Natalie

Einundzwanzigstes Kapitel

Borromeo hatte Arnold in seinem Hause Wohnung angeboten, er hatte erklärt, daß der obere Halbstock völlig leer stehe und daß Arnold über drei Zimmer ungestört verfügen könne. Arnold hatte eingewilligt.

Schweigend und unablässig beriet Borromeo mit sich selbst. Arnolds Nähe erregte ihn und spannte ihn ab. Der Anblick dieser gesammelten Züge, dieses festen und frischen Blicks machte ihn furchtsam und wortkarg. Längst entherzigt, längst hohl gesogen, kämpfte Borromeo einen beständigen stillen Kampf mit den Affekten anderer Menschen.

Am Nachmittag kamen sie in Wien an und fuhren im offenen Wagen vom Bahnhof weg. Als Arnold zum erstenmal die Straßen der Stadt gewahrte und die Flut der Getöse in seine Ohren drang, wurde er ganz bestürzt. Schreien, Johlen, Schimpfen, Befehlen erschallte. Es klopfte, knallte, polterte, rasselte und dröhnte; Wagen fuhren, Karren knatterten, Glöckchen klimperten; es zischte, stampfte, ächzte, heulte, hämmerte und knisterte. Menschen liefen, die heftig mit den Armen schlenkerten; andere, denen Schweiß auf der Haut glänzte; andere, deren Gesichtsmuskeln krampfhaft verzerrt waren; andere, die wie im Wahnsinn stierten und weder rechts noch links schauten; andere, die in vornehmen Kutschen lehnten und deren Mienen förmlich gelähmt waren; andere, die lachten und schwatzten, indem sie doch einen schmerzhaften und angestrengten Zug behielten. Die Luft war dick von Staub. Die langen Reihen gleichmäßiger Häuser zeigten zahllose Fenster; anders sah hier der Himmel aus, anders die Wolken, anders schien die Sonne. An den Mauern hingen buntfarbige Fetzen, worauf in der seltsamsten Weise Seifen, Weine, Eßwaren, Zeitungen, Möbel, Konzerte, Kleider, Heilmittel und Kunstwerke angepriesen wurden. Hunde liefen unruhvoll herum, Soldaten marschierten stumpfsinnig, Bier-, Speisen- und Ladengerüche zogen aus den Häusern, krüppelhafte Bäumchen erhoben sich hinter prachtvollen Gittern, alles war in Bewegung, in Hast, als ob es hier keinen Schlaf, keine Nacht, keine Ruhe, kein Besinnen gäbe.

Bald war das Borromeosche Haus erreicht. Es war ein altes Gebäude, das in einer engen, finstern, gewundenen Gasse der innern Stadt lag. Ein Diener kam, um das Reisegepäck in Empfang zu nehmen. Borromeo führte Arnold sogleich in das obere Stockwerk, das ihm zur Wohnung dienen sollte. Die Zimmer waren hoch und still. Borromeo erklärte, daß in früheren Jahren der Bruder seiner verstorbenen Frau hier gewohnt, ein Mann, der sich in den Studentenjahren durch Trinken und Weiber ruiniert habe. Inmitten seines knappen Berichts brach Borromeo ab und wandte den Blick langsam zur Tür, durch welche seine Frau eintrat. Sie war von geradezu fürstlicher Erscheinung. Ihr Gesicht war bleich, ihre Lippen, um die ein entgegenkommendes und gleichsam strahlendes Lächeln lag, waren brennend rot. Fast von demselben Rot waren die Haare, die in der reichsten Fülle zu einer Krone frisiert waren. Jeder Schritt der Frau war mit einem Rauschen verbunden, welches für Arnold etwas außerordentlich Rätselhaftes hatte. Mit einem neugierigen und staunenden Gesicht wandte er sich der Dame zu und er verspürte einen beunruhigenden Wohlgeruch im Zimmer.

»Pardon, meine Herren, ich dachte nicht zu stören«, sagte Frau Borromeo. »Das ist also der Neffe«, fuhr sie fort, trat rauschend näher, streckte Arnold die Hand entgegen und lächelte: sorglos, mütterlich, voll Teilnahme, etwas spöttisch, — alles zu gleicher Zeit mit einer unbeschreiblichen Mischung von Belebtheit und Ruhe. Indem sie eintrat, so schien es, hatte sie alles zu ihrem Eigentum gemacht, die Wände, die Möbel, das Licht, die Luft und die beiden Männer. Arnold vergaß, ihre Hand zu ergreifen. Sie lachte, schüttelte den Kopf und fragte Borromeo, ob er zum Tee komme. Als er verneinte, erwiderte sie, er möge ihr Arnold überlassen, der doch von der Reise ausgehungert sein werde. »Ich warte schon mit Ungeduld auf Sie — oder auf dich«, sagte sie zu Arnold. »Ich war auf eine Art von Waldmenschen gefaßt und bin es noch. Natürlich im edelsten Sinn. Aber damit wollen wir jetzt keine Zeit verlieren. Hier laß ich unterdes alles instand setzen; ich habe ja erst heute früh erfahren — Kommen Sie, … komm, Arnold.«

All das wurde mit vollendeter Betonung gesprochen, mit einem Wechsel des Ausdrucks, dem sich jedes Wort anschmiegte wie dem Körper ein musterhaft gefertigtes Kleid. Arnold folgte der Hausfrau in den Korridor, dann ein Stockwerk tiefer und trat hinter ihr in ein großes, lichtes Zimmer. An einem mit Tassen, Gläsern, Silbergeschirr, Blumen und Eßwaren bedeckten Tisch saßen plaudernd drei Personen, ein junges Mädchen, welches von Frau Borromeo als Petra König vorgestellt wurde, ein alter Herr mit einem kropfartig verdickten Hals, Baron Drusius, und ein junger, blonder, blasser Mann namens Hyrtl, der durch eine fast puppenhafte Sorgfalt seines Anzugs auffiel. Dieser Mann blickte sofort wie geblendet auf Arnolds graue Joppe, auf seinen altmodischen Kragen, auf seine schweren, großen Stiefel und ein humoristisches Lächeln umzuckte die farblosen Lippen.

»Nun haben wir unsern Waldmenschen glücklich hier«, sagte Frau Borromeo, indem sie spöttisch lächelte, als belustigte sie die Verwunderung ihrer Gäste. »Ich erzählte Ihnen ja von ihm«, wandte sie sich zu Hyrtl.

Baron Drusius knackte mit den Fingern und fragte mit einer Teilnahme, die Arnold unerklärlich war: »Sie sind Landwirt?«

»Bis jetzt war er Landwirt«, fiel Anna Borromeo ein.

Hyrtl, der den Ankömmling für dumm und blöde hielt, starrte Arnold mit einer Miene an, die immer humorvoller wurde. Seine Lippen zuckten von verhaltenem Witz. Er bemühte sich vergeblich, zu ergründen, weshalb Anna Borromeo den merkwürdigen Menschen in ihren Salon geführt und gab schließlich ihrer Sucht nach Überraschungen die Schuld.

»Sie sind wohl geschäftlich in der Stadt?« fragte der unermüdliche Drusius wieder, der Frau Borromeo einen Gefallen zu erweisen glaubte, wenn er sich mit dem stummen Gast beschäftigte.

»Seine Mutter ist gestorben«, bemerkte Anna Borromeo abermals an Arnolds Stelle. Es war, als fürchte sie Arnolds Antwort. Sie schenkte Petra König Tee ein, und eine senkrechte Falte zeigte sich zwischen ihren Brauen. »Wie geht es eigentlich Ihrer Schwester Natalie?« fragte sie das junge Mädchen.

»Gut«, entgegnete Fräulein Petra mit verdecktem Blick und mit jenem nachsichtigen Spott, der nur in ihrem Gesicht lag, wenn von Natalie gesprochen wurde.

»Ein ganz köstliches Weibchen«, meinte Drusius und schnalzte mit der Zunge. »Ein Rokoko-Figürchen, ein Sprühgeist. Für dieses Frauchen könnte ich eine Heldentat verrichten.«

Hyrtl sah gelangweilt aus. Seine Augen ruhten schwermütig-messend auf

Anna Borromeo.

»Wie stehen die Montan-Papiere?« fragte ihn Frau Anna lächelnd und tippte mit der Fingerspitze eine Brotkrume von ihrem Kleid.

»Schlecht«, antwortete Hyrtl. »Wir können uns auf einen großen Börsenkrach gefaßt machen.« Er legte den Knöchel des einen Beines auf das Knie des andern, schob die Hose ein wenig hinauf, so daß über den Lackstiefeln ein Stück des violett-seidenen Strumpfes sichtbar wurde, zog mit leichter Gebärde eine goldene Zigarettendose aus der Tasche und fragte mit Höflichkeit die Wirtin, ob er rauchen dürfe. Er blickte dabei Frau Borromeo tief und traurig in die Augen, so daß Arnold sehr erstaunt war, als er die Worte vernahm, die diesen Blick begleiteten. Zugleich sah er, daß Petra Königs Blicke auf ihn selbst gerichtet waren, daß sie die Augen, die einen wärmeren, ruhigeren Glanz angenommen hatten, erschreckt wieder abwandte und mit leerem Lächeln nach einer Bäckerei auf der silbernen Schale griff.

Arnold musterte das Zimmer, die Tapeten, die Teppiche, die Bilder und hörte mehr und mehr erstaunt der schnell von einem Gegenstand zum andern schweifenden Unterhaltung zu. Als er den Tee, dem er sehr viel Milch zugegossen, ausgetrunken hatte, erhob er sich, stellte seinen Stuhl nahe vor den Tisch, dankte und fügte hinzu: »Jetzt will ich mich waschen.« Damit verließ er den Salon mit unbefangenem Gesicht.

Zuerst entstand ein peinliches Schweigen. Dann lächelte Anna Borromeo, darauf lächelte auch Emerich Hyrtl und stemmte die Arme auf die Hüften. Es lächelten auch Drusius und Petra König. Dann blies Hyrtl die Backen auf und verfiel in einen wahren Lachkrampf, aus dem er schließlich die Beteuerung hervorächzte, er habe sich nie so göttlich unterhalten. Anna Borromeo drohte ihm scherzhaft mit dem Finger.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Arnold suchte die ihm zugewiesenen Zimmer auf. Im Vorraum seiner Wohnung stand der Diener und sagte, er erwarte die Befehle des jungen Herrn. »Was für Befehle?« fragte Arnold und blieb stehen. Der Diener lächelte und blickte Arnold aufmerksam an. »Gehn Sie nur«, sagte Arnold und wartete, bis der Mann die Türe geschlossen hatte. Welch ein sonderbarer Aufenthalt, dachte er, als er durch die Zimmer ging und die kostbaren Tapeten besah, die schweren Vorhänge, die Bilder, Vasen, Teppiche, Möbel und Bücher. Er riß das Fenster auf, und es wurde ein wenig heller und frischer. Die Gasse war eng. Er schaute hinab und erstaunte über die Höhe, erstaunte über die Nähe der gegenüberliegenden Häuser und ihre endlosen Reihen von Fenstern, die alle geschlossen waren. Er schaute empor und sah nur ein geringes Stück des abendlich verdämmernden Himmels. Ein Flug Vögel zog mit Kreischen geschwind über die Dächer.

Während dieser Beobachtungen spürte er großen Hunger. Er überlegte nicht lange, nahm den Hut, verließ seine Wohnung, eilte auf die Straße und suchte das nächste Wirtshaus. Bald fand er eine kleine Kutscherkneipe, bestellte Wein, Wurst und Käse und aß mit Appetit. Viele Männer saßen in dem raucherfüllten Raum, schimpften, politisierten, schrien, lachten und spielten. Als Arnold satt war, bezahlte er und ging. Er beschloß, einen Spaziergang durch die Straßen zu unternehmen, aber vorsichtig, wie er war, kehrte er zuerst zurück und prägte genau die Gasse und das Borromeosche Haus seinem Gedächtnis ein. Kaum hatte er dies stille Seitental verlassen, als er im Nu in einen eilenden Menschenstrom geriet. Die Abend-Dunkelheit wurde durch das blendende Licht aus den hohen, weißen Lampen gänzlich zerstreut. Aus allen Läden, aus jedem Fenster der schönen Paläste drang Licht, und die Nacht über den Dächern war wie eine feste Decke. Als Arnold sich inmitten der unabsehbaren, beständig sich erneuernden Menge befand, glaubte er zuerst, das Geräusch, das zu ihm floß, sei ein gleichmäßiges, ängstliches Raunen. Denn es war nicht laut und nicht leise; es war weder Reden noch Schreien. Oft klang es wie minutenlang hintereinander ausgehauchte tiefe Seufzer, oft wie fernes Gelächter; nichts hielt Stand, alles rauschte gleich einem schwerflüssigen Wasser dahin. Arnold ging dicht an der Seite der Häuser und kam nur langsam vorwärts. Er ermüdete nicht, Gesichter zu betrachten; er wurde nicht satt, den Ausdruck der Augen zu erhaschen. Einer blickte vorsichtig und spähend vor sich hin, einer redete gereizt, einer ging müde. Jeder schien eine Maske zu tragen und zwischen unsichtbaren Wänden zu gehen.

Verwirrt, ratlos, wie in einem Rausch, blickte Arnold vor sich hin. Seine Stimme erschien ihm klein, seine Schritte zu kurz, seine Arme machtlos, seine Verstellungen kindlich. Er sah Menschen, Menschen, immer neue Menschen. Doch kein Gesicht war festzuhalten, alle Gesichter verschwammen im Nebel. Ungewöhnlich erregt verließ er die taghellen Straßen und kam in spärlicher beleuchtete, in welchen sein eigener Schatten matt mit dem Dunkel zusammenfloß, und immer wieder auftauchte, wenn er unter der gelben Flamme einer Gaslampe vorüberging. Er dachte nicht mehr an Zweck und Ursache des Weges; mit umfangenen Augen und sonderbar gelähmten Gedanken ging er dahin. Was er sah, schien ihm unglaubhaft, unbegründet und widersinnig. Warum stand Haus an Haus so enggepreßt, daß jedem einzelnen der Atem zu fehlen schien? An der Ecke blieb Arnold stehen und blickte erstaunt die unbewegliche Reihe der Laternen entlang. Ihn lockte es, das Ende kennen zu lernen, und ohne den Gedanken an Rückkehr folgte er der Flucht jeder Gasse und Straße und glaubte bei jedem neuen Anfang, nun müsse sich bald der Wald öffnen oder das Wiesenland dehnen. Aber jedesmal wurde diese Erwartung zerstört und sein Erstaunen wurde größer und dumpfer, insbesondere durch die Wahrnehmung, daß die endlosen Häusermassen ihn nicht nur in der Richtung seines Weges begleiteten, sondern auch nach allen Seiten hin ausströmten. Er betrachtete die Aushängeschilder von Krämern, Wirtshäusern und den zahllosen Geschäften, in denen er zufriedene und glückliche Menschen vermutete, getäuscht durch den Lichterglanz und die Buntheit der Auslagen. Er blieb vor den erleuchteten Fenstern der Kaffeehäuser stehen und blickte ratlos hinein, da ihm ihr Inneres wie zu einem Feste geschmückt vorkam. Er sah mächtige Gebäude, die einem unbekannten feierlichen Zweck dienen mußten, Kirchen, deren eherne Tore geschlossen waren, und von deren Türmen dennoch Glockengeläute erklang. Überall hatte er den Eindruck der Ruhe, der Ordnung und der Gerechtigkeit und hundertmal schüttelte er über sich selbst den Kopf und war unzufrieden, ohne zu wissen warum. Noch nie hatte er solch ein Gefühl lustloser Ermüdung gespürt. Doch er setzte seinen Weg fort und kam in eine öde Vorstadt mit ausgestorbenen Gassen. Hier wurden die Häuser niedriger und der Himmel schien infolgedessen näher. In den erdgeschössigen Wohnungen sah er Familien beim Abendessen sitzen, aus den Kneipen drang Lärm und Geschrei, Dirnen gingen vorüber und lächelten ihm zu; jeder einzelne Laut und jedes Bild erzeugte in Arnold die betäubende Empfindung der Vielfältigkeit und der unübersehbaren Weite. Mit Bitterkeit, ja fast mit Angst fühlte er seinen gänzlichen Mangel an Erfahrung. Er glaubte sich verachten zu müssen. Herrgott, sagte er zu sich selbst, das kann übel enden, und plötzlich drehte er sich um und trat mit stürmischem Wesen die Rückkehr an, auf welcher er einige begegnende Personen höflich und zaghaft nach dem Weg befragte.

Nach stundenlangem Gehen fand er sich endlich zurecht und kam gegen zehn Uhr nach Haus. Der Diener begleitete ihn in sein Zimmer, zündete die Lampen an und fragte, ob nichts zu besorgen sei. Arnold schüttelte den Kopf. Er sah seinen Reisekoffer vor sich stehen und ohne einen der prächtigen Stühle rings zu benutzen, setzte er sich rittlings darauf und versuchte nachzudenken. Es war ihm, als hielte er sein Herz in der Hand, drehe es hin und her, aber es war stumm. Plötzlich sah er viele Wege; jeder führte dorthin, wo man mühelos Gerechtigkeit erlangte. War es denn etwas so Großes, diese Gerechtigkeit? so vielen Zorns, so vieler Gedanken wert? Arnold schämte sich und kam sich vor wie jemand, der mit Pferd und Wagen kommt, um eine Maus aufzuladen. Sein Vorhaben erschien ihm leicht und selbstverständlich. Er begann vor sich hinzupfeifen, als es an der Tür pochte; Friedrich Borromeo trat ein.

»Guten Abend, Arnold,« sagte er in seiner gemessenen Sprechweise, »hast du dich schon ein wenig zurechtgefunden?« Vorsichtig hob er mit der äußeren Seite der Hand seinen Bart empor und legte den Kopf gegen die Schulter.

Arnold trat vor ihn hin. »Zurechtgefunden? Nein, Onkel. Zurechtfinden kann ich mich hier nicht. Also sage mir, was soll ich tun? Wie soll ich’s anfangen?«

»Ei, ei, so ungestüm,« erwiderte Borromeo. Er gab es endlich auf, seinen Bart zu bestreichen, schritt zum Tisch, setzte sich auf einen der Polstersessel und nahm ein elfenbeinernes Papiermesser, das er lose zwischen den Mittelfingern beider Hände behielt. »Du willst also dieser eingesperrten Jüdin zur Freiheit verhelfen,« sagte er mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. »Ich verstehe deine Beweggründe. Du bist jung. Du bist begeistert. Du kannst dich noch entrüsten. Schön. Aber was willst du allein ausrichten? Ein Feldherr, der keine Truppen hat, kann keine Schlacht gewinnen. Ich will dich ja nicht von deinem idealen Unternehmen abbringen, ganz im Gegenteil.«

»Würde dir auch nichts nützen,« warf Arnold trocken und etwas ungeduldig dazwischen.

»Schön. Aber betrachten wir die Sache einmal von einem andern Standpunkt, von einem praktischen sozusagen. Zufällig war es diese Klostergeschichte, die dich in Aufruhr gebracht hat. Es hätten Millionen andere sein können. Nehmen wir nur unser Land, ja nehmen wir nur einmal Galizien. Die Regierung dort ist verrottet. Alle Gewerbe liegen auf den Tod. Die Mitglieder der Geburts- und Geld-Aristokratie verüben die ungeheuerlichsten Diebstähle. Der Wucher blüht wie anderswo im Mittelalter. Die Länderbank ist verkracht, weil ein Fürst und ein Graf sie durch Betrügereien ins Verderben gestürzt haben. Hast du von den Cziriskawer Gruben gehört? Die hungernden Arbeiter mußten zusehen, wie die Aktionäre einander und der Direktor die Aktionäre um Tausende von Gulden bestahlen. Eine Million Notstandsgelder für die in Krankheit und Hunger vegetierenden Bauern werden zurückgehalten; auf den großen Gütern wird der Arbeitslohn in Pappendeckelstücken statt in Geld ausgezahlt. Was ist dagegen deine Klostergefangene? Urteile selbst. Schau dich nur um. Es gibt viel zu tun. Lerne, damit du siehst, wo du anzufangen hast. Du darfst dich nicht verwirren. Ich werde niemals deinem Willen entgegentreten. Ich werde nie fragen, ob das auch gut ist, was du tust, sondern immer annehmen, daß es das beste ist. Ich lasse dir freie Verfügung über dein Vermögen, deine Zeit, deine Person. Aber lerne erst erkennen, wo du Hand anzulegen hast. Wir brauchen Menschen, wir brauchen Männer; aber in dieser Zeit, in diesem heruntergekommenen Land bedarf es nicht nur eines ganzen Menschen, einer großen Leidenschaft, einer reinen Seele, sondern auch eines aufs höchste gebildeten, praktischen Geistes. Erfahrungen braucht es und Kultur. Das ist eben die Probe, Arnold, in der du dich bewähren mußt. Äußerlich mußt du sein wie alle andern, mußt dich kleiden wie sie, mußt ihre Formen und Gebräuche annehmen; aber deine Hand muß sauber bleiben, deine Seele rein. Und trotz alledem mußt du dich durchkämpfen, hinaufkämpfen. Das ist das Problem. Dann wird es dir ein Leichtes sein, eine Jutta Elasser zu befreien. Heute ist es unmöglich für dich wie für jeden andern. Du hättest keine andern Wege als jene Leute selbst, du würdest nirgends eine werktätige Hilfe finden. Und deine Kräfte ins Phantastische hinein verschwenden, das wäre doch sinnlos.«

Arnold saß weitvorgebeugt auf seinem Koffer und ein kühler Schauder fuhr ihm über die Haut. Er fühlte Zorn und Rührung. Er begriff und wollte sich dennoch verschließen. Er sah ein, daß das alles seine Richtigkeit hatte und wünschte doch, es nicht gehört zu haben.

»Wenn ich mir erlauben darf, dir ein Programm aufzustellen,« fuhr Borromeo fort, »so wäre es dies: fange an, dich über alles mögliche zu unterrichten. Belehre dich. Halte dich an die Bücher und an gescheite Menschen. Bereite dich für ein Amt vor. Eine Regelmäßigkeit wird sich dir bald von selbst ergeben, vielleicht auch der Beistand eines Freundes. Du hast alle Gaben, um zu einem schönen Ziel zu gelangen. Der unerschütterliche Wille besiegt jedes Hindernis. Und um mit zwei Worten noch einmal alles zu sagen: Bleib und werde!«

Es war deutlich zu sehen, wie schwer es Borromeo ums Reden wurde, denn er schwieg jetzt mit einem erleichterten und müden Gesicht und ließ den Blick langsam von dem Elfenbeinmesser aufwärts gegen das Licht schweifen. Arnold hatte den Kopf auf beide Hände gestützt und sein Gesicht verborgen. Was in ihm kämpfte und brauste, das ahnte Borromeo und das liebte er an ihm. Er stand auf, ging hin und legte Arnold die Hand auf die Schulter. »Nun?« fragte er leicht und kurz.

Arnold erhob den Blick und schnellte von seinem Sitz empor. Seine Wangen glühten. »Man kann das eine tun und braucht das andre nicht zu lassen«, sagte er. »Man kann beides tun.«

»O gewiß, man kann beides tun«, antwortete Borromeo. »Insofern keine Gefahr ist, daß man sich verzettelt. Gewiß. Die Erfahrung wird darin dein bester Lehrmeister sein. Wenigstens sehe ich, daß du nicht verstockt bist. Von den Idealisten ohne Kopf hab ich nie etwas gehalten. Sie schaden mehr als sie nützen. Gute Nacht, Arnold.«

Sie gaben einander die Hand.

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Arnold war zu Borromeos Schneider gegangen. Zwei Tage später war er im Besitz von vier modischen Anzügen; das Zubehör an Wäsche war vorher besorgt worden. Zaudernd und umständlich bekleidete sich Arnold mit den neuen Dingen. Verlegen stand er vor dem Spiegel und blickte an seinem Bild herab wie an einem fremden Mann. Aha, redete er sich selbst an, da wärst du also, lieber Bruder, siehst immerhin merkwürdig aus, wie der Gevatter beim Hochzeitsfest. Er verzog das Gesicht und konnte sich lange nicht entschließen, das Zimmer zu verlassen, obwohl er noch am Morgen zur öffentlichen Bibliothek wollte. Als es überwunden war und er mit ungewohnter Langsamkeit die Treppen hinunter schritt, sah er im Korridor Anna Borromeo mit einer andern Dame plaudernd beisammen stehen. Frau Anna winkte ihm und sagte zugleich zu der Fremden: »Dies ist mein Neffe, Herr Ansorge.« Arnold blieb stehen, Anna Borromeo wies auf die fremde Dame und sagte: »Frau Natalie Osterburg.« Arnold reichte sofort nach seiner Gewohnheit die Hand und verspürte eine andere Hand, deren Winzigkeit ihn verblüffte. Die Frau lachte und schrie vor Schmerz, er möge sie loslassen; Anna Borromeo lächelte.

»Also das sind Sie!« sagte Natalie Osterburg, und das neugierige Kindergesichtchen hinter dem schwarzen Schleier blieb Arnold fragend zugewandt. »Petra hat mir von ihm erzählt, aber ich finde, er ist ganz hübsch.« Ein köstliches Aber.

Arnold fühlte sich zu der neuen Bekannten hingezogen, weshalb er ohne weiteres sein Kommen versprach, als sie ihn um seinen Besuch bat und Tag und Stunde bezeichnete. Sie sagte noch einiges zu Anna Borromeo, was wie das Geplätscher eines Springbrunnens klang, lachte, fragte mit kindlichem Ernst nach gleichgültigen Dingen, war unglücklich über das drohende Regenwetter, sagte, sie habe die größte Eile nach Hause zu kommen, vergaß es jedoch sogleich und fragte Arnold, ob er reiten könne. »Ich habe Sie mir als eine Art wilden Jäger vorgestellt, denken Sie nur, wie komisch«, meinte sie und lachend beugte sie den Oberkörper vor. Darauf verabschiedete sie sich und Frau Borromeo schien sehr erleichtert, als sie ging; Arnold beobachtete es an dem versteckten Spiel der Augen und ihn verdroß das liebenswürdige Lächeln, das Hinabbeugen über die Treppenbrüstung, das Winken mit der Hand, womit Anna Borromeo ihrem Gast das Geleit gab.

Natalie Osterburg war trotz ihrer zweiunddreißig Jahre noch die zierlichste Frau. Sie hatte eine Puppenfigur. Begeisterung und Neugierde waren die zwei Gefühle, von denen sie völlig beherrscht wurde. Sie war lustig, oft auch da, wo niemand es erwartete, und damit brachte sie manches vernünftige Gespräch und manchen ernsthaften Mann aus dem Gleise. Sie war stolz auf ihre kleinen Füße und Hände; sie war eitel, geschwätzig, naschhaft, vergnügungssüchtig, aber sie gewann ihren Tadlern einen Vorsprung ab, indem sie Geständnisse ablegte und sich verspottete. Wenn sie sprach oder ging oder saß oder lachte, dann leuchtete es vor Freude in ihren Augen, daß es möglich war, so sprechen, gehen, sitzen und lachen zu können wie sie. Für die Ausbrüche ihrer Bewunderung, ihrer Überraschung gab es kein zu kostbares Wort und keinen Gesichtsausdruck, der schwärmerisch genug war; in derselben Minute interessiert sie sich »rasend« für einen Klatsch und zappelt vor Ungeduld darüber, daß sie einen Traum, einen Namen, den Titel eines Buches vergessen hat. Sie hat zwei Kinder, Mädchen von zehn und acht Jahren, und sie liebt es mit einem lauten Staunen von ihnen zu erzählen, als sei das Dasein von Kindern etwas sehr Seltenes und als seien ihre Kinder die wunderbarsten auf der Erde.

Als Natalie nach Hause kam, fragte sie das Dienstmädchen, wo der gnädige Herr sei. Im Salon, wurde ihr geantwortet. Petra kam auf die Schwester zu und flüsterte ihr ein paar Worte ins Ohr. Natalie schloß erblassend die Augen und legte den Kopf gegen den Nacken. Petra sah sie mitleidig an und wandte sich zu den Kindern, die ihr gefolgt waren und die Mutter mit zärtlich verdrehten Ausdrücken begrüßten.

Herr Osterburg war nicht im Salon. Aus dem Schlafgemach nebenan drang ein ungewöhnlicher Lärm. Natalie öffnete mit theatralischer Langsamkeit die Tür und sah ihren Gatten bis zum Nabel nackt. Er war im Begriff, sich zu waschen und rieb den Körper mit einer Heftigkeit, als sei die Haut mit Teer beschmiert; dabei prustete, plätscherte, stöhnte und zischte er wie eine Maschine, die im Wasser versandet ist. Natalie betrachtete ihn mit einem maßlosen Erstaunen und einer zur Hälfte gespielten Verachtung. Herr Osterburg legte verdrießliche und eifervolle Falten in sein Gesicht, während er mit einem Flanelltuch die behaarte Brust trocknete und ächzend den Rücken rieb.

»Also so weit sind wir wieder, so fallen deine sichern Geschäfte aus,« sagte Natalie.

Osterburg versah eines seiner neuen Frackhemden mit Knöpfen, zog es aber nicht an, sondern legte sich mit nacktem Oberkörper auf die Ottomane. Er hob das Bein ein wenig in die Höhe und betrachtete seinen Lackschuh. Dann tat er einen tiefen Seufzer, warf sich empor, wie von einer Feder geschnellt und sagte düster und verlegen: »Ja, reich sein, reich sein, das ist das einzige.«

»Idiot«, murmelte Natalie.

Osterburg verfiel in ein starrkrampfähnliches Besinnen und betastete mit sorgenvoller Stirn die fette Gegend seines Magens. Erst als ihn fröstelte, dachte er daran sich anzukleiden. »Ich bin ruiniert«, sagte er dumpf. Dann machte er wilde Augen, streckte die Faust gegen die Decke und schrie. »Meinen heiligsten Schwur, daß ich in drei Wochen eine halbe Million haben werde, oder –« Er deutete mit prophetischem Ausdruck ins Unbestimmte und schwieg wie ein gescholtener Hund, als ihn Natalie gelassen und erwartungsvoll anschaute.

Natalie stand auf und eilte mit schnellen Schritten in das Zimmer ihrer Kinder. »Liebste Petra!« rief sie, »komm, ich will zur Mutter.«

»Nun?« fragte Petra in ihrer überlegenen Weise.

Natalie blickte sie unsicher an und erwiderte zerstreut: »Jaja. Aber du weißt, ich habe die Schneiderin zur Mutter bestellt, damit mein Mann das Kleid nicht sieht. Rasch, sonst wird es zu spät zum Probieren.« Sie küßte etwas summarisch ihre Kinder. Petra stand mit sarkastisch-ergebenem Lächeln abseits.

Kaum hatte Osterburg bemerkt, daß er allein sei, so erhob er sich, schüttelte unwillig den Kopf und fletschte die Lippen. Dann verfügte er sich in die Küche und fragte die Köchin, was sie zu essen habe. Schwermütig stand er am Herd und stierte in die Pfanne. Die Köchin zählte ihren Speisezettel an den Fingern ab, und Osterburg schlurfte anscheinend betrübt wieder hinaus. Sein Kopf war nur von einer einzigen Idee erfüllt: Geldquellen zu entdecken, Gold in Strömen aufzufangen um jeden Preis, durch jedes Mittel. Ihm schien, das Geld müsse für ihn auf der Straße liegen und er brauche nur hingehen und sich bücken.

Als Natalie und Petra bei ihrer Mutter eintraten, fragte diese, was mit Osterburg vorgegangen sei, er benehme sich so sonderbar.

»Er ist der größte Narr, den es gibt, Mama«, versetzte Natalie kalt.

»Du hast ihn doch geheiratet, mein Kind«, meinte die alte Dame und ging zu ihrem Stuhl zurück. Eigentlich ging sie nicht, sondern schob sich vorwärts. Der Oberkörper, weit zurückgeneigt, schien nur lose mit den Beinen verbunden, wodurch ihre Bewegungen etwas Automatisches erhielten. Bei jedem Schritt nickte sie mit dem Kopf wie eine Taube. Ihr Gesicht war farblos und hatte etwas von einem Sandstein, der vom Wasser zernagt ist. Sie hatte die Miene einer abgesetzten Königin. Für die plumpeste Schmeichelei empfänglich, war sie zugleich harmlos und boshaft, gebrechlich und zähe, zänkisch und liebevoll. Diese Frau hatte die Rasse verdorben. Sie hatte die schlechte Mischung erzeugt, durch welche die Klarheit und Regelmäßigkeit der Kristalle unmöglich ist.

»Glaubst du, Mama, daß hellgrün mich zu blaß macht?« fragte Natalie, die mit Ungeduld auf das Kleid wartete.

»Mama, du sollst nicht so viel herumgehen«, mahnte Petra.

»Zu meiner Zeit gab es andere Ehen«, sagte Frau König mit rasselnder Stimme. »Da war nichts als Einigkeit, Frieden, Gefälligkeit. Oft sag ich zu Petra … nicht wahr, Petra –?« …

»Pottgießer hat eine römische Statue aus Spalato angekauft«, wandte sich Natalie an Petra. »Einen Antinous. Es soll ein herrlicher Marmor sein, aus der besten Zeit, sagt die Borromeo.«

So redete jede der drei Frauen von etwas anderem, und sie schienen einander trotzdem zu verstehen. Sie waren beweglich wie die Ringe im Wasser, die, um denselben Mittelpunkt entstanden, sich nie berühren können.

Vierundzwanzigstes Kapitel

Am Sonntag, dem Empfangstag bei Osterburgs, füllten sich schon von fünf Uhr ab die Zimmer mit Besuchern. Herr Martin Osterburg stand bei einer Gruppe junger Leute und prahlte mit dem Sieg eines Rennpferdes, auf welches niemand gewettet hatte, ausgenommen er selbst. Als jemand dies bezweifelte, konnte Martin nur noch zwei Leute zugeben, die ebenfalls auf dieses Pferd gesetzt hätten. Als aber ein anderer Herr behauptete, dieser Sieg sei lange vorher ein öffentliches Geheimnis gewesen, da wurde Osterburg vor Verachtung um fünf Zentimeter länger, und seine grauen, bürstenartig emporstehenden Haare erschienen wie lauter entrüstete Ausrufungszeichen. Gleich darauf aber war er wieder freundlich, begrüßte Emerich Hyrtl und Armin Pottgießer, den von allen gefürchteten Pottgießer. Pottgießer war Börsenmann, Zeitungsbesitzer, Volksfreund, Regierungsfreund und vor allem war er unermeßlich reich.

Mit erstauntem Gesicht trat jetzt Arnold Ansorge ein. Dies war die Stunde, die ihm Natalie bestimmt hatte und anstatt Natalies sah er eine Menge unbekannter Menschen. Hinter ihm blieb die Türe geöffnet und eine alte wie ein Fabeltier aufgeputzte Dame, welcher zwei junge Mädchen folgten, schob Arnold beiseite und trat rauschend ein. Natalie gewahrte Arnold. Sehr verlegen ging sie ihm entgegen; sie hatte nicht geglaubt, ihn heute schon bei sich zu sehen. Sie bereute ihre Einladung, denn nach Hyrtls Bericht fürchtete sie eine Art Ungeheuer in Arnold. Sie reichte ihm die Hand und war schüchtern vor lauter Neugierde. Sie bat ihn, ihr zu folgen und führte ihn zu Petra und Hyrtl, die allein in einem Winkel saßen. »Verzeiht,« sagte sie, »hier ist ein Ausnahmsgast.«

Arnold setzte sich schweigend nieder. Die Luft war heiß. »Ist hier eine Versammlung, Fräulein?« fragte er, indem er Petra erwartungsvoll anschaute. Das junge Mädchen errötete, lachte, war verwundert und wußte nichts zu antworten. Hyrtl, der wie ein Ballon von Vornehmheit dasaß, verlor den gleichgültig-grämlichen Ausdruck, der in seinen Zügen vorherrschte und sagte liebenswürdig: »Lassen Sie sich nicht beirren. Die Leute sind nur da, weil sie ihre eigene Langeweile vergessen, wenn sie einen andern sich langweilen sehen.«

Petra, die durch Arnolds höfliche Aufmerksamkeit, mit der er den Worten Hyrtls lauschte, gerührt wurde, lächelte und ihre Augen nahmen plötzlich im Lampenlicht ein schönes, tiefes Blau an.

Ein junger Mann mit gelber Gesichtsfarbe und schwarzen, frechen Augen näherte sich. »Freund Hyrtl sieht heute sehr bedeutungsvoll aus«, sagte er mit offenbarer Geringschätzung.

»Bei mir hat jedes Härchen seine Bedeutung«, entgegnete Hyrtl mit unschlüssiger Selbstironie.

»Dann müssen Sie aber mit den Jahren viel an Bedeutung eingebüßt haben«, sagte der junge Mann. Hyrtl lachte gutmütig-widerwillig und verzog verächtlich das Gesicht. Beide verachteten einander aufs äußerste. Petra spielte mit ihrer Uhrkette.

Was reden sie? dachte Arnold bestürzt. Er blickte Petra an, sah rückwärts in das Zimmer, dann gegen das Fenster und dachte abermals: was reden sie?

Natalie kam heran. Sie war rot, belebt, bewegt von Reden, von Hören, von Lächeln. Mit leichter Vertraulichkeit legte sie die Hand auf Arnolds Schulter; er blickte überrascht empor. »Nun was treiben Sie?« fragte sie, mit den Augen zwinkernd.

Auf einmal, er wußte nicht, wie es kam, begann er zu erzählen. Vielleicht war es der Trieb, sich aufzuschließen oder fühlte er das Verlangen, seine Anwesenheit zu rechtfertigen. Er berichtete von der Gewalttat, deren Opfer der Jude Elasser geworden und wie alle Mühe vergebens gewesen war, ihm zu seinem Recht zu verhelfen. Deswegen habe er sein Gut verlassen und sei in die Stadt gekommen. Er blickte jeden der drei Zuhörer leuchtend an, als ob er überzeugt sei, daß sie sich gleich ihm selbst für diese Sache entflammen würden. Er war in seiner Weise beredt, und diese Beredsamkeit verschaffte ihm den Respekt jener nichtigen Menschen.

»Das ist ja riesig interessant«, rief Natalie aus, als er geendet.

»Allerdings eine alte Geschichte, das mit dem Juden«, bemerkte Hyrtl frostig.

»An der Geschichte ist freilich nichts Neues,« erwiderte Natalie; »aber daß er sich so dafür ins Zeug legt, ist doch interessant.«

»Man müßte etwas dafür tun«, sagte Petra, die sich schämte.

»Ich werde mit meinem Freund, dem Minister Schrott sprechen«, entgegnete Hyrtl, indem er auf die Uhr blickte.

»Dafür würde ich Ihnen sehr dankbar sein«, sagte Arnold warm.

»Kommen Sie«, sagte Natalie.

Er stand auf und folgte ihr. Er glaubte, sie wollte ihm etwas Wichtiges mitteilen, indessen führte sie ihn zu ihrem Mann und sagte: »Da ist er.« Und als Martin ein dummes Gesicht machte, fügte sie feierlich hinzu: »Herr Ansorge, der Neffe von Borromeo.«

Martin schnalzte mit der Zunge, legte seinen Arm sogleich in den Arnolds, steckte ein Kaviarbrot in den Mund und sagte kauend: »Ist es wahr, daß Sie bis jetzt in einer Höhle gelebt haben? Alle Welt erzählt davon.«

Arnold sah den Mann überrascht an und wußte nicht, was er aus ihm machen sollte. Er bückte sich, um eine Nadel aufzuheben, die im Teppich blitzte, dann ging er zur Türe, verließ den Raum und suchte draußen seinen Mantel. Im Treppenhaus atmete er tief die kühle Luft ein. Unten im Flur überholte er Emerich Hyrtl, der vor ihm gegangen war und sich nun mit einem gedrehten, mühsam elastischen Schritt gegen die Straße bewegte, wo sein Wagen wartete. Die Figur dieses Mannes war auffallend; es schien, als säße auf künstlichen Beinen ein hölzerner Rumpf. Auch der Kopf schien mit Kunst in die Schultern eingedreht, und der allzukurze Hals verschwand im Pelz des Mantels. In allen Bewegungen, in jedem Blick lag drückende Langeweile und trostlose Ruhe.

»Kann ich Sie irgendwohin fahren, Herr Ansorge?« fragte er höflich und wohlwollend. Er schritt zu den Pferden, patschte den Tieren auf die Lenden, und die Eitelkeit eines Knaben zeigte sich auf seinem Gesicht.

Arnold verfolgte das Gebaren Hyrtls mit großen Augen. Er empfand plötzlich Neugier, den Mann von innen zu sehen, oder doch ohne Kleider, vielleicht schlafend, jedenfalls aber wenn er sich allein glaubte.

»Wie kommen Sie eigentlich zu Osterburgs?« fragte Hyrtl. Er hatte den Wagenschlag geöffnet, stellte einen Fuß auf das Trittbrett und zündete eine Zigarette an. »Es ist eine ganz interessante Familie«, fuhr er fort, ohne sich an Arnolds Schweigen zu kehren. »Das was Sie oben sehen, ist alles Maskerade. Die Leute sind verschuldet vom Boden bis in den Keller. Hinter den Möbeln und Bildern hängen die Pfändungssiegel. Die Stühle, worauf sie sitzen, gehören ihnen nicht. Jede Tasse Tee, die wir oben trinken, ist sozusagen von andrer Leute Geld gekocht. Natalie betrügt ihren Mann und Osterburg betrügt seine Frau. Es ist alles Schwindel, was Sie da sehen, eine Lotterwirtschaft ohnegleichen. Nur Petra, das ist eine famose Person, ein ganz besondres Mädchen. Na, adieu, leben Sie wohl.«

Er reichte Arnold die Hand, stieg ein und gab mit eleganter Bewegung dem Kutscher das Zeichen, zu fahren.

Arnold war wie vor den Kopf geschlagen. Nach kurzem Überlegen beschloß er, von neuem hinaufzugehen und zu sehen. Seltsam! Er wollte sehen, was dort an den Mauern klebte, womit die Gesichter getüncht waren; er erschien sich in wichtiger Angelegenheit hintergangen und wollte sich nun Wahrheit holen.

Er eilte die Stufen empor, läutete, warf seinen Mantel auf einen Berg von andern Mänteln und trat mit suchendem Gesicht in die Gesellschaftsräume. Zwischen Köpfen und Schultern sah er Natalie wie durch eine Mauerspalte. Sie gewahrte ihn und lächelte ihm zu wie einem vertrauten Freund. Sein Gehen und Wiederkommen hatte sie nicht bemerkt. Arnold suchte näher zu ihr zu gelangen, und plötzlich vernahm er ihre Stimme hinter sich. »Denken Sie nur, was ich soeben höre,« sagte sie mit einem vor Erstaunen jauchzenden Lachen zu einer Dame; »Hanka hat sich verheiratet…«

Arnold drehte sich um. Er konnte in ihrem Gesicht nichts gewahren als Jubel, Liebenswürdigkeit und Vergnügen. Nein, der Mensch da drunten muß gelogen haben, dachte er.

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Er wünschte zu wissen, wovon all die Leute sprachen, die sich hier zusammengefunden hatten. Mitteilsam glänzten die Augen, voll Geschäftigkeit öffneten sich die Lippen, um zu schwatzen und zu lachen. Viele Männer waren feist und ansehnlich; andere sahen aus, als hätten sie schreckliche Sorgen. Jemand ergriff Arnold beim Arm. Es war Baron Drusius, der seine Freude ausdrückte, ihn zu sehen. Er führte ihn zu einem jungen Mädchen, das eine Narbe auf der Wange hatte. »Meine Schwester«, sagte der Alte. Sie grüßte flüchtig, lächelte flüchtig und wandte sich zu einem Herrn, der in majestätisch-nachlässiger Haltung dastand und einem Menschen glich, welcher von dem Bewußtsein unendlicher Geistesüberlegenheit erfüllt ist, dies aber in anmaßender Bescheidenheit zu verbergen wünscht.

»Das ist der berühmte Bernay, eine Kapazität«, flüsterte Drusius Arnold zu. »Er will einen Staat von freien Menschen gründen, ohne Steuern und ohne Städte. Er hat eine Aktiengesellschaft gewonnen, um einen Landstrich in Amerika anzukaufen …«

Petra trat zu Arnold. Ihre vorgeschobene Oberlippe gab dem verständigen Gesicht einen altjüngferlichen Ausdruck. Sie machte Arnold wieder mit fremden Menschen bekannt. Von neuem das unerklärliche Namennennen, Verbeugen, Händedrücken. Wer sind sie? dachte Arnold; was bedeutet das? Einige waren so freundlich wie gegen jemand, auf den man große Hoffnungen setzt. Arnold grübelte, weshalb sie freundlich seien, ohne daß sie ihn kannten; weshalb sie, zuerst kalt, plötzlich dies überfließende Betragen annahmen, wenn sie sich verbeugt und die Hand gereicht hatten. Sie schienen Geheimnisse zu wissen und oft strahlte es feindselig und angstvoll aus ihren Augen. Aber ihre Worte klangen freundlich und leer.

Auf einmal kam Natalie mit Lebhaftigkeit auf ihn zu und sagte: »Sind Sie nicht aus Podolin, Herr Ansorge? Haben Sie da nicht Doktor Hanka kennen gelernt? Anna Borromeo sagte mir, Sie kämen aus Podolin. Sie kennen Hanka? Und kennen Sie auch seine Frau, diese Beate? Ja? Erzählen Sie doch, — bitte!«

Das alles sprudelte Natalie nur so. Sie war ganz außer sich vor Neugierde und biß sich auf die Lippen vor Verdruß, daß sie nicht früher den Einfall gehabt, Arnold zu fragen.

Arnold fühlte sich abgestoßen durch das zudringliche Wesen. Nachdem er einige Sekunden überlegend geschwiegen, hob er in jener heitern Weise den Kopf, die ihn sonderbar auszeichnete und sagte: »Herr Hanka hätte ein besseres Frauenzimmer finden können, glaube ich. Die Beate oder wie sie heißt, ist dem Teufel zu schlecht.«

Natalie erblaßte, sah sich erschreckt um, legte einen Finger auf den Mund und erwiderte betreten: »Was machen Sie denn, Sie komischer Mensch! Das dürfen Sie doch nicht so offen sagen. Geben Sie nur acht, daß Doktor Hanka nicht so etwas zu Ohren kommt, sonst können Sie sich schöne Unannehmlichkeiten zuziehen. Er hat doch diese Beate seit ihrer Kindheit für sich aufgezogen.«

»Es ist aber doch so, wie ich sage«, beharrte Arnold kalt. »Von mir aus mag sie treiben, was sie will, aber ich weiß, was ich weiß.«

Natalies Neugier war aufs äußerste gestiegen. Ungeduldig nahm sie Arnolds Arm und führte ihn in ein nebenan gelegenes, kleineres Gemach. Zwei alte Herren saßen am Fenster und unterhielten sich leise; sie erhoben sich nun und gingen hinaus.

»Also was wissen Sie? Erzählen Sie! Erzählen Sie!« begann Natalie sogleich.

Arnold runzelte die Stirn. »Gar nichts erzähl’ ich Ihnen«, antwortete er grob.

Natalie sah ihn entsetzt an.

Er aber fuhr fort: »Ist es wahr, daß Sie gar kein Geld haben, um die ganze Herrlichkeit zu bezahlen, die Sie da den Leuten vormachen? Ich hab’ auch noch ganz andre Dinge gehört, davon will ich aber jetzt nicht reden. Was treiben Sie denn eigentlich? Warum ist denn das so?«

Natalies Entsetzen war mitleiderregend. Sie zitterte über den ganzen Körper, trat einen Schritt zurück und flüsterte: »Was fällt Ihnen denn ein? Sind Sie toll geworden, Monsieur?«

Ah, Monsieur sagt sie zu mir, dachte Arnold verdrießlich. Als er jedoch ihre hübschen Kinderaugen voll Tränen sah, wurde er gerührt. »Wenn es nicht wahr wäre, würden Sie nicht weinen«, bemerkte er treuherzig.

Natalie hätte plötzlich lachen mögen. Sie zog das Taschentuch und verbarg das Gesicht. Sie erstickte beinahe an dem unterdrückten Lachanfall. Dann kam ihr ein Einfall, der ihr in den Ernst zurückverhalf. Er ist reich, dachte sie, man könnte seine Dummheit benutzen.

»Sie sind ein sonderbarer Mensch«, sagte sie, das Gesicht erhebend und unter Tränen lächelnd. »Wir müssen ausführlich miteinander reden, wir würden uns sicher verstehen. Kommen Sie doch mal, wenn ich allein bin.«

Arnold verabschiedete sich und ging.

Er aß bei Borromeos zu Abend. »Wie hast du dir die Zeit vertrieben, Arnold?« fragte Anna Borromeo.

Er dachte einige Sekunden lang nach und erwiderte: »Ich will nicht die Zeit vertreiben. Ich will die Zeit halten.«

Frau Anna lachte.

Borromeo liebkoste seinen Bart. »Er hat ganz recht«, sagte er. »Man sollte diese Redensarten immer beim Schwanz packen und sie nicht lassen, bis sie zertreten sind.«

Arnold betrachtete Borromeo und die Frau und lauschte ihrem spärlichen Gespräch. Sie sprachen wie durch eine Wand. Sie sahen einander nie an, ohne daß in ihren Blicken etwas wie Unmut oder Feigheit lag. Noch gestern hätte Arnold das nicht gespürt. Einen Augenblick lang wollte er das rätselhafte Dunkel, das zwischen den zwei Personen herrschte, durch eine ehrliche Frage ergründen. Daß er dies nicht vermochte, daß er einsah, das dürfe nicht geschehen, war die Ursache zu tieferem Nachdenken. Wo er stand, wo er saß, wohin sein Herz sich wandte, überall wuchs ein Anderssein-Müssen aus dem Boden.

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Hankas Verheiratung hatte in aller Stille stattgefunden. Er blieb mit seiner jungen Frau vorläufig in der Stadt und im Herbst wollten sie nach Paris. Beate träumte von Italien wie die kleinen Bürgermädchen, die in der Überlieferung der Hochzeitsreise aufgewachsen sind und sich darin vergnügen, ihr gesellschaftlich anerkanntes Glück spazieren zu führen. Einstweilen gab sie sich in der schönen Wohnung zufrieden, welche Hanka in einer Villa in Döbling eingerichtet hatte. Aber in heimlichen Augenblicken gestand sie sich, daß sie das Leben im abseits gelegenen Häuschen eigentlich kenne, daß sie der Einsamkeit müde sei und daß sie endlich Menschen, Straßen, Bälle und Theater haben wolle. Sie stellte sich trotzdem, als sei Hankas Glück auch das ihre. Sie stellte sich, als läse sie in den Büchern, die er ihr empfahl, als freue sie sich mit den Büsten, Stichen und Kunstdingen, mit denen sein Geschmack und sein Verständnis sie umgeben hatte. Sie stellte sich, als habe sie die Welt vergessen.

Hanka befand sich wohl. Er kam sich im stillen wie ein Pudel vor, der in der Sonne liegt und nach Fliegen schnappt, denn er gehörte zu den Leuten, die sich im Glück possierlich finden. Er betrieb historische und nationalökonomische Studien, gedachte seines früheren Lebens mit Abscheu und sah die Zukunft klar.

Beates Züge wurden kräftiger und energischer. Ihr Kinn ründete sich und um den bogenförmigen Mund legte sich das Lächeln der Gewißheit. Ihr Körper zeigte meist eine Ruhelosigkeit der Bewegung, die unter beobachtenden Blicken ins Krankhafte ging. Oft war es, als schäme sie sich ihrer Füße, ihrer Hände, ihres Halses, und sinnlich schamvoll wurde ihr Lächeln auf der Straße. Dann redete sie Dinge, unter deren Schutz ein hartnäckiger und boshafter Gedanke zu schlummern schien. Hanka blieb für sie ein großes, ernsthaftes Tier, belustigend in seiner Gravität. Sie glaubte sich ihm überlegen, denn seine Bildung schätzte sie gering und die Art seines Geistes war ihr unbekannt.

Unter allen Bekannten, die für Hanka in einem feindlichen Land hausten, suchte er sich doch Natalie als eine Ausnahme heraus. Für sie bewahrte er die Zuneigung eines Großvaters, nach ihrem bunten Geschwätz konnte er sich zuweilen wünschen. Er hatte Beate diesen Besuch versprochen, aber zuerst wollte er allein gehen, die lästigen Fragen allein schlucken.

Er fand Natalie und Petra zu Hause. Natalie begrüßte ihn mit erkünstelter Entrüstung. Ihr Gaumen schien von tausend Fragen zu springen. Hanka lehnte sich in den Sessel zurück, schlug schmunzelnd die Beine übereinander und machte ein heiteres und geduldiges Gesicht. Natalie konnte nicht länger an sich halten. »Doktor!« rief sie, »ist das eine Art, sich zu verheiraten? Und ist das eine Art, zu mir zu kommen? Wo ist Ihre Frau?«

»Erst muß ich auskundschaften, meine Teure«, erwiderte Hanka humoristisch. »Übrigens freue ich mich, Sie wiederzusehen.«

Petra lachte, wie so oft, wenn nichts zu lachen war. Es geschah meist, wenn sie ihre stillen Vorstellungen über das Benehmen eines Menschen bestätigt fand.

Das Zimmermädchen trat ein und sagte, ein Herr Ansorge sei da. Natalie nickte überrascht und verlegen und gleich darauf kam Arnold. Hankas Verwunderung war außerordentlich. Er blickte von einem zum andern und das ergötzte Natalie. Sie kam sich wichtig vor und sah nun selbst etwas Geheimnisvolles in Arnolds Besuch. Während sie ihn begrüßte, klärte Petra den erstaunten Hanka auf.

Arnold nahm Platz; er war schweigsam und antwortete nur spärlich auf Fragen. Er hatte geglaubt, Natalie allein zu finden und es schien ihm nun, als ob sie überhaupt nie allein sei. Natalie spürte auch so etwas heraus, denn sie war ziemlich kleinlaut geworden. Sie hatte Angst vor diesem Menschen.

»Sie haben sich rasch zurechtgefunden«, sagte Hanka zu Arnold. »Ich dachte nicht, Sie schon im Mittelpunkt der Gesellschaft zu finden.« Trotzdem er nun wußte, wie es zugegangen war, hatte Arnolds Anwesenheit für ihn immer noch etwas Unerklärliches. Er war gewohnt, sich Natalie gegenüber in einer unveränderlich trockenen und spaßhaften Weise zu betragen; Natalie hatte sich diese Manier zurechtgelegt und beide konnten stets hinter den Worten, womit sie einander spielerisch betrogen, etwas anderes suchen. Dies reizte heute Hanka nicht. Schließlich schwiegen sie alle drei. Natalie war ratlos. In heller Verzweiflung studierte sie Arnolds Gesicht, fand die Nase zu klein, den Mund häßlich, das Haar zu glatt und lachte endlich vor Zorn und Verlegenheit gerade hinaus. Das ärgerte Arnold.

Hanka erhob sich und Arnold entschloß sich, mit ihm zu gehen. Natalie bat ihn, noch zu bleiben, aber er schüttelte den Kopf.

»Ich habe etwas Wichtiges mit Ihnen zu sprechen,« sagte sie; »wenn Sie heute keine Zeit haben, kommen Sie nächsten Donnerstag um fünf Uhr.«

Er versprach es. Ihre Worte verwunderten ihn immerhin, und er wäre nun am liebsten gleich dageblieben, doch wollte er mit Hanka reden, denn der stille Mann fing an, ihm zu gefallen.

»Was machen Sie eigentlich in Wien?« fragte Hanka auf der Straße.

Mit wenigen Worten, fast mit denselben, die er neulich gegen Natalie, Petra und Hyrtl gebraucht, setzte Arnold sein Vorhaben auseinander.

Hanka machte große Augen. »Um Himmelswillen,« sagte er, »das ist doch eine Donquichoterie.«

»Was heißt das?«

»Na, wissen Sie, der Junker Don Quichote, der zog aus, um gegen Windmühlen zu kämpfen. Lesen Sie doch die famose Geschichte. Übrigens, ich will Ihnen nicht zu nahe treten.« Er sah Arnold verstohlen von der Seite an und wußte nicht, ob er ihn närrisch oder bewundernswert finden sollte.

Arnold verdroß jedoch diese Art zu reden, die ihm nun schon wohlbekannt war, und die ihm etwas Niedriges zu enthalten schien. An der nächsten Straßenecke verabschiedete er sich daher kurz und brüsk.

Hanka spazierte nachdenklich nach Hause. Beate lag auf einem Langstuhl und blickte regungslos an die Decke.

»Schläfst du, Beate?« fragte Hanka väterlich.

Sie verdrehte die Augen und erwiderte, mit den Füßen unter dem Kleid strampelnd: »Ich langweile mich, ich langweile mich.«

Hanka schwieg betroffen. Beate erhob sich, reckte gähnend die Arme und hielt sie dann vor sich, wie zu einer nachlässigen Umarmung. Auf den ruhigen Vorschlag Hankas, mit ihm eine Spazierfahrt zu machen, kleidete sie sich um und saß bald darauf mit festlichem Gesicht an seiner Seite im Wagen. Er sollte ihr erzählen, und berichtete von Natalie. Während er umständlich und etwas grübelnd seine Gedanken ausdrückte, verschlang Beate mit den Blicken die Leute der Straße und bemerkte nicht, daß Hanka mit spöttischem Schmunzeln abbrach. Sie ist jung, lebendig und hungrig, sagte er sich, legte ein Bein über das andere und blies den Rauch seiner Zigarre mit der Versöhnlichkeit eines alten Landpfarrers in die frische Frühlingsluft. Beate schmiegte sich näher an ihn, als läge ihr daran, sich dankbar zu erweisen und sann in unergründlicher Schlauheit nach Mitteln, um Versprechungen zu erhalten. Aber was sie begehrte, war formlos, denn sie hatte mehr Wünsche als Gedanken. Alle Wege ihrer Phantasie waren mit Begierden belagert, deren Schatten ihr Gesicht selbst im Schlaf überzogen. Um Beschäftigung zu haben, spann sie Ränke gegen die Dienstboten, schrieb sie Briefe an eingebildete Personen, erzählte sie erfundene Träume, streute sie Verleumdungen über Personen aus, mit denen sie kaum gesprochen hatte. Es kam heraus, daß sie im Gartenhäuschen eine Katze an den Beinen aufgehängt hatte. Hanka machte ihr Vorwürfe. Während er dann ein Buch nahm und zu lesen begann, umarmte sie ihn und biß ihn ins Ohr. Hanka riß die Augen auf, ertappte ihren von Ungeduld, ja von Haß glühenden Blick und starrte sie sprachlos an. Sie wurde finster und nahm eine Moden-Zeitschrift, in der sie wahllos blätterte. Sich ein Bild des Mannes zu entwerfen, mit dem sie lebte, lag ihr fern. Ihr war alles in solcher Nähe, daß ihr Geist nicht zum Schauen, sondern nur zum Betasten kam. Sie wollte Leidenschaften um sich sehen.

Hanka freilich fühlte sich als den Herrn. Anders zu leben war ihm nicht möglich. Glücklich sein hieß für ihn, unabhängig sein und jeden Zustand des Behagens mit freiem Urteil abmessen zu können. Da er so nach Sicherheit im Innern strebte, gab er nach außen Verläßlichkeit, eine Eigenschaft, worauf die Unverläßlichsten am meisten bauen und die sie am schnellsten entdecken.

In der Nacht konnte Hanka nicht schlafen. Er drehte die elektrische Lampe auf und versuchte zu lesen. Aber die Worte entglitten ihm. Dann stützte er sich auf den Arm und betrachtete Beates Gesicht. Es erschien ihm so fremd in seinem Schlaf, daß er einen leichten Schrecken verspürte. Die krampfhaft verschlossenen Lider ließen die dunkeln Streifen der Wimpern kaum bemerkbar erzittern. Die gewölbte Stirn war feucht, die weißen Schläfen bebten unter dem Lauf des Blutes. Die Lippen bewegten sich in unhörbaren Worten, welche vielleicht den Zügen ihren verschlossenen und rohen Ausdruck gaben. Hanka berührte ihre Schulter, um sie von dem quälenden Schlaf zu befreien. Kaum war sie erwacht und hatte ihn mit einem feuchten Blick angesehen, als sie ihre Arme um ihn preßte und ihren Körper fest an ihn schmiegte. »Ach Alexander,« flüsterte sie mit gebrochener Stimme, »du mußt mir etwas kaufen. Willst du?«

Sie wünschte sich eine Perlen-Halskette, die sie bei einem Juwelier gesehen. »Nie wieder will ich etwas, wenn du mir den Schmuck kaufst«, sagte sie.

Hanka versprach es. Aber darauf schwieg er bedachtsam. Unzufriedenheit entstand in ihm. Gründe der Leidenschaft konnten ihn nachgiebig stimmen, aber sie sickerten durch bis in seine Vernunft, wo eine ernsthafte Prüfung ihrer harrte. Dennoch schloß er Beate in alle Betrachtungen als das wertvollste Besitztum seines Lebens. Er sah in ihr das reine Kind, das sich ihm aufbewahrt. Daß er selbst es gewesen, der in einer Handlung von dunkler Kraft schon so frühe ihre Zukunft mit der seinen verknüpft, das erschien ihm als ein besonders trostvoller Wink des Schicksals.

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Als Arnold am folgenden Nachmittag in das Speisezimmer trat, waren Hyrtl und Pottgießer bei Anna Borromeo.

Kurz darauf wurde Frau Borromeo aus dem Zimmer gerufen. Ein Börsen-Agent war draußen, der sie zu sprechen wünschte. Pottgießer sprach von einer großen Gesellschaft, die demnächst in seinem Hause stattfinden sollte und lud Arnold ein.

Anna Borromeo kam zurück. Sie war sehr bleich, sagte aber mit heuchlerischer Lebhaftigkeit: »Ich höre eben, daß es im Parlament morgen eine Interpellation über den Fall Elasser gibt. Das ist doch was für dich, Arnold.«

»Ich weiß es«, erwiderte Arnold. »Ich habe den Abgeordneten unseres Bezirks dazu veranlaßt.«

Hyrtl und Pottgießer sahen ihn mit sonderbaren Blicken an.

»Da können Sie einen netten Skandal erleben«, bemerkte Pottgießer, indem sich sein Gesicht verfinsterte. »Wozu mischen Sie sich eigentlich da hinein?« wandte er sich an Arnold. »Die Juden sollen ihre Geschäfte selber austragen.«

»Sie sind doch auch ein Jude,« entgegnete Arnold verwundert und maß ihn von oben bis unten. »Gestern erst hat mir’s jemand erzählt, zufällig.«

Anna Borromeo war sichtlich erschrocken, Hyrtl spitzte moquant die Lippen.

»Ich war ein Jude,« versetzte Pottgießer scharf, »und ich hatte innerlich nie etwas mit Juden gemein. Aber lassen wir das.« Er lachte halb spöttisch, halb verlegen.

Hyrtl verabschiedete sich. Da Arnold sich ebenfalls erhoben hatte und in der Nähe der Türe stand, drückte ihm Hyrtl mit befremdlicher Herzlichkeit die Hand und sagte: »Kommen Sie doch einmal auf eine Stunde zu mir. Ich langweile mich so.« Nichts konnte ehrlicher klingen als diese wenigen Worte. Arnold schaute ihn groß an und lächelte freundschaftlich. Er versprach, zu kommen.

Er erwartete mit Ungeduld den nächsten Morgen. Als er im Zuhörerraum des Parlaments saß, war es unten noch leer. Langsam füllten sich die Reihen, auch rings um ihn nahmen Leute Platz. Wenn dies anfangs den Schein der Feierlichkeit besessen hatte, sehr verursacht durch die Schönheit des Raums, war es doch nur so lange, bis sich dem Auge viele von den Gestalten hier oben und dort unten besonders darboten. Denn diese Gesichter waren wie von einem Folterinstrument zu dem Ausdruck des Hohns, der Habsucht, der Niedrigkeit, der Geistesertötung, des Übelwollens, der Unwissenheit, der Langeweile und des fanatischen Hasses verzerrt. Indessen begnügte sich Arnold mit dem Bewußtsein, daß sich die Gesetzgeber des Landes hier versammelten und ein Teilchen des Volkes, das seine Richter und Väter kennen zu lernen wünschte; es sei also besser zu hören, als zu sehen und nützlicher zu warten als zu urteilen. Erst muß man sehen und lernen, dachte er, indem er dem Beginn der Verhandlungen lauschte und auf ein erschreckendes Geschrei aufmerksam wurde, wie unter den Streitenden in einem Bauernwirtshaus. Sobald nämlich der Name Elasser gefallen war, erhob sich ein betäubender Lärm, der in Schimpf- und Hohnreden bestand; viele erhoben sich, gestikulierten und brüllten; auch die Leute um Arnold fingen an zu lachen und zu brüllen, stiegen auf die Bänke und schmähten gegen die Juden und dergleichen. Die Parteigänger gaben ihre Sache natürlich nicht auf; auch ihrerseits erprobten sie die Kraft der Lunge. Dann kam einer zu Wort; er redete aber schlecht, stieß mit der Zunge an und ging um die eigentliche Sache feig herum. Niemand kümmerte sich um das, was er sagte. Mitten in seinem hudelnden Gewäsch erhob sich johlendes Gelächter, viele begannen wiederum zu schreien, zu pfeifen, zu zetern und das dauerte mindestens eine Viertelstunde lang, so daß ein richtiges Wort gar nicht mehr herausdrang.

Plötzlich läutete der Präsident, verkündigte den Schluß der Debatte, und es wurde von etwas anderm gesprochen.

Arnold schaute sich um, als ob er träume. Er hatte Lust, hinunterzuschreien und erhob unwillkürlich die Faust. »Das ist ja heillos, was die da treiben«, sagte er voll Wut zu seinem Nachbar, einem ungeheuerlichen Fettwanst, der ihn höhnisch anstarrte.

Er sprang auf, verließ die Tribüne, lief durch Treppen und Gänge hinunter, kam in eine prächtige, mit Säulen geschmückte Halle, wo plötzlich ein junger, gewählt gekleideter Mensch auf ihn zukam und mit gestreckten Händen und dem Ausdruck höchster Überraschung »Arnold!« rief. Arnold blickte empor und erkannte Maxim Specht. Doch seine Sinne waren so sehr von dem Vorgefallenen benommen, daß er leer nachdenkend in das Gesicht des ehemaligen Lehrers starrte. Specht war von dieser Kälte unangenehm berührt, ließ sich aber nichts merken, stellte Fragen über Fragen, schien voll Nachrichten, Neuigkeiten, Neugier, aber auch voll Behagen, Lebenslust und Lebenskenntnis. Arnold teilte ihm auf sein Verlangen mit, wo er wohnte, darauf trennten sie sich. Auf der Straße dachte Arnold nicht mehr an die Begegnung.

Er saß zu Hause eine Stunde lang in seinem Zimmer, als ihn Anna Borromeo rufen ließ. Er ging hinunter. Anna lag auf der Ottomane. Sie trug ein weißes, loses Gewand, welches über die Füße hinweg seitlich zur Erde fiel. Den Kopf hatte sie hintübergesenkt und die Augen geschlossen. Langsam öffnete sie die Lider, als Arnold eintrat und winkte ihm mit dem Arm, näher zu kommen. »Du siehst mich in Angst und Sorge, Arnold«, begann sie mit ruhiger Stimme. »Willst du mir aus einer großen Verlegenheit helfen?« Sie stützte sich auf den Ellbogen, hob sich empor und sah ihn erwartungsvoll an.

»Was ist es?« fragte Arnold.

Frau Borromeo schob ihre Kleidschleppe gegen sich heran und setzte sich aufrecht mit untergeschlagenen Armen. »Ich brauche nicht allein einen Helfer, sondern auch einen verschwiegenen Helfer«, sagte sie. »Nun das bist du, verschwiegen bist du, du bist ja ein Mann. Warum nimmst du nicht Platz?«

Arnold setzte sich auf einen der niedrigen Polstersessel. »Erst muß ich wissen, was es ist«, sagte er kühl.

»Ich brauche zehntausend Gulden, heute noch«, sagte die Frau und sah ihm starr in die Augen.

»Zehntausend Gulden! Donnerwetter, das ist viel«, rief er aus. »So viel hab ich in meinem ganzen Leben nicht gebraucht.«

»Ich habe eine drückende Börsenschuld. Ich habe unglücklich spekuliert. Dein Onkel darf nichts davon erfahren. Ich verlange natürlich kein Geschenk von dir. In drei bis vier Wochen werde ich dir’s zurückgeben.«

»Ah so!« sagte Arnold.

»In gewissem Sinn hast du mein Schicksal in der Hand«, fuhr Anna fort. Sie erhob sich und schritt, immer noch mit verschränkten Armen, auf und ab. Dann blieb sie neben ihm stehen. Er blickte empor und sah das weiße Kinn, den roten Mund und einen feindseligen Blick ihrer Augen. Da erhob er sich, trat zum Tisch, riß ein Blatt aus dem Anweisungsbuch für die Bank, das er in der Tasche trug, nahm die Feder und schrieb.

Er reichte Anna Borromeo den Scheck; sie dankte und er ging. In seinem Zimmer angelangt, öffnete er die Fenster, setzte sich rittlings auf einen Stuhl und schaute nachdenklich in die Luft.

Achtundzwanzigstes Kapitel

Von den Büchern, mit denen sich Arnold neuerdings beschäftigte, machten die juristischen einen großen Teil aus. Er las sie mit Scharfsinn und Aufmerksamkeit. Aber dabei Wissenschaft zu gewinnen, war nicht leicht und von einer glatten Straße sah er sich bisweilen in eine Wildnis verschlagen. Er erkannte dann stets, daß es gefährlich sei, den Weg fortzusetzen und fing wieder am Anfang an. Damit war eine gewisse Ermüdung verknüpft, und er griff zu etwas Neuem, um nach einer andern Richtung, auf einer andern Bahn alsbald von neuem unberaten im fremdesten Gebiet sich zu finden. Allmählich wurde es ihm schwer, die Ordnung zu bewahren, nach außen und nach innen. Er wußte nicht, ob das Leere wirklich leer sei und das Unverständliche nur ihm allein unverständlich. Nicht selten tauchte er in ein finsteres Wasser hinab, um mit Geringschätzung wahrzunehmen, wie leicht der Schein von Tiefe zu vernichten sei. Aber vergebens suchte er Grenzen zu ziehen. Wie in dunklen Nächten manchmal die Gegend eine schreckliche Weite zu haben scheint und zugleich eine undurchdringliche Abgeschlossenheit, so geschah es hier. Er griff dahin und dorthin; Schwieriges erschien leicht, das Leichte unüberwindlich. Jeden Gedanken an Beistand schloß er vorläufig mit sonderbarem Starrsinn aus; er war der Meinung, daß keine fremde Weisung ihm die Dienste des eigenen Instinktes leisten konnte.

Manchmal nahm er zu Dichtungen seine Zuflucht. Aber das Farbig-Täuschende, ja sogar das Bildhafte erregte sein Mißtrauen, auch wo ein Meister schuf. Was mit Kunst zusammenhing, nahm er nicht sehr ernst, schon weil er das Element der Gestaltung nicht zu würdigen vermochte und er den Werken des Geistes naiv ihren unmittelbaren Nutzen abfragte.

Er griff nach Zeitungen, um auf solche Art das Wirkliche an sich zu pressen. Torheit, Verbrechen, Wahnsinn und Verzweiflung boten sich nun in kalter Nähe und Trockenheit. Was Geschwätz und Schiefheit war, mußte abgestreift werden. Vom Politischen blieb nur Lüge, Hader und Täuschung; oder Namen: Gott, Vaterland, Kirche, Freiheit, Güterverteilung. Eine Zeitlang irrte Arnold zwischen Phrasen wie ein Gefangener umher. Er wollte das Festeste ergreifen, das ihm erreichbar war, und so kam er zur Zahl und ihrer Wissenschaft. In seinem Sinn schien es heller zu werden. Pforten, denen Licht entstrahlte, öffneten sich, durch eine Formel gesprengt. Wie die Sehne des Bogens nach jeder Spannung in ihre natürliche Lage zurückkehrt, so erschlaffte weder, noch überspannte sich sein Geist bei solcher Arbeit. Aber er überschätzte das Licht; er überschätzte die Klarheit, in welcher die Dinge demjenigen sich zeigen, der seine innere Flamme zur Beleuchtung nach außen verwendet.

Es war ein regnerischer Tag; am Abend sollte die Gesellschaft bei Pottgießer sein, zu der Arnold geladen war. Gegen vier Uhr brachte der Diener eine Karte mit dem Namen Maxim Spechts.

Specht trat ein, noch eleganter gekleidet als neulich, sorgfältig rasiert und frisiert, lächelnd und liebenswürdig. Er schilderte alsbald das Leben, das er jetzt führte, und mit innerer Unsicherheit versuchte er es, die Vergangenheit mit der Gegenwart in einen geistigen Einklang zu bringen. Aber wenn jemand einen allzu vollen Becher trägt, kann er nicht gut verbergen, daß seine Hand von der überquellenden Flüssigkeit benetzt worden ist. Arnold war nachdenklich. Er fragte sich umsonst, weshalb Specht gekommen sei; er fragte sich, was aus dem sozialistischen Schullehrer geworden sei, der so großen Jammer mit dem Elend des Volkes empfunden hatte.

»Sie scheinen viel zu lesen«, bemerkte Specht, auf die zahlreichen Bücher blickend, die auf dem Tisch lagen. »Übrigens kann ich Ihnen einen Roman empfehlen, den ich jetzt gelesen habe. Ich will Ihnen das Buch leihen. Es ist eine geistreiche Satire auf unsre heutige Gesellschaft.«

Arnold schüttelte den Kopf. »Ich brauch’ das nicht,« erwiderte er abwehrend. »Das Geistreiche schmeckt mir nicht. Romane les’ ich nicht. In den Romanen erbleichen die Leute zu oft.«

Specht meckerte. »Köstlich«, sagte er.

»Wie geht es Ihnen bei Ihrer Zeitung?« fragte Arnold.

»O, ausgezeichnet. Ich habe mir eine angesehene Stellung gemacht. Ich sage Ihnen, Arnold, ich habe Dinge gesehen und Menschen kennen gelernt, von denen ich mir früher in meiner Schullehrerweisheit nichts habe träumen lassen. Es ist doch was Herrliches um so eine Großstadt.«

»Ja, das haben Sie immer behauptet.«

»Und finden Sie das nicht?«

»Es ist mir zu viel, vorläufig. Ich muß mich erst hineinleben.«

»Was mich betrifft, so tanze ich von einem Vergnügen ins andere. Kostet aber auch teuflisches Geld; besonders die Weiber. Weiber gibt es hier, Arnold!« Er schnalzte mit der Zunge. »Ich brauchte nur einen reichen Verwandten oder Freund,« fuhr er fort, »und ich würde es bis zum Minister bringen.«

Der Zusammenhang der Argumente entging Arnold.

Specht verabschiedete sich mit dem Versprechen, bald wieder zu kommen; er habe was auf dem Herzen, fügte er hastig hinzu.

Arnold stand am Fenster und sah ihn auf der Straße in einen eleganten Wagen steigen, der vor dem Haus gewartet hatte. Ei, dachte er, dem muß es gut gehen.

Der Diener kam mit einer Anfrage von Doktor Borromeo herauf, ob Arnold am Pottgießerschen Abend teilnehmen würde. Arnold bejahte. Dieser Abend stellte sich ihm nicht als Vergnügen dar, sondern er betrachtete ihn ernsthaft als einen Teil seiner Aufgaben.

Als Borromeo Arnolds Antwort erhalten hatte, ging er in das Zimmer seiner Frau. Leise trat er ein, als ginge er auf den Fußspitzen. Anna saß lesend am Fenster. Ein blasses, sommerfleckiges Fräulein kämmte ihr das Haar. Der Doktor stutzte und wollte sich wieder entfernen.

»Hast du mir etwas zu sagen, Friedrich?« fragte Frau Borromeo sanft. »Geben Sie acht, Lina, Sie tun mir weh,« wandte sie sich an das Fräulein und klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden.

»Ich wollte dich nur verständigen, Anna, daß es mir unmöglich ist, zu Pottgießer zu gehen,« sagte der Doktor.

»Berufspflichten?« spottete Anna Borromeo, ohne den geringsten Verdruß zu zeigen. »Dann wird mir nichts übrig bleiben als ohne dich zu gehen,« fügte sie kalt hinzu.

Borromeo zuckte die Achseln und sah einer umhersummenden Biene nach. Er stand wie ein untertäniger Auftragnehmer an der Türe.

»Dein Neffe wird mich führen, denke ich,« sagte Anna stirnrunzelnd.

Der Doktor bejahte.

»Er zeigt überhaupt glänzende Talente zum Gesellschaftsmenschen,« fuhr sie fort. »Ich muß gestehen, daß ich nach deiner Schilderung etwas anderes erwartet habe. Ich habe einen Himmelsstürmer erwartet und sehe nichts als einen stillen, jungen Mann, der sich ganz artig anzupassen versteht.«

Das Frisierfräulein war fertig und empfahl sich. Doktor Borromeo begann langsam auf und ab zu gehen und sich den Bart zu streichen. »Ich habe keinerlei Verantwortung dafür übernommen, bis zu welchem Grade du dich an Arnold amüsieren kannst,« sagte er endlich. »Wenn du an ihm nicht mehr findest, als er dir zeigt, so kann es dir gehen wie dem reichen Mann mit Jesus Christus. Wir sind nie erbärmlicher, als wenn wir auf etwas herunterzublicken glauben, was hoch über uns steht.«

Anna Borromeo senkte den Kopf. Sie war verständig genug, um einzusehen, daß sie einen falschen Ton angeschlagen habe. Ihr Wesen war anteilvoller, als sie rasch erwiderte: »Ganz gut; nehmen wir an, er ist das, was du in ihm siehst. Warum scheint er dann so dumpf, so erstaunt, so simpel? Wenn so ein Mensch, wie du ihn glaubst, in unsere Kreise versetzt wird, müßte er doch wie Dynamit wirken. Aber es macht den Eindruck, als ob ihn alles kalt ließe. Er lächelt und schaut und schweigt. Er hat sogar gelernt, sich in unserer Manier zu verbeugen. Warum höre ich nichts von ihm, was mir Aufschluß gibt? Warum tut er nichts, was mir imponiert?«

Anna Borromeo hatte ihr Gesicht erhoben. Ihre Wangen waren blaß, der Ausdruck ihrer Augen leidenschaftlich und drohend. Sie leugnete, um zu leugnen. Sie haßte, weil sie zu lieben sich fürchtete.

»Lassen wir es,« sagte Borromeo verdrießlich und wehrte mit der Hand ab.

»Du hast schlechte Gewohnheiten mir gegenüber angenommen,« sagte Anna. »Es ist leicht, ein Thema abzubrechen, das einem über den Kopf wächst.«

Friedrich Borromeo blieb vor ihr stehen. »Du hast recht,« begann er sachlich, »aber würde es dich denn bekehren, wenn ich dir sagen würde, worin du irrst? Keine Wahrheit gilt als die erlebte. Ein Charakter von nicht so hoher Bedeutung würde das tun, was du von Arnold erwartest. Er würde um sich werfen, Funken schlagen, sich geberden, fruchtlose Unternehmungen anstellen. Dieser Mensch aber hat die Ruhe, das zu erwarten, was die Natur in ihm erschafft –«

Er hielt inne, als er das ungläubige Lächeln Annas bemerkte, schob mit einem wunderlichen Ausdruck seinen Kragen zurecht und verließ das Zimmer.

Anna Borromeo läutete dem Zimmermädchen, welches über eine Stunde um sie beschäftigt war. Als sie fertig war und in das Speisezimmer trat, kam auch schon Arnold herab. Der Wagen wartete unten.

Das Haus, welches Pottgießer bewohnte, war eine Sehenswürdigkeit. Marmorbelegte Fluren führten zu den Empfangsräumen. Die Säle waren so hochgebaut und luftvoll, daß auch die gedrängteste Versammlung ihnen nichts von ihrer Weite zu rauben schien. Kostbare Kunstgegenstände, Bilder, Statuen, Teppiche, Nippes, Vasen boten sich dem Auge in Fülle.

Arnold gewahrte Natalie und begrüßte sie. Sie war in hellgrünem Moireekleid, trug Perlen um den Hals und Diamanten im Haar. Es war bezaubernd, sie lächeln zu sehen, als ob sie sich selbst beneide und bewundere. Während sie an Arnolds Seite ging, grüßte sie die Grüßenden, schelmisch beschämt oder mit kindlichem Triumph. Jeden kannte sie, jedermanns Erlebnisse wußte sie zu erzählen. Da war eine junge Frau, sechs Jahre verheiratet und noch kinderlos. Und warum? Weil sie es für unvornehm gehalten hatte, im ersten Ehejahr ein Kind zu bekommen, wurde der Storch abbestellt. Aber im zweiten Jahr kam auch keines, im dritten und im vierten auch nicht. Großer Familienrat; aber der Storch ist beleidigt und der Sprößling hält es jetzt nicht mehr für vornehm, geboren zu werden.

Arnold machte ein dummes Gesicht zu dieser Erzählung.

Und dort unter dem Kandelaber stand eine magere Person, — ist es nicht unappetitlich, so mager zu sein? Ihr Mann hat sich aus einem Fenster gestürzt, weil sein eigener Freund diese Magerkeit appetitlich gefunden. Schlecht ist die Welt, nicht wahr? Dieser rotbärtige und vollbackige Herr hat große Unterschlagungen verübt und nur seine herzlichen Beziehungen zur Gräfin Palansky haben ihn vor dem Kerker geschützt. »Keine von diesen Frauen ist ihrem Manne treu,« flüsterte Natalie, und Vergnügen und Wohlwollen färbte ihr Gesicht. »Sie naschen von jedem Tisch und sind überall gleich satt. Tausend Geschichten kann ich Ihnen erzählen. Es ist sehr hübsch hier, nicht wahr?« So plauderte Natalie.

Petra kam den beiden entgegen, und zum zweitenmal versicherte Natalie mit ihrer jauchzenden Kinderstimme, daß sie sich göttlich unterhalte. Petra senkte in ihrer schweigenden Weise den Kopf und als Arnold und Natalie ihr wieder entschwanden, seufzte sie. Ihr Wesen irrte in sich selbst. Sie fand sich nur abgesondert, sie konnte nicht abstoßen; sie genoß mit, wo sie sich schwächlich in die Hoffnung wiegte, vielleicht einmal entbehren zu können, wenn das Bessere zu ihr herabwuchs, so daß sie nur die Lippen öffnen brauchte.

Arnold blieb in Natalies Kreis gebannt, saß auch bei Tisch neben ihr. Eine merkwürdige Heiterkeit umfing ihn, die oft nur in dem Vorsatz bestand, die Dinge von der günstigen Seite betrachten zu wollen. Er sah Anna Borromeos Blick auf sich gerichtet und machte die Beobachtung, daß sie vor allen Frauen sich hervorhebe, nicht allein durch Schönheit, sondern auch durch etwas Verschwiegenes, das sich nicht jedem Auge biete. Indessen scherzte er mit Natalie, lachte, fühlte sich über seine Nachdenklichkeit erhoben, strengte sich an, im Harmlosen die versteckte Andeutung zu finden, doch blieb ihm immer das sonderbare Gefühl, mit so vielen Menschen an einem Tisch zu sitzen, lediglich zum Zweck gemeinschaftlichen Essens. Die endlose Reihe der Speisen wunderte ihn, und er besah sich abermals die Leute, die mit einer Kette aneinander gefesselt schienen, welche durch keine Kraftanstrengung zu durchreißen war und deren helles Klirren durch vielfaches Plaudern übertönt werden mußte.

Neunundzwanzigstes Kapitel

Natalies halb entblößte Brust, ihre entblößten Schultern zogen seinen Blick von ihrem listigen Gesichtchen ab. Oft schlossen sich ihre Augen für eine Sekunde, und sie wiegte den Kopf nach dem Takte der Musik.

»Petra ist kopfhängerisch,« sagte sie und zerlegte dabei das Fasanstück auf ihrem Teller. »Soll ich Ihnen etwas anvertrauen?« Doch sofort wandte sie sich zu ihrem linken Nachbar, um auf eine Frage zu antworten.

Arnold sah zwischen zwei Blumenbüschen ein sehr schönes Frauengesicht. Er schaute unbeweglich lächelnd hin. Dumpfes Besitzenwollen erwachte in ihm. »Was wollen Sie mir anvertrauen?« fragte er Natalie. Natalie drehte sich wieder zu ihm. »Richtig,« sagte sie leise und mit einer heiteren Wendung des Kopfes. »Petra ist mit Emerich Hyrtl verlobt. Aber schweigen Sie darüber. Es ist nicht alles in Ordnung. Petra ist jedenfalls nicht mit dem Herzen dabei. Wissen Sie, was ich glaube?« sagte sie dann in verändertem Ton. »Ich glaube, daß nicht leicht zwei Menschen so gut geschaffen sind, Freunde zu werden wie wir beide.«

Arnold nahm vorsichtig und ungeschickt von dem Eis, welches umhergereicht wurde. Dann erst blickte er Natalie an und legte unbekümmert seine Hand auf ihren Arm. Er erwiderte mit einer Freiheit, die ihm sonst keineswegs eigen war: »Freundschaft muß man sich erwerben.«

Natalie zuckte unter seiner Berührung zusammen. Dann lachte sie und antwortete: »Es gehört auch Talent zur Freundschaft. Man muß Opfer bringen können. Welches Opfer könnten Sie mir zum Beispiel bringen?« Und da er etwas verblüfft schwieg, fuhr sie scheinbar ganz treuherzig fort: »Würden Sie mir die Hälfte Ihres Vermögens schenken? Nein? Oder hunderttausend Gulden? Nein? Oder fünftausend? Sie sehen, ich lasse mit mir handeln. Ach,« schloß sie wehleidig, »was hängt alles am Gelde! Wenn Sie ahnten, was ich für Kummer habe, lieber Freund.«

Sie wartete umsonst auf seine Antwort. Man muß deutlicher mit ihm sein, dachte sie; er ist einfältig wie eine Köchin. Wahrhaftig, mit ein paar tausend Gulden wäre mir gedient und ich brauchte morgen meinen Schmuck nicht wieder zu versetzen.

»Ach, ich bin so froh gelaunt heute,« rief Natalie laut, indem sie sich ein wenig dehnte, »ich könnte die ganze Welt küssen.«

Betroffen, mit langsam forschendem Blick schaute Arnold sie an, als wolle er sich jede ihrer Bewegungen einprägen. »Sie sind wie ein Kind,« sagte er. »In der einen Hand haben Sie Spielzeug, in der andern aber…«

»Was?« Natalie war sehr gespannt. Jedes Urteil über sie selbst, auch das vernichtendste, setzte sie in einen Zustand wohliger Aufregung. »Nun, und in der andern?«

»Etwas Giftiges.«

Man hörte die Stimme des Doktor Bernay: »Gebt uns reinen Boden, Luft,

Wald, Acker und wir werden edle Menschen hervorbringen.«

Alle erhoben sich. »Der alte Rousseau-Schwindel,« sagte ein Herr mit langen, weißen Haaren.

Bernay trat vor den würdigen Herrn; »Rousseau! Was für ein Mißverständnis!« rief er. »Wir wollen die Rasse erneuern. Kein phantastisches Zukunftsideal. Wir wollen Männer. Immer hört man von der Frauenfrage schwatzen. Es ist endlich einmal Zeit, von der Männerfrage zu reden.«

Ein verdrießliches Schweigen entstand. Gleichgültig wandte Arnold der Gruppe den Rücken. Seine Gedanken suchten ein Ziel, ein Echo, ein Empor. Von allen Seiten hörte er nichts weiter als Geschwätz.

»Haben Sie die Antinous-Statue gesehen, die Pottgießer in Spalato gekauft hat?« hörte er einen jungen Mann zu einem andern jungen Mann sagen. »Fabelhaft? was?«

»Halten Sie sie für echt?« antwortete der zweite.

»Pottgießer soll bei der Ausgrabung zugegen gewesen sein. Hat sechzehntausend Gulden gekostet, der Spaß.«

Osterburg eilte auf Arnold zu. Er hatte gehört, wie Hyrtl von diesem Herrn Ansorge als von einem Elementarereignis gesprochen hatte. Dies wurmte ihn, und er nahm sich vor, dem Elementarereignis »auf den Zahn zu fühlen«, wie er sich ausdrückte, denn was sich nicht unter seine Begriffe von Welt und Leben bringen ließ, das bekläffte er in aller Stille und Hinterlist. Er fragte Arnold aus über Aktien, Kaltwasserkuren, Leberkrankheiten und erzählte schließlich Geschichten eigenen Fabrikats. Je geduldiger Arnold zuhörte, je abenteuerlicher wurden die Vorfälle und je höher stieg er in Osterburgs Achtung.

Pottgießer hatte einige Herren zu verschiedenen Kartenspielen verteilt. Im Musikzimmer wurde eine Dame aufgefordert, zu spielen. Arnold stellte sich neben den Flügel, als die ersten Takte ertönten. Zuerst beobachtete er nur die Finger der Spielerin, dann ließ er einen prüfenden, immer mehr erstaunten Blick umherschweifen. Etwas Dämmeriges, Verblasenes ging von der Musik wie von der Spielenden aus. Die ganze willenlose Seele dieser Menschen war es, die aus ihr erklang. Die Geldgeschäfte und Geldgedanken schienen vergessen, ebenso wie die nutzlosen Aufregungen eines eifersüchtigen Beisammenseins. In den Gesichtern der Frauen lag eine süßliche Verlorenheit, um den Mund ein zerstreutes Lächeln, in den Augen schwüle Träumerei und ein ungesunder Glanz.

Während die Spielerin nach langem Beifall ein neues Stück begann, verließ Arnold das Musikzimmer. Er überschritt einen gepflasterten Vorraum; in einem Winkel versteckt sah er einen jungen Mann und ein junges Mädchen in friedlichem Gespräch. Er ging weiter und kam alsbald in ein kleines, rondellförmiges Gemach. Hier stand als einzige Zierde die Antinous-Statue. Beim Anblick der Marmorfigur blieb er ergriffen stehen. Im ersten Augenblick glaubte er, ein Geschöpf aus einer Märchenwelt vor sich zu sehen, märchenhaft belebt, in märchenhafter Nacktheit. Aber als er sich überzeugt hatte, daß es ein Stein war, der in feierlicher Unbeweglichkeit vor ihm aufragte, wich sein kühles Befremden. Unwillkürlich ahmte er die heroisch-ruhige Bewegung im linken Arm der Statue nach, die göttlich-kalte und ungerührte Neigung des Hauptes. Der Ausdruck der dicken und leidenschaftlichen Lippen wurde geklärt durch den Blick der Augen, welche alles Seiende mild beschauten und erst das Werk zum Wirkenden werden ließen. Das ist schön, dachte Arnold, das gefällt mir.

Er kehrte zur Gesellschaft zurück. Anna Borromeo, die nach Hause wollte, hatte ihn gesucht. Schweigend saß er neben ihr im Wagen. Sie beugte sich vor und drückte beide Hände an die Augen.

»Hüte dich vor dieser Natalie,« sagte sie plötzlich. »Es ist kein wahrer Blutstropfen in der Person. Sie spielt mit sich und mit den Menschen.«

»Sie ist nicht schlechter als andere,« gab Arnold kühl zurück. »Ihr seid alle so. Ihr spielt nur mit den Menschen.«

Frau Borromeo richtete sich auf und sah ihm durch die Dunkelheit forschend ins Gesicht.

Dreißigstes Kapitel

Maxim Specht hatte die Partei und die Zeitung verlassen, die ihm seinen ersten Wirkungskreis eröffnet hatte. Er war Redakteur eines Blattes geworden, welches von der Regierung unterhalten wurde. Er verdiente durch seine Arbeit etwa zweihundert Gulden im Monat. Er verbrauchte ungefähr fünfhundert. Dabei wurden seine Bedürfnisse mit jeder Woche größer und die Hoffnung, das Schuldennetz zu zerreißen, in welchem er verstrickt war, täglich geringer. Er geriet in schwierige Verhältnisse und war der Sklave einer Genossenschaft von Menschen, in deren Mitte er den Herrn zu spielen dachte. Der Boden schwankte unter ihm. Abenteuerlichkeiten aller Art mußten vorhalten, um ein im Grunde erbärmliches Dasein fortzuführen.

Da dachte er an Arnold. Zu gleichen Teilen wollte er der Harmlosigkeit und der Menschlichkeit Arnold Ansorges seinen Vorteil abgewinnen, dieses Arnolds freilich, den er unter dem Verkleinerungsglas sah, das sein jetziges Leben für alle Ereignisse und Gestalten der Vergangenheit bildete. Sein erster Besuch sollte nur als ein Freundschaftszeichen gelten, auch wagte er noch nicht zu bitten. Als er zum zweitenmal kam, hatten ihn die Überlegungen der dazwischen liegenden Tage gestärkt, und er forderte von Arnold mit dringender Herzlichkeit achthundert Gulden als Darlehen.

Arnold blickte ihn still und verwundert an. Er goß ein Glas Wasser aus der Karaffe, ohne jedoch zu trinken.

Irgend eine Stimme gebot ihm Vorsicht.

Specht beobachtete ihn mit hin und her zitternden Augen. »Es ist ein Freundschaftsdienst,« sagte er lächelnd.

Arnold nickte. »Ich habe nicht so viel zu Hause,« erwiderte er. »Morgen will ich es Ihnen schicken.« Er betrachtete das Gesicht Spechts und es erschien ihm neu und fremd, völlig verändert gegen früher. Wangen und Kinn waren aufgeschwemmt, breiter, behäbiger, trotzdem die modische Kleidung ungünstige Linien verwischte. Indem er den Lehrer Specht aus Podolin mit dem geschmeidigen, wünschevollen, verstörten, kühlen und trunkenen Mann verglich, der vor ihm saß, suchte er nach den Ursachen einer so unheilvollen Verwandlung. Irgend welche Kräfte schienen zerstört in Specht; er war wie ein Mensch, der wider seine Absicht an einem Tanz teilnimmt, teilnehmen muß, und der mit allen Zeichen der Hitze, der Benommenheit, der Atemlosigkeit eigentlich nicht weiß, was mit ihm vorgeht.

Specht lud ihn ein, mit ins Theater zu gehen, er habe zwei Sitze von der Zeitung; Arnold nahm das Anerbieten an. Er war vor einem Monat zum erstenmal bei einem Shakespeareschen Stück gewesen und hatte einen tiefen Eindruck gewonnen.

Es wurde ein neues Stück aufgeführt, welches in andern Städten schon großen Beifall erlangt hatte. Specht saß als überlegener Mann da. Die zwei ersten Akte waren vorüber, und brausendes Händeklatschen begann. »Ein glänzendes Stück«, sagte Specht befriedigt, erhob sich und grüßte einige Personen mit einem Winken seiner Hand. Dann forderte er Arnold auf, ihn zu begleiten, und sie schritten draußen im teppichbelegten Wandelgang auf und ab. »Wie gefällt es Ihnen?« fragte Specht etwas gönnerhaft.

»Ich finde es vollkommen sinnlos,« erwiderte Arnold.

»Sind Sie toll?« rief Maxim Specht verdutzt.

»Muß er sich denn verlieben? Warum verliebt er sich, wenn er dadurch zugrunde geht?« fuhr Arnold unbeirrt fort. »Oder vielmehr, warum geht er durch Verlieben zugrunde? Kein Mann geht dadurch zugrunde, das ist nicht wahr, ist lauter verlogenes Zeug.«

»Aber begreifen Sie denn nicht,« entgegnete Specht ironisch und nachsichtig, »der Verfasser will zeigen, wie ein Mann gerade durch eine ideale Liebe zugrunde gehen muß, wenn einmal das Innere seiner Seele krank oder angefault ist.«

»Gewiß versteh ich das,« sagte Arnold ruhig. »Aber an einem solchen Schwachkopf war doch nichts mehr zu verderben. Und heißt denn das zugrunde gehen, wenn man sein Geld verliert?«

Spechts Gesicht wurde immer länger. Der Mann ist gar nicht so dumm, schien er sagen zu wollen. Beide schickten sich an, auf ihre Plätze zurückzukehren, als Beate und Hanka aus einer Logentüre traten und die vier, einander betrachtend, sich gegenüberstanden. Beate verlor nur eine Sekunde lang die Fassung, dann reichte sie gleich Hanka den jungen Männern die Hand. Specht ließ kein Auge von ihr. Sie trug ein Kleid, welches wie von tausend Schuppen fischhaft schillerte und das Schultern, Arme und die Wölbung der Brüste freiließ. Gelangweilt vorbeischleichende Männer hefteten den frech-studierenden Blick auf sie, die sich dessen zu freuen schien, denn ihre Augen liefen unruhig funkelnd von Wand zu Wand, von Gesicht zu Gesicht.

»Mich langweilt dieses schlechte Stück,« sagte Hanka humoristisch gelaunt. Er hatte sich auf Beates Wunsch den Schnurrbart rasieren lassen und sah nun aus halb wie Napoleon, halb wie ein Jesuitenpater.

»Wir müssen uns sputen, es fängt an,« drängte Beate. »Weißt du was, Alexander,« rief sie plötzlich, »wir wollen vor unserer Abreise noch einen Podoliner Abend geben. Specht und Herr Ansorge sollen bei uns essen …«

»Sehr gut; aber Sie können auch sonst einmal zu einem Plauderstündchen kommen,« sagte Hanka zu Arnold, dessen Hand er in der seinen hielt.

Arnold nickte. Er fühlte auf einmal eine große Zuneigung zu Hanka.

Die Leute waren im dunkeln Theater wie in einer Höhle verschwunden. Specht blickte auf die Tür, durch die Beate gegangen war. »Haben Sie die Schultern gesehen?« murmelte er Arnold zu; »und das Gesicht? Sie sieht aus wie eine Prinzessin.«

Noch ein letzter Gast kam aus einem der Außenräume, Hyrtl. Specht stellte sich vor, und es wurde ausgemacht, daß alle drei nach dem Theater bei Hyrtl zu Abend essen sollten.

Einunddreißigstes Kapitel

Seitdem Hyrtl den eigentlichen Beweggrund von Arnolds Aufenthalt in der Stadt kannte und ihm die Erzählung Arnolds von Anna Borromeo wenn auch widerwillig, so doch ohne Entstellung, bestätigt worden war, hatte er nicht nur Respekt vor dem jungen Menschen (er achtete und bewunderte das Vortreffliche wie ein Leser von Kriegsgeschichten den Feldherrn, welcher Schlachten gewinnt), sondern er benutzte auch jeden Anlaß, Arnold vor andern zu erheben, und was er wußte, andern mitzuteilen, verschönt durch edle Einzelheiten, welche seine eigene Phantasie geboren hatte. Hyrtl schmückte sich mit den besten Eigenschaften seiner Freunde, indem er sie anerkannte, und er liebte seine Freunde leidenschaftlich, das will sagen, alle Menschen, die ihm Gesellschaft leisteten.

Als der Diener die Tür von Hyrtls Wohnung öffnete, sprang ein kleiner gelber Hund zur Begrüßung heraus. Die Ausstattung der Zimmer zeigte alle Arten und Größen von Sofas und gepolsterten Sesseln. Auf Glastischen standen in roten, grünen, blauen und gelben Fläschchen Essenzen und Wohlgerüche, auf dem Schreibtisch lagen in gewählter Ordentlichkeit Siegel, Uhren, Brieftaschen, Anhängsel, Ringe, Dosen, Ketten und aus allen Ecken und von jeder Wand starrten Photographien von Herren und Damen mit liebevollen Unterschriften. Dem Bücherkasten gegenüber stand eine kleine, uralte Zimmerorgel.

In Hyrtls blassen Zügen zitterte schon jetzt die Angst, daß die Gäste ihn zu früh verlassen könnten, denn wie sehr fürchtete er die einsamen Stunden der Nacht! Durch diese Furcht wurde er witzig; etwas Berückendes und Liebenswertes trat aus seinem Wesen hervor, je mehr die Stunde vorrückte. Hilfsbedürftig klammerte er sich an jedes Lächeln seiner Gäste.

Specht setzte sich an die Orgel und trat den Windbalg. Aus seinen Schulmeistertagen war er noch mit einigen Griffen vertraut, und er spielte eine choralähnliche Folge von Akkorden.

Hyrtl lobte sein Spiel, dann wandte er sich zu Arnold und sagte: »Ich möchte Sie nächstens mit einer Freundin von mir bekannt machen, einer russischen Studentin.«

»Aus welchem Grund?«

»Ihr beide würdet wunderbar zusammenpassen. Es macht mir manchmal Freude, Menschen zueinander zu führen, Schicksale zu erzeugen.«

»Die reine Alchimisterei,« spottete Specht.

»Nein wirklich,« beharrte Hyrtl, »Verena Hoffmann würde Ihnen gefallen.«

»Verena Hoffmann?« rief Specht. »Die kenn’ ich ja. Lebt die nicht mit einem gewissen Tetzner?«

»Ja. Aber es ist ein ganz einwandfreies Verhältnis.«

Specht lachte. »Hat sie’s Ihnen schriftlich gegeben? Einwandfrei! Was heißt denn das? Soll übrigens sehr reich sein, dieser Tetzner.«

»Jawohl. Es ist ein reicher Gutsbesitzer, der Nihilist geworden ist. Wenn Sie erlauben, Herr Ansorge, werd’ ich Sie morgen mit dem Wagen abholen und wir fahren zu Verena.«

Arnold nickte.

»Gehen Sie schon?« fragte Hyrtl traurig, da die jungen Leute Anstalt machten, aufzubrechen, und indem er Arnold die Hand reichte, fügte er hinzu: »Alleinsein ist bitter. Lieber einen Raubmörder zur Gesellschaft haben als allein sein.«

»Warum arbeiten Sie nicht?« fragte Arnold hart.

Hyrtl zuckte die Achseln. »Ich kann nichts,« antwortete er. »Ich war Kaufmann, aber ich hätte ebensogut Strümpfe stopfen können. Ich würde ja nur irgend einem Berufenen den Platz wegnehmen, wozu? Mein Vater hat mir genug hinterlassen, daß ich die paar Jahre, die ich noch zu leben habe, in Gemütsruhe erledige.«

»Was heißt das?«

»Das heißt, daß ich sehr krank bin. Mein Herz ist kaput.«

Als seine Gäste gegangen waren, gab sich Hyrtl eine Zeitlang seinen trostlosen Betrachtungen hin. Dann versuchte er zu lesen. Die Buchstaben tanzten. Wie albern und schrecklich das Gedichtete der Dichter in den einen Ruf zusammenklang: wir können dir nicht helfen. Er griff zu medizinischen Werken, zu philosophischen Schriften, zu alphabetischen Lexika, zu alten Zeitungen; schließlich öffnete er ein Fach seines Schreibtischs, nahm ein schwarzes Heft heraus und schrieb. Es war eine Art Tagebuch, das die oberflächlichen Dienste eines Spiegels verrichtete und einen Widerklang der eitlen, leeren, ärmlichen und empfindsamen Dinge bildete, die sich im Kopf dieses Menschen wie eine Schar von Insekten herumtrieben. Doch Hyrtl prahlte mit diesem Heft vor seinen Freunden und hielt es geheim. Das Schloß, hinter dem es lag, zeigte dreifachen Verschluß und gab zuletzt erst dem Druck einer verborgenen Feder nach.

Hyrtls Gesicht war müd und welk geworden. Er kleidete sich aus, wälzte sich noch lange unter der himmelblauen Atlasdecke umher, und erst als das Tageslicht auf die Dielen fiel, sank er in Schlaf.

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