KAPITEL 5

Crowborough — Sommer 1924


Pfingsten lernte Norman bei einer Tanzveranstaltung Bessie Coldicott kennen. Es war kurz nach dem Wochenende mit Elsie. Bessie war das genaue Gegenteil von Elsie. Sie war jung. Sie war hübsch. Sie war herzlich und verständnisvoll. Und sie flirtete gern. Das Beste war, dass sie Norman nahm wie er war — als einen jungen Mann, der in schwierigen Zeiten versuchte, sich eine Existenz aufzubauen.

Er fand es wunderbar, dass sie so gar nichts von ihm verlangte. Bessie war nicht ständig von der Angst geplagt, sitzen zu bleiben; mit ihr ließ sich über all die Dinge reden, die nichts mit Hochzeitsglocken zu tun hatten. Plötzlich konnte Norman so sein, wie er gern sein wollte. Ein bisschen Teufelskerl. Ein bisschen Spaßvogel.

Es war wie eine Wiedergeburt. Statt wie bei Elsie immer wieder in dumpfes Schweigen zu verfallen, war er in Bessies Gegenwart vergnügt und komisch. Keine Woche nach dem Tanzabend begannen sie, sich regelmäßig zu sehen.

»Bin ich deine erste Freundin?«, fragte sie ihn eines Tages.

»Nein.«

»Wie waren die anderen?«

»Konnten dir nicht das Wasser reichen. Die Erste sah aus wie ein Pferd.« Er lachte. »Die Zweite wie ein Pferdearsch.«

Bessie tänzelte ihm davon. »Ich glaube dir nicht. Sie waren bestimmt hübsch, und du hast bestimmt mehr als zwei gehabt. Heute können die Männer sich's doch aussuchen.«

»Ich war ein Spätzünder… aber jetzt hole ich auf.« Er lief ihr nach und fasste sie um die Taille. »So zum Beispiel.« Er küsste sie auf die vollen, weichen Lippen.

Ihre Augen blitzten übermütig. »Bild dir bloß nichts ein, Norman Thorne. Ich habe genug andere Verehrer, und ein paar von ihnen mag ich genau so gern wie dich.«

Das wusste er. Alle Männer fanden Bessie attraktiv. Das war Teil ihres Reizes. Die Jagd. Der Kitzel des Wettstreits um sie. Wenn Elsie von anderen Männern auch so angesehen worden wäre, hätte er sie vielleicht mehr geschätzt. Aber nach Elsie hatte sich nie einer umgedreht.


Jedes Mal, wenn ein Brief von Elsie kam, hatte Norman Gewissensbisse, weil er sie zappeln ließ. Aber wie allen Moglern war ihm das eigene Glück am wichtigsten. An den zwei oder drei Wochenenden, an denen Elsie in diesem Sommer herunterkam, schaffte er es, allzu heftige Streitereien zu meiden und sie bei Laune zu halten. Ihre Stimmungen konnten ihm nicht mehr so viel anhaben, seit er wusste, dass er später, wenn sie weg war, mit Bessie zusammen sein und lachen konnte.

Am schwierigsten war es, sich Elsie in der Hütte vom Leib zu halten. Sie bedrängte ihn unablässig, drückte sich an ihn und bat ihn, sie zu entkleiden, wie er das früher immer getan hatte. Sie erklärte, sie habe sich verändert.

»Ich habe jetzt keine Angst mehr vor dem Akt, Schatz«, lockte sie. »Das ist etwas ganz Natürliches, wenn zwei Menschen sich lieben.«

»Und wenn du schwanger wirst?«

»Du kannst einen Gummi nehmen, wenn du willst.«

»Ich habe keine mehr«, log er. »Ich habe sie weggeworfen. Aber es ist sowieso zu gefährlich, Else. Dein Vater macht einen Riesenkrach, wenn du plötzlich mit einem unehelichen Kind dastehst.«

»Das ist mir gleich, Bärchen. Ich möchte dir zeigen, wie viel du mir bedeutest. Und wie soll ich das tun, wenn ich mich dir nicht hingebe?« Tränen traten ihr in die Augen. »Bitte, Norman, tun wir's doch. Du sollst jetzt schon wissen, wie gut ich für dich sein werde.«

Er war schlau genug zu erkennen, dass dies nicht der wahre Grund dafür war, dass sie mit ihm schlafen wollte. In seinen Augen wurde ihre Beziehung zur Schachpartie, bei der jeder sich bemühte, den anderen in die Ecke zu drängen. Norman wollte Elsie zu der Erkenntnis bringen, dass keine Zukunft mit ihm auf sie wartete. Und Elsie wollte Norman mit einer Schwangerschaft an sich binden.


In den dunklen Nachtstunden versuchte Norman oft, sich einzureden, dass er Elsie heiraten sollte. »Besser der Teufel, den du kennst, als der, den du nicht kennst«, sagte er laut vor sich hin.

Er hatte vier Jahre lang sein Leben mit ihr geteilt. Sie wusste mehr über ihn als sonst ein Mensch auf Erden. Es gab sogar Momente, da machte ihm der Gedanke, dass sie nicht mehr da sein würde, Angst. Vielleicht würde er auch Bessies überdrüssig werden.

Manchmal fragte er sich, ob er sich überhaupt etwas aus Frauen machte. Seine Hühner brachten ihm mehr Zuneigung entgegen als die Menschen. Es griff ihm immer noch ans Herz, wenn er ihnen die Hälse umdrehen und ihr schönes Federkleid rupfen musste.

Er liebte es zu sehen, wie sie angerannt kamen, wenn er nach ihnen rief. Mit langen Hälsen und strampelnden Beinen. Die jungen trippelten so schnell, dass sie über seine Füße fielen, wenn er ihnen entgegenging. Manche waren so zutraulich, dass sie sich streicheln ließen, andere flohen ängstlich piepsend.

Er hatte einen jungen Hahn, der ein richtiger Kampfhahn war, ein Welsummer mit blauschwarzem Schwanzgefieder und einem prächtigen roten Kamm. Norman nannte ihn Satan, wegen des Bösen, das in seinen runden Augen lauerte. Wenn ein Junghahn im Nachbarauslauf sich zu nahe heranwagte, sprang Satan gegen den Maschendraht und versuchte, ihn anzugreifen. Er wachte eifersüchtig über seine Hennen. Norman bewunderte das.

Und er bewunderte Satans ausgeprägten Geschlechtstrieb, dem zu verdanken war, dass unter seinen Hennen kaum welche unbefruchtete Eier legten. Das war ganz anders als bei Normans Buff Orpington und Leghorn Hähnen, die, sanfter geartet, eher faul waren.

Das hieß aber nicht, dass Norman den Hahn mochte. Er war vor ihm auf der Hut wie vor einer Schlange, nachdem der Vogel ihn einmal von hinten angegriffen hatte. Satan hatte Norman seine scharfen Sporne in die Wade geschlagen, und die Verletzung tat tagelang weh.

»Ich verstehe nicht, warum du ihn nicht schlachtest«, sagte Elsie.

»Wozu?«

»Damit er's endlich lernt.«

»Was soll er denn noch lernen, wenn er tot ist? Und was würde mir das nützen? Höchstens ein Irrer würde seinen besten Zuchthahn schlachten.«

»Du solltest ihm trotzdem eine Lektion erteilen.«

Norman sah sie ärgerlich an. »Das sind Hühner, Elsie. Ihr Gehirn ist ungefähr so groß.« Er zeigte eine winzige Lücke zwischen Daumen und Zeigefinger an. »Sie lernen, wo sie ihr Futter finden, und sie lernen, ihre Eier in die Nistkästen zu legen. Aber damit hat sich's auch schon.«

»Du brauchst nicht gleich so gereizt zu werden. Ich wollte nur helfen.«

»Na ja — es ist eine dumme Idee. Außerdem war es sowieso meine eigene Schuld. Ich habe ihn geärgert. Er wird immer eifersüchtig, wenn seine Hennen mir aus der Hand fressen.«

»Dann kann sein Gehirn so klein nicht sein«, meinte sie bissig. »Ist Eifersucht nicht eine menschliche Regung?«

Normans Gereiztheit wuchs. »Woher soll ich das wissen?«, fragte er schroff. »Ich hatte nie Anlass zur Eifersucht.«


Er hatte gelogen. Er war eifersüchtig auf jeden Mann, der Bessie Coldicott zum Lächeln bringen konnte. Sie war Schneiderin in Crowborough, und er begann, draußen vor dem Laden herumzulungern, in dem sie arbeitete.

Sie neckte ihn deswegen. »Was hast du denn so oft in meiner Straße zu tun? Der nächste Metzgerladen ist doch zwei Straßen weiter.«

»Es ist eine Abkürzung.«

»Schwindler.« Sie klopfte ihm leicht aufs Handgelenk. »Du bringst mich in Schwierigkeiten, wenn du das zu oft machst. Mrs. Smith ist eine nette Frau, aber sie mag es nicht, wenn Männer durch das Fenster glotzen. Das stört die Kunden.«

»Ich möchte dir nur ab und zu guten Tag sagen.«

Sie lachte. »Aber nicht während meiner Arbeitszeit, Norman. Ich mag meine Arbeit und möchte sie nicht verlieren. Du kannst mich ja mal abends hinten im Hof abholen. Und mich nach Hause begleiten.«


Im Lauf des Sommers verbrachte er immer mehr Zeit mit ihr. Wiederholt bat er sie, ihn auf dem Hof zu besuchen, aber sie lehnte ab. »Du lebst allein, Norman. Die Leute würden tratschen.«

»Wer soll dich schon sehen? Es ist mitten in der Wildnis.«

»Irgendeiner sieht einen immer. Alte Weiber, die nichts anderes zu tun haben, als hinter den Gardinen zu stehen und ihre Nachbarn zu bespitzeln. In einem Nest wie diesem tratschen alle.«

Er fragte sich, ob sie von Elsie wusste. »Und was sagen sie?«

»Dass bei dir ein paar Mal eine Frau zu Besuch war. Stimmt das?«

Er hatte immer gewusst, dass es früher oder später herauskommen würde. Er holte tief Atem. »Ja, aber da war überhaupt nichts dabei, Bessie. Sie hat nie in der Hütte übernachtet. Es war alles völlig harmlos.«

»Was ist das für eine Frau?«

»Ich kenne sie aus London. Ich war einmal in sie verliebt, aber das ist vorbei. Das Dumme ist nur -« Er brach ab. »Sie ist ein bisschen verdreht. Benimmt sich oft wie eine Verrückte — schreit und keift und fängt in der nächsten Minute an zu heulen. Deswegen fliegt sie auch aus jeder Arbeit raus.«

Bessie zog ein Gesicht. »So eine Frau wohnt bei uns in der Straße. Man braucht sie nur anzureden, und sie bricht in Tränen aus. Mein Vater meint, das kommt, weil sie im Krieg zwei Söhne verloren hat, aber meine Mutter hat gesagt, sie ist schon so seltsam auf die Welt gekommen. Sie war vor dem Tod ihrer Söhne auch schon so.«

»Elsie ist immer sonderbar gewesen.«

»So heißt sie?«

Norman nickte. »Elsie Cameron. Hauptsächlich wollten ihre Eltern, dass sie mich besucht. Ich schätze mal, sie haben gehofft, ich werde ihnen Elsie abnehmen und sie heiraten. Sie ist viel älter als ich, und sie haben es satt, sich ständig um sie kümmern zu müssen.«

»Das ist ja schrecklich.«

Ja, dachte Norman. Es war wirklich schrecklich. Wie kamen Mr. und Mrs. Cameron darauf, dass er ihnen das Leben erleichtern sollte, indem er ihre verrückte Tochter heiratete? Schließlich hatte doch nicht er sie zur Welt gebracht. Schließlich hatte nicht er sie so verwöhnt.

Er ergriff Bessies Hand. »Keine Sorge, Bärchen. Das passiert bestimmt nicht. Ich habe große Pläne für die Zukunft — und Elsie passt da nirgends rein.«

»Und ich? Passe ich in deine Pläne?«

»Vielleicht.«

Sie kniff ihn unvermittelt in die Hand. »Dann nenn mich nicht „Bärchen”, Norman. Ich bin kein Kuscheltier, das du streicheln und knutschen kannst, wenn du gerade Lust hast. Ich bin ich — und ich gehöre niemandem.«

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