine Tante, sein Onkel und sein kleiner Bruder wahrscheinlich in einem Küstendorf in der Nähe ein Schiff gesucht hatten. Vielleicht waren sie in See gestochen und befanden sich jetzt schon in einem fremden Land. In seinem Herzen wußte er, daß er sie nie wiedersehen würde, und doch sah er jedem Jungen im entsprechenden Alter, an dem er vorbeiritt, ins Gesicht, auf der Suche nach Eleasars vertrauten Zügen. Sein Bruder wäre inzwischen elf Jahre alt.

Aber Jona sah nur fremde Gesichter.

Valencia hinter sich lassend, wandten sie sich nach Westen. Keines der Pferde konnte es mit dem Araberhengst aufnehmen, den Jona bei den Turnieren geritten hatte. Sein jetziges Tier war eine große, graubraune Stute mit flachen Ohren und einem dünnen Schwanz, der schlaff zwischen riesigen Hinterbacken hing. Die Stute machte ihn nicht zum strahlenden Ritter, aber sie war ausdauernd und leicht zu reiten, und dafür war Jona dankbar. Angel ritt an der Spitze, gefolgt von Paco, der zwei Maultiere führte, und Luis mit den beiden anderen. Jona bildete die Nachhut, was ihm nur recht war. Jeder der vier entwickelte seine eigene Art, sich während der Reise die Zeit zu vertreiben. Angel hob immer wieder laut, aber falsch zu singen an, und heilige Lieder oder Gassenhauer waren ihm gleich lieb. Bei Kirchenliedern fiel Paco mit dröhnender Baßstimme ein. Luis döste im Sattel, während Jona sich mit vielfältigen Gedanken die Zeit vertrieb. Manchmal überlegte er, was er tun mußte, um seinen Plan gegen Anselmo Lavera in die Tat umzusetzen. Irgendwo in der Nähe von Toledo gab es bestimmt Männer, die mit gestohlenen Reliquien handelten und Anselmo Lavera seinen Platz in diesem ungesetzlichen Gewerbe streitig machten. Jona klammerte sich an den Gedanken, daß er gerettet wäre, wenn er sie dazu bringen könnte, Lavera zu beseitigen.

Oft brachte er Stunden damit zu, sich vergessene hebräische Texte wieder ins Gedächtnis zu rufen, jene reiche Sprache, die ihm so schnell entfallen war, die Worte und Melodien, die ihn schon nach ein paar Jahren im Stich gelassen hatten.

An einige wenige Stellen konnte er sich schließlich erinnern, und immer und immer wieder sagte er sich diese Bruchstücke vor. An einen kurzen Abschnitt aus der Genesis erinnerte er sich mit vollkommener Klarheit, denn es war der Text, den er gesungen hatte, als er zum ersten Mal aus der Tora hatte lesen dürfen. Als sie nun an die Stätte kamen, die Gott ihnen genannt hatte, baute Abraham daselbst den Altar und schichtete das Holz darauf; dann band er seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz. Hierauf streckte Abraham seine Hand aus und ergriff das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. Der Abschnitt hatte ihn damals erschreckt, und jetzt erschreckte er ihn wieder. Wie hatte Abraham seinem Sohn auftragen können, Holz für ein Brandopfer zu schneiden, und sich dann daranmachen, Isaak zu töten und seinen Leichnam zu verbrennen? Warum hatte Abraham Gottes Befehl nicht in Zweifel gezogen, warum hatte er nicht mit ihm gehadert? Abba hätte nie einen Sohn geopfert; Abba hatte sich selbst geopfert, damit sein Sohn überlebte.

Aber Jona erschauerte bei einem anderen Gedanken. Wenn Gott gerecht war, warum opferte er die Juden Iberiens?

Er wußte, was sein Vater und Rabbi Ortega auf eine solche Frage geantwortet hätten. Sie hätten gesagt, daß der Mensch Gottes Beweggründe nicht in Frage stellen dürfe, weil er den größeren Plan Gottes nicht kenne. Aber wenn zu diesem größeren Plan die Verbrennung von Menschen als Opfergaben gehörte, dann stellte Jona Gott in Frage. Für einen solchen Gott wagte er nicht Tag für Tag das gefährliche Spiel, Ramon Callico zu sein. Er tat es für Abba und die anderen, für die guten Dinge, die er in der Tora gelernt hatte, Visionen eines gnädigen und tröstenden Gottes, eines Gottes, der sein Volk zwar in die Verbannung schickte, es aber letztendlich ins Gelobte Land führte.

Wenn er die Augen schloß, konnte er sich vorstellen, daß er selbst Teil dieser Karawane in der Wildnis war, einer aus einer Schar von Juden, einer Vielzahl von Juden. Er sah sie jeden Abend in der Wüste ihr Lager aufschlagen, hörte sie gemeinsam vor der Bundeslade und den Heiligen Gesetzestafeln beten...

Jona wurde aus seinen Tagträumen gerissen, als die länger werdenden Schatten Angel sagten, daß es Zeit für das Nachtlager war. Sie banden die acht Tiere unter einigen Bäumen an, und dann nahmen sich die vier Männer die Zeit, um zu pinkeln und zu furzen und die Sattelmüdigkeit aus den Gliedern zu schütteln. Anschließend sammelten sie Holz und entzündeten ein Feuer, und als ihre Grütze anfing zu simmern, sank Angel auf die Knie und befahl den anderen, es ihm gleichzutun, damit sie das Vaterunser und das Ave-Maria beten konnten.

Jona gehorchte als letzter. Unter dem finsteren Blick des Waffenmeisters kniete er sich in den Staub und fügte sein Stammeln den müden, gemurmelten Worten von Paco und Luis und den lauten, barschen Gebeten von Angel Costa hinzu.

Am nächsten Morgen brach Costa gleich beim ersten Tageslicht mit seinem Bogen auf. Als sie die Maultiere beladen hatten, kehrte er mit vier Tauben und zwei Rebhühnern zurück, die sie rupften, während sie, eine Spur aus Federn hinter sich lassend, langsam dahinritten. Nach einer Weile hielten sie an, um die Vögel auszunehmen und auf grünen Zweigen über einem Feuer zu braten.

Costa jagte jeden Morgen und brachte neben einer Vielzahl von Vögeln manchmal auch einen Hasen oder zwei mit, so daß sie während ihres Ritts nie Mangel an frischer Nahrung litten. Sie reisten ohne Unterbrechung, und wenn sie anhielten, mieden sie jede Zwistigkeit, wie Fierro es ihnen befohlen hatte.

Elf Tage verbrachten sie im Sattel, bevor sie eines Abends, als sie das Lager aufschlugen, im verlöschenden Licht in der Ferne die Mauern von Tembleque erblickten. Am nächsten Morgen verließ Jona noch in der Dunkelheit das Feuer und badete in einem kleinen Bach, bevor er die neuen Kleider anzog, die Fierro ihm gegeben hatte. Keine Jungfrau, dachte er dabei verbittert, wird je ihr Geschlecht sorgfältiger vor Blicken verbergen, als ich es tue. Als die anderen aufwachten, neckten sie ihn, weil er es nicht erwarten konnte, sich fein herauszuputzen.

Er dachte daran, wie er mit seinem Vater zu dieser Burg geritten war.

Als sie sich dem Tor näherten, antwortete Angel auf den lauten Anruf des Wachpostens mit ebenso lauter und selbstbewußter Stimme.

»Wir sind Handwerker aus der Waffenschmiede Manuel Fier-ros in Gibraltar und bringen das neue Schwert und die neue Rüstung des Grafen Fernan Vasca.«

Als man sie einließ, sah Jona, daß der Verwalter nicht derselbe Mann war wie damals, doch was er sagte, klang ähnlich in seinen Ohren.

»Graf Vasca ist auf der Jagd in den Wäldern im Norden.« »Wann erwartet Ihr ihn zurück?«

»Der Graf kehrt zurück, wann es ihm beliebt«, erwiderte der Mann mürrisch. Doch als er den Ausdruck sah, der in Angels Blick lag, schaute er sich schnell nach seinen eigenen Bewaffneten um, die an der Mauer aufgereiht standen. »Ich glaube nicht, daß er lange ausbleiben wird«, gab er dann widerstrebend zu.

Costa zog sich zurück, um sich mit seinen Männern zu besprechen. »Sie wissen jetzt, daß unsere Maulesel wertvolle Fracht geladen haben. Wenn wir mit Schwert und Rüstung von hier wegreiten, kann es sein, daß wir von diesen oder anderen Hurensöhnen überfallen und getötet und Schwert und Rüstung gestohlen werden.« Die anderen stimmten ihm zu, und Jona kehrte zum Verwalter zurück.

»Sollte der Graf Vasca bei unserem Eintreffen nicht anwesend sein, haben wir den Befehl, Schwert und Rüstung in seiner Schatzkammer zu hinterlassen und dafür eine schriftliche Bestätigung über die wohlbehaltene Ablieferung einzufordern«, sagte er.

Der Verwalter runzelte die Stirn, denn es gefiel ihm nicht, von diesen Fremden Befehle entgegenzunehmen.

»Ich bin sicher, daß der Graf schon ungeduldig auf die Rüstung wartet, die Meister Fierro für ihn angefertigt hat«, sagte Jona. Er brauchte nicht hinzuzufügen: Falls sie durch Eure Schuld verlorengehen sollte...

Der Verwalter führte sie in ein befestigtes Gewölbe, schloß mächtige Türen auf, deren Angeln dringend ein wenig Schmierfett benötigt hätten, und zeigte ihnen, wo sie die Rüstung und wo sie das Schwert ablegen sollten. Jona verfaßte die Empfangsbestätigung, aber der Verwalter war kaum des Lesens mächtig, und so dauerte es lange, bis Jona ihm beim Entziffern geholfen hatte. Paco und Luis sahen dem Jungen beeindruckt zu, aber Angel wandte den Blick ab. »Beeil dich, beeil dich«, murmelte er, denn er ärgerte sich über Jonas Fähigkeiten.

Schließlich kritzelte der Verwalter sein Zeichen.

Ganz in der Nähe fanden die Männer aus Gibraltar ein Wirtshaus. Sie alle waren froh darüber, daß sie sich in der Burg von Temble-que ihrer Verantwortung hatten entledigen können. »Gott sei Dank, daß wir alles gut hierhergebracht haben«, sagte Paco, und die Erleichterung in seiner Stimme sprach für alle vier.

»Jetzt will ich auf einem bequemen Lager schlafen«, sagte Luis.

»Jetzt will ich trinken«, verkündete Costa und schlug mit der Hand auf den Tisch, an dem sie bald darauf einen dünnen, sauren Wein tranken, aufgetragen von einer kleinen, drallen Frau mit müden Augen. Während sie ihre Becher füllte, strich Angel ihr mit dem Handrücken über den fleckigen Kittel, der ihren Hintern und ihre stämmigen Schenkel verhüllte, und als sie keinen Einspruch erhob, wurden seine Hände rasch forscher.

»Oh, wie hübsch du bist«, sagte er, und sie schenkte ihm ein gekünsteltes Lächeln. Sie war daran gewöhnt, daß Männer nach langen Wochen des Reisens zu ihr in das Wirtshaus kamen. Kurz darauf entfernten sich die beiden von den anderen Männern, um etwas abseits zu verhandeln. Jona sah ein hitziges Feilschen, gefolgt von einem Nicken.

Bevor Angel mit ihr davonging, kam er noch einmal zu den drei anderen zurück. »Dann treffen wir uns also in drei Tagen wieder hier im Wirtshaus, um nachzusehen, ob der Graf schon zurückgekehrt ist«, sagte er und eilte dann wieder zu der Frau.

5. KAPITEL DIE STADT TOLEDO

Paco und Luis wollten nichts anderes mehr als ein Lager im Wirtshaus, um sich die Müdigkeit der langen Reise aus den Gliedern zu schlafen. So kam es, daß Jona ben Helkias Tole-dano, nun Ramon Callico genannt, allein und wie in einem Traum durch das vormittägliche Sonnenlicht ritt.

Auf der Straße zwischen Tembleque und Toledo. In Gedanken an seinen Vater und singend, wie er gesungen hatte.


Oh, der Wolf wird zu Gast sein bei dem Lamme

Und der Panther bei dem Böcklein lagern.

Kuh und Bärin werden sich befreunden,

Der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind...


Als er sich Toledo näherte, weckte alles, was er sah, in ihm zugleich Freude und Schmerz. Hier war er manchmal mit anderen Knaben spazierengegangen, vertieft in ernste, erwachsene Gespräche - über Talmud-Lektionen und über die Natur und die Vielfältigkeit der geschlechtlichen Vereinigung, darüber, was sie als erwachsene Männer sein würden, und über die Gründe für die unterschiedlichen Formen der weiblichen Brust.

Hier war der Stein, auf dem er, nur zwei Tage vor der Schandtat, mit seinem Bruder Meir gesessen und mit ihm abwechselnd auf der maurischen Gitarre gespielt hatte.

Hier war der Pfad zu dem Haus, in dem einst Bernardo Espina gelebt hatte, der ehemalige Arzt von Toledo, möge Gott auch seiner katholischen Seele ewigen Frieden gewähren.

Hier war der Pfad zu der Stelle, wo Meir ermordet worden war.

Hier war die Wiese, wo Jona manchmal die Herde seines Onkels, Aarons des Käsers, gehütet hatte. Hier war der Hof, wo Aa-ron und Juana gelebt hatten; jetzt spielten fremde Kinder vor der Tür.

Jona ritt durch den im Sonnenlicht funkelnden Tajo, die Hufe der Stute klapperten durch die helle, klare Furt, und Wasserspritzer benetzten ihm die Beine.

Dann ritt er den steilen Pfad zum Hochufer hinauf, den Pfad, den Mose damals so sicheren Schritts im Dunkel der Nacht hinabgestiegen war und den jetzt die arme Stute in hellem Tageslicht so ungeschickt und nervös hinaufstolperte.

Oben auf der Anhöhe war alles unverändert.

Mein Gott, dachte er, du hast uns vernichtet und in alle Winde verstreut, aber diesen Ort hast du so gelassen, wie er war.

Langsam ritt er den schmalen Hochuferweg entlang. Die Häuser waren genauso wie in seiner Erinnerung. Der alte Nachbar, Marcelo Troca, lebte noch, eben grub er seinen Garten um, während in der Nähe ein Esel lustlos seinen Abfall fraß.

Das Haus der Toledanos stand noch. Ein Gestank lag in der Luft; je näher Jona kam, um so stärker wurde er. Das Haus war erneuert worden. Nur... wenn man wußte, wo man hinsehen mußte, und wenn man sehr genau suchte, konnte man noch schwach die Spuren des damaligen Feuers erkennen.

Jona hielt an und stieg ab.

Das Haus war bewohnt. Ein Mann mittleren Alters trat aus der Tür und erschrak, als er Jona, die Zügel des Pferdes in der Hand, dort stehen sah.

»Buenos dias, Senor. Wünscht Ihr etwas von mir?«

»Nein, Senor. Ich fühle mich nur etwas benommen, ein leich-ter Sonnenstich vielleicht. Gestattet Ihr, daß ich mich im Schatten hinter Eurem Haus ein wenig ausruhe?«

Der Mann musterte ihn ängstlich, sah das Pferd, den Brustharnisch, Mingos Dolch, das Schwert, das an Jonas Seite hing, und den harten Ausdruck im Gesicht des bärtigen Fremden. »Ihr könnt den Schatten unseres Hauses aufsuchen«, sagte er widerwillig. »Kühles Wasser ist auch da. Ich bringe Euch etwas zu trinken.«

Hinter dem Haus suchte Jona sofort den losen Stein, hinter dem er die Botschaft für seinen Bruder Eleasar versteckt hatte. Aber es gab keinen losen Stein mehr. Die Stelle war verputzt worden.

Der Gestank kam hinter dem Schuppen hervor, in dem sein Vater seine Werkstatt gehabt hatte. Dort sah er Felle und Tierhäute, einige in Fässern, wo sie einweichten, bevor man sie abschaben konnte, andere zum Trocknen aufgehängt. Er suchte die Stelle, wo sein Vater begraben lag, und sah, daß dort eine Eiche wuchs, die schon fast so groß war wie er. Der Hausbesitzer kehrte mit einem hölzernen Becher zurück, und Jona leerte ihn in einem Zug, obwohl er dabei das Gefühl hatte, den Gestank mit hinunterzuschlucken. »Ihr seid Gerber, wie ich sehe.«

»Ich bin Buchbinder und mache mein Leder selbst.« »Darf ich mich noch für einen Augenblick hinsetzen?« »Wie es Euch beliebt, Senor.« Doch der Mann blieb bei ihm und beobachtete ihn aufmerksam - hatte Jona es vielleicht auf eine der feuchten und stinkenden Häute abgesehen? Wahrscheinlich sorgte der Mann sich mehr um die wertvollen Bücher, die er in seiner Werkstatt aufbewahrte, vielleicht hatte er auch Gold. Jona schloß die Augen und sagte in Gedanken das Kaddisch auf. Voller Verzweiflung erkannte er, daß er den Leichnam seines Vaters nie von diesem stinkenden und ungeweihten Ort würde wegholen können.

Ich werde nie aufhören, ein Jude zu sein. Ich schwöre es, Abba.

Als er die Augen öffnete, stand der Buchbinder noch immer da. Jona sah, daß er sich, als er ins Haus gegangen war, um das Wasser zu holen, ein Werkzeug in den Gürtel gesteckt hatte, ein gefährlich aussehendes, gebogenes Messer, das wohl zum Zuschneiden von Leder verwendet wurde. Jona wollte keine Händel mit diesem Mann. Er stand auf und dankte dem Buchbinder für seine Freundlichkeit. Dann kehrte er zu seinem Pferd zurück und ritt fort von dem Haus, in dem er einst gelebt hatte.

Die Synagoge sah ziemlich unverändert aus, nur daß sie jetzt eine Kirche mit einem großen Holzkreuz auf dem Giebel war.

Den jüdischen Friedhof gab es nicht mehr. Alle Grabsteine waren entfernt worden. In verschiedenen Gegenden Spaniens hatte er gesehen, daß Steine mit jüdischen Inschriften zum Bau von Mauern und Straßen benutzt worden waren. Der hiesige Friedhof wurde als Weide genutzt. Ohne Grabsteine war es Jona unmöglich, die genaue Lage der Ruhestätten seiner Familie zu bestimmen, doch er ging zu der Stelle, wo er sie ungefähr vermutete, und sprach ein Gebet für die Toten, wohl wissend, daß er in dieser Haltung zwischen den grasenden Schafen und Ziegen ein merkwürdiges Bild abgeben mußte.

Als er dann auf die Stadtmitte zuritt, kam er an den öffentlichen Backöfen vorbei, wo eine Gruppe Frauen gerade den Bäcker wild beschimpfte, weil er ihre Brote verbrannt hatte. Jona kannte diese Öfen gut. Früher waren sie koscher gewesen. Als Junge hatte er jeden Freitag die Brote seiner Familie zum Backen hierhergebracht. Damals war ein Jude namens Vidal für die Öfen verantwortlich gewesen, doch jetzt war der Bäcker ein unglückseliger, fetter Mann, der sich nicht verteidigen konnte.

»Du bist ein fauler, dreckiger Kerl und ein Trottel«, sagte eine der Frauen. Sie war jung und hübsch, wenn auch etwas fleischig. Jona sah zu, wie sie eines der schwarzen Brote aus ihrem Korb nahm, es dem Bäcker unter die Nase hielt und ihn verspottete. »Meinst du, ich komme hierher, damit du aus meinem guten Brot Hundescheiße machst? Man sollte dich zwingen, es selber zu fressen, du blöder Ochse!«

Als sie sich umdrehte, sah Jona, daß es Lucia Martin war, die er einst als Junge geliebt hatte. Ihr Blick huschte an ihm vorbei und wieder zu ihm zurück. Doch sie blieb nicht stehen, sondern ging mit ihrem Korb verbrannter Brote davon.

Langsam ritt er die schmale Straße hinunter, denn er wollte sie nicht überholen. Doch kaum hatte er die Häuser und die neugierigen Augen hinter sich gelassen, als sie hinter einem Baum hervortrat.

»Bist du es wirklich?« fragte sie.

Er wußte genau, was er eigentlich tun müßte, nämlich leugnen, sie zu kennen, sich mit einem Lächeln über das Mißverständnis höflich von ihr verabschieden und davonreiten. Aber er stieg ab.

»Wie ist es dir die ganzen Jahre ergangen, Lucia?«

Mit freudig aufgerissenen Augen faßte sie nach seiner Hand. »Ach, Jona. Ich kann kaum glauben, daß du es wirklich bist. Wohin bist du denn verschwunden, und warum, wo du doch der Sohn meines Vaters hättest sein können? Mein Bruder?«

Lucia war das erste weibliche Wesen, das er je nackt gesehen hatte. Sie war ein süßes Mädchen gewesen, das wußte er noch gut, und bei der Erinnerung schlug sein Herz schneller. »Ich wollte nicht dein Bruder sein.«

Seit drei Jahren sei sie verheiratet, erzählte sie ihm schnell, ohne seine Hand loszulassen. »Mit Tomas Cabrerizo, dessen Familie am anderen Ufer des Flusses Weingärten besitzt. Erinnerst du dich nicht mehr an Tomas Cabrerizo?«

Jona konnte sich undeutlich an einen mürrischen, steinewerfenden Jungen erinnern, der immer die Juden verspottet hatte.

»Ich habe zwei kleine Töchter und bin schon wieder guter

Hoffnung. Jeden Tag bete ich zur Heiligen Jungfrau, daß es ein Sohn wird«, sagte sie. Sie sah ihn erstaunt an, musterte sein Pferd, seine Kleidung und seine Bewaffnung. »Jona. Jona! Jona, wohin hat es dich verschlagen? Wie lebst du?«

»Frag lieber nicht«, erwiderte er sanft und wechselte das Thema. »Dein Vater ist wohlauf?«

»Mein Vater ist vor zwei Jahren von uns gegangen. Er war immer kerngesund, doch eines Morgens war er tot.«

»Oh. Möge er in Frieden ruhen«, sagte Jona voller Bedauern. Benito Martin war immer sehr freundlich zu ihm gewesen.

»Möge seine Seele bei unserem Heiland ruhen.« Sie bekreuzigte sich. Ihr Bruder Enrique sei in den Dominikanerorden eingetreten, erzählte sie voller Stolz.

»Und deine Mutter?«

»Meine Mutter lebt noch. Aber geh nicht zu ihr, Jona. Sie würde dich verraten.«

Lucias Frömmigkeit jagte ihm Angst ein. »Und du wirst mich nicht verraten?«

»Damals nicht und heute nicht!« Tränen traten ihr in die Augen, dennoch starrte sie ihn wütend an.

Er sah ein, daß er sich nun losreißen mußte. »Geh mit Gott, Lucia.«

»Mit Gott, du Freund meiner Kindheit.«

Er zog seine Hand weg, doch eine letzte Frage konnte er sich nicht verkneifen. »Mein Bruder Eleasar - hast du ihn je wieder hier gesehen?«

»Nie.«

»Und du hast auch nie etwas gehört, wo er sich aufhalten könnte oder wie es ihm ergangen ist?«

Sie schüttelte den Kopf. »Kein Wort über Eleasar. Über keinen von deiner Sippe. Du bist der einzige Jude, der zurückgekehrt ist, Jona.«

Jona wußte, was er jetzt tun und wen er suchen mußte, wenn er sich vor Lavera retten wollte.

Langsam ritt er durch die Stadt. Die Mauer um das jüdische Viertel stand noch, aber die Tore waren weit geöffnet, und in allen Häusern lebten Christen. Die Kathedrale Toledos überragte alles.

So viele Menschen.

Es konnte durchaus sein, daß ihn jemand hier auf der plaza mayor hinter der Kathedrale wiedererkannte, so wie Lucia es getan hatte. Bei dem Gedanken an sie wurde ihm bewußt, daß sie ihn in diesem Moment bereits verraten haben konnte. Vielleicht griffen schon jetzt die grausamen Finger der Inquisition nach ihm, wie ein Mann die Hand ausstreckt, um eine Fliege zu fangen. Auf dem Platz wimmelte es von Soldaten und Mitgliedern der Stadtwache. Jona zwang sich, langsam zu reiten, doch niemand würdigte ihn mehr als eines flüchtigen Blickes.

Einem zahnlückigen Jungen versprach er eine Münze, wenn er auf sein Pferd aufpaßte.

Das Portal, durch das Jona die Kathedrale betrat, trug den Namen »Tor der Freude«. Als Junge hatte er sich gefragt, ob es das Versprechen seines Namens auch einlöste, doch jetzt empfand er keine Verzückung. Vor ihm tauchte ein Mann in zerlumpter Kleidung die Hand in ein Becken und beugte das Knie. Jona wartete, bis niemand mehr zu sehen war, und huschte dann in die Kathedrale.

Es war ein riesiger Raum mit hohem Kreuzgewölbe, gestützt von steinernen Säulen, die das Kircheninnere in fünf Schiffe unterteilten. Wegen ihrer Größe wirkte die Kathedrale fast leer, doch es befanden sich viele Menschen darin, auch viele Geistliche in schwarzen Roben, und ihre vereinten Gebete stiegen hallend in die Höhe. Jona fragte sich, ob all die Stimmen, die in Kathedralen und Kirchen in ganz Spanien zu Gott erhoben wurden, sein eigenes furchtsames Stimmchen, mit dem er zu Gott betete, übertönten.

Er brauchte lange, bis er das Hauptschiff der Kathedrale durchmessen hatte, doch den Mann, den er suchte, sah er nicht.

Als er, blinzelnd im hellen Licht, wieder ins Freie trat, gab er dem Jungen die versprochene Münze und fragte ihn, ob er einen Mönch mit einem Buckel auf dem Rücken kenne.

Das Grinsen des Jungen verschwand. »Ja. Das ist der, den man Bonestruca nennt.«

»Und wo kann ich ihn finden?«

»Im Haus der Dominikaner vielleicht, da gibt's genügend von denen«, antwortete der Junge achselzuckend. Schmutzige Finger schlossen sich um die Münze, und er rannte davon wie gehetzt.

Bei einem behelfsmäßigen Ausschank - drei Planken, die man über Fässer gelegt hatte - kehrte Jona ein, trank sauren Wein und beobachtete das Haus des Dominikanerordens auf der anderen Straßenseite. Nach einer Weile verließ ein Mönch das Haus und sehr viel später zwei heftig disputierende Priester.

Als Fray Lorenzo de Bonestruca schließlich auftauchte, näherte er sich dem Haus, anstatt es zu verlassen. Jona sah ihn schon von weitem und erkannte ihn sofort an seiner großen schlanken Gestalt, deren obere Hälfte leicht zur Seite verschoben war. Weil er sich bemühte, sehr aufrecht zu gehen, zog sein Buckel ihm Kopf und Schultern nach hinten.

Er betrat das Haus und blieb so lange, daß Jona den Wirt bitten mußte, ihm noch einmal Wein in seinen Becher zu schenken, den er allerdings ohne Bedauern stehenließ, als der Mönch wieder aus dem Tor trat und die Straße hinunterging. Jona folgte ihm langsam auf dem Pferd, in weitem Abstand, jedoch so, daß er ihn nicht aus den Augen verlieren konnte.

Schließlich trat Bonestruca durch die Tür einer kleinen ta berna, einer Arbeiterschenke. Als Jona die Stute angebunden und den niedrigen dunklen Keller betreten hatte, saß der Mönch be-reits an einem der hinteren Tische und befand sich mitten in einem Streit mit dem Wirt.

»Wenn Ihr vielleicht nur einen kleinen Teil Eurer Schuld bezahlen könntet?«

»Wie kannst du es wagen? Du elender kleiner Wurm.«

Der Wirt war mehr als eingeschüchtert, das sah Jona deutlich. Vor lauter Angst konnte er dem Inquisitor nicht in die Augen schauen.

»Ich flehe Euch an, ehrwürdiger Bruder, nehmt es nicht als Beleidigung«, sagte der Mann verzweifelt. »Natürlich wird Euch sofort Wein gebracht. Ich wollte nicht unverschämt sein.«

»Du bist ein Mistwurm.«

Die Gesichtszüge über Bonestrucas langem, verdrehtem Körper waren so schön, wie Jona sie in Erinnerung hatte: eine adlige Stirn, hohe Wangenknochen, eine lange, schmale Nase, ein breiter vollippiger Mund über einem festen, kantigen Kinn. Die Augen jedoch, groß und grau, straften das Gesicht Lügen, sie waren voll kalten Abscheus für die Welt.

Der Wirt war davongeeilt und kehrte nun mit einem Becher zurück, den er Bonestruca hinstellte, bevor er sich Jona zuwandte.

»Einen Becher Wein für mich. Und einen zweiten für den guten Mönch.«

»Ja, Senor.«

Bonestrucas steinerner Blick wanderte zu Jona. »Christus sei mit Euch«, murmelte er, Jona den Wein mit seinem Segen vergeltend.

»Habt Dank. Gestattet Ihr mir, mich zu Euch zu setzen?« fragte er, und Bonestruca nickte gleichgültig.

Jona ging hinüber zu dem Mann, der verantwortlich war für den Tod seines Vaters und seines Bruders, für den Tod Bernardo Espinas und zweifellos auch den vieler anderer.

»Ich bin Ramon Callico.«

»Fray Lorenzo de Bonestruca.«

Der Mönch hatte offensichtlich Durst. Sehr schnell leerte er seinen ersten Becher Wein, dann den zweiten, den Jona bezahlt hatte, und nickte, als Jona nochmals bestellte: »Aber diesmal Schalen, Senor!«

»Ich hatte das Vergnügen, in der Kathedrale zu beten, auf die Toledo sehr stolz sein kann«, bemerkte Jona, und Bonestruca nickte widerwillig wie jemand, der sich nicht gerne von geschwätzigen Fremden in seiner Ruhe stören läßt.

Die Schalen wurden aufgetragen.

»Welche Arbeiten werden denn am Gebäude der Kathedrale ausgeführt?«

Bonestruca zuckte gelangweilt die Achseln. »Ich weiß nur, daß mit den Türen etwas geschieht!«

»Verrichtet Ihr das Werk des Herrn in der Priesterschaft der Kathedrale, ehrwürdiger Mönch?«

»Nein. Ich verrichte das Werk des Herrn woanders«, sagte der Mönch und nahm einen so tiefen Schluck, daß Jona sich fragen mußte, ob die Münzen in seiner Tasche für den Durst dieses Mannes ausreichen würden. Aber es war gut angelegtes Geld, denn mit jedem Schluck wurde der Mönch redseliger, seine Augen erwachten zum Leben, und sein buckliger Körper entspannte sich wie eine Blume, die sich nach einem Regenguß öffnet.

»Dient Ihr dem Herrn schon lange, Senor?«

»Seit meiner Kindheit.«

Da seine Zunge nun gelöst war, begann der Mönch, mit seiner Herkunft zu prahlen. Beiläufig erzählte er Jona, daß er der zweite Sohn einer adligen Familie aus Madrid sei. »Bonestruca ist ein katalanischer Name. Vor vielen Generationen kam meine Familie aus Barcelona nach Madrid. Meine Abstammung reicht weit zurück. In unseren Adern fließt kein Schweineblut, wenn Ihr versteht. Limpieza de sangre, von reinstem Blut.« Mit zwölf Jahren sei er zu den Dominikanern geschickt worden. »Ich hatte Glück, daß man mich nicht zu den elenden Franziskanern schickte, denn die kann ich nicht ausstehen. Meine selige Mutter hatte einen Bruder, der bei den Franziskanern in Barcelona war, aber mein Vater hatte einen Dominikanermönch in seiner Verwandtschaft.« Die durchdringenden grauen Augen, an die sich Jona noch gut erinnerte, waren starr auf sein Gesicht gerichtet. Jetzt war es Jona, dem die Angst in die Glieder fuhr, denn er war überzeugt, daß Bonestruca all seine Geheimnisse und Vergehen sehen konnte.

»Und was ist mit Euch? Woher kommt Ihr?«

»Ich komme aus dem Süden. Ich bin ein Lehrling von Manuel Fierro, dem Waffenschmied von Gibraltar.«

»Gibraltar! Beim Leiden Christi, Ihr seid weit gereist, Waffenschmied.« Er beugte sich vor. »Habt Ihr dann vielleicht die Rüstung hierhergebracht, auf die ein berühmter Edelmann hier aus der Gegend seit vier Jahren sehnsüchtig wartet? Soll ich seinen Namen erraten?«

Jona bestätigte dem Mönch seine Vermutung nicht, sondern teilte ihm seine Botschaft mit, indem er sie nicht verneinte. Er trank einen Schluck Wein und lächelte, bevor er ihm höflich antwortete: »Ich bin hier mit einer Abordnung Männer.«

Bonestruca zuckte die Achseln und tippte sich, belustigt über Jonas Schweigsamkeit, mit seinem langen Zeigefinger spöttisch an die Nase.

Jetzt war es an der Zeit, sagte sich Jona, einen Pfeil in die Luft zu schießen und zu sehen, wohin er fiel. »Ich bin auf der Suche nach einem Kirchenmann, der bereit ist, mir einen Rat zu geben.«

Der Mönch wirkte plötzlich gelangweilt. Er schwieg, denn offensichtlich mißverstand er diesen Annäherungsversuch nur als Einleitung für eine jener alltäglichen Gewissenserleichterungen, auf die einige Geistliche begierig eingehen, während andere sie als Plage betrachten.

»Wenn jemand etwas finden sollte... ich will sagen, etwas von großem, heiligem Wert... Nun, wohin sollte er so etwas bringen? Um... um dafür zu sorgen, daß es den seiner Bedeutung angemessenen Platz in der Welt erhält?«

Die grauen Augen waren hellwach und sahen Jona direkt an.

»Eine Reliquie?«

»Nun. Ja. Eine Reliquie«, entgegnete Jona vorsichtig.

»Ich nehme an, es ist kein Teil des echten Kreuzes?« fragte Bonestruca mit Spott in der Stimme.

»Nein.«

»Nun, dann dürfte es wohl kaum große Beachtung finden«, sagte Bonestruca - ein kleiner Witz -, und zum ersten Mal umspielte ein knappes, kühles Lächeln seine Lippen.

Jona erwiderte das Lächeln und wandte dann den Blick ab. »Senor«, rief er und bestellte noch zwei Schalen Wein.

»Nehmen wir einmal an, es handele sich um den Knochen von jemandem, den Ihr für einen Heiligen haltet«, sagte der Mönch. »Falls es sich um den Knochen einer Hand handelt, so kann ich Euch sagen, daß es höchstwahrscheinlich der Handknochen eines armen ermordeten Hurensohns ist, eines Sünders, der vielleicht ein Fuhrmann oder ein Schweinezüchter war. Und wenn es der Knochen eines Fußes ist, dann ist es vermutlich der Fußknochen eines Lumpen, eines Hurenbocks, der in keiner Weise ein christlicher Märtyrer war.«

»Das ist möglich, ehrwürdiger Bruder«, erwiderte Jona demütig.

Bonestruca schnaubte. »Mehr als möglich. Wahrscheinlich.«

Die neuen Schalen kamen, und Bonestruca trank weiter. Er war ein Trinker, bei dem der Wein kaum Wirkung zeigte und der nüchtern und gefährlich blieb. Doch langsamer dürfte der Wein ihn machen, dachte Jona; es wäre einfacher, ihn jetzt sofort zu töten, diesen mörderischen Mönch. Aber Jona dachte noch klar, und er wußte, daß Bonestruca am Leben bleiben mußte, wollte er selbst nach Gibraltar zurückkehren, ohne dort ins offene Messer zu laufen.

Jona bat nun den Wirt um die Rechnung. Nachdem die Schuld beglichen war, brachte ihnen der Mann einen Teller mit Brot und Oliven in Öl als Geschenk, und Jona lobte dem Mönch gegenüber die Freundlichkeit des Wirts.

Bonestruca grollte dem Mann noch immer. »Er ist ein abtrünniger Christ, der die Gerechtigkeit noch zu spüren bekommt«, murmelte er. »Er ist ein Schwein von einem jüdischen Ungeheuer.«

Das schreckliche Gewicht dieser Worte lastete schwer auf Jona, als er seine Stute durch die verschlafenen Straßen führte.

6. KAPITEL BOMBARPEN

Graf Vasca ließ die Männer aus Gibraltar noch einmal vier Tage warten. Jona nutzte die Zeit, um die Witwe von Bernardo Espina ausfindig zu machen, weil er hoffte, so einen Weg zu finden, Espinas Gebetbuch seinem Sohn zu übergeben, denn das hatte er dem Arzt versprochen, bevor dieser im Autodafe sein Leben ließ. Aber die Suche endete in einer Enttäuschung. »Estrella de Aranda ist mit ihren Kindern hierher zurückgekommen«, sagte eine der Frauen aus Espinas früherer Nachbarschaft, als Jona sich bei ihr erkundigte. »Nachdem ihr Gatte wegen Ketzerei verbrannt worden war, wollte keiner aus ihrer Verwandtschaft sie aufnehmen. Wir haben ihnen für eine Zeit Zuflucht gewährt. Dann ging sie in den Convento de la Santa Cruz, um Nonne zu werden, und wir haben gehört, daß sie kurz darauf starb. Mutter Kirche schluckte ihre Kinder, Marta und Domitila, die ebenfalls Nonnen wurden, und Francisco, der Mönch wurde. Ich weiß nicht, wo sie jetzt sind«, sagte sie.

Jona sorgte sich, daß Bonestruca zuviel Wein getrunken hatte, um sich an das zu erinnern, was er dem Mönch über sein Wissen von einer wertvollen Reliquie erzählt hatte. Er war sicher, daß Bone-struca zu einem Netz von Männern gehörte, die heilige Dinge stahlen und kauften, um sie im Ausland mit Gewinn zu verhökern. Der Mönch wußte, daß Jona auf den Grafen von Tem-bleque wartete, um ihm die Rüstung übergeben zu können, und wenn er den Köder geschluckt hatte, mußte jemand wegen der Einzelheiten an Jona herantreten.

Doch mehrere Tage vergingen, ohne daß sich jemand auf der Burg nach ihm erkundigte.

Als der Graf schließlich von seiner Jagd zurückkehrte, erwies er sich als Mann, der groß und kräftig genug war, um die riesige Rüstung auszufüllen. Sein Vollbart und seine Haare waren rötlichbraun, und oben auf dem Schädel hatte er eine große kahle Stelle. Er besaß die kalten, herrischen Augen eines Mannes, der in dem Bewußtsein aufgewachsen war, daß alle Menschen dieser Erde minderwertig und nur dazu da seien, ihm zu dienen.

Die Männer aus Gibraltar halfen ihm in die Rüstung und sahen dann zu, wie er mit dem Schwert in der Hand über den Hof stolzierte. Als er danach wieder aus seinem Stahlkleid befreit war, zeigte er sich hoch erfreut über die Dinge, die sie ihm gebracht hatten, beklagte sich aber über eine gewisse Enge an der rechten Schulter. Sofort wurde im Hof eine Esse aufgebaut, und Luis und Paco machten sich mit Schwung und zwei Hämmern ans Werk.

Bald nachdem die Änderungen am Schulterstück abgeschlossen waren, ließ Graf Fernan Vasca Ramon Callico zu sich rufen.

»Hat er sein Zeichen unter die Empfangsbestätigung gesetzt?« fragte Jona den Verwalter, der ihm den Befehl überbrachte.

»Sie liegt für Euch bereit«, sagte der Verwalter, und Jona folgte ihm durch eine Reihe von Zimmern in die Privatgemächer des Grafen. Unterwegs hielt Jona die Augen offen, um vielleicht einige der Silbergegenstände zu erspähen, die sein Vater für den Grafen angefertigt hatte, doch er sah keine. Die Burg von Tem-bleque war sehr groß.

Er fragte sich, warum der Graf ihn hatte rufen lassen. Geld

brauchte er keines in Empfang zu nehmen, die Bezahlung für Schwert und Rüstung wurde über Kaufleute aus Valencia getätigt, die in Gibraltar Geschäfte machten. Jona hoffte, daß Fierro beim Eintreiben der Schulden mehr Erfolg haben würde als sein Vater.

Vor einer Eichentür blieb der Verwalter stehen und klopfte.

»Euer Exzellenz. Dieser Callico ist hier.«

»Er soll reinkommen.«

Es war ein langes, düsteres Zimmer. Obwohl der Tag mild war, brannte im Kamin ein kleines Feuer, und drei Jagdhunde lagen auf dem mit Binsen ausgelegten Boden. Zwei der Tiere betrachteten den Fremden mit kalten Augen, der dritte Hund aber sprang auf, kam mit leisem Knurren auf Jona zu und trollte sich erst, als sein Besitzer ihn zurückrief.

»Euer Gnaden«, sagte Jona.

Vasca nickte und händigte Jona die unterzeichnete Empfangsbestätigung aus. »Ich bin hoch erfreut über die Rüstung. Teilt dies Eurem Meister Fierro mit.«

»Mein Herr wird sich glücklich schätzen, daß Ihr mit seiner Arbeit zufrieden seid.«

»Zweifellos. Es ist immer schön, angenehme Nachrichten zu erhalten. So habe ich zum Beispiel erfahren, daß Ihr eine heilige Reliquie entdeckt habt.«

Aha. Hier ist der Pfeil also gelandet, den ich auf Fray Bone-struca abgeschossen habe, dachte Jona mit einem Schaudern.

»Das stimmt«, erwiderte er vorsichtig.

»Was für eine Art von Reliquie ist es?«

Jona sah den Grafen nur an.

»Nun kommt schon«, sagte Vasca mit barscher Ungeduld. »Ist es ein Knochen?«

»Es sind viele Knochen. Ein Skelett.«

»Wessen?«

»Eines Heiligen. Keines sehr bekannten Heiligen. Ein örtlicher Heiliger aus der Gegend um Gibraltar.« »Ihr glaubt, daß es das Skelett von Santo Peregrino El Compasivo ist?«

Jona konnte seine Überraschung nicht verbergen. »Ja. Ihr kennt die Legende?«

»Ich kenne alle Legenden über Reliquien«, sagte Vasca. »Warum glaubt Ihr, daß es sich um den Pilgerheiligen handelt?«

Nun erzählte Jona ihm von Vicente, und wie Vicente ihn zu der Höhle unter den flachen Felsen geführt hatte. Er beschrieb ihm alles, was er in der Höhle gesehen hatte, und der Graf hörte aufmerksam zu.

»Warum habt Ihr Euch an Fray Bonestruca gewandt?«

»Ich dachte mir, daß er vielleicht jemanden kennt, der... für so etwas Verwendung hat.«

»Wie kamt Ihr auf diesen Gedanken?«

»Nun... Wir haben zusammen getrunken. Ich hielt es für sinnvoller, einen Mönch zu fragen, der gern trinkt, als irgendeinen Priester, der dieses Laster verabscheut.«

»Dann habt Ihr also in Wahrheit nach einem Reliquienhändler oder dergleichen gesucht und nicht einfach nur nach einem Kirchenmann?«

»Ja.«

»Weil Ihr einen hohen Preis für Euer Wissen verlangt?«

»Ich habe einen Preis. Für mich ist es ein hoher Preis, aber für andere vielleicht nicht.«

Graf Vasca beugte sich vor. »Aber warum der weite Weg von Gibraltar bis hierher, um einen Händler zu suchen? Gibt es im Süden Spaniens keinen Reliquienhändler?«

»Es gibt Anselmo Lavera.« Wie Ihr genau wißt, dachte Jona.

Er berichtete dem Grafen vom Mord an Vicente und von dem Besuch, den Lavera ihm abgestattet hatte. »Ich weiß, wenn ich Lavera und seine Männer nicht zu der Höhle führe, werde ich getötet. Aber wenn ich es tue, werde ich auch getötet. Mein Überlebenstrieb rät mir davonzulaufen, aber ich möchte sehr gerne nach Gibraltar zurückkehren und weiter für Meister Fierro arbeiten.«

»Welchen Preis verlangt Ihr nun für Euer Wissen?«

»Mein Leben.«

Vasca nickte. Wenn ihn diese Antwort belustigte, zeigte er es nicht. »Das ist ein annehmbarer Preis.«

Er gab Jona eine Feder samt Tinte und Papier. »Zeichnet mir eine Karte mit dem Weg zum Grab des Heiligen.«

Jona zeichnete die Karte so sorgfältig und so genau, wie er nur konnte, und vermerkte darin auch alle Orientierungspunkte, an die er sich erinnerte. »Die Höhle liegt in einem Stück Ödland aus Sand und Stein und ist vom Pfad aus nicht zu sehen. Es gibt dort nichts als flache Felsen mit ein paar kümmerlichen Büschen und verkrüppelten Bäumen dazwischen.«

Vasca nickte. »Nun zeichnet eine zweite Karte wie diese, und nehmt sie mit nach Gibraltar. Wenn Anselmo Lavera wieder zu Euch kommt, sagt ihm, daß Ihr ihn nicht zu der Höhle führen könnt, aber gebt ihm die Karte. Ich wiederhole: Geht nicht mit ihm zu der Höhle. Habt Ihr mich verstanden?«

»Ja, ich verstehe«, sagte Jona.

Er sah den Edelmann nicht wieder. Der mürrische Verwalter schenkte jedem der Männer aus Gibraltar im Namen des Grafen Vasca zehn Maravedi.

Gemäß Fierros Anweisungen verkaufte Angel Costa die Esel in Toledo, und so konnten die vier Männer sich unbehindert durch Packtiere auf den Rückweg zur Küste machen.

In Valencia, wo sie auf ihr Schiff warten mußten, gaben die Männer einen Teil des geschenkten Geldes für starke Getränke aus. Jona hatte große Lust, es ihnen gleichzutun, aber noch war er angespannt wegen der Bedrohung, die ihn in Gibraltar erwartete, und so gesellte er sich zwar zu ihnen, trank aber langsam und mit Bedacht.

Sie hatten eben eine Schenke betreten, als Luis einen dicken Mann, der auf dem Weg nach draußen war, anrempelte und dann geruhte, den Beleidigten zu spielen. »Du ungeschickter Ochse!« rief Luis. Der Mann sah ihn erstaunt an. »Was habt Ihr denn, Senor?« fragte er. Er sprach mit dem Akzent eines Franken. Die Belustigung in seinem Blick wich der Wachsamkeit, als Angel, die Hand auf dem Schwert, dazukam.

Der Franke war unbewaffnet. »Ich entschuldige mich für meine Ungeschicklichkeit«, sagte er kalt und verließ die Schenke.

Jona konnte den Stolz in Luis' Gesicht und die Befriedigung in dem von Angel kaum ertragen.

»Und wenn er bewaffnet und mit Freunden zurückkehrt?«

»Dann kämpfen wir. Hast du Angst vor einem Kampf, Cal-lico?« fragte Angel.

»Ich werde nie jemanden verletzen oder töten, nur weil du und Luis Kurzweil suchen.«

»Ich glaube, du hast Angst. Ich glaube, ein Turnier kannst du gerade noch verkraften, aber nicht einen echten Kampf zwischen Männern.«

Doch nun trat Paco zwischen sie. »Wir haben es geschafft, den Auftrag des Meisters auszuführen, ohne in Schwierigkeiten zu geraten«, sagte er. »Ich habe nicht die Absicht, vor Fierro zu treten und ihm Verletzungen oder Tod zu erklären.« Er winkte dem Wirt, damit er ihnen Getränke bringe.

Sie tranken bis spät in die Nacht, und am nächsten Morgen gingen sie an Bord eines Postschiffs, das mit der ersten Flut auslief. Während der Reise trafen sich die vier Männer auf Angels Anordnung hin jeden Morgen und jeden Abend zu Gebeten. Ansonsten blieben Luis und Angel für sich, und wenn Jona sich unterhalten wollte, ging er zu Paco. Als sie in Gibraltar an Land gingen, war er beinahe glücklich. Auf merkwürdige Art war es schön, an einem Ort anzukommen, wo man erwartet wurde.

Nach der Ankunft in Gibraltar blieb den Reisenden nicht viel Zeit, um sich auszuruhen. In ihrer Abwesenheit waren mehrere Bestellungen für Rüstungen wie für Schwerter von Mitgliedern des königlichen Hofs hereingekommen. Jona wurde Paco zugewiesen, dem er half, ein Schwert für den Herzog von Carmona zu entwerfen. Überall in der Schmiede herrschte Lärm, das Klirren von Hämmern auf erhitztem Stahl.

Trotz der neuen Bestellungen arbeitete Fierro selbst weiter an medizinischen Instrumenten, die er für seinen Bruder Nuno Fierro, den Arzt von Saragossa, anfertigte. Sie waren von einer glatten, zarten Schönheit, jedes Stück poliert wie ein Edelstein und geschärft wie ein Schwert.

Wenn am Ende des Tages die Arbeit getan war, nutzte Jona das noch glimmende Feuer und das letzte Licht für ein eigenes Vorhaben. Er nahm das stählerne Blatt seiner ersten Waffe, der kaputten Hacke, und erhitzte und formte es. Ohne Plan oder wirkliche Absicht - fast ohne seinen Willen - formte sein Hammer einen kleinen Kelch.

Er arbeitete mit Stahl anstatt mit Silber oder Gold, und das kleine Gefäß war nicht sehr fein gearbeitet, und doch war es die Nachbildung des Reliquiars, das sein Vater für die Abtei zur Himmelfahrt Mariä angefertigt hatte. Als Jona damit fertig war, hatte er einen merkwürdigen kleinen Kelch, grob verziert nur mit den wichtigsten Figuren, die das Reliquiar geschmückt hatten. Aber er würde genügen, um die Erinnerung wachzuhalten, und ihm außerdem als Kidduschbecher dienen, mit dem er den Sabbat feiern konnte, indem er dem Schöpfer für die Früchte des Rebstocks dankte. Er versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, daß im Fall einer Durchsuchung seiner Habseligkeiten das Kreuz auf dem Kelch zusammen mit dem Gebetbuch Bernardo Espinas als Beweis seines Christseins dienen würde.

Weniger als zwei Wochen nach Jonas Rückkehr kam wieder ein Junge aus dem Dorf mit der Nachricht, daß ein Verwandter Ramon Callicos vor der Schenke auf ihn warte.

Doch diesmal runzelte Fierro die Stirn. »Wir haben zu viel zu tun«, sagte er zu Jona. »Sag deinem Verwandten, daß er hierherkommen soll, wenn er dich sehen will.«

Jona schickte den Jungen mit dieser Nachricht zurück und machte sich wieder an die Arbeit, hielt aber dabei die Augen offen. Als er kurz darauf zwei Männer auf das Grundstück reiten sah, verließ er die Hütte und eilte zu ihnen.

Es waren Anselmo Lavera und sein Gefolgsmann. Lavera stieg vom Pferd und warf die Zügel seinem Begleiter zu, der im Sattel blieb.

»Hola. Wir waren schon einmal hier, um Euch aufzusuchen, aber es hieß, Ihr seid nicht da.«

»Ja. Ich mußte eine Rüstung ausliefern.«

»Na, das gab Euch wenigstens Zeit zum Nachdenken. Ist Euch denn wieder eingefallen, wo die Knochen des Heiligen ruhen?«

»Ja.« Jona sah ihn an. »Gibt es eine Belohnung für solche Nachrichten, Senor?«

Er hörte den Mann auf dem Pferd leise lachen.

»Eine Belohnung? Natürlich gibt es eine Belohnung. Wenn Ihr uns jetzt gleich zu dem Heiligen bringt, werdet Ihr unverzüglich belohnt.«

»Ich kann nicht weg. Es ist hier zu viel zu tun. Ich darf nicht einmal ins Dorf gehen.«

»Wer wird denn einen Dreck auf die Arbeit geben? Ihr seid doch bald reich, warum müßt Ihr da noch arbeiten? Kommt, laßt uns keine Zeit vergeuden.«

Jona drehte sich zur Hütte um und sah, daß Fierro seine Arbeit unterbrochen hatte und zu ihnen herüberschaute.

»Nein«, sagte er, »es wäre sehr schlecht für Euch, wenn ich mitkommen würde. Die Männer hier würden mich verfolgen.

Und das würde Euch daran hindern, die Knochen zu bergen.« Nun zog er die Karte, die er in Tembleque gezeichnet hatte, aus seinem Kittel. »Hier. Die Höhle, in der die Knochen liegen, ist deutlich gekennzeichnet. Sie liegt auf dem Festland, gleich nachdem Ihr Gibraltar hinter Euch gelassen habt.«

Lavera betrachtete die Karte. »Nach Westen oder nach Osten auf der Festlandsstraße?«

»Nach Osten. Ein sehr kurzes Stück.« Jona erklärte ihm, wie die Höhle zu finden sei.

Lavera ging zu seinem Pferd. »Wir werden nachsehen. Danach kommen wir zu Euch zurück und bringen Euch die Belohnung.«

Der Tag verging nur langsam für ihn. Er stürzte sich in die Arbeit.

Sie kamen nicht.

In dieser Nacht lag er allein und schlaflos in seiner Hütte und lauschte in die Dunkelheit nach näher kommendem Hufgetrappel oder Schritten.

Niemand kam.

Ein Tag verging und ein zweiter. Und ein dritter.

Bald war es eine Woche.

Mit der Zeit dämmerte es Jona, daß sie nicht mehr kommen würden. Der Graf von Tembleque hatte den Preis gezahlt.

Sämtliche Aufträge der Schmiede standen kurz vor dem Abschluß. Die Tage wurden entspannter, und Fierro ließ neue Spiele veranstalten. Wieder schickte er Jona mit Angel auf den Kampfplatz, einmal in voller Rüstung und mit den stumpfen Schwertern, und ein zweites Mal ohne Rüstung und mit dem Duelldegen samt Knopfspitze als Waffe.

Costa gewann beide Kämpfe. Als sie beim zweiten Mal miteinander fochten, flüsterte er Jona verächtlich zu: »Kämpfe, du Miesepeter, du Feigling. Kämpfe, du Schlappschwanz, du Stück Dreck.« Sein Haß war für alle Zuschauer offenkundig.

»Ist es falsch von mir, dich gegen Costa kämpfen zu lassen?« fragte der Meister Jona später. »Du bist der einzige, der jung genug dafür ist. Und groß genug und ausreichend stark. Macht es dir etwas aus, so oft antreten zu müssen?«

»Nein, es macht mir nichts aus«, sagte Jona. Und doch mußte er ehrlich mit Fierro sein. »Ich glaube, ich könnte hin und wieder einmal gewinnen, wenn wir die Reiterwettkämpfe wiederaufnehmen würden«, sagte er, doch Fierro schüttelte den Kopf.

»Du bist kein Knappe, der lernt, ein Ritter zu werden, und was sollte es dir da nützen, wenn du deinen Umgang mit der Lanze vervollkommnest? Ich lasse dich mit dem Schwert gegen Angel kämpfen, damit du daraus lernst, denn es ist gut für jeden Mann, wenn er mit dem Schwert umzugehen weiß. Jeder Wettkampf ist eine Lehrstunde, die du Angel zwingst, dir zu geben.«

Jona gab sich immer Mühe, und es stimmte, daß er durch beständige Übung und Nachahmung einige Fertigkeiten erlernte. Er glaubte, daß er mit genug Übung vielleicht eines Tages in der Lage wäre, richtig zu parieren und anzugreifen und zu wissen, wann er zurückweichen und wann er ausfallen und zustoßen mußte. Aber der ältere Mann war schneller und stärker, ein wahrer Meister der Waffen, und sosehr Jona sich auch bemühte, er konnte Costa nicht bezwingen.

Manchmal ließ sich Angel zu Vorführungen mit der Armbrust herab, einer Waffe, die er nicht mochte. »Auch ein ungeschickter Mann lernt sehr schnell, mit der Armbrust Bolzen um Bolzen in ein dichtstehendes Feindheer zu jagen«, sagte er, »aber sie ist eine sehr schwere Waffe, und Regen macht sie schnell unbrauchbar. Außerdem hat sie nicht die wunderbare Reichweite eines Langbogens.«

Hin und wieder gewährte er den Arbeitern der Waffenschmiede einen Einblick ins Kriegshandwerk, ließ sie den Gestank vergossenen Blutes schnuppern.

»Wenn ein Ritter in der Schlacht aus dem Sattel geworfen wird, muß er oft Teile seiner Rüstung ablegen, damit er nicht zurückbleibt hinter den Schwertkämpfern, den Lanzen- und Pikenträgern und den Bogenschützen, die zwar weniger geschützt sind als die Reiter, aber auch weniger belastet. Noch ist die Rüstung nicht erfunden, die alles schützt und es dem Träger trotzdem erlaubt, ohne Pferd gut zu kämpfen.«

Sie stopften eine zerlumpte Kutte mit Stroh aus und bezeichneten die Stellen, die von einer Rüstung nicht geschützt wurden. Fast immer gelang es Angel mit seinem Langbogen, aus großer Entfernung einen Pfeil so auf den »Feind« zu schießen, daß er ihn genau an den schmalen, ungeschützten Stellen traf, wo die nachgemachte Rüstung klaffte. Immer wenn ihm ein besonders schwieriger Schuß gelang, belohnte Fierro ihn mit einer Münze.

Eines Nachmittags rief der Meister seine Männer auf dem Kampfplatz zusammen und ließ sie ein großes und klobiges Gerät aufstellen.

»Was ist das?« fragte Luis.

»Eine französische Bombarde«, sagte Fierro.

»Und was macht man damit?« fragte Paco.

»Du wirst schon sehen.«

Es war ein mit Reifen verstärktes Rohr aus gehämmertem Eisen. Fierro ließ es mit dicken Pfählen und Ketten in der Erde verankern. Sie luden eine schwere, mit Eisenbändern umwickelte Steinkugel in das Rohr und füllten die Zündkammer mit einem Pulver, das, wie Fierro sagte, aus einer Mischung aus Salpeter, Holzkohle und Schwefel bestand. Fierro hantierte eine Zeitlang mit einer Vorrichtung, die den Anstellwinkel der Bombarde veränderte. Dann ließ er seine Männer in sicherer Entfernung Aufstellung nehmen und hielt das brennende Ende eines Steckens an das Zündloch am unteren Ende der Bombarde.

Als der Salpeter zu schwelen begann, warf der Meister den Stecken weg und rannte zu den anderen.

Es dauerte einige Augenblicke, bis das Pulver Feuer gefangen hatte, und dann gab es einen schrecklichen Knall, als hätte Gott in die Hände geklatscht.

Mit leisem Zischen sauste die Steinkugel durch die Luft. Sie landete weit hinter dem Ziel und traf eine kräftige Eiche, deren Stamm mit lautem Krachen zerbarst.

Alle jubelten, aber es war auch Gelächter zu hören.

»Was nützt eine Kriegswaffe, die ihr Ziel verfehlt?« fragte

Jona.

Fierro war nicht beleidigt, denn er begriff, daß die Frage ernst gemeint war. »Sie hat das Ziel nicht getroffen, weil ich damit nicht umgehen kann. Aber ich habe mir sagen lassen, daß ihre Benutzung nicht schwer zu erlernen ist. Die Genauigkeit ist nicht so wichtig. In der Schlacht kann man mit diesen Bombarden anstelle von Steinkugeln Hagelgeschosse verschießen. Das sind Kugeln aus Steinoder Eisenstücken, zusammengehalten von einem Mörtel, der beim Verlassen des Rohrs zerbirst. Stellt euch vor, was ein paar solcher Bombarden in einer Reihe Fußsoldaten oder Reitern anrichten können. Wer nicht flieht, wird niedergemäht wie Gras von einer Sense.«

Paco legte die Hand auf das Rohr und zog sie schnell wieder zurück. »Es ist heiß.«

»Ja. Man hat mir gesagt, daß das Eisen manchmal reißt, wenn die Bombarde zu oft abgefeuert wird. Man glaubt, daß Rohre aus gegossener Bronze vielleicht besser sind.«

»Wahrlich furchteinflößend«, sagte Costa. »Und, werden wir nun diese Bombarden herstellen, Meister?«

Fierro starrte den geknickten Baum an und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte er leise.

7. KAPITEL LAUERNDE BLICKE

Einige Wochen nachdem Jona Lavera und seinen Gefolgsmann zu der Höhle geschickt hatte, ritt er eines schönen Sonntagmorgens auf dem grauen Araber zu dem felsigen Stück Ödland und band sein Pferd an einem Busch an.

Falls es je Spuren in der steinigen Erde gegeben hatte, waren die vom schneidenden Wind und dem wenigen Regen, der seitdem gefallen war, ausgelöscht worden.

Die Höhle selbst war leer.

Die Knochen des Heiligen waren verschwunden. Wie auch das grob zusammengezimmerte Kreuz und die irdenen Gefäße. In ihrer Suche nach heiligen Kostbarkeiten hatten die Plünderer den Altar zerstört. Die verstreuten trockenen Äste und die Zeichnung des Fisches auf der Wand waren der einzige Beweis dafür, daß Jona die Höhle in ihrem früheren Zustand nicht nur geträumt hatte.

Auf der Wand unter dem Fisch entdeckte er einen dunkel rostfarbenen Fleck, und als er sich mit seiner Kerze hinkniete, sah er auf dem Steinboden andere rostfarbene Überbleibsel, große Pfützen getrockneten Blutes.

Die Männer, die hier im Hinterhalt gelegen hatten, hatten ganze Arbeit geleistet und jene ausgelöscht, die ihnen hier im südlichen Spanien die Geschäfte abspenstig gemacht hatten.

Eines wußte Jona: Als er Anselmo Lavera und seinem Kumpa-nen die Karte gab, hatte er die beiden so sicher hingerichtet, als hätte er ihnen eine scharfe Klinge über die Kehle gezogen. Erleichtert, fast beschwingt ritt er nach Gibraltar zurück, aber auf seiner Seele lastete auch das Bewußtsein, ein Mörder zu sein.

Seit der Rückkehr aus Tembleque schwang sich Angel Costa mehr denn je zu Gibraltars frommem Soldaten der Kirche auf.

»Warum reitest du am Sonntagvormittag aus?« wollte er von Jona wissen.

»Meister Fierro hat es mir erlaubt.«

»Gott hat es dir nicht erlaubt. Der Sonntagmorgen ist für die Anbetung der Dreifaltigkeit da.«

»Ich bete in dieser Zeit sehr viel«, erwiderte Jona, doch die Frömmigkeit, die er damit zu beweisen suchte, schien Costa nicht zu beeindrucken, denn er schnaubte nur.

»Unter den Waffenschmieden bezeugen nur du und der Meister unserem Gott nicht den gehörigen Respekt. Du mußt die christliche Messe besuchen. Geh besser in dich und bereue, mein gebildeter Senor.«

Paco hatte alles gesehen und gehört. Als Costa gegangen war, sagt er zu Jona: »Angel ist ein Mörder und ein Sünder, auf den ganz gewiß das Höllenfeuer wartet, und doch wacht er über die unsterblichen Seelen der Männer in seiner Umgebung, die allesamt besser sind als er.«

Auch mit Fierro hatte Costa gesprochen.

»Und mein Freund Jose Gripo hat mich gewarnt, daß meine Abwesenheit von der Messe eine Aufmerksamkeit erregt hat, die mir gefährlich werden kann«, sagte der Meister zu Jona. »Deshalb müssen wir beide unsere Gewohnheiten ändern. Du wirst am Sonntagmorgen nicht mehr ausreiten. Diese Zeit ist für das Gebet bestimmt. Es wäre ratsam, wenn du diese Woche die Messe besuchst.«

Und so ging Jona am nächsten Sonntagmorgen in den Ort und betrat zeitig die Kirche, wo er sich in eine der hinteren Reihen stellte. Er spürte Costas Blick auf sich, als der Waffenmeister die Kirche betrat. Am anderen Ende der Kirche unterhielt sich Meister Fierro entspannt mit Bekannten aus dem Ort.

Jona setzte sich und betrachtete den Jesus, der am Kreuz über dem Altar hing.

Padre Vasquez hatte eine hohe, leiernde Stimme, die fast wie Bienensummen klang. Jona fiel es nicht schwer aufzustehen, wenn die anderen aufstanden, sich hinzuknien, wenn die anderen knieten, und den Mund zu bewegen, als würde er beten. Er merkte, daß er das klangvolle Latein der Messe genoß, so wie er es immer genossen hatte, Hebräisch zu hören.

Nach der Wandlung bildeten sich Schlangen vor dem Beichtstuhl und vor dem Priester, der den Leib Christi in Gestalt der Hostie verteilte. Der Anblick der Hostien verstörte Jona, denn er war aufgewachsen mit Schauergeschichten über Juden, denen vorgeworfen wurde, Hostien zu stehlen und zu besudeln.

Er schlüpfte nach draußen und hoffte, daß niemand seinen Weggang bemerkt hatte.

Als er sich von der Kirche entfernte, sah er ein gutes Stück vor sich auf der schmalen Straße die ebenfalls davoneilende Gestalt von Manuel Fierro.

Vier Sonntage hintereinander ging Jona in die Kirche.

An jedem Sonntag war auch Manuel Fierro dort. Einmal kehrten sie gemeinsam zur Schmiede zurück und unterhielten sich dabei freundschaftlich wie zwei Jungen, die von der Schule nach Hause gingen.

»Erzähl mir von dem Juden, der dir die Silberbearbeitung beigebracht hat«, sagte Fierro.

So erzählte Jona ihm von Abba, sprach dabei aber als einstiger Lehrling und nicht als Sohn. Dennoch versuchte er erst gar nicht, Stolz und Zuneigung in seiner Erzählung zu unterdrücken. »Hei-kias Toledano war ein wunderbarer Mensch und ein sehr fähiger Silberschmied. Ich hatte großes Glück, bei ihm in die Lehre gehen zu dürfen.«

Er wußte, daß er auch Glück hatte, jetzt bei Fierro in der Lehre zu sein, aber er war zu schüchtern, um dies zu sagen.

»Hatte er Söhne?«

»Zwei«, antwortete Jona. »Einer starb. Der andere war noch ein kleiner Junge. Als Toledano Spanien verließ, nahm er den Jüngeren mit sich.«

Fierro nickte und wandte sich dem Thema des Fischfangs zu, denn die Boote, die von Gibraltar ausliefen, kehrten in dieser Jahreszeit mit prall gefüllten Netzen zurück.

Nach diesem Tag begann Manuel Fierro, Jona eingehender zu beobachten. Zuerst dachte Jona, er würde sich das nur einbilden, denn der Meister war ein gütiger Mensch, der immer ein freundliches und aufmunterndes Wort für jeden seiner Untergebenen übrig hatte. Aber Fierro unterhielt sich häufiger mit ihm als früher, und ausführlicher. Es war, als prüfe er einen Anwärter für eine besondere Aufgabe, als versuche er zu entscheiden, ob Jona der Verantwortung und des Vertrauens würdig sei.

Würdig wozu, fragte sich Jona.

Auch Angel Costa beobachtete Jona sehr genau. Oft spürte er Angels Blick auf sich, und wenn Costa nicht in Sicht war, hatte er das Gefühl, von anderen beobachtet zu werden.

Einmal war er sicher, daß Luis ihm ins Dorf folgte.

Mehr als einmal kehrte Jona in seine Hütte zurück und mußte feststellen, daß seine wenigen Habseligkeiten durchwühlt worden waren. Nichts war gestohlen. Jona versuchte, seinen Besitz mit den Augen eines feindlich gesinnten Suchers zu betrachten, aber er sah nichts Belastendes in seinen wenigen Kleidungsstücken, der Gitarre, dem stählernen Becher, den er sich gemacht hatte, und dem Gebetbuch des verstorbenen Bernardo Espina, möge seine Seele in Frieden ruhen.

Manuel Fierro war seit Jahrzehnten ein erfolgreicher und einflußreicher Bürger Gibraltars. Er hatte einen großen Kreis von Freunden und Bekannten, und wenn er hin und wieder einmal abends in die Dorfschenke ging, trank er fast nie allein.

So fand er auch nichts Ungewöhnliches daran, als Jose Gripo sich eines Abends an seinen Tisch setzte und ein Glas Wein trank, ohne viel zu reden, denn er kannte Gripo seit seiner Ankunft in Gibraltar, und der Besitzer des Kramladens war noch nie sonderlich gesprächig gewesen.

Doch als Gripo ihm zuflüsterte, Manuel müsse ihn sofort im Hafen treffen, und dann seinen Wein austrank und laut eine gute Nacht wünschte, leerte Fierro einige Minuten später ebenfalls seinen Becher, lehnte einen angebotenen zweiten Becher ab und wünschte allen Anwesenden eine gute Nacht.

Während er zum Hafen ging, fragte er sich, warum Gripo wohl Angst gehabt hatte, mit ihm gemeinsam die Schenke zu verlassen.

Der Krämer erwartete ihn hinter einem Lagerschuppen auf halber Höhe des dunklen Kais. Er redete nicht lange um den heißen Brei herum.

»Man hat dich angeschwärzt, Manuel. Du hättest gut daran getan, wenn du diesen undankbaren Mistkerl schon längst entlassen und mit seinem Schwert und seinem Bogen davongejagt hättest.«

»Es war Costa?«

»Wer denn sonst? Er ist ein neidischer Mann, der niemandem seinen Wohlstand gönnt, wie wohlverdient er auch sein mag.«

Derartige Vorwürfe von Leuten, die ihren Namen nicht nannten, wurden häufig bei Autodafes vorgebracht, aber Fierro brauchte nicht zu fragen, woher Gripo seinen Beschuldiger kannte. Er wußte, daß Jose Gripo in seiner engsten Verwandtschaft ein halbes Dutzend Priester hatte, die sich in gutunterrichteten Kreisen bewegten.

»Was wirft man mir vor?«

»Er hat den Inquisitoren erzählt, daß du einen moslemischen Hexenmeister zum Lehrling hast. Er behauptete, er hätte gesehen, wie du jedes Stück, das du an einen guten Christen verkaufst, mit einem Blutfluch belegst. Und wie ich dir schon gesagt habe, es fällt auf, daß du nicht zur Messe gehst.«

»Aber in letzter Zeit habe ich sie doch besucht.«

»Das war zu spät. Du bist gebrandmarkt als Diener des Satans und als Feind der Heiligen Mutter Kirche«, sagte Gripo, und Fierro hörte eine tiefe Traurigkeit in seiner Stimme.

»Ich danke dir, Jose«, sagte er.

Er wartete in der Dunkelheit, bis Gripo den Hafen verlassen hatte, und machte sich dann auf den Rückweg zu seiner Schmiede.

Tags darauf, als sie im hellen Licht des trägen Nachmittags die Instrumente polierten, die er für seinen Bruder angefertigt hatte, erzählte er Jona von dem Gespräch. Er redete leise und ohne jede Gefühlsregung, so als würden sie den Fortgang einer Arbeit besprechen. Ohne Gripos Namen zu nennen, berichtete er, er habe erfahren, daß er von Angel Costa angeprangert worden sei.

»Wenn er mich bei den Inquisitoren angezeigt hat, bist du sicher auch angeschwärzt, und man wird dich verhaften«, sagte Fierro. »Deshalb müssen wir beide diesen Ort verlassen, und zwar schnell.«

Jona spürte, wie ihm das Blut aus den Wangen wich. »Ja, Senor.«

»Weißt du, wohin du gehen kannst?«

»Nein.«

»Was ist mit deinen Verwandten? Den beiden Männern, die dich besucht haben?«

»Das waren keine Verwandten. Es waren böse Männer. Sie sind wieder verschwunden.«

Fierro nickte. »Dann möchte ich dich um einen Gefallen bit-ten, Ramon Callico. Ich werde zu meinem Bruder Nuno Fierro gehen, dem Arzt von Saragossa. Bist du bereit, mit mir zu kommen und mein Beschützer zu sein, bis wir bei ihm sind?«

Jona versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich sagte er: »Ihr seid sehr freundlich zu mir gewesen. Ich werde mit Euch gehen und Euch dienen.«

Fierro nickte dankbar. »Dann müssen wir schleunigst unsere Abreise aus Gibraltar vorbereiten«, sagte er.

Mitten in der Nacht, während die anderen schliefen, ging Jona zum Haus des Meisters, wie es ihm aufgetragen worden war, und gemeinsam suchten sie die Dinge zusammen, die sie für die Reise brauchten. Lebensmittel und Gerätschaften für unterwegs, und für jeden feste Stiefel und Sporen und einen Brustharnisch. Ein Schwert für Jona. Ein Schwert für Fierro, bei dessen Anblick es Jona den Atem verschlug; es war nicht mit Edelsteinen besetzt oder ziseliert wie das eines Edelmanns, aber es war so prachtvoll gearbeitet, daß es seine Schönheit aus seiner vollkommenen Ausgewogenheit bezog.

Fierro wickelte jedes der chirurgischen Instrumente, die er in mühevoller Kleinarbeit für seinen Bruder angefertigt hatte, in ein weiches Tuch und legte sie in eine kleine Truhe.

Dann gingen er und Jona zum Stall und holten ein kräftiges Maultier heraus, das sie zu einem der Vorratsschuppen am anderen Ende des Grundstücks führten. Er war verschlossen, wie alle Vorratsschuppen, und Fierro öffnete die Tür mit einem Schlüssel. Die eine Hälfte des Schuppens war angefüllt mit allerlei Stahlteilen, alten und verrosteten Rüstungen und anderem Metallschrott. Die andere Hälfte war vollgestapelt mit Feuerholz, dem Brennstoff für die Esse. Der Meister hieß Jona, die Scheite beiseite zu räumen, und half auch selbst mit, und nachdem sie ein gut Teil des Stapels abgetragen hatten, kam eine kleine lederne Truhe zum Vorschein.

Sie war nicht größer als die Truhe mit den chirurgischen Instrumenten, aber als Jona sie hochhob, ächzte er überrascht, denn sie hatte ein großes Gewicht. Jetzt verstand er, wozu das Maultier nötig war.

Sie luden die Truhe auf den Rücken des Maultiers, führten es hinaus, und Fierro verschloß den Schuppen wieder.

»Ein schreiendes Muli, das alle Welt aufweckt, können wir jetzt überhaupt nicht gebrauchen«, sagte Fierro, und während Jona das Tier zum Haus des Meisters geleitete, tätschelte es Fierro und sprach ihm mit leiser Stimme gut zu. Sie schafften die Truhe ins Haus, und danach befahl der Meister Jona, das Tier wieder in den Stall zu bringen und selbst in seine Hütte zurückzukehren, was Jona auch tat. Er fiel sofort auf sein Lager, doch obwohl er sehr müde war und schlafen wollte, lag er noch lange wach in der Dunkelheit und wälzte sorgenschwere Gedanken.

Trotz all ihrer Vorsichtsmaßnahmen merkte Costa am nächsten Morgen, daß etwas nicht stimmte. Er war bei Tagesanbruch aufgestanden, um zu jagen, und hatte gesehen, daß frischer Kot auf dem Hof vor dem Stall lag, obwohl im Stall alle Tiere an ihren Plätzen standen.

»Wer hat heute nacht ein Pferd oder ein Lasttier benutzt?« fragte er beiläufig in die Runde, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten.

Paco zuckte die Achseln. »Bestimmt hat sich ein Reiter verirrt, und als er sah, daß es hier nicht mehr weitergeht, ist er den Weg zurückgeritten, den er gekommen ist.«

Costa nickte widerstrebend. Jona hatte das Gefühl, daß er, jedesmal, wenn er hochsah, seinem Blick begegnete.

Jona wartete ungeduldig auf die Abreise, doch der Meister wollte erst aufbrechen, wenn er eine letzte Angelegenheit erledigt hatte. Fierro übergab einem alten Freund, dem Bürgermeister des Dorfes, ein Päckchen, das zwei Wochen nach ihrer Abreise geöffnet werden sollte. Es enthielt Geld, das unter den Männern Fierros gemäß ihrer Dienstzeit verteilt werden sollte, und einen Brief, in dem er ihnen Werkstatt und Schmiede in ihren gemeinsamen Besitz übergab und sie ermutigte, ihre beträchtlichen Fähigkeiten zu nutzen, um mit der Herstellung von Rüstungen und anderen Gerätschaften ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

»Es ist Zeit«, sagte Fierro an diesem Abend, und Jona verspürte eine große Erleichterung. Sie warteten, bis die Nacht fast vorüber war, damit sie Tageslicht hätten, wenn sie unbekanntes Gelände erreichten. Im Stall führte Fierro sein vertrautes Reittier aus seinem Verschlag, eine schwarze Stute und, wie es hieß, das beste Pferd in seinem Besitz.

»Nimm dir den grauen Araber«, sagte er, und Jona tat freudig wie ihm geheißen. Sie sattelten beide Pferde, stellten sie dann wieder in ihre Verschlage und führten ein letztes Mal das Maultier zu Fierros Haus.

Nachdem sie sich für die Reise angekleidet und bewaffnet hatten, beluden sie das Packtier mit ihren übrigen Habseligkeiten. Dann holten sie ihre Pferde aus dem Stall und führten die drei Tiere im grauen Licht des neuen Morgens zwischen den Werkstätten und Hütten hindurch über das Grundstück.

Sie sprachen kein Wort.

Jona tat es leid, daß er sich von Paco nicht hatte verabschieden können.

Er wußte, was es hieß, ein Zuhause zu verlassen, und konnte sich deshalb gut vorstellen, wie Fierro sich fühlen mußte. Als er ein leises Stöhnen hörte, hielt er es deshalb zuerst für einen Laut des Bedauerns, doch als er sich zu dem Älteren umdrehte, sah er, daß knapp über dem Brustharnisch ein gefiederter Schaft aus der Kehle des Meisters ragte. Helles Blut quoll aus Manuel Fierros Hals und tropfte vom Harnisch auf sein Pferd.

Angel Costa stand vielleicht vierzig Schritt entfernt und hatte in dem trüben Licht einen Schuß abgegeben, der ihm ein Goldstück des Meisters eingebracht hätte, wäre es bei einem Übungsschießen gewesen.

Jona wußte, daß Angel sich zuerst Fierro vorgenommen hatte, weil er das Schwert des Meisters fürchtete. Vor Jona hatte er keine Angst, und er hatte bereits seinen Bogen weggeworfen und zog nun im Laufen sein Schwert.

Wie gelähmt vor Schreck hatte Jona im ersten Augenblick nur einen Gedanken: Spring aufs Pferd und reite davon. Doch vielleicht gab es noch etwas, das er für Fierro tun konnte.

Er hatte keine Zeit zum Überlegen, nur Zeit, sein Schwert zu ziehen und in Stellung zu gehen. Im nächsten Moment fiel Costa über ihn her, und die Klingen stießen klirrend aufeinander.

Jona hatte nur wenig Hoffnung. Immer und immer wieder hatte Costa ihn besiegt. Der Ausdruck in dessen Gesicht, Verachtung gepaart mit angespanntem Nachdenken, war ihm wohlvertraut. Costa überlegte offenbar gerade, welche Stoßfolge den Kampf am schnellsten beenden würde, und er konnte dabei aus einem Dutzend Finten wählen, die in der Vergangenheit gegen den Neuling schon erfolgreich gewesen waren.

Mit der ganzen Kraft der Verzweiflung blockierte Jona Costas Schwert, und Heft an Heft und Faust an Faust stemmten sie sich gegeneinander. Plötzlich war Jona, als würde er Mingos Stimme in seinem Kopf hören, die ihm genau sagte, was er tun mußte.

Seine linke Hand kroch zu der kleinen Scheide an seinem Gürtel und zog den Dolch.

Rammte ihn Costa in den Leib. Riß ihn nach oben.

Starr vor Verblüffung starrten sie sich an, denn beide wußten, daß es eigentlich nicht so hätte enden sollen. Dann sackte Costa zusammen.

Fierro war tot, als Jona zu ihm zurückkehrte. Er versuchte, den Pfeil herauszuziehen, aber er steckte zu tief, und die Spitze ver-hakte sich, und so brach er ihn knapp über dem blutigen Hals ab.

Jona konnte nicht zulassen, daß Fierro gefunden würde, denn er wußte, daß der Leichnam verurteilt und als letzte Entehrung auf dem nächsten Autodafe zusammen mit den lebenden Opfern verbrannt werden würde.

Er hob den Meister vom Boden auf und trug ihn ein gutes Stück vom Pfad weg. Dann hackte er mit seinem Schwert den sandigen Boden auf und schaufelte mit bloßen Händen die gelockerte Erde heraus, bis ein flaches Grab entstanden war.

Das Erdreich war voller Steine und kleiner Felsbrocken, die das Schwert ruinierten und es als Waffe unbrauchbar machten. Er tauschte es gegen Fierros wunderbar gearbeitetes Schwert aus. Die silbernen Sporen ließ er an den Stiefeln des Meisters, nahm aber seine Geldbörse und zog ihm die Kordel vom Hals, an der die Schlüssel zu den Truhen hingen.

Zum Schutz gegen wilde Tiere bedeckte er Fierros Leiche sorgfältig mit schweren Steinen und schaufelte dann einen Fuß tief Erde darüber, die er wiederum mit Steinen und Zweigen und einem kleinen Felsbrocken bedeckte, bis das Grab vom Weg aus nicht mehr zu erkennen war.

Auf Costa hatten sich bereits ein paar Fliegen niedergelassen, und schon bald würde es ein ganzer Schwarm sein, aber nachdem Jona sich versichert hatte, daß Costa tot war, ließ er ihn im Staub liegen.

Schließlich floh er von diesem Ort. Auf seinem grauen Araber, Fierros schwarze Stute und das Packtier im Schlepptau, ritt er in forschem Trab durch das milde Licht des frühen Morgens. Auch nachdem er die Landenge zwischen Gibraltar und dem Festland überquert hatte, verlangsamte er sein Tempo nicht, und an der geplünderten Ruhestätte des Pilgerheiligen ritt er vorbei, ohne einen Blick darauf zu werfen. Stunden später, als die Sonne hoch am Himmel stand, befand er sich bereits wieder in der men-schenleeren Sicherheit des Hochgebirges, und eine Weile weinte er im Reiten wie ein Kind um Fierro, denn sein Herz war voll der Trauer. Aber da war auch noch ein anderes Gefühl. Er hatte zwei Männer in den Tod geschickt und einem dritten mit eigenen Händen das Leben genommen, und was er dadurch verloren hatte, wog schwerer als alle Lasten, die das Maultier trug.

Als er sicher war, daß er nicht verfolgt wurde, beschloß er, die Tiere zu schonen, und ließ sie im Schritt über die schmalen Ge-birgspfade gehen, denen er fünf Tage lang nach Osten folgte. Dann wandte er sich nach Nordosten, blieb aber weiterhin im Schutz der Hügel, bis er sich Murcia näherte.

Die lederne Truhe öffnete er nur einmal. Dem Gewicht nach konnte sie nur eins enthalten, und so war der Anblick der Goldmünzen nichts als eine Bestätigung für Jona, daß die Truhe das Vermögen barg, das sich der Meister in zwei Jahrzehnten der Herstellung erstklassiger Wehr für die Reichen und Mächtigen erarbeitet hatte. Es waren Mittel, die Jona nicht als die eigenen betrachtete, und so verschloß er die Truhe wieder, ohne die Münzen anzurühren, und steckte sie in ihren großen Leinensack zurück. Fierro hatte ihm den Schatz in seine Verantwortung übergeben.

Haare und Bart wurden ihm schnell wieder wild und struppig, und Sporen und Brustharnisch setzten im taufeuchten Gras, auf dem er nachts schlief, Rost an. Zweimal hielt er, um Vorräte zu kaufen, in entlegenen Dörfern an, die ihm sicher erschienen, doch ansonsten mied er jede Begegnung mit Menschen. Im Grunde genommen aber konnte er sich in Sicherheit wiegen, denn er war das Ebenbild eines mordlüsternen Raubritters, der mit seinem prächtigen Schwert, den kriegstauglichen Pferden und seiner furchterregenden Erscheinung weder zum Angriff noch zum höflichen Gespräch einlud.

Hinter Murcia wandte er sich nach Norden und ritt durch Valencia und nach Aragon hinein.

Gibraltar hatte er am Ende des Sommers verlassen. Jetzt wurden die Tage kühler, und die Nächte waren kalt. Von einem Schäfer kaufte er sich eine Decke aus Schaffellen, in die er sich zum Schlafen einwickelte. Zum Waschen war es zu kalt, und die schlecht gegerbten Tierhäute verstärkten seinen Gestank noch.

Er war zerschlagen von den Anstrengungen der Reise, als er schließlich eines Morgens Saragossa erreichte.

»Kennt Ihr den Medicus dieser Stadt? Einen Mann namens Fierro?« fragte er einen Mann, der auf der plaza mayor Holz auf einen Eselskarren lud.

»Ja, natürlich«, sagte der Mann und musterte ihn furchtsam. Jona wurde zurückgeschickt vor die Tore der Stadt, zu einem kleinen, abgelegenen Gehöft, an dessen Zufahrt er bereits unwissentlich vorbeigeritten war. Ein Stall war an die hacienda angebaut, aber bis auf ein Pferd, das die spärlichen, winterlich braunen Grashalme abweidete, war kein Tier zu sehen.

Eine Frau antwortete auf sein Klopfen. Der Duft frisch gebackenen Brotes strömte aus der Tür, die sie nur einen Spaltbreit öffnete, so daß Jona nicht mehr von ihr sah als die Hälfte eines freundlich bäuerlichen Gesichts, die Rundung einer Schulter, die Wölbung einer Brust. »Ihr wollt zum Arzt?«

»Ja.«

Nuno Fierro war ein Mann mit schütteren Haaren, einem dicken Bauch und ruhigem, nach innen gewandtem Blick. Obwohl der Himmel bedeckt war, kniff er die Augen zusammen, als würde er in die Sonne schauen. Er war älter als sein Bruder Manuel. Seine Nase war gerade, und auch ansonsten hatte er wenig Ähnlichkeit mit dem Waffenschmied, der lebenssprühender und kerniger gewesen war. Erst als er dann das Haus verließ und Jona genauer hinsah, kam ihm doch einiges bekannt vor - die Art, wie er den Kopf hielt, der Gang, die Mienen, die über sein Gesicht huschten.

Stumm und betroffen stand er da, als Jona ihm vom Ableben seines Bruders berichtete.

»Ein natürlicher Tod?« fragte er schließlich.

»Nein. Er wurde getötet.«

»Ermordet, sagt Ihr?«

»Ja, ermordet... und beraubt«, fügte Jona unvermittelt hinzu. Es lag kein Vorbedacht in der Entscheidung, diesem Mann das Geld seines Bruders nicht zu geben, sondern nur das plötzliche, blendende Wissen, daß er es nicht tun würde. Er ging zu seinem Esel und band den Sack mit den chirurgischen Instrumenten los.

Nuno Fierro öffnete die Truhe und strich über die Skalpelle, Sonden und Klammern.

»Er hat jedes einzelne Stück selbst angefertigt. Mich hat er ein paar polieren lassen, aber gemacht hat er sie alle selbst.«

Zärtlich und versunken in seiner Trauer berührte der Arzt diese wenigen Dinge, die sein Bruder für ihn angefertigt hatte. Dann sah er Jona an. Und bemerkte offenbar die Spuren, die der lange Ritt hinterlassen hatte. Wahrscheinlich, dachte Jona, riecht er mich auch.

»Ihr müßt ins Haus kommen.«

»Nein.«

»Aber Ihr müßt...«

»Nein, vielen Dank. Ich wünsche Euch alles Gute«, sagte Jona barsch, ging zu seinem Araber und schwang sich in den Sattel.

Er zwang sich, die Tiere im Schritt gehen zu lassen, während Nuno Fierro im Staub stand und ihm verwundert nachblickte.

Jona ritt weiter nach Norden, ohne recht zu wissen, wohin.

Der Arzt war ein alter Mann, sagte er sich, und ganz offensichtlich wohlhabend. Er hatte das Vermögen seines Bruders nicht nötig.

Im selben Moment erkannte Jona, daß er, ohne sich je der Versuchung bewußt gewesen zu sein, schon lange über das Geld nachgedacht hatte. Er hatte begriffen, daß dieser Schatz ihn aller Sorgen entheben würde.

Warum nicht? Offensichtlich hatte Gott ihm dieses Gold geschickt. Der Unergründliche hatte ihm eine himmlische Botschaft gesandt, eine Botschaft der Hoffnung.

Nach einer Weile im Sattel, der sich inzwischen anfühlte wie eine zweite Haut auf seinem Hintern, wurde ihm schwindlig von dem Gedanken an die Möglichkeiten, die ihm das Gold eröffnete, von den Überlegungen, wohin er sich wenden wollte, um sich damit ein neues Leben zu erkaufen.

Froh darüber, bald wieder in der tröstenden Sicherheit der Berge zu sein, ritt er durch ein Vorgebirge, doch in dieser Nacht fand er keinen Schlaf. Eine dünne Mondsichel stand am Himmel und dieselben Sterne, die ihn beschienen hatten, als er noch Schäfer war. Auf einer Lichtung auf einem bewaldeten Hügel machte er ein Feuer und saß dann da und starrte in die Flammen, in denen er viele Dinge sah.

Das Geld bedeutete Macht.

Das Geld würde ihm ein gewisses Maß an Sicherheit erkaufen. Ein wenig Schutz.

Doch im kühlen Licht des frühen Morgens stand er auf und scharrte, leise fluchend wie ein peon, Erde über die Überreste seines Feuers.

Langsam ritt er nach Saragossa zurück.

Nuno Fierro öffnete die Tür der hacienda, als Jona eben die Truhe mit den Münzen aus dem Leinensack zog. Jona stellte sie vor ihn hin, nahm sein Schwert ab und legte es auf die Truhe.

»Dies gehörte ebenfalls ihm, und die Tiere«, sagte er feierlich.

Die klugen Fierro-Augen sahen ihn an und begriffen alles.

»Habt Ihr ihn getötet?«

»Nein, nein!«

Das Entsetzen dieses jungen Mannes war echt, das erkannte Fierro sofort.

»Ich habe ihn geliebt. Er war... der Meister. Er war gut und gerecht. Viele haben ihn geliebt.«

Der alte Medicus von Saragossa hielt Jona die Tür weit auf. »Kommt herein«, sagte er.

8. KAPITEL BÜCHER

Es fiel Jona zwar nicht leicht, dennoch berichtete er, bevor er sich wusch und zur Ruhe legte, Nuno ausführlich von dem Morgen, an dem Manuel Fierro mit Angels Pfeil im Hals gestorben war und er daraufhin Angel getötet hatte. Nuno hörte mit geschlossenen Augen zu. Es waren Nachrichten, die ihm das Herz schwermachten, und als Jona geendet hatte, nickte er nur und ging davon, um allein zu sein.

Nuno Fierros Haushälterin war still und wachsam, eine kräftige Frau von vielleicht vierzig Jahren - älter, als Jona nach seinem ersten flüchtigen Blick durch den Türspalt vermutet hätte. Ihr Name war Reyna Fadique. Sie kochte gut und erhitzte ihm ohne Murren sein Badewasser, und eineinhalb Tage lang tat er nichts anderes als schlafen, und wenn er aufwachte, dann aß er und entleerte sich und schlief gleich wieder ein.

Am Nachmittag des zweiten Tages verließ er sein Lager und fand seine Kleidung frisch gewaschen vor. Er zog sich an und ging nach draußen, und als Nuno Fierro ihn suchte, kniete er am Bach und sah den kleinen Forellen zu, die durchs Wasser flitzten.

Jona dankte ihm für seine Gastfreundschaft. »Ich bin ausgeruht und bereit für die Weiterreise«, sagte er und wartete verlegen. Er hatte nicht genug Geld, um für das graue Pferd ein angemessenes Angebot zu machen, aber er hoffte, wenigstens das Maultier kaufen zu können.

»Ich habe die Ledertruhe geöffnet«, sagte der Arzt.

Etwas in der Stimme des Mannes ließ Jona aufschauen. »Sieht es aus, als würde etwas fehlen?«

»Im Gegenteil. Ich habe etwas gefunden, das ich dort nicht erwartet habe.« Nuno Fierro hielt ein kleines Stück Papier in die Höhe, das aussah, als wäre es aus einem größeren Bogen herausgerissen worden. Darauf stand, mit Tinte geschrieben, an der noch einige Körner Löschsand klebten: Ich glaube, daß der Überbringer ein Neuer Christ ist.

Jona war verblüfft. So hatte es also zumindest einen Mann gegeben, den er mit seinem falschen Namen und seinem christlichen Gehabe nicht hatte täuschen können. Der Meister hatte ihn natürlich für einen Konvertiten gehalten, aber er hatte erkannt, daß Jona jüdischer Abstammung war. Die Nachricht bewies, daß er überzeugt gewesen war, Jona würde, im Fall seines Ablebens, sein Vermögen seinem Bruder überbringen. Ein Vertrauensbeweis aus dem Grabe heraus, und einer, der beinahe nicht gerechtfertigt gewesen wäre.

Aber Jona war auch enttäuscht, weil Manuel Fierro es für nötig erachtet hatte, seinen Bruder vor diesem jüdischen Besucher zu warnen.

Nuno Fierro sah die Verwirrung in seinem Gesicht. »Bitte, kommt mit mir.«

In seinem Arbeitszimmer nahm Nuno einen Teppich von der Wand, hinter dem sich eine Nische verbarg. In der Nische lagen zwei sorgfältig in Leinentücher gewickelte und mit Bändern verschnürte Gegenstände. Zwei Bücher, wie sich nach dem Auspacken zeigte.

In Hebräisch.

»Ich bin bei Juan de Gabriel Montesa, einem der berühmtesten Ärzte Spaniens, in die Lehre gegangen und hatte danach die Ehre, gemeinsam mit ihm die Heilkunst auszuüben. Er war Jude und hatte einen Bruder an die Inquisition verloren. Dank der

Gnade Gottes starb er selbst eines natürlichen Todes, als sehr alter Mann in seinem Bett, gerade zwei Monate vor dem Vertreibungsedikt.

Zur Zeit der Vertreibung verfügten seine zwei Kinder und seine Schwester über kaum genug Mittel für eine sichere Reise. Ich habe ihnen dieses Haus und das Land abgekauft, und auch diese beiden Bücher. Soweit ich weiß, ist das eine ein Kommentar zu den medizinischen Aphorismen des Hippokrates von Maimo-nides, den Euer Volk Mose ben Maimon nennt, und das andere ist der Kanon der Medizin von Avicenna, bei den Mauren Ibn Sina. Ich hatte meinem Bruder geschrieben, daß ich diese Bücher besitze und daß ich sehr gerne ihre Geheimnisse enträtseln würde. Und jetzt hat er mir einen Neuen Christen geschickt.«

Jona nahm eins der Bücher zur Hand, und seine Augen wanderten über die Schriftzeichen, die er so lange nicht gesehen hatte. Sie erschienen ihm fremd und unvertraut, und in seiner freudigen Erregung war es ihm, als würden sie sich in zuckende Schlangen verwandeln.

»Habt Ihr noch andere Bücher von Maimonides?« fragte er heiser. Was würde ich geben für ein Exemplar des Mischne Tora, dachte er. Abba hatte dieses Buch besessen, in dem Maimonides den jüdischen Glauben in seiner Gesamtheit darlegte und all das beschrieb, was Jona verloren hatte.

Leider schüttelte Nuno Fierro den Kopf.

»Nein, es gab noch mehrere andere Bücher, aber die nahmen Gabriel Montesas Söhne bei ihrer Abreise mit.« Er sah Jona neugierig an. »Seid Ihr in der Lage, diese zu übersetzen?«

Jona starrte die Seite an. Die Schlangen wurden wieder zu den geliebten Schriftzeichen, aber... »Ich weiß es nicht«, sagte er zweifelnd. »Früher beherrschte ich die hebräische Sprache fließend, aber ich habe sie seit langer Zeit nicht mehr gelesen und auch sonst kaum benutzt.« Vier lange Jahre.

»Wollt Ihr bei mir bleiben und es versuchen?«

Jona war überwältigt von diesem Wiedersehen mit der Sprache seines Vaters.

»Eine Weile will ich bleiben«, sagte er.

Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er mit dem Maimonides begonnen, denn das Buch war schon sehr alt und die Seiten trocken und brüchig, aber Nuno Fierro war neugierig auf den Avicenna, und so fing Jona mit diesem Buch an.

Anfangs war er unsicher, ob er die Übersetzung schaffen würde. Aber er arbeitete sehr bedächtig, Wort für Wort, Gedanke um Gedanke, und allmählich wurden die Zeichen, die ihm einst so vertraut gewesen waren, aufs neue vertraut.

»Und? Was meint Ihr?« fragte der Arzt nach dem ersten Tag.

Jona konnte nur die Achseln zucken.

Die hebräischen Schriftzeichen weckten Erinnerungen an die Lehrstunden seines Vaters, wie er ihm die Bedeutung der Worte erklärt hatte und was sie aussagten über die Beziehung des Menschen zu anderen Menschen, zu Gott und zur Welt.

Er erinnerte sich an den Klang zittriger alter Stimmen und kräftiger junger Stimmen, die zusammenfanden zu heiserem Gesang, zu Liedern der Freude und den traurigen Tönen des Kaddisch. Teile des Gottesdienstes, Bruchstücke von Versen, die er für immer verloren geglaubt hatte, stiegen aus den Tiefen seines Gedächtnisses auf wie Samen, die der Wind aus den Blüten bläst. Die hebräischen Worte, die er übersetzte, sprachen von Kiefersperre und Rippenfellentzündung und Mitteln zur Schmerzlinderung, und doch brachten sie ihm Gesang und Poesie und Inbrunst zurück, die er in der Roheit seines Erwachsenwerdens verloren hatte.

Einige Wörter kannte er einfach nicht, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als den hebräischen Begriff in den spanischen Satz aufzunehmen. Aber früher hatte er diese Sprache sehr gut beherrscht, und langsam kehrte sie wieder zurück.

Nuno Fierro drückte sich neugierig in Jonas Nähe herum.

»Wie geht es voran?« fragte er jeden Abend. »Allmählich mache ich Fortschritte«, konnte Jona ihm schließlich sagen.

Nuno Fierro war ein ehrlicher Mann und beeilte sich deshalb, Jona zu sagen, daß Saragossa für Juden früher ein sehr gefährlicher Ort gewesen war.

»Die Inquisition kam bald und mit großer Unbarmherzigkeit«, sagte er.

Im Mai 1484 hatte Torquemada zwei Inquisitoren für Saragossa ernannt. Die beiden Geistlichen waren so versessen darauf, widerspenstige Juden aufzuspüren und hinzurichten, daß sie ihr erstes Autodafe abhielten, ohne zuvor das Gnadenedikt ausgegeben zu haben, das es abtrünnigen Neuen Christen eigentlich ermöglichen sollte, ein freiwilliges Geständnis abzulegen und dadurch Milde zu erreichen. Am 3. Juni standen die ersten Konvertierten auf dem Scheiterhaufen, und die Leiche einer Frau wurde aus ihrem Grab geholt und ebenfalls verbrannt.

»Damals lebten in Saragossa gute Männer, Mitglieder der Di-putacion de Aragon, des Ständerats, die darüber empört waren. Sie wandten sich an den König und behaupteten, Torquemadas Ernennungen und Hinrichtungen seien ungesetzlich und die Beschlagnahme jüdischen Eigentums verletze die fueros, die Gesetze des Königreichs Aragon. Sie hatten nichts gegen Ketzereiprozesse einzuwenden«, sagte Nuno Fierro, »forderten aber, die Inquisition müsse sich bemühen, Sünder mit den Mitteln der Unterweisung und Ermahnung in den Schoß der Heiligen Mutter Kirche zurückzuführen. Sie wehrten sich dagegen, daß gute und gläubige Männer verleumdet wurden, und taten die Meinung kund, daß es in Aragon keine unbelehrbaren Ketzer gebe.«

Ferdinand hatte die Räte barsch abgefertigt. »Er sagte, wenn es in Aragon so wenig Ketzer gebe, warum belästigten sie ihn dann mit ihrer Angst vor der Inquisition?«

Am Abend des 16. September 1485 wurde Pedro Arbues, einer der Inquisitoren, während eines Gebetes in der Kathedrale ermordet. Es gab keine Zeugen für das Verbrechen, aber die Behörden gingen sofort davon aus, daß er von Neuen Christen getötet worden war. Wie schon zuvor bei angeblichen Konvertitenauf-ständen in anderen Städten wurde der Führer der Neuen Christen Saragossas unverzüglich verhaftet. Er war ein hochangesehener, betagter Rechtsgelehrter, Jaime de Montesa, der Stellvertreter des Obersten Richters der Stadt.

Eine Anzahl seiner Bekannten wurde ebenfalls verhaftet, alles Männer, die tief im christlichen Leben verwurzelt waren, Väter und Brüder von Mönchen, deren Vorfahren Konvertiten gewesen waren. Dazu gehörten auch Männer in hohen Ämtern der Regierung und des Wirtschaftslebens, von denen einige wegen ihrer Verdienste sogar zum Ritter geschlagen worden waren. Einer nach dem anderen wurden sie zu judio mamas erklärt, zu Christen also, die »eigentlich Juden« waren. Unter entsetzlichen Folterqualen gestanden schließlich einige, daß es eine Verschwörung gegeben habe. Im Dezember 1485 wurden zwei weitere Konvertiten auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und ab Februar 1486 gab es in Saragossa allmonatlich ein Autodafe.

»Ihr seht also, daß Ihr vorsichtig sein müßt. Sehr vorsichtig«, schärfte Fierro Jona ein. »Ist Ramon Callico Euer wirklicher Name?«

»Nein. Ich werde als Jude unter meinem wirklichen Namen gesucht.«

Nuno Fierro zuckte zusammen. »Verratet mir Euren wirklichen Namen lieber nicht«, sagte er schnell. »Falls man uns fragen sollte, sagen wir einfach, Ihr seid Ramon Callico, ein Alter Christ aus Gibraltar und der Neffe der Frau meines verstorbenen Bruders.«

Was sie beschlossen hatten, erwies sich als nicht sehr schwer zu bewerkstelligen. Jona sah weder Soldaten noch Priester. Er blieb immer in der Nähe des Hauses, das der jüdische Arzt Juan de

Gabriel Montesa an weiser Stelle erbaut hatte - in einiger Entfernung von der Stadt und so weit weg von der Straße, daß nur diejenigen, die einen Arzt brauchten, den Weg auf sich nahmen.

Fierros Grundbesitz umfaßte drei Seiten eines langen, sanft ansteigenden Hügels. Immer wenn die Erschöpfung die Schriftzeichen wieder in Schlangen verwandelte und Jona nicht länger übersetzen konnte, ließ er die Bücher liegen und schlenderte über die Felder. Einiges wies darauf hin, daß hier früher eine ertragreiche Landwirtschaft betrieben worden war, doch es war auch offensichtlich, daß Nuno kein guter Bauer war. Es gab einen Olivenhain und einen kleinen Obstgarten, beide mit gesunden Bäumen, die aber dringend einen Beschnitt nötig hatten, und als der gute peon, der er einmal gewesen war, suchte Jona sich im Stall eine kleine Säge, mit der er einige Bäume stutzte. Die abgeschnittenen Zweige trug er auf einem Haufen zusammen und verbrannte sie, wie er es auf den Höfen seiner früheren Dienstherren getan hatte. Hinter dem Stall befand sich eine Grube mit Pferdemist und Streu aus dem Stall, und Jona schüttete die Asche der Holzfeuer darüber und verteilte dann die Mischung unter einem halben Dutzend der Bäume.

Über die Hügelkuppe und auf der nördlichen Flanke erstreckte sich ein unbestelltes Stück Land, das Reyna den Ort der Verlorenen nannte. Es war ein unbezeichnetes Gräberfeld für all jene Unglücklichen, die sich das Leben genommen hatten, denn die Kirche behauptete, Selbstmord sei eine Sünde, und verwehrte ihnen die Beerdigung in christlich geweihter Erde.

Direkt hinter der hacienda, stieg die südliche Flanke des Hügels an, der beste Teil des Besitzes, mit tiefer, fetter Krume und viel Sonnenschein. Reyna bestellte einen kleinen Küchengarten, aber der Rest war verwildert und von Unkraut und Gestrüpp überwuchert. Jona sah sofort, daß dieses Land, wenn es nur ernsthaft bearbeitet würde, viele Möglichkeiten böte.

Jona wußte nicht so recht, wie lange er bleiben sollte, aber die Wiederentdeckung der hebräischen Sprache fesselte ihn, und im Lauf der Wochen hatte er sich auch wieder daran gewöhnt, in einem Haus zu wohnen. Es war ein Haus voller Koch- und Backdüfte und der Wärme von einem großen Kamin. Jona sorgte dafür, daß die Holzkiste immer gefüllt war, wofür Reyna ihm dankbar war, denn dies war eine ihrer vielen Pflichten gewesen. Das Erdgeschoß bestand nur aus einem großen Raum, in dem gekocht und gegessen wurde, mit zwei bequemen Sesseln vor dem Kamin. Jonas Strohlager befand sich im Obergeschoß in einem kleinen Lagerraum zwischen dem großen Schlafzimmer Fierros und Reynas kleinerer Kammer, die beide ein Bett enthielten.

Die Wände waren dünn. Er hörte Reyna nie beten, aber beide waren sich bewußt, daß der andere ihn hören konnte, wenn er in den Nachttopf pinkelte. Einmal hörte Jona sie leise seufzen und gähnen, als sie sich ins Bett legte, und er konnte sich vorstellen, wie sie sich streckte und die Zeit ihrer Muße genoß. Tagsüber betrachtete er sie verstohlen, achtete aber darauf, daß er dabei nicht beobachtet wurde, denn er wußte von Anfang an, daß Reyna bereits vergeben war.

Wenn er nachts im Dunkeln lag, hörte er des öfteren, wie ihre Tür aufging und sie in Nunos Zimmer schlich und die Tür hinter sich schloß. Manchmal hörte er die gedämpften Geräusche ihres Liebesspiels.

Schön für dich, Arzt! dachte er dann, gefangen im Kerker seiner unerlösten Lenden.

Ihm fiel auf, daß Nuno und Reyna sich tagsüber verhielten wie Herr und Magd, zwar freundlich zueinander, aber ohne jede Vertraulichkeit.

Zum geschlechtlichen Verkehr zwischen den beiden kam es seltener, als Jona erwartet hätte. Offensichtlich waren Nuno Fierros Bedürfnisse nicht mehr so drängend. Jona war ein Mensch, der auf Verhaltensmuster achtete, und so fiel ihm schon sehr bald auf, daß Nuno hin und wieder nach dem Nachtmahl zu Reyna sagte, er wolle am nächsten Tag geschmortes Geflügel essen, und sie dann den Kopf senkte. In solchen Nächten ging sie immer in Nunos Zimmer. Bald war es so, daß Jona, immer wenn er diese Geheimbotschaft hörte, erst einschlafen konnte, wenn er mitbekam, daß sie in Nunos Zimmer ging.

Daß Nuno nicht auf der Höhe war, bemerkte Jona zum ersten Mal, als er eines Nachmittags den kleinen Tisch, an dem er übersetzte, verließ und den Arzt still auf den Stufen der Treppe sitzen sah. Fierro war blaß und atmete schwer.

»Senor, kann ich Euch helfen?« fragte Jona und eilte zu ihm, doch Nuno schüttelte den Kopf und hob die Hand.

»Ich bitte Euch, laßt mich.«

So nickte Jona nur und kehrte zu seinem Tisch zurück. Kurz darauf hörte er Fierro aufstehen und in sein Zimmer gehen.

Einige Tage später kam abends ein böiger Wind auf, und ein heftiger, anhaltender Regen setzte ein, der eine lange Dürre beendete. In der Dunkelheit kurz vor Tagesanbruch wurden alle drei von einem Hämmern an der Tür geweckt. Eine Männerstimme rief laut nach Senor Fierro.

Reyna eilte nach unten und rief durch die geschlossene Tür: »Ja, ja. Was ist denn?«

»Mein Name ist Ricardo Cabrera. Bitte, wir brauchen den Senor. Mein Vater ist bös gestürzt.«

»Ich komme schon«, rief Nuno vom Treppenabsatz her.

Reyna öffnete die Tür nur einen Spalt, denn sie war im Nachtgewand. »Wo liegt denn Euer Hof?«

»An der Straße nach Tauste.«

»Aber das liegt ja am anderen Ufer des Ebro!«

»Ich konnte ihn ohne Schwierigkeiten überqueren«, erwiderte der Mann flehend.

Nun hörte Jona zum ersten Mal und mit Befremden, wie die Dienstmagd mit Nuno Fierro stritt, als wären die beiden Mann und Frau. »Leg nicht so seelenruhig Arzneien und Instrumente in deine Tasche! Es ist zu weit weg, und am anderen Ufer. In so einer Nacht kannst du nicht hinaus!«

Kurz darauf klopfte es an Jonas Tür. Reyna kam in seine Kammer und baute sich in der Dunkelheit vor seinem Lager auf. »Er ist nicht bei Kräften. Geht mit ihm und helft ihm. Seht zu, daß er wohlbehalten zurückkehrt.«

Nuno war nicht so frisch und wohlgemut, wie er vorgegeben hatte, und er schien erleichtert zu sein, als Jona seine Kleidung überwarf und nach unten kam.

»Warum nehmt Ihr nicht eins von Eures Bruders Pferden?« fragte Jona, aber der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich habe mein eigenes Pferd, das den Ebro schon oftmals durchquert hat«, erwiderte er.

So sattelte Jona Nunos Braunen und für sich den grauen Araber, und dann folgten sie dem zottigen kleinen Pferd des Bauern durch den strömenden Regen. Aus dem Bach war ein kleiner Fluß geworden, und überall war Wasserrauschen zu hören, während sie durch den Schlamm trotteten. Jona hielt Nunos Tasche, damit der die Zügel mit beiden Händen packen konnte.

Als sie den Fluß erreichten, waren sie naß bis auf die Haut. In einem Wolkenbruch wie diesem gab es keine ruhige und flache Furt mehr. Das Wasser reichte ihnen bis über die Steigbügel, als sie den Ebro durchquerten, aber selbst das kleine Tier des Bauern schaffte es unbeschadet ans andere Ufer. Triefnaß und durchgefroren kamen sie auf dem Hof an. Sich um ihr eigenes Wohl zu kümmern, blieb ihnen allerdings keine Zeit.

Pascual Cabrera lag im Stall auf dem Boden, während seine Frau sich beeilte, die Tiere der Neuankömmlinge mit Heu zu füttern. Er stöhnte, als Nuno sich über ihn beugte.

»Ich bin von den hohen Felsen auf unserer Weide gefallen«, flüsterte er. Das Atmen schien ihm schwerzufallen, und so übernahm seine Frau das Reden.

»Ein Wolf macht die Gegend unsicher und hat uns vor vierzehn Tagen ein Mutterschaf gerissen. Ricardo hat Fallen aufgestellt und wird das Untier auch irgendwann zur Strecke bringen, aber bis es soweit ist, holen wir unsere Schafe und Ziegen jeden Abend in den Stall. Mein Mann hatte schon alle drinnen bis auf diese verdammte Ziege«, sagte sie und deutete auf eine schwarze cabra, die in der Nähe Heu mampfte. »Sie war auf einen felsigen Hügel in einem Winkel unserer Weide geklettert. Die Ziegen steigen gern hinauf, und sie wollte nicht mehr herunterkommen.«

Ihr Mann flüsterte etwas mit schwacher Stimme, und Nuno bat ihn, es zu wiederholen.

»... Die cabra... unser bestes Milchtier.«

»Eben«, ergänzte seine Frau. »Also ist er auf die Felsen geklettert, um sie zu holen, und sie ist heruntergestiegen und sofort in den Stall gelaufen. Aber die Felsen waren glitschig vom Regen, und da ist Pascual ausgerutscht. Und abgestürzt. Eine ganze Weile lag er da draußen, bis er es schaffte, sich in den Stall zu schleppen. Ich habe ihm dann die Kleider ausgezogen und ihn mit einer Decke zugedeckt, aber abtrocknen wollte er sich von mir nicht lassen, wegen der Schmerzen.«

Jona sah nun einen ganz anderen Nuno, als er ihn bis jetzt gekannt hatte. Der Arzt handelte flink und selbstsicher. Er zog die Decke weg und bat Jona, ihm mit einer der beiden Laternen zu leuchten. Unter den sanften Blicken von zwei Ochsen in ihren Verschlagen tastete er behutsam den Körper des Mannes ab, um das Ausmaß der Verletzungen festzustellen.

»Ihr habt Euch mehrere Rippen gebrochen. Und vielleicht einen Knochen in Eurem Arm«, sagte Nuno schließlich. Er umwickelte den Oberkörper des stöhnenden Mannes straff mit Leinenbinden, und schon bald seufzte Senor Cabrera erleichtert auf, denn er spürte, wie der Schmerz nachließ.

»Oh, das ist schon besser«, hauchte er.

»Euer Arm muß auch versorgt werden«, sagte Nuno, und während er einen Stützverband anlegte, trug er Jona und Ricardo auf, die Decke an den beiden langen, dünnen Stangen zu befestigen, die in einer Ecke des Stalls lehnten. Dann hoben sie Cabrera auf diese Trage und brachten ihn zu seinem Bett.

Erst nachdem Nuno der Senora ein Pulver für einen Aufguß gegeben hatte, der ihrem Gatten das Einschlafen erleichtern würde, konnten sie wieder aufbrechen. Es nieselte noch, als sie sich auf den Heimritt machten, aber der Sturm hatte sich gelegt, und der Fluß war ruhiger. Es hörte ganz auf zu regnen, bevor sie zu Hause ankamen, und ein sonnenheller Morgen breitete sich über den Himmel aus. Im Haus wartete Reyna mit einem prasselnden Feuer und heißem Wein auf sie und machte sich sofort daran, Wasser für das Bad des Arztes zu erhitzen.

Im Halbdunkel seiner Kammer rieb ein zitternder Jona seinen kalten Körper mit grobem Sacktuch trocken. Nachdenklich lauschte er dem besorgten Schelten der Frau, das sanft und eindringlich wie das Gurren einer Taube zu ihm heraufdrang.

Als Nuno ihn ein paar Tage später bat, wieder mit ihm einen Patienten aufzusuchen, war Jona gern dazu bereit. In der folgenden Woche machten sie sieben Krankenbesuche, und bald war es selbstverständlich, daß Jona den Arzt begleitete.

Bei einem Krankenbesuch bei einer Frau, die mit hohem Fieber und Schüttelfrost darniederlag, ergab es sich, daß Jona Neues über das Schicksal der spanischen Juden erfuhr, die nach Portugal geflohen waren. Während Nuno sich um die fiebernde Frau kümmerte, saß ihr Gatte, ein Webwarenhändler, dessen Geschäfte ihn oft nach Lissabon führten, mit Jona zusammen und erzählte von Portugal und seinen Speisen und Weinen.

»In jeder Stadt hat Portugal Probleme mit seinen verdammten Juden«, sagte er.

»Ich habe gehört, daß sie zu Sklaven des Staates erklärt wurden.«

»Sie waren Sklaven, bis Emanuel den portugiesischen Thron bestieg und ihnen die Freiheit zurückgab. Doch als er dann um die Hand der jungen Isabella anhielt, der Tochter unseres Ferdinands und unserer Isabella, tadelten unsere spanischen Monarchen ihn wegen seines allzu weichen Herzens. Nun war Emanuel in Schwierigkeiten, denn einerseits wollte er das Judentum in seinem Reich ausrotten, andererseits aber konnte er es sich nicht leisten, die Juden zu verlieren, denn sie haben in Geschäftsdingen eine verflucht glückliche Hand.«

»Das habe ich schon gehört«, sagte Jona. »Stimmt es denn wirklich?«

»O ja. Ich weiß, daß es in meinem eigenen Webwarengewerbe wie auch in vielen anderen so ist. Auf jeden Fall wurden auf Ema-nuels Befehl hin alle jüdischen Kinder zwischen vier und vierzehn Jahren zwangsweise getauft. Etwa siebenhundert dieser frisch getauften Kinder wurden auf die Insel San Tomas vor der Küste Afrikas geschickt, damit sie dort ein christliches Leben führten, doch die allermeisten starben sehr schnell am Fieber. Alle anderen Kinder durften jedoch bei ihren Familien bleiben, und die jüdischen Erwachsenen hatten die Wahl, entweder Katholiken zu werden oder das Land zu verlassen. Wie in Spanien konvertierten einige, doch unserer Erfahrung nach ist es zweifelhaft, ob ein Mann, der judio mamas, eigentlich ein Jude, war, je ein guter und ehrlicher Christ wird, oder?«

»Wohin sind die anderen gegangen?« fragte Jona.

»Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal, solange sie nie wieder zu uns zurückkehren«, sagte der Händler, doch dann lenkte ein Aufstöhnen seiner Frau ihn ab und rief ihn an ihre Seite.

Eines Tages führten zwei Totengräber einen Esel mit einer schlaff über dem Rücken des Tiers hängenden Gestalt Nunos Zufahrt hoch. Als sie vor der hacienda anhielten und um Wasser baten, fragte Reyna sie, ob die Dienste des Arztes erforderlich seien. Die Männer lachten und meinten, dafür sei es zu spät. Die Leiche auf dem Esel war die eines namenlosen Mannes mit schwarzer Haut, eines Wanderers, der sich auf der plaza mayor am hellichten Tag selbst die Kehle durchgeschnitten hatte. Die Totengräber bedankten sich höflich für das Wasser und zogen gemächlichen Schrittes weiter zum Ort der Verlorenen.

In dieser Nacht weckte Nuno Jona aus tiefem Schlaf.

»Ich brauche Eure Hilfe.«

»Sehr gerne, Senor Fierro. Was kann ich für Euch tun?«

»Ihr solltet wissen, daß es um eine Sache geht, die von der Kirche als Hexerei und Todsünde betrachtet wird. Wenn Ihr mir helft und man uns ertappt, werden wir beide brennen.«

Jona war schon vor geraumer Zeit zu dem Schluß gekommen, daß Nuno Fierro ein Mann war, dem man vertrauen konnte. »Auf mich wartet der Scheiterhaufen bereits, Meister Arzt. Mehr als einmal können sie mich nicht verbrennen.«

»Dann holt einen Spaten und zäumt einen Esel.«

Die Nacht war klar, und Jona spürte ihre Kälte. Gemeinsam führten sie den Esel zum Friedhof der Selbstmörder. Nuno war schon vor Einbruch der Nacht dort gewesen, um sich die Stelle des Grabes einzuprägen, und ging jetzt im hellen Licht des Mondes voran.

Er ließ Jona sofort mit dem Graben anfangen. »Die Leiche liegt nicht sehr tief, denn die Totengräber sind Faulpelze und waren schon angetrunken, als Reyna mit ihnen sprach.«

Es kostete Jona nur wenig Mühe, den in ein Tuch gehüllten Leichnam aus dem Grab zu heben, und mit des Esels Hilfe brachten sie ihn zurück über die Hügelkuppe und in den Stall, wo sie ihn aus dem Tuch wickelten, auf einen Tisch legten und mit hellen Öllampen umstellten.

Es handelte sich um einen Mann mittleren Alters, mit krausen schwarzen Haaren, dünnen Gliedern, blutunterlaufenen Schienbeinen, einer Vielzahl von Narben von alten Verletzungen und der häßlichen Halswunde, die ihm den Tod gebracht hatte.

»Die Farbe der Haut ist kein Anlaß für Mutmaßungen«, sagte Nuno Fierro. »In Landstrichen großer Hitze, wie etwa in Afrika, haben die Menschen im Laufe von Jahrhunderten eine dunkle Haut entwickelt, die sie vor den sengenden Strahlen der Sonne schützt. In nördlichen Gegenden, wie etwa dem Land der Slawen, hat das kalte Klima dagegen eine sehr blasse Haut hervorgebracht.«

Er nahm eins der schönen Skalpelle zur Hand, die sein Bruder für ihn angefertigt hatte. »Dies wird gemacht, seit es die Heilkunst gibt«, sagte er und öffnete mit geradem, sicherem Schnitt die Leiche auf dem Tisch vom Brustbein bis zur Scham.

»Sowohl dunkle wie helle Haut und das Fleisch darunter enthalten verschiedene Arten von Drüsen, die grundlegend sind für die körperlichen Prozesse.«

Jona hielt den Atem an und wandte den Kopf von dem Verwesungsgestank ab. »Ich weiß, was Ihr empfindet«, sagte Nuno, »weil ich dasselbe empfunden habe, als ich Montesa dies das erste Mal tun sah.«

Er arbeitete mit großem Geschick. »Ich bin ein einfacher Arzt und kein Priester oder Teufel. Ich weiß nicht, was mit der Seele geschieht. Aber eins weiß ich sicher: daß sie nicht hier in diesem Haus des Fleisches bleibt, in diesem Haus, das gleich nach dem Ableben danach trachtet, sich in Erde zu verwandeln.«

Er erzählte Jona, was er über die Organe wußte, die er der Leiche entnahm, und wies ihn an, ihre Größe und ihr Gewicht in ein ledergebundenes Buch einzutragen.

»Das ist die Leber. Die Nährstoffversorgung des Körpers hängt von ihr ab. Ich glaube, sie ist auch der Ort, wo das Blut entsteht... Das ist die Milz... und das ist die Gallenblase, die das Temperament bestimmt.«

Das Herz... Als es herausgenommen war, hielt Jona das Herz eines Menschen in der Hand.

»Das Herz zieht das Blut an sich und verteilt es wieder im Körper. Das Wesen des Blutes ist verwirrend, offensichtlich aber ist, daß das Herz Leben gibt. Ohne Herz wäre der Mensch eine Pflanze.« Nuno zeigte ihm, daß es gebaut war wie ein Haus mit vier Kammern. »In einer dieser Kammern dürfte mein Untergang begründet liegen. Ich glaube, Gott hat, als er mich schuf, hier einen Fehler gemacht. Es kann aber auch sein, daß die Ursache in den Flügeln der Lunge liegt.«

»Ist es denn sehr schlimm für Euch?« Jona konnte nicht anders, als diese Frage zu stellen.

»Manchmal ist es schlimm. Schwierigkeiten beim Atmen, das kommt und geht.«

Nuno zeigte ihm, wie die Knochen, Bänder und Sehnen den Körper stützten und schützten. Er sägte die Schädeldecke des dünnen Mannes auf und zeigte Jona das Gehirn und dessen Verbindungen zum Rückenmark und bestimmten Nerven.

Es war noch dunkel, als er alle Organe in die Körperhöhle zurücklegte und die Schnitte mit der Genauigkeit einer Näherin verschloß. Dann wurde der Leichnam in sein Tuch eingewickelt, und die beiden Männer führten den Esel wieder den Hügel hoch.

Jona schaufelte dem dünnen Mann nun ein tieferes Grab, und die beiden erwiesen ihm die letzte Ehre eines christlichen und eines jüdischen Gebets. Als das Tageslicht über den Hügeln heraufzog, lagen sie beide bereits in ihren Betten.

In den folgenden Tagen wurde Jona von einer merkwürdigen Unruhe erfaßt. Avicennas Worte: Medizin ist die Erhaltung der Gesundheit und die Heilung von Krankheiten, die aus bekannten Ursachen innerhalb des Körpers entstehen, ließen ihn nicht los. Wenn er jetzt mit Nuno Kranke besuchte, betrachtete er sie mit

neuen Augen und sah in jedem das Skelett und die Organe, die er in dem dünnen Mann gesehen hatte.

Es dauerte eine ganze Woche, bis er den Mut aufbrachte, mit seiner Bitte vor den Arzt zu treten.

»Ich möchte bei Euch die Heilkunst erlernen.«

Nuno sah ihn ruhig an. »Ist das ein plötzlicher Wunsch, der wieder verwehen kann wie Nebel im Wind?«

»Nein, ich habe lange darüber nachgedacht. Ich glaube, Ihr tut Gottes Werk.«

»Gottes Werk? Dann will ich Euch etwas sagen, Ramon. Oft glaube ich an Gott. Aber manchmal tue ich es nicht.«

Jona schwieg, denn er wußte nicht, was er sagen sollte.

»Habt Ihr noch andere Gründe für Eure Bitte?«

»Ein Medicus hilft sein ganzes Leben lang anderen.«

»Ach so. Ihr wollt der Menschheit also Gutes tun?«

Jona hatte das Gefühl, daß Nuno sich über ihn lustig machte, und war verstimmt. »Ja, das möchte ich.«

»Wißt Ihr, wie lange eine solche Lehrzeit dauert?«

»Nein.«

»Vier Jahre. Es wäre Eure dritte Lehre, und ich kann Euch nicht zusichern, daß Ihr sie werdet abschließen können. Ich weiß nicht, ob Gott mir noch vier Jahre gewährt, um sein Werk zu verrichten.«

Um der Aufrichtigkeit willen rang Jona sich ein weiteres Geständnis ab. »Ich muß irgendwohin gehören. Teil von etwas Gutem sein.«

Nuno spitzte die Lippen und sah ihn an.

»Ich würde hart für Euch arbeiten.«

»Ihr arbeitet schon jetzt hart für mich«, erwiderte Nuno sanft.

Kurz darauf nickte er. »Nun gut. Wir wollen es versuchen«, sagte er.

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