Wieder blickte sie nach der Uhr, und es war deutlich, daß sie sich nur noch mit Mühe in der Gewalt hatte. Ihre Hängebacken zitterten, und ihr mehrfaches Doppelkinn bebte. Irrwitzer genoß insgeheim die Situation - obwohl es ihm selbst kaum besser erging. Er war so viele, lange Jahre von der Geldhexe abhängig gewesen, und sie hatte ihn das auch gehörig fühlen lassen, daß es ihm jetzt ausgesprochenes Vergnügen bereitete, sie endlich einmal so richtig fertig zu machen. Er hätte dieses Spiel gerne noch länger ausgedehnt, doch blieben ihm selbst ja nur noch wenige Stunden bis Mitternacht.»Das nächste Jahr«, murmelte er etwas abwesend,»beginnt ja schon bald.«»Eben«, platzte Tyrannja heraus,»und weißt du, was dann geschieht, du Idiot? Der Wunschpunsch verliert beim ersten Ton der Sylvesterglocken seine Umkehrwirkung!«»Du übertreibst wohl wie gewöhnlich, Tyti«, meinte Irrwitzer, nun doch etwas unsicher,»ich kann zwar das Glockenläuten auch nicht leiden, weil es mir immer Sodbrennen verursacht, aber du wirst mir nicht einreden wollen, daß ein einziger Glockenton die ganze infernalische Zauberkraft eines so mächtigen Getränks aufheben kann.«»Nicht die Zauberkraft«, schnaubte sie,»sondern die Umkehrwirkung - und das ist viel schlimmer! Dann wird die Lüge zur Wahrheit, verstehst du! Dann gilt alles wortwörtlich so, wie es gesagt wurde.«»Moment mal«, sagte der Zauberer irritiert,»was heißt das?«»Das heißt, daß wir vor Mitternacht unbedingt den Punsch fertig gebraut haben müssen, und zwar möglichst lange vor Mitternacht. Ich muß ihn nämlich bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken und dazu all meine Wünsche gesagt haben, ehe der erste Ton des Neujahrsgeläuts erklingt. Wenn auch nur der kleinste Rest übriggeblieben ist, dann geht alles schief! Stell dir vor, was dann passiert: Alle meine scheinbar so guten Wünsche, auch die, die ich schon vorher gesagt habe, würden sich nicht mehr ins Gegenteil umkehren, sondern ganz buchstäblich in Erfüllung gehen.«»Entsetzlich!«stöhnte Irrwitzer.

»Gräßlich! Grauenvoll! Schauderhaft!«»Na, siehst du«, bestätigte die Tante,»aber wenn wir uns beeilen, dann geht alles gut.«»Gut?«Irrwitzers Gesicht zuckte konfus.»Was heißt gut?«»Ich meine natürlich schlecht«, beruhigte sie ihn,»gut oo für uns, aber in Wirklichkeit schlecht. So schlecht, wie wir's uns nur wünschen können.«»Wunderbar!«rief Irrwitzer.»Grandios! Fabelhaft! Berauschend!«»Du sagst es, mein Junge«, antwortete Tyrannja und klopfte ihm aufmunternd aufs Knie,»und darum mach schon endlich voran!«Als sie sah, daß der Neffe sie noch immer unschlüssig anstarrte, zog sie von neuem Bündel über Bündel von Geldscheinen aus ihrem Handtaschen-Tresor und häufte sie vor ihm auf.»Vielleicht hilft das deinem lahmen Verstand auf die Beine. Hier hast du zwanzigtausend - fünfzig - achtzig -hunderttausend! Aber das ist nun wirklich mein letztes Wort. Geh endlich und hol mir deinen Teil der Rolle her! Schnell! Lauf doch! Sonst überleg' ich mir's noch anders.«Aber Irrwitzer rührte sich nicht. Er war sich absolut nicht sicher, ob die Tante mit ihrer Drohung nicht ernst machen würde, und ob er mit diesem letzten Bluff vielleicht alles aufs Spiel setzte, aber er mußte es riskieren. Mit steinernem Gesicht sagte er:»Behalte dein Geld, Tante Tyti. Mir liegt nichts daran.«Jetzt drehte die Hexe durch. Keuchend warf sie ihm weitere Geldbündel ins Gesicht und schrie außer sich:»Hier und hier und hier. was soll ich dir denn sonst bieten? Wieviel verlangst du denn noch, du Hyäne? Eine Million? Drei? Fünf? Zehn?.«Sie fuhr mit beiden Händen in den Berg von Papiergeld und warf es wie eine Verrückte in die Luft, so daß es im ganzen Labor herunterschneite. Schließlich sank sie erschöpft auf ihrem Stuhl zusammen und japste:»Was ist nur los mit dir, Beelzebubchen? Früher warst du so schön bestechlich und habgierig und überhaupt ein netter, folgsamer Junge. Was hat dich denn nur so verändert?«»Es hilft nichts, Tyti«, versetzte er,»entweder du gibst mir deinen Teil der Pergamentrolle - oder du gestehst mir endlich offen, warum dir so viel an meinem liegt.«»Wem? Mir?«fragte sie schwach und mit einem letzten Versuch, sich dumm zu stellen.»Wieso denn? Was soll mir schon daran liegen? Es geht doch nur um einen Sylvesterspaß.«»Darüber«, sagte Irrwitzer kalt,»kann ich nicht einmal mehr lachen. Unser Sinn für Humor ist zu verschieden, liebste Tante. Es ist wohl besser, wir vergessen den ganzen Unsinn. Also, Schwamm drüber! Vielleicht hättest du jetzt gern eine gute Tasse Schierlingstee?«Aber anstatt sich für dieses höfliche Angebot zu bedanken, bekam Tyrannja einen Wutanfall. Sie lief unter ihrer ferkelfarbenen Schminke quittegelb an, stieß einen unartikulierten Schrei aus, der wie das Signal einer Heulboje klang, sprang auf und stampfte wie ein jähzorniges Kind mit den Füßen. Nun weiß man ja schon, daß derartige Ausbrüche bei Hexen und Zauberern ganz andere Folgen haben als bei jähzornigen Kindern. Mit Donnerkrachen platzte der im Fußboden auf, aus dem Riß quollen Flammen und Rauch, und ein riesiges, rotglühendes Kamel streckte seinen Kopf hervor, der auf einem schlangenartigen Hals saß, sperrte sein Maul auf und blökte den Geheimen Zauberrat ohrenbetäubend an. Doch der zeigte sich davon nicht im mindesten beeindruckt.»Ich bitte dich, Tantchen«, sagte er müde,»du ruinierst mir nur den Estrich - und das Trommelfell.«Tyrannia winkte dem Kamel zu verschwinden, der Fußboden schloß sich wieder, ohne daß eine Spur zurückblieb, und nun verblüffte die Hexe den Zauberer doch noch durch etwas Unerwartetes: Sie weinte. Das heißt, sie tat jedenfalls so, denn natürlich können auch Hexen keine wirklichen Tränen vergießen. Immerhin zog sie ihr Gesicht zusammen wie eine vertrocknete Zitrone, tupfte sich die Augen mit ihrem Spitzentüchlein und wimmerte:»Ach, Bubi, du böser, böser Junge! Warum mußt du mich immer so ärgern? Du weißt doch, wie temperamentvoll ich bin.«

Irrwitzer betrachtete sie angeekelt.»Peinlich«, sagte er nur,»wirklich äußerst peinlich.«Sie produzierte probeweise noch ein paar Schluchzer, doch dann verzichtete sie auf die weitere Vorführung und erklärte mit gebrochener Stimme:»Na gut, wenn ich dir's sage, dann hast du mich hundertprozentig in der Tasche - und das wirst du natürlich schamlos ausnützen, wie ich dich kenne. Aber was soll's, ich bin so oder so verloren. Heute war bei mir ein höllischer Beamter, ein gewisser Maledictus Made, im Auftrag meines Gönners, des Infernalischen Finanzministers Mammon. Er hat mir angekündigt, daß ich noch diese Nacht bei Jahresende persönlich gepfändet werde. Und das ist allein deine Schuld, Beelzebub Irrwitzer! Als deine Auftraggeberin sitze ich nun in der schwärzesten Tinte. Weil du hinten und vorne nicht fertig geworden bist, bin ich mit meinen Geschäften in Verzug geraten und konnte nicht soviel Unheil stiften, wie ich laut meinem Vertrag sollte. Deswegen halten die Tiefsten Kreise dort unten sich nun an mich. Mich ziehen sie dafür zur Verantwortung! Das habe ich davon, daß ich aus familiärer Anhänglichkeit meinen unfähigen und faulen Neffen finanziert habe! Und wenn du nun auch nur einen Funken Schuldbewußtsein in dir hast, dann gibst du mir jetzt auf der Stelle deinen Teil des Rezeptes, damit ich den Wunschpunsch trinken kann. Das ist meine letzte Rettung. Sonst sollst du verflucht sein mit dem schlimmsten Fluch, den es gibt: Mit dem Erbtanten-Fluch!«Irrwitzer hatte sich in seiner ganzen, knochendürren Länge erhoben. Seine Nasenspitze war während der Rede Tyrannjas nach und nach grünlich geworden.»Halt ein!«rief er und hob abwehrend die Hand.»Halt ein, ehe du etwas tust, was dich gereuen würde! Wenn es so steht, wie du sagst, dann bleibt uns beiden nichts anderes übrig, als gemeinsame Sache zu machen. Wir haben uns nämlich gegenseitig in der Tasche, meine liebe Tante. Auch bei mir war dieser höllische Gerichts- vollzieher, und auch ich werde um Mitternacht persönlich gepfändet, es sei denn, ich hole das Versäumte nach. Wir sitzen im gleichen Boot, meine Beste, und wir werden uns nur gemeinsam retten oder gemeinsam untergehen.«Während seiner Worte war auch Tyrannja aufgestanden. Sie blickte zu ihrem Neffen empor und streckte die Arme aus.»Bubi«, stammelte sie,»laß dich küssen!«»Später, später«, antwortete Irrwitzer ausweichend,»jetzt haben wir Dringenderes zu tun. Wir werden gemeinsam und unverzüglich an die Zubereitung des sagenhaften satanarchäolügenialkohöllischen Wunschpunsches gehen, wir werden ihn dann gemeinsam trinken, abwechselnd ich ein Glas und dann du eines, und dabei werden wir gemeinsam unsere Wünsche sagen, erst ich einen, dann du, dann wieder ich.«»Nein«, unterbrach ihn die Tante,»lieber erst ich, dann du.«»Wir können ja losen«, schlug er vor.»Meinetwegen«, sagte sie. Und jeder von beiden dachte, daß sich später sicherlich noch eine Möglichkeit finden würde, den anderen auszutricksen. Und beide wußten, daß der andere das dachte. Schließlich waren sie ja doch aus der gleichen Familie.»Dann hole ich also jetzt meinen Teil des Rezeptes«, sagte er.»Und ich begleite dich, Bubi«, antwortete sie.»Ver- trauen ist gut, Kontrolle ist besser, meinst du nicht auch?«Irrwitzer eilte davon, und Tyrannja folgte ihm mit überraschender Behendigkeit.

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