Am folgenden Tag war Arnold mit Hyrtl wirklich in die Wohnung Verena Hoffmanns gefahren. Das Fräulein hatte sie ziemlich kühl empfangen und Arnold merkte gleich, daß es mit der Freundschaft, deren sich Hyrtl gerühmt, nicht so recht stimmte. Er selbst verhielt sich schweigsam und beobachtend. Nach einer Viertelstunde gingen sie wieder.
Durch einen scheinbar unerklärlichen Anstoß begann Arnold sich plötzlich abzuschließen. Er folgte keiner Einladung mehr und war unzugänglich für jeden Besucher. Er nahm auch an den Mahlzeiten bei Borromeos nicht mehr teil, sondern versorgte sich entweder zu Hause mit Schinken und Wurst oder suchte irgend eine nahegelegene billige Wirtschaft auf. Trotz des Alleinseins wimmelte es um ihn her von Bildern und Gesichtern, die seinen Geist in unaufhörliche Beschäftigung versetzten und den Stunden der Arbeit die Leichtigkeit raubten. Wohin mit all der Mühe? dachte er bisweilen in Zweifeln, die wie schwarze Vögel am Horizont flogen, — wohin? zu welchem Ufer, du Segler? Er arbeitete, ohne die Anerkennung eines Freundes zu genießen.
Eine Stimme klang in seinem Ohr, die ihm diese Anerkennung zu versprechen schien und deren Widerhall nicht erlöschen wollte.
Eines Nachmittags entschloß er sich plötzlich, Verena Hoffmann aufzusuchen. Als er vor der Wohnungstür stand, zögerte er eine Weile, bevor er auf den elektrischen Knopf drückte. Als es läutete, hatte er das Gefühl, über seine Zukunft entschieden zu haben.
Verena selbst öffnete. Sie war sichtlich verwundert, ihn zu sehen, hieß ihn jedoch eintreten. Er kam in ein ziemlich großes Zimmer; es schien ihm, als sähe er es zum erstenmal. Überall lagen Bücher umher, an den Wänden, auf dem Tisch, auf Bett und Stühlen und auf dem Boden. In einem Winkel stand ein menschliches Skelett, in einem anderen Winkel ein kleiner Sparherd, auf welchem Wasser kochte. Daneben befand sich eine Art Anricht, worauf ein Hohlspiegel stand, ein Mikroskop, eine Retorte, Flaschen, zwei Krautköpfe und ein Laib Brot. Arnold betrachtete all dieses mit Verwunderung und mußte schließlich lächeln. Das junge Mädchen schaute halb gespannt, halb verdrießlich in sein Gesicht, das auf sie einen Eindruck von Vierschrötigkeit und Hausbackenheit machte. »Womit kann ich dienen?« fragte sie mit einer hellen deutlichen Stimme und etwas ausländischer Betonung.
»Erinnern Sie sich nicht, ich war ja mit Herrn Hyrtl neulich bei Ihnen,« antwortete Arnold unbefangen. »Ich heiße Ansorge, Arnold Ansorge.«
Verena machte große Augen. Der seltsame Besucher fing an, sie zu belustigen. Sie forderte ihn durch eine Geberde auf, Platz zu nehmen und setzte sich ebenfalls.
»Ich dachte mir gleich,« begann Arnold zutraulich, »daß Sie fragen würden, warum ich käme und daß ich nicht antworten könnte. Ich will einen Vorschlag machen. Denken Sie doch, daß wir schon lange bekannt wären und daß Sie mich heute erwartet hätten.«
Das junge Mädchen wendete mechanisch die Blätter eines Buches um, das auf dem Tisch lag. »Wenn ich Ihnen jetzt antworten würde, wie Sie es wünschen,« sagte sie, ohne den Kopf zu bewegen, der zu dem offenen Buch geneigt war, »dann würde ich Sie belügen. Ich weiß nicht, was Sie gerade hierher treibt; vielleicht ein Straßeninteresse. Ich habe wenig Zeit, sehen Sie, und ich will wenig Zeit haben. Nur was mir nützt, kann ich in mein Leben aufnehmen.«
Arnolds Gesicht rötete sich. »Da führen Sie aber ein trauriges Leben,« entgegnete er schnell.
Verena Hoffmann zuckte die Achseln und machte eine unbestimmte Geberde gegen die überall verstreuten Bücher. Sie schien nicht aufgelegt, sich in Erörterungen einzulassen. Langsam, mit wiegendem, gedankenvollem Schritt ging sie hinter dem Tisch auf und ab, berührte zerstreut einige Gegenstände mit der Hand und schielte bisweilen mit Erstaunen auf den Besucher, der keine Anstalten machte, sich zu entfernen.
»Was studieren Sie eigentlich?« fragte Arnold.
»Medizin.«
»Medizin,« wiederholte er. »Ja, das ist etwas Festes, danach kann man greifen.« Er machte eine Bewegung, als nähme er die ganze Medizin in die Hand. »Da gibt es Arbeit,« fuhr er fort, »man weiß, wo man anfangen und aufhören soll. Es hat einen Sinn und einen Zweck.«
Als sie ihn so nachdenklich sprechen sah, änderte sich der Ausdruck von Verenas Gesicht. »Das allein genügt nicht,« antwortete sie mit Wärme. »Die Arbeit genügt nicht und das Ziel genügt nicht. Was ist Arbeit ohne innere Freude und Ziel ohne Persönlichkeit! Darum handelt sich’s.«
Das Geräusch eines auf den Steinfließen der Treppe Schlürfenden wurde hörbar, erst entfernt, dann ein Scharren und Aussetzen, vermischt mit Seufzen und Schnauben, dann klopfte es draußen und Verena ging, um zu öffnen.
Ein wunderlich aussehender Mann trat ein. Verena stellte vor: »Herr Tetzner, Herr Ansorge.«
Tetzner trug eine blaue Brille, einen Schlapphut, einen Wettermantel und außerordentlich große Stiefel. Unter dem Arm hatte er einen dicken Folianten. Sein Gesicht war schwammig und aufgedunsen; die Lippen schwollen förmlich aus dem Bart heraus, der in der Dämmerbeleuchtung schier eine kanariengelbe Farbe zeigte.
Verena sagte leise ein paar russische Worte. Tetzner blickte Arnold an und lachte gutmütig.
Fragend schaute Arnold von einem zum andern. Verena reichte ihm die Hand und sagte mit freundlich-ernstem Lächeln: »Ich hoffe, Sie wiederzusehen.« In ihren Augen lag auf einmal etwas Kameradschaftliches.
Von nun an ging Arnold mit ganz anderm Sinn an eine Tätigkeit, deren bloße Grenzen zu bestimmen er bisher mit bedenklicher Leidenschaft bemüht gewesen war. Er begriff endlich, daß die Fülle ihn verwirrt, die Vielfältigkeit zerstreut hatte, und er beschloß, dem nächsten, praktisch ausnutzbaren Ziel zuzusteuern.
Es war, als ob Wolken aus seinem Gehirn fortgeblasen seien.
Er verschaffte sich ein genaues Verzeichnis der Fächer, deren Kenntnis zur Abiturialprüfung erfordert wurde. Nicht so leicht wurde es ihm zu erfahren, bis zu welchem Grade diese Kenntnisse reichen mußten. In der Universität wies man ihn da- und dorthin. Schließlich nahm er einen Wagen und fuhr in die Wohnung eines Professors der Jurisprudenz, den er hatte nennen hören. Der Mann war mürrisch und kalt. Doch Arnolds bestimmtes Auftreten und Fragen schüchterten ihn ein; er gab Auskunft wie ein aus dem Schlaf geweckter Schüler. Arnold notierte; seine heitere Liebenswürdigkeit verwunderte endlich den Gelehrten und nahm ihn für den Besucher ein. Er glaubte den Eifrigen warnen zu sollen: dies Brot mache keinen fett, der Andrang sei groß und die Brüste der Alma mater seien schlaff geworden. Arnold verstand den Schmälenden nicht. »Ich bin nicht hungrig,« sagte er kurz, dankte und entfernte sich.
Er suchte nun einen Studenten, mit dessen Hilfe er Lateinisch und Griechisch treiben konnte; von beiden Sprachen waren nur Anfangsregeln in seinem Kopf. Er folgte dem Rat des Professors und hinterlegte seine Adresse beim Pedell der Universität. Am nächsten Morgen schon ging es treppauf, treppab im Borromeoschen Haus. Junge Männer mit leidenden und düstern Gesichtern kamen. Sie trugen meist eine angenommene Demut zur Schau, eine Unterwürfigkeit, die schlecht zu den Vorstellungen Arnolds paßte. Was aber viel entmutigender und schrecklicher auf ihn wirkte, war die große Menge dieser nahrungslosen Studenten. Im Korridor, wo oft zehn oder fünfzehn auf einmal warteten, hatte der Diener Mühe, ihre Eifersucht und Vordringlichkeit zu zähmen. Jeder wollte der erste sein, und nicht durch seine Person oder sein Wesen glaubte er den andern verdrängen zu können, sondern durch die größere Niedrigkeit des Preises seiner Dienste. Von Einem zum Nächsten wurde Arnold unentschlossener. Manches Gesicht war ihm sympathisch, da stieß ihn wieder ein gewisser dunkler Schmerz darin ab. Blutlos und kraftlos tauchten ihre Züge vor ihm auf, redeten nicht, sondern lispelten und verschwanden wieder troglodytisch-fahl. Arnold fragte oft nach ihren Lebensumständen, ihrer Heimat, ihren Absichten, aber jeder betrachtete sein Geschäft als abgetan, sobald seine Erwartungen durch ein Interesse getäuscht wurden, das ihm frivol erschien. »Ich bin nicht da, um Sozialpolitik zu treiben,« meinte einer höhnisch, »dafür bleibt mir Zeit, wenn andere bei der Tafel sitzen.« Arnold schwieg, überlegte, dann sagte er, daß er eben jemand suche, der darauf Antwort zu geben verstünde, »und das muß ihm ebenso natürlich sein, wie mir, zu fragen.«
Der Student entfernte sich mit einem kurzen Auflachen, und Arnold, der keinen mit leeren Versprechungen hingehalten, wollte nun auch die übrigen nicht mehr sehen. Seiner Natur widerstrebte es, sich in ein ungesundes Mitleid einzubohren und betrübende Verhältnisse entweder als etwas Unabwendbares hinzunehmen oder durch unreife Handlungen noch mehr zu verwirren. Ihm war es klar geworden, daß eine geregelte Tätigkeit, die auf Taten zielt, mehr ist als eine verfrühte Tat.
Er beschloß sich an Verena zu wenden, welche ihm vielleicht eine geeignete Person empfehlen konnte. Zu seiner Arbeit hatte er nun die schönste Muße; Frau Anna war auf dem Land, Borromeo war in Prozeßangelegenheiten nach Ungarn gefahren. Der Sommer und Sonnenschein zog Arnold nicht ab. Tag und Nacht waren seine Fenster offen, und er begnügte sich mit dem kleinen Himmelsstück zwischen den Dächern und mit den kurzen Vogelschreien, die über die Straße hallten.
Verena Hoffmann antwortete ihm unverzüglich, sie wisse einen geeigneten Menschen und werde ihn bald schicken. Sie sei indessen wieder mit Herrn Hyrtl zusammen gewesen, fügte sie hinzu; »er erzählte mir, da die Rede darauf kam, Interessantes von Ihnen. Er scheint in bezug auf seine Freunde ein sehr ruhmrednerischer Mann zu sein, aber dennoch möchte ich Sie bald wiedersehen. Ein Punkt vor allem gibt mir zu denken. Sollte es Geschwätz sein, so hätte ich den Mann unterschätzt, der so etwas für ein kurzes Gespräch erfindet.« Die Schrift war fein und rundlich, genau wie Verenas Hals und Hände.
Was bedeutet das? dachte Arnold. Was will sie wissen? und was könnte Hyrtl von mir wissen? Er hatte kaum Zeit, den Brief auszulesen, da hinter dem meldenden Diener ziemlich aufgeregt Specht ins Zimmer trat. Ohne seinen Hut abzunehmen, warf er sich in einen Sessel, spannte die Knie zwischen seine Arme und das vorgehaltene Spazierstöckchen und sagte, indem er die kleinen, unruhigen Augen aufriß: »Gott sei Dank, daß Sie zu Hause sind. Ich wäre verzweifelt, wenn ich Sie nicht angetroffen hätte. Sie müssen mir helfen, lieber Freund. Ich habe gestern abend an Hyrtl vierhundert Gulden auf Ehrenwort verloren. Wir haben Macao gespielt, ich, Hyrtl, ein gewisser Herr Osterburg und noch ein Herr. Es ging ziemlich hoch. Bis heute abend muß ich — Sie begreifen, Arnold, — meine Ehre –« Er stotterte, denn Arnolds verwundertes und verletztes Gesicht ließ ihn nicht das Beste hoffen.
Arnold schüttelte den Kopf. »Nein, lieber Specht,« sagte er, »nein.«
Maxim Specht nahm langsam den Hut vom Kopf, griff nach seinem seidenen Taschentuch und wischte die feuchte, runde Stirn. »Sie wollen grausam sein, Liebster,« flüsterte er mit gezwungenem Lächeln und einem Versuch, liebenswürdig-beredt zu erscheinen, »aber man straft sich selbst, wenn man seine Freunde verläßt. Sie sind reich genug, um dieses Sümmchen durch die Finger zu blasen, ich aber –,« er wollte nach der Uhr sehen, zog aber die Hand zurück — »wenn ich bis Abend nicht zahle, kann mir nur noch eine Pistole kaufen.« Er schob den Zeigefinger hinter den Kragen und fuhr damit um den Hals.
»Das sind nichtswürdige Dinge, die Sie da vorbringen,« antwortete Arnold. »Es ist so wenig Verstand darin, daß ich gar nicht anfangen mag, Ihnen Widerspruch zu halten. Wenn man spielt, kann man doch nicht mehr verspielen, als man hat. Das wäre nicht ehrenhaft und könnte keine Ehrenschuld sein. Ich, lieber Specht, das sage ich Ihnen, will nicht Geld an Ihre Stiefelsohlen hängen, damit es auf der Straße liegt. Ich glaube nämlich, mit Geld muß man Edles beginnen, damit es edel wird.«
»Ach Liebster, machen Sie doch nicht in meiner kleinen Misere den Reformator,« klagte Specht mit einer müden Kopfbewegung, während seine Augen halb gehässig, halb verzweifelt blitzten. »Ich muß nun doch für das Geschehene einstehen. Theorien sind gut für das Kommende. Sie sollen mir nichts schenken. Ich lasse mir nichts schenken. Warten Sie nur, bis meine Zeit anbricht; ich habe Wurzel gefaßt, ich werde auch Früchte tragen.«
Arnold schämte sich für Specht, denn sein praktischer Sinn nahm diese Reden mit Verachtung auf. Ein spöttisches Lächeln lag um Spechts Lippen, offenbar nur durch den Wunsch erzeugt, nicht allzu klein zu werden und nicht gar zu mürbe zu erscheinen.
»Gut,« sagte Arnold endlich mit einer freundlichen, jedoch nachdenklichen Miene, »ich darf Sie nicht belehren, und wenn Sie auf mich rechnen, muß ich vielleicht die Rechnung anerkennen. Gut, ich will Ihnen also das Geld geben.«
Spechts Gesicht wurde erst glühend rot, dann blaß. »Sind Sie nicht ein wenig ungerecht gegen mich?« fragte er mit einem fast sichtbaren Aufatmen der Erleichterung. »Hätten wir nicht Grund und Fähigkeit genug, uns gegenseitig anzuschließen, statt uns abzuwetzen? Wo Süßigkeit sein sollte, ist immer Schärfe.« Aufstehend und sich verabschiedend, fügte er hinzu: »Wir beide sind übermorgen abend bei Hankas eingeladen. Hankas reisen noch in dieser Woche ab. Ich hoffe, wir werden uns draußen sehen.«
Arnold machte sich wieder an die Arbeit. Er ging bald zu Bett und stand in der frühesten Frühe auf. Auch dieser Tag ging mit Arbeit hin. Eine wunderbare Unermüdlichkeit war in ihm entstanden, denn wer täglich frische Klarheit über das Notwendige erwirbt, muß täglich über seine frischen Kräfte verfügen.
Am Abend trieb ihn die Begierde nach guter Luft aus dem Haus. Kaum war er um die nächste Straßenecke gebogen, so sah er vor sich eine große Ansammlung von Wagen, die sich gestaut hatten, da der Weg durch ein umgestürztes Frachtfuhrwerk gesperrt war. Plötzlich gewahrte er in einem der eleganten Fiaker Beate Hanka. Ihr lachendes Gesicht war von der Abendröte beschienen, und ihre mutwillige Hand hatte den Vorhang des Wagens zurückgeschoben. Mit aufgeregter Neugier spähte sie nach dem Hindernis, und Arnold war sehr überrascht, als er an ihrer Seite nicht Hanka, sondern Maxim Specht gewahrte. Er hatte nicht Zeit, näher hinzuschauen, denn schnell fiel der Vorhang wieder über das Fenster.
Indem Arnold weiterging, fiel ihm dieses Zusammentreffen schwer aufs Herz.
Ihm wäre es durchaus nicht auffallend erschienen, Specht und Beate so vertraut beisammen zu sehen, hätte er nicht gewußt, wie die beiden auseinandergegangen waren. Es beschlich ihn etwas Dunkles, und er mußte stehen bleiben, um seine Überlegungen zu sammeln. Hankas trockene und gerade Art wurde ihm gegenwärtig, ebenso wie Beates schlüpfriges Wesen. Er fand sich aufs wunderlichste für eine Sache verantwortlich, die ihn mit Ahnungen von Trug und Geheimnis beschäftigte; mit schmerzlichem Zorn dachte er an Hanka, wenn er in ihm einen Mann sehen sollte, in dessen Leben keine Wahrheit floß. Wie er sich auch stellen mochte, nichts konnte ihn seiner Unruhe entreißen. Die Furcht des Irrtums ließ ihm seinen Zweifel ungeheuerlich erscheinen, und er beschloß irgendwie zu handeln.
Als er nach Hause kam, fand er einen Brief von Natalie, worin sie ihn bat, er möge gleich zu ihr kommen, sie wünsche ihn dringend zu sprechen.
Er ging hin.
Natalie war aufs eifrigste mit dem Packen von Koffern beschäftigt. »Wir ziehen morgen aufs Land,« sagte sie und sah sich mit lachender Verzweiflung nach einem Stuhl um; überall lagen Kleider und Wäsche. »Es ist schon ein wenig spät im Jahr, aber ich freu’ mich riesig auf Wälder, Wiesen und Luft. Petra ist heut bei Mama. Mama ist krank, wird aber jedenfalls reisen, denk’ ich. Werden Sie uns nicht besuchen im Gebirg? Das wäre märchenhaft. Hier, setzen Sie sich auf den Hutkoffer. Die Kinder sind schon zu Bett. Denken Sie nur, was Helenchen heute zu ihrem Vater sagte. Papa, sagte sie, ich kann gar nicht begreifen, daß du dich bei Mama langweilst. Wie finden Sie das? Herrlich, nicht? Nun, wenn die Väter so klug wären wie ihre Kinder, würden sie keine haben.«
Arnold nahm Platz und fragte Natalie, weshalb sie ihn gerufen.
Natalie erblaßte, griff sich an die Stirn und murmelte: »Ach so! richtig!« Dann legte sie ihre Hand auf seine Schulter und fragte mit tragischer Betonung: »Sind Sie ein Freund? Sind Sie ein wahrer Freund?«
Arnold blickte sie mißtrauisch an und schwieg. Auf einmal begann sie zu schluchzen. Arnold rührte sich nicht. Eine schöne Geschichte, dachte er und runzelte die Stirn.
»Nein, ich kann nicht, ich kann nicht,« stöhnte Natalie, schlug die Hand vor das Gesicht und schielte durch die gespreizten Finger nach Arnold.
»Also was ist denn los?« fuhr Arnold ärgerlich heraus.
»Ich kann nicht,« wiederholte Natalie mit herzbrechendem Ton, fuhr aber sogleich fort: »Es handelt sich um eine Bürgschaft, lieber Freund. Mein Mann hat wieder einmal eine kolossale Dummheit gemacht. Wir sollen morgen dreitausend Gulden bezahlen und haben nicht hundert im Haus. Nächste Woche erwartet Osterburg große Summen aus Amerika. Helfen Sie mir. Ich will es Ihnen ewig danken. Ich schwöre Ihnen beim Leben meiner Kinder, daß Sie alles zurückerhalten sollen. Zeigen Sie mir, daß ich einen Menschen in Ihnen gefunden habe. Ich bin ja so unglücklich!« Und sie schluchzte weiter.
Herrgott, dachte Arnold, für die Leute ist man ja der reine Geldsack. Er war nicht im mindesten ergriffen, im Gegenteil, alles das erschien ihm sinnlos und widerwärtig.
»Ich werde Ihnen morgen früh eine Anweisung schicken,« sagte er kalt. »Aber schwören Sie nicht solche dumme Schwüre.«
Es fehlte nicht viel, und Natalie hätte ihn umarmt. Sie hatte eigentlich nicht daran geglaubt und vergoß nun echte Tränen. Dennoch bereute sie, daß sie nicht um tausend Gulden mehr verlangt hatte.
Ihre verworrenen und überschwenglichen Danksagungen waren Arnold unbequem. »Hören Sie einmal zu, Frau Natalie,« unterbrach er sie, »warum glauben Sie eigentlich, daß zwischen Hanka und Beate keine Ehrlichkeit besteht?«
Natalie starrte ihm erstaunt ins Gesicht, dann schlug sie die Hände zusammen und setzte sich ihm gegenüber auf einen aufgerollten Teppich. »Ich?« erwiderte sie halb bestürzt, halb belustigt, »ich hätte so etwas gesagt? Wann denn?«
»Sie haben es gesagt,« beharrte Arnold. »Wie ich das erstemal bei Ihnen war und wir von der Verheiratung Hankas gesprochen haben –«
»Ach so! Das meinen Sie! Warum? was ist denn geschehen?«
»Ich möchte nicht mehr darüber sagen,« antwortete Arnold. »Aber weil wir so darüber sprechen und denken, gerade so und nicht anders und weil wahrscheinlich auch andere Menschen glauben, daß der Doktor Hanka nicht weiß, wie es die Beate seinerzeit in Podolin getrieben hat, so fragt es sich, ob man dem Mann nicht reinen Wein einschenken muß.«
Natalies Stirn legte sich in bedächtige Falten und mit niedergeschlagenen Augen drehte sie ihren Ring am Finger rundum. »Ich verstehe nicht,« sagte sie aufgeregt. »Was wissen Sie denn? Erzählen Sie doch.«
»Erzählt wird nichts. Ich frage nur: soll man dem Doktor Hanka sagen, mit deiner Frau steht es so und so, du scheinst nichts davon zu wissen –«
»Was für verdrehte Ideen!« rief Natalie aus. »Und wenn er Sie dann vor die Tür setzt? Was dann? Wer sagt Ihnen denn, daß er nichts weiß?«
»Das ist klar. Weil die Beate nicht so wäre wie sie ist, wenn er was wüßte. Und weil sie überhaupt ein Lügenbeutel ist.«
»Aber das alles ist mir ja riesig interessant,« flüsterte Natalie und sah Arnold mit naivem Entsetzen an. »Machen Sie nur keine Dummheiten, ich bitte Sie. Glauben Sie denn, daß die Welt auf Wahrheit gestellt ist? Das ist ja Unsinn. Wenn das wäre, müßten wir ja allesamt ins Gefängnis oder Gott weiß wohin wandern.«
In diesem Augenblick kam Osterburg, erhitzt und wichtig, wie von großen Erlebnissen strahlend. Mit einer Mischung von Vertraulichkeit und Leutseligkeit schüttelte er Arnolds Hand und sagte sofort, als ob er sich seit Wochen mit diesem Plan beschäftigt hätte: »Herr Ansorge, Sie müssen heiraten. Ich habe ein wunderbares Mädchen für Sie, ohne Spaß, mein Ehrenwort. Nicht reich, nicht arm, aber was man so sagt, intelligent. Unter uns, eine famose Person. Grundsätze, Ideale, wie das heute so üblich ist.« Breitbeinig stand er da, sah verständnisinnig aus, schmatzte mit den Lippen und fächelte sich mit dem Taschentuch Kühlung zu. Natalie sah ihn voll Schrecken und Staunen an.
»Das einzige Hindernis wäre,« fuhr er fort, »daß sie eine Jüdin ist. Aber Sie sind ja sozusagen ein aufgeklärter Geist.« Er ging mit großartigen Schritten herum und fuchtelte mit den Armen. »Was geht uns überhaupt diese Geschichte an, die da vor zweitausend Jahren passiert sein soll? Wir sind alle Menschen, alle sind wir Brüder. Wenn wir auch Christen sind, Gott ist der Herr. Mein Ehrenwort, das ist meine Meinung, Herr Ansorge.« Diese letzten Worte schrie er beinahe zum Fenster hinaus.
»Bist du betrunken?« fragte Natalie mit eisiger Ruhe.
Osterburg wurde plötzlich kleinlaut. »Ach, ach,« seufzte er, »früher war ich so geistreich; erst seit zwei Jahren bin ich so stupid geworden.«
Arnold verabschiedete sich. In diesem Hause umfing ihn stets eine Luft von seltsamer Wesenlosigkeit, ein Gewebe abenteuerlicher und zweckloser Reden, ein grundloses Auf und Ab von Lachen und Trauer, von Eifer und Leerheit, von Wichtigkeit und Bodenlosigkeit.
Am nächsten Tag fand sich der junge Mann ein, den Verena zu schicken versprochen hatte. Er hieß Wolmut und war ein zarter Mensch von bürschchenhaftem Ansehen, mit rosigem Kindergesicht und ernsten, klugen Augen. Seine Redeweise hatte etwas Nüchtern-Belehrendes, sein Betragen war gewandt und kühl, aber Arnold spürte sofort, daß dies der ihm notwendige Helfer sei. Was er vor allem aus dem kleinen blonden Mann dunkel herausfand, war eine gewisse Ehrlichkeit und Zartheit; er fühlte die Gegenwart einer tüchtigen und klaren Natur. So sah er sich mit Vergnügen am Eingang einer arbeitsreichen Epoche, und als von Hankas eine schriftliche Ermahnung kam, er möge den heutigen Abend nicht vergessen, da war für ihn beschlossen, nicht hinzugehen. Wozu das Trübe suchen? dachte er; im schlammigen Wasser steckt kein Fisch. Als er sich nachmittags hinsetzte, um durch eine Karte sein Nichtkommen zu melden, ward es jedoch anders. Mit seinen groben Federzügen schrieb er Anrede und Anfangsworte und legte langsam den Halter auf den Tisch zurück. Ernst und fragend tauchte Alexander Hankas Gesicht vor ihm empor.
Es war ein heißer Tag, Arnold wurde gelähmt durch die brütende, staubige Stadthitze. Die Sonne leuchtete nicht, sondern glomm in einem Dunstnest. Nach Tisch ging Arnold aus, aber auf der Straße war es noch übler als im Zimmer, und er wollte schon umkehren, da zog es ihn plötzlich nach einer ganz andern Richtung, und er beschloß, Verena Hoffmann aufzusuchen.
Er läutete einige Male an der Tür und niemand rührte sich drinnen. Als er sich enttäuscht zur Treppe wandte, kam Verena von unten herauf. Am Fuß der letzten Stiege gewahrte sie ihn schon, blieb einen Augenblick stehen und lächelte empor. Sie trug ein weißes Leinwandkleid mit schwarzem Band um den Hals und um die Taille. Sie reichte ihm die Hand, deren festen Druck er fest erwiderte, dann schloß sie auf, ging voran, warf ohne sonderliche Verlegenheit eine Wolldecke über das noch ungemachte Bett, brachte Streuzucker und eine Art Sodawasser bei und beide nahmen an einem Tisch beim Fenster Platz. Von hier war ein weiter Blick in die Nachbarhöfe und Verena sagte, indem sie hinausdeutete: »Zweihundertfünfzig Fenster.«
Arnold nickte. »Auf wie viele Menschen kommt da ein Fenster?« erwiderte er.
Verena sagte, sie freue sich, daß er gekommen sei.
»Was hat Ihnen denn Hyrtl eigentlich von mir erzählt?« fragte Arnold neugierig.
»Es ist die Geschichte mit dem Judenmädchen. Ist es wahr, war das wirklich der Anlaß für Sie, Ihre Heimat zu verlassen?«
»Ja, das ist wahr,« murmelte er. »Aber ich habe bis jetzt nichts erreicht, gar nichts. Es ist schändlich.«
»Kennen Sie das Mädchen näher?«
»Die Jutta Elasser? Ich habe sie einmal im Leben gesehen. Ein häßliches kleines Ding.«
Verena sah ihn aufmerksam an. Es schien als ob diese Antwort erst ein tieferes Interesse für ihn erweckt hätte. Doch sprach sie nicht weiter von der Sache und dafür war Arnold ihr dankbar.
Sie saßen nun mindestens eine Viertelstunde schweigend beisammen. Arnold staunte vor sich hin. Eine wunderbare Bewegung war in seiner Brust, und er hatte das Gefühl, als überströmten ihn Wohlgerüche.
»Ist Wolmut zu Ihnen gekommen?« fragte Verena endlich.
»Ja, er ist gekommen.«
»Finden Sie ihn sympathisch?«
»Sehr sympathisch.«
»Er ist einer der nützlichsten Menschen, die ich kenne; er wird es sicher noch sehr weit bringen, das heißt, soweit man es in diesem korrumpierten Land eben bringen kann.«
»Weit bringen, das heißt, ein großes Amt bekommen?«
»Ja, ungefähr.«
»So weit werd’ ich’s wohl nie bringen.«
»Kaum. Idealisten bringen es nicht zu hohen Ämtern.«
»Idealisten? Das ist ein dummes Wort. Ich bin doch kein Schiller.«
Verena lachte. »Aber die Idealisten können es noch weiter bringen als zu hohen Ämtern.«
»Ach, dann bin ich versöhnt.«
»Ja, aber es gibt Gefahren.«
»Gefahren?«
»Die Idealisten dürfen sich nicht verpflichten. Sie dürfen keine anspruchsvollen Freundschaften haben.«
»Wieso? Sie meinen, daß man sparsam mit seinem Herzen sein muß.«
»Vielleicht. Oder doch, daß man das Herz nicht verschwenden soll.«
»Das scheint mir aber unmoralisch. Meiner Ansicht nach kann das Herz nicht arm werden, soviel es auch gibt.«
»Glauben Sie? Da sind Sie aber sehr auf dem Holzweg. Das Herz kann sich nämlich auch irren und sogar verirren. Und wenn es sich einmal verirrt hat, dann wird es aufgebraucht.«
»Na na, und wenn? Dazu sind wir ja da. Man kann doch nicht eine Rechenmaschine in die Brust hineinstellen.«
»Aber wenn einer ein Ziel hat, dann muß er sein Herz bewahren, sonst ist er nichts wert.«
Plötzlich erhob sich Verena und sagte: »Ich muß gehen. Ich muß zu Tetzner.«
»Wie stehen Sie eigentlich zu Herrn Tetzner?« fragte Arnold rasch.
Sie stutzte, runzelte die Stirn, antwortete aber nicht.
Kaum hatten sie auf der Straße ein paar Schritte gemacht, als Tetzners Kopf an einem ebenerdigen Fenster sichtbar wurde. »Wo steckst du, Verena?« rief er; »nimm doch den Herrn mit herein. Junger Freund, hier gibt es die seltensten Schnäpse der Welt und vieles andere, was sich sonst nur auf der Tafel des Großkhans der Bucharei findet. Kommen Sie.«
Arnold blickte hinauf und machte eine Grimasse. »Man hat schon wo anders für mich gesorgt,« entgegnete er lachend, »aber vielleicht heben Sie mir etwas auf.«
»Bravo,« rief Tetzner und klatschte in die Hände. Verena warf einen teilnehmenden, tiefen Blick auf Arnold, dessen Heiterkeit ihr sehr gefiel. Fast ungestüm streckte sie ihm die Hand hin, als er ging.
In dem Zimmer, welches gegen den Garten hinausging, saß Hanka am Klavier und spielte eine Haydnsche Sonate. Beate saß in der Ecke des mäßig großen, noch von der untergehenden Sonne beleuchteten Raumes, blätterte in einem Photographiealbum und gähnte von Zeit zu Zeit. »Diese Einladung war ganz unnötig,« sagte sie in der Pause zwischen einem Andante und einem Allegro, »besonders da Specht nicht kommt. Was tun wir denn mit Ansorge allein und was geht er uns an? Dazu ist er noch unhöflich und läßt auf sich warten.«
Hanka wandte sich langsam mit dem Drehstuhl um. Er blickte auf die Uhr, schmatzte mit den Lippen und erwiderte: »Wir wollten doch die beiden Podoliner einmal beisammen haben, vielmehr du wolltest es. Daß dein Freund Specht absagen würde, konnte man ja nicht vermuten. Übrigens interessiert mich Ansorge viel mehr.«
Beate pendelte ungeduldig mit den Füßen. »Mich langweilt er,« sagte sie. »Ich langweile mich überhaupt. Wenn wir nur schon fort wären. Wie lang ist es noch bis morgen früh! Ich will jeden Tag wo anders sein, und du, du schläfst bei Tag und Nacht.«
Und zwischen einem Lächeln und einem Zähneknirschen fuhr sie fort: »Hast du denn die Fahrkarten bestellt?«
Mit dem ihm eigenen, schlenkernden Schritt spazierte Hanka über die Breitseite des Zimmers. Er antwortete nichts. Seit einer Reihe von Tagen war er von unnennbaren, wechselnden Empfindungen bewegt. Mit der Kraft seines ganzen Wesens hing er an Beate, doch erspähte er fortwährend Auflehnung in ihrem Innern. Für eine Person wie Hanka ist die Äußerung einer Empfindung nicht das Mittel, um Glauben an sie zu erwecken; für ihn war es wichtig, den Weg einer scheinbaren Trockenheit einschlagen zu können. Wer dies, ihn verstehend, ermöglichte, konnte ihn ganz besitzen. Es war ihm unwidersprechlich geworden, daß Beate nicht sah, was sie hätte sehen, nicht fühlte, was sie hätte fühlen müssen, daß ihre immerwährende Beweglichkeit nichts anderes war als eine Flucht vor ihm. Verdruß machte oft die Ruhe seines Nachdenkens düster. Die Anziehungskraft wächst mit dem Quadrat der Entfernungen, pflegte er sich ironisch zu sagen, und mit seiner pedantischen Gründlichkeit wünschte er genau zu erkennen, durch welche Eigenschaften ihm Beate so unentbehrlich geworden. Doch hier machten seine Gedanken Halt, und in einer Zärtlichkeit, wie sie nur sein von allen Seiten verschlossenes Herz kannte, erblickte er immer wieder das kräftige und kapriziöse Kind der Natur in ihr, dem sein eigener, schwachgewordener Wille sich mit ebenbürtiger Laune unterwerfen mußte.
»Trabst schon wieder herum wie ein Bär,« sagte Beate, sprang aber gleichzeitig auf, da es geläutet hatte. Bald darauf trat Arnold ein und wurde von Hanka mit herzlichem Händedruck, von Beate mit etwas ungeschickter Kälte begrüßt. Alle drei setzten sich sogleich zu Tisch. Draußen hatte sich der Himmel verfinstert, und Gewitterwind wehte durch den Garten. Hanka erhob sich wieder, drehte die elektrischen Flammen auf und fragte Arnold, weshalb er so spät komme.
»Zur Strafe sollten Sie eigentlich nichts zu essen bekommen,« sagte Beate ärgerlich. Arnold entschuldigte sich nicht. »Ich habe bis zuletzt gezögert, ob ich kommen soll,« sagte er. »Das ist nicht höflich, Frau Beate, aber es hat seinen Grund.«
Beate stutzte. »Er hat immer Gründe,« erwiderte sie bissig.
»Als alte Bekannte seid ihr zu spitz,« bemerkte Hanka gutmütig. Er freute sich eigentlich, daß Arnold Ansorge ihm nun gegenüber saß, es erschien ihm fast wichtig, diesen Menschen zu sehen und zu beobachten. Aus solchem Holz schnitzt man Freunde, dachte er.
Unter dem heranrollenden Donner begannen sie zu essen. Beate legte aber bald Messer und Gabel hin, und ihr Gesicht veränderte sich zusehends vor Angst.
»Ja, mit den Gewittern,« meinte Hanka stirnrunzelnd. »Für eine Frau, die auf dem Land aufgewachsen ist, ist das beschämend.«
Ein außerordentlicher Blitz ließ die Lichter des Zimmers erblassen. Nach dem langen Donner erhob sich Beate und murmelte verstört vor sich hin.
Auch Hanka stand auf. Er faßte Beate bei den Händen und suchte sie zu beruhigen. Ein zweiter Blitzstrahl erzeugte ein krampfhaftes Zittern in ihrem Körper. Voll Heftigkeit stieß sie Hanka von sich; mit einem hexenartigen Ausdruck schrie sie in den Donner hinein: »Ich will nicht, ich will euch nicht,« und lief aus dem Zimmer.
Hanka folgte ihr sogleich. Nach einer Weile kam er zurück, rief das Stubenmädchen, und Arnold fand sich abermals allein an dem gedeckten Tisch. Er nahm weniger Anteil an diesem Auftritt, als es in seinem interessevollen Wesen lag. Was von Beate kam, glitt ihm vorüber und mischte sich so wenig mit seinem Geist wie Öl mit dem Wasser. Vielleicht aber war das Spiel der Elemente draußen für ihn anziehender und ergreifender als die selbstsüchtige Bangnis einer kleinen Seele. Er trat langsam an das Gartenfenster, und beim Schein der Blitze fühlte er sich aufgefordert, Wahrheit in dies Haus zu tragen. Und das Benehmen Beates, anstatt ihn mitleidig zu stimmen, machte ihm ihre ganze Person geradezu verdächtig.
Unbefangen und fast humoristisch aufgelegt, kam Hanka zurück. »Sie hat sich in Betttücher eingehüllt und die Ohren verstopft,« sagte er. »Ich habe ihr versprechen müssen, daß Sie bald gehen werden. Haben Sie je etwas mit ihr gehabt? Es ist mir unbegreiflich. Kommen Sie, lieber Freund, essen wir weiter. Ich freue mich, daß Sie da sind und werde Sie nicht so geschwind wieder loslassen.«
»Frau Beate fürchtet vielleicht, mich mit Ihnen allein zu lassen,« erwiderte Arnold ruhig und folgte Hanka zum Tisch.
»Warum? Warum fürchten? Sie wollte ja selbst, daß Sie einmal bei uns wären.« Vergnügt und voll Appetit legte sich Hanka Fleisch und Gemüse auf den Teller.
»Das kann ich mir erklären,« sagte Arnold. »Vielleicht wollte sie es nur darum, um zu sehen, wie sie sich gegen mich verhalten muß.«
»Ei, was Sie für ein Psycholog geworden sind! Allerdings, was Sie da sagen, hat etwas für sich. Gerade die Frauen wollen oft das Verhaßte nahe haben. Darin steckt ein kindlicher Instinkt, sich zu schützen. Aber es ist lächerlich, wenn Sie das bei Beate annehmen. Beate ist viel zu naiv dazu.«
Arnold schwieg. Unschlüssigkeit überkam ihn. Und er spürte nun aus Hankas Worten deutlich eine vollständige Ahnungslosigkeit. Dies erregte in ihm einen stummen Zorn gegen das lügnerische Weib.
»Es berührt uns doch, ich möchte sagen ästhetisch, wenn Frauen sich vor dem Gewitter fürchten,« fuhr Hanka angeregt zu plaudern fort. »In einer Frau liegt etwas ebenso Elementares wie in einer elektrischen Wolke, und fast möchte man glauben, daß die Natur sich einen Spaß daraus macht, ihre latenten Instinkte gegeneinander platzen zu lassen. Dergleichen ist für mich eher angenehm als verstimmend.«
Ein bläulicher Blitz fuhr durch den Raum, schnitt Hankas Rede ab und vom fast gleichzeitigen Donnerkrach zitterten die Wände und rasselten die Teller.
»Warum ist eigentlich Specht nicht gekommen?« fragte Arnold, indem er gegen das Fenster sah, an welches der Regen gepeitscht wurde. »Er erzählte mir zuerst, daß er hier sein würde. Es fällt mir nur deshalb auf, weil ich ihn gestern mit Frau Beate in einem verschlossenen Wagen sah.«
Hanka schaute rasch empor und machte ein sehr erstauntes Gesicht. »So?« fragte er kurz. Er erinnerte sich plötzlich, daß ihm die Stunden lang und ungewöhnlich erschienen waren, die Beate gestern bei der Schneiderin zugebracht haben wollte. Er schüttelte den Kopf und sagte mit einem unsichern und wohlwollenden Lächeln: »Darin täuschen Sie sich vielleicht.«
»Ich täusche mich nicht,« erwiderte Arnold, »obwohl die Vorhänge des Wagens nur einen Augenblick zurückgeschoben wurden.«
Hanka hörte auf zu essen. Warum erzählte sie mir davon nichts? dachte er, wie um sich noch einmal gewaltsam zu betrügen. Er lehnte sich in den Stuhl zurück, öffnete den Mund, schloß ihn aber wieder, ohne gesprochen zu haben. Zu beiden Seiten der Nasenflügel trat eine seltsame gelbliche Blässe hervor.
»Ich dachte mir, Sie wüßten um alles was zwischen Specht und Ihrer Frau war,« fuhr Arnold mit unerbittlichem Ernst fort. Er hatte den Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hand gestützt und schaute Hanka unverrückt an. »Beide waren in Podolin wie Mann und Frau, bei Tag und bei Nacht. Das weiß ich und würde es Ihnen nicht sagen, wenn ich’s nicht wüßte. Darum hören Sie alles auf einmal, damit ich Sie nicht quäle. Nach Specht hatte sie ein Verhältnis mit dem Oberknecht auf dem Randomirschen Gut, das heißt, im Anfang betrog sie den einen mit dem andern, bis der Knecht sie durch Schläge gehorsam machte. Davon wußten die Mägde bei uns jeden Tag zu erzählen. Mir hat von jeher eine Stimme gesagt, daß Sie dabei im Finstern sind, denn Sie sahen eine andere Beate, hätten vielleicht nicht einmal die gewollt, die es ehrlich gestanden hätte. So trieb es mich also her, wie schwer es auch ist; ich denke mir, die einen leben von Lüge, die andern von Wahrheit, die beiden muß man voneinander halten. Das ist alles.«
Während dieser Worte hatten die gelblichen Flecke auf Hankas Gesicht beständig zugenommen. Auch er sah unverrückt in das Gesicht seines Gegenübers; und allmählich verlor er das Bewußtsein davon, daß da ein Mensch sitze; er gewahrte nur einen weißlichen Kreis; ihm war, als sei es der Mond, der vom Himmel heruntergeglitten war, um zu sprechen. Jedoch er hörte, hörte. Er verspürte einen ungeheuren, verschlungenen Schmerz im Kopf, und als Arnold geendigt hatte, glitt ein dünnes, geistloses Lächeln über seine Lippen. Arnold schwieg und Hanka schwieg, und so saßen sie lange schweigend, während das Gewitter sich verlor. Endlich rückte Hanka seinen Stuhl, beugte sich vor, als mache er ein Kompliment und sagte mit heiserer Stimme und richterlicher Schärfe, wobei er die schwarzen Augen weit aufriß: »Beweise –?«
Arnold erwiderte nichts; er heftete stumm seine Blicke in diejenigen Hankas. Es war ein überlegener, strenger und vornehmer Ausdruck in seinen Augen wie in seinem Gesicht und Hanka beugte sich wieder zurück, als ob er sein Wort vergessen haben wolle. Er legte eine Hand glatt auf den Kopf, Farbe kehrte in seine Wangen zurück und verschwand wieder daraus. Er gab einen unbestimmten kurzen Laut von sich, stand auf und wie zum Zeichen seiner Fassung zündete er langsam eine Zigarre an. Darauf ging er schweigend mit großen Schritten auf und ab. Auch Arnold verließ seinen Platz. »Adieu, Doktor Hanka,« sagte er; »Freund oder Feind; wie Sie mich nennen wollen, das steht bei Ihnen.«
Hanka kehrte ihm den Rücken, verschränkte die Arme und blickte gegen die Fenster. Doch als Arnold sich zur Tür wandte, schritt er ihm nach, sah ihn mit einem unbeschreiblichen Blick an und reichte ihm die feuchte kalte Hand.
Hanka setzte seinen Spaziergang durch das Zimmer fort. Er dachte nun weder an sich selbst, noch an Beate, sondern er richtete seine Gedanken zunächst auf die Person Arnolds. Er vergegenwärtigte sich den Arnold, den er in Podolin kennen gelernt und hielt den dawider, der heute zu ihm gesprochen. Er warf gleichsam ein Senkblei aus, um die Tiefe des Vertrauens zu diesem Mann zu ermessen. Das Lot sank weit. Er mußte einen Verstand anerkennen, der die Aufrichtigkeit über alles liebte. Und schließlich mußte er sich gestehen, daß dieser Mensch von Sympathie geführt wurde, um ihn, Hanka, sehen zu lehren. Folglich war ich blind, dachte Hanka. Gewaltsam suchte er ein haßartiges Gefühl von Kälte gegen Arnold von sich abzuwehren. Wie er sich auch stellen mochte, er konnte noch nicht glauben. Es erschien ihm einen Augenblick lang phantastisch, sich einem Zweifel an Beate zu ergeben. Was führt ihn her? dachte er trüb und trotzig. Mitleid? Dann wäre selbst seine Wahrheit nicht wahr. Wie konnte er annehmen, daß zwischen uns kein gegenseitiges Wissen bestand? Hankas Eigenliebe begann sich zu bäumen. Vielleicht wurde er selbst verschmäht und spielt den Verräter, grübelte er voll Verzweiflung, doch ein Schauer fuhr ihm über die Haut, als ob ihn Ekel berührt hätte. Hundert Erwägungen verbrannten sein Gehirn, durch hundert Kunstgriffe suchte er das Gesicht des Anklägers zu entstellen, immer schüttelte er den Kopf und kehrte zu sich selbst zurück: war ich also blind! Und abermals ging er auf und ab. Er stellte um sich her lauter Beates mit allen ihren Gesichtern, ihren Geberden, ließ all ihre Worte nachklingen, die ihm erinnerlich waren, begann an ihrem Schweigen zu studieren, und endlich schien es ihm, als ob von einzelnen dieser Bilder eine Maskenhaut abfiele, und er sah Lieblosigkeit, in kindisches Gewand verhüllt, Verlogenheit unter tausendfach täuschendem Lächeln. Was soll ich tun? entfuhr es ihm endlich und ihm war, als müsse er sich auf den Boden legen, um Jahre lang nur darüber nachzudenken. Erst jetzt dachte er daran, daß er ja zu Beate gehen könne und daß dann alles entschieden sein müsse. Mit grausamer Logik überzeugte er sich, daß er diese Entscheidung nur verschieben wolle. Ist es denn schließlich so schlimm? murmelte er. Ein Weib weniger für mich, gut. Das Vergehen ist gering von ihrer Seite, da sie doch nicht die ist, die ich glaubte. Man darf die Einfachheit der Sachlage nicht verwickeln. Betrug oder Nichtbetrug, das ist schließlich Angelegenheit des Geschmacks und der Reinlichkeit. Für mich handelt es sich um mehr. Einen Weg, der nicht da ist, kann man nicht gehen, mit jemand, der nicht existiert, kann ich nicht zusammenleben.
Er zündete eine Kerze an, verließ das Zimmer, ging durch einen Salon, in welchem die Sessel schon mit staubschützenden Überzügen versehen waren und betrat das Schlafgemach. Beate lag im Schlafrock auf dem Bett und schlief. Er zögerte, stellte dann die Kerze vorsätzlich geräuschvoll auf ein Marmortischchen und Beate schreckte empor. »Hast du ihn fortgeschickt?« fragte sie schlaftrunken. »Lösch doch die Kerze aus, Alexander, sonst verbrennt der Vorhang«, fuhr sie munter werdend fort. »Es ist ja Licht genug, siehst du denn das nicht?« Da er nicht antwortete, sondern auf- und abzugehen begann, verfolgte sie ihn mit ungeduldigen Blicken. »Du könntest jetzt zu Bett gehen«, sagte sie verdrießlich. »Wir müssen ausschlafen, ich muß morgen früh noch meine Handtasche packen.«
»Die magst du wohl packen«, entgegnete Hanka mit Ruhe. »Du kannst auch reisen, wenn es dir gefällt, aber es wird ohne mich sein.«
Beate riß erstaunt die Augen auf. »Ja, bist du denn toll?« schrie sie endlich, starrte wieder und lachte darauf laut. Sie hob sich empor, brachte die Füße auf die Erde und indem sie auf dem Rand des Bettes sitzen blieb, zeigte ihr Gesicht einen Ausdruck von Angst, Sorge und Haß.
Es schien, als ob Hanka von alledem nichts sähe. Er begann in gleichmütigem Tonfall wieder zu sprechen. »Ich frage dich nicht, in welchem Verhältnis du zu Maxim Specht stehst; weder was dich veranlaßt, im Wagen geheimnisvoll mit ihm durch die Stadt zu fahren, noch was zwischen euch schon in Podolin vorgegangen ist. Ich frage auch nicht, was es mit dem Knecht beim Grafen Randomir auf sich hatte. Ich will nur wissen, was du mir jetzt zu sagen hast, da dir bekannt ist, daß ich alles weiß.«
Beates Gesicht war erdfahl geworden. Ihr Rücken krümmte sich, und ihr Kopf sank ein wenig herab. Langsam öffneten sich die Lippen und ließen die fest zusammengepreßten Zähne sehen. Es schien, als ob sie gleichzeitig lachen und schreien wolle. Ihre Finger bewegten sich, ihre Zehen rührten sich in den dünnen Strümpfen, ihre Knie drückten sich gegeneinander, ihre Arme zuckten, dann stand sie jählings auf und sagte mit grenzenloser Verachtung: »Der Hund also! der Schwätzer! der gemeine Denunziant!« Mit einer blitzartigen Bewegung nahm sie das Umhangtuch, das auf dem Bett lag, schlug es um den Kopf, ging auf Strümpfen stolz zur Tür und schlug sie knallend hinter sich zu.
Ein verblasenes Lächeln glitt über Hankas Mund. Er blieb stehen und drückte die Augen zu, als wollte er sagen: Genug, übergenug. Doch keine Minute war verflossen, als Beate wieder zurückkam. Sie weinte; sie setzte sich auf einen Stuhl und drückte die Hände vor die Augen. »Es liegt nun an dir«, sagte Hanka, »dein Leben in Zukunft so gut wie möglich einzurichten. Ein öffentlicher Skandal widerstrebt mir ganz und gar. Es ist also gut, wenn du in aller Stille die Stadt verläßt. Ich lasse dir Zeit, ich will für einige Wochen weg, damit kein Aufsehen entsteht. Was ich dir zu einer anständigen Lebensführung materiell biete, werde ich morgen schriftlich feststellen lassen. Hast du noch etwas zu sagen?«
Als Beate merkte, daß es so bitterer Ernst war, ging eine neue Veränderung mit ihr vor. »Ich bin unschuldig, Alexander!« rief sie aus, »sie haben mich verführt, bei Gott. Sie haben mich unglücklich gemacht.« Sie fiel vor dem Bett auf die Knie und legte ihr Gesicht in die Kissen.
»Das mag wahr sein«, sagte Hanka freundlich, der vor dem Spiegel stand und so nach ihr hinschaute.
Beate erhob rasch den Kopf und in ihrem Gesicht war ein naiv hoffender Ausdruck.
Hanka lächelte schmerzlich. Er begriff, daß seine Sprache nicht zu den Ohren dieser Frau dringen konnte, daß seine Welt in andern Sphären rollte, daß sein Blut anders beschaffen war und daß Beate dies nicht einmal zu ahnen vermochte. »Richte dich nach dem, was ich gesagt habe«, bemerkte er kühl und wandte sich zum Gehen. Als er den Raum schon verlassen hatte, hörte er Beates aufschreiendes Lachen.
Er kehrte in das Eßzimmer zurück, setzte sich ans Klavier, schlug irgend ein Notenheft auf und präludierte. Aber es war, als ob sich zwischen ihm und dem Instrument eine Wand befinde; die Töne blieben dumpf und fern. Er stand auf, öffnete die Fenster und die Glastür, die in den Garten führte. Er ging hinaus. Von Bäumen und Sträuchern tropfte das Regenwasser, und über den Beeten lag schwärzestes Dunkel. Am weißlichgrauen Himmel schoben sich Wolken hin, und das Gewitter leuchtete noch in der Ferne. Ich war ein andrer Mensch, als jene Blitze noch auf der andern Seite des Horizonts standen, dachte Hanka; zwischen zwei Windstößen hat sich das Schicksal gewandt. Er verfolgte die geschlungenen Gartenwege, und das unveränderliche Tropfen des Wassers klang ihm wie die Hämmer des Klaviers, das an diesem Abend nicht hatte tönen wollen. Es war spät, als er wieder in das Zimmer zurückkehrte, das er nach allen Seiten abschloß. Er nahm in einer Ecke Platz und griff zu einem Buch, zu einem zweiten und dritten. Hanka hatte ein Gefühl der Müdigkeit und Schwere, als ob er zwei Nächte durchzecht hätte. Er streckte sich im Sessel aus, und in seinem Kopfe begann ein hohles Denken, welches in einen hohlen Schlummer überging, als die Blätter im Garten von der Morgenröte zu erglühen anfingen.
Nachdem Arnold Hankas Haus verlassen hatte, stand er eine Weile unschlüssig vor dem Tor. Dann schritt er die unbekannte Gasse entlang, kehrte aber wieder zurück. Schweigend standen die Villen und Landhäuser zu beiden Seiten der Straße, und sein Ohr vernahm keinen andern Laut als den des Regens. Er gelangte vor eine Bank, die unter dem Schutze eines alten Kastanienbaumes leidlich trocken geblieben war und setzte sich nieder.
Der letzte Blick und Händedruck Alexander Hankas wollten ihm nicht aus dem Kopf. Arnold fühlte wohl, daß darin mehr und anderes enthalten war als die dankbare Quittung für einen wohlgemeinten Dienst, anderes jedenfalls, als was Arnold erwartet hatte. Er hatte erwartet, daß ein Mann, der behäbig im Finstern gesessen, sich überrascht, tätig und entschlossen dem Licht zuwenden würde, das ihm ein Freund ins Haus getragen. Statt dessen, das verrieten ihm Empfindung und Beobachtung, hatte er einen Gedemütigten hinter sich gelassen. Arnold hatte geglaubt, eine Wahrheitsschuld abzutragen, und er hatte ein Gericht abgehalten. Hankas Blick war deutlich: du hast gerichtet, aber wer hat dich gerufen? War dies nun die Schwäche Hankas oder war es die menschliche Schwäche oder war es Arnolds Irrtum?
Ist es Hankas Schwäche, dachte Arnold, dann beruht sein Glück darauf, nicht zu sehen, wie das meine, sehen zu wollen. Und so wenig ich die Macht habe, ihm mein Gehirn und mein Auge zu geben, so wenig steht bei mir das Recht, ihm meine Wahrheit aufzureden. Hier ist kein Ausweg, obwohl ich sehe, daß jedes Ding, gutes Ding und böses Ding zwei Seiten hat. War es eine menschliche Schwäche, dann kann es ja auch meine Schwäche sein, und es wird für mich um so vielmal schwerer, Recht zu haben, als es außer mir noch Menschen gibt. Was Hanka besitzt, das ist sein Eigentum: Kleid, Haus und Weib. Ich nehme an, Hanka käme zu mir und sagte: deines Vaters Geld, von dem du zehrst, ist durch List, fremden Schweiß und fremde Not zusammengehäuft. Ich müßte es prüfen und richtig finden und müßte von mir werfen, was ich durch Lüge besitze, weil ich doch behauptet habe, daß jeder seine Lüge von sich werfen soll. Aber wie ist es mit Beate? Vielleicht war es der beste Weg, den sie erkannt hat, zu schweigen? Vielleicht war es ihre Kraft, nicht zu bekennen, und sie liebte Hanka am besten, wenn sie sein Nichtwissen liebte? Vielleicht war hier die Lüge das Bessere. Lüge, das ist doch nur ein Wort. Aber wie? wenn er es auf rohe und niederträchtige Art erfahren hätte? ist ein Wille, der etwas vollbringt, nicht ebenso gut wie das Ungefähr? und gilt es darum nicht als Wahrheit, weil ich es gewollt?
Und wenn Lüge nur ein Wort ist, bald so, bald so zu nehmen, dann ist ja auch Ungerechtigkeit nur ein Wort. Wenn man eine Wahrheit nicht schaffen kann, dann kann man ja auch eine Gerechtigkeit nicht schaffen. Vielleicht ist es irgendwo bestimmt, daß die Jüdin ins Kloster kam, vielleicht hat das irgendwo sein Gutes, nur weiß ichs nicht. Aber das wäre ja eine verzweifelte, eine höchst verzweifelte Geschichte, wenn der Mensch nicht mehr imstande ist, zu wissen, was er soll und darf.
Sehr verwirrt erhob sich unser Held und ging wie in einem trübseligen Rausch nach Hause.
Ende August kehrte Anna Borromeo vom Landaufenthalt zurück. Sie machte sofort Besuche, empfing Besuche, abonnierte für Konzerte und Theater und bereitete sich auf das gewohnte Herbst- und Winterleben vor. Stöße von Romanen kamen von der Buchhandlung und vom Leihgeschäft und keiner konnte sie länger als einen Vormittag festhalten. Sie jagte hierhin und dorthin, klagte über Schlaflosigkeit, schien bald entkräftet, bald überreizt, bald geschwätzig und bald allzu still. Arnold verfolgte aufmerksam ihr Treiben, und ihn beklemmte es, sie und den Oheim in einem so engen und ewigen Verhältnis zu denken, als welches ihm die Ehe erschien.
Friedrich Borromeo war tief in sich gekehrt. Nichts kam der Müdigkeit und Gelassenheit gleich, mit welcher er Messer und Gabel führte, die Speisen auf seinen Teller legte, nichts der Appetitlosigkeit, mit der er aß oder ein Gespräch zu einem vorläufigen Endpunkt schleppte.
Es verdroß und kränkte Arnold, dies zu beobachten. Noch brannte in ihm der Wunsch, sich um Menschen zu bemühen. Als er an einem Morgen mit Borromeo allein beim Frühstück saß, begann er offen: »Könntest du mir nicht sagen, was dich so niederdrückt? Muß denn alles so sein, wie es ist?«
Borromeo zog die Brauen langsam empor. Seine beiden Augensterne rollten erlöschend in die Winkel. »Du fragst wie ein Jüngling«, sagte er, »aber ich kann dir nicht antworten wie ein Mann. Lassen wir das. Auch die Sterbenden haben ein nil nisi bene.«
Als sie sich voneinander trennten, war Borromeos Händedruck voll Wärme. Nichts konnte deutlicher ausdrücken, wie zufrieden er mit ihm war und wie sehr er ihm vertraute.
Mit seinem jungen Lehrer Wolmut hatte Arnold ein gutes Verständnis erreicht. Er erkannte sofort dessen glückliche und gesunde Veranlagung, allen Kräften seines Wesens gleichmäßig zur Entwicklung zu verhelfen und beobachtete ihn so scharf, als ob er durch die fremde Natur seine eigene ohne weiteres vervollkommnen könne.
Völlig das Kind eines wissenschaftlichen Zeitalters, gehörte Wolmut zu jenen Menschen, welche sich eine Weltanschauung aufbauen, um damit das Leben zu kommandieren. Seine kleinsten Geschäfte verrichtete er mit unermüdlichem Eifer und strenger Gewissenhaftigkeit, und seine Armut trug er mit selbstverständlichem Stolz. Er liebte um jeden Preis zu lernen und suchte stets zu helfen. Sein klares Urteil befähigte ihn, jede schadhafte Stelle in der Lebensführung des Andern sofort zu übersehen. Die neugierige Frage tauchte in Arnold auf, wie sich Wolmut gegenüber Elasser und der Gewalttat des Klosters benommen hätte. Seit jener Nacht, die unter dem Kastanienbaum in Regen verflossen war, hatte er nicht aufgehört, sich zur Rechenschaft zu ziehen, mit sich und der Welt zu hadern. Allmählich war sein leidenschaftliches Wollen einem dumpfen Zwiespalt gewichen. Er glich einem Mann, der kampf- und rechtbegeistert vom Schlachtfeld reitet, um Verstärkungen gegen den Feind zu holen; er eilt anfangs und seine Botschaft benimmt ihm noch den Atem. Dann wird seine Stirne kühler. Er beginnt Gefallen an der Landschaft zu finden, läßt allmählich das Pferd im Tritt gehen und an geschützter Stelle grasen; aus der Nacht wird Morgen, aus dem Morgen Mittag. Der drängende Ruf, der seine Schritte beflügelt hatte, verklingt, die schreckensbleichen Gesichter, die ihre flehenden Blicke dem Abgesandten in die Seele bohrten, entrücken unter dem Horizont, und aus dem Geschehenen wird sozusagen eine Vorstellung.
Dazu war Arnold in den letzten Tagen sehr bemüht gewesen, eine ihm neue Weichheit der Stimmung abzuschütteln von der er kaum wußte, woher sie kam. Er stellte also eine Frage an Wolmut, die harmlos schien. Er gedachte zu ersehen, welches Echo die Podoliner Ereignisse in einem so Fern-, doch wahrhaft Mit-Lebenden gefunden hätten.
»Soviel ich weiß, steht die Geschichte auf dem alten Fleck«, erwiderte der Student. »Ich hörte, die Regierung habe jemand zum Papst gesandt, aber dadurch wird nichts geändert werden. Wenn die Justiz ihre unmittelbaren Handhaben verloren hat, ist für den Einzelnen keine Möglichkeit mehr, sich zu widersetzen. Der Rechtsbegriff wird nicht erzwungen und gemacht, sondern bildet sich wie die Sprache.«
Arnold sah ziemlich betroffen vor sich nieder. »Das hört sich gut an«, erwiderte er schroff, »so lange, bis Sie selber dabei den Hieb bekommen. Wollen Sie verzichten, an dem Unrecht teilzunehmen, das nicht an Ihnen selbst ausgeübt wird?«
Wolmut lächelte. »Das müßte man auch. Es handelt sich nur um eine Ausschaltung unzweckmäßiger Triebe. Was soll platonische Teilnahme? Sich selbst in Betrieb setzen, eine Maschine sein, die möglichst viel Räder in Bewegung setzt, mit der Feuerung haushalten und bei der größten Arbeitsleistung den kleinsten Kräfteverbrauch erzielen, ist das nicht Teilnahme genug?« Der kleine, schmale, hübsche Mensch mit dem rosenroten Gesicht sprach ruhig und überlegen, mit einer Verhaltenheit, als wolle er Meinung und Gebahren sogleich in Einklang bringen.
»Das ist wahr, weil es wahr sein kann«, gab Arnold gereizt zurück. »Ich will nicht sagen, daß ich anders denke, aber wenn ich gar nicht denke, wird alles anders.«
»Gefühl zerstört«, behauptete Wolmut mit seiner unerschütterlichen Lehrsamkeit. »Ziehen Sie Ihren Kreis; verbieten Sie Ihrer Fußspitze, ihn auch nur um einen Millimeter zu überschreiten. Glück ist Positivität. Die Welt ändern wollen heißt, sich selbst vernichten.«
Arnolds Gesicht rötete sich. »Das ist Streberweisheit«, rief er zornig aus. »Das Judenmädchen ist also nur deshalb nicht zu retten, damit wir, ich und Sie, glücklich werden?«
Wolmut zuckte die Achseln. »Warum denn nicht? Jede Kultur schleppt noch einen Rest von Finsternis hinter sich her, der von selbst kleiner wird wie ein Schatten, je höher die Sonne steigt. Ich predige nicht Apathie oder banalen Egoismus. Aber jeder Mensch muß unbedingt seine Handlungen nach dem Maß seiner Hilfskräfte modeln. Ebenso wie er zu jeder Minute sich darüber klar sein muß, daß nichts in seinem eigenen Charakter ihn überraschen und daß kein Vorfall der Welt ihn verführen kann, die Arme statt des Kopfes oder das Herz statt der Füße zu gebrauchen.«
Arnold hatte das Gefühl, als ob ein schädlicher Doppelgänger auf ihn zugetreten wäre, um die Gedanken der Entschuldigung und entfremdeten Kälte, die er gehegt, in ein System zu pressen. Dieser feste und ehrliche Mensch, weit entfernt, ihn zu überzeugen, verdunkelte ihn nur vor sich selbst und vermehrte seine Unsicherheit.
Er klagte im stillen seine Jugend und erste Erziehung an, die ihm vorenthalten hätten, wozu andere so mühelos und planvoll kämen: Sichbescheiden. Darüber erhob sich die Gestalt der Mutter, und mit einem Gemisch von Schrecken und Scham kehrte er wieder zu jener weichen Stimmung und Verstimmung zurück, aus deren Wolken sich das Gesicht Verenas erhob. Aber nicht mit Innigkeit stand er vor der Erscheinung, sondern mit Trotz und Wachsamkeit, als ob sich neuerdings eine Sache der Gewalt und der unbefugten Eingriffe zu entscheiden habe.
Eines nachmittags machte er sich auf, um Verena zu besuchen. Er fand in ihrem Zimmer eine kleine Gesellschaft fremder und halbfremder Menschen beim Tee, unter ihnen Wolmut und Tetzner. Verena war zurückhaltend wie sonst, doch heiterer. Tetzner saß schweigsam beim Fenster, und Wolmut setzte seine Ansicht über Askese auseinander.
Verena stand auf und trat zu Arnold. »Ich habe für morgen Abend zwei Billette zum Konzert«, sagte sie freundlich. »Vielleicht kommen Sie mit?«
Arnold lächelte ohne zu antworten. Verena war etwas verwundert; dann preßte sie die Lippen zusammen, erblaßte und warf einen flüchtigen Blick auf Tetzner, der schweigend und abgekehrt saß. Hierauf sahen sie sich zum erstenmal von solcher Nähe in die Augen, Arnold mit großem, etwas knabenhaftem Blick, Verena mit einem zugleich bösen und flehenden Ausdruck. »Kommen Sie nur«, wiederholte sie schließlich mit der vorigen Freundlichkeit, »man spielt Beethoven.«
Am nächsten Abend holte er sie gegen sieben Uhr ab, und sie fuhren zum Konzertsaal.
Wunderbare Klänge hörte Arnold in diesen Stunden. Er sah eine Säule langsam und zart bis in den höchsten Himmel wachsen, und oben erst sprühten die erdgeborenen Blitze. Es war, als würden ihm zwei neue Ohren aufgerissen, und er lauschte mit einem Zustimmen seines tiefsten Herzens.
Aus einer hastigen Äußerung entnahm Verena, daß er ganz und gar nicht zerflossen war. Das hatte sie wohl erwartet, allein sein bestimmtes und heiteres Wesen erfüllte sie mit seltsamer Furcht.
Als es aus war, gingen sie lange schweigend auf der Straße nebeneinander. »Ich habe Hunger«, sagte Arnold endlich. »Wollen wir nicht in das Gasthaus da?« Er deutete auf die erleuchteten Fenster eines vornehmen Restaurants.
Verena schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bin keine Millionärin«, sagte sie. »Überdies habe ich Tetzner versprochen, nach Haus zu kommen.«
Sie gingen weiter. »Ich lebe nämlich von Tetzners Geld«, sagte sie auf einmal mit veränderter Stimme.
Arnold hatte Mühe, einer rätselhaften Freude Herr zu werden, die ihn von der Stirn bis zu den Sohlen einhüllte.
»Aber ich will nicht sprechen,« fuhr Verena fort. »Wozu auch. Man kann doch nichts aus sich herausbringen. Ich bin auch kaum mehr fähig, mich zu verständigen. Ach, das Leben, das elende Leben!«
»Das elende Leben? Nein, das schöne Leben«, versetzte Arnold. »Das schöne, herrliche, gute glückliche Leben! Jeden Tag bin ich froh, daß ich lebe.«
Bei diesem unerwarteten Ausbruch sah ihm Verena mit einem forschenden und ergebenen Blick in die Augen.
Sie waren im Haus. Verena zündete eine Kerze an und ging gedankenvoll voraus, den Arm mit der Kerze hochhaltend und Arnolds Gegenwart lebhaft und dankbar fühlend.
Oben angelangt, klopfte sie dreimal an die Türe und sah mit dem breiten schwarzen Hut, dem langen glatten Mantel und dem vorgebeugten Kopf, der von dem Licht magisch bestrahlt wurde, wie eine Zauberin aus.
Tetzner kochte Wasser zum Tee. Als der Tee fertig war, nahm er sein Buch und setzte sich abseits. Verena legte Brot, Butter und kaltes Fleisch auf einige Teller. Ihre niedere Stirn leuchtete über den blauen stillen Augen wie ein weißes Blatt. Während sie aß, nahm sie ein Stückchen Kreide und zeichnete auf der Tischplatte herum, dabei lächelnd und verstohlen einigemal nach Arnold schielend. Er beugte sich über die Ecke und erkannte verwundert sein übertriebenes Profil: ein rundes, ausladendes Kinn, dessen Linie gegen den Mund abenteuerlich weit einbog und so mit dem vorstehenden Lippenpaar einen wahren Hafen bildete, eine griechisch kurze Oberlippe, das Stück eines kümmerlichen Schnurrbarts, eine lange, gerade und unbescheiden in die Luft stechende Nase und über der ungewölbten Stirn anständig und gleichmäßig gestrichenes Haar. Arnold nahm nun seinerseits die Kreide und begann damit, Verenas Frisur zu zeichnen. Mit diesem schwierigen Stück verging aber so geraume Zeit, daß Verena belustigt ausrief: »Sehen Sie, auch dazu braucht es Talent.«
Tetzner hatte die Brille abgenommen und sie auf das offene Buch gelegt.
Mit großen, weit offenen Augen blickte er herüber.
»Was liest du?« fragte Verena.
»Ein Buch über die Liebe«, antwortete Tetzner.
Arnold blickte Verena an. Es gibt Augenblicke, wo ein einziges Wort genügt, um die Seele zu entflammen. Sein berücktes Herz sammelte sich plötzlich zu aller Sehnsucht und Leidenschaft, deren es fähig war.
»Wenn ich so das Leben überblicke«, fuhr Tetzner versonnen plaudernd fort, und sein Blick richtete sich düster gegen die Wand, »so ist nichts als Irrtum. Was man hat und rechtmäßig in sich trägt, wird verschleudert, und das Schlechte, das trügerisch glänzt, kauft man um teuren Preis. Auch die Liebe ist eigentlich ein Irrtum, und sie trübt das Bild der Welt.«
Gegen den Ofen gelehnt, flüsterte Verena nervös: »Was soll das ewige Reden! Ich bin satt von Worten. Ich bin überdrüssig, alles zu wissen, was ich empfinde und empfinden soll.«
Tetzner ging auf und ab und seufzte. »So lange es Tee und Schinken auf Erden gibt, soll man nicht über Liebe reden, das ist richtig«, sagte er in seiner wiederkehrenden kaustischen Manier. Breitbeinig stellte er sich vor den Tisch, starrte ins Licht der Lampe und trällerte mit veränderter, heiserer Stimme:
»Wenn er bei einer Hochzeit ist,
Da sollt ihr sehen, wie er frißt;
Was er nicht frißt, das steckt er ein,
Das arme Dorfschulmeisterlein.
Wenn er einmal gestorben ist,
Legt man ihn sicher auf den Mist.
Ach wer setzt einen Leichenstein
Dem armen Dorfschulmeisterlein.«
Dann warf er den Wettermantel um, nahm den Schlapphut und sein Buch und entfernte sich, ohne irgend Abschied genommen zu haben. Bald hörte man ihn die Außentüre zuschlagen.
Die Stirn an die Scheibe gedrückt, stand Verena am Fenster. »Es ist finster draußen«, murmelte sie mit erzwungener Gelassenheit. Als sie sich umdrehte und Arnold gewahrte, entfärbte sich ihr Gesicht. Er ging auf sie zu und packte mit Heftigkeit ihre Hände. Sie schwieg, atmete jedoch wie eine Gehetzte. Er drückte ihre Hände nur um so fester, als umschlösse er alles, was er im Leben an sich reißen wollen. Vergeblich war sie bemüht, sich ihm zu entwinden.
»Sind Sie denn glücklich, Verena?« fragte Arnold endlich flüsternd, im innigsten Ton, mit einem Ausdruck von Treuherzigkeit und Selbstanerbietung.
Ihr Gesicht wurde kalt, verschlossen und todesruhig, und er gab ihre Hände frei. Während sie sich an den Tisch setzte und den Kopf in die Hand stützte, stand Arnold ratlos, wie niemals durchwühlt, gekränkt und geängstigt. »Sie müssen jetzt gehen, Arnold«, sagte Verena plötzlich weich.
Mit der Lampe leuchtete sie ihm in den dunklen Flur und wartete, weit über das Geländer gebeugt, bis er unten war. Dort blieb er noch einmal stehen und schaute nun in Wirklichkeit zu ihr empor, wie er es sonst in seinen Gedanken zu tun pflegte. So begegneten sich ihre Augen durch eine nächtige Ferne, einander grüßend, doch ohne Versprechen, ohne Begehren.
Eine andere Sprache redeten jetzt die Stunden für Arnold, andere Laute hatte der Tag, andere Strahlen das Licht. Sein zurückliegendes Leben erschien ihm als ein einziger Schritt vom Nichts in eine süße, gesammelte Welt. Jetzt erst glaubte er, sehen zu können; sein eigenes Spiegelbild kam ihm näher und wesensvoller vor. Er war mit allen Sinnen bei der Arbeit, aber zur selben Zeit konnte er sich mit ganzer Seele an einem verlorenen Punkt seiner Träume finden. Nichts löste sich in Weichheit auf, keine Ader seines Körpers wurde schlaff, aber alles, was er unternahm, hatte einen bestrickenden Reiz von allgemeiner Liebe und Erkenntnis des Besseren. Jede Schwierigkeit versank unter der Wucht günstiger Notwendigkeiten; die Gefahren tauchten schon von ferne in die Flut des Glückes.
Abends war er mit Verena beisammen; sie trafen einander täglich und gingen, wenn das Wetter es erlaubte, stundenlang in den Straßen spazieren. Sonst saßen sie im Zimmer oder in einem kleinen Vorstadtkaffeehaus. Verena war es, die den Aufenthalt bestimmte, die Zeit begrenzte. Sie war es, welche die Schranken zog, und Arnold, der gehorsam davor stehen blieb. Sie erstaunte, wie er unter der Berührung ihres Blickes weicher, wärmer, empfindlicher zu werden schien. Allmählich erschütterte es sie sogar, dies zu sehen. Sie fürchtete für ihn, denn je schärfer der Stahl, je tiefer die Scharte, dachte sie. Sie fürchtete auch für sich; sie hatte nicht geglaubt, einen solchen Menschen ohne Anstrengung zu gewinnen. Nach allen Seiten suchte sie zu entweichen, um immer stärker und glühender den Hauch seiner Nähe zu spüren. Sie sah sich verfallen.
Ihre Gespräche bedeckten gleichmäßig Tiefen und Untiefen des Beisammenseins. Verena wartete stets ab, was von ihr gefordert wurde, und da es wenig genug war, so konnte sie sich großmütig erweisen und dort schenken, wo sie nur ein bescheidenes Verlangen zu übertreffen brauchte. Ihre eingeschränkte Lebensweise machte Arnold mehr und mehr stutzig; es betrübte und beleidigte ihn, sie in einer Lage zu wissen, die von der seinigen so sehr verschieden war. Einmal kam er zu ihr; Tetzner stand mit gekrümmtem Rücken und gebeugtem Kopf nahe der Tür. Als Arnold Verena begrüßt hatte und sich nach ihm umschaute, war er schon verschwunden. Verena blieb einsilbig und abgekehrt. Erst am Abend sagte sie: »Nun ist es entschieden. Ich bin frei.«
Erst nach sorgenvoller Überlegung verstand Arnold, was sie meinte. »Wovon wollen Sie leben?« fragte er.
Sie zuckte die Achseln. »Man verhungert nur an seinem Unvermögen«, entgegnete sie. Sie wandte sich ab, seufzte lächelnd und breitete in ihrer sinnlich-müden Weise die Arme aus. »Ich werde Stunden geben, Schreibarbeiten machen, Holz hacken, was sich bietet. Übrigens bin ich nicht ganz entblößt.«
In ungreifbarer Betrübnis verbrachte Arnold die nächsten Tage. Eine Verachtung alles Glänzenden, Reichen, Geputzten erfaßte ihn; er selbst in seiner Unbekümmertheit und Sattheit erschien sich verwerflich. Aber eines Morgens erwachte er, förmlich erhitzt von einem wie im Traum gefaßten Entschluß. Er machte sich auf den Weg zu Verena. Sie war nicht zu Hause; auf der Straße auf und ab gehend, wartete er anderthalb Stunden. Sie kam. Morgendlich hell, freudig bewegt, ihn zu sehen, den Widerglanz ihrer Tätigkeit und ihrer Besonnenheit in den weichen Gesichtszügen und in der robusten Gestalt, reif und anziehend wie selten. Sogleich begann Arnold. »Ich bin ein Esel, Verena; wie schlecht müssen Sie von mir denken. Ich habe einen Sack voll Geld und wenn ich nur ein Loch hineinschneide, rollt es aufs Pflaster. Sie brauchen nur nehmen, Verena, und nicht einmal das, Sie brauchen nur darauf zu treten und alles gehört Ihnen.«
Kalt und stolz sah ihn Verena an. »Das hieße einen Strick mit einem Messer vertauschen«, antwortete sie schroff und ließ ihn vor dem Haus stehen.
Nicht imstande, ihr zu folgen, blieb Arnold wie geschlagen auf der Schwelle. Mit schleichenden Schritten ging er endlich langsam heim. Gegen Abend empfing er einen wunderlichen Brief von Verena. Mit einem fast widerwilligen Anschmiegen ließ sie dunkle Leiden vor ihn hinströmen, malte Schatten, deren Körper er nicht zu sehen vermochte. Zum erstenmal tönte ihr Wesen in einer weiblichen Klage vor ihm; getröstet und aufatmend machte er sich das tote Papier zum Freund und erblickte in ihm einen Anker, der das ratlos schweifende Schifflein seiner Gefühle auf festem Grunde hielt.
Aber die wunderliche Scham über seinen Besitz wollte ihn nicht verlassen. Er faßte plötzlich den Plan zu einer Art von Wohltätigkeitsinstitut. Dies erschien ihm wie ein Opfer für Verena. Wolmut, der diesen Einfall zuerst verwarf, war ihm schließlich behilflich, da er doch wenigstens etwas Zweckmäßiges getan wissen wollte. Das Gerücht trug den Namen des Helfers rasch genug herum. Bald füllte sich das Vorzimmer von Arnolds Wohnung täglich mit den buntesten Figuren: Frauen und Greise, Jünglinge, Familienväter, Kinder; Kranke, Vorsteher von Vereinen, Unternehmer von Sammlungen, verarmte Kaufleute und Handwerker, mittellose Schauspieler, Beamte, Adlige, Arbeiter, alle warteten auf ihre Viertelstunde und zogen befriedigt oder enttäuscht, jeder nach seiner Veranlagung wieder davon. Es kam so weit, daß sich Leute einfanden, welche durchaus nicht nach Geld trachteten, sondern nur in einer schwierigen Lebensverwickelung Rat einholen wollten, zum Beispiel, wenn sie amtliche Scherereien hatten, in Heirats- und Erbschaftsangelegenheiten, ja sogar in Fragen ihres Berufs. Oft gab es Stoff zum Lachen, oft seltsame Einblicke in das Treiben der Leute, und aus mancher geheimnisvollen Not sprach das Leiden und der Irrtum von Geschlechtern. Und wie wenn die schlaffe Haut von einem zu Tod verwundeten Tier sich löst, so daß das in Krämpfen zuckende Muskelwerk ans Licht tritt, so konnte Arnold in das kranke Fleisch des Landes und der Gesellschaft blicken. Unduldung und Willkür, gelassenes Hinnehmen der Rechtlosigkeit, grausamstes Ränkespiel und hartnäckiges Strebertum, — aus ebensovielen Wunden rieselte die Lebenskraft des Staates. Aber Arnold litt nicht so sehr darunter, als er sich glauben machen wollte, daß er litt. Es war, als ob Leidenschaft ein Gitter um ihn gewoben hätte. Wohl sah er Pfeile fliegen und Getroffene niederstürzen, aber ihn beschlich eine frevelhafte Sicherheit.
Wolmut, wie ein uneigennütziger und gewandter Minister, behandelte jeden Fall mit trockener Sachlichkeit und stand in dem kleinen Tatengewebe aufmerksam da, vielleicht mit Wissen die größere Rolle einstudierend, die er der Welt einst vorzuspielen gedachte. Arnold lernte von ihm, sich auf das Einfache und Zweckdienliche zu beschränken, alles Gebauschte und Überflüssige zu vermeiden. Auch äußerlich lebte er so einfach und mit so ängstlicher Sparsamkeit, daß er zum Spott seiner näheren Umgebung wurde.
Anna Borromeo beobachtete sein Tun mit Verdruß und Entrüstung. Sie hatte jetzt selten Gelegenheit, ihn zu sehen, aber wenn sie ihm begegnete, erbleichte sie vor Zorn. Sie beklagte sich bei ihrem Gatten lebhaft über das Gesindel, welches nun täglich Flur und Treppen stürme. »Gut«, erwiderte der Doktor mit niedergeschlagenen Augen, »ich werde Arnold ersuchen, vor dem Haustor Fräcke und seidene Kleider austeilen zu lassen. Dann kannst du die Herrschaften getrost auch bei dir empfangen.«
»Du hast recht«, gab Anna zurück; »und wir beide werden bei ihm um ein Versorgungsstübchen in Podolin betteln.«
Man meldete Besuch, den Baron Valescott, einen jungen Leutnant, der seit kurzem zu Anna Borromeos eifrigen Verehrern gehörte.
Borromeo begegnete Arnold im Stiegenhaus. »Willst du mich ein Stück begleiten?« fragte er in seiner zurückhaltenden und bescheidenen Art. Arnold erklärte sich bereit; er war auf dem Wege, Natalie Osterburg zu besuchen. Sie hatte ihm geschrieben, einen langen Brief mit hundert Entschuldigungen, er möge nicht böse sein, sie werde auf Ehrenwort das geliehene Geld am ersten Januar zurückerstatten, er solle sie doch besuchen und damit zeigen, daß er ihr noch freundlich gesinnt sei.
Sie gingen ein Stück Wegs, ohne daß Borromeo, was ihn beschäftigte, in Worte zu fassen vermochte. Er war redensmüde; immer schwerer wurde es für ihn, sich mit der realen Teilnahme des Lebenden vor ein Geschehnis zu stellen, da all und jedes Ding für ihn in ein unermeßliches Meer der Nutzlosigkeit floß. Trotzdem sagte er schließlich mit einem Anflug von kränklicher Ironie: »Du ziehst das lebhafte Mißfallen der besseren Kreise auf dich. Die besseren Kreise wollen nicht, daß man ihre Privilegien, die sie ja freilich nicht ausüben, zu wörtlich nimmt. Du solltest dir ein Sammetpolster kaufen und darauf sitzenbleiben. Tust du es nicht, so werden die besseren Kreise dafür sorgen, daß dein bisheriger Sitz mit Nadeln gepolstert wird. Du siehst, es ist kein schöner Kampf, man kann ihn nicht auf ehrliche Weise führen. Stecknadelschlacht ist es.« Er reichte Arnold die Hand und zog schwermütig die Brauen empor. Arnold sah ihm sinnend nach.
Bei Osterburgs wurde er in das große Wohnzimmer geführt. Im Ofen brannte Feuer. Es war eine ordentliche Versammlung da: Petra, die alte Frau König, Natalie, ihr Mann, ihre beiden Kinder und Hyrtl. Als Arnold eintrat, herrschte die größte Stille, und er gewahrte mit Erstaunen, daß alle Sieben in der gleichen Weise beschäftigt waren. Frau König legte Patiencen mit zierlichen Elfenbeinkärtchen, dasselbe tat Natalie; Petra spielte mit Herrn Osterburg Beziques. Selbst die beiden Kinder beschäftigten sich mit einem Kartenspiel und Hyrtl legte die sogenannte kleine Patience. So saßen sie seit Stunden, nicht nur an diesem Tag, sondern jeden Tag, den Gott gab. Bisweilen fing Frau König an zu schmälen, dann sagte Natalie Pst und vertiefte sich wieder. Hierauf entspann sich unter den Kindern ein bedeutender Kriegslärm und der würdige Vater brachte sie durch einen Zornanfall zur Ruhe, der genügt hätte, um eine Schar von Landsknechten einzuschüchtern. Auch er versank danach wieder im Spiel wie ein Frosch, der flüchtig das Wasser verlassen hat, nur um ein Donnerwetter am Himmel zu bequaken.
Natalie begrüßte Arnold etwas verlegen. Alle hörten auf zu spielen außer Frau König, die dem jungen Mann so vertraulich zulächelte, als ob sie nichts Lieberes als ihn kenne. »Gleich bin ich fertig«, sagte sie mit heiserer Stimme und deutete mit einer übertriebenen Rokokohöflichkeit auf einen leeren Stuhl an ihrer Seite.
Osterburg gähnte, befühlte seine Lenden und warf sich mit gelangweiltem Gesicht auf eine Ottomane, wo er einstweilen wie ein Gestorbener liegen blieb. Die beiden Kinder, gestachelt durch die Anwesenheit eines Fremden, brachen wechselsweise in ein völlig unbegründetes Gelächter aus, als ob es an sich verdienstvoll und der Aufmerksamkeit wert wäre, zu lachen. Mit verurteilendem Gesicht blickte Petra ins Leere.
»Denken Sie nur, ich schlafe nicht mehr«, klagte Natalie. »Seit vielen Nächten kann ich kein Auge mehr schließen.«
Osterburg bewegte sich. »Seit ich dich kenne, meine Liebe, hast du noch nie geschlafen«, rief er verdrossen und gereizt. Zu gewissen Zeiten reizte ihn der harmloseste Laut. Jemand gebrauchte das Wort Kunst und er begann unbestimmt ins Blaue zu schimpfen. Besonders auf neuere Malerei war er schlecht zu sprechen und Richard Wagner war aus unerfindlichen Gründen sein Todfeind. »Wissen Sie, daß ich krank bin?« sagte er jetzt, das Haupt matt nach Arnold drehend. »Ich habe Psorias.« Er hatte irgendwo den Fachausdruck für einen unbedeutenden Ausschlag gefunden und war sehr stolz darauf.
Natalie zog Arnold, der bisher kein Wort gesprochen hatte, in eine Ecke und nahm auf einem niedrigen Sesselchen neben ihm Platz. In atemloser Erregung sagte sie: »Wissen Sie denn schon? Ich hab’ es erst vor einer Woche erfahren –, wissen Sie es?«
»Was?« Arnold war verdutzt.
»Ich möchte Ihnen gern etwas mitteilen, Herr Ansorge«, ließ sich Osterburg wieder vernehmen, »aber geben Sie mir das Ehrenwort, daß Sie Silbe für Silbe glauben wollen?«
»Er braucht einen Maulkorb«, murmelte Hyrtl, der müde und verstimmt aussah.
Natalie klatschte in die Hände. »Petra!« rief sie triumphierend über das ganze Zimmer, »er weiß noch nichts. Also Sie wissen wirklich noch nichts? Seien Sie aufrichtig.«
»Wenn du so schreist, liebes Kind«, fiel die alte Dame mahnend ein, »kann ich unmöglich nachdenken. Ich habe kein Aß mehr, …« Mit verglasten Augen starrte sie auf die soldatisch regelmäßigen Kartenreihen.
»Hanka hat seine Frau weggejagt«, begann Natalie mit Feierlichkeit und sah, die Wirkung erwartend, Arnold gespannt an. Da die Unbeweglichkeit dieser Züge sie enttäuschte, fuhr sie mit berechneter Steigerung fort: »Hanka ist verreist und niemand weiß wohin. Beate hat ein Verhältnis mit Pottgießer, Ihr Freund, Maxim Specht, hat die beiden miteinander bekannt gemacht. Alle Welt spricht davon, jetzt erst, obwohl die Geschichte schon Monate alt ist. Nun? was sagen Sie dazu? Ist das nicht entsetzlich? Aber so reden Sie doch etwas –«
Jetzt erhob sich Petra, schaute tief aufatmend und verzweifelt gegen die Decke des Zimmers und ging schweigend hinaus. Sie kam nach kurzer Zeit mit einem Buch zurück und ihre Züge zeigten ein ehernes Lächeln. Wenn sie ein Wort sprach, war es von der gewähltesten Natürlichkeit, denn sie glaubte sich von andern ebenso unaufhörlich beobachtet wie von sich selbst.
Natalie war unzufrieden mit Arnold. Er war weder überrascht, noch dankbar, weder erschreckt, noch anteilvoll. »Sie sind ein Stock«, sagte sie ärgerlich.
Hyrtl und Arnold gingen zusammen. Hyrtl sagte, er glaube im Ernst, daß sein Herz nicht mehr lange gehorchen werde. Kühl hörte Arnold darüber hinweg.
Durch Schneegestöber und hochliegenden Schnee ging Verena von der Universität nach Hause. In der Nachbarschaft versorgte sie sich für den Mittag mit Schinken und Brot und erstieg nachdenklich die Treppen zu ihrer Wohnung: mit jeder einzelnen wurde ihr Herz schwerer und vergaß die schneeweiße Fröhlichkeit der Straßen. Oben wollte sie Tee kochen, fand aber, daß kein Spiritus mehr da sei. In Hut und Mantel kauerte sie vor den Ofen hin und legte Späne hinein, um aus der Glut noch einmal frisches Feuer zu gewinnen, dann stellte sie sich ans Fenster und ihr Blick schweifte ernsthaft über die zahllosen schneeberahmten Fenster der Höfe, hinter denen bisweilen ein umrißloses fremdes Gesicht auftauchte. Als es im Zimmer warm zu werden begann, nahm sie die Flasche, und, die Treppen hinuntergehend, hatte sie abermals das Gefühl, als nähere sie sich einem Schauplatz der Heiterkeit; in der Tat glich die Straße einem blendend weißen Saal, in welchem die Flocken einen schwerelosen Tanz aufführten.
Oben angelangt, setzte sie sich, anstatt Tee zu bereiten, vor das Knochengerüst, stützte den Arm auf die Lehne des Holzstuhls, den Kopf in die Hand und blickte unter halbgeschlossenen Lidern schräg auf den dürren Schädel. Wunderliche Anwandlungen, mit diesem Ding ein Gespräch anzuknüpfen, unterdrückte sie, ja sie erblickte sich selbst, losgelöst von Fleisch, Blut und Empfindung, doch immer noch Zwischenglied, beinernes Abstraktum. Eine seltsame Zärtlichkeit erschütterte sie von oben bis unten und bald darauf, als ob ihr Organismus von Kämpfen ermüdet sei, hatte sie Schlafbedürfnis. Sie legte sich auf das Bett und schlief ein, um nach einer Viertelstunde von dem Geräusch eines Eintretenden zu erwachen. Es war Arnold; erschreckt fragte sie, wie er hereingekommen sei. Seine Erklärung, daß die Außentüre nur angelehnt gewesen sei, nahm sie mit einem nachdenklichen und süßen Lächeln auf, in welchem noch ein Traum zitterte. Sie erhob sich, reichte ihm die Hand und strich die braunen Haare aus der Stirn. Über Arnold legte sich eine Erstarrung. Er glaubte glücklich zu sein oder doch die Nähe des Glücks zu ahnen. Das Bild eines märchenhaften Sommers stieg vor ihm auf; nackte Menschen wanderten zwischen Blumen und buntem Laub. Nie hatte er Verena so gesehen, still und von gleichsam animalischer Zutraulichkeit. Er ergriff ihre Hände, um zu sehen, ob sie es auch wirklich sei, er preßte ihre Hand an die Lippen und drückte die Zähne in die Haut, so daß zwei Halbkreise von blutunterlaufenen Strichen entstanden. Sie seufzte schmerzlich und drängte von ihm weg; er flüsterte, ungewiß lächelnd. Sein Gesicht war feucht und er breitete die Arme aus — nach nichts. Er folgte ihr nun, umschloß sie bei den Schultern und küßte sie. Ihre erstickten Bewegungen, sich zu befreien, glichen den Zuckungen eines betäubten Tieres. Der beschwörende Ausdruck und Glanz ihrer Augen erlosch langsam. Ihre beiden offenen Hände lagen zuerst wie zwei tote Körper auf seinem Haupt und glitten dann bis zum Nacken herab, um endlich schlaff mit den Armen völlig zu sinken. Arnold ließ sie nicht. Ihr tränennasses Gesicht sah er nicht. Er fragte nicht mehr, ob sie mit Freude gewähre, er sah nicht ihre Lebensangst; als sie nachgiebig geworden war, unfähig, einen vergangenen oder zukünftigen Augenblick zu bedenken, als alle gesprochenen Worte plötzlich leichter schienen wie die Luft, erfüllte Verena ein Verlangen, dessen räuberische Wildheit für sie etwas Elementares hatte.
Am Abend ging sie noch mit ihm fort. Allein im Zimmer zu bleiben, erschien ihr auf einmal unmöglich. Ihr Anschmiegen an ihn hatte etwas Furchtsames. Sie war überaus schweigsam; ihre Lippen waren wie versiegelt vor Erstaunen und Ratlosigkeit. Was ihr körperlich zurückgeblieben, war ein alle Glieder umgürtender Schmerz; und im Gemüt lag Nüchternheit, Selbsthaß und Erschöpfung. Noch gestern über den gewöhnlichen Dingen und Menschen der Straße schreitend, kam sie sich heute mit ihnen vermählt vor, jedenfalls vereinigt, verurteilt, ihr Eigenleben zu verlassen und an den tausend endlosen Geschäften der zum Tode strebenden Menschheit teilzunehmen. Der Lärm und die Unrast der unzähligen enggedrängten Häuser strömte auf sie ein. Die Stadt, wie eine dampfende Maschine mit glühendem Bauch, Dampf und Feuer ausspeiend, lebendige Leiber in ihren Fäusten zerquetschend, erhob sich aus der beunruhigten Erde, deren unsichtbarer Mund um Gnade bat. Sie ging ohne Festigkeit und spürte zwischen ihren Füßen und ihrem Leibe keinerlei Zusammenhang. Sie wußte kein Mittel, sich vor ihrem aufstürmenden Innern zu verschließen, als den Schlaf, aber sie mochte sich noch nicht von Arnold trennen. Seine Gegenwart erschien ihr notwendig; an ihm aufblickend glaubte sie ihn viel größer als sonst, und sie spürte etwas wie bange Erwartung vor seinem Urteil und seinem heiteren Blick.
Arnold begleitete Verena wieder zurück. Die kalte, stille Luft hatte sie beide erfrischt. Vor dem Tor blieben sie noch eine Weile plaudernd stehen; aber es war, als ob jeder nur aus Gefälligkeit gegen den anderen rede, da das Reden der inneren Stimme vorlaut zu werden begann. Verena suchte den Abschied von einer Minute zur andern zu verschieben. Ihr Gesicht war gerötet; einmal legte sie den Kopf auf die rückwärts gekreuzten Hände, wodurch die atmende Bewegung der Brust etwas Friedliches und Erstaunliches erhielt. Dann sagte sie gute Nacht und reichte ihm den Mund zum Kuß. Lange sah sie ihm nach, wie er sicher und fest dahinschritt und wie sich frohe Laune und frohe Leichtigkeit des Herzens in seinen Bewegungen ausdrückte. Ihr war es einsam.
Arnold dagegen war in der Tat voll Zufriedenheit. Er ging so aufrecht, als wäre ihm der Befehl über eine Armee übertragen worden, lächelte bisweilen verschmitzt und gemütlich in sich hinein, und als er nach Hause gekommen war, legte er sich sogleich ins Bett und schlief fest bis zum Morgen.
Die Sonne schien ins Fenster, als er beim Frühstück saß. Der Diener kam und meldete eine Dame. Es war Verena. Sie trat ein; ihr Gesicht war von einer eigentümlich strahlenden Blässe. Sie nahm mit den Bewegungen eines Gastes Platz. Mit weiten Augen, die keinem Aufenthalt begegnen wollten, schaute sie umher und sagte: »Ich wollte dich nur sehen, Arnold. Wie hast du geschlafen? Wie geht es dir?«
»Gut, sehr gut, Verena«, antwortete Arnold glücklich und mit erwachendem Stolz darüber, sie zu besitzen. Aber er sah an ihrem Wesen, daß sie wieder »gedacht« hatte, wie er es innerlich nannte und suchte seine sich regende Scheu durch eine etwas heuchlerische Freimütigkeit zu bemänteln.
Verena legte den Kopf zurück und sah ihn an. Ihre Handschuhe fielen zu Boden und Arnold bückte sich danach. Dann standen sie einander gegenüber. »Du sollst wissen, Arnold«, begann Verena und wühlte mit den runden Fingern im Pelzbesatz ihrer Winterjacke, »daß ich mich keiner Täuschung hingebe. Ich habe die ganze Nacht dazu benutzt, um über uns beide klar zu werden. Denn das Nebeneinandergehen genügt nicht, man muß doch auch wissen, wohin man geht.«
»Warum, Verena«, unterbrach sie Arnold mit leisem Unwillen und mit Furcht vor dem, was sie sagen würde, »warum immer das zerpflücken, was schön ist und was von selber entstanden ist? Es ist genug, über das Schlechte zu grübeln, und warum brauchst du ein Wohin? Die Erde ist rund und man geht immer nur im Kreis.«
»Das ist doch eine etwas oberflächliche Wahrheit«, entgegnete Verena, erstaunt über das Bestimmte und Fertige seiner Meinung. Eine Sekunde später, und sie wurde traurig, denn sie erkannte, daß er ihr entweichen wollte.
»Du bist zu schwermütig, Verena«, sagte er mit begütigender Kritik, vergeblich nach dem Grund ihres ahnungsvollen Schweigens suchend.
Verena erhob schnell den Kopf. »Darin hast du recht!« rief sie aus. »Begreifst du es nun?«
»Ich begreife nichts«, entgegnete er mit stockender Stimme.
»Ich weiß zu viel von mir. Leider«, sagte Verena. »Denke doch nach, Arnold, du fliegst umher in der Luft. Ich bin ein im Erdreich verfallenes Etwas. Meine Wurzeln sind abgestorben, während du noch in blühenden Geschlechtern stehst. Und hauptsächlich wenn man so in der Tiefe lebt, ist alles dunkel oder wie du sagst, schwermütig. Nicht Einzelschwermut, weil es mir vielleicht schlecht ergangen ist, und es ist mir herzhaft schlecht ergangen, oder weil ich zu wenig Zeit zum Spazierengehen habe, sondern die Schwermut unseres ganzen Lebens, unseres Siechtums, unserer falschen Kultur. Ich bin kraftlos und durch Kraftlosigkeit bin ich die deine geworden. Deshalb hab’ ich gefragt, wohin es gehen soll, denn du müßtest mich auf deinem Weg nicht nur schleppen, sondern sogar heruntersteigen, um mich zu schleppen. Also lebe und rette dich.«
Sie stand vor ihm und sah ihn an. Sein ganzes Innere wurde bewegt und umfaßt von diesem zauberhaften Blick ehrlicher Bedrängnis. Aber er zweifelte, ob er derjenige war, den sie in ihm erblickte, und dies machte ihn zu feig, ihr zu widersprechen, statt dessen nahm er sie in die Arme und küßte sie. Dann gingen sie zusammen fort.
Jetzt waren sie meist in Verenas stiller Wohnung. Tetzner hatte nach und nach aufgehört, ihre Gesellschaft zu suchen. Einmal trat er ein, die Hände in den Manteltaschen, scheinbar gut gelaunt. Aber bald wurde es klar, daß seine Aufgeräumtheit nur eine Larve war. Er legte die Hand vor den Kopf, als fürchte er, seine Stirn könne zusammenbrechen. Seine wulstigen Lippen lagen wie zwei Fäuste aufeinander und mit dem runden, fahlen Bart und dem blinden Ausdruck der Augen sah er aus wie ein Bildnis des alten Homer. Ohne zu sprechen, entfernte er sich wieder, seine aufpatschenden Schritte fast furchtsam dämpfend. Verdunkelung des Gemüts kam über ihn.
Vier Tage danach, es war am Abend, zur Haussperrstunde, trieb es ihn wieder zu Verena hinauf. Der Portier, der ihm das Tor öffnete, sagte mit böswillig-wissendem Lächeln, der junge Herr sei oben bei dem Fräulein. Während Tetzner die Stiegen emporkeuchte, hatte er Mühe, nicht aufzuheulen.
Er klopfte an der Türe in der Weise, wie er es mit Verena seit je verabredet hatte, aber alles blieb still. Traurig lehnte er sich im Finstern an die Mauer. Er wagte es nicht, noch einmal zu klopfen. Er wollte auch nicht fortgehen, um dem Hausmeister nicht wieder Anlaß zu bösem Grinsen zu geben. Aber er hörte nun trippelnde Schritte in dem Flur drinnen; er glaubte sogar, einen hauchenden Atem zu vernehmen. Es schien, als ob eine schuldige Person an die Türe schliche. Dieses Bild auf Verena angewandt, erschien ihm plötzlich so toll und widerwärtig, daß er laut auflachte. »Tetzner, sind Sie es?« ertönte die Stimme Verenas hinter der Türe. »Ich«, erwiderte Tetzner, und es wurde geöffnet.
Es war warm und hell im Zimmer. Vor der Lampe lag ein aufgeschlagenes Buch. Tetzner schob die blaue Brille auf die Stirn und blickte Arnold zuerst wie einen fremdartigen Gegenstand zerstreut an, dann zogen sich die Muskeln des Gesichts zu einem nachtwandlerischen Lächeln auseinander. Etwas Angstvolles, Zärtliches und Geistreiches tauchte in seinem Gesicht auf, als er sagte: »Wollen wir nicht fröhlich sein, Tee trinken, über die Zukunft plaudern? Na, Verena –? Wie –?« Mit geschlossenen Augen lächelte er und hing seinen Mantel an die Wand.
Verena blickte nachdenklich gegen das Fenster. Arnold war unruhig und unwillig. Er begehrte mit Verena allein zu sein und hatte große Mühe, nicht merken zu lassen, wie verdrießlich ihm Tetzners Anwesenheit war, der nun in dem großen Sessel Platz nahm, die Beine ausstreckte und beide Hände auf den Kopf legte. »Sind Sie müde, Tetzner?« fragte Verena verlegen und mitleidig.
»Ja, mein Seelchen«, antwortete er. »Nicht Fußmüdigkeit, sondern Herz-, Herzmüdigkeit.«
Arnold brütete in sich hinein. Ohne Sympathie, ohne Milde der Wahrnehmung, wünschte er nichts anderes, als daß Tetzner fortgehe, und da er sich nicht verstellen konnte, merkte Verena, was ihn bedrückte und auch sie begann dasselbe zu wünschen. Sie sah, daß Tetzner litt, sie fragte ihn und er gab Auskunft, ein wenig verstört durch die hämmernden Schmerzen im Kopf. Verena erschrak und sie bemühte sich um den Freund, legte ihm ein nasses Tuch über die Schläfen, zählte die Pulsschläge und blickte grübelnd zu Arnold hinüber, der keine Teilnahme zeigte, der ungeregt und unberührt nur seiner egoistischen Sehnsucht nachhing. Eine bittere Betrübtheit umfing Verenas Herz. Wach auf, Arnold! hätte sie rufen mögen. Verschließ dich nicht, vergiß dich nicht! umfange die Welt! Sie kam sich selbst auf einmal sündhaft vor, denn das wollte sie nicht: von einer Seele Besitz ergreifen, die sich in ungenügender Begierde selbst zerstört.
Als sie so neben Tetzner stand, besorgt und versonnen, konnte sich Arnold nicht länger bezähmen. Er stand auf, ergriff Verena bei den Schultern und küßte die sich ehrlich Sträubende ungestüm und lachend auf die Wange. Das hatte Verena nicht erwartet.
Wenn Arnold zu Verena kam, vereinigten sich unbewußt alle seine Kräfte dahin, sie willfährig zu machen. Worin sie sich unterordnete, das lockte ihn nicht mehr. Sie glaubte seinem Temperament zu erliegen, doch es entstand keine Glückesgewißheit für sie. Sie suchte den Mangel in sich selbst. Warum kann ich nicht gedankenlos sein? klagte sie in ihrem Innern. Oftmals legte sich Ernüchterung wie ein grauer Mantel um sie. Dies Treiben war es nicht, was sie gehofft: von Kreuzweg zu Kreuzweg eilen, ratlos warten und fragen. Nie schwieg ihr Verstand, nie war ihr Urteil still, und sie wußte, daß es hätte sein müssen, so wie im Traum Uhr und Glocke ihren Sinn verlieren.
In der letzten Karnevalswoche ging sie in Arnolds Begleitung zu einem Ball der Studentinnen. Arnold tanzte nicht, aber es machte ihm Vergnügen, als Außenstehender das rhythmische Gewühl zu beobachten, und er freute sich, Verena zu führen. Die Beziehung zwischen beiden war kein Geheimnis, sollte es auch nicht sein; im engen Kreis der Freunde fand Verena eine wohltuende Unbefangenheit. Aber dennoch gestand sie Arnold offen, daß sie nicht sobald wieder in eine Gesellschaft gehen werde, und er gab ihr recht. Gerade die Gutmütigsten und Nachsichtigsten hatten sie durch Neugierde und Zudringlichkeit verletzt. Aber nach wenigen Tagen überredete Emerich Hyrtl, der in einem Hotel eine Art Hausball veranstaltete, Arnold, mit Verena zu kommen. Hyrtl ergriff gern die Gelegenheit, eine moderne Gesinnung an den Tag zu legen, und noch viel größeren Spaß bereitete es ihm, seine bürgerlich gesinnte Umgebung vor den Kopf zu stoßen.
Verena weigerte sich. Schweigsam und verletzt setzte sich Arnold in eine Ecke. Sie suchte ihn vergeblich zu besänftigen, vergeblich zu überzeugen. Als er sich anschickte zu gehen und ihr, eigensinnig, die Hand nicht reichte, willigte sie ein. Er schloß sie in die Arme, hob sie empor, erdrückte sie beinahe, jauchzte, küßte sie, gab ihr kindische Kosenamen, preßte ihre Hände. Hingerissen, verzieh sie ihm im Stillen. Doch was mochte ihn bewegen?
Unter den übrigen Ballbesuchern trafen sie auch Petra König, und Arnold machte sie mit Verena bekannt. Sie blieb beständig um Verena. Ihr treuherziger Bildungshunger glaubte dabei einen Brocken zu erhaschen. Aber sie suchte auch hervortreten zu lassen, wie viel freier und selbständiger sie dachte, als die andern und betonte mit jedem Lächeln, wie unbekannt die Prüderie der Gesellschaft ihrem Wesen sei. Verena war überlegen genug, es humoristisch zu nehmen, aber nie war ihr so öde und faul zumute gewesen.
Auf dem Heimweg, sie gingen zu Fuß, machte Verena halb bittere, halb ironische Andeutungen über Petras anschmiegende Jüngferlichkeit. »Petra ist so«, antwortete Arnold bedächtig. »Immer sucht sie sich das Beste aus, was man reden und tun muß, aber es bleibt ihr fremd.«
»Du weißt sehr gut zu urteilen«, meinte Verena mit abgewandtem Gesicht.
»Petra ist nicht übel«, fuhr Arnold fort. »Sie ist vielleicht nur durch gute Bücher verdorben.«
»Gewiß«, bestätigte Verena. »Sie verwechselt das, was sie bewundert, mit dem, was sie vermag. Dadurch wird sie gekünstelt. Aber was hab ich dabei zu schaffen? Weshalb soll ich mich stundenlang preisgeben? Warum willst du mich hinüberziehn auf den Markt, wenn ich Ruhe will? Dort hat man nur ein kurzes Leben. Aber ich begreife doch«, sagte sie mit veränderter Stimme, zu einer Vorstellung überspringend, die sie betrübte, »daß selbst die freiesten Mädchen sich die Ehe wünschen. Es ist traurig, daß die Menschen eine Sittlichkeit erfunden haben, mit der sie das Schöne herunterziehen können.«
»Wäre es dir angenehm, mit mir verheiratet zu sein, Verena?« fragte Arnold und beugte sich lächelnd zu ihr.
Verena biß sich auf die Lippen. Mit kurzem Seitenblick streifte sie sein Gesicht. Sie mußte an jenen Tag zurückdenken, an dem er ihr sein Geld angeboten hatte. Arnold schwieg etwas betreten. Als sie am Haustor angelangt waren, wollte sich Verena verabschieden, doch er hielt ihre Hand fest.
»Heute laß mich allein, Arnold«, bat sie. Ihre Augen waren von Müdigkeit dunkler. Trotzig wich Arnold nicht von der Stelle. Verena runzelte die Stirn und seufzte; ihre geöffneten und in die Höhe gerichteten Augen gaben dem Gesicht einen bitteren Ausdruck. »Mein Liebster«, sagte sie mit wunderbarer Sanftmut, »prüfe dich genau, ob du nicht widerstehen kannst.«
Arnold lachte. »Immer betrachten und zerpflücken!« rief er. »Kannst du denn noch zwischen Freude und Nichtfreude unterscheiden?«
»Es gibt nur Leiden, denn nur Leiden sind wahrnehmbar«, entgegnete Verena leise. »Das andere sind Ruhepausen. Ich will nur noch nicht jedes Leiden als ein Symbol hinnehmen, das ist alles. Sonst müßte ich eben aufhören, zu überlegen.«
Ohne sie ganz zu verstehen, machte Arnold eine ungeduldige Bewegung. Er stand und pfiff leise. Zwischen ihnen fielen Wassertropfen vom Dach herab. Die Straße entlang plätscherte und sickerte es vom tauenden Schnee. Verena war es, als ob ihr Herz und ihre Adern in einer arktischen Kälte zusammenschrumpften. Lautlos brachen die noch ungesprochenen Worte in ihrem Innern entzwei. Mit langsamer Bewegung des Armes drückte sie auf den Knopf der Hausglocke, im Stillen erwartend, daß Arnold nun doch mit hinaufgehen würde. Sie selbst wünschte es, da sie nicht eine ganze Nacht lang durch Mißverständnis und böses Sinnen von ihm getrennt bleiben wollte. Aber der Teufel war in ihm. Als der Hausmeister drinnen den Schlüssel ins Schloß steckte, wünschte Arnold gute Nacht, verbeugte sich in lustiger Ehrerbietung und ging.
Verena konnte nicht schlafen. Lange Stunden wanderte sie in ihrem Zimmer herum. Was vorher still und fern in ihr gewühlt, durchbrach nun furchtbar die Hüllen und entlockte ihr Frage über Frage, vor denen feig zurückzuprallen nicht in ihrem Wesen lag. Wenn es zwischen ihr und Arnold nicht so geworden war, wie sie gewollt, so hatte es auch niemals so werden können. Die Natur selbst rief dann ihr vorbestimmtes Nein in die zukunftlosen Freuden. Sie wollte nicht warten, bis Arnold sich selbst vergessen hatte. Sie wünschte vorher von ihm zu gehn, unterzutauchen in die Flut, an deren Ufer für ihn die Erinnerung begann. Nur so kann ich ihn erleichtern, dachte Verena; nur so kann ich ihn sich selbst zurückgeben und mich zugleich für ihn bewahren. Einmal würde es doch kommen, daß er mich vom Weg stieße und dann säß ich da wie ein Bettelweib, während ich jetzt noch ein Stück von ihm mitnehmen kann, für immer. Ich weiß, was ich weiß; das Wort Ende besteht aus vier Buchstaben, und wenn man es auch zehnmal schreibt, werden doch nicht fünf daraus. Nach dem letzten Kuß kommt kein allerletzter.
Angekleidet legte sie sich aufs Bett und schlief allmählich ein. Aber schon um sechs Uhr wachte sie auf, konnte keinen Schlummer mehr finden und war doch müde, unfähig zu überlegen, welche Arbeit sie an diesem Tage erwarte, der nach ersten Frühnebeln einen blauen Himmel über die Stadt spannte. Die Sonne trieb Verena empor. Sie entkleidete sich, goß kaltes Wasser über sich herab, daß ihre Haare troffen, dann zog sie sich mit so schwermütiger Langsamkeit an, als könne sie das gefürchtete Vorrücken der Stunden dadurch hemmen. Sie wollte sich eben bereit machen, in die Klinik zu gehen, als Arnold kam. Zum erstenmal war er so früh bei Verena. »Ich war niederträchtig gestern, verzeih«, sagte er sofort und nahm ihre Hand. »Und heute, Verena, darfst du nicht fleißig sein, heute wollen wir hinaus –« Er stockte, als er ihr unschlüssiges und müdes Gesicht sah, »– hinaus aufs Land.«
»Ich kann nicht einen ganzen Tag verlieren«, antwortete Verena; »ein wichtiges Examen steht bevor …«
Hin und her gehend, verstimmt und erregt durch ihre Weigerung, sagte Arnold: »Ich will aber, daß du mitgehst, Verena. Du sollst nicht etwas anderes wollen als ich.«
»Ich habe schon gesagt, daß ich nicht gehe«, entgegnete Verena leise, indem sie nach ihrer Weise die Brauen erhob und den einen Mundwinkel verzog.
Arnolds Gesicht wurde rot. »Du mußt!« rief er mit Heftigkeit und schlug dabei in die Hände. Aber der Anblick Verenas ließ ihn sofort bereuen, was er getan. Ihr plötzliches, unwillkürliches Händefalten, das bestürzte und klagevolle Abwenden ihres Gesichts und die gewaltsam emporsteigende Entschlossenheit, die sich in ihrem schräg zur Erde gerichteten Blick kundgab, erschreckten ihn.
»Ich lebe nicht nur in der Liebe«, sagte endlich Verena mit einer seufzend sich hebenden Stimme, »und das ist vielleicht meine Schuld. Du aber, Arnold, bist in Gefahr, dich ganz in Liebe zu verlieren, und das ist schlecht…«
»Ich weiß nicht, daß du mich liebst«, erwiderte Arnold trotzig und schüchtern zugleich, »ich habe keine Beweise.« Er setzte sich auf den Kohlenkasten und, den Kopf zwischen den Händen, starrte er zu Boden.
In tiefstem Erstaunen verharrte Verena eine lange Minute hindurch regungslos. Dann zuckte ihr Mund, und ihre Züge strahlten plötzlich von herrlichem inneren Licht. Sie ging hin, legte Arnold den Arm um den Nacken und suchte, wobei sie sich tief niederbeugen mußte, seinen Blick mit ihrem zu vereinen. »Nun geh«, flüsterte sie endlich. »Heute wollen wir uns nicht mehr sehen.« Sie küßte ihn, erhob sich, deckte die Hand über die Augen und wandte sich ab. Sie weinte, doch gelang es ihr vollkommen, dies zu verbergen, wenn auch das innerliche Schluchzen ihren Mund fast sprengen wollte.
Auch Arnold stand auf. »Gut, auf morgen also, Verena«, sagte er mit brennendem Schamgefühl. Hier ist irgend ein Mißverständnis, dachte er, als er die Treppe hinabschritt. Sehnsucht ergriff ihn plötzlich, und er wußte nicht recht, war es Sehnsucht nach Verena, oder nach etwas in ihm selbst, das er verloren geben mußte. Im untern Stockwerk hing ein kleiner Spiegel neben einer Türe. Er blieb davor stehen, betrachtete sich aufmerksam und lächelte zerstreut.
Zu Hause machte er sich über seine Bücher und Hefte her, aber es gelang nichts. Die Gedanken blieben wie faule Spaziergänger unterwegs liegen. Er besuchte, wie er es jetzt bisweilen mit erwachendem Verständnis zu tun pflegte, eine Gemälde-Galerie. Meist blieb er vor den landschaftlichen Darstellungen stehen. Heute, da die ersten Boten des Frühlings durch die Gassen zogen, betrachtete er auf den Bildern braune Bäume mit machtvollen Kronen, stille Teiche, verglimmende Abendhimmel, helle Herden und weitgestreckte Ackergründe.
Es schien, als ob die Zeit auf dem Flecke bleiben wolle. Endlich wurde es Abend, endlich Nacht. Arnold begriff seine Ungeduld und sein Bangen nicht. Am andern Morgen kam Wolmut zur bestimmten Stunde. Er reichte Arnold einen verschlossenen Brief und sagte, ruhig und sachlich wie immer: »Ich soll Sie vielmals grüßen. Verena Hoffmann ist abgereist.«
Arnold starrte ihm entsetzt ins Gesicht. »Was –?« fragte er, und die weißen Blätter auf dem Tisch schienen auf einmal rot zu werden. Hastig riß er den Brief auf und las: »Mein Liebster, ich sage dir Lebewohl. Mühe dich nicht, mich zu finden oder mir zu folgen, es wäre umsonst. Wenn du das Warum spürst, wirst du mich nicht anklagen, wenn nicht, dann würde uns dies doch allzubald auseinander reißen. Ich werfe weg, um nicht zu verlieren. Lebe wohl! Tetzner begleitet mich.«
Arnold nahm Mantel und Hut, stürzte fort, warf sich unten in einen Wagen, nachdem er mit heiserer Stimme dem Kutscher Verenas Adresse zugerufen hatte. Zorn, Schrecken, Reue, Scham machten ihn fast besinnungslos.
Die Wohnung Verenas war leer. Schnell hatte sie’s vollbracht. Er lief wieder herab, ging zwei Häuser weiter, — auch Tetzner war auf und davon, und jetzt erst glaubte es Arnold, da seine Augen ihn überzeugt hatten. Er stand vor dem Haus, als wisse er nicht, wohin er sich wenden solle. Welch ein Mißverständnis ist dies? fragte er sich verstört. Noch immer vermochte er nichts zu sehen als ein Mißverständnis, wie jemand, der eine Mauer nicht gewahrt, weil er die Hand vor die Augen hält.