3 Onkel Nelltis

Seit sechs Tagen hatten die Männer, die Nelltis angeheuert hatte, versucht, die Spur der scheuen Leucrotta aufzunehmen, die angeblich den Bewohnern des Waldes östlich von Lemisch an den Ausläufern einer kleinen, schroffen Bergkette auflauerte.

Von allen ungewöhnlichen Wesen auf Ansalon war die Leucrotta eines der seltensten, so selten, daß Nelltis bezweifelte, daß wirklich eine so nahe an seinem Herrschaftsbereich lebte. Er beauftragte einen treuen Gefolgsmann, einen breitschultrigen, verdienten Mann namens Ladin Elferturm – sein bester Jäger –, das Dutzend erfahrener Männer anzuführen, die das Tier ausfindig machen sollten.

In Gesellschaft von Frauen, bei Festen und kleinen Versammlungen wirkte Elferturm wie ein Bauer, dem seine schwere Zunge irgendwo in seinem eckigen Kiefer hängenblieb. Aber im Wald oder in den Bergen war er in seinem Element. Da erhaschten seine Sinne den leisesten Laut, den feinsten Geruch. Keiner konnte besser mit dem Langbogen umgehen – außer Nelltis natürlich.

Selbst wenn man annahm, daß die Gerüchte stimmten und sich eine Leucrotta in der Gegend aufhielt, würde die Jagd schwierig werden. Die Spuren einer Leucrotta unterschieden sich praktisch in nichts von denen eines Hirsches, und in diesen Wäldern gab es reichlich ausgewachsenes Wild. Nach dem zweiten Tag glaubte Ladin Elferturm den Berichten der Bauern, denn er hatte zahlreiche Körper von Hirschen und Rehen gefunden, die von scharfen, spitzen Zähnen zerrissen und halb aufgefressen zurückgelassen worden waren. Am vierten Tag war er davon überzeugt, daß er die Spuren der Leucrotta von denen der anderen wilden Tiere in dieser Gegend unterscheiden konnte, und daß er und seine Männer dem großen, gefährlichen Tier auf den Fersen waren.

Am Morgen des sechsten Tages hockte sich Ladin Elferturm hin und tastete die Spur mit den Fingerspitzen ab, um zu sehen, wie feucht sie war. Seine Mandelaugen, die von kurzem, schwarzem Haar und einem gepflegten Bart umrahmt waren, hoben sich zu der steilen, gewundenen Schlucht vor ihm. Er wußte, daß die Schlucht, eine enge Klamm mit steilen Wänden, durch die nur zu bestimmten Jahreszeiten Wasser strömte, nur noch eine weitere Öffnung hatte, die weniger als eine Meile nördlich lag.

Mit einem Zeichen teilte Ladin Elferturm seine Männer in zwei Gruppen und schickte die eine Gruppe zum anderen Ende der Schlucht hinunter. Sie sollten einen Waldhang hinabreiten, um den Ausgang zu bewachen. Dann gab er einem seiner Männer eine Botschaft, die er zu Nelltis bringen sollte. Anschließend schlugen Elferturm und seine Männer erstmal ihr Lager auf. Mit nicht geringem Stolz wartete der Jäger auf seinen Herrn.

Nelltis traf knapp vier Stunden später im Lager ein. Begleitet wurde er, wie Ladin Elferturm es gewußt hatte, von seiner Nichte, Kitiara Uth Matar, und einigen treuen Vasallen. Alle trugen ein Lederwams und dazu einiges an Ausrüstung zum Jagen und Fallenstellen. Mit ihrem kurzen, rabenschwarzen Haar und dem selbstverständlichen, stolzen Gang unterschied sich Kit nicht im geringsten von den Männern, die herbeieilten, um sich mit Elferturm zu beratschlagen.

Da Nelltis die letzten paar Tage ungeduldig gewartet hatte, war er auf der Stelle losgeritten, nachdem er die Nachricht erhalten hatte, daß die Leucrotta in der Falle saß. Jetzt brüllte er schroffe Befehle. Die Männer begaben sich eilig an ihre Positionen, um nahe und entferntere Posten an verschiedenen Stellen über der Schlucht einzunehmen.

Elferturm hat seine Aufgabe erfüllt, und zwar gut. Der Jäger warf einen Blick auf Kitiara mit ihrem geröteten, aufgeregten Gesicht. Ihre dunklen Augen verfolgten ihren Onkel, der herumlief und die Männer darauf vorbereitete, die Leucrotta zur Strecke zu bringen. Elferturm wurde von Kitiara nicht einmal mit einem Nicken bedacht.

Innerhalb von Minuten war die Jagdgesellschaft bereit, und man saß wieder auf. Nelltis hatte neben seiner Nichte zwei Männer ausgewählt, die ihn hinein begleiten sollten. Vorsichtig begannen die vier, in die Schlucht hinabzureiten.

Elferturms Aufgabe war, von oben aus Wache zu halten. Es überraschte ihn nicht, zurückgelassen zu werden, aber er ärgerte sich trotzdem. Elferturm fand, er wäre ein besserer Schütze als sein Herr, obwohl alle wußten, daß es nicht so war, und er hatte entgegen aller Hoffnung auf eine Gelegenheit gehofft, Kitiara seine Kunst beweisen zu können, indem er die Leucrotta erlegte.Nelltis und Kitiara lenkten ihre Pferde in die enge Schlucht hinunter, gefolgt von den beiden anderen, deren hauptsächliche Aufgabe darin bestand, Waffen und Ausrüstung zu tragen. Unter Kits Augen saß ihr Onkel ab und prüfte eine noch frische Spur im Sand neben dem flachen Wasserlauf. Mit wilder Befriedigung grinste er zu ihr hoch. Nelltis gab Kit und den anderen das Zeichen, ihre Pferde anzubinden und so leise wie möglich zu Fuß weiterzugehen.

Nelltis von Lemisch trug nur seinen geliebten, reich verzierten Langbogen aus Hanf und Eibenholz, dessen Länge der Größe von Nelltis entsprach. Über eine Schulter hatte er einen Köcher Pfeile geworfen, deren Birkenschäfte mit Gänsefedern und vergifteten Eisenspitzen versehen waren. Kitiara trug den Langbogen, mit dem sie geübt hatte. Er war kürzer, damit sie ihn besser handhaben konnte, und hatte einen schweren Ledergriff.

Leichtfüßig stiegen sie über die Steine und folgten der Schlucht, während sie sich nach Kräften bemühten, im Verborgenen zu bleiben, indem sie hinter Gebüsch und Granitbrocken ständig Deckung suchten. Nelltis und Kitiara trennten sich, so daß jeder auf einer Seite der Schlucht lief und von jeweils einem Gefolgsmann begleitet wurde.

Nelltis hielt sich etwas vor den anderen. Als sie die Schlucht herunterkamen, konnten sie weit oben die anderen Männer ausmachen, die in regelmäßigen Abständen aufgestellt waren. Kit wußte, daß ihr Onkel diesen Moment genoß. In seinem Schloß war ein großer Saal für Tiertrophäen reserviert. Nelltis war stolz auf seinen Schwur, eines Tages von jedem Tier auf ganz Ansalon einen schönen, ausgestopften Kopf zu besitzen. Bei dieser Jagd war er eifrig bei der Sache, denn es waren Monate vergangen, seit Nelltis das letzte Mal etwas zu seiner bereits ansehnlichen Sammlung hinzugefügt hatte.

Jetzt sah Kitiara zu, wie ihr Onkel sich gegenüber an die Wand drückte und Augen und Ohren aufsperrte, um jeden Hinweis auf das Tier wahrzunehmen, das in der Schlucht gefangensaß. Die Erlegung einer Leucrotta würde ihren Onkel, wie Kitiara wußte, für viele Monate zufriedenstellen.

In mancher Hinsicht war Nelltis ein komischer Kauz. Obwohl er unbestreitbar klein und klobig war und einen unpassenden, gezwirbelten Schnurrbart hatte, war er dennoch ziemlich eitel, was sein Aussehen anbelangte. Wie eine verwöhnte Prinzessin konnte er Stunden damit zubringen, Farbe und Schnitt seiner Kleider auszuwählen. Er hatte eine Schneiderin auf der Lohnliste, die ausschließlich dazu da war, ihn mit der neusten Mode zu versorgen.

Kit wußte, daß man Nelltis hinter seinem Rücken wegen seiner Wutanfälle, seiner Gefräßigkeit und seiner Gewohnheit, zuviel zu trinken, früh einzuschlafen und meistens bis in den frühen Nachmittag im Bett zu bleiben, verspottete. Nelltis war reich genug, sich alles zu leisten, was er wollte, nicht nur die beste Verpflegung und einen unüberschaubaren Hofstaat, sondern auch ein behagliches, genießerisches Leben.

Kit hatte zwar wenig übrig für Müßiggang, doch sie respektierte die Macht ihres Onkels und seiner Fähigkeit, selbst der kleinsten Laune nachzugeben. Zudem war Nelltis ihr Verwandter, auch wenn es keine Blutsbande zwischen ihnen gab. Nelltis war der Mann von Gregor Uth Matars Schwester. Kitiara hatte ihre Tante nie kennengelernt, die bei der Geburt zusammen mit dem Baby gestorben war. Aber sie wußte, daß Nelltis treu den Kontakt zu Gregor aufrechterhalten hatte, solange dieser in Solace gewesen war, und sie vermutete, daß ihr Onkel einer der wenigen aus der Familie gewesen war, den Gregor um ein »zeitweises Darlehen« hatte angehen können, um seine Frau und die kleine Tochter zu unterstützen.

Nach Gregors Verschwinden war Nelltis über die Jahre mit Kitiara in Kontakt geblieben. Und jetzt, nachdem Solace sie langweilte und Tanis sie enttäuscht hatte, war Kitiara gekommen, um vorläufig bei ihm zu bleiben.

Während Onkel Nelltis vorsichtig weiterschlich und sich dabei flach an die Wand der Schlucht drückte, bestaunte Kit die Kunst als Fährtenleser und Jäger, die er trotz seiner schwelgerischen Lebensweise an den Tag legte.

Ein Knacken ließ die beiden aufmerken. Nelltis winkte Kit mit einem Arm. Wie er legte sie einen Pfeil auf. Zu beiden Seiten der Schlucht schlichen sie langsam durch eine Zickzackbiegung, die in einen breiteren Teil der Schlucht führte, der auf Kits Seite mit einem großen Nadelbusch begann.

Fast gleichzeitig sahen beide den tiefen Einschnitt im ockerfarbenen Fels. Eine Höhle. Aus der flachen Tiefe glitzerten sie zwei rote Raubtieraugen an. Nelltis, der auf derselben Seite war wie die Öffnung, erstarrte. Kitiara hockte sich tiefgebückt hin.

Regelrecht ehrfürchtig sahen die beiden zu, wie ein Riesentier ins Tageslicht heraustrat, das sie wohl einschüchtern wollte. Über zwei Meter hoch und fast drei Meter lang stand die Leucrotta da. Ihr Körper ähnelte dem eines großen Hirsches, der Kopf dem eines übergroßen Dachses. Der Kopf war pechschwarz, während der Rest des Körpers dunkelbraun war. Ihre Hufe waren paarig. Der Schwanz sah aus wie der eines Löwen.

Ihr Maul stand offen. Speichel tropfte von den knochigen spitzen Zahnreihen. Selbst von ferne konnte Kitiara den fauligen Atem riechen. Der Atem einer Leucrotta stank ebenso scheußlich, wie sie aussah, vielleicht einer der Gründe, warum sie als Einzelgängerin und am liebsten an einsamen Orten lebte.

Als die Leucrotta dastand und ihre Gegner beobachtete, winkte Nelltis den beiden Männern hinter ihm zu, bis zu Kitiara vorzukommen. Einer der Männer blieb neben Kit stehen. Er hielt Schwerter und verschiedene Jagdwaffen bereit. Der andere bekam die gefährliche Aufgabe, auf dem Bauch vorwärts zu kriechen und dabei ein langes, dickes Netz mitzuziehen, das man dem Wesen über den Kopf werfen konnte, um es einzufangen.

Die Leucrotta schien ihren vier Gegnern aufmerksam zuzuschauen, machte jedoch überraschenderweise keine Anstalten anzugreifen. Bei ihrer überwältigenden Größe hätte sie wahrscheinlich in jede beliebige Richtung durchbrechen und entkommen können. Statt dessen aber stand sie einfach da und wartete, bis die menschlichen Jäger den ersten Zug machten.

Mit schneller, fließender Bewegung stand Nelltis auf, zielte und schoß auf die Leucrotta. Ach Kit stand auf und zielte, während der Mann mit dem Netz losrannte, um es über das gefährliche Tier zu werfen.

Alle waren eine halbe Sekunde langsamer als die Leucrotta, die bereits ihre erste Beute ausgewählt hatte. Erschreckend schnell sprang das Untier los und erwischte den Mann mit dem Netz, als er es warf und sich wieder zurückziehen wollte. Mit dem Netz halb über seinem Kopf stand die gewaltige Leucrotta über dem Mann, öffnete ihre großen, kräftigen Kiefer, biß das Netz durch und riß dem Mann mit einem brutalen Schnappen den Kopf ab. Blut sprudelte aus dem Körper des Mannes, und Nelltis und Kit bekamen noch einen Spritzer ab, als die Leucrotta ihr Opfer heftig schüttelte und den Körper wie eine Stoffpuppe gegen die Wand der Schlucht schleuderte.

Nelltis’ Pfeil stak in der Flanke des Tiers, wo er winzig und sinnlos aussah. Kitiaras Schuß war vorbeigegangen. Beide hatten ihren zweiten Pfeil aufgelegt, doch die Leucrotta duckte sich bereits hinter den Nadelstrauch, wo sie teilweise vor Angriffen geschützt war.

Nelltis und Kit zögerten. Wachsam beobachteten sie das riesige Tier, dessen Augen sie von oben bis unten anfunkelten.

Plötzlich öffnete das Tier sein Maul und stieß einen lauten, hohen, keckernden Schrei aus, der jedes andere Geräusch übertönte und Kit beinahe die Ohren zum Klingeln brachte. Mit schnellen Kieferbewegungen ließ die Leucrotta den schrillen Ton lange weitergellen, ohne sich aus ihrem Versteck zu rühren.

»Was macht sie denn?« zischte Kit Nelltis über die Schlucht hinweg zu.

»Sie lacht uns aus«, entgegnete Nelltis mit gedämpfter Stimme. »Brüstet sich mit ihren Opfern.« Nelltis hatte sich geduckt und zeigte keine Spur von Angst.

»Verstehst du ihre Sprache?« fragte Kit überrascht. Ein fröhlicher Funken tanzte in Nelltis’ runden Augen.

»Nein«, gab er grinsend zu. »Nur geraten.«

Die Leucrotta mahlte wieder mit den Kiefern und stieß eine neuerliche, lange Serie hoher, unverständlicher Töne aus. Hoch oben konnte Kit sehen, wie Nelltis’ Bogenschützen von dem Geräusch angezogen wurden und sich am Rand der Schlucht aufstellten. Obwohl sie bereits zielten, wußten sie genau, daß sie nur im äußersten Notfall schießen durften.

Das hier war Nelltis’ Sache.

»Ich glaube, sie hat gesagt: ›Ich fresse erst den Dicken, dann das leckere Weibchen‹«, zischte Kit Nelltis zu, wobei sie ihr Gesicht zu einem schiefen Lächeln verzog. Nelltis grinste zurück.

Plötzlich drang vom oberen Rand der Schlucht eine Folge von Schreien zu ihnen herunter, die wie ein Echo des Meckerns der Leucrotta klang.

Mit großen Augen suchte Kitiara den Rand ab, denn sie war sicher, daß ein Partner des Tiers aufgekreuzt war. Auch Nelltis wurde abgelenkt und fuhr auf. Die Leucrotta selbst unterbrach ihr Geheul und witterte, um den Geruch des Eindringlings aufzunehmen.

Schließlich blieb Kitiaras Blick an Ladin Elferturm hängen, der vor Stolz über seine Imitation strahlte und Kit und ihrem Onkel zuwinkte, die Jagd zu beenden, solange ihr Opfer abgelenkt war.

Unglücklicherweise hatte das Tier sich bereits wieder den Jägern zugewandt. Und bevor Kit oder ihr Onkel wieder ganz bei der Sache waren, sprang die Leucrotta aus ihrem Versteck.

Nelltis wußte, daß er zu spät dran war, als er herumfuhr, um einen Pfeil in die riesige, schattenhafte Form hinaufzuschießen, die sich auf ihn stürzte. Er zielte nach oben, rollte – erstaunlich behende für einen so beleibten Mann – nach vorn und fühlte, wie die Klaue der Leucrotta ihn erwischte und ihn hart auf den Rücken warf. Nach kurzer Benommenheit kam Nelltis mühsam auf die Knie, lehnte sich an die Wand der Schlucht und legte einen weiteren Pfeil auf.

Als er auf die Beine kam, sah er die Leucrotta einige Fuß entfernt zuckend auf der Seite liegen. Aus ihrem wild herumschlagenden Kopf strömten Schleim und stinkendes Blut. Ein Pfeil – sein Pfeil – steckte im Bauch des Tieres, während ein zweiter – Kits – aus dem Hals der Leucrotta ragte. Kit ließ sich, den Rücken an der Felswand, in die Hocke gleiten. Sie war offenbar mitgenommen, aber unverletzt. Müde nickte sie ihm beruhigend zu.

Nelltis ging zu dem Tier hinüber. Sein Rücken glühte vor Schmerz, doch jetzt kam auch die Begeisterung über die erfolgreiche Jagd. Einen Augenblick stand er herrisch über seiner gefallenen Beute, um dem Tier dann einen Pfeil ins Gehirn zu schießen. Auf der Stelle stieß die Leucrotta ihren letzten Atem aus und lag still.

Kit kam herüber, um das Monster anzustarren, das im Tod noch ebenso mächtig und häßlich aussah wie zu Lebzeiten. Der überlebende Gefolgsmann hastete an ihre Seite. Er riß seine spitze Kappe hoch, woraufhin die Obenstehenden in stürmischen Beifall ausbrachen.

»Ich glaube, ich sollte dir danken, weil du mir das Leben gerettet hast«, sagte Nelltis fast versonnen.

»Bist du enttäuscht, Onkel?« fragte Kitiara. »Ich glaube nicht, daß mein Pfeil ihn getötet hat. Ich glaube, es waren beide zusammen – deiner und meiner.«

Er sah seine junge Nichte mit ihren dunklen Augen und dem ernsten Gesichtsausdruck an und wußte, daß sie so etwas nicht sagen würde, wenn sie es nicht meinen würde. »Ja, beide«, sagte er mit offenkundiger Zufriedenheit.

Elferturm kam in die Schlucht heruntergeklettert. Er war der erste von den anderen Jägern, der zu ihnen stieß. Wichtigtuerisch warf er sich in die Brust. »Eine gute Jagd«, stellte er fest.

Nelltis’ Selbstzufriedenheit verschwand. Grollend wandte er sich seinem Fährtensucher zu. »Was nicht dir zu verdanken ist. Wenn du das nächste Mal ein bißchen nützliche Strategie einbringen willst, dann sorg dafür, daß ich vorher davon weiß, sonst ist das die letzte Jagd deines Lebens in Lemisch.«

Elferturm lief knallrot an, als Kit und ihr Onkel ihm den Rücken zukehrten und davonmarschierten.

Stunden später, nachdem sie das schwere Tier aus der Schlucht geschleift und auf einer Trage hinter den Pferden festgezurrt und den unglückseligen Mann begraben hatten, der heute sein Leben gelassen hatte, ritten Nelltis, Kit und die Jagdgesellschaft im Triumphzug in den Burghof ein.

Alle Bediensteten und Arbeiter von Nelltis fanden sich ein, um ihrem Herrn zu gratulieren, der für den Abend ein Festmahl anordnete. Vierschrötig wie er war, stand er strahlend vor Stolz da und tat alle besorgten Fragen nach seiner Verletzung am Rücken achselzuckend ab. Allen, die zuhörten, erzählte er, daß seine Nichte gleichermaßen am Erfolg der Jagd beteiligt war.

Aus etwas Abstand beobachtete Kit ihn halb liebevoll, halb belustigt. Sie wollte gerade auf ihr Zimmer gehen, als sie sah, daß Nelltis eine schattenhafte Gestalt hinter dem Vorhang oben am Fenster bemerkte, die ihm ein Zeichen gab. Kit konnte nicht erkennen, wer es war, doch Nelltis gab rasch einige Anweisungen zum Ausstopfen der Trophäe und entschuldigte sich dann bei Kit und den anderen. Eilig schritt er durch den nahen Kücheneingang der Burg und verschwand hinter der Eichentür.

Es war nicht das erste Mal, daß Kit an ihrem Onkel ein solches Verhalten bemerkte. Nelltis schien dieser Tage zahlreichen geheimnisvollen Vorhaben nachzugehen. Kitiara versuchte, sich vorzustellen, was er tat, wenn er – manchmal tagelang – verschwand. Sie hatte versucht, ihm Informationen dazu zu entlocken, jedoch erfolglos. Das war etwas, was ihr an ihrem Onkel gefiel, dieser ständige Hauch von Verschwörung. Und wenn er ein Geheimniskrämer sein sollte, war das seine Sache, auch wenn Kit dachte, daß sie irgendwann ernsthaft versuchen mochte, bei ihm einzusteigen.

»Es war dein Pfeil, der es geschafft hat, Kitiara Uth Matar«, sagte Ladin Elferturm, der hinter ihr auftauchte und linkisch ihren Arm berührte. In Kits Augen suchte der Jäger nach Ermutigung.

»Es waren beide Pfeile«, sagte Kit ärgerlich, wobei sie seinen Arm abschüttelte. »Und selbst wenn Nelltis nicht mein Onkel wäre, würde ich schwören, daß es wenig loyal ist, wenn du hinter seinem Rücken so etwas erzählst, obwohl du weißt, daß die Trophäe ihm so wichtig ist.« Sie wollte gehen.

Elferturm ergriff sie fest am Handgelenk, um sie zurückzuhalten. »Was ist in dich gefahren, Kitiara«, versuchte er zu flüstern, doch er wußte, daß seine Stimme tölpelhaft laut klang und keines seiner Worte diese hochmütige Frau erreichen konnte. »Ich dachte… ich dachte, da wäre, äh«, seine Zunge verknotete sich fast, »wäre etwas zwischen uns.«

Kitiara wollte gerade eine vernichtende Abfuhr erteilen, als jemand Elferturm von hinten packte und herumwirbelte. Es war Kurt, der Burgschmied, der den Jäger finster anstarrte. Der große, muskelbepackte Schmied hielt nervös die Fäuste an den Seiten geballt, während er sprach. Da er direkt von der Esse kam, trug er noch seine Schürze.

»Ich habe dich gewarnt. Du sollst Kitiara in Ruhe lassen, Ladin«, sagte Kurt nachdrücklich. »Sie gehört mir und hat für solche Kerle wie dich überhaupt nichts übrig.«

»Ich habe deine Einmischerei satt«, sagte Elferturm, der sich Kurt gegenüber aufplusterte. Sie wechselten mörderische Blicke.

Elferturm hatte Kitiara losgelassen. Sie wich langsam zurück. Die Männer hatten sie praktisch vergessen, als sie einander schubsten und beschimpften.

Sollen sie es austragen, dachte sie. Sie war beide leid. Dumm wie Stroh riefen sie ihren Namen und erklärten ihre Liebe. Kitiara machte sich davon und verschwand gerade hinter der Küchentür, als Kurt zuschlug, sein Ziel aber verfehlte, worauf Elferturm mit einem wilden Schwinger gegen die breite Brust des Schmieds reagierte.Tief im Inneren von Nelltis’ Burg, in einem kleinen Kellerraum, wo die kostbarsten Weine aufbewahrt wurden, war ein weiterer Raum abgeteilt, der jedoch für das Gesinde tabu war. Dort saß Nelltis von Lemisch an einem Holztisch, der von einer Kerze mit blauer Flamme erleuchtet wurde. Der Raum war feucht, und die Kerze spuckte, als würde sie nach Luft schnappen. Über die Flaschenregale krabbelten Spinnen.

Nelltis war in Gesellschaft von drei Gefährten – oder vielleicht doch eher drei zwielichtigen Gestalten. Ob sie Menschen waren, blieb fraglich, denn sie waren ganz von Kleidern verhüllt und hielten sich selbst bei der geringen Beleuchtung durch die Kerze im Schatten.

Einer, der groß und schlank war, trug einen Schal, der über seine Stirn und um sein Gesicht geschlungen war, so daß man kaum mehr als seine Augen erkennen konnte – grüne Schlitze. Er war es auch – dem sonoren Klang seiner Stimme nach mußte es ein Mann sein –, der bei dem Gespräch mit Nelltis den Wortführer machte und offenbar über den anderen beiden stand.

Einer von ihnen, eine krumme, fast bucklige Gestalt, stand neben dem mit dem Schal, sagte aber nichts weiter als gelegentlich ein scharfes Wort in einem nördlichen Dialekt, von dem Nelltis nichts verstand.

Der dritte war der seltsamste. Er hielt sich in einer Ecke des kleinen Raums, einer dunklen Ecke voller Spinnweben. Nelltis wußte, daß er nicht dort hinstarren sollte, deshalb warf er nur gelegentlich unaufdringliche Blicke auf dieses letzte Mitglied des Trios. Alle trugen lange, dunkle Roben, eine Haube und eine Maske.

Die Rückseite seiner Robe flatterte, wenn er sich bewegte oder nur rührte, wodurch man auf eine Art Schwanz schließen konnte. Wenn die Robe so verrutschte, daß man etwas von seinem Köper zu sehen bekam, schien das Licht von ihm zu reflektieren, als würden getupfte Schuppen das Kerzenlicht zurückwerfen. Trotz der Dunkelheit leuchteten die Augen dieses Besuchers blutrot. Das Gesicht konnte Nelltis nicht erkennen, aber unwillkürlich zuckte er jedesmal zusammen, wenn er das vielsagende Zischeln hörte, dem Schwefelgeruch und gelegentlich auch der ätzende Speichel des bösen Wesens folgten. Nelltis ließ sich Zeit mit dem Durchlesen der Botschaften und Berichte, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Sorgfältig las er jede Anweisung zweimal, um den Inhalt ganz sicher zu verstehen. Die anderen mußten sich wegen seiner umständlichen Vorsicht gedulden, obwohl sich die Gestalt in der Ecke nach einer knappen halben Stunde des Wartens regte und drohend grollte. Weitere Spucke übersäte den Flur und ließ Säuredämpfe in die muffige Kellerluft aufsteigen.

Schließlich schien Nelltis zufrieden zu sein und setzte seine Unterschrift seinerseits schwungvoll unter jedes der Dokumente. Als er fertig war, nahm er sie hoch, rollte sie zusammen und reichte sie der großen Gestalt mit dem Schal.

»Unsere Herrin wird erfreut sein«, sagte der mit dem Schal ungerührt, »und du wirst belohnt werden.«

»Meine Belohnung«, sagte Nelltis generös, »ist der Dienst.« Die drei, selbst der finstere in der Ecke, verbeugten sich respektvoll. Nelltis ging zu einem der Weinregale und zog an zwei Flaschen, die ziemlich hoch lagen. Das Regal rutschte geräuschlos nach vorn. Dahinter ging die Wand auf und enthüllte einen engen Gang, der unter dem Burghof hindurchführte und einige Meilen weiter an einer einsamen Stelle im Wald ans Tageslicht kam. Die drei duckten sich unter dem Türbogen hindurch und stiegen die dunkle Treppe hinunter. Der aus der Ecke verließ den Raum als letzter. Nelltis konnte beim Anblick der Fangzähne und des knochigen Schwanzes einen Schauer nicht unterdrücken.

Dann waren sie verschwunden. Minuten später hatte Nelltis das Weinlager abgeschlossen und rieb sich gutgelaunt die Hände, während er die vielen Steinstufen zu seinen Räumen hinaufstapfte.Kitiara lag auf dem Rücken auf dem riesigen Bett in dem feudalen Zimmer, daß Nelltis ihr in der Spitze des Nordturms überlassen hatte. Müßig betrachtete sie das feine Gittermuster an der Decke.

In den bald drei Monaten, die Kitiara bei Onkel Nelltis verbracht hatte, war sie ganz untypisch passiv gewesen, auch wenn sie ein Duell ausgetragen und drei oder vier Liebhaber gehabt hatte. Sie hatte sich auch Zeit genommen, ihre Fähigkeiten beim Bogenschießen und mit der Peitsche zu vervollkommnen. Aber Kit hatte sich nicht aus Nelltis’ Herrschaftsbereich herausbewegt und keinen Söldnerauftrag angenommen.

Sie war unzufrieden. In Augenblicken wie diesem fragte sie sich unwillkürlich, was Tanis wohl tat. Dieser verdammte, selbstgerechte Halbelf! Und doch gelang es ihm oft, sich in ihre Gedanken zu schleichen.

Kit wunderte sich über Onkel Nelltis, und diese Gedanken waren etwas näherliegend. Obwohl Nelltis von Gregor seit Jahren weder gehört noch ihn gesehen hatte, profitierte er weiterhin von jener Verbindung, wie Kit glaubte. Die beiden Männer hatten sich nicht besonders gut gekannt, aber Nelltis deutete gern an, daß sie in wenigstens eine ungesetzliche Eskapade gemeinsam verwickelt gewesen waren. Einst hatten die beiden Familien Tür an Tür gelebt. Vor Jahrzehnten hatte der ungestüme, freiheitsdurstige Onkel Nelltis alle Verbindungen zur Familie abgebrochen und am Rand von Lemisch sein eigenes Reich gegründet.

Nelltis hatte etwas an sich, das fesselnd, aber nicht greifbar war. Er war prächtig eingerichtet und hatte viele Diener, doch er arbeitete wenig, und seine Felder erbrachten nur eine bescheidene Ernte an Korn und Saatgut. Kit konnte sich nicht erklären, wie er sein luxuriöses Leben finanzierte.

Sie wußte, daß Nelltis in letzter Zeit viel gereist war. Er hatte zahlreiche kleine Ausflüge in die Dörfer und Städte der Gegend gemacht. Wenn er zurückkam, brachte er, wie Kit auffiel, immer einen oder zwei stämmige Bauern mit, wodurch das schon große Gesinde weiter anwuchs. Inzwischen bestand es aus Dutzenden von Bediensteten – Kitiara hatte die Übersicht verloren –, und eigentlich gab es für sie gar nicht so viel Arbeit zu erledigen.

Manchmal verschwand Nelltis in seinem eigenen Schloß praktisch von der Bildfläche. Das Schloß war ein verwinkelter, alter Bau, an den viele Nebengebäude, einschließlich Stall und Scheune, angebaut waren. Dennoch gab es Zeiten, zu denen Kitiara das Gebäude eine Stunde lang vergeblich nach Nelltis absuchte, um dann plötzlich um eine Ecke zu biegen und vor ihm zu stehen, als ob er spöttisch grinsend dort gewartet hätte. Kit wußte, daß sie nicht weiter nachforschen durfte. Sie nutzte die Zeit, wartete und wartete. Nelltis war immer gut zu ihr gewesen. Er hatte sie stets großzügig aufgenommen, wenn sie ohne Vorwarnung zu einem Besuch hereingeschneit war. Für Kit war seine Burg ein bequemer Zufluchtsort, wann immer sie einen brauchte.

Ein Klopfen an der Tür riß Kitiara aus ihren Gedanken. Sie fuhr hoch und machte widerwillig auf. Halb erwartete sie, von einem ihrer rivalisierenden Verehrer belästigt zu werden, dem Sieger der Rauferei, mit dreckigem Gesicht und heroisch zerrissenen Kleidern.

Statt dessen stand ein Kender da, der von einem nervösen Diener von Nelltis, nämlich Odilon mit den buschigen Augenbrauen, überwacht wurde. Der Haarknoten des Kenders saß an der Seite des Kopfes, und sein Zopf baumelte bis zu den Knien herunter. Er hatte blonde Haare und war kleiner und älter als Tolpan Barfuß. Sie kannte ihn nicht.

Strahlend hielt ihr der Kender ein kleines, zusammengerolltes Pergament hin, das mit Wachs versiegelt war. Das Siegel war unversehrt, was Kitiara überraschte, da Kender doch chronisch neugierig waren. Er mußte also einer jener Kenderboten sein, deren Zuverlässigkeit ebenso unvorhersehbar war wie ihre Neugier berühmt.

Kit griff nach dem Brief, doch der Kender setzte rasch eine ernste Miene auf und zog die Hand zurück, so daß sie ins Leere griff.

»Kitiara Uth Matar?« fragte der Kender wichtigtuerisch. »Denn wenn du Kitiara Uth Matar aus Solace bist, aber neuerdings aus Nirgendwo – augenblicklich in Lemisch –, dann habe ich eine Botschaft von äußerster Dringlichkeit.«

Kitiara nickte ungeduldig. Sie streckte die Hand aus.

Der Kender strahlte wieder über das ganze Gesicht und hielt ihr die Rolle hin. Diesmal war Kit schneller und hatte die Nachricht fest an sich gerissen, bevor der Kender sie wieder wegziehen konnte. Unerschrocken wollte der lächelnde Kender sich in den Raum schieben, doch Kitiara trat vor, stellte sich in die Tür und versperrte ihm den Weg.

»Aufgabe erfüllt«, zirpte der Kender freundlich. »Mein Name ist Espentau, und ich bin ein paar hundert Meilen gereist, nur um diese eine Nachricht zu überbringen, obwohl ich natürlich noch eine Menge anderer Dinge in diesem Teil der Welt zu erledigen habe. Ich habe eine Schwester, die gerademal eine Tagesreise weiter östlich wohnt. Jedenfalls sehe ich sie als Schwester an, ich liebe sie wie eine Schwester, aber eigentlich ist sie meine Kusine. Und dann gibt es hier diese berühmte Spukhöhle, die ich schon immer mal besuchen wollte, die steht auf einer meiner Karten. Ist ein höchst geheimer Ort, von dem ich noch niemanden etwas erzählt habe, aber ich glaube, dir könnte ich etwas verraten, besonders wenn du mich diesen Brief lesen läßt, auf den ich ein wenig neugierig bin, nachdem ich ihn so weit getragen habe…«

Espentau trippelte hin und her, um vielleicht doch noch an Kitiara vorbeihuschen zu können. Odilon, der Diener, trat vor, packte den Kender am Kragen und zerrte ihn mit sich fort. Als Espentau – fest in Odilons Griff – die Wendeltreppe hinunter verschwand, hielt er einen Edelstein an einer Kette hoch und rief:

»Oh, keine Sorge. Du brauchst gar nichts zu bezahlen! Der junge Magier – jedenfalls hat er gesagt, er wäre ein Magier, aber er war ganz schön jung dafür – hat mir genug Geld gegeben und obendrein noch diese ungewöhnliche, hinreißende Kette. Ich hoffe, sie ist magisch, aber bei Magiern kann man nie wissen. Ich habe mal einen Zauberer kennengelernt, der hatte diese äußerst seltsame Art von Humor, und… Huch, ich muß gehen! Ich bleib’ ein Weilchen in der Küche und esse etwas, nur falls du eine Botschaft hast, die zurück nach Solace soll. Obwohl ich sowieso nicht gleich wieder zurückreise – ehrlich gesagt, frühestens nächstes Jahr, aber…«

Kitiara machte die Tür zu. Sie mußte sich das Lachen verkneifen wegen der Kette, bei der es sich um ein einfaches, billiges Schmuckstück ihrer Mutter handelte, das Raistlin als Andenken unter seinen Sachen verwahrt hatte. Raistlin hatte eine eigentümliche Vorliebe für Kender, und er war einer der wenigen Leute, die sie kannte, die einem Kender eine Nachricht, und zudem noch eine wichtige, anvertrauen würden. In diesem Fall zumindest hatte sich sein Vertrauen ausgezahlt.

Kit setzte sich auf den Rand ihres Bettes, machte den Brief auf und begann zu lesen. Ihr mildes Lächeln wich schnell einem verärgerten Ausdruck. Kit las die kurze Mitteilung noch einmal. Dann saß sie lange Zeit nachdenklich da, kam jedoch zu keinem klaren Entschluß, was sie tun sollte.Silbriges Mondlicht strömte in den Raum, als Kit endlich aufstand. Sie hatte beschlossen, Onkel Nelltis aufzusuchen und um Rat zu bitten.

Diesmal fand sie ihn auf Anhieb in seinen Räumen, wo er an seinem Schreibtisch saß, auf dem sich Briefe und Berichte stapelten. Eine Öllampe warf einen goldenen Lichtschein. Obwohl es schon spät war, schien Nelltis hart an einer jener Sachen zu arbeiten, mit denen er sich die Zeit vertrieb. Doch er sah auf, als hätte er sie erwartet, und legte die Feder beiseite. Der kinderlose Nelltis betrachtete Kit gern wie seine Tochter und versäumte es nie, sie warm zu begrüßen.

Kitiara erzählte ihm, daß sie über den Kender Espentau einen Brief von Raistlin erhalten hatte. Nelltis hatte bereits von Espentau gehört, der sich selbst eingeladen hatte, zum Abendessen zu bleiben. Als guter Kaufmann hatte Espentau den Koch überredet, Briefe an seine Verwandten in verschiedenen Gegenden von Südergod zu schreiben. Trotz der vorgerückten Stunde saß der Koch immer noch unten in der Küche, wo er sorgfältig seine Briefe abfaßte. Dazu brauchte er Zeit und eine ganze Menge Unterstützung seitens Espentau, denn der Koch war nie zur Schule gegangen und konnte kaum lesen und schreiben.

»Ich vermute, unser Kendergast wird auch morgen zum Frühstück noch hier herumspringen«, grinste Nelltis.

Er bat, Raistlins Brief sehen zu dürfen. Kit reichte ihn hinüber und wartete, bis Nelltis stirnrunzelnd alles gelesen hatte.

Nelltis hatte Raistlin nie kennengelernt, obwohl Raistlin ihn ernsthaft interessierte. Jedesmal, wenn Kit zu Besuch kam, fragte er nach ihren Halbbrüdern, Raistlin und Caramon. Auch die anderen Gefährten, die in dem Brief erwähnt wurden, kannte Nelltis nicht, obwohl er von ihnen – besonders vom Halbelfen Tanis – immer wieder das eine oder andere gehört hatte. Im Schein der Öllampe verriet sein Gesichtsausdruck, daß er diesen Brief ebenso besorgniserregend fand wie seine Nichte.

»Kann das wahr sein?« fragte Nelltis schließlich, als er den Brief sinken ließ. »Ist es möglich, daß dein Bruder sich irrt?«

»Schon möglich«, sagte Kit finster, »aber er hat die ärgerliche Angewohnheit, immer recht zu behalten. Und was er sagt, paßt zusammen. Meinst du nicht?«

Nelltis nickte.

»Was kann ich tun? Ich hatte mir gerade überlegt, daß ich mal wieder meiner eigenen Arbeit nachgehen sollte. Jetzt muß ich mich wohl erstmal hierum kümmern«, sagte Kit. Sie tat, als wäre ihr das lästig, doch sie konnte nicht verbergen, wie besorgt sie war. Wenn man das halbe Leben für die kleinen Brüder gesorgt hatte, konnte man das nicht mit einem Schulterzucken abstreifen.

»Caramon würde für mich sein Leben geben, das weiß ich. Ich muß etwas tun, aber wie soll ich zu ihnen kommen? Wenn Raistlin recht hat, ist die Antwort Tausende von Meilen entfernt zu finden; das wäre eine langwierige Reise zu Pferd oder eine nicht viel schnellere, aber zehnmal gefährlichere Reise zu Wasser. Selbst wenn ich sie einhole, bis ich endlich dort bin…«

Wütend über ihre Hilflosigkeit lief sie vor Nelltis auf und ab. Dieser trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Die Lippen hatte er zu einer dünnen Linie aufeinandergepreßt. Langsam breitete sich ein erfreuter Ausdruck auf seinem Gesicht aus.

»Wenn es nur einen Weg gäbe«, wiederholte Kitiara, die sich mit der Faust in die Handfläche schlug.

»Vielleicht gibt es einen«, sagte Nelltis so verschlagen, daß Kit stehenblieb und ihn anstarrte. Er kniff die Augen zusammen. Die Finger hatten aufgehört zu trommeln, und seine Hände lagen aneinander.

Sie beugte sich über den Tisch vor. »Wie? Was meinst du, Onkel?«

»Vielleicht gibt es einen Weg«, wiederholte Nelltis, »aber das wird nicht einfach sein.«

»Geld? Ich habe etwas, aber ich kann auch mehr besorgen. Ich verbürge mich dafür.«

Nelltis winkte ab. Geld war nicht das Problem. »Ich habe reichlich Geld.«

»Zeit? Ist nicht mehr genug Zeit?«

Wieder winkte Nelltis abwehrend ab. Er schaute an ihr vorbei zur Decke hoch, um zu zeigen, wie sehr er nachdachte.

»Was dann?« drängte Kitiara.

»Schwierig«, sagte Nelltis und schürzte die Lippen. »Aber vielleicht klappt es. Für die Reise selbst brauchst du kein Geld, nur Mut und etwas Glück.«

Obwohl Kit keine Ahnung hatte, was Nelltis vorhatte, konnte sie aus seinem Verhalten schließen, daß er es ernst meinte. Und in Familienangelegenheiten vertraute sie Onkel Nelltis so sehr, wie Kitiara Uth Matar überhaupt jemandem vertrauen konnte. Die Reise erschien unmöglich, denn Kitiara konnte sich nicht vorstellen, wie eine solche Entfernung innerhalb kürzester Zeit zurückgelegt werden konnte. Aber sie stellte fest, daß sie ihm glaubte, als er sagte, es könnte klappen.

Sie warf ihm ein warmes, wissendes Lächeln zu. »Den Mut habe ich«, sagte sie, »wenn du für das Glück sorgen kannst.« Ernsthafter fügte sie hinzu: »Ich tue alles, was nötig ist, und zahle es dir mit allem zurück, was ich kann.«

»Na, na, Kitiara«, wehrte Nelltis ab. Während er sie fest anblickte, senkte er die Stimme. »Ich erwarte nichts als Dankbarkeit. Oh, ehe ich’s vergesse«, fügte er beiläufig hinzu und griff nach einer winzigen Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit auf seinem Tisch, die er ihr entgegenstreckte, »das ist ein Andenken an die Leucrottajagd. Ich habe es von dem Mann, der den Kopf präpariert hatte, beiseite legen lassen – extra für dich.«

»Was ist das?« fragte Kitiara, die mißtrauisch die dickliche Flüssigkeit ansah, welche der kleine, unauffällige Glasbehälter beinhaltete.

»Eine Flasche Leucrottaspeichel«, erläuterte Nelltis. »Angeblich ein wirksames Gegengift gegen Liebestränke. Nach dieser komischen Geschichte im Hof dachte ich, du könntest es vielleicht besser gebrauchen als ich.«

Skeptisch wanderte Kits Blick von Nelltis zu dem Fläschchen und wieder zurück. Sein Ausdruck war undurchschaubar. »Nimm schon«, sagte er drängend. »Vielleicht kannst du es eines Tages gebrauchen.«

Kitiara schenkte ihm ein weiteres schiefes Grinsen, als sie das Fläschchen einsteckte.

»Jetzt müssen wir uns beeilen«, fügte Nelltis hinzu, der wieder die Feder nahm und etwas auf einen Zettel kritzelte. »Wir haben zu tun. Du mußt Freunde von mir kennenlernen. Du mußt deine Sachen packen. Du mußt dich beeilen, wenn du zu Sonnenaufgang aufbrechen willst.«

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