Die beiden Frauen hatten vereinbart, sich am Frankfurter Flughafen zu treffen. Elizabeth Spencer war mit American aus New York gekommen und Rosalyn Toledano mit Lufthansa aus Boston, und sie waren mit Iberia nach Barcelona weitergeflogen, wo sie sich ein Zimmer im Barri Gotic genommen hatten. Sie hatten acht Tage, keine sehr lange Zeit, wie sie beide meinten, aber sie waren enge Freundinnen, deren Lebenswege sich getrennt hatten, und diese Gelegenheit zu einem gemeinsamen Urlaub war ihnen mehr als willkommen gewesen.
Die beiden waren ein interessantes Paar: Betty sportlich und blond, Rosalyn größer und dunkel und so sonnengebräunt, daß sie sich von Betty, die Medizin studierte, eine Moralpredigt über Hautkrebs anhören mußte. Sie waren enge Freundinnen, seit sie sich als Anfangssemester an der University of Michigan ein Zimmer geteilt hatten.
Sie versuchten, das Beste aus den acht Tagen zu machen, und entschieden sich deshalb für jeweils drei Tage in Madrid und Barcelona und dazwischen zwei Tage in Saragossa, das von den anderen beiden Städten etwa gleich weit entfernt war. Obwohl sie sich vorgenommen hatten, in diesem Urlaub nicht zuviel zu besichtigen, fuhren sie mit dem Taxi zum Parque Guell und schauten, voller Staunen über Antonio Gaudis architektonisches Genie; anschließend setzten sie sich auf eine Bank im Schatten und redeten, während in einem nahen Brunnen Gaudi-Echsen Wasser spien. Den Nachmittag verbrachten sie im Picasso-Museum. Abends aßen sie eine Kleinigkeit in einer Tapas-Bar und mischten sich dann unter die Flaneure auf den Ramblas. Immer wieder blieben sie stehen, um Straßenkünstlern zuzusehen oder Musikanten zu lauschen, und zum Abschluß genehmigten sie sich in einem Cafe Gebäck und Kaffee.
Spätabends kehrten sie ins Hotel zurück. Nachdem sie sich geduscht hatten, saßen sie im Pyjama auf ihren Betten und redeten.
In drei Wochen würde Betty ihr drittes, das klinische Jahr an der Albert Einstein Medical School in New York beginnen, und sie war schon sehr aufgeregt und neugierig.
»Ich hab wirklich Bammel, Roz. Ich habe Angst, daß ich einen Fehler mache und jemanden umbringe.«
»Ich möchte wetten, daß es allen guten Medizinstudenten ähnlich geht«, sagte Rosalyn. »Du wirst eine großartige Ärztin sein, Betts.«
Rosalyn hatte im Juni ihr Juradiplom an der Boston University gemacht, wenige Tage bevor ihr Freund Bill Steinberg seine Promotion an der Tufts abgeschlossen und eine Stelle als Botanikdozent an der University of Massachusetts erhalten hatte. Sie hatten in Cambridge eine gemeinsame Wohnung und wollten im November heiraten. Rosalyn hatte im Juli ihre Zulassungsprüfung als Anwältin abgelegt, wartete jetzt auf das Ergebnis und arbeitete unterdessen in einer großen Kanzlei in Boston. Die Firma hatte ihr eine Dauerstellung angeboten, aber sie arbeitete schon lange genug dort, um zu merken, daß die großen, renommierten Kanzleien von ihren Anwälten fünfundsiebzig Stunden und mehr pro Woche erwarteten, und zwar ohne Ausnahme. In ihren Augen wäre ein solches Arbeitspensum eine Katastrophe für ihre junge Ehe, und deshalb hatte sie das Angebot nicht angenommen. Allerdings machte es sie nervös, Arbeit abzulehnen, und sie zerbrach sich den Kopf wegen der bevorstehenden Hochzeit.
Das Reden war der eigentliche Grund, warum Betty und Ro-salyn nach Spanien gekommen waren, und als sie endlich einmal daran dachten, auf die Uhr zu schauen, war es drei Uhr morgens.
Nachdem sie das Licht ausgeschaltet und sich in ihre Betten gekuschelt hatten, sprach Betty in der Dunkelheit weiter.
»Wir dürfen einander nicht verlieren, was, Kleine? Wir sollten in Verbindung bleiben, auch wenn wir viele Kinder haben und heiße Nummern in unseren Berufen sind.«
»Okay.«
»Versprochen?«
»Ich versprech's... Und jetzt schlaf endlich, verdammt.«
Zehn Minuten vergingen, und dann war es Rosalyn, die redete. »Heiße Nummern?«
Am Morgen des vierten Tages nahmen sie die Frühmaschine nach Saragossa. Im Hotel machten sie Pläne für den Tag: ein maurischer Palast aus dem elften Jahrhundert und jede Menge Goya.
Als sie über die Plaza de Espana gingen, sagte Rosalyn, daß sie unbedingt noch etwas einkaufen müsse. »Eigentlich ist es ein Friedensangebot für meine böse Großmutter.«
»Hattet ihr Streit? Du hast doch immer gesagt, sie ist eine großartige alte Dame.«
»Schon, aber meine Nona kann ziemlich schwierig sein. Anfangs wollte sie Bill nicht einmal kennenlernen, weil seine Eltern Aschkenasim sind, keine Sephardim. Die hat mir vielleicht eine Szene gemacht. Aus einer Mischehe könne ja nichts werden, meinte sie.«
»O Gott. Was hätte sie denn gesagt, wenn du bei Sonny Napoli geblieben wärst?«
»Sonny Napoli habe ich meiner Familie nie vorgestellt«, erwiderte Rosalyn verlegen, und dann grinsten beide.
»Wo hast du Bill Steinberg eigentlich aufgetrieben? Er ist der letzte der guten Jungs.«
»Er weiß, wie er mich glücklich machen kann, Betts. Er ist wirklich ein guter Junge. Am liebsten hätte er eine stille Hochzeit nur mit unseren engsten Freunden, aber meiner Familie zuliebe läßt er die große Feier und die sephardische Zeremonie über sich ergehen. Als ich ihm erzählte, daß man ihm bei der Rezitation der sieben Segenssprüche seinen Gebetsschal über den Kopf halten würde - als eine Art Hochzeitsbaldachin unter dem Hochzeitsbaldachin -, da meinte er, er müsse sich erst einen Gebetsschal kaufen. Warte, bis Nona merkt, daß er brandneu ist«, sagte sie. »Bills Eltern, Judith und Harold, sind so gutmütig und geduldig wie er. Mom und Pop haben sie zum Pessach-Seder eingeladen, damit sie den Clan kennenlernen. Sie hatten wohl Hühnersuppe und Kartoffelkugel erwartet und bekamen statt dessen Tortilla de Patata und fast vierzig Toledanos und Raphaels. Und meine Nona, die ihnen so nebenbei erzählte, daß einer ihrer Raphael-Vorfahren bei der Gründung der spanisch-portugiesischen Synagoge in New Amsterdam im Jahr 1654 mitgeholfen habe. Dafür hat Harold Steinberg ihr ebenso nebenbei erzählt, daß sein Großvater 1919 der erste Mann aus Pinsk gewesen sei, der in seiner Schuhfabrik in Lowell, Massachusetts, eine Steppmaschine installiert hatte.«
»Na ja, aber 1654«, entgegnete Betty. »Sogar meine YankeeGroßmutter Spencer würde das als Prahlerei bezeichnen.«
»Das war Moms Seite der Familie, die Raphaels. Auf Pops Seite sind die ersten Vorfahren erst seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten gekommen, aber Nona konnte die Toledanos bis zu Eleasar Toledano zurückverfolgen, einem Wagner, der 1529 von Amsterdam nach Den Haag zog.«
»Ach du meine Güte, Roz. Warum hast du mir eigentlich früher nie von diesen Leuten erzählt?«
Rosalyn zuckte die Achseln. »Vermutlich weil ich keinen Grund habe, sehr oft an sie zu denken.«
Kurz darauf kamen sie zu einem kleinen Laden mit einem einfachen Schild über der Tür - »Antiquitäten Salazar« -, und sie beschlossen hineinzugehen. »Auch wenn wir sonst nichts finden, Schatten auf jeden Fall«, sagte Betty. Doch als sie eintraten, sahen sie, daß die Antiquitäten attraktiv und interessant waren.
»Suchen Sie etwas Spezielles?« fragte der Besitzer, der sich als Pedro Salazar vorstellte. Er war ein glatzköpfiger, älterer Mann in schwarzem Anzug, weißem Hemd und einer gemusterten roten Krawatte, die nicht so recht zum Rest paßte und ihm ein fast verwegenes Aussehen gab.
»Ich suche ein Geschenk für meine Großmutter. Mi abuela,« sagte Rosalyn.
»Ah, die Großmutter... Nun, wir haben viele Dinge. Wenn Sie sich umschauen wollen.«
Die Antiquitäten waren sehr hübsch, aber das Angebot bestand fast ausschließlich aus Möbeln. Rosalyn sah nichts, das als Geschenk für ihre Nona in Frage käme, bis sie ein emailliertes Metalltablett mit einem Satz überdimensionierter silberner Kelche entdeckte. Sie waren sehr schön poliert.
»Was meinst du?« fragte sie und nahm einen der Kelche zur Hand.
»Ich kann mir vorstellen, daß deine Großmutter sich über antikes spanisches Silber sehr freut«, erwiderte Betty.
Senor Salazar spürte ihr Interesse und kam zu ihnen. Als Ro-salyn ihn nach dem Preis der Kelche fragte, brauchte sie einen Augenblick, um Pesetas in Dollar umzurechen und verzog dann das Gesicht. »Wow«, sagte sie.
Senor Salazar lächelte. »Sie stammen aus dem Nachlaß eines Mannes, der ein lebenslanger Freund von mir war, bis er diesen April verstarb. Er hieß Senor Enrique Callico, ein sehr bekannter Mann, fast der letzte einer vornehmen Saragossaner Familie. Sein Vater fiel im Bürgerkrieg, bei der Schlacht um Madrid. Jetzt gibt es nur noch seinen jüngeren Bruder Manuel, der inzwischen ein älterer Monsignore im Vatikan in Rom ist. Ich habe schon viele sehr schöne Antiquitäten aus dem Callico-Nachlaß verkauft.«
»Ich weiß nicht...« Rosalyn drehte einige der Kelche um. »Sind das Verfärbungen hier unten?«
»Nein, Senorita, die Sockel bestehen aus Elektrum, einer Legierung aus Silber und Gold.«
»Hier auf dem Boden stehen Initialen. HT. Wissen Sie etwas über den Silberschmied?«
Doch der alte Mann schüttelte den Kopf, »Tut mir leid. Ich weiß nur, daß die Kelche sehr gut gemacht und sehr alt sind. Sie waren über viele Generationen hinweg im Besitz der Familie Cal-licö.«
»Hmm. Zwei davon sind stark verbeult und zerkratzt... Und es sind offensichtlich nur zehn. Ist das denn ein kompletter Satz?«
»Ich habe nur diese zehn Kelche. Vielleicht kann ich Ihnen ja beim Preis entgegenkommen.«
»... Ich glaube nicht«, sagte sie schließlich. »Es ist nicht nur der Preis. Meine Großmutter ist eine ältere Frau, und ich habe sie grummeln gehört, daß Silber ständig poliert werden muß.«
»Ja, da hat sie recht, Silber braucht Pflege«, stimmte der Besitzer ihr zu.
»Roz, komm mal hierher«, rief Betty. »Ist das nicht ein wunderbarer kleiner Schreibtisch?«
Der Tisch war wirklich sehr schön. »Ist das Eiche?« fragte Rosalyn.
»Ja, Eiche.«
»Aus welchem Teil Spaniens stammt er?«
»Eigentlich ist er englisch, Senorita. Hergestellt im späten achtzehnten Jahrhundert, im Chippendalestil. Auch er gehört zum Callicö-Nachlaß.« Er lächelte. »Zufällig war ich mit Enrique Callico in London, als er diesen Schreibtisch kaufte. Kurz darauf wurde er ein... magistrado, wie heißt das?«
»Ein Richter«, erwiderte Betty.
»Ja, er war ein angesehener und berühmter Richter. An die-sem Schreibtisch hat er viele wichtige Dokumente unterzeichnet.«
Rosalyn fragte nach dem Preis des Tischchens, und als Senor Salazar ihn ihr nannte, dankte sie ihm. Sie wandte sich zum Gehen, doch dann hielt sie inne und kehrte zum Schreibtisch zurück.
»Ich nehme ihn.«
»Roz. Wirklich?« fragte Betty.
»Ja. Er wird zwar ein Riesenloch in mein Konto reißen, und Bill wird denken, ich bin verrückt geworden, aber ich will ihn. Was ist mit dem Transport?« fragte sie Senor Salazar.
»Wir bauen eine Holzkiste in der passenden Größe. Man kann ihn langsam per Schiff verschicken oder, für etwas mehr Geld, schneller mit dem Flugzeug.«
»Schneller mit dem Flugzeug«, sagte sie verwegen. Dann schrieb sie ihm die Adresse auf und gab ihm ihre Kreditkarte. »Ich bin eine angehende Anwältin, una abogada. Wer weiß, vielleicht bin ich eines Tages auch una magistrada.«
Senor Salazar lächelte und sah auf die Kreditkarte. »Warum nicht, Senorita Toledano?«
»Ja, warum nicht? Und jedesmal, wenn ich an diesem Schreibtisch ein wichtiges Dokument unterzeichne, denke ich an Ihren Freund, Senor...«
»Senor Callico.«
»Ja, Senor Callico.«
»Dieser Gedanke freut mich, Senorita Toledano«, sagte er, während sie den Kassenbeleg unterschrieb und ihre Karte wieder entgegennahm.
»Vielen Dank für Ihre Geduld, Senor.«
»De nada. Es war mir ein Vergnügen«, sagte Senor Salazar und verbeugte sich leicht.
Als die beiden Amerikanerinnen gegangen waren, nahm er ein weiches Tuch und polierte sorgfältig jeden der Silberkelche. Er versicherte sich, daß alle Fingerabdrücke verschwunden waren und die Kelche wieder in makellosem Glanz erstrahlten, bevor er sie auf das Tablett zurückstellte, und dann drehte er die Kratzer und Dellen der beiden beschädigten Stücke zur Wand.