16 Der Zauber für Sargonnas

Der Legende nach war das Dach der Welt während der Umwälzung zum letzten Mal ausgebrochen. Der vulkanische Todesregen hatte die Stadt Karthay und ihre Bewohner völlig vernichtet. Karthay war seit dieser Zeit unbewohnt gewesen, bis der Nachtmeister und seine Jünger gekommen waren, um ihre geheimen Vorbereitungen zu treffen, damit Sargonnas in die Welt Einzug halten konnte.

Das Dach der Welt stand wie ein riesiger, zerklüfteter Zahn am Rand der Stadt, wo der Berg eine ausgezeichnete Barriere nach Norden und Westen darstellte. Seine Hänge waren von tiefen Schluchten und undurchdringlichen Haufen erstarrter Lava durchzogen. Der Nachtmeister und seine Akolythen hatten Monate damit zugebracht, einen Pfad zum Gipfel zu brechen, einem schwarzen, leblosen Krater.

Aus der Ferne sah es so aus, als wäre die Spitze des Berges abgeschnitten. Unzählige steile Glutkegel übersäten den ungewöhnlich breiten Krater. Überall waren Zeichen vulkanischer Aktivität zu sehen, einschließlich Basaltbrocken, Abdrücken von Baumstämmen und Riesenkreuzkraut, die von inzwischen erstarrter Lava umflossen worden waren. Geysire brodelten. Dampf- und Gasfontänen zischten aus Bodenspalten empor.

Eine ovale Mulde im Krater war größer und lebhafter als die übrigen. Das war das Herz des Vulkans, das von abgekühlter Lava überkrustet war. Sein Zentrum bestand aus einem Felspfropf, der sich tief im Auslaß des Vulkans verhärtet hatte.

Der Nachtmeister glaubte, daß unter der ovalen Vertiefung der eigentliche Vulkankrater lag, dessen Ausbruch dem Einbruch der Spitze ins Zentrum des Berges vorausgegangen war. Und unter dem ursprünglichen Krater wartete wiederum die Feuerfontäne, die die vulkanische Aktivität erneut entfachen konnte. Seit Wochen hatten die Gefolgsleute des Nachtmeisters zusammen mit den Minotaurentruppen daran gearbeitet, die Öffnung freizulegen.

Von seinem Lager an der aschebedeckten Terrasse der einst großartigen Bibliothek der alten Stadt war der Nachtmeister regelmäßig zu einem Bergplateau im Westen von Karthay gewandert, um die Zeichen zu deuten. Der Zauberspruch, der Sargonnas rief, würde hier gewirkt werden, auf dem Gipfel und im Herzen des Vulkans.

Alles war vorbereitet. Die Akolythen und eine ausgewählte Anzahl Minotaurensoldaten lagerten seit Tagen auf dem Gipfel, wo sie das benötigte Labor aufgebaut, die verschiedenen Zutaten – Talismane, Steine und tote Tiere – aufgereiht und die Bücher und Spruchrollen bereitgelegt hatten, die der Nachtmeister brauchen würde, um den Zauber zu sprechen.

Nach langen, arbeitsreichen Stunden war jetzt die Spitze des ursprünglichen Vulkans ausgegraben und der Mund der Feuerfontäne freigelegt. Der Durchmesser der Öffnung betrug rund ein Dutzend Fuß. Tief unten konnte man feurige, orangerote Lava blubbern und brodeln sehen.

Die Soldaten hatten am Rand der Öffnung ein Holzgerüst gebaut. Ein Dutzend Stufen führten zu einer Plattform, von der aus man die Feuerfontäne überblicken konnte.

Die Sterne standen beieinander. Der Tag wich der Nacht.

Alles war bereit, als der Nachtmeister und seine Gruppe den Gipfel erklommen. In seinen zeremoniellen Pelzen und Federn schritt der Nachtmeister mit klingenden Glöckchen stolz auf die ovale Vertiefung zu, die den eigentlichen Krater beherbergte. Er lief zwischen einem Spalier von Akolythen und Soldaten hindurch, die sich aufgestellt hatten, um ihn zu begrüßen.

Dem Nachtmeister folgten zahlreiche bewaffnete Minotauren und die Hohen Drei, die Schamanen. Dahinter kam ein junger, dünner Mensch in dunkler Robe, der stolpernd von dem mürrischen Dogz mitgezerrt wurde, und ein Kender ohne Haarknoten, der begeistert von dem glorreichen Schauspiel des Bösen plapperte, dessen Zeuge er nun werden würde.»Raistlin, verrate mir, wie du herausgefunden hast, daß ich diesen alten, allgemein vergessenen Zauber wirken will. Befriedige meine Neugier. Du weißt, du stirbst ohnehin.«

Der Nachtmeister beugte sich mit triumphierendem Grinsen über Raistlin.

Der junge Magier saß eisern schweigend auf einem Stein in der Nähe des Kraters. Die Arme waren ihm hinter dem Rücken zusammengebunden, und auch die Füße waren mit einem Seil gefesselt. Aber Raistlin weigerte sich, seine Niederlage einzugestehen. Statt dessen lächelte er den Nachtmeister bei seiner Antwort rätselhaft an.

»Das war Zufall. Es war nur eine zerrissene Seite in einem vergilbten Zauberbuch, die mir auffiel. Ich wußte, daß der Spruch etwas mit minotaurischen Ritualen zu tun hatte. Soviel war klar. Und es wurde Sargonnas erwähnt, der Herr der Finsteren Rache. Aber ich hatte keine Chance, die Zutaten zusammenzubekommen, und mehr kümmerte mich nicht.

Dann erwähnte mein Freund, Tolpan Barfuß«, hier nickte Raistlin in Richtung des Kenders, der zwischen den Mitgliedern der Hohen Drei herumsprang, denen er beim Mischen von Tränken und Ingredienzien helfen wollte, aber vor allem im Weg war, »zufällig einen kräuterkundigen Minotaurus auf der Insel Südergod. Ein kräuterkundiger Minotaurus… meine Neugier war geweckt. Ich fragte einen Freund von Tolpan, einen Kender, der mir manchmal Wurzeln, Kräuter und anderes verkaufte, nach bestimmten, speziellen Zutaten, die auf der zerfledderten Seite des vergilbten Zauberbuchs erwähnt wurden.

Eine dieser Zutaten war das Jalopwurzpulver, und der Kender versicherte mir, daß der Minotaurus es vorrätig hätte. Zusammen mit meinem Bruder und einem Freund bot sich Tolpan freiwillig an, nach Südergod zu reisen, um das Jalopwurzpulver zu kaufen.«

Hier legte Raistlin eine Pause ein und blickte sich um. Der fahle Abend war angebrochen und versprach eine kalte Nacht, in der man die Sterne deutlich sehen würde.

Die Akolythen und Truppen hatten sich an den Rand des Gipfels zurückgezogen, wo sie in sicherer Entfernung auf das kommende Schauspiel warteten. Schweigend und ernst hielten sich die wenigen Soldaten vom Nachtmeister, Raistlin und den anderen fern. Sie hielten ihre Waffen hoch, so daß der Stahl und die eingelassenen Edelsteine im Licht der Zwillingsmonde glänzten.

Dogz stand neben dem Nachtmeister, um Raistlin zu bewachen.

»Selbst da habe ich mir noch nicht viel dabei gedacht«, fuhr der junge Magier fort. »Es gehört zu meinem Beruf, mich für exotische Kräuter und seltene Sprüche zu interessieren. Dann verschwanden allerdings mein Bruder, sein Freund und Tolpan. Und vor ihrem Verschwinden schickte mir Tolpan eine magische Flaschenpost, die mir alles über die seltsame Hinrichtung des kräuterkundigen Minotaurus berichtete.

Der Überbringer der Flaschenpost fügte ein paar seltsame Einzelheiten über das vermißte Schiff und seinen verräterischen Kapitän hinzu. Nach Erfüllung seiner Aufgabe schien der Kapitän auf eine Weise umgekommen zu sein, die mir eindeutig magisch erschien.«

Raistlins Augen glitzerten schlau.

»Das meiste habe ich mir danach zusammengereimt. Ich ging wieder an mein zerfallenes Zauberbuch und las und prüfte diesen einen Spruch. Ich besprach meine Schlußfolgerungen mit«, hier zögerte er, »sagen wir, einem erfahrenen Ratgeber. Durch diese Bemühungen dämmerte mir allmählich, daß das Jalopwurzpulver nur ein kleiner Teil eines magischen Vorhabens war, das gewaltiger war als alles, was ich vermutet hatte. Dieser ehrgeizige Spruch mußte Minotauren von höchstem Rang einbeziehen, und der geplante Zauber würde im Erfolgsfall Sargonnas, den Gott der Minotauren, auf die materielle Ebene bringen. Der logische Ort für solch ein Ritual würde hier bei den Ruinen von Karthay sein, am letzten bekannten Ort auf Krynn, wo der Herr der Rache seinen feurigen Zorn gezeigt hat.«

»Du hast meine magische Flaschenpost also erhalten!« zirpte Tolpan. Der Kender war hinter Raistlin aufgetaucht. »Ich bin froh, daß sie nicht verschw—«

Der Nachtmeister schnappte sich Tolpan, dessen Gewohnheit, einfach loszuplappern, ihn allmählich ärgerte. Er klemmte sich den Kender ziemlich grob unter einen Arm und hielt ihm mit seiner riesigen Hand den Mund zu.

Raistlin sah die beiden kühl an.

»Ja«, schnurrte der Nachtmeister, während Tolpan sich größte Mühe gab, aus dem festen Griff des Oberschamanen zu entkommen. »Tolpan hat dir eine magische Flaschenpost geschickt. Ihr zwei seid alte Freunde, nicht wahr? Wie gefällt dir denn der neue, bessere Tolpan – dem einer meiner Jünger einen Trank verabreicht hat? Der macht ihn zu einem bösen Kender. Er war uns bisher«, der Nachtmeister drückte Tolpan fest, »von größtem Nutzen, und ich denke doch, daß er uns auch in Zukunft nützlich sein wird.«

Raistlin sah den zappelnden Kender an. Dann ging sein Blick zum Nachtmeister zurück. »So habt ihr es also geschafft«, sagte Raistlin. »Ein Trank.«

»Zweifelst du daran?« grollte der Nachtmeister. Einen Augenblick nahm der Nachtmeister seine Hand von Tolpans Mund.

»Es stimmt«, sagte Tolpan, der sein Gesicht zu einer möglichst gräßlichen Fratze verzog. »Ich bin jetzt unglaublich böse. Tolle Veränderung, was?«

Der Nachtmeister schlang seinen Arm wieder um den Kender, und Tolpan zappelte weiter.

»Ich hätte erwartet«, sagte Raistlin schlicht, »daß so ein Trank keine Langzeitwirkung hat.«

Der Nachtmeister lächelte. »Du hast ganz recht«, knurrte er. »Dogz!« Dogz kam näher, und der Nachtmeister reichte ihm den Kender. »Gib Tolpan seine doppelte Dosis – jetzt!«

Dogz sah den Nachtmeister an, wandte den Blick jedoch sofort zur Seite. Seine Augen trafen kurz die von Raistlin. Dann nickte Dogz dem Nachtmeister zu.

Dieser richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Raistlin. »Ich danke dir, daß du mich erinnert hast.«

Dogz führte den Kender trotz seiner Proteste in eine abseits gelegene Ecke, wo ein kleiner Tisch aufgebaut war. Raistlin sah, wie Dogz den Kender an den Schultern hinsetzte, etwas in einem Becher umrührte und dem Kender den Inhalt einflößte. Anschließend beobachtete Raistlin, wie Dogz den Kender eine Weile ansah, bis der Kopf des Kenders nach vorn sackte und er friedlich auf seinem Stuhl einschlief.

Um sie herum waren die Vorbereitungen für den Zauberspruch in vollem Gang. Fesz und die anderen beiden Minotaurenschamanen warfen händeweise Zutaten, die sie aus Gläsern und Bechern nahmen, in den geöffneten Krater. Nach jahrhundertelangem Schlaf hatte der Vulkan begonnen, zu zischen und zu fauchen. Ein blaßorangefarbenes Licht drang aus der Öffnung des Feuerlochs.

Dogz trottete zu Raistlin und dem Nachtmeister zurück. »Ich hätte den Kender als Blutopfer in Betracht gezogen«, grollte der Nachtmeister, »wenn Kender nicht eine so unbedeutende Rasse wären. Sargonnas würde einen Menschen weitaus vorziehen, und ein junger Magier wie du wird die Wirkung des Spruches deutlich erhöhen, wie du dir vielleicht vorstellen kannst.« Hier hielt er inne und musterte Raistlin genau.

»Ich weiß so wenig von den Sitten der Menschen. Erkläre mir, warum du weder die weißen, die roten noch die schwarzen Roben trägst.«

»Ich habe die Prüfung noch nicht abgelegt«, sagte Raistlin, »und ich habe noch nicht gewählt, welche Farbe ich eines Tages tragen werde.«

»Wenn du eine schwarze Robe hättest«, überlegte der Nachtmeister, »wären wir auf derselben Seite. Du würdest Sargonnas verehren wie ich.«

»Ich weiß nur sehr wenig über Sargonnas. Das ist einer der Gründe, weshalb ich gekommen bin.«

»Du bist gekommen, um deinen Bruder zu retten«, sagte der Nachtmeister höhnisch.

»Teilweise«, antwortete Raistlin, »und teilweise, weil mich alle magischen Orden interessieren – der schwarze, der weiße und der neutrale.«

»Wirklich?«

Die Hohen Drei hatten ihre Vorarbeiten beendet. Dogz stand mit verschränkten Armen im Schatten. Fesz kam zu ihnen und unterbrach ihr Gespräch.

»Verzeihung, Exzellenz«, sagte Fesz, »aber wir sind soweit.«

Der Oberschamane nickte ihm zu. Fesz drehte sich um.

Der Nachtmeister beugte sich zu Raistlin herunter und blies ihm seinen heißen, stinkenden Atem ins Gesicht. Der Oberschamane untersuchte den jungen Magier aus Solace mit neuem Interesse. Raistlin zuckte nicht mit der Wimper.

»Also deshalb«, knurrte der Nachtmeister, »wolltest du freiwillig den Platz deiner Schwester einnehmen… weil du den Spruch beobachten und Sargonnas persönlich kennenlernen wolltest – was dir sicher gelingt, denn du bist das Opfer, das seinen Eintritt in diese Welt ermöglicht.«

Raistlin wartete lange, bevor er seine Antwort gab. »Teilweise«, sagte er nur.

Der Nachtmeister holte aus und schlug Raistlin ins Gesicht, worauf der von dem Stein rollte, der ihm als Stuhl gedient hatte. Blut rann über Raistlins Gesicht. Um das Maß vollzumachen, trat der Nachtmeister den jungen Magier fest in die Seite, als der schon am Boden lag. Noch immer schrie Raistlin nicht auf.

Dogz wartete mit verschränkten Armen und ungerührtem Gesicht.

»Wachen!« schrie der Nachtmeister. Zwei bewaffnete Minotauren lösten sich von den anderen am Rand des Gebiets und rannten herbei. »Bringt diesen armseligen Menschen zum Krater und haltet ihn fest, bis ich ihn brauche!«

Die Soldaten hoben Raistlin hoch und schleppten ihn so nahe an den Kraterrand, daß die Hitze von unten ihn versengte.

Die Hohen Drei stellten sich auf der anderen Seite des Kraters auf.

Der Nachtmeister legte einen scharlachroten Mantel über und stieg über die Stufen das Gerüst hoch. Oben lag auf einem Pult ein dickes Buch.

Raistlin schüttelte den Kopf, um ihn nach dem Schlag des Nachtmeisters wieder klarzubekommen. Er war nur etwas benommen. Obwohl die Soldaten ihn gut festhielten, konnte der junge Zauberer sich verrenken und Tolpan hinter den Hohen Drei erkennen. Der Kender saß immer noch zusammengesunken auf seinem Stuhl.

Auf dem Gerüst hob der Nachtmeister seinen gehörnten Kopf, holte tief Luft und blickte zum Himmel.

Kälte umklammerte den Gipfel, obwohl kein Wind ging. Die Wolken, die den Himmel während der letzten Nächte verdeckt hatten, waren verschwunden. Die Sterne glänzten wie Leuchtfeuer.

Raistlin fühlte nicht nur die durchdringende Hitze des Vulkans, sondern jetzt hörte er auch deutlich die feurige, orangefarbene Flüssigkeit, die allmählich an die Oberfläche hochbrodelte.

Der Nachtmeister begann, in einem alten minotaurischen Dialekt aus dem Buch vorzulesen. Seine kehlige Stimme wurde immer lauter.

Die Hohen Drei begannen im Hintergrund zu murmeln. Raistlin konnte kaum ein Wort verstehen, nur gelegentlich eine Anrufung von Sargonnas. Während der Nachtmeister den Zauber sagte, bewegte er seine kraftvollen Arme auf seltsam schöne Weise. Mit den Händen malte er komplizierte Zeichen in die Luft. Hinter ihm bauschte sich sein Mantel. Die kleinen Glocken an seinen spitzen, gekrümmten Hörnern klingelten eine Begleitmusik zu jeder seiner Bewegungen. Seine tiefe Bullenstimme, die geheimnisvolle Sätze ausstieß, stand in seltsamem Kontrast zu seinen tänzerischen Bewegungen.

Zack! Aus dem Nichts traf ein Gegenstand eine der Minotaurenwachen so kräftig an den Hals, daß der Stiermensch Raistlin auf der Stelle losließ, sich an die Kehle griff und tot umfiel.

Bevor jemand reagieren konnte, erkannte Raistlin im Augenwinkel noch etwas, das vorbeiflog, diesmal noch größer. Es war Tolpan Barfuß.

Aus dem Schatten sprang Tolpan auf den Rücken des anderen Minotaurus, der Raistlin festhielt. Er tat sein Bestes, ein Wesen zu erdrosseln, das dreimal so groß und sechsmal so schwer wie der Kender war. Allerdings machte er seine Sache recht ordentlich, denn der Kender war so hoch oben gelandet, daß der Minotaurus nicht hoch genug greifen konnte, um Tolpan zu erwischen.

Aber gleich darauf kam Fesz angesprungen und riß Tolpan herunter. Obwohl der gleich wieder aufstand, bewegte er sich unsicher. Fesz konnte ihn leicht am Kragen ergreifen und den zappelnden Kender mehrere Fuß hoch in die Luft heben.

»Du machst mir Schande, Kender!« donnerte Fesz, der Tolpan so heftig schüttelte, daß der Kender Schluckauf bekam. »Du, dem ich geglaubt und vertraut habe – du, den ich böse gemacht habe – du, den ich mit dem großen Privileg beehrt habe, die Ankunft von Sargonnas mitzuerleben – du – du – «

Der Minotaurenschamane schäumte vor Wut und Enttäuschung.

Inzwischen hatte sich der Minotaurensoldat wieder gefangen. Er hatte Raistlin nicht einmal losgelassen.

Dem jungen Zauberer fiel kein Spruch ein, den er ohne Zuhilfenahme seiner Hände hätte sagen können. Immer noch gefesselt, blieb Raistlin nichts weiter übrig, als gebannt zu beobachten, wie sich alles entwickelte.

»Großes Privileg« – hicks – »pfui!« Tolpan spuckte Fesz in sein stinkendes Stiergesicht. »Ihr Hornochsen könnt doch Ehre nicht von« – hicks – »Kuhfladen unterscheiden. Ich habe genug von eurem scheußlichen Atem, euren arroganten Hörnern, die sich jeder blöde Ochse wachsen lassen könnte« – hicks – »euren stinkenden Schränken, euren ungehobelten Manieren« – hicks, hicks…

Tolpan war fast lila vom vielen Schütteln.

Plötzlich brachte donnerndes Gebrüll beide zum Schweigen. Alles blickte zur Spitze des Gerüsts, wo der Nachtmeister stand, der bei dem Handgemenge kurzfristig in Vergessenheit geraten war. Mit seinen geballten Fäusten und den wütend gefletschten, spitzen Zähnen war der Nachtmeister wie der Zorn persönlich.

»Ruhe!« brüllte der Nachtmeister herunter. »Ihr unterbrecht den Zauber!«

»Aber – «, grollte Fesz flehentlich, »aber der Kender – «

»Mach Schluß mit ihm«, befahl der Nachtmeister. »Schmeiß ihn in den Krater!«

»Ja«, sagte Fesz schwach.

»Nein!« brüllte eine andere Stimme.

Raistlin, der zum Nachtmeister hochgeschaut hatte, drehte gerade rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie Fesz sich an die Kehle griff. Dort steckte so tief, daß der Schamane ihn nicht herausziehen konnte, ein Dolch mit einem H-förmigen Griff – der sorgsam polierte Katar von Dogz. Fesz ließ Tolpan fallen, der mit einem Bums aufkam. Dann fiel der Minotaurenschamane um. Er war tot.

Vom Gerüst donnerte der Nachtmeister: »Bringt ihn um!«

Dogz versuchte noch nicht einmal davonzurennen und wehrte sich auch nicht, als ihn einige Soldaten umstellten und drohend Speere und Schwerter erhoben. Um die Wahrheit zu sagen, hätte der Minotaurus nicht sagen können, warum er getan hatte, was er getan hatte – das Undenkbare: Verrat. Nur, daß er den Kender, Tolpan Barfuß, mochte. Besonders jetzt, wo Tolpan anscheinend sein altes Selbst wiedergefunden hatte. Dogz hatte aus einem Instinkt heraus reagiert, von dem er vorher nichts geahnt hatte – dem Instinkt der Freundschaft.

Dogz ging in die Knie.

Der Kender kam von seinen hoch.

Hicks.

Obwohl Raistlin von der verbliebenen Minotaurenwache gut festgehalten wurde, versuchte er, einen Spruch zu finden, den er in dieser verzweifelten Lage zustande bringen könnte. Da brachte ihn Tolpans Schluckauf auf etwas: der Unsichtbarkeitszauber, den Raistlin an diesem Tag bereits benutzt hatte, um durch die Minotaurenwache zu schleichen. Er würde Raistlin jetzt nicht viel helfen, aber wenn er ihn auf jemand anderen sprechen konnte… Er würde nicht lange halten, aber doch so lange, daß Tolpan fliehen konnte. Der junge Magier konzentrierte sich. Hinter seinem Rücken bewegte er die Finger in den Fesseln.

Raistlin murmelte die Worte für den Zauber, setzte Tolpans Namen ein und konzentrierte sich mit aller Macht auf die Stelle, an der Tolpan stand.

Mit einem leisen Plopp verschwand der Kender.

Der Nachtmeister, der einen Blitzschlag auf Tolpan vorbereitete, verfluchte sich selbst. »Trottel! Ich bin ein Trottel!« tobte er. »Daran hätte ich denken müssen.« Der Oberschamane lehnte sich über die Brüstung des Gerüsts und schrie dem Soldaten, der Raistlin hielt, zu: »Steck ihm einen Knebel in den Mund und sorg dafür, daß der Zauberer nicht sprechen kann. Dann bring ihn zu mir hoch.«

Der Wächter warf Raistlin auf den Boden und band ihm grob mit einem schmutzigen Stück Stoff den Mund zu. Dann begann er, Raistlin zur Treppe hinzuschleifen.

Der Nachtmeister beugte sich auf der anderen Seite über die Brüstung und brüllte einigen seiner Jünger, die außerhalb der Soldatenreihe standen, zu: »Der Kender ist unsichtbar! Sucht ihn und tötet ihn!«

Vier Minotauren rannten dorthin los, wo der Kender gerade noch gestanden hatte, und begannen, herumzusuchen. Sie bückten sich und sahen argwöhnisch in die dünne Luft.

Hicks.

Jedesmal, wenn die Soldaten einen Hickser hörten, fuhren sie herum und rannten zu einem anderen Fleck, wo sie nach etwas stachen, das nicht da war, und miteinander zusammenstießen.

Der Nachtmeister beugte sich zu den Hohen Drei hinunter, die nach Fesz’ Tod nur noch die Hohen Zwei waren, und rief: »Weitermachen! Der Spruch ist fast vollendet!«

Die beiden Minotaurenschamanen, die durch den unerwarteten Tod von Fesz, dem Nachfolger des Nachtmeisters, erschreckt worden waren, hatten aufgehört zu singen. Sie wirkten verstört. Aber der mörderische Ausdruck im Gesicht des Nachtmeisters reichte aus, damit sie wieder ihre unterstützende Rolle für den Spruch übernahmen und die notwendigen Sätze anstimmten.

Der Nachtmeister richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Raistlin, der gerade von dem Bewaffneten auf die oberste Stufe gezerrt wurde. Der Oberschamane ergriff den Arm des jungen Magiers und befahl dem Soldaten, sich den Truppen unten anzuschließen. Das tat der Minotaurensoldat mit Freuden.

Raistlin konnte weder Arme noch Beine bewegen. Sein Mund war so fest verschlossen, daß er fast erstickte. Der Nachtmeister brachte ihn an den Rand des Gerüsts und hielt ihn über die Kante.

Von diesem Punkt aus schien das flüssige Feuer in der Vulkangrube überzukochen. Die Hitze versengte dem jungen Magier das Gesicht.

»Merk’s dir gut, Zauberer«, zischte der Nachtmeister, »denn bald wirst du vom Herrn der Vulkane verschlungen.«

Mit einer kräftigen Drehung warf der Nachtmeister Raistlin in eine Ecke des Gerüsts. Der Oberschamane wandte sich wieder dem dicken Zauberbuch zu und machte an der Stelle weiter, wo er aufgehört hatte.

Hicks.

Unten versuchten die Akolythen des Nachtmeisters, dem Hicksen nachzulaufen und den unsichtbaren Kender zu fangen. Wieder und wieder griffen sie ins Leere.

Der Nachtmeister verdrängte die Geräusche. Jetzt, wo er seinem Ziel so nahe war, konnte ihn nichts mehr aufhalten. Erneut begann er, in einem alten Dialekt zu grummeln. Erneut bewegte er die Arme, um den mächtigen Spruch zu sagen.

Raistlin lag zusammengekrümmt in der Ecke der Plattform. Er fühlte sich besiegt. Mit seinen feinen Ohren konnte er das Hicksen unten hören. Der junge Magier wünschte, Tolpan würde Hilfe holen oder flüchten oder wenigstens aufhören zu hicksen.

Der Nachtmeister drehte eine Seite um.

Hicks.

Der Schluckauf kam jetzt seltener – wie Donnern nach dem Durchzug des Sturms. Die Jünger des Nachtmeisters hatten aufgegeben. Sie hatten keine Ahnung, wie sie einen unsichtbaren Kender fangen sollten. Diejenigen, die Tolpan suchen sollten, versammelten sich, weil sie der Anblick fesselte, wie der Nachtmeister auf dem Gerüst seinen großen Zauber wiederaufnahm.

Hicks.

Ein Minotaurensoldat merkte, wie ihm das Schwert aus der Scheide gezogen wurde. Gerade noch rechtzeitig hielt er den Griff fest und eroberte ihn nach einigem Gezerre mit etwas Unsichtbarem zurück. Der Minotaurus schlug nach dem Etwas, traf jedoch daneben. Einer nach dem anderen schlugen die Soldaten um ihn her zu, verfehlten aber ebenfalls. Dann zog ein Soldat sein Schwert, holte wild aus und schnitt dabei dem Minotaurus direkt neben ihm das Ohr ab.

Hicks.

Das Geräusch erklang dort, wo Dogz auf den Knien wartete. Er war von einem Pulk Minotaurensoldaten umgeben. Die Soldaten gingen dem Hickser nach, konnten jedoch nicht genau feststellen, woher er gekommen war. Ein paar von ihnen verließen Dogz, umklammerten ihre Waffen und schnupperten mißtrauisch. Damit verblieben nur drei Wachen bei dem Verräter.

Auf dem Gerüst blätterte der Nachtmeister die Seite um und las mit seiner tiefen Stimme die geheimnisvollen Sätze längst vergangener Zauberei weiter vor.

»Psst, Dogz! Ich bin’s, Tolpan.«

Dogz’ traurige Augen gingen auf, doch er sorgte sich mehr um die Sicherheit des Kenders als um sich selbst. Die drei Wachen standen einige Fuß weiter mit dem Rücken zu ihm, denn sie beobachteten den Nachtmeister. Sie hatten Tolpan nicht gehört.

Mit den Augen gab Dogz zu verstehen, daß er ihn gehört hatte.

»He, ich möchte dir danken, daß du Fesz getötet hast! Das war wirklich eine tolle Sache. Du bist ein wahrer Freund! Natürlich hätte ich das auch schon längst getan, wenn nur – «

Mit den Augen versuchte Dogz, dem Kender mitzuteilen, daß er von hier verschwinden sollte – weit fort von Dogz –, bevor die bewaffneten Wachen sich umdrehten.

»Sag mal, Dogz, du hast nicht zufällig einen kleinen Dolch oder so was-«

»Fesz«, knurrte Dogz so leise wie möglich.

Eine der Wachen hörte ihn. Sie drehte sich um und starrte Dogz argwöhnisch an. Der zuckte mit den Achseln. Die Wache kam herbei und stocherte mit ihrem Speer in der Luft herum, ohne etwas zu treffen.

Hicks.

Die Minotaurenwache rammte Dogz das stumpfe Ende des Speers in den Bauch. Dogz klappte japsend zusammen.

Auf dem Gerüst blätterte der Nachtmeister die letzte Seite um. Er ließ sich einen Augenblick Zeit, atmete tief durch und zog ein paar trockene Blätter und andere Dinge aus kleinen Beuteln an seinem Gürtel. Diese magischen Zutaten warf er in den Vulkan.

Ein Teilchennebel erhob sich aus dem Krater, breitete sich aus und erfüllte mit seinem orangeroten Licht die Luft. Der Nebel war heiß und trocken.

»Die Jalopwurz«, knurrte der Nachtmeister und nickte Raistlin zu, »und der Rest der übrigen Ingredienzien, die man für den Spruch braucht.«

Raistlin, der an einem der Eckpfosten lehnte, starrte teilnahmslos geradeaus. Sobald der Nachtmeister sich wieder seinem Zauberbuch zuwandte, nahm er seine verzweifelten Bemühungen wieder auf, das Seil durchzutrennen, indem er es an der Holzecke des Gerüsts rieb.

Hicks.

Auf dem Boden versuchte etwas Unsichtbares, den Katar aus Fesz’ Hals zu ziehen. Keiner achtete mehr auf den toten Schamanen, so daß Tolpan seinen Fuß auf Fesz’ Kopf stellen und mit beiden Händen ziehen konnte. Keiner bemerkte, wie der Katar aus dem Körper des Minotaurus glitt und unter Tolpans Tunika verschwand.

Zum Glück hatte Tolpan den Schluckauf endlich überwunden.

Zu seinem Pech würde er nicht mehr lange unsichtbar bleiben.

So vorsichtig, wie er konnte, schlich sich der unsichtbare Tolpan leise an der Minotaurenwache vorbei, die unten am Gerüst stand. Auf Händen und Knien kroch er eine Stufe nach der anderen zu Raistlin hoch.

Der Zauberer hörte das seltsame Kratzen und Rascheln auf den Stufen hinter sich und erstarrte. Noch während er das tat, merkte er, wie eine scharfe Klinge die Seile durchzuschneiden begann, die seine Hände banden.

Bei einem Blick über die Schulter sah Raistlin Tolpan auf der vorletzten Stufe. Der Kender wurde allmählich sichtbar. Raistlin schüttelte heftig den Kopf, um den Kender zu warnen, aber Tolpan war so in seine Aufgabe vertieft, daß er Raistlin nicht ansah. Selbst wenn er das getan hätte, hätte der Kender nicht die leiseste Ahnung gehabt, was der Magier ihm sagen wollte.

Der Nachtmeister hörte ein Geräusch zu seinen Füßen.

Als Tolpan aufschaute, sah er, wie der Nachtmeister nach ihm griff.

Pfeilschnell zog Tolpan den Katar zurück und warf sich nach links. Auf dem Boden des Gerüsts kam er hoch und stach nach vorn und nach unten. Der Katar sank in den gespaltenen rechten Huf des Nachtmeisters.

Der Oberschamane der Minotauren heulte vor Schmerz auf, riß den Katar heraus und schleuderte ihn über die Seite des Gerüsts. Schäumend vor Wut riß der Nachtmeister einen Fetzen Tuch von seinem Mantel ab und wickelte ihn um seinen Fuß, aus dem das Blut nur so strömte. Dann warf er den Kopf hoch und suchte mit geblähten Nüstern nach Tolpan.

Tolpan war einer Panik so nahe, wie ein Kender das überhaupt sein kann. Erstarrt vor Schreck versuchte er zu entscheiden, ob er bleiben oder davonrennen sollte. Da sah er, wie die hervorquellenden Augen des Nachtmeisters ihn suchten. »Oh-oh«, murmelte er und entschied sich sofort fürs Rennen.

Aber es war zu spät. Der Nachtmeister hatte die kurze Entfernung zwischen ihnen im Nu überwunden und schnappte sich den Kender mit seiner Riesenhand. Mit ohrenbetäubendem Brüllen holte der Oberschamane aus und schleuderte Tolpan weit hinaus über den Schlund des Vulkans.

Tolpan fiel und fiel dem flüssigen Glutofen entgegen…

…nur um von etwas aufgefangen zu werden, das zu ihm heruntersauste.

Dem Nachtmeister blieb vor Verblüffung der Mund offen stehen, als ein Kyriekrieger den Kender mit seinen Klauen im Flug auffing. Der Kyrie brauste nach oben, an dem Schamanen vorbei und zum Boden, wo er den verblüfften Tolpan Barfuß ein Stückchen weiter absetzte.

Als der Nachtmeister von einer Seite des Gerüsts zur anderen rannte und hinunterblickte, sah er, daß eine kleine Gruppe Kyrie und Menschen seine Minotauren in einen Kampf verstrickt hatte. Zahlreiche Minotauren lagen tot oder verwundet auf dem Boden, während andere sich zurückgezogen hatten, um sich hinter Lavabrocken zu sammeln, von wo aus sie Speere warfen und mit Pfeilen auf die Eindringlinge schossen.

Der Nachtmeister konnte die Menschenfrau, Kitiara, unter den Angreifern erkennen, doch er hielt vergeblich nach seinen zwei Schamanen Ausschau, die ihre Posten verlassen hatten und in dem Getümmel untergegangen waren.

Am Fuß des Gerüsts sah der Nachtmeister einen starken, braunhaarigen Menschen die einzige Wache bedrohen. Mit einem Schwert kämpfte er gegen die Stange des Minotaurus. Obwohl er dem Wächter schwer zusetzte, hielt dieser wacker die Stellung, denn er nutzte seinen größeren Körper aus, um die Schläge abzuwehren und den Menschen nicht auf das Gerüst zu lassen.

Da der Nachtmeister von diesem Anblick zunächst erschüttert war, taumelte er zurück. Alle seine Pläne – verdorben von einem Kender, ein paar Kyrie und einer Handvoll armseliger Menschen! Dieser Gedanke ließ seinen wahnsinnigen Zorn neu auflodern.

Der Oberschamane trat vor und hob beide Arme zum Himmel. Er rief einen magischen Befehl. Sein rechter Arm fuhr hinunter.

Ein Dutzend gleißender Feuerbälle explodierten bei der Gruppe der Menschen und Kyrie.

Zwei Minotaurensoldaten, die gegen die Eindringlinge gekämpft hatten, waren sofort eingeäschert. Einer der Kyrie wand sich auf dem Boden, wie der Nachtmeister zufrieden feststellte. Seine Flügel standen in Flammen. Ein anderer Kyrie beugte sich über seinen Kameraden und versuchte, die Flammen zu ersticken.

Lachend über ihre nutzlosen Versuche bereitete der Nachtmeister seinen nächsten Spruch vor.

Da erinnerte ihn ein Geräusch von hinten an Raistlin Majere.Unten am Boden wich Tolpan hüpfend den Feuerbällen aus, die überall um ihn herumsausten. Er wunderte sich über die Vogelwesen, die auf der Seite von Caramon und, wie er glücklich feststellte, von Tanis und Kitiara zu kämpfen schienen.

»Hei, Kitiara! Wie bist du denn entkommen?« schrie der Kender, als er zur Seite rannte und dann auf Händen und Knien durch den Rauch kroch, weil er anscheinend etwas suchte.

Ihm fiel auf, daß Kitiara ihm nur einen kurzen, finsteren Blick zuwarf, ehe sie einem heranstürmenden Minotaurus ihr Schwert in die Seite stieß. Sie wich in einen verrauchten, dunklen Abschnitt zurück, gefolgt von einigen der Vogelmenschen. Warum hatte Kit immer so schlechte Laune? Er hatte sie doch nett begrüßt?

Der Rauch ließ Tolpans Augen tränen. Er tastete auf dem Boden herum, bis seine Hände endlich das fanden, wonach er gesucht hatte. Bevor er aufstehen konnte, stellte sich ein Fuß fest auf seine Hand.

Tolpan sah hoch und grinste dann erleichtert. »Hallo, Tanis! Mann, tut das gut, dich zu sehen. Und Caramon und Kitiara. Wo ist Flint?«

Der Halbelf starrte ihn forschend an. »Auf wessen Seite stehst du, Tolpan?« fragte er streng.

»Aber, Tanis«, sagte Tolpan zutiefst gekränkt. »Was für eine Frage! Ich bin natürlich auf deiner Seite. Bist du nicht auf meiner? Es stehen nur Raistlin und ich gegen all diese Minotauren, und wir könnten wirklich etwas Hilfe gebrauchen.«

Tanis sah den Kender an. Dann nahm er langsam seinen Fuß hoch. Tolpan griff nach seinem Hupak und kam dann mit Tanis’ Hilfe auf die Beine. Betrübt rieb sich Tolpan die Hand.

»Du hast nicht zufällig ein Schwert übrig, hm?« fragte der Kender bittend.

Tanis schüttelte den Kopf, zog jedoch einen Dolch aus der Scheide und gab ihn Tolpan mit dem Heft voran.

Der Kender nahm ihn eifrig. Das Messer würde reichen. Immerhin hatte er seinen geliebten Hupak wieder.

Der Halbelf lächelte ihm zu. »Klar bin ich auf deiner Seite… wenn du auf meiner bist. Es hat da in letzter Zeit ein paar komische Gerüchte über dich gegeben.«

»Wirklich?« meinte Tolpan mit breitem Grinsen. »Tja, ich habe einiges erlebt. Erst wurden wir von dem Kapitän der Venora verraten – ich mochte ihn sowieso nicht. Ich habe ihn Alte Walroßfratze genannt. Dann kam dieser unglaublich große Sturm, bloß war das gar kein richtiger Sturm, sondern – «

Drei Minotauren mit beschlagenen Keulen und Schwertern brachen durch den Rauch und griffen sie an.

Tanis fuhr wütend herum, bremste ihren Angriff ab und rannte dann nach einer Seite davon. Tolpan lief in die andere Richtung.

Einer der Kyrie war bei dem Feuerballbeschuß gefallen. Ein anderer hatte seinen Kameraden zur Seite gezogen und war von der Gruppe getrennt worden.

Tanis war verschwunden.

Die anderen sammelten sich an einem kleinen Vorsprung. Eine Gruppe Minotaurensoldaten setzte ihnen zu. Kitiara und Yuril schlugen mit dem Rücken zum Fels mit ihren Schwertern nach zwei Stiermenschen. Wolkenstürmer und drei andere Kyriekrieger kämpften in der Nähe und wehrten mehrere Minotauren mit gekrümmten Keulen ab.

Einer der Minotauren kam näher und stach mit dem Schwert nach Yuril. Er traf sie in die Seite. Sofort fuhr Kitiara herum und schlitzte dem Angreifer am Ellbogen den Arm auf. Der Minotaurus wich zurück. Er umklammerte den Arm, um den Blutfluß zu stoppen. Sein Kamerad schubste ihn beiseite und stürzte sich auf Kitiara, solange sie ihre Stellung noch nicht wieder eingenommen hatte.

Wenigstens dachte Kit, er hätte sich gestürzt, aber als sie ungeschickt auswich, fiel der Minotaurus einfach weiter und blieb mit dem Gesicht nach unten tot liegen. In seinem Nacken steckte ein kleines Messer.

Sie erhaschte gerade noch einen Blick auf den Kender, der davonrannte.

Yuril brach zusammen. Kitiara hielt sie an den Schultern fest. »Schaffst du’s?« fragte sie. Yuril nickte schwach und wurde ohnmächtig.Tolpan konnte Dogz einfach nicht finden.

Die Minotauren hatten den Verräter zum Rand des Schauplatzes geschleppt, wo ein Stiermann den Gefangenen abseits vom übrigen Geschehen nervös bewachte. Dogz saß betroffen da und starrte auf seine Füße. Er war in seiner eigenen Welt. Plötzlich hörte er einen lauten Rums. Als er hochsah, ging der Minotaurensoldat in die Knie, griff sich an den Hals und kippte dann vornüber in den Staub.

Tolpan schlenderte heran.

»Liegt alles im Handgelenk«, prahlte er. »Nicht jeder Kender kann einen Hupak so gut werfen wie ich. Ach, ich könnte wirklich behaupten, kaum ein Kender kann einen Hupak so gut werfen wie ich. Gut, vielleicht Onkel Fallenspringer, aber der hat es mir schließlich beigebracht!«

Mitten in dem lärmenden, rauchverhangenen Getümmel um sie herum band Tolpan Dogz rasch los.

Dogz bewegte sich nicht. »Du bist zurückgekommen, Freund Tolpan«, sagte er, doch seiner Stimme fehlte der gewohnte hallende Klang.

»Das war ich dir doch schuldig, oder?«

»Es ist schön, daß du wieder so bist wie früher«, sagte der Minotaurus. »Also hat das Gegengift der Frau gewirkt.«Der Minotaurensoldat erwies sich als zäh, wild und kampferfahren. Caramon kam nicht an ihm vorbei.

Es schien ein Patt zu sein, bis Tanis angelaufen kam und Caramon mit seinem Schwert unterstützte. Der Halbelf schlug zu, während Caramon weiter zustach. Ihre Waffen trafen gegen die Stange des Minotaurus.

Zum ersten Mal sah Caramon einen Anflug von Panik in den Augen des Soldaten. Der Minotaurus stolperte und zog sich ein paar Schritte zurück. Alle seine Bewegungen waren jetzt nur noch Verteidigung, und Tanis und Caramon nutzten ihren Vorteil. Der Minotaurus ermüdete offensichtlich allmählich unter ihrem Angriff und würde nicht mehr lange durchhalten.Auf dem Gerüst stellte sich der Nachtmeister Raistlin Majere.

Nachdem Tolpan das Seil um seine Hände durchtrennt hatte, hatte der junge Magier rasch auch den Strick um seine Füße gelöst. Jetzt stand er blaß und schwitzend mit festem Blick da wie ein Tier, das gleich losspringen würde.

»Die Dinge laufen nicht gerade gut… was?« sagte Raistlin mit leiser, entschlossener Stimme.

Der Nachtmeister war vom alptraumhaften Ablauf der Ereignisse überrollt worden. Aber jetzt weckte der Mensch vor ihm, der irgendwie seine Pläne durchschaut und sich mit anderen verschworen hatte, um sie scheitern zu lassen, erneut seine Entschlossenheit. Der Oberschamane der Minotauren starrte auf den viel kleineren Raistlin herab. Zufrieden stellte er fest, daß der winzige Mensch keine Waffe hatte.

»Der Spruch ist gesagt«, grollte der Oberschamane. »Jetzt fehlt nur noch das Opfer. Und wie ich sehe, bist du immer noch hier, Raistlin Majere aus Solace. Mir scheint, es hat genug Unterbrechungen und Verzug gegeben. Die Stunde deines Todes ist da. Sargonnas wartet!«

Raistlin war weiter vorgerückt, während der Nachtmeister gesprochen hatte. Jetzt sprang er los – von dem Oberschamanen zum Zauberbuch, das auf dem Pult lag. Er riß das Buch hoch und hielt es vor sich.

Der Nachtmeister hielt inne und hinkte überrascht auf Raistlin zu. »Was soll das, Zauberer?« sagte der Minotaurenschamane höhnisch. »Glaubst du, dir bleibt noch Zeit, einen Spruch zu lernen, um mich zu besiegen? Oder willst du mein Zauberbuch bloß als Schild verwenden?«

Raistlin fuhr herum und schleuderte das Zauberbuch über den Schlund des Vulkans.

»Nein!« schrie der Nachtmeister, der vergeblich dem Buch nachsetzte. »Nei-i-i-n!«

Gerade als der Minotaurus Raistlin den Rücken zudrehte, kamen Tanis und Caramon oben auf dem Gerüst an. Sie warfen ihre Waffen auf die große Gestalt. Zwei Schwerter fuhren in den Rücken des Nachtmeisters. Der Oberschamane hing noch einen Augenblick am Rand des Gerüsts, verlor dann den Halt und stürzte kopfüber in den Feuerkrater.

Caramon und Tanis umarmten Raistlin.

Fragend schaute der junge Magier auf den Kampf, der unten weiterging.

»Kit geht es gut«, erklärte Caramon schnell. »Tolpan auch. Wir tun unser Bestes, die Minotauren zu besiegen!«

»Wir haben keine Zeit mehr«, sagte Raistlin angespannt. »Wir müssen uns beeilen.«

Caramon und Tanis sahen, daß aus dem Schlund des Vulkans bereits eine rote Wolke drang. Wie ein feuriger Wirbelwind wuchs sie an. Sie mußten das Gesicht von der sengenden Hitze abwenden.

Ein Geräusch wie das von hunderttausend Pferdehufen begleitete die Wolke. Caramon warf einen kurzen Blick in den orangeroten Feuersee, dessen riesige Wellen hochschwappten, bevor Raistlin ihn fortriß. Caramon und Tanis wurden von dem jungen Magier die Stufen des Gerüsts hinuntergedrängt.»Kitiaras Gegengift?« fragte der Kender begriffsstutzig.

»Ich habe es dir statt deiner üblichen Doppelportion verabreicht«, sagte Dogz ernst.

»Ja, genau, darüber hatte ich noch mit dir reden wollen. Der Trank hat noch nie besonders gut geschmeckt, aber beim letzten Mal war es noch schlimmer…«

Plötzlich hielt der Kender inne. Er hörte ein seltsames Geräusch, das ganz anders klang als die Kampfgeräusche, die er bisher gehört hatte. Tolpan schaute zum Gerüst hoch. Es stand leer. Ein Feuersturm brauste aus dem Maul des Vulkans empor und loderte über den Platz.

»Oh-oh«, schluckte Tolpan. »Darüber reden wir später. Jetzt verschwinden wir lieber.« Er zupfte an Dogz, der noch nicht aufgestanden war.

»Ich komme nicht mit«, sagte Dogz.

»Was machst du?«

»Ich komme nicht mit«, wiederholte Dogz. Jetzt stand er auf, bückte sich und legte dem Kender die Hände auf die Schultern. Dogz sah seinem Freund in die Augen. »Ich habe meiner Rasse Schande gemacht«, sagte der Minotaurus. »Ich habe Befehle mißachtet. Ich bin entehrt.«

»Wie?« stotterte Tolpan, der sich wild umsah. Minotauren rannten schreiend an ihnen vorbei und warfen ihre Waffen weg. In dem Durcheinander von Feuer und Rauch konnte er keinen seiner Freunde entdecken. »Was soll das heißen? Du hast mir das Leben gerettet! Für mich bist du ein Held!«

Dogz drückte Tolpans Schultern. Seine Augen waren feucht. »Geh, Freund Tolpan«, sagte Dogz traurig. »Rette dich. Ich bin es nicht wert, gerettet zu werden. Ich bin entehrt.« Er setzte sich wieder hin.

Tolpan wollte wütend etwas erwidern, als eines dieser riesigen, gefiederten Wesen herunterstieß und ihn in die Luft hob. Das Wesen schloß sich einigen anderen fliegenden Vogelmenschen an. Jeder schien einen Menschen mitzuschleppen.

Die Kyrie wendeten scharf und stiegen dann auf. Sie hatten sich gerade über den Rauch und das Feuer erhoben, als sie eine furchtbare Explosion hörten. Als Tolpan und die anderen sich umschauten, konnten sie eine kolossale, rote Flammensäule aus dem Mund des Vulkans hochschießen sehen. Die Säule stand in der Luft und formte sich zu einer Gestalt, die einem Riesenkondor sehr ähnlich sah. Minutenlang ließ der Kondor tödliches Feuer auf jeden herunterregnen, der noch auf der Spitze des Vulkans ausharrte. Nach einiger Zeit löste sich der Kondor auf, die Säule zog sich zurück, und der Vulkan beruhigte sich.

Sargonnas war gekommen und wieder gegangen.

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