4 Über das Blutmeer

Als erster erwachte Caramon, dem vor Schmerzen der Kopf brummte. Er hatte das undeutliche Gefühl, etwas geträumt zu haben – daß er ganz oben in einem steinernen Turm starkem Wind und peitschendem Regen ausgesetzt gewesen war. Nur war es kein Turm, es war der größte Baum eines Waldes, der sich bog und schwankte, während Caramon sich gefährlich weit oben in den Zweigen festklammerte. Ein Blitz traf den Baum, so daß der in der Mitte gespalten wurde, und Caramon fiel hinab. Aber er konnte sich retten. Er mußte nur den Anker eines silbernen Schiffes erwischen, das vorbeiflog, einen Anker, der dicht vor seinen Fingerspitzen baumelte…

»Uah«, stöhnte er. Dieser Seefahrermet war schlimmer als Zwergenschnaps. Caramon wollte sich die Nasenwurzel massieren, doch etwas hielt seine Hand zurück. Als er unter Schmerzen die Augen aufschlug, stellte er fest, daß er aus irgendeinem unerfindlichen Grund zusammen mit Sturm und Tolpan an einen Pfosten gefesselt war. Seine Freunde waren bewußtlos. Caramon schloß wieder die Augen und entspannte sich. Es war nur ein böser Traum. Alles wäre vorüber, wenn der Metrausch abklingen würde.

Das Toben des Sturms ließ nach und wurde vom Schreien der Möwen, vom Seufzen des Windes und dem sanften Wiegen und Schaukeln eines Schiffes abgelöst. Dann, nach einer Weile, wurden allmählich andere Geräusche hörbar… dumpfes Grunzen, Schaben und Ruderquietschen.

Caramons schwere Augenlider öffneten sich wieder, und er versuchte, die Situation einzuschätzen. Wo war er überhaupt? Was war geschehen? Warum waren er und seine Freunde an den Schiffsmast gefesselt?

Sturm lehnte hinter ihm an seinem Rücken, mit zurückgeworfenem Kopf und offenem Mund. Dahinter konnte Caramon, wenn er sich die Schulter verrenkte, Tolpan erkennen, auf dessen Stirn eine häßliche blaurote Beule prangte. Caramon versetzte Sturm einen Rippenstoß, der junge Mann reagierte jedoch nicht. Dafür konnte er Tolpan hören, als der Kender sich stöhnend zu rühren begann.

Alle drei waren an den Hauptmast der Venora gebunden. Soweit Caramon sehen konnte, war niemand anders an Bord des Schiffs, das sanft mit der Strömung zu treiben schien.

Caramon durchforstete seine Erinnerung, um herauszufinden, wie er hierher gekommen war. Das einzige, was ihm noch einfiel, war, wie er an Deck gesessen, Seemannsgarn gesponnen und mit ein paar Matrosen Met getrunken hatte. Sie waren auf dem Rückweg aus Osthafen gewesen. Es war eine wunderbar klare Nacht gewesen, eine von jenen, in denen alles so gut und richtig erscheint.

Obwohl er sich bemühte, konnte er nicht sehen, wo genau die Sonne stand, doch Caramon spürte, daß hellichter Tag sein mußte. Es war heiß und feucht. Irgendwo da oben, hinter den schmutzig grauen Wolken mußte die Sonne sein. Wolken… nein, mehr ein Nebel, der seinen Mantel über alles breitete, so daß Caramon auf dem Schiff nicht sehr weit sehen konnte.

Mit einem Mal brachen die Geräusche, die er gehört hatte, ab und wurden durch andere, nähere, gezieltere Laute ersetzt. Schritte. Waffengeklirr. Stimmen.

»Was ist los?« fragte Tolpan benommen. »Was ist denn passiert?«

»Pst!«

Der Nebel riß etwas auf. Caramon sah Hände, die die Reling der Venora ergriffen, und Gestalten, die seitlich aufs Schiff kletterten. Zu zweit und zu dritt begannen sie, vorzudringen. Sie kamen näher und näher, und Caramon wußte, er würde bald ihre Gesichter erkennen können.

Über die Schulter zischte Caramon eindringlich: »Sturm, wach auf!« Er fühlte, wie der Solamnier den Kopf bewegte und sich regte.

Schließlich erkannte Caramon, daß es sich bei den Gestalten um einen wild zusammengewürfelten Haufen handelte, einschließlich diverser menschlicher Raufbolde, ein paar Ogern, einer Phalanx Minotauren und einer geheimnisvollen, gebückten Gestalt, die sich in einen Mantel hüllte und fast außer Sichtweite am Heck stand. Caramon konnte keinen näheren Blick auf diese zurückhaltende Gestalt werfen, die den anderen hin und wieder Befehle zuzischte und irgendwie den Eindruck eines schlüpfrigen, schlangenhaften Wesens machte.

Caramon wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Ogern zu. Er war sicher, daß es Oger waren, obwohl sie merkwürdig aussahen. Sie waren kleiner und dicker und hatten strähnige, flachsfarbene Haare, fettig graue Haut und Hände und Füße mit Schwimmhäuten. Caramon war schockiert, Oger neben Minotauren laufen zu sehen, denn in alten Zeiten waren die Minotauren Sklaven der Oger gewesen, und die beiden grausamen Rassen waren eigentlich bis aufs Blut verfeindet.

Die Menschen trugen geflickte, wenn auch farbenprächtige Lumpen. Sie waren hager und von der Sonne verbrannt, aber offensichtlich kräftig. An ihren Gürteln baumelten Entermesser und verschiedene Seefahrerutensilien. Die Oger und Minotauren trugen ähnlich verräterische Werkzeuge und Waffen.

Caramon gab Sturm einen weiteren Stoß mit der Schulter. Diesmal merkte er, daß Sturms Kopf langsam hochkam. Er fühlte, wie Tolpan mit seinen Fesseln kämpfte, doch der Krieger wußte bereits, daß die Anstrengungen des Kenders vergeblich sein würden.

Die Minotauren drängten sich unter Einsatz der Ellenbogen an die Spitze der Enterer. Obwohl es nur vier oder fünf von ihnen waren, beherrschten die bullenhaften Wesen mit ihren edelsteinbesetzten Nasenringen die Gruppe. Über ihrem kurzen, rostroten Fell trugen sie Harnisch und Lendenschurz an ihren massigen Körpern. Die Hörner bogen sich oberhalb ihrer dicken Brauen scharf nach oben. Ihre gespaltenen Hufe klapperten laut über das Deck.

Zwei der Minotauren traten auf die drei Gefangenen zu, blieben aber ein paar Fuß entfernt stehen. Sie besprachen sich – für Minotauren – fast flüsternd, doch Caramon konnte die tiefen, rauhen Stimmen deutlich verstehen.

»Die drei hier?« knurrte einer. Er trug mehrere Äxte und ein bösartig wirkendes Messer, das in einem Lederriemen steckte.

»Dummkopf! Natürlich die hier. Glaubst du, der Nachtmeister würde einen solchen Fehler machen?«

Der üble Gestank der Enterer wirkte auf Caramon wie Riechsalz und klärte seine Sinne von der bisherigen Benommenheit.

Der zweite muß der Anführer sein, dachte Caramon. Um den dicken muskulösen Hals des Minotauren lag ein glänzendes, enges Halsband aus polierten Steinen. Um den Bauch hatte er einen Lendenschurz aus Metallgeflecht gelegt. Er hatte nur einen beschlagenen Flegel dabei.

»Sie sehen armselig aus. Was könnten die schon für eine Bedrohung darstellen?«

»Ich führe nur aus, was der Meister mir aufgetragen hat, Dogz. Ich lese nicht seine Gedanken.«

»Welcher ist es?«

»Das müssen wir jetzt herausfinden.«

Die anderen bildeten jetzt einen Kreis um sie herum. Die massigen, sieben Fuß großen Minotauren versperrten Caramon das Blickfeld. Der mit der Kapuze hielt sich im Hintergrund und war vom Nebel so eingehüllt, daß Caramon nur vage seinen Umriß erkennen konnte. Nur gelegentliches Zischen und fauchende Laute erinnerten ihn daran, daß dort hinten jemand oder etwas war.

Als er sich bemühte, sich aufzusetzen, sah Caramon durch den Dunst ein weiteres Schiff, das weiter hinten trieb. Er konnte nur das Topsegel erkennen, das oben aus den Nebelschwaden ragte. Seiner Schätzung nach war das Schiff etwa dreihundert Schritt entfernt.

»Caramon! Was ist denn hier los?« Das war Sturms Stimme.

Von seinem Blickwinkel aus konnte der Solamnier nicht viel sehen, und aus dem Klang seiner Stimme war zu erkennen, daß er noch nicht ganz bei sich war.

»Minotauren und Menschengesindel«, flüsterte Tolpan, obwohl der noch weniger sehen konnte als Sturm.

»Piraten«, murmelte Caramon.

»Ruhe!« bellte der Anführer. Der Minotaurus ließ seinen Flegel zucken. Er traf Caramon im Gesicht, wo er einen tiefen, erdbeerroten Schnitt auf seiner Wange hinterließ. »Wir sind keine Piraten, du Esel!«

Damit zogen sich die beiden Minotauren in den Nebel zurück, wo die vermummte Gestalt stand. Aus dem gedämpften Knurren, das durch die Luft drang, konnte man schließen, daß die Minotauren sich mit dem eigenartigen Wesen berieten. Die anderen kamen näher an den Mast heran. Der Kreis um die drei Gefangenen schloß sich. Die Augen dieser Leute hatten einen blutrünstigen Ausdruck, der Caramon entschieden beunruhigte.

»Wo sind wir?« fragte Sturm mit leiser Stimme, die jetzt klarer klang.

»Ich hatte gehofft, darauf wüßtest du vielleicht eine Antwort«, erwiderte Caramon finster.

»Wenn ich nur einen Blick auf meine Karten werfen könnte«, mischte sich Tolpan ein.

Caramon schwieg. Lieber gar nichts sagen, dachte er bei sich. Wozu sollten diese Piraten erfahren, wie verwirrt sie waren. Der große Krieger hatte das Gefühl, daß jedes Zeichen der Schwäche ihre Lage nur verschlimmern würde.

Die beiden Minotauren, die mit der vermummten Gestalt beratschlagt hatten, kehrten zurück und bauten sich vor ihm auf. Der mit dem Namen Dogz langte mit seinen schweren, breiten Händen nach Caramon und ließ sie vorn und hinten über seinen Körper gleiten, als ob er nach etwas suchte. Caramon versuchte, sich zu wehren, doch er konnte wenig ausrichten. Trotzig spuckte er dem riesigen, stinkenden Minotaurus ins Gesicht.

Er hörte die Umstehenden kichern, als der Minotaurus überrascht zurückfuhr und den Majerezwilling mit der Kraft eines Schmiedehammers ins Gesicht trat. Caramon spuckte einen blutigen Zahn aus und krümmte sich vor Schmerz, während Sturm ausrief: »Bei meiner Ehre, diesen feigen Tritt wirst du noch bereuen!«

»Das gilt für mich um so mehr!« schrie Tolpan. »Wenn sein Bruder davon erfährt, könnt ihr von Glück sagen, wenn er euch nicht in eine fette Kröte verwandelt. Er wird – «

»Still, Tolpan!« brachte Caramon hervor.

Aber der Minotaurus achtete nicht auf ihn. Dogz war bereits weitergegangen, beugte sich über Sturm und durchsuchte Kleider und Ausrüstung des jungen Ritters mit seinen groben Händen. Der ist es auch nicht, dachte Dogz. Dieser Mensch hatte nichts bei sich, nicht einmal eine Waffe oder einen Beutel.

»Bäh«, grunzte Dogz, als er seine Hand hochnahm, die vom Blut aus der verklebten Wunde an Sturms Hinterkopf verschmiert war. Vor lauter Abscheu verpaßte er Sturm eine Ohrfeige. Der Solamnier nahm den Schlag stoisch hin.

»Das war’s!« kreischte Tolpan, der vergeblich an seinen Fesseln zerrte. »Jetzt kannst du nicht mehr zurück! Sturm hat sein ganzes Leben noch keinem Unbewaffneten etwas getan, jedenfalls nicht, solange ich ihn kenne! Und das sind Jahre, nämlich mindestens ein oder zwei bis jetzt. Und er ist so ziemlich der edelste, anständigste Mann, dem du je begegnen wirst, abgesehen von mir.«

Diesmal schien die Kenderstimme den Minotaurus zu überraschen, als hätte er sich bisher nicht dazu herabgelassen, Tolpan wahrzunehmen. Caramon hörte, wie Dogz Luft holte und zurücktrat, um mit seiner leisen, grollenden Stimme mit dem Anführer zu reden.

»Der dritte ist ein Kender, Sarkis.«

»Und?«

»Kender sind unrein. Sie wandern umher und leben vom Stehlen und Betrügen. Wenn man einen berührt, heißt es, zieht man Verachtung oder, schlimmer noch, eine Krankheit auf sich. Ich glaube nicht, daß es nötig ist, den da zu durchsuchen.«

Hinter den beiden Minotauren ertönte ein wütendes Zischen. Hinter Caramon erhob sich Tolpans beleidigte Stimme:

»Unrein! He, du großer Hornochse! Ich möchte dir mitteilen, daß ich regelmäßig bade. Mein Gesicht habe ich gestern erst gewaschen, um genau zu sein – jedenfalls wenn ich recht vermute, daß heute der Tag nach gestern ist, was ich nicht sicher weiß, weil ich keine Ahnung habe, wo ich bin und wie lange es gedauert hat, mich hierher zu befördern. Aber wenn du persönliche Körperpflege zur Sprache bringen willst, dann schlage ich vor, du nimmst mal deine tellergroßen Nüstern, bückst dich und schnupperst an dir selbst!«

Sturm biß sich auf die Zunge.

Caramon verdrehte die Augen.

Der menschliche Abschaum und die Oger mit den Schwimmhäuten lachten höhnisch.

Der mit dem Namen Sarkis ging an Dogz vorbei und tauchte in den grauen Nebel bei der verhüllten Gestalt ein. Diesmal konnte Caramon kein einziges Wort verstehen, nur wildes Schnauben, das von gutturalen Silben und Zischen unterbrochen wurde. Der Anführer beriet sich offensichtlich mit der geheimnisvollen Gestalt.

Caramons Gedanken überschlugen sich. Beim Gedanken an seinen Zwillingsbruder verharrten sie. Raistlin und er waren mittlerweile hervorragend aufeinander eingespielt und ergänzten sich so gut, daß sie in vielen kritischen Situationen den jeweiligen Vorteil nutzen konnten. Der junge Krieger wünschte sich von ganzem Herzen, jetzt seinen Bruder an seiner Seite zu haben. Was würde Raistlin in diesem Fall tun?

Sarkis kehrte zurück und fuhr Dogz verächtlich an: »Pah, Dogz! Es ist richtig, daß Kender ehrlos sind, aber es ist doch bekannt, daß sie gegenüber gewöhnlichen oder ungewöhnlichen Krankheiten immun sind. Genauso leicht könntest du dich bei einem Baumstumpf anstecken. Laß mich das erledigen, du abergläubischer Trottel!«

Tolpan gelang es, sich so zu verrenken, daß er sehen konnte, wie sich Sarkis mit ausgestreckten Riesenhänden über ihn beugte. »Du häßlicher, warziger, schweinemäuliger, matschfarbiger Kretin! Ich bin so ehrenhaft wie jeder andere – gut, vielleicht nicht gerade so ehrenhaft wie Sturm oder auch Caramon, der auf seine eigene, schlichte Art ehrenhaft ist – aber doppelt, zehnmal, hunderttausendmal ehrenhafter als solche wie ihr! Und sei gewarnt, daß ich dich mit jeder Krankheit anstecken könnte, die ich will, wenn es mir nur wichtig genug wäre… He, laß das! Hör auf damit! Das kitzelt! Hihi! Haha-hahaha!«

Der verrückte Kender redet sich um Kopf und Kragen, dachte Sturm. Von seiner Warte aus sah er, daß Sarkis Tolpans Päckchen und Beutel entdeckt hatte. Der Minotaurus grinste, worauf gelbe Zähne in seinem viehischen Gesicht zu sehen waren.

Sarkis stapfte zu seinem Stellvertreter und hielt dabei Tolpans Beutel hoch. Wild funkelte er seinen Untergebenen an.

»Und, was ist das?« fragte der gemaßregelte Dogz.

Die Menschen und die Oger kicherten, bis Sarkis sie mit einem Blick zum Schweigen brachte. Sarkis marschierte zu der Gestalt im Nebel zurück. Die Unterhaltung bestand aus weiterem Zischen und gedämpftem Grunzen. Dann kam er zu Dogz zurück.

»Er ist derjenige«, erklärte Sarkis.

Dogz wollte hingehen, aber Sarkis hielt ihn an der Schulter fest. »Du darfst ihm nichts tun! Nimm ihn und seine Beute mit!« Er gab ihm die Sachen des Kenders.

Dogz eilte zu Tolpan. Ein hoher, schriller Schrei gellte durch die Luft. Caramon und Sturm kämpften mit ihren Fesseln, doch sie konnten nichts tun.

Dogz kam mit Tolpan wieder hinter dem Mast hervor. Er hielt den quietschenden, schimpfenden Kender an seinem Haarknoten so weit wie möglich von sich ab. Es sah aus, als ob der riesige Minotaurus ein Kaninchen an den Ohren gepackt hatte, doch in diesem Fall spuckte das Kaninchen einen Strom von Verwünschungen aus.

»Autsch! Von allen – Du klumpfüßiger, knoblauchfressender Hohlkopf! Paß doch auf, was du – Autsch! Wo gehen wir denn – Autsch! Du übergroße, vertrottelte, milchlose Kuh! Autsch! Das sind meine Haare, an denen du ziehst! He, was ist denn mit Caramon und Sturm? Eeeyyy!«

Unter den Augen von Caramon und Sturm reichte der Minotaurus den strampelnden Kender an zwei Menschen weiter, die über die Reling kletterten und verschwanden, wahrscheinlich in ein unten liegendes Beiboot. Breit grinsend vor Zufriedenheit drehte sich Dogz zu Sarkis um.

Caramon hörte ein schlurfendes Geräusch und konnte vage erkennen, wie die verhüllte Gestalt sich über die Reling zurückzog, um dann vom Nebel verschluckt zu werden. Die anderen Menschen, Schwimmoger und Minotauren eilten hinterher.

Dogz trat vor und fragte drohend: »Was wird aus den beiden hier?«

Sarkis zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Die sind unwichtig. Werft sie über Bord und steckt das Schiff an.«

Die wenigen verbliebenen Menschen kamen näher. Einer von ihnen, ein Hüne von einem Mann mit rotem Bart und einer Seilnarbe am Hals, warf Dogz einen flehenden Blick zu. Dogz nickte ihm zu.

Die beiden Stiermenschen drehten sich um und verschwanden ebenfalls über die Seite des Schiffes.

Die Menschen umstellten Caramon und Sturm und verprügelten sie mit kurzen Keulen. Da Caramon sich nicht verteidigen konnte, versuchte er, seine Augen zu schützen, indem er sie fest zusammenpreßte. Neben ihm stöhnte Sturm, grunzte dann, als die ersten Schläge trafen, nahm aber dann die Prügel schweigend hin.

Der Mann mit der Seilnarbe begann gegen den Mast zu treten. Nach einigen Tritten brach er unten ab, und er und die anderen Menschen hoben ihn hoch und schleiften Sturm und Caramon zur Seite der Venora.

Überall hörte man, wie das Schiff leck geschlagen wurde. Dann ertönte ein Brausen und ein Windstoß fuhr über das Deck, und plötzlich schlugen die Flammen hoch.

Sturm und Caramon, die immer noch an das Maststück gefesselt waren, wurden in die Luft gehoben. Mit einem rauhen Singsang hoben die Männer die Gefangenen über die Reling und schwangen sie mehrmals wieder aufs Schiff zurück, ehe sie sie mit einem letzten Ruf fallen ließen. Sturm und Caramon und der Rest vom Mast flogen durch die Luft und platschten dann als wildes Knäuel ins Wasser.

Als Caramon ins Wasser klatschte, begann er zu kämpfen. Seine Arme schienen ganz an den Holzmast gebunden zu sein, und seine Hände waren stramm gefesselt. Schon ohne diese Hindernisse war Schwimmen nicht gerade Caramons stärkste Seite. Im Krystallmirsee wäre er vor ein paar Monaten fast ertrunken, wenn Sturm ihn nicht gerettet hätte. Seither hatte er ein paar bescheidene Züge geschafft, aber jetzt strampelte er um sein Leben.

So, wie sie im Wasser aufgekommen waren, wurde Sturm vom Mast kurz unter Wasser gedrückt und brauchte ein paar Momente, bis er an die Oberfläche kam. Keuchend versuchte Sturm, seine Arme loszuwinden, aber wie Caramon schaffte er es nicht. Mit den Beinen trat er kräftig nach unten. Zum Glück für die zwei hielt das Stück Holzmast sie an der Oberfläche.

»Strampel nicht so!« rief Sturm Caramon außer Atem zu. »Du verbrauchst deine ganze Kraft. Jetzt mal immer langsam.«

Das Wasser war merkwürdig warm und trüb, mehr braun als blaugrün. Ihr Strampeln wirbelte Blasen und schleimige, klebrige Pflanzen auf. Stechender Gestank drang in ihre Nasen.

Plötzlich erschütterte eine furchtbare Explosion ihre Ohren. Beide Männer drehten so schnell den Kopf, daß sie durch den Nebel sahen, wie die Venora in einem großen Ball aus Feuer und Rauch aufging. Die Strömung hatte das Schiff bereits weit davongetrieben. Das andere Schiff, von dem Caramon kaum etwas gesehen hatte, war im Dunst verschwunden.

Caramon und Sturm sahen minutenlang zu, wie die Überreste des Schiffes brennend in die Wellen sanken. Fast wie auf Befehl senkte sich dann der schwere, warme Nebel herab, der alles bis auf die unendlichen Wogen des Ozeans verdeckte.

Während sie sich bemühten, über Wasser zu bleiben, hatten Caramon und Sturm dieselben, unausgesprochenen Gedanken.

Wo waren sie? Was war eigentlich passiert? Wie zum Henker sollten sie jemals Tolpan finden und retten? Oder sich selbst?

Obwohl er seine guten Freunde Caramon und Sturm wirklich vermißte, und obwohl er wirklich Rettung nötig hatte, amüsierte sich Tolpan Barfuß recht gut.

Richtig, er steckte in einem kleinen Verschlag mit eisernen Riegeln im Unterdeck des Minotaurenschiffes, das schlimmer stank als ein Berg toter Stinktiere. Auch richtig, er war ein Gefangener der Minotauren, der Oger mit den Schwimmhäuten – er hatte erfahren, daß sie Orughi genannt wurden – und der verkommenen, menschlichen Seefahrer, die ihn jederzeit umbringen konnten.

Aber insgesamt war er bis jetzt ziemlich gut behandelt worden. Sarkis hatte ihm seine Taschen und Beutel zurückgegeben. Ja, der Kommandant des Schiffes hatte so getan, als wären die Sachen des Kenders unantastbar und unter Tolpans Schutz sogar sicherer. Tolpan konnte stundenlang seine zahlreichen Schätze durchgehen, und jetzt mußte er schließlich viel Zeit totschlagen. Er wünschte, er hätte Raistlin nicht die magische Flaschenpost geschickt, denn jetzt wäre der Zeitpunkt dafür noch wesentlich besser gewesen.

Tolpan bekam reichlich Schlaf. Und seine Wärter gaben ihm den Umständen entsprechend ordentliches Essen, meistens eine fettige, klumpige Fleischsuppe, die ganz gut schmeckte, wenn man sich daran gewöhnt hatte. Die Suppenschalen wurden manchmal von Affen gebracht, die in Scharen auf dem Schiff herumsprangen und als Küchenhilfen dienten. Besonders einen von ihnen, einen birnenförmigen, wolligen Affen, lernte Tolpan recht gut kennen. Er gab ihm den Spitznamen »Oh-Tick« – nach einem gewissen Wirt, an den er sich gern erinnerte. Wenn er sich mit Oh-Tick unterhielt, hatte Tolpan fast das Gefühl, daß der Affe, der lauschend den Kopf schieflegte, ihn verstand.

Tolpan bekam jede Menge interessanten Besuch. Nur sehr wenige Mitfahrer hatten je zuvor einen Kender kennengelernt oder auch nur gesehen. Also strömten sie herunter, einzeln oder zu zweit, um ihn anzugaffen und ihn hin und wieder zu necken. Ein paar Mal warfen sie Obstreste und Dreckklumpen nach ihm.

Tolpan warf die Obstreste und Dreckklumpen schnurstracks zurück, aber am besten gefiel es ihm, wenn man ihn ärgern wollte. Dieser menschliche Abschaum kannte wirklich ein paar schöne Beschimpfungen, und dies wiederum regte Tolpans Phantasie an. Er reagierte prompt mit einer Auswahl der absolut gemeinsten Sachen, die er sich je ausgedacht hatte. Ein paar seiner Besucher wurden ungeheuer wütend, und ihre Gesichter färbten sich puterrot, bevor sie davonstampften.

Die Minotauren waren würdevoller, selbst wenn sie schlimmer stanken. Sie näherten sich ihm fast respektvoll und starrten ihn in seiner einsamen Zelle an. Den Anführer sah Tolpan nur noch einmal, als Sarkis ganz allein herunterkam und minutenlang regungslos stehenblieb, um Tolpan zu beobachten. Seine Augen nahmen jede Einzelheit des Kenders wahr, vom Haarknoten bis zu den weichen Lederstiefeln. Tolpan bekam kein Wort aus dem großen, häßlichen Monster heraus.

Dogz war da anders. Verächtlich und arrogant erschien auch er, um sich Tolpan zum Spaß anzuschauen. Nach ihrer ersten Begegnung, die durch einen deftigen Austausch stachliger Bemerkungen gekennzeichnet war, kam Dogz immer wieder zurück. Tolpan fing an, gestelzte, aber erbauliche Gespräche mit dem großen Kerl zu führen, der in mancher Hinsicht ebenso neugierig auf Tolpan war wie Tolpan auf alles und jeden. Andererseits hatte er mehr Angst vor Tolpan als dieser vor ihm. Nach und nach entwickelte sich zwischen den beiden ein eigenartiges, fast freundschaftliches Verhältnis.

Dogz war ein Vetter von Sarkis, wie sich herausstellte, und hatte viel Respekt vor seinem höhergestellten Verwandten, dem er treu ergeben war. Sarkis betrachtete Dogz’ Freundschaft mit dem Kender als weiteres Zeichen einer betrüblichen Schwäche, und Dogz versuchte, sich nur noch heimlich mit dem Kender zu treffen.

»Du bist also wirklich gerne Minotaurus, hm?« fragte Tolpan, weil ihn der wilde Stolz erstaunte, den der großspurige Tiermensch ausstrahlte. Tolpan war von Dogz fasziniert, aber der Kender wußte leider, daß Minotauren auf Krynn weitgehend verachtet wurden, auch wenn Dogz davon offenbar noch nichts gehört hatte.

»Es ist… eine große Ehre, Minotaurus zu sein«, grollte Dogz verunsichert.

»Was ist das Gute daran?« fragte Tolpan interessiert.

»Ich meine, wenn man ein Kender ist, steht einem die ganze Welt offen. Überall hat man Freunde und Verwandte, außer vielleicht unter den Theiwaren von Thorbardin, obwohl ich sicher bin, daß selbst die mich vielleicht mögen würden. Man weiß, wie man die allerbesten Karten zeichnet, und wenn man Glück hat, hat man einen praktischen Haarknoten…«

Tolpan hielt inne, denn er merkte, daß dieser Minotaurus nicht unterbrechen oder antworten würde, bevor Tolpan still wäre. Also machte Tolpan etwas, was selten genug vorkam. Er machte den Mund zu, damit Dogz sprechen konnte.

»Wir kämpfen, um zu leben, leben für den Kampf«, sagte Dogz nach einer langen Pause. Er redete stockend, aber eindrucksvoll. Seine weit auseinanderliegenden Augen sahen beinahe traurig aus, wie Tolpan fand. »Wir beugen uns niemanden. Unser Schicksal ist die Herrschaft.«

»Ziemlich schwere Last«, sagte Tolpan nachdenklich. Er war versucht, hinzuzufügen: »Selbst für eine lästige Last«, aber dann dachte er bei sich, daß er das doch besser nicht sagen sollte.

Nach ungefähr einer Woche fiel Tolpan auf, daß er seinen Lieblingsaffen, Oh-Tick, länger nicht mehr gesehen hatte, und er fragte seinen regelmäßigen Besucher nach ihm.

»Affensuppe«, sagte Dogz, der auf die Suppenschüssel in Tolpans Hand zeigte. »Dazu sind die abscheulichen Tiere an Bord. Dachtest du etwa, sie wären zum Streicheln dabei?« Dogz stieß ein schnaubendes Gelächter aus.

Oh-Ticks Schicksal bedrückte Tolpan. Und noch dazu schämte er sich. Plötzlich hatte er keinen Appetit mehr auf seine Suppe. Dogz bemerkte, daß er nicht mehr weiteraß, und fragte recht sanft für seine knurrende Stimme: »Essen Kender normalerweise keine Affen?«

»Normalerweise nicht«, antwortete Tolpan untröstlich.

»Was essen Kender denn?« fragte Dogz nachdenklich.

»Fast alles«, sagte Tolpan, »außer Affen. Besonders Affenfreunde nicht«, fügte er diplomatisch dazu.

»Wir essen immer Affensuppe«, sagte Dogz. »Es sind närrische Tiere.« Dann mitleidiger: »Tut mir leid.«

»Mir auch.« Tolpan schob sein Gesicht zwischen die Stäbe, um Dogz anzusehen. »Ich glaube, ich könnte mir vorstellen, daß es Kleiesuppe oder so etwas ist. Ich liebe die gute, alte Kleiesuppe. Ich träume von heißer Kleiesuppe mit Johannisbeeren und Honig! Ihr habt nicht zufällig eine gute, alte Kleiesuppe an Bord, oder?«

Dogz schüttelte den Kopf. Seufzend schob Tolpan seine Schale beiseite. Es verstrichen einige stille Minuten, ehe Dogz zögernd fragte: »Wenn du deine Affensuppe nicht ißt – macht es dir etwas aus, wenn ich sie esse?«

Tolpan schob die Schale zwischen den Stäben durch.

Wenn Dogz’ Kameraden herunterkamen, um Tolpan zu beobachten, hatte auch er Gelegenheit, sie zu beobachten. Der Anblick der Minotauren und besonders der Schwimmoger, die heranwatschelten, um ihn anzusehen, begeisterte ihn. Die kleinen, dicken, dämlichen Orughi riefen ihm ihre Beschimpfungen in ihrer eigenen Sprache zu, so daß Tolpan sich nur bemühen konnte, ihren Tonfall und die Lautstärke in Gemeinsprache so gut wie möglich nachzuahmen.

Auf manche der Orughi mußte Tolpan einen schnellen Blick werfen, denn nachdem sie ihre Beschimpfungen ausgestoßen hatten, rasten sie davon, ehe der Kender antworten konnte. Tolpan gefiel es, wenn sie eine Weile stehenblieben, so daß er die altertümlichen Waffen betrachten konnte, die viele von ihnen über der Schulter trugen, einen Eisenbumerang an einer langen Metallschnur. Dogz zufolge handelte es sich um eine Tonkk. Man konnte damit fliegende Tiere jagen. Tolpan hätte gern mal eine solche Tonkk ausprobiert, denn sie erinnerte ihn an seine eigene Lieblingswaffe, den Hupak.

Er hatte immer noch seinen eigenen Hupak dabei, der über seinem Rücken gehangen hatte, als man ihn von der Venora geschleppt hatte. Sarkis hatte keine Anstalten gemacht, ihm die Waffe wegzunehmen, und in der engen Käfigzelle war er Tolpan sowieso keine Hilfe.

Nach über einer Woche merkte Tolpan eines Nachmittags, wie das Schiff langsamer wurde. Oben auf Deck war jede Menge los, als das Schiff ächzend zum Halten kam. Tolpan hörte, wie Kisten und Säcke ausgeladen wurden, danach das gedämpfte Getrampel der Mannschaft, die an Land ging. Stundenlang hörte Tolpan es oben rumoren, aber die ganze Zeit kam niemand, um nach ihm zu sehen.

Als der Kender schließlich schon befürchtete, man hätte ihn einfach vergessen, kamen Dogz und Sarkis herunter. Sie trugen einen kleinen Holzkäfig, der nach Affen roch. Wehmütig dachte Tolpan an Oh-Tick.

Sie betraten Tolpans Zelle, quetschten den Kender in den Käfig und schoben diesen dann auf zwei Stangen, die sie sich selbst auf die Schultern legten. Dann trugen die beiden Minotauren Tolpan an Deck und über die Landebrücke nach draußen, wo der Kender einen ersten Blick auf die berühmte Minotaureninsel Mithas werfen konnte.

Mit dem Käfig auf den Schultern trugen Dogz und Sarkis den Kender stolz durch die Straßen der Minotaurenstadt Lacynos. Was für ein wundersamer Ort, dachte Tolpan. Er konnte es kaum erwarten, allen seinen Freunden davon zu erzählen… falls er glücklich genug war, dieses Abenteuer zu überleben!

Im Hafen lagen Galeeren, Frachtschiffe und Fischerboote. Über einen Mechanismus aus Seilen und Flaschenzügen wurden riesige Bündel Holz und andere lebensnotwendige Güter aus den Lastschiffen ausgeladen. Die Kraft dafür brachten Menschensklaven auf, die von peitschenschwingenden Minotauren beaufsichtigt wurden. Grimmig aussehende Kaufleute und Piraten stritten auf den Docks miteinander. Das Wasser quoll über vor treibendem Seetang und Müll.

Die eigentliche Stadt begann am Ende der Werft. Die belebten Straßen und die schmutzigen Seitengassen von Lacynos waren mit Dreck gepflastert, der sich durch Regen und viel Verkehr in dicken, schlüpfrigen Schlamm verwandelt hatte. Grobgezimmerte Holzbauten, die größer waren als alles, was Tolpan je in Südergod gesehen hatte, standen in Blocks nebeneinander. Statt Innentreppen gab es außen Leiterstufen, und durch viereckige Löcher im Dach konnte man hinausklettern.

Tolpan mußte sich immer wieder umdrehen, um die vielen, wundervollen Dinge mitzubekommen, die hier vor sich gingen. Es gab reichlich Menschen, die ein Vorrecht für die Eckkneipen zu haben schienen. Viele von ihnen wirkten wie bewaffnete Räuber, die mit ihren gestohlenen Juwelen und Ringen protzten. Sie trugen bösartig wirkende Krummsäbel und Waffen mit Haken. Die Menschen waren gegenüber den Minotauren in der Minderzahl, aber Tolpan fiel auf, daß gelegentlich laute Streitereien und Kämpfe zwischen den Mitgliedern beider Rassen ausbrachen.

Die Atmosphäre war so geschäftig, daß nicht alle Dogz und Sarkis mit dem Kender im Käfig bemerkten, einige aber schon. Die menschlichen Grobiane zeigten lachend mit dem Finger auf ihn. Die Minotauren blickten neugierig hin und knurrten vor Verachtung. Tolpan zeigte und lachte und knurrte einfach zurück, worauf Gelächter hinter ihm ausbrach.

Sie kamen eine breitere Straße herunter und trugen Tolpan auf einen lebhaften Platz voller Stände und Zelte zu, wo ein überwältigender Fisch- und Schweißgeruch vorherrschte. Der Lärm von lautem Feilschen erstickte alle anderen Geräusche.

»Unser Marktplatz«, prahlte Dogz, der seinen Kopf zu Tolpan neigte. »Hier kann man die besten Silberwaren von allen Minotaureninseln kaufen. Aber man muß aufpassen. Es gibt auch wertloses Zeug in Hülle und Fülle.«

Sarkis bellte Dogz einen Befehl zu. »Hör auf, mit dem Kender zu reden!« ordnete er an. »Das ist ein Zeichen von Schwäche.«

Tolpan, der im Käfig herumgeschüttelt wurde, sagte lieber nichts, obwohl er schwer in Versuchung war.

Hier auf dem Marktplatz, wo nur noch wenige Stunden Tageslicht herrschen würde, schloß man in farbenfroher, chaotischer Manier Geschäfte ab. Nur wenige bemerkten Dogz und Sarkis, als diese sich mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menge bahnten. Tolpan sah exotischen Schmuck und Waffen ausliegen, Wolle und Kleider und jegliche Art von Seefisch – geräuchert, eingelegt, frisch und nicht mehr so frisch.

Als sie eine weitere, ruhigere Straße hochliefen, näherten sie sich dem eindrucksvollsten Gebäude der Stadt Lacynos, einer Residenz des Königs der Minotauren. Es war ein auffälliges Herrenhaus mit Marmorsäulen, weitläufigen Gärten und Nebengebäuden, das hoch oben errichtet war, wo man die emsige Minotaurenmetropole überblicken konnte.

Sie gingen an einem Trupp Menschensklaven vorbei, die von Schnitten und getrocknetem Blut entstellt waren. Unter der Aufsicht peitschenschwingender Minotaurenwächter gruben sie Abwassergräben. Diese Menschen, die größtenteils hager und fahl aussahen, waren in Tolpans Augen bemitleidenswert. Sie ächzten unter der Peitsche und wagten nicht einmal einen Blick auf den Kender, als dieser vorbeigetragen wurde.

Bei der Ankunft am vorderen Tor der Außenmauer des Palastes sah Tolpan geordnete Formationen minotaurischer Soldaten, die draußen auf dem Hof gedrillt wurden. In bestimmten Abständen standen Posten auf der Mauer, und jeder schien Dogz und Sarkis zu kennen. Die Wachen grüßten eilig und ließen sie ein.

Um ehrlich zu sein, war Tolpan seine eingezwängte Besichtigungstour allmählich leid, und er war äußerst gespannt, wohin er wohl gebracht wurde. Deshalb war der Kender froh und zufrieden, als die Minotauren endlich anhielten, nachdem sie eine endlose Treppe in ein tieferes Geschoß von einem der Gebäude hinuntergestiegen waren. Sarkis öffnete den Käfig, und Tolpan kullerte heraus. Ihm blieb allerdings kaum Zeit, sich zu räkeln, denn Sarkis stieß ihn gleich in eine düstere, feuchte, aber immerhin geräumigere Kerkerzelle.

Ohne weiteren Kommentar schnaubte Sarkis einmal, drehte sich um und stieg die Stufen wieder hinauf. Dogz blieb noch kurz stehen und wartete, bis Sarkis verschwunden war, ehe er sich Tolpan zuwandte. »Auf Wiedersehen, Freund Tolpan«, sagte der Minotaurus traurig und wollte gehen.

»Warte! Was geschieht denn jetzt?« rief Tolpan, doch es war zu spät, denn Dogz war schon die Treppe hochgelaufen.

Eine oder zwei Stunden vergingen. Genau war das in der langweiligen Zelle schwer zu sagen. Nicht, daß es so schmutzig war, auch wenn es schmutzig genug war, oder daß es so stank, wo Tolpan sich doch allmählich schon an den Geruch der Minotauren gewöhnte. Es war einfach so, daß eine Pritsche und ein Eimer die gesamte Einrichtung darstellten. Weiter gab es nichts zu sehen oder zu tun, und Tolpan war so untypisch niedergeschlagen, daß er nicht einmal Lust hatte, seine Beutel zu durchstöbern. Im Vergleich dazu war das Minotaurenschiff unterhaltsam wie ein Karneval gewesen.

Seine Stimmung hellte sich auf, als Schritte erklangen und zwei Minotauren, die er nicht kannte, mit Sarkis die Treppe herunterkamen. Sarkis trug eine Geißel. Einer der Minotauren trug einen scharlachroten Umhang und um die Stirn einen schmalen, goldenen Reif. Tolpan fragte sich, ob es echtes Gold war, und wünschte, er könnte den Reif wenigstens mal eine Minute in der Hand halten, um das zu überprüfen. Der andere Minotaurus war häßlich und gehörnt wie die meisten von ihnen, trug jedoch einen Kilt und keine Waffen.

Der mit dem Goldreif strahlte Autorität aus. Er trat vor die anderen und sah Tolpan an. Sein tierhaftes Gesicht war ausdruckslos. Vor seinem fauligen Atem zog Tolpan sich in der Zelle ganz nach hinten zurück. Die gelben Zähne des Minotaurus blitzten.

»Das ist also der Kenderzauberer«, sagte der Minotaurus mit dem Umhang.

»Ja, König«, antwortete Sarkis.

Kenderzauberer? Tolpan überlegte. Was zum Henker redeten diese dummen Rindviecher da?

»Der Nachtmeister wird hocherfreut sein«, sagte der König. Dann drehte er sich auf seinen Hufen um und ging wieder die Treppe hoch.

Tolpan war so verblüfft über den kurzen Wortwechsel, daß er kaum Zeit fand, selbst etwas zu sagen. »Wieso Nachtmeister?« rief er der verschwindenden Gestalt nach. »Wieso König? Wenn du der Befehlshaber hier bist, dann laß mich lieber hier raus, bevor meine Freunde herausfinden, wo ich bin! Und ich habe reichlich Freunde – viele – jede Menge! Wenn sie dich zum König gewählt haben, dann bestimmt, weil du den stinkigsten Atem von ganz Lacynos hast – nein, besser von ganz Mithas. Besser von ganz Ansalon, du aufgedonnerte, gabelschwänzige, kuhäugige Schmalzlocke!«

Wenn er nur Platz hätte, seinen Hupak zu schleudern. Wenn nur die Gitterstäbe nicht zwischen ihm und den Minotauren wären. Tolpan ergriff seinen Hupak und wedelte drohend damit.

Sarkis und der andere Minotaurus, der mit dem Kilt, blieben stehen, um Tolpan gleichgültig zu beobachten, bis er sich wieder beruhigt hatte. Irgendwann geschah das.

»Ich habe noch nie einen Kender gesehen«, knurrte der Minotaurus mit dem Kilt überraschend gelassen. »Und ich habe ganz sicher noch keinen Kenderzauberer gesehen.«

»Ja, Clief-Eth«, sagte Sarkis. »Ich habe ihn dir wie befohlen hergebracht.«

Tolpan wollte hören, was Clief-Eth als nächstes sagte. Sarkis schuldete ihm Gehorsam, das war offensichtlich. Und Clief-Eth schien ein einigermaßen intelligenter, hochrangiger Minotaurus zu sein.

»Foltert ihn, bis er uns seine Geheimnisse verrät«, sagte Clief-Eth, der seine großen runden Kuhaugen auf Tolpan richtete. »Nur tötet ihn nicht… nicht gleich, jedenfalls. Aber tut ihm weh, damit er merkt, daß es uns ernst ist.«

Sarkis schlug sich die Geißel in die Handfläche. »Wird mir ein Vergnügen sein, Clief-Eth«, sagte er genüßlich.

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