Erster Teil Der gelbe Backsteinweg

Elli im Wunderland der Käuer

Elli wurde vom Hündchen geweckt, das ihr mit seiner warmen feuchten Zunge das Gesicht leckte und winselte. Zuerst war ihr, als habe sie einen seltsamen Traum gehabt, den sie sogleich der Mutter erzählen wollte. Als sie aber die umgeworfenen Stühle und den Ofen in der Ecke liegen sah, da wußte sie, daß es kein Traum gewesen war.

Das Mädchen sprang aus dem Bett. Das Haus stand unbeweglich da, und die Sonne schien hell zum Fenster herein. Elli lief zur Tür, öffnete sie und schrie auf vor Verwunderung.

Der Sturm hatte das Häuschen in ein ungewöhnlich schönes Land getragen. Ringsum lag eine grüne Wiese, an deren Rand Bäume mit saftigen Früchten standen. Da und dort waren Beete mit rosaroten, weißen und blauen Blumen zu sehen. In der Luft schwirrten kleine Vögel mit herrlichem Gefieder. Auf den Zweigen saßen goldgrüne und rotbäuchige Papageien, die mit hohen, wunderlichen Stimmen schrien. Unweit rauschte ein kristall- klarer Bach, in dem sich silbrige Fischlein tummelten.

Während das Mädchen unschlüssig an der Schwelle stand, tauchten hinter den Bäumchen Menschlein auf, wie man sie sich lieblicher und drolliger kaum vorstellen kann. Die Männchen hatten blaue Samtgewänder und enge Beinkleider an und waren nicht größer als Elli. Ihre Füße staken in hellblauen glänzenden Stiefeln mit Schaftstulpen. Am meisten gefielen Elli aber die spitzen Hüte, die oben mit einer Kristallkugel geschmückt waren und an deren breiten Krempen kleine Schellen klingelten.

Eine alte Frau in weißem Umhang schritt den drei Männlein würdevoll voran. Hut und Gewand funkelten von winzigen Sternchen, und die grauen Haare hingen ihr über die Schultern.

Hinter den Obstbäumen waren unzählige kleine Männer und Frauen zu sehen. Sie raunten einander etwas zu und tauschten Blicke, zauderten aber, sich dem Häuschen zu nähern.

Die vier kleinen Gestalten lächelten freundlich und scheu, als sie vor das Mädchen traten. Allein die Alte verbarg ihr Erstaunen nicht. Die Männlein nahmen alle gleichzeitig ihre Hüte ab. «Klingling, klingling», tönten die Schellen. Elli gewahrte, daß sich die Kiefern der Männlein in einem fort bewegten, als ob sie etwas kauten.

Die Alte sprach sie an:

«Sag, liebes Kind, wie bist du in das Land der Käuer gekommen?»

«Der Wind hat mich mit diesem Häuschen hergebracht», erwiderte Elli schüchtern.

«Merkwürdig, sehr merkwürdig!» Die Alte schüttelte den Kopf. «Ich will dir sagen, warum ich mich so wundere. Ich hörte nämlich, daß die böse Hexe Gingema in ihrem Wahnsinn das Menschengeschlecht vernichten und die Erde mit Ratten und Schlangen bevölkern wollte. Ich mußte meine ganze Zauberkunst aufbieten…»

«Wieso, gnädige Frau!» rief Elli erschauernd. «Ihr seid eine Zauberin? Aber Mutter hat doch gesagt, daß es keine Zauberer mehr gibt?!»

«Wo lebt deine Mutter denn?»

«In Kansas.»

«Ich hab diesen Namen noch nie gehört», erwiderte die Zauberin. «Aber, was deine Mutter auch sagen mag, hier, in diesem Lande, leben Zauberer und weise Männer. Früher gab es hier vier Zauberinnen. Zwei von uns, die Zauberin des Gelben Landes, Willina (das bin ich), und die des Rosa Landes, Stella, sind gütig. Die Zauberin des Blauen Landes, Gingema, und die des Violetten Landes, Bastinda, sind böse Hexen. Gingema ist von deinem Häuschen zerdrückt worden, und jetzt gibt es nur noch eine böse Zauberin in unserem Land.»

Elli traute ihren Ohren nicht. Wie sollte sie, ein kleines Mädchen, das in seinem Leben nicht einmal einen Spatz getötet hatte, eine böse Hexe vernichtet haben?!

«Sie irren sich, ich habe niemanden getötet», sagte sie.

«Ich beschuldige dich ja gar nicht», erwiderte ruhig die Zauberin. «Um die Menschen zu retten, nahm ich dem Sturm seine verheerende Kraft und gestattete ihm nur, ein einziges Häuschen zu erfassen und die tückische Gingema damit zu erschlagen. Ich hatte in meinem Zauberbuch gelesen, daß dieses Häuschen bei Gewitter immer leer steht…»

Elli sagte verwirrt:

«Das stimmt, gnädige Frau. Wenn ein Gewitter ausbricht, verstecken wir uns im Keller. Damals aber lief ich meinem Hündchen ins Haus nach…»

«Eine so unüberlegte Handlung konnte mein Zauberbuch natürlich nicht voraussehen», meinte Willina betrübt. «Also ist dieses kleine Tier an allem schuld…»

«Totoschka, wauwau, wenn Sie gestatten, Madame», mischte sich plötzlich das Hündchen ein. «Ja, es tut mir leid, daß ich an allem schuld bin…»

«Totoschka, du sprichst ja?» rief Elli fassungslos.

«Ich weiß nicht, was mit mir los ist, Elli, aber, wauwau, mir kommen menschliche Worte in den Mund…»

«Ich will dir's erklären, Elli», sagte Willina. «In diesem Wunderland sprechen nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere, sogar die Vögel. Schau dich um, gefällt dir unser Land?»

«Ja, Frau Zauberin», erwiderte Elli. «Bei uns ist es aber schöner. Wenn Sie unsere Haustiere sehen würden, unsere buntscheckige Kuh! Nein, Frau Zauberin, ich möchte nicht hierbleiben, ich will nach Hause, zu Vater und Mutter.»

«Das wird kaum gehen», sagte die Zauberin. «Unser Land ist durch eine Wüste und riesige Berge, über die noch kein Mensch gekommen ist, von der übrigen Welt getrennt. Ich fürchte, mein Liebling, du wirst bei uns bleiben müssen.»

Ellis Augen füllten sich mit Tränen. Die braven Käuer waren gleichfalls sehr betrübt. Sie begannen zu weinen und trockneten sich mit blauen Taschentüchern die Augen. Auch nahmen sie ihre Hüte ab und legten sie vor sich hin, damit die Schellen sie beim Schluchzen nicht störten.

«Und Sie können mir auch nicht ein bißchen helfen?» fragte Elli traurig.

«Ach, ich hab ja ganz vergessen, daß ich mein Zauberbuch bei mir hab. Laß mich nachsehen, vielleicht finde ich etwas darin, was dir nützen kann…»

Willina entnahm den Falten ihres Gewandes ein winziges Büchlein, das so groß war wie ein Fingerhut. Sie blies darauf, und vor der sprachlosen Elli begann das Buch zu wachsen, bis es zu einem riesigen Band wurde. Er war so schwer, daß die Alte ihn auf einen großen Stein legen mußte.

Willina schaute auf die Blätter des Buches, und unter ihrem Blick legten sie sich von selber um.

«Da sieh, ich hab's», rief sie und begann langsam zu lesen: «Bambara, tschufara, skoriki, moriki, turabo, furabo, loriki, joriki… Der große Zauberer Goodwin wird das kleine Mädchen, das der Sturm in sein Land verschlagen hat, nach Hause schicken, falls sie drei Lebewesen bei der Erfüllung ihrer sehnlichsten Wünsche behilflich sein wird; pikapu, trikapu, botalo, motalo…»

«Pikapu, trikapu, botalo, motalo…», wiederholten die Käuer ehrfürchtig.

«Wer ist das, dieser Goodwin?» fragte Elli.

«Oh, das ist der weiseste Mann in unserem Lande», flüsterte die Alte, «er ist mächtiger als wir alle und lebt in der Smaragdenstadt.»

«Und wie ist er, böse oder gut?»

«Das weiß niemand. Du brauchst aber keine Angst zu haben. Such nur die drei Geschöpfe, erfülle ihre sehnlichsten Wünsche, und der Zauberer der Smaragdenstadt wird dir helfen, in dein Land heimzukehren.»

«Wo liegt denn die Smaragdenstadt?» fragte Elli.

«In der Mitte des Landes. Goodwin, der große Weise und Zauberer, hat sie selber erbaut und regiert dort. Er hat sich -seither in tiefes Geheimnis gehüllt, noch niemand hat ihn nach dem Aufbau der Stadt gesehen, die vor vielen, vielen Jahren fertig wurde.»

«Wie komme ich aber in die Smaragdenstadt?»

«Es ist ein weiter Weg, der dorthin führt, und nicht überall ist das Land so freundlich wie bei uns. Da gibt es finstere Wälder mit schrecklichen Tieren und reißende Flüsse, die dem Wanderer mit großen Gefahren drohen.»

«Wollen Sie nicht mit mir gehen?» fragte Elli.

«Nein, mein Kind», erwiderte Willina, «ich kann das Gelbe Land für längere Zeit nicht verlassen. Du mußt schon allein gehen. Der Weg zur Smaragdenstadt ist mit gelbem Backstein ausgelegt, du wirst dich gewiß nicht verirren. Wenn du zu Goodwin kommst, bitte ihn um Hilfe…»

«Werde ich dort lange bleiben müssen, Frau Zauberin?» fragte Elli mit gesenktem Blick.

«Ich weiß es nicht», antwortete Willina. «Darüber steht nichts in meinem Zauberbuch. Geh, suche, kämpfe! Ich werde von Zeit zu Zeit das Zauberbuch aufschlagen, um nachzusehen, wie es dir geht… Leb wohl, mein Kind!»

Willina beugte sich über das riesige Buch, das sogleich klein wurde wie ein Fingerhut, und steckte es in die Falten ihres Gewandes. Ein Wind erhob sich, es wurde finster ringsum, und als die Dunkelheit zerrann, war Willina verschwunden. Elli erschauerte, und die Käuer zitterten vor Angst so sehr, daß die Schellen an ihren Hüten von selber zu klingeln begannen.

Als sie sich beruhigt hatten, sagte der tapferste unter den Käuern, ihr Ältester, zu Elli:

«Allmächtige Fee! Wir begrüßen dich im Blauen Lande! Du hast die böse Gingema getötet und die Käuer befreit.»

Elli entgegnete:

«Ihr seid sehr liebenswürdig, doch irrt Ihr Euch. Ich bin keine Fee. Ihr habt doch gehört, daß mein Häuschen auf Befehl der Zauberin Willina auf Gingema niederging…»

«Das glauben wir nicht», erwiderte der Älteste entschieden. «Wir haben dein Gespräch mit der guten Zauberin gehört, botalo, motalo, dennoch glauben wir, daß du eine mächtige Fee bist. Nur Feen können mit ihren Häuschen durch die Luft fliegen, nur eine Fee konnte uns von Gingema erlösen, der bösen Zauberin des Blauen Landes. Sie hat viele Jahre über uns geherrscht, und wir mußten Tag und Nacht für sie arbeiten.»

«Wir mußten Tag und Nacht für sie arbeiten», wiederholten die Käuer im Chor. «Sie befahl uns, Spinnen und Fledermäuse zu fangen und in den Gräben Frösche und Blutegel zu sammeln, denn das waren ihre Lieblingsspeisen…»

«Wir aber fürchten uns so sehr vor den Spinnen und Blutegeln!» klagten die Käuer mit Tränen in den Augen.

«Warum weint ihr?» fragte Elli. «Jetzt ist doch alles vorbei?»

«Ja, ja!» frohlockten die Käuer und lachten, daß die Schellen an ihren Hüten klingelten.

«Mächtige Frau Elli!» hub der Älteste wieder an. «Willst du uns jetzt anstelle von Gingema regieren? Wir wissen, daß du sehr gütig bist und uns nicht allzu oft bestrafen wirst!»

«Nein, ich bin nur ein kleines Mädchen und tauge nicht zum Regieren», erwiderte Elli. «Wenn ihr mir aber helfen wollt, so laßt mich eure sehnlichsten Wünsche erfüllen.»

«Wir hatten nur den einen Wunsch, die böse Gingema loszuwerden, pikapu, trikapu! Dein Häuschen — krak! krak! krak! — sie zerdrückt, und jetzt haben wir keine Wünsche mehr!» sagte der Älteste.

«Dann brauch ich mich bei euch nicht länger aufzuhalten. Ich will Leute suchen, die Wünsche haben. Leider sind meine Schuhe zu alt und zerschlissen für den weiten Weg. Nicht wahr, Totoschka?» wandte sich Elli an das Hündchen.

«Natürlich», pflichtete ihr Totoschka bei. «Mach dir aber keine Sorgen, Elli, ich hab in der Nähe etwas entdeckt und werde dir helfen!»

«Du?» wunderte sich das Mädchen.

«Ja, ich!» erwiderte stolz das Hündchen und verschwand hinter den Bäumen. Bald kehrte es zurück, einen schönen Silberschuh in den Zähnen, den es feierlich Elli zu Füßen legte. Am Schuh funkelte eine goldene Schnalle.

«Woher hast du ihn?» staunte Elli.

«Das werd ich dir gleich sagen», antwortete keuchend das Hündchen, verschwand erneut in den Büschen und kam bald mit dem zweiten Schuh wieder.

«Entzückend!» rief Elli aus. Sie probierte die Schuhe an, die genau paßten, als wären sie nach Maß genäht.

«Während ich mich hier umsah», hub Totoschka mit wichtiger Miene zu erzählen an, «entdeckte ich im Berg hinter den Bäumen ein großes schwarzes Loch.»

«Ach, ach, ach!» entsetzten sich die Käuer, «das ist ja der Eingang zur Höhle der bösen Gingema! Und du hast dich hineingewagt?»

«Was ist schon dabei? Gingema ist ja tot!» entgegnete Totoschka.

«Du bist wohl auch ein Zauberer?» fragte der Älteste zitternd, und alle anderen Käuer nickten so lebhaft, daß die Schellen an ihren Hüten im Takt klingelten.

«Und als ich in die Höhle stieg, wie ihr das Loch nennt, da sah ich viele drollige und merkwürdige Dinge. Am meisten gefielen mir aber die Schuhe, die am Eingang standen. Große Vögel mit schrecklichen gelben Augen wollten mich hindern, die Schuhe zu nehmen, aber ein Totoschka läßt sich nicht ins Bockshorn jagen, wenn er seiner Elli einen Dienst erweisen will!»

«Du, mein tapferer Liebling!» rief Elli aus und drückte das Hündchen zärtlich an sich. «Mit diesen Schuhen werde ich bestimmt niemals müde!»

«Schön, daß du die Schuhe der bösen Hexe bekommen hast», fiel ihr der Älteste der Käuer ins Wort. «Sie besitzen wahrscheinlich Zauberkraft, denn Gingema pflegte sie nur bei äußerst wichtigen Anlässen anzuziehen. Wir wissen nicht,

was das für eine Kraft ist… Sag, willst du wirklich von uns gehen, liebe Fee?» fragte der Älteste seufzend. «Dann wollen wir dir schnell Mundvorrat für die Reise bringen.»

Die Käuer gingen. Elli fand ein Stück Brot in ihrem Häuschen und aß es am Ufer eines Baches. Dann trank sie vom klaren, kalten Wasser und begann zum weiten Weg zu rüsten, während Totoschka unter einem Baum umhersprang und nach einem krächzenden bunten Papagei schnappte, der auf einem Zweig saß und das Hündchen neckte.

Elli trat aus dem Häuschen, schloß sorgfältig die Tür und schrieb mit Kreide darauf: «Ich bin nicht zu Hause.»

Da kehrten auch schon die Käuer zurück. Sie hatten so viel Essen mitgebracht, daß es Elli für Jahre gereicht hätte: ganze Hammel, Gänse und Enten, einen Korb mit Obst…

Elli lachte:

«Was soll ich mit soviel Essen anfangen, liebe Freunde?»

Sie legte ein wenig Brot und Obst in den Korb, nahm von den Käuern Abschied und machte sich mit dem lustigen Totoschka tapfer auf den Weg.

* * *

Nicht weit von dem Häuschen gabelte sich die Straße. Elli wählte die, die mit gelbem Backstein ausgelegt war. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, und das kleine Mädchen, das vom Schicksal in ein wunderliches Land verschlagen worden war, fühlte sich ganz wohl.

Zu beiden Seiten des Weges zogen sich blaue Zäune hin, hinter denen bestellte Felder lagen. Da und dort waren runde Häuschen zu sehen, deren Dächer den Spitzhüten der Käuer ähnelten. Auf den Dächern glitzerten Kristallkugeln. Die Häuschen waren blau angestrichen.

Auf den Feldern arbeiteten kleine Männer und Frauen.

Sie zogen vor Elli die Hüte und nickten ihr freundlich zu, denn jeder wußte jetzt, daß das Mädchen mit den Silberschuhen das Land von der bösen Zauberin befreit hatte, daß sie mit ihrem Häuschen — krak, krak! — auf den Kopf der Hexe niedergesaust war.

Die Käuer, denen sie unterwegs begegneten, blickten ängstlich staunend auf Totoschka und hielten sich die Ohren zu, wenn er bellte. Wenn das brave Hündchen auf einen Käuer zulief, so floh dieser, so schnell er konnte. Im Lande Goodwins gab es nämlich keine Hunde.

Am Abend verspürte Elli Hunger. Sie dachte nach, wo sie die Nacht verbringen solle, da erblickte sie ein großes Haus, das dicht am Wege stand. Auf einem Rasen vor dem Hause tanzten kleine Männer und Frauen. Musikanten spielten eifrig auf kleinen Geigen und bliesen Flöte. Auch Kinder tummelten sich da, die so klein waren, daß Elli staunte. Sie sahen wie Puppen aus. Auf einer Terrasse standen lange Tische mit Tellern voller Obst, Nüssen und Bonbons, schmackhaften Kuchen und großen Torten.

Als Elli herankam, trat ein schöner, hoher Greis aus der tanzenden Schar (er war um einen ganzen Finger größer als Elli!), verneigte sich und sagte:

«Ich und meine Freunde feiern heute die Befreiung unseres Landes von der bösen Zauberin. Darf ich die mächtige Fee des Tötenden Häuschens zu unserem Fest einladen?»

«Warum meint Ihr, daß ich eine Fee bin?» fragte Elli.

«Du hast die böse Zauberin Gingema zerdrückt — krak, krak! -, wie eine hohle Eierschale; du trägst ihre Zauberschuhe und hast ein merkwürdiges Tier bei dir, wie wir es noch nie gesehen haben und von dem unsere Freunde sagen, daß es gleichfalls Zauberkräfte besitzt…» Darauf wußte Elli nichts zu erwidern, und sie folgte dem Alten, der Prem Kokus hieß. Die Leute nahmen sie wie eine Königin auf. Ihre Schellen an den Hüten klingelten ohne Unterlaß, es wurde viel getanzt, man verzehrte unzählige Kuchen und trank eine Menge erfrischender Getränke. Es war ein so angenehmer und lustiger Abend, daß Elli erst beim Einschlafen an Vater und Mutter dachte.

Am Morgen nach dem reichlichen Frühstück fragte sie den alten Kokus:

«Ist es von hier weit bis zur Smaragdenstadt?»

«Das weiß ich nicht», erwiderte dieser nachdenklich. «Ich war nie dort. Man hält sich dem Großen Goodwin lieber fern, besonders, wenn man kein wichtiges Anliegen an ihn hat. Außerdem ist auch der Weg in die Smaragdenstadt sehr lang und beschwerlich. Du wirst durch finstere Wälder gehen und reißende Flüsse überqueren müssen.»

Elli war betrübt, solches zu hören, aber sie wußte, daß nur der Große Goodwin sie nach Kansas zurückbringen könne, und so verabschiedete sie sich denn von den lieben Leuten und beschritt wieder den Weg, der mit gelbem Backstein gepflastert war.

Der Scheuch

Elli wanderte rastlos mehrere Stunden, und als sie müde wurde, setzte sie sich vor einem der blauen Zäune hin, hinter dem sich ein Feld mit reifem Weizen zog. In der Nähe stand ein hoher Pfahl, auf dem eine Vogelscheuche aufgesteckt war. Der Kopf bestand aus einem mit Stroh ausgestopften Sack, auf den man Augen und Mund gemalt hatte, so daß das Gesicht sehr komisch wirkte. Die Scheuche hatte einen abgetragenen blauen Rock an, aus dessen Nähten an manchen Stellen das Stroh herausragte. Der Kopf war mit einem alten schäbigen Hut bedeckt, dem man die Schellen abgeschnitten hatte, und die Füße staken in blauen Schaftstiefeln, wie sie die Männer des Landes trugen.

Die Scheuche hatte ein komisches und gutmütiges Aussehen.

Elli betrachtete aufmerksam das bemalte Gesicht und staunte nicht wenig, als ihr plötzlich das rechte Auge zublinzelte. Zunächst dachte sie, es sei eine Täuschung, denn in Kansas blinzelten die Vogelscheuchen nicht. Als ihr aber der Strohmann freundlich zunickte, erschrak sie, und der tapfere Totoschka sprang bellend am Zaun hoch, hinter dem die Scheuche stand.

«Guten Tag», sagte diese mit heiserer Stimme.

«Du sprichst?» wunderte sich Elli.

«Ja. Ich habe es gelernt, als ich mich mit einer Krähe zankte. Wie geht es dir?»

«Danke, gut! Sag, lieber Mann, hast du einen sehnlichen Wunsch?»

«O ja! Ich hab eine Menge Wünsche!» Die Scheuche begann hastig ihre Wünsche aufzuzählen: «Erstens brauche ich silberne Schellen für meinen Hut, zweitens neue Stiefel, drittens…»

«Oh, das reicht vollauf», unterbrach ihn Elli. «Aber was ist dein sehnlichster Wunsch?»

«Der sehnlichste?» Der Strohmann dachte einen Augenblick nach. «Nimm mich herunter. Es ist schrecklich langweilig, Tag und Nacht hier zu stehen und die widerlichen Krähen zu verscheuchen, die, nebenbei gesagt, gar keine Angst vor mir haben!»

«Kannst du denn selber nicht heruntersteigen?»

«Nein. Man hat mich auf den Pfahl aufgespießt. Zieh ihn doch aus mir heraus, ich werde dir sehr dankbar sein!»

Elli bog den Pfahl um, faßte den Strohmann mit beiden Händen und hob ihn ab.

«Besten Dank!» stieß er hervor, als er auf der Erde stand. «Ich fühle mich wie neugeboren. Wenn ich jetzt noch silberne Schellen für meinen Hut und ein Paar neue Stiefel bekäme…»

Der Strohmann zupfte sorgfältig seine Jacke zurecht, klopfte das Stroh von den Kleidern ab, machte einen Knicks und stellte sich vor:

«Scheuch!»

«Was sagst du'?»

«Scheuch. Man hat mich so getauft, weil ich die Krähen verscheuchen muß. Und wie heißt du?»

«Elli.»

«Ein schöner Name!»

Das Mädchen war sprachlos. Es konnte nicht begreifen, wie eine Strohpuppe mit bemaltem Gesicht gehen und sprechen konnte.

Totoschka aber war empört.

«Und warum sagst du mir nicht guten Tag'?» rief er zornig.

«Ach, bitte um Verzeihung!» entschuldigte sich der Scheuch und drückte des Hündchens Pfote. «Ich habe die Ehre, mich vorzustellen: Scheuch!»

«Sehr angenehm. Mein Name ist Toto. Meine besten Freunde dürfen mich aber Totoschka nennen!»

«Oh, lieber Scheuch, wie froh ich bin, deinen sehnlichsten Wunsch erfüllt zu haben!» sagte Elli.

«Verzeih, Elli», entgegnete der Scheuch und machte wieder einen Knicks. «Aber ich hab mich wohl geirrt, denn mein sehnlichster Wunsch ist ein Gehirn.»

«Ein Gehirn?»

«Na ja, ein Gehirn. Es ist doch nicht angenehm, wenn man einen Kopf voll Stroh hat.»

«Du lügst ja!» sagte Elli vorwurfsvoll.

«Lügen? Was ist das? Man hat mich erst gestern gemacht,

und ich versteh noch nichts…'

«Wieso verstehst du dann, daß du Stroh im Kopf hast und kein Gehirn wie die Menschen?»

«Das hat mir eine Krähe gesagt, als wir uns zankten. Ich will's dir erzählen. Heute morgen flog eine große struppige Krähe in meiner Nähe herum, die vom Weizen bei weitem nicht so viel fraß, wie sie auf der Erde verstreute. Dann setzte sie sich frech auf meine Schulter, pickte mich in die Wange und höhnte: Kaggi-kar!, und das nennt sich ein Scheuch! Welcher Kauz von einem Farmer hat sich einbilden können, daß wir Krähen uns vor ihm fürchten würden…' Du wirst verstehen, Elli, daß ich wütend war und unbedingt etwas erwidern mußte. Ich strengte mich furchtbar an, und dann gelang es mir plötzlich. Wie ich mich da freute! Allerdings haperte es zunächst. 'Pff, fff… ff -ort mit dir, du Scheusal!' schrie ich, 'un… un… untersteh dich nur, mich zu zwicken, ich kann fff… ff u… ffurchtbar sein!' Es gelang mir, die Krähe am Flügel zu packen und sie von meiner Schulter zu werfen. Die aber machte sich nichts daraus und begann unverschämt die Ähren zu picken. 'Du glaubst wohl, ich staune?' rief die Krähe. 'Als ob ich nicht wußte, daß in Goodwins Land selbst die Scheuchen sprechen, wenn sie sich nur tüchtig anstrengen! Aber ich hab trotzdem keine Angst vor dir, denn von deinem Pfahl kommst du doch nicht los!' — 'Ffff… ffo… ffort!' schrie ich in meinem Elend, und hätte am liebsten geheult vor Wut. In der Tat, wozu tauge ich auch, wenn ich nicht einmal mit einer Krähe fertig werde.

Trotz ihrer Frechheit war die Krähe anscheinend ein guter Vogel», fuhr der Strohmann fort. «Sie hatte Mitleid mit mir. 'Sei nicht so traurig!' krächzte sie. 'Hättest du ein Gehirn im Kopf, so wärst du so wie alle anderen! Das Gehirn ist das einzig Wertvolle bei den Krähen… und bei den Menschen!' So erfuhr ich, daß der Mensch ein Gehirn hat, und ich keines. Übermütig schrie ich: Ohoho-ho-ho!! Es lebe das Gehirn! Ich werde mir unbedingt eins verschaffen!' Der launische Vogel vergällte mir aber die Freude. 'Karrkarr!' kicherte er, 'wo kein Gehirn da ist, wird's auch keins geben, karr-karr!' und flog davon. Und dann kamst du mit Totoschka. Sag, Elli, kannst du mir ein Gehirn geben?»

«Nein, das kann ich nicht. Das kann wahrscheinlich nur Goodwin in der Smaragdenstadt. Ich gehe zu ihm, um ihn zu bitten, daß er mich nach Kansas heimführt zu Vater und Mutter.»

«Wo befindet sich diese Smaragdenstadt, und wer ist Goodwin?»

«Weißt du es nicht?»

«Nein, ich weiß überhaupt nichts», antwortete der Scheuch traurig. «Du siehst ja, ich bin mit Stroh ausgestopft und hab kein Gehirn.»

«Du tust mir schrecklich leid!» seufzte das Mädchen.

«Hab Dank für dein Mitgefühl. Bist du auch sicher, daß Goodwin mir ein Gehirn gibt, wenn ich dich in die Smaragdenstadt begleite.»

Das weiß ich nicht. Aber wenn der Große Goodwin dir auch keines gibt, so wird es dir doch nicht schlechter gehen als jetzt.»

«Das stimmt», gab der Scheuch zu. «Weißt du», fuhr er zutraulich fort, «mir kann nichts geschehen, weil ich mit Stroh ausgestopft bin. Du kannst mich mit einer Nadel durchstechen, und es wird mir nicht weh tun. Ich möchte aber nicht, daß die Menschen mich einen Strohkopf nennen, und ohne Gehirn kann man doch nichts erlernen!»

«Du Armer», sagte Elli. «Komm mit uns. Ich werde Goodwin bitten, daß er dir hilft.»

«Schönen Dank!» erwiderte der Scheuch und machte wieder einen Knicks.

Der Strohmann war, obwohl nur einen Tag alt, sehr höflich.

Das Mädchen half ihm, die ersten Schritte zu tun, und dann gingen sie zusammen den gelben Backsteinweg entlang, der in die Smaragdenstadt führte.

Totoschka mißfiel der neue Weggefährte. Er lief um ihn herum und beschnupperte ihn, in der Annahme, unterm Rock sei ein Mäusenest verborgen. Er bellte und tat so, als wollte er den Strohmann beißen.

«Hab keine Angst, Totoschka wird dich nicht beißen», sagte Elli zu Scheuch.

«Hab ich ja gar nicht! Kann man vielleicht Stroh beißen? Gib mir deinen Korb, es macht mir nichts aus, ihn zu tragen, denn ich werde niemals müde. Und dann — im Vertrauen gesagt — gibt es nur ein Ding auf der Welt, vor dem ich mich fürchte», flüsterte er heiser dem Mädchen ins Ohr.

«Oh!» rief Elli, «wovor denn? Vor einer Maus?»

«Nein, vor einem brennenden Streichholz!»

* * *

Nach ein paar Stunden wurde der Weg holprig. Der Scheuch stolperte über Löcher, über die Totoschka hinwegsprang, während Elli sie umging. Da der Strohmann immer geradeaus ging, fiel er einmal übers andere der Länge nach hin, was ihm aber nicht weh tat. Elli half ihm jedesmal aufzustehen, und er schritt, über seine Ungeschicklichkeit lachend, unbekümmert weiter.

Dann las Elli am Wegrand einen dicken Ast auf und reichte ihn dem Strohmann, der ihn als Wanderstab benutzte und sich nunmehr beim Gehen viel sicherer fühlte.

Dann wurden die Häuschen immer seltener, und Obstbäume waren überhaupt keine mehr zu sehen. Das Land war hier dünn besiedelt und unfreundlich.

Die Wanderer machten an einem Bach halt. Elli nahm Brot aus ihrem Korb und bot ein Stückchen dem Scheuch an, der es jedoch höflich ablehnte.

«Ich hab niemals Hunger, und das ist für mich sehr vorteilhaft.»

Elli nötigte ihn nicht und gab das Brot Totoschka, der es gierig verschlang und dann Männchen machte, damit man ihm mehr gebe.

«Erzähl mir von dir, Elli, und von deinem Land», bat der Scheuch.

Elli sprach lange über die weite Steppe von Kansas, wo im Sommer alles grau und staubig ist, ganz anders als in Goodwins Wunderland.

Der Scheuch hörte aufmerksam zu.

«Ich verstehe nicht, warum du dich nach deinem trockenen und staubigen Kansas sehnst?»

«Das kannst du nicht, weil du kein Gehirn hast», entgegnete das Mädchen. «Zu Hause ist es immer besser!»

Der Scheuch lächelte pfiffig.

«Das Stroh, mit dem ich ausgestopft bin, ist auf dem Feld gewachsen, meinen Rock hat ein Schneider genäht und die Stiefel ein Schuster. Wo ist nun mein Zuhause? Auf dem Feld, beim Schneider oder beim Schuster?»

Elli wußte nichts zu antworten.

Mehrere Minuten saßen sie schweigend da.

«Vielleicht wirst du mir jetzt etwas erzählen?» fragte das Mädchen.

Der Scheuch blickte sie vorwurfsvoll an.

«Ich bin so jung, daß ich überhaupt nichts weiß. Man hat mich erst gestern gemacht, und ich hab keine Ahnung, was es vor mir auf der Welt gab. Zum Glück malte mir mein Herr zuerst die Ohren, und so konnte ich hören, was um mich vorging. Damals war zufällig ein anderer Käuer bei uns zu Gast, und das erste, was ich vernahm, waren seine Worte: 'Die Ohren sind doch zu groß!' — 'Macht nichts. Sie sind schon so, wie sie sein sollen', entgegnete mein Herr und malte mir das rechte Auge.

Ich betrachtete neugierig die Umgebung, denn — du wirst ja verstehen — es war das erstemal, daß ich die Welt sah.

,Das Auge ist nicht übel', sagte der Gast, 'du hast mit blauer Farbe nicht gegeizt.'

,Das andere scheint mir ein bißchen zu groß', meinte mein Herr, indem er mein zweites Auge zu Ende malte.

Dann machte er mir aus einem Flicken die Nase und malte den Mund. Ich konnte aber noch nicht sprechen, weil ich nicht wußte, wozu der Mund da ist. Der Herr zog mir seinen alten Rock an und setzte mir einen alten Hut auf, von dem die Kinder die Schellen abgeschnitten hatten. Ich war schrecklich stolz und kam mir wie ein richtiger Mensch vor.

,Dieser Kerl wird mit den Krähen schon fertig werden', meinte der Farmer.

,Weißt du was? Nenn ihn Scheuch!' sagte der Gast, und mein Herr folgte seinem Rat.

Die Kinder des Farmers riefen fröhlich: 'Scheuch! Scheuch! Die Krähen verscheuch!', dann trug man mich aufs Feld, setzte mich auf einen Pfahl und ließ mich allein. Es war langweilig, so zu verharren, doch wußte ich mir nicht zu helfen. Gestern fürchteten sich noch die Vögel vor mir, heute nicht mehr. Dann kam die gute Krähe, die mir vom Gehirn erzählte… Wenn Goodwin mir doch eines geben würde!…»

«Ich glaube, er wird dir helfen», tröstete ihn Elli.

«Ja, ja! Es ist unangenehm, ein Strohkopf zu sein, über den sogar die Krähen lachen.»

«Laßt uns gehen!» sagte Elli, stand auf und reichte dem Scheuch den Korb.

Am Abend kamen sie in einen großen Wald. Die Zweige hingen tief herab und versperrten ihnen den gelben Backsteinweg. Dann ging die Sonne unter, und es wurde dunkel.

«Wenn du ein Haus siehst, in dem wir übernachten könnten, so sag es mir», bat Elli mit müder Stimme. «Es ist so unheimlich, im Dunkeln zu wandern.»


Da blieb der Scheuch plötzlich stehen.

«Ich sehe rechts eine kleine Hütte. Wollen wir hingehen?»

«Ja, ja», erwiderte Elli, «ich bin so müde!»

Sie bogen vom Weg ab und standen bald vor der Hütte. Als sie hineingingen, entdeckte Elli in einer Ecke ein Lager aus Moos und Heu. Sie schlief, den Arm um Totoschka, sofort ein, während der Scheuch vor der Schwelle hockte und über die Schlafenden wachte.

Seine Wache war nicht unnütz. Nachts schlich sich ein Tier heran, das einen schwarz-gemischten Pelz und auf dem Kopf, der wie ein Schweinskopf aussah, weiße Streifen hatte.

Wahrscheinlich hatte der Duft des Essens in Ellis Korb das Tierchen angelockt. Der Scheuch glaubte, Elli drohe große Gefahr. Mit angehaltenem Atem stand er da und ließ den Feind (es war bloß ein junger Dachs, was der Strohmann freilich nicht wissen konnte) bis an die Tür herankommen. Als das Tierchen seine Nase neugierig hereinsteckte und den lockenden Duft einsog, versetzte der Scheuch ihm mit der Rute, die er in der Hand hielt, einen saftigen Hieb über den fetten Rücken.

Der Dachs heulte auf und floh ins Dickicht zurück, aus dem noch lange sein Winseln zu hören war…

Der Rest der Nacht verlief ruhig. Die Tiere des Waldes hatten begriffen, daß die Hütte einen verläßlichen Wächter hatte. Der Scheuch, der niemals müde wurde und keinen Schlaf brauchte, saß an der Schwelle, starrte in die Finsternis und wartete ruhig den Morgen ab.

Die Erlösung des eisernen Holzfällers

Als Elli erwachte, saß der Scheuch vor der Schwelle, während Totoschka dem Eichhörnchen im Walde nachjagte. «Wir müssen uns nach Wasser umsehen», sagte das Mädchen.

«Wozu brauchst du es?»

«Um mich zu waschen und zu trinken. Trocknes Brot kann man doch nicht essen.»

«Wie ich sehe, habt ihr Geschöpfe aus Fleisch und Knochen es nicht am besten», meinte der Scheuch nachdenklich. «Ihr müßt unbedingt schlafen, essen und trinken. Freilich habt ihr ein Gehirn, und dafür kann man vieles in Kauf nehmen.»

Sie fanden einen Bach, an dem Elli und Totoschka ihr Frühstück verzehrten. Im Korb blieb noch etwas Brot übrig. Elli wollte zum Backsteinweg zurück, als sie plötzlich ein Stöhnen aus dem Wald vernahm.

«Was mag das sein?'. fragte sie ängstlich.

«Keine Ahnung», erwiderte der Scheuch. «Laßt uns nachschauen.»

Wieder hörten sie das Stöhnen. Die Gefährten bahnten sich einen Weg durch das Dickicht und erblickten eine Gestalt zwischen den Bäumen. Elli lief auf sie zu und blieb wie angewurzelt stehen.

An einem angeschlagenen Baum stand mit erhobener Axt ein Mensch, der ganz aus Eisen war. Kopf, Arme und Beine waren mit Scharnieren an den Körper befestigt, und anstelle eines Hutes hatte er einen bronzenen Trichter auf. Die Krawatte an seinem Hals war gleichfalls aus Eisen. Der Mann stand unbeweglich da, die Augen weit geöffnet.

Totoschka stürzte bellend auf ihn zu und versuchte, ihn am Bein zu schnappen, sprang aber winselnd zurück, weil er sich beinahe die Zähne ausgebrochen hätte.

«Eine Gemeinheit, wau-wau-wau», klagte er, «einem anständigen Hund ein eisernes Bein hinzuhalten!»

«Das ist wohl eine Waldscheuche», meinte der Scheuch, «obwohl ich nicht verstehe, wen sie hier bewacht.»

«Hast du gestöhnt?» fragte Elli.

«Ja», gab der eiserne Mann zur Antwort. «Schon ein Jahr steh ich hier, und niemand kommt mir zu Hilfe…»

«Wie kann man dir helfen?» fragte Elli teilnahmsvoll.

«Meine Gelenke sind eingerostet, und ich kann mich nicht bewegen. Wenn man mich einschmieren würde, wäre ich wie neu. Die Ölkanne steht auf einem Brett in meiner Hütte.»

Elli und Totoschka liefen zur Hütte, während der Scheuch den eisernen Holzfäller neugierig von allen Seiten betrachtete.

«Sag, lieber Freund», fragte er, «ist ein Jahr viel oder wenig?»

Oh, ein Jahr ist sehr viel! Ganze dreihundertfünfundsechsig Tage!»

«Dreihundertfünfundsechzig…», wiederholte der Scheuch. «Sind das mehr als drei?»

«Bist du aber dumm!» sagte der Holzfäller. «Du kannst wohl nicht zählen?»

«Da irrst du!» entgegnete der Scheuch stolz, «ich kann sehr gut zählen.» Und er begann zu zählen, wobei er die Finger umbog: «Mein Herr hat mich gemacht — das ist eins! Ich hab mich mit der Krähe gezankt — das ist zwei! Elli hat mich vom Pfahl heruntergeholt — das ist drei! Und sonst ist mit mir nichts geschehen, also brauche ich auch nicht weiter zu zählen!»

Der Eiserne Holzfäller wußte vor Staunen nichts zu erwidern. In diesem Augenblick kam Elli mit der Ölkanne.

«Wo soll ich dich einschmieren?»

«Zuerst den Hals», antwortete der eiserne Mann.

Elli schmierte ihm den Hals, doch dieser war völlig eingerostet, und der Scheuch mußte den Kopf des Holzfällers lange hin und her drehen, bis der Hals zu knarren aufhörte.

«Und jetzt noch die Arme bitte!»

Elli schmierte seine Armgelenke, und der Scheuch hob und senkte behutsam die Arme des Holzfällers, bis sie tadellos funktionierten. Als dies geschehen war, holte der eiserne Mann tief Atem und warf die Axt von sich.

«Oh, wie ich mich wohl fühle!» rief er. «Ich hatte die Axt erhoben, ehe ich einrostete, und jetzt bin ich schrecklich froh, sie wieder wegzuwerfen. Und nun gib mir die Ölkanne, damit ich die Beine einschmiere. Dann wird alles in Ordnung sein.»

Als er die Beine eingeschmiert hatte und sie wieder bewegen konnte, dankte er Elli viele Male, denn er war sehr höflich.

«Ich hätte hier so lange gestanden, bis ich zu Staub zerfallen wäre. Ihr habt mir das Leben gerettet. Wer seid ihr?»

«Ich heiße Elli, und das sind meine Freunde.»

«Toto!»

«Scheuch ist mein Name. Ich bin mit Stroh ausgestopft!»

«Das kann man an deinem Gerede leicht erkennen», stellte der Eiserne Holzfäller fest. «Wie seid ihr hergekommen?»

«Wir ziehen in die Smaragdenstadt, wo der große Zauberer Goodwin lebt, und haben in deiner Hütte übernachtet.»

«Was führt euch zu Goodwin?»

«Er soll mir helfen, nach Kansas heimzukehren, zu Vater und Mutter», erwiderte Elli.

«Und ich will ihn um ein bißchen Gehirn für meinen Strohkopf bitten», sagte der Scheuch.

«Ich gehe einfach hin, weil ich Elli lieb hab und weil es meine Pflicht ist, sie vor Feinden zu schützen!» sagte Totoschka.

Der Eiserne Holzfäller dachte angestrengt nach.

«Was meint ihr, könnte mir Goodwin ein Herz geben?»

«Ich glaube, er kann's», sagte Elli. «Das wird ihm nicht schwerer fallen, als dem Scheuch ein Gehirn zu geben.»

«Wenn ihr mich mitnehmt, so will ich auch in die Smaragdenstadt ziehen und den Großen Goodwin um ein Herz bitten. Das ist mein sehnlichster Wunsch.»

«Oh, liebe Freunde», rief Elli aus, «wie froh ich bin! Jetzt seid ihr zwei, die sehnliche Wünsche haben!»

«Komm mit uns», sagte auch der Scheuch.

Der Eiserne Holzfäller bat Elli, seine Ölkanne zu füllen und in den Korb zu legen.

«Wenn's regnet, könnte ich wieder einrosten», sagte er, «und ohne die Ölkanne ergeht's mir schlimm…»

Er nahm die Axt, und sie schritten nun zu viert durch den Wald auf den gelben Backsteinweg zu.

Es war für Elli und den Scheuch ein großes Glück, einen so starken und geschickten Gefährten wie den eisernen Mann gefunden zu haben.

Als der Holzfäller sah, wie sich der Scheuch im Gehen auf seinen knorrigen Knüppel stützte, da schnitt er einen geraden Ast von einem Baum ab und machte daraus im Handumdrehen einen Spazierstock für den Strohmann.

Bald kamen die Wanderer zu einer Stelle, wo undurchdringliches Gestrüpp ihnen den Weg versperrte. Da machte sich der Eiserne Holzfäller mit seiner riesigen Axt ans Werk, und augenblicklich lag der Weg wieder frei vor ihnen.

Elli war so sehr in Gedanken vertieft, daß sie nicht merkte, wie der Scheuch in einen Graben stürzte. Er mußte seine Gefährten zu Hilfe rufen.

«Warum bist du dem Graben nicht ausgewichen?» fragte der Eiserne Holzfäller.

«Das weiß ich nicht», antwortete der Scheuch offenherzig. «Siehst du, mein Kopf ist voller Stroh, und ich gehe zu Goodwin, um mir bei ihm ein bißchen Gehirn auszubitten.»

«Soso», sagte der Holzfäller. «Ich glaube aber, ein Gehirn ist noch lange nicht das beste auf der Welt.»

«Wieso?» staunte der Scheuch. «Wie meinst du das?»

«Früher hatte auch ich ein Gehirn», erklärte der Eiserne Holzfäller, «wenn ich aber zwischen einem Gehirn und einem Herzen zu wählen hab, so ziehe ich das Herz vor.»

«Warum?» fragte der Scheuch.

«Hört euch meine Geschichte an, dann werdet ihr alles verstehen.»

Während sie weitergingen, erzählte der eiserne Mann:

«Ich bin Holzfäller. Als ich zu einem Jüngling herangewachsen war, entschloß ich mich zu heiraten. Ich hatte ein schönes Mädchen liebgewonnen und hielt um ihre Hand an. Damals war ich noch aus Fleisch und Knochen wie alle anderen Menschen. Meine Liebste lebte bei einer bösen Tante, die sie nicht fortlassen wollte, weil das Mädchen für sie arbeitete. Die Tante ging zur Zauberin Gingema und versprach ihr einen Korb voll fetter Blutegel, falls sie die Hochzeit verhindern würde.»

«Die böse Gingema ist jetzt tot!» fiel ihm der Scheuch ins Wort.

«Wer hat sie getötet?»

«Elli. Sie kam mit ihrem Tötenden Häuschen angeflogen und ging damit auf die Zauberin nieder, krak! krak!»

«Schade, daß das nicht früher geschah», seufzte der eiserne Mann und fuhr fort: «Die Gingema hat meine Axt verhext. Sie prallte von einem Baum ab und trennte mir mein linkes Bein vom Rumpf. Ich war sehr traurig, denn ohne Bein konnte ich doch keine Bäume fällen, und ging zu einem Schmied, der mir ein erstklassiges eisernes Bein machte. Gingema aber verhexte wieder meine Axt, und diese hieb mir das rechte Bein ab. Ich ging von neuem zum Schmied. Das Mädchen liebte mich und war bereit, mich auch als Krüppel zu heiraten. 'Wir werden an Stiefeln und Beinkleidern viel Geld sparen', sagte sie. Die böse Hexe gab uns aber keine Ruhe. Sie wollte unbedingt ihren Korb mit den Blutegeln bekommen. Die Axt hieb mir die Arme ab, und der Schmied fertigte mir neue aus Eisen an. Dann hieb mir die Axt den Kopf ab, und ich glaubte schon, es sei um mich geschehen. Als der Schmied davon erfuhr, fertigte er für mich einen prächtigen eisernen Kopf an. Ich arbeitete weiter, und wir liebten uns, das Mädchen und ich, wie früher…»

«Man hat dich also stückweise zusammengefügt», stellte der Scheuch tiefsinnig fest. «Mich hat mein Herr in einem Zug gemacht…»

«Das Schlimmste stand aber bevor», fuhr der Holzfäller betrübt fort. «Als die tückische Gingema sah, daß sie auf diese Weise nichts ausrichten kann, beschloß sie, mir den Garaus zu machen. Sie verhexte abermals meine Axt, und diese hieb mich entzwei. Glücklicherweise kam auch das dem Schmied zu Ohren, und er fertigte mir einen eisernen Rumpf an, den er durch Scharniere mit dem Kopf, den Armen und den Beinen verband. Leider hatte ich kein Herz mehr, denn das konnte mir der Schmied nicht einsetzen. Da dachte ich, daß ein Mensch ohne Herz kein Recht habe, ein Mädchen zu lieben, und ich entband meine Liebste ihres Versprechens. Seltsamerweise war das Mädchen gar nicht erfreut darüber, sie sagte, daß sie mich nach wie vor liebe und warten werde, bis ich's mir überlege. Jetzt weiß ich nichts von ihr, denn ich habe sie schon über ein Jahr nicht gesehen…»

Der Eiserne Holzfäller seufzte, und Tränen rannen ihm aus den Augen.

«Vorsicht», rief der Scheuch erschrocken und wischte mit seinem blauen Taschentuch die Tränen des eisernen Mannes ab. «Du könntest ja wieder verrosten!»

«Ich danke dir, mein Freund!» sagte der Holzfäller. «Ich hab ganz vergessen, daß ich nicht weinen darf. Mir ist jede Art von Wasser schädlich… Ich war also stolz auf meinen neuen eisernen Körper und fürchtete mich nicht mehr vor der verhexten Axt. Nur vor Rost fürchtete ich mich, und deshalb trug ich immer eine Ölkanne bei mir. Nur einmal vergaß ich sie, und ausgerechnet damals regnete es in Strömen. Ich rostete ein, daß ich mich nicht von der Stelle bewegen konnte, und stand so da, bis ihr mich erlöst habt. Ich bin davon überzeugt, daß es die tückische Ginaema war, die den Regen damals auf mich niedergehen ließ… Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie. schrecklich es ist, ein volles Jahr im Walde zu stehen und darüber nachzudenken, daß man kein Herz hat!»

«Damit kann man höchstens das Aufgespießtsein auf einem Pfahl mitten in einem Weizenfeld vergleichen», unterbrach ihn der Scheuch. «Allerdings kamen Menschen vorbei, und ich konnte mich auch mit den Krähen unterhalten.»

«Als ich geliebt wurde, hielt ich mich für den glücklichsten Menschen der Welt», fuhr der Eiserne Holzfäller seufzend fort. «Wenn Goodwin mir ein Herz gibt, werde ich ins Land der Käuer zurückkehren und meine Liebste heiraten. Vielleicht wartet sie noch auf mich…»

«Und ich ziehe trotzdem ein Gehirn vor», beharrte der Scheuch, «denn ohne Gehirn ist das Herz zu nichts nütze.»

«Ich aber will ein Herz», beharrte der Eiserne Holzfäller. «Ein Gehirn macht den Menschen noch nicht glücklich, und das Glück ist doch das Schönste auf Erden.»

Elli schwieg, denn sie wußte nicht, wer von ihren neuen Gefährten recht hatte.

Elli wird von einem Menschenfresser geraubt

Der Wald wurde immer dichter. Die Zweige, die sich in den Kronen verflochten, ließen keinen Sonnenstrahl durch. Auf dem gelben Backsteinweg war es fast dunkel.

Die Wanderer gingen bis spätabends. Elli war sehr müde, und der Eiserne Holzfäller nahm sie auf die Arme. Der Scheuch, der die schwere Axt trug, wankte hinterher.

Schließlich machten sie halt, um zu übernachten. Der Eiserne Holzfäller baute für Elli eine bequeme Laubhütte, vor der er mit dem Scheuch die ganze Nacht über sitzen blieb. Sie lauschten den Atemzügen des Mädchens und wachten über ihren Schlaf.

Am Morgen gingen sie weiter. Der Wald lichtete sich, die Bäume am Wegrand standen nicht mehr so dicht, und die Sonne schien hell auf die gelben Backsteine herab.

Wahrscheinlich hielt hier jemand den Weg instand, denn die Zweige, die der Wind abgebrochen hatte, lagen in Stapeln am Wegrand aufgeschichtet.

Plötzlich erblickte Elli einen Pfahl mit einem Brettchen, auf dem zu lesen war:

Wanderer, spute dich!

Hinter der Biegung werden

alle deine Wünsche in Erfüllung gehen!

Elli staunte.

«Was bedeutet das? Werde ich von hier geradewegs nach Kansas kommen, zu Vater und Mutter?»

«Und ich?» fügte Totoschka hinzu, «werde ich vielleicht Nachbars Rektor, den Prahlhans, verprügeln, der so tut, als sei er stärker als ich?»

Elli war außer sich vor Freude und stürzte vorwärts. Totoschka folgte ihr mit frohem Gebell.

Der Eiserne Holzfäller und der Scheuch, die der interessante Streit ob das Herz dem Gehirn vorzuziehen sei oder umgekehrt, völlig in Anspruch nahm, merkten gar nicht,

das Mädchen ihnen vorausgeeilt war. Plötzlich hörten sie es schreien und Totoschka wütend bellen. Sie liefen auf den Lärm zu, sahen aber nur noch eine zottige dunkle Gestalt im Dickicht verschwinden. Neben einem Baum lag ohnmächtig Totoschka, aus dessen Nase Blut strömte.

«Was ist geschehen?» fragte der Scheuch bestürzt. «Mir scheint, ein wildes Tier hat Elli geraubt.»

Der Eiserne Holzfäller erwiderte nichts. Er blickte nur starr geradeaus und fuchtelte drohend mit seiner riesigen Axt.

«Quirr… quirr…», schnarrte ein Eichhörnchen höhnisch auf dem Wipfel eines Baumes. «Was ist geschehen? Zwei große kräftige Männer haben auf ein kleines Mädchen nicht aufpassen können, und ein Menschenfresser hat es geraubt.»

«Ein Menschenfresser?» wiederholte der Eiserne Holzfäller. «Ich wußte nicht, daß es Menschenfresser in diesem Wald gibt.»

«Quirr… quirr… Das weiß doch jede Ameise! Schämen sollt ihr euch! Habt auf das Mädelchen nicht achtgeben können! Nur das kleine schwarze Tierchen hat es tapfer ver-

teidigt und den Menschenfresser gebissen, doch dieser versetzte ihm einen solchen Tritt mit seinem ungeheuren Fuß, daß es jetzt wahrscheinlich sterben wird…»

Das Eichhörnchen feixte und verhöhnte die beiden so sehr, daß sie vor Scham zu vergehen glaubten.

«Wir müssen Elli retten!» rief der Scheuch.

«Ja, ja», sagte der Eiserne Holzfäller. «Elli hat uns erlöst, und wir müssen sie dem Menschenfresser entreißen. Sonst sterbe ich vor Schmerz…» Tränen rannen über seine Wangen.

«Du weinst ja schon wieder!» rief der Scheuch entsetzt und trocknete ihm die Augen mit dem Taschentuch. «Die Ölkanne ist ja bei Elli!»

«Wenn ihr dem kleinen Mädchen helfen wollt, so kann ich euch zum Menschenfresser führen, obwohl ich mich sehr vor ihm fürchte», sagte das Eichhörnchen.

Der Eiserne Holzfäller bettete Totoschka behutsam auf das weiche Moos und sagte:

«Wenn wir zurückkehren, werden wir ihn gesund-pflegen!» Und zum Eichhörnchen gewandt, sagte er: «Führe uns!»

Das Tierchen hüpfte von Zweig zu Zweig, und die Freunde folgten ihm. Als sie tief in den Wald eingedrungen waren, sahen sie eine graue Mauer vor sich.

Das Schloß des Menschenfressers stand auf einem Hügel: Eine hohe Mauer umgab es, die selbst eine Katze nicht hätte erklimmen können. Davor zog sich ein Wassergraben. Der Menschenfresser hatte die Brücke hochgezogen und zwei Riegel vor das eiserne Tor geschoben.

Er lebte in seinem Schloß allein. Früher hatte er Schafe, Kühe und Pferde und viele Diener gehalten. Zu jener Zeit kamen oft Wanderer, die in die Smaragdenstadt zogen, am Schloß vorbei. Der Menschenfresser fiel über sie her und fraß sie. Als die Käuer davon erfuhren, hörte der Verkehr auf der Straße auf.

Da begann der Menschenfresser seine Burg zu verwüsten. Zuerst fraß er die Hammel, Kühe und Pferde und dann die Diener, einen nach dem andern. In den letzten Jahren lauerte er im Wald unvorsichtigen Kaninchen und Hasen auf, die er mit Haut und Haar verschlang.

Als der Menschenfresser Elli raubte, jubelte er im Vorgefühl des üppigen Schmauses. Er trug das Mädchen in das Schloß, wo er es fesselte und auf den Küchentisch legte. Dann begann er sein großes Messer zu wetzen.

Klick… klick, klirrte das Messer.

Der Menschenfresser frohlockte:

«Ba-ga-ra! Eine solche Beute lob ich mir! Das wird herrlich schmecken. Ba-ga-ra!»

Und zu Elli:

«Ba-ga-ra! Das hab ich mir fein ausgedacht, das Brettchen mit der Aufschrift. Du glaubtest wohl, ich würde deine Wünsche erfüllen. Das könnte dir so passen! Nein, das hab ich als Köder für solche Gimpel wie du gemacht, ba-ga-ra!»

Elli flehte den Menschenfresser um Erbarmen an. Der aber hörte sie nicht und fuhr fort, das Messer zu wetzen.

Klick… klick… klick…

Er hob das Messer über das Mädchen, das vor Entsetzen die Augen schloß, ließ die Hand aber wieder sinken und gähnte.

«Ba-ga-ra. Das Wetzen des Messers hat mich müde gemacht. Ich will mich lieber für ein Stündchen hinlegen. Nach dem Schlaf schmeckt das Essen viel besser!»

Der Menschenfresser ging in sein Schlafgemach, und bald schnarchte er so laut, daß es im ganzen Schloß und sogar im Walde zu hören war.

Der Eiserne Holzfäller und der Scheuch standen vor dem Wassergraben und wußten nicht, was sie tun sollten. «Ich würde hinüberschwimmen». sagte der Scheuch, «doch befürchte ich, daß das Wasser mir die Augen, die Ohren und den Mund wegwäscht, und dann bin ich blind, taub und stumm.»

«Und ich würde ertrinken», sagte der Eiserne Holzfäller, «weil ich doch so schwer bin. Ja, selbst wenn ich aus dem Wasser herauskäme, würde ich sogleich einrosten, und die Ölkanne ist doch nicht da…»

Während sie so standen und überlegten, hörten sie plötzlich das Schnarchen des Menschenfressers.

«Wir müssen Elli befreien, solange er schläft», sagte der Eiserne Holzfäller. «Warte, mir ist was eingefallen. Ich weiß. wie wir über den Graben kommen.»

Er fällte einen hohen Baum, so daß er auf die Schloßmauer fiel und eine Art Brücke bildete.

«Steig hinauf», sagte er zum Scheuch. «Du bist leichter als ich.»

Der Scheuch trat an den Baum heran, wich aber sofort ängstlich zurück.

Als das Eichhörnchen dies sah, riß ihm die Geduld. Es sprang auf den Stamm und lief flugs auf die Mauer zu.

«Quirr… quirr… Du Feigling!» rief es zum Scheuch hinüber. «Hast du gesehen, wie man's macht?» Als es aber einen Blick durchs Schloßfenster warf, schrie es voller Entsetzen: «Das Mädelchen liegt gefesselt auf dem Küchentisch, und daneben liegt ein großes Messer. Das Mädelchen weint… Ich sehe die Tränen fließen…»

Als der Scheuch dies hörte, vergaß er jede Gefahr und kletterte fast noch flinker als das Eichhörnchen auf die Mauer.

«O weh», schrie er, als er durch das Küchenfenster das bleiche Gesicht Ellis erblickte, und plumpste wie ein Sack in den Hof.

Noch ehe er aufstand, sprang das Eichhörnchen auf seinen Rücken, lief über den Hof zum Fenster, schlüpfte durch das Gitter in die Küche und begann am Strick, mit dem Elli gefesselt war, zu nagen.

Der Scheuch schob die schweren Riegel zurück, ließ die Zugbrücke herab, und der Eiserne Holzfäller trat in den Hof. Er rollte die Augen und schwang drohend seine Axt.

Das wird dem Menschenfresser Angst machen, wenn er plötzlich erwachen und auf den Hof hinaustreten sollte, dachte der Holzfäller.

«Hierher, hier!» schnarrte das Eichhörnchen aus der Küche, und die Freunde eilten auf den Ruf herbei.

Der Holzfäller klemmte die Axt in den Türspalt, stemmte sich dagegen, und die Tür flog auf. Elli sprang vom Tisch, und alle vier, der Eiserne Holzfäller, der Scheuch, Elli und das Eichhörnchen, liefen, so schnell sie die Beine trugen, in den Wald.

Unter den Füßen des Eisernen Holzfällers dröhnten die Steinfliesen des Schloßhofs, worüber der Menschenfresser erwachte. Er stürzte aus seinem Gemach, und als er Elli nicht vorfand, raste er wie wild auf das Tor zu.

Der Menschenfresser war nicht hoch von Wuchs, aber sehr dick. Sein Kopf sah wie ein Kessel aus, sein Bauch wie ein Faß. Er hatte lange Arme wie ein Gorilla, seine Beine staken in hohen Stiefeln mit dicken Sohlen, und er trug einen zottigen Mantel aus Tierfellen. Auf dem Kopf hatte er statt eines Helms eine große eherne Kasserolle gestülpt, mit dem Griff nach hinten. Seine Hand umklammerte eine mächtige Keule mit scharfen Nägeln am dicken Ende.

Er brüllte vor Wut, stampfte mit seinen schweren Stiefeln über die Fliesen und fletschte seine scharfen Zähne, klaz-klaz-klaz.

«Ba-ga-ra, ihr Schelme sollt mir nicht entkommen!»

Der Menschenfresser holte die Flüchtenden schnell ein. Als der Holzfäller dies sah, lehnte er die entsetzte Elli an einen Baum an und machte sich kampfbereit. Der Scheuch blieb zurück, weil sich seine Füße immerfort in den Wurzeln und die Brust in den Zweigen verfingen. Als der Menschenfresser ihn erreichte, warf sich der Scheuch zu Boden, und der Menschenfresser, der das nicht erwartet hatte, stolperte und fiel hin.

«Ba-ga-ra! Was ist denn das für ein Scheusal?»

Der Menschenfresser war noch ganz benommen, da sprang der Eiserne Holzfäller auf ihn zu und hieb ihn mit seiner scharfen Axt mitten durch die Kasserolle entzwei.

«Quirr… quirr, das hast du gut gemacht», rief das Eichhörnchen begeistert, hüpfte durch die Bäume und verbreitete im ganzen Wald die Kunde vom Tod des Menschenfressers.

«Großartig!» lobte der Eiserne Holzfäller den Scheuch. «Du hättest ihn nicht besser überrumpeln können, selbst wenn du ein Gehirn hättest!»

«Du bist ja schwer verletzt!» rief Elli erschrocken.

«Nicht der Rede wert», wehrte der Scheuch gleichmütig ab. «Man wird freilich die Löcher zunähen müssen. Das Ungeheuer hat mir den Rock zerrissen, und ich fürchte, mein Stroh fällt durch.»

Elli nahm Nadel und Zwirn und begann zu flicken. Während sie so dasaß und nähte, drang ein leises Winseln an ihr Ohr. Der Eiserne Holzfäller stürzte ins Dickicht, und im nächsten Augenblick kam er mit Totoschka auf den Armen zurück. Das tapfere Hündchen war aus seiner Ohnmacht erwacht und der Spur des Menschenfressers nachgekrochen.

Elli dankte ihren Freunden von Herzen für ihre Opferbereitschaft und Tapferkeit. Sie nahm den entkräfteten Totoschka auf die Arme, und die kleine Schar zog weiter. Bald erreichten sie den gelben Backsteinweg, der zur Smaragdenstadt führte.

Die Begegnung mit dem feigen Löwen

In jener Nacht schlief Elli in einer Baumhöhle auf einem weichen Lager aus Moos und Laub. Sie träumte, daß sie gefesselt daliege und der Menschenfresser die Hand mit dem ungeheuren Messer über sie erhebe. Elli schrie auf und erwachte.

Am Morgen zog die kleine Schar weiter. Es war unheimlich im Walde. Im Dickicht hörte man die Tiere brüllen. Elli zitterte vor Angst, und Totoschka schmiegte sich mit eingezogenem Schwanz an die Beine des Eisernen Holzfällers, vor dem es nach dem Sieg über den Menschenfresser große Achtung empfand.

Unterwegs sprachen die Wanderer leise über die Ereignisse des Vortages und freuten sich über Ellis Rettung. Der Holzfäller lobte in einem fort die Findigkeit des Scheuchs.

«Wie flink du dich dem Menschenfresser vor die Füße geworfen hast, Freundchen

Scheuch!» sagte er. «Ist dir vielleicht ein Gehirn im Kopf gewachsen?»

«Nein, da ist noch immer das alte Stroh», erwiderte der Scheuch, seinen Kopf betastend.

Plötzlich schoß mit furchtbarem Gebrüll ein riesiger Löwe aus dem Gehölz. Er versetzte dem Scheuch einen Hieb, daß dieser sich überschlug und am Rande des Weges hinplumpste wie ein weiches Kissen. Ein zweiter Hieb traf den Eisernen Holzfäller. Aber die Krallen schlugen auf das Eisen, und der Holzfäller sank nur um und blieb sitzen. Der

Trichter flog ihm vom Kopf.

Der kleine Totoschka warf sich tapfer dem Feind entgegen.

Das Ungeheuer sperrte seinen Rachen auf, um das Hündchen zu verschlingen, doch da stürzte Elli vor und deckte Totoschka mit ihrem Körper.

«Halt! Wag es nicht, Totoschka anzurühren», schrie sie zornig.

Der Löwe blieb wie angewurzelt stehen.

«Verzeiht mir», sagte er, «ich hab ihn doch nicht gefressen!»

«Aber versucht hast du es! Schämst du dich nicht, Schwache zu überfallen? Du Feigling!»

«Wo… woher wißt Ihr, daß ich feige bin?» stotterte verdutzt der Löwe. «Ha-at es Euch jemand gesagt?»

«Das sieht man doch an deinem Benehmen!»

«Merkwürdig», sagte der Löwe verlegen. «Wie sehr ich mich auch bemühe, meine Feigheit zu verbergen, sie tritt dennoch zum Vorschein. Ich war schon immer feige, und ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll.»

«Solche Unverschämtheit, einen armen, mit Stroh ausgestopften Scheuch zu überfallen!»

«Ist er wirklich mit Stroh ausgestopft?» fragte der Löwe, den Scheuch verwundert betrachtend.

«Natürlich», erwiderte Elli, noch immer zornig.

«Jetzt versteh ich, warum er so leicht und weich ist», sagte der Löwe. «Und der andere, ist der auch ausgestopft?»

«Nein, er ist aus Eisen.»

«Ach so, darum hab ich mir fast die Krallen an ihm zerbrochen. Und was ist das für ein kleines Tier, das du so lieb hast?»

«Das ist mein Hündchen Totoschka.»

«Ist es aus Eisen oder mit Stroh ausgestopft?»

«O nein! Das ist ein wirkliches Hündchen.»

«Schau mal an, so klein und so tapfer!» wunderte sich der Löwe.

«Bei uns in Kansas sind alle Hunde tapfer!» bemerkte Totoschka stolz.

«Ein drolliges Tierchen», sagte der Löwe. «Nur ein Feigling wie ich konnte über einen solchen Knirps herfallen…»

«Weshalb bist du denn feige?» fragte Elli, den riesigen Löwen musternd.

«Ich bin's von Geburt. Freilich halten mich alle für tapfer — der Löwe ist doch der König der Tiere! Wenn ich brülle — und ich brülle sehr laut, ihr habt's ja gehört -, so nehmen die Tiere und Menschen Reißaus. Vor einem Elefanten oder einem Tiger würde ich mich aber fürchten, mein Ehrenwort! Ein Glück, daß niemand weiß, wie feige ich bin», sagte der Löwe und trocknete sich die Tränen mit dem Büschel seines Schwanzendes. «Ich schäme mich sehr und weiß nicht, was ich anfangen soll.»

«Vielleicht hast du ein krankes Herz?» fragte der Holzfäller.

«Möglich», räumte der Feige Löwe ein.

«Du Glücklicher! Und bei mir kann das Herz nicht krank sein, weil ich keines hab.»

«Hätte ich kein Herz», meinte der Löwe nachdenklich, «so wär ich vielleicht auch kein Feigling.»

«Sag, raufst du dich gern mit anderen Löwen?» wollte Totoschka wissen.

«Wo denkst du hin… Ich fliehe sie wie die Pest», gestand der Löwe.

«Pfui!» das Hündchen rümpfte die Nase. «Wozu taugst du denn?»

«Hast du ein Gehirn?» fragte der Scheuch den Löwen.

«Wahrscheinlich ja. Aber ich hab es noch niemals gesehen.»

«Mein Kopf ist mit Stroh ausgestopft, und ich gehe zum Großen Goodwin, um mir ein bißchen Gehirn bei ihm auszubitten», sagte der Scheuch.

«Und ich, um ein Herz von ihm zu bekommen», sagte der Eiserne Holzfäller.

«Ich will ihn bitten, mir und Totoschka zu helfen, nach Kansas heimzukehren…»

«…wo ich mit Nachbars Hektor, dem Prahlhans, ein Hühnchen zu rupfen hab», fügte das Hündchen hinzu.

«Ist Goodwin denn so mächtig?» wunderte sich der Löwe.

«Das alles ist für ihn eine Kleinigkeit», erwiderte Elli.

«Vielleicht könnte er mir Mut geben?»

«Das kann er ebenso leicht, wie mir ein Gehirn geben», versicherte der Scheuch.

«Oder mir ein Herz», fügte der Eiserne Holzfäller hinzu.

«Oder mich nach Kansas bringen», schloß Elli.

«Dann nehmt mich in eure Gesellschaft», bat der Feige Löwe. «Oh, wenn ich ein bißchen Mut bekäme… Es ist mein sehnlichster Wunsch!»

«Das freut mich ungeheuer!» rief Elli. «Das wäre nun der dritte Wunsch, und wenn alle drei in Erfüllung gehen, so führt mich Goodwin in meine Heimat. Komm mit uns…»

«Und sei uns ein guter Gefährte», sagte der Holzfäller.

«Du wirst Elli vor den arideren Tieren schützen. Sie sind wohl noch feiger als du, wenn sie schon bei deinem bloßen Gebrüll davonlaufen.»

«Sie sind feige!» brummte der Löwe, «doch werde ich darum nicht mutiger.»

Die Schar machte sich auf den Weg, und der Löwe schritt majestätisch an Ellis Seite. Zunächst gefiel auch er dem Hündchen nicht. Es dachte daran, wie er es hatte fressen wollen. Bald aber gewöhnte es sich an ihn, sie wurden Freunde.

Die Säbelzahntiger

An jenem Abend machten sie nach langem Marsch vor einem mächtigen Baum halt, um zu übernachten. Der Eiserne Holzfäller hackte Holz und machte ein großes Feuer an, an dem sich Elli sehr wohl fühlte. Sie rief ihre Freunde, an ihrem Vergnügen teilzuhaben. Der Scheuch lehnte entschieden ab. Er hielt sich in respektvoller Entfernung und paßte auf, daß kein Funke auf seinen Rock fiel.

«Mein Stroh und das Feuer — das sind Dinge, die keine Nachbarn sein mögen», erklärte er.

Auch der Feige Löwe hielt sich dem Feuer fern.

«Wir wilden Tiere haben fürs Feuer wenig übrig», meinte er. «In deiner Gesellschaft, Elli, werde ich mich vielleicht daran gewöhnen, vorläufig aber habe ich zu sehr Angst davor…»

Nur Totoschka fürchtete nicht das Feuer. Er lag auf Ellis Schoß, blinzelte mit seinen kleinen glänzenden Augen und genoß die Wärme. Elli teilte mit ihm das letzte Stück Brot.

«Was werde ich morgen essen?» fragte sie, die Krümel sorgfältig auflesend.

;,Wenn du willst, so fang ich dir einen Hirsch im Wald», erbot sich der Löwe. «Freilich habt ihr Menschen einen schlechten Geschmack, denn ihr zieht gebratenes Fleisch dem rohen vor. Aber du kannst es ja auf den Kohlen rösten.»

«Oh, nur nicht töten!» flehte der Eiserne Holzfäller. «Ich würde um den armen Hirsch so schrecklich weinen, daß kein Öl in der Welt ausreichen würde, mein Gesicht vor Rost zu schützen.»

«Wie ihr wollt», brummte der Löwe und ging in den Wald. Er kam spät zurück, kauerte sich mit sattem Schnurren abseits vom Feuer hin und richtete seine gelben Augen mit den schmalen Pupillen auf die Flamme.

Wozu der Löwe ins Dickicht gegangen war, wußte keiner. Er schwieg, und die anderen fragten ihn nicht danach.

Auch der Scheuch ging in den Wald. Er entdeckte einen Baum, an dem Nüsse hingen, die er mit seinen weichen ungeschickten Fingern pflückte. Sie glitten ihm aber aus der Hand, und er mußte sie im Gras zusammenklauben. Es war finster im Wald wie in einem Keller, doch der Scheuch sah bei Nacht ebensogut wie bei Tag, und die Dunkelheit störte ihn nicht im geringsten. Kaum hatte er aber eine Handvoll Nüsse gesammelt, da fielen sie ihm wieder ins Gras, und er mußte von vorn beginnen. Er tat es dennoch mit Vergnügen, denn er hatte Angst, sich dem Feuer zu nähern. Erst als dieses am Erlöschen war, trat er, den Korb voller Nüsse, auf Elli zu, die ihm herzlich dankte.

Am Morgen aß sie die Nüsse. Sie bot auch Totoschka welche an, doch dieser wandte sich verächtlich ab. Er war sehr früh aufgestanden und hatte eine fette Maus im Wald erbeutet (glücklicherweise sah es der Holzfäller nicht).

Die Wanderer zogen weiter. Der Tag sollte ihnen viele Abenteuer bringen. Es verging kaum eine Stunde, als sie an eine Schlucht kamen, die sich nach links und nach rechts hinzog, soweit das Auge reichte.

Es war eine breite und tiefe Schlucht. Elli kroch auf ihren Rand zu, und als sie hinunterschaute, schwindelte ihr, und unwillkürlich wich sie zurück. Tief unten ragten spitze Felsen, zwischen denen ein Bach rauschte, der nicht zu sehen war.

Die Wände waren sehr steil. Traurig standen die Gefährten da. Sie dachten, daß dieses Hindernis unüberwindlich sei und sie jetzt umkehren müßten. Der Scheuch schüttelte den Kopf, der Eiserne Holzfäller griff sich an die Brust, und der Feige Löwe ließ betrübt die Schnauze hängen.

«Was fangen wir nun an?» fragte Elli verzweifelt.

«Wenn ich's wußte!» erwiderte betrübt der Eiserne Holzfäller, und der Löwe kratzte sich mit seiner Tatze verlegen die Nase.

« Oh, welch ungeheurer Graben!» rief der Scheuch. «Über den können wir nicht springen. Da werden wir nun sitzenbleiben!»

«Ich würde ihn schon überspringen», meinte der Löwe, die Entfernung abschätzend.

«Mit uns natürlich?» fragte der Scheuch.

«Wir können's versuchen», erwiderte der Löwe. «Wer wagt's als erster?»

«Wahrscheinlich ich», sagte der Scheuch. «Wenn Elli abstürzt, bricht sie sich das Genick, und auch dem Eisernen Holzfäller könnte es schlimm ergehen. Mir aber geschieht bestimmt nichts, darauf könnt ihr euch verlassen!»

«Ich weiß selber nicht, ob ich mich fürchte oder nicht!» unterbrach der Löwe unwirsch das Geschwätz des Scheuchs. «Da uns aber nichts anderes übrigbleibt, werd ich eben springen. Komm!»

Der Scheuch stieg auf den Rücken des Löwen, der hart am Rand der Schlucht zum Sprung ansetzte.

«Warum nimmst du keinen Anlauf?» fragte Elli.

«Das ist bei uns Löwen nicht der Brauch. Wir springen aus dem Stand.»

Mit einem mächtigen Satz flog er über den Abgrund und landete wohlbehalten auf der anderen Seite. Alle freuten sich. Der Löwe setzte den Scheuch ab und sprang sofort zurück.

Die nächste war Elli. Mit einer Hand umklammerte sie Totoschka, mit der anderen hielt sie sich an der struppigen Mähne des Löwen fest. Als sie sich emporgehoben fühlte, da schien ihr, als sause sie wieder mit dem Tötenden Häuschen durch die Lüfte. Doch ehe sie erschrak, stand sie bereits wieder auf den Füßen.

Als letzter folgte der Eiserne Holzfäller, der während des Sprungs seinen Trichterhut fast verloren hätte.

Nachdem der Löwe etwas verschnauft hatte, zogen die Wanderer weiter auf dem gelben Backsteinweg. Elli nahm mit Recht an, daß die Schlucht von einem Erdbeben herrühre, welches sich nach dem Bau der Straße in die Smaragdenstadt ereignet habe. Elli hatte schon früher gehört, daß sich nach Erdbeben Risse in der Erde bilden. Freilich hatte Vater John ihr von solch ungeheuren Schluchten niemals erzählt. Goodwins Land aber war etwas ganz Besonderes, und dort konnte eben nicht alles so sein wie in der übrigen Welt.

Jenseits der Schlucht wurde der Wald zu beiden Seiten des Weges noch dichter. Es dunkelte. Aus dem Dickicht drang dumpfes Schnauben und anhaltendes Gebrüll. Es grauste den Wanderern. Totoschka klammerte sich geradezu an die Pranken des Löwen, den er jetzt für stärker hielt als den Eisernen Holzfäller. Der Feige Löwe teilte seinen Gefährten mit, daß Säbelzahntiger in diesem Walde hausten.

«Was sind das für Tiere?» fragte der Holzfäller.

«Schreckliche Ungeheuer», flüsterte der

Löwe ängstlich. «Sie sind viel größer als die gewöhnlichen Tiger in anderen Teilen des Landes. Aus ihrem Rachen ragen Hauer, die wie Säbel aussehen. So ein Tiger könnte mich glatt durchstoßen, als wär ich eine Katze. Ich hab furchtbare Angst vor den Säbelzahntigern.»

Alle schwiegen beklommen und gaben sich Mühe, so leise wie möglich aufzutreten.

Elli flüsterte:

«Ich hab in einem Buch gelesen, daß es bei uns in Kansas einst Säbelzahntiger gab, die dann aber ausgestorben sind. Hier scheinen sie noch immer zu leben.»

«Ja, leider», sagte der Feige Löwe. «Ich sah einmal von weitem einen und erschrak so sehr, daß ich krank wurde…»

Über das Gespräch merkten sie gar nicht, daß sie plötzlich wieder vor einer Schlucht standen, die breiter und tiefer war als die erste. Der Löwe weigerte sich, über sie zu springen, dies ginge über seine Kräfte, erklärte er. Alle standen schweigend da und wußten nicht, was sie tun sollten. Da sagte der Scheuch:

«Am Abgrund steht ein hoher Baum. Der Holzfäller könnte ihn so umlegen, daß er über die Schlucht zu fallen kommt und uns als Brücke dient.»

«Ein guter Einfall!» sagte der Löwe anerkennend. «Man könnte meinen, du hättest ein Gehirn im Kopf.»

«O nein», wehrte der Scheuch bescheiden ab, wobei er, wie um sich zu vergewissern, seinen Kopf betastete. «Ich hab mich bloß erinnert, daß der Eiserne Holzfäller das schon einmal getan hat, als wir Elli vom Menschenfresser erretteten.»

Mit ein paar wuchtigen Schlägen hieb der Eiserne Holzfäller eine tiefe Kerbe in den Baum, und dann stemmten sich alle, auch Totoschka, gegen den Stamm — mit Händen, Tatzen, Pfoten oder Stirn -, und der Baum fiel dröhnend über die Schlucht.

«Hurra!» schrien alle wie aus einem Munde.

Sie bewegten sich, an den Zweigen Halt suchend, vorsichtig den Stamm entlang, als eingedehntes Heulen aus dem Walde drang. Auf die Schlucht zu sausten zwei ungeheuerliche Tiere, aus deren Rachen, blanken Säbeln gleich, weiße Hauer ragten.

«Die Säbelzahntiger…», hauchte der Löwe, an allen Gliedern bebend.

«Ruhe!» gebot der Scheuch. «Geht weiter!»

Der Löwe, der den Zug schloß, wandte sich zu den Tigern um und brüllte so furchtbar, daß Elli vor Schreck beinahe in die Schlucht gefallen wäre. Die Tiger stutzten und blickten den Löwen verblüfft an. Sie konnten nicht begreifen, wie ein so unscheinbares Tier so laut brüllen konnte.

Diese Pause ermöglichte es unseren Wanderern, die andere Seite der Schlucht zu erreichen. Mit drei Sätzen holte der Löwe sie ein. Die Säbelzahntiger, die sich die Beute nicht entgehen lassen wollten, traten gleichfalls auf den Stamm. Sie setzten vorsichtig eine Tatze vor die andere, hielten nach jedem Schritt inne, knurrten drohend und bleckten ihre

weißen Zähne. Ihr Anblick war so furchtbar, daß der Löwe zu Elli sagte:

«Wir sind verloren! Lauft, so schnell ihr könnt, ich will die Bestien aufzuhalten versuchen. Leider bin ich nicht dazu gekommen, mir bei Goodwin ein bißchen Mut zu holen! Ich werde aber trotzdem bis zum letzten Atemzug kämpfen!»

Der Strohkopf des Scheuchs hatte an jenem Tag glänzende Einfälle. Er stieß den Holzfäller mit dem Ellbogen an und schrie:

«Hau den Baum durch!»

Der ließ sich's nicht zweimal sagen. Er schwang seine Riesenaxt so ungestüm, daß die Spitze des Baumes nach drei Hieben abbrach und der Stamm donnernd in die Tiefe stürzte. Die Ungeheuer sausten hinab und zerschellten an den spitzen Felsen des Abgrunds.

«Hu!» atmete der Löwe erleichtert auf und reichte dem Scheuch feierlich die Tatze. «Schönen Dank! Also werden wir weiterleben. Ich glaubte schon, das Zeitliche segnen zu müssen. Es wäre kein Vergnügen, solchen Ungeheuern zwischen die Zähne zu kommen. Hört, wie mein Herz hämmert!»

«Ach», seufzte der Eiserne Holzfäller, «wie wünschte ich mir, daß mein Herz so schlage!»

Die Freunde wollten den düsteren Wald so schnell wie möglich verlassen, denn sie fürchteten, daß noch andere Säbelzahntiger auftauchen könnten. Aber Elli war so müde und verängstigt, daß sie einfach nicht weiter konnte. Der Löwe setzte sie und den kleinen Totoschka auf seinen Rücken, und sie schritten schneller aus. Bald sahen sie zu ihrer großen Freude, daß sich der Wald mehr und mehr lichtete. Die Sonne schien hell auf den Weg hinab, und bald kamen die Wanderer an einen breiten, reißenden Strom.

«Jetzt brauchen wir uns nicht mehr zu fürchten», sagte der Löwe. «Die Tiger verlassen niemals ihren Wald, diese Bestien scheuen aus irgendeinem Grunde die weite Flur…»

Allen wurde es leichter ums Herz, aber da stellten sich schon neue Sorgen ein.

«Wie kommen wir nun ans andere Ufer?» fragten Elli, der Eiserne Holzfäller, der Feige Löwe und Totoschka fast gleichzeitig und hefteten ihre Augen auf den Scheuch.

Durch die allgemeine Aufmerksamkeit geschmeichelt, setzte dieser eine wichtige Miene auf und preßte den Finger an die Stirn. Er dachte aber nicht lange nach.

«Wasser ist nicht Land, und Land ist nicht Wasser», sagte er belehrend. «Über einen Fluß kann man nicht gehen, folglich…»

«Folglich?» wiederholte Elli.

«Folglich muß der Eiserne Holzfäller ein Floß zimmern, das uns über den Fluß trägt.»

«Wie gescheit du doch bist!» riefen alle bewundernd.

«Ihr seid sehr liebenswürdig!» Der Scheuch verneigte sich.

Der Holzfäller legte Bäume um und schleppte sie mit dem starken Löwen zum Fluß hin. Elli setzte sich ins Gras, um auszuruhen. Der Scheuch, der wie gewöhnlich nicht untätig sein konnte, ging am Ufer entlang und entdeckte Bäume mit reifen Früchten.

Die Wanderer beschlossen, hier zu übernachten. Elli aß die schmackhaften Früchte und schlief bald ein, von ihren wackeren Freunden behütet. Im Traum sah sie die wunderliche Smaragdenstadt und Goodwin, den Großen Zauberer.

Die Fahrt über den Fluß

Die Nacht verlief ruhig. Am Morgen baute der Eiserne Holzfäller das Floß zu Ende, hieb zwei lange Stöcke für sich und den Scheuch ab und hieß die Gefährten Platz nehmen. Elli, mit Totoschka auf den Armen, setzte sich in die Mitte des Floßes. Als der Feige Löwe sich hinaufschwang, legte sich das Floß auf die Seite und kenterte beinahe. Elli stoß einen Schrei des Entsetzens aus, doch im gleichen Augenblick sprangen der Eiserne Holzfäller und der Scheuch auf die andere Seite und stellten das Gleichgewicht wieder her. Sie trieben das Floß dem anderen Ufer zu, wo herrliche grüne Haine zu sehen waren, die im hellen Sonnenschein leuchteten. Alles ging glatt bis zur Mitte des Flusses, wo die schnelle Strömung das Floß erfasste und mitriß. Die Stoßstangen reichten nicht bis auf den Grund des Wassers. Verwirrt blickten sich die Wanderer an.

«Schlimme Lage!» sagte der Eiserne Holzfäller. «Die Strömung treibt uns in das Violette Land, und dort wird uns die böse Hexe zu Sklaven machen.»

«Dort bekomme ich kein Gehirn!» rief der Scheuch.

«Und ich keinen Mut!» klagte der Löwe.

«Und ich kein Herz!» sagte der Eiserne Holzfäller. «Wir werden unser Kansas niemals wiedersehen!» stießen Elli und Totoschka hervor.

«Mitnichten! Wir müssen die Smaragdenstadt unbedingt erreichen!» rief der Scheuch und stemmte sich mit allen Kräften gegen die Stange.

Zum Unglück war das Wasser an dieser Stelle sehr seicht, und die Stange versank tief im Schlamm. Ehe sich's der Scheuch versah, glitt ihm das Floß unter den Füßen weg, und er blieb mitten im Fluß an seiner Stange hängen.

«Auf Wiedersehen!» konnte er den Gefährten noch zurufen.

Seine Lage war verzweifelt. 'Hier ist es für mich noch viel schlimmer als vor der Begegnung mit Elli', dachte der Ärmste. 'Dort konnte ich wenigstens die Krähen scheuchendas war immerhin eine Beschäftigung. Was aber soll ich mitten im Fluß anfangen? Ich werde wahrscheinlich niemals zu einem Gehirn kommen!'

Das Floß schoß den Strom hinab, und bald war der Scheuch hinter einer Krümmung verschwunden…

«Ich werde ins Wasser steigen müssen», sagte der Feige Löwe, an allen Gliedern zitternd. «Wie ich mich davor fürchte, wenn ihr wüßtet! Hätte mir Goodwin Mut gegeben, dann brauchte ich jetzt keine Angst vor dem Wasser zu haben… Es gibt aber keinen anderen Ausweg, irgendwie müssen wir das Ufer erreichen. Ich will schwimmen, haltet euch an meinem Schwanz fest.»

Der Löwe schwamm, vor Anstrengung keuchend, und der Eiserne Holzfäller umklammerte das Ende seines Schwanzes. Es war keine leichte Arbeit, das Floß zu ziehen, aber der Löwe kam trotzdem vorwärts. Bald wurde das Wasser seichter, und Elli konnte mit dem Stab nachhelfen. Völlig erschöpft erreichten sie das Ufer, sehr weit von der Stelle, wo sie die Überfahrt angetreten hatten.

Der Löwe streckte sich rücklings im Gras aus, damit sein nasser Bauch trockne.

«Wohin gehen wir jetzt?» fragte er, in die Sonne blinzelnd.

«Zurück, wo unser Freund geblieben ist», antwortete Elli. «Wir können doch nicht weiter ziehen, ehe wir den braven Scheuch gerettet haben.»

Sie gingen gesenkten Blickes am Ufer flußaufwärts. Es war ein langer Weg. Ihre Füße verhedderten sich im dichten Gras, und der Gedanke an ihren Freund, der im Fluß stak, erfüllte sie mit Kummer. Plötzlich schrie der Eiserne Holzfäller:

«Schaut, schaut!»

Sie erblickten den Scheuch, der sich tapfer an seiner Stange mitten im Strom hielt. Er sah von weitem so verlassen, so klein und traurig aus, daß seinen Gefährten die Tränen in die Augen traten. Der Eiserne Holzfäller war mehr als alle anderen aufgeregt. Sinnlos lief er am Ufer auf und ab, machte Anstalten, ins Wasser zu steigen, wich aber gleich wieder zurück. Dann riß er den Trichter vom Kopf, setzte ihn an den Mund und schrie, daß es weithin hallte:

«Scheuch, lieber Freund! Halte dich! Halt dich uns zuliebe und fall nicht ins Wasser!»

Der Eiserne Holzfäller verstand höflich zu bitten.

Vom Fluß drang es leise herüber:

«… lte mich!… niem… üde…»

Was bedeuten sollte: «Ich halte mich! Ich werde niemals müde!»

Die Freunde erinnerten sich, daß der Scheuch tatsächlich niemals müde wurde, und das gab ihnen neue Hoffnung. Der Eiserne Holzfäller schrie abermals in seinen Trichter:

«Laß den Mut nicht sinken! Wir gehen nicht fort, bis wir dich gerettet haben!»

Und wieder wehte es herüber: «…arte!… acht… ne… orgen.»

Das bedeutete: «Ich warte! Macht euch nur keine Sorgen!»

Der Eiserne Holzfäller schlug den Gefährten vor, aus Baumrinde einen langen Strick zu flechten. Er werde, sagte er, ins Wasser steigen und den Scheuch von der Stange heben; der Löwe solle sie dann mit dem Strick herausziehen. Dieser schüttelte jedoch lächelnd den Kopf:

«Du schwimmst ja nicht besser als deine Axt!»

Der Holzfäller verstummte beschämt.

«Da werd ich anscheinend wieder schwimmen müssen», sagte der Löwe. «Aber wie mach ich's, daß mich die Strömung zum Scheuch trägt?…»

«Ich setz mich auf deinen Rücken und werde dich lenken», schlug Totoschka vor.

Während sich die Wanderer die Sache überlegten, tauchte in der Ferne ein langbeiniger Storch auf, der sie neugierig betrachtete. Er stelzte würdevoll auf sie zu, blieb in sicherer Entfernung stehen, zog das rechte Bein an und verkniff das linke Auge.

«Was seid ihr für Leute?» fragte er.

«Ich heiße Elli, und das sind meine Freunde: der Eiserne Holzfäller, der Feige Löwe und Totoschka. Wir ziehen in die Smaragdenstadt.»

«Da seid ihr auf dem falschen Weg», meinte der Storch.

«Wir kennen den Weg. Aber der Fluß hat uns abgetrieben, und dabei ist uns ein Gefährte abhanden gekommen.»

«Wo ist er denn?»

«Dort», Elli wies mit dem Finger auf den Fluß.

«Was will er dort?»

Der Storch war ein neugieriger Vogel, der alles genau wissen mußte. Elli erzählte ihm, was sich ereignet hatte.

«Ach, wenn du ihm helfen könntest», sagte sie und faltete bittend die Hände. «Wir wären dir so dankbar.»

«Ich will mir's überlegen», erwiderte der Storch mit wichtiger Miene und kniff das rechte Auge zu (wenn ein Storch nachdenkt, schließt er immer das rechte Auge). Das linke Auge hatte er schon vorher zugekniffen.

So stand er nun mit geschlossenen Augen da und wiegte sich auf dem linken Bein, während der Scheuch an seiner Stange überm Fluß hing und im Winde schaukelte. Die Wanderer waren vom Warten schon ganz nervös.

«Ich will mal hören, worüber er nachdenkt», sagte der Holzfäller und trat leise an den Storch heran.

Er hörte aber nur die gleichmäßigen, pfeifenden Atemzüge des Vogels und rief verwundert:

«Er schläft ja!»

Der Storch war tatsächlich beim Nachdenken eingeschlafen.

Da brüllte der Löwe grimmig:

«Ich werd ihn fressen!»

Der Storch, der einen leisen Schlaf hatte, öffnete sofort die Augen.

«Ihr glaubt wohl, ich schlafe?» fragte er schlau. «Gefehlt. Ich dachte nur nach! Eine schwere Aufgabe… Ich würde euren Freund schon ans Ufer tragen, wenn er nicht so groß und schwer wäre.»

«Was redest du da?» rief Elli. «Weißt du denn nicht, daß der Scheuch mit Stroh ausgestopft und federleicht ist! Sogar ich könnte ihn tragen.»

«Na, dann will ich's versuchen», meinte der Storch. «Damit ihr's aber wißt: ist er zu schwer, so werf ich ihn ins Wasser. Es wäre natürlich besser, ihn vorher auf der Waage abzuwägen, da das aber nicht möglich ist, verzichte ich darauf.»

Der Storch war ein sehr umsichtiger Vogel.

Er breitete seine großen Schwingen aus und flog zum Scheuch hinüber, schlug ihm die starken Krallen in die Schultern, hob ihn dann mühelos auf und trug ihn ans Ufer, wo Elli und die anderen warteten.

Der Scheuch fiel den Freunden um den Hals und wandte sich dann an den Storch mit den Worten:

«Ich dachte schon, ich würde ewig an der Stange mitten im Fluß hängen und die Fische verscheuchen müssen. Nun weiß ich gar nicht, wie ich dir danken soll, denn ich hab doch nur Stroh im Kopf. Aber wenn ich von Goodwin zurückkehre, werde ich dich bestimmt aufsuchen, und dann wirst du sehen, wie einer zu danken weiß, der ein Gehirn hat.»

«Das freut mich sehr», erwiderte der Storch würdevoll. «Ich helfe gern, wenn einer in Not ist, insbesondere, wenn es mich keine große Anstrengung kostet… Aber ich hab schon zu viel Zeit mit euch verschwatzt, Frau und Kinder warten auf mich. Ich wünsche euch, wohlbehalten 1 die Smaragdenstadt zu erreichen und alles zu bekommen, wonach ihr ausgezogen seid!»

Er hielt ihnen, höflich, wie er war, sein rotes, runzliges Storchbein hin, das sie gefühlvoll drückten. Der Scheuch schüttelte es so kräftig, daß er es beinahe ausriß.

Dann flog der Storch davon, und die Wanderer setzten ihren Weg am Ufer fort. Der Scheuch strahlte vor Freude, hüpfte und sang:

«Oho-oho-oho! Ich bin wieder bei Elli!»

Und dann, nach drei Schritten:

«Oho-oho-oho! Ich bin wieder beim Eisernen Holzfäller!»

Und so zählte er alle der Reihe nach auf, Totoschka nicht ausgenommen, um dann wieder von vorn zu beginnen. Es war ein ungereimtes, aber fröhliches Lied, das von Herzen kam.

Ein tückisches Mohnfeld

Die Wanderer gingen fröhlich über eine mit herrlichen weißen und blauen Blumen übersäte Wiese. An vielen Stellen wuchs roter Mohn, der viel größer war, als man ihn gewöhnlich zu sehen bekommt, und stark duftete. Es war allen leicht ums Herz: Der Scheuch war gerettet, weder der Menschenfresser noch die Schluchten, noch die Säbelzahntiger oder der stürmische Fluß hatten sie aufhalten können, und alle Gefahren schienen vorbei zu sein.

«Welch herrliche Blumen!» rief Elli.

«Sie sind schön!» seufzte der Scheuch. «Hätte ich ein Gehirn, so würde ich mich natürlich viel mehr über die Blumen freuen als jetzt.»

«Und ich würde sie lieben, hätte ich nur ein Herz», seufzte der Eiserne Holzfäller.

«Ich hab mit den Blumen immer Freundschaft gehalten», sagte der Feige Löwe. «Diese lieblichen, harmlosen Geschöpfe überfallen nie einen aus dem Hinterhalt wie die schrecklichen Säbelzahntiger. In meinem Wald hab ich freilich solche großen, leuchtenden Blumen nicht gesehen.»

Je weiter sie kamen, desto zahlreicher wurden die Mohnblumen auf dem Felde, die alle anderen Blumen überwucherten. Bald sahen sich die Gefährten mitten in einem uferlosen Mohnfeld. Der süßliche Duft des Mohns schläfert ein, doch das wußte Elli nicht, die ihn sorglos einatmete und sich über die großen roten Blumen freute. Doch dann wurden ihr die Lider schwer, und sie fiel vor Müdigkeit fast um. Der Eiserne Holzfäller gestattete ihr jedoch nicht, sich hinzulegen.

«Wir müssen uns beeilen, damit wir noch vor Abend auf den gelben Backsteinweg kommen», sagte er, und der Scheuch stimmte ihm zu.

Nach ein paar hundert Schritten konnte sich Elli des Schlafs jedoch nicht mehr erwehren: Sie sank hin, schloß seufzend die Augen und schlief ein.

«Was fangen wir nun mit ihr an?» fragte der Holzfäller besorgt.

«Wenn Elli hier bleibt, wird sie so lange schlafen, bis sie tot ist», sagte der Löwe, tief gähnend. «Der Duft dieser Blumen ist tödlich. Auch mir fallen die Augen zu, und das Hündchen schläft schon.»

Totoschka lag auf dem Mohnteppich neben seiner kleinen Herrin. Nur dem Scheuch und dem Eisernen Holzfäller konnte der tödliche Duft nichts anhaben; sie waren munter wie immer.

«Lauf!» sagte der Scheuch zum Löwen. «Mach, daß du von diesem gefährlichen Ort fortkommst! Das Mädchen können wir forttragen, wenn du aber einschläfst, werden wir dir nicht zu helfen wissen. Du bist doch zu schwer!»

Der Löwe stürzte davon und war im nächsten Augenblick verschwunden. Der Eiserne Holzfäller und der Scheuch verschränkten die Hände zu einem Kreuzgriff und setzten Elli, der sie Totoschka in die Arme gelegt hatten, darauf. Das schlafende Mädchen klammerte sich unbewußt an das weiche Fell des Hündchens. Der Scheuch und der Eiserne Holzfäller gingen die breite Spur der zerdrückten Blumen entlang, die der Löwe hinterlassen hatte, und es schien ihnen, als ob das Feld kein Ende nehmen werde.

Als sie schließlich Bäume und grünes Gras in der Ferne erblickten, atmeten sie erleichtert auf, denn sie hatten schon befürchtet, daß der lange Aufenthalt in der vergifteten Luft Elli töten würde. Am Rande des Mohnfeldes gewahrten sie den Löwen. Der Duft hatte das mächtige Tier nach der letzten Anstrengung, die rettende Wiese zu erreichen, überwältigt, und jetzt schlief es, die Tatzen ausgestreckt.

«Wir werden ihm nicht helfen können», sagte der Holzfäller betrübt. «Er ist zu groß für uns, jetzt schläft er seinen letzten Schlaf und träumt vielleicht davon, daß er endlich Mut bekommen hat…»

«Er tut mir schrecklich leid», erwiderte der Scheuch. «Er war trotz seiner Feigheit ein guter Kamerad, und es tut mir weh, ihn auf diesem verfluchten Mohnfeld liegenzulassen. Aber komm, wir müssen Elli retten.»

Sie trugen die Schlafende auf eine grüne Wiese, legten sie am Ufer eines Flusses, weit von dem tödlichen Mohn, ins Gras und setzten sich neben sie hin. Sie beschlossen abzuwarten, bis Elli von der frischen Luft erwacht.

Während die Freunde so dasaßen und um sich blickten, raschelte es plötzlich im Gras, und auf die Wiese sprang eine gelbe Wildkatze. Die spitzen Zähne gefletscht und die Ohren an den Kopf gedrückt, jagte sie einem kleinen Tier nach. Der Holzfäller sprang auf und sah, daß es eine graue Feldmaus war. Schon erhob die Katze ihre Pfote mit den scharfen Krallen über der wimmernden Maus, die die Augen schloß. Der Holzfäller bekam Mitleid mit dem wehrlosen Geschöpf und hieb der Wildkatze den Kopf ab. Als die Maus die Augen öffnete und den toten Feind vor sich liegen sah, sagte sie zum eisernen Mann:

«Ich danke Euch. Ihr habt mir das Leben gerettet.»

«Nicht der Rede wert», wehrte der Holzfäller ab. Es tat ihm aufrichtig leid, daß er die Katze hatte töten müssen. «Wissen Sie, ich hab zwar kein Herz, aber ich bin immer bereit, einem Schwachen in der Not zu helfen, sei es auch nur eine gewöhnliche Maus.»

«Eine gewöhnliche Maus?» piepste das Tierchen empört. «Was wollt Ihr damit sagen, mein Herr! Wißt Ihr, wer vor Euch steht? Ramina, die Königin der Feldmäuse!»

«Tatsächlich?» staunte der Holzfäller. «Bitte tausendmal um Verzeihung, Eure Majestät!»

«Wie dem auch sei, Ihr habt Eure Pflicht getan, als Ihr mir das Leben rettetet», sagte die Königin etwas sanfter.

Im gleichen Augenblick zeigten sich ein paar Mäuse, die atemlos auf die Königin zuliefen.

«Oh, Eure Majestät!» piepsten sie durcheinander, «wir dachten schon, Ihr seid umgekommen, und wollten Euch beweinen. Wer hat die böse Katze getötet?» Dabei verneigten sie sich so tief vor der Königin, daß sie auf den Kopf zu stehen kamen und ihre Hinterpfötchen in der Luft zuckten.

«Das hat dieser wunderliche eiserne Mann vollbracht. Ihr sollt ihm jetzt dienen und seine Wünsche erfüllen», sagte Ramina würdevoll.

«Er mag befehlen!» riefen die Mäuse im Chor.

Aber im nächsten Augenblick stoben sie entsetzt auseinander, die Königin vornean. Totoschka hatte sich nämlich, als er die Augen öffnete und die Mäuse erblickte, mit einem Freudenschrei auf sie gestürzt. Er war schon in Kansas als Mäusejäger berühmt gewesen, der an Gewandtheit jede Katze übertraf. Der Eiserne Holzfäller packte jedoch das Hündchen am Nacken und rief den Mäusen zu:

«Bleibt doch! Ich halte ihn!»

Die Mäusekönigin lugte aus dem Gras und fragte ängstlich:

«Seid Ihr auch sicher, daß er mich und meine Höflinge nicht fressen wird?»

«Beruhigt Euch, Majestät, ich halte ihn!»

Die Mäuse kehrten um, und Totoschka, der sich vergeblich aus der eisernen Umklammerung des Holzfällers zu befreien suchte, gab es schließlich auf. Damit er die Mäuse nicht schreckte, wurde er an einen kleinen Pfahl angebunden.

Das erste Hoffräulein der Mäusekönigin ergriff das Wort.

«Edler Mann! Wie sollen wir Euch für die Rettung unserer Königin danken?»

«Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich bin so verwirrt», hub der Eiserne Holzfäller an, doch der findige Scheuch unterbrach ihn:

«Rettet unseren Freund, den Löwen! Er liegt auf dem Mohnfeld!»

«Einen Löwen!» schrie die Königin entsetzt. «Er wird uns ja alle fressen!»

«O nein», beruhigte sie der Scheuch, «das ist ein feiger und sehr zahmer Löwe, und außerdem schläft er.»

«Na, dann können wir's versuchen. Aber wie fangen wir's an?»

«Gibt es viele Mäuse in Eurem Königreich?»

«Oh, viele Tausende!»

«Befiehlt, daß sich alle hier versammeln und daß jede einen langen Faden mitbringt.»

Königin Ramina gab den Höflingen Befehl, und diese stoben nach allen Seiten auseinander.

«Na, und du, Freund», wandte sich der Scheuch an den Holzfäller, «bau einen festen Karren, damit wir den Löwen aus dem Mohn herausführen.»

Der Holzfäller ging mit Feuereifer an die Arbeit. Als die ersten Mäuse mit langen Fäden zwischen den Zähnen ankamen, hatte er einen festen Karren mit Rädern aus Holzklötzen fix und fertig gebaut.

Aus allen Richtungen eilten die Mäuse herbei. Es waren ihrer viele Tausend, jeder Größe und jeden Alters. Da konnte man kleine Mäuschen und mittelgroße und ganz große Mäuse sehen. Eine alte hutzlige Maus, die sich mit schwerer Mühe zur Wiese geschleppt hatte, verneigte sich vor der Königin und fiel im nächsten Augenblick rücklings um. Zwei Enkelinnen legten das Großmütterchen auf ein großes Klettenblatt und fächelten ihm mit Grashalmen Luft zu, um es aus der Ohnmacht zu wecken.

Es war kein leichtes, so viel Mäuse vor den Karren zu spannen. Tausende Fäden mußten an der Vorderachse befestigt werden. Dabei hatten es der Holzfäller und der Scheuch sehr eilig, denn sie befürchteten, der Löwe könnte im Mohnfeld sterben, und die Fäden verwirrten sich in einem fort in ihren Händen. Hinzu kam, daß manche junge ausgelassene Mäuschen hin und her hüpften, wodurch sich die Fäden noch mehr verstrickten. Schließlich war aber jeder Faden mit dem einen Ende am Karren und mit dem anderen am Schwanz einer Maus befestigt und die Ordnung wiederhergestellt.

Elli erwachte und blickte staunend auf das Treiben. In wenigen Worten erklärte ihr der Scheuch, was geschehen war, und wandte sich dann an die Königin:

«Eure Majestät! Gestattet, Euch Elli vorzustellen, die Fee des Tötenden Häuschens.»

Die beiden verneigten sich höflich voreinander, wie es hohen Damen geziemt, und es begann ein freundschaftliches Gespräch…

Als die Vorbereitungen zu Ende waren, hoben der Holzfäller und der Scheuch mit großer Mühe den schweren Löwen auf den Karren. Die Mäuschen zogen an, und mit Hilfe der beiden Freunde schleppten sie den Karren schnell aus dem Mohnfeld.

Man brachte den Löwen zu der Stelle, wo Elli, von Totoschka behütet, dasaß. Das Mädchen dankte den Mäusen herzlich für die Rettung des treuen Freundes, den es so liebgewonnen hatte.

Die Mäuse zernagten die Fäden an ihren Schwänzchen und liefen schnell nach Hause. Die Königin reichte Elli beim Abschied eine kleine Silberpfeife.

«Falls ihr mich wieder braucht», sagte Ramina, «so blast in diese Pfeife, ich werde euch zu Diensten stehen. Auf Wiedersehen!»

«Auf Wiedersehen!» erwiderte Elli.

Im gleichen Augenblick riß sich Totoschka vom Pfahl los, und die Mäuse stoben auseinander. Die Königin selber legte eine Behendigkeit an den Tag, die mit ihrer Würde kaum vereinbar war.

* * *

…Die Wanderer warteten geduldig, daß der Löwe erwache. Er hatte zu lange die vergiftete Luft des Mohnfeldes geatmet, doch weil er stark und zäh war, blieb er am Leben. Er öffnete die Augen, gähnte mehrmals tief und versuchte sich zu recken, was ihm aber nicht gelang, weil der Karren zu klein war.

«Wo bin ich? Lebe ich noch?»

Als er seine Freunde erblickte, freute er sich ungemein und wälzte sich vom Karren auf die Erde.

«Sagt, was ist geschehen? Ich lief über das Mohnfeld, so schnell ich konnte, aber mit jedem Schritt wurden mir die Glieder schwerer, dann übermannte mich der Schlaf, und weiter kann ich mich an nichts mehr erinnern.»

Der Scheuch erzählte ihm, wie die Mäuse ihn aus dem Mohnfeld geschleppt hatten.

Der Löwe schüttelte den Kopf.

«Merkwürdig! Und ich dachte immer, ich sei so groß und stark. Aber die Blumen, die so viel kleiner sind als ich, hätten mich beinahe getötet, und jämmerlich winzige Wesen -

Mäuse, auf die ich immer von oben herab blickte haben mich gerettet! Sie konnten es, weil ihrer so viele sind, weil sie zusammenhalten und deshalb stärker sind als ich, der Löwe, der König der Tiere! Und was sollen wir jetzt anfangen, liebe Freunde?»

«Wir werden weiterziehen, in die Smaragdenstadt», erwiderte Elli. «Drei sehnliche Wünsche müssen erfüllt werden, damit ich in die Heimat zurückkehre!»

Wie sieht Goodwin aus?

Als der Löwe zu Kräften kam, machten sich die Freunde wieder auf den Weg. Frohen Mutes gingen sie über das weiche grüne Gras, und als sie wieder auf dem gelben Backsteinweg waren, freuten sie sich, wie beim Wiedersehen mit einem guten alten Freund.

Bald tauchten zu beiden Seiten schmucke Zäune auf, hinter denen Farmerhäuschen zu sehen waren. Auf den Feldern arbeiteten Männer und Frauen. Die Zäune und die Häuser waren hellgrün gestrichen, und die Leute trugen grüne Kleider.

«Da sind wir also im Smaragdenland», sagte der Eiserne Holzfäller.

«Woher weißt du das?» fragte der Scheuch.

«Weißt du denn nicht, daß Smaragde grün sind?»

«Ich weiß überhaupt nichts», erwiderte der Scheuch stolz. «Erst wenn ich ein Gehirn haben werde, werde ich alles wissen.»

Die Bewohner des Smaragdenlandes waren nicht größer als die Käuer. Sie trugen ebensolche breitkrempigen, spitzen Hüte wie diese, aber ohne Silberschellen. Sie schienen keine freundlichen Leute zu sein. Niemand kam auf Elli zu, und selbst von weitem richtete keiner eine Frage an sie. In Wirklichkeit ängstigten sich die Leute nur vor dem großen Löwen, der so drohend aussah, und vor dem kleinen Totoschka.

«Ich glaube, wir werden auf dem Feld übernachten müssen», meinte der Scheuch.

«Ich habe Hunger», sagte das Mädchen. «Die Früchte sind hier schmackhaft, und doch sind sie mir schon so zuwider, daß ich sie nicht mehr anschauen kann. Ich würde sie gerne gegen eine Brotrinde tauschen! Auch Totoschka ist schon ganz abgemagert… Was ißt du denn, Ärmster?»

«Was sich gerade findet…», erwiderte das Hündchen ausweichend.

Es wollte nicht eingestehen, daß es den Löwen jede Nacht auf die Jagd begleitete und die Überreste seiner Beute verzehrte.

Da sah Elli ein Häuschen, vor dem eine Frau stand, die freundlicher schien als die anderen Bewohnerinnen des Ortes. Diese wollte sie um ein Nachtlager bitten. Sie ließ die Gefährten vor dem Zaun und ging auf das Häuschen zu.

Die Frau fragte Elli:

«Was wünschst du, mein Kind?»

«Laßt uns bitte in Eurem Häuschen übernachten!»

«Aber du führst ja einen Löwen mit!»

«Ihr braucht keine Angst vor ihm zu haben. Er ist zahm und außerdem feige.»

«Wenn dem so ist», erwiderte die Frau, «so kommt nur herein. Ich will euch zu essen geben, und ihr könnt bei mir auch übernachten.»

Die fünf traten ins Haus. Ihr Anblick versetzte die Kinder und den Hausherrn in Angst und Staunen. Als er sich von seinem Schreck erholte, fragte er das Mädchen:

«Wer seid ihr und wohin zieht ihr?»

«Wir ziehen in die Smaragdenstadt zum Großen Goodwin», erwiderte Elli.

«Tatsächlich? Seid ihr auch sicher, daß Goodwin euch sehen will?»

«Warum denn nicht?»

«Na, weil er niemanden empfängt. Ich war schon oft in der Smaragdenstadt. Das ist ein wunderbarer Ort, aber noch nie habe ich den Großen Goodwin gesehen, und ich weiß auch, daß ihn nie jemand zu Gesicht bekommen hat…»

«Zeigt er sich denn niemals?»

«Nein. Er sitzt Tag und Nacht in dem großen Thronsaal seines Schlosses, und selbst seine Dienerschaft kennt ihn nicht von Angesicht.»

«Wie sieht er denn aus?»

«Schwer zu sagen», erwiderte der Hausherr nachdenklich. «Goodwin ist sehr weise und kann jede beliebige Gestalt annehmen. Manchmal zeigt er sich als Vogel oder als Elefant, oder er verwandelt sich plötzlich in einen Maulwurf. Man hat ihn schon als Fisch, als Fliege und in vielen anderen Gestalten gesehen, die er anzunehmen beliebte. Wie er in Wirklichkeit beschaffen ist, weiß kein Mensch.»

Ja, das kann einem bange machen», sagte Elli. «Wir wollen ihn aber dennoch aufsuchen, denn sonst wäre ja all unsere Mühe umsonst gewesen!»

«Warum wollt ihr Goodwin den Schrecklichen eigentlich sehen?» fragte der Hausherr.

«Ich will ihn um ein bißchen Gehirn für meinen Strohkopf bitten», erwiderte der Scheuch.

«Nun, das ist für ihn eine Kleinigkeit! Er hat viel mehr Gehirne, als er brauchen kann. Sie liegen bei ihm in Säckchen, nach Sorten geordnet.»

«Und ich will, daß er mir ein Herz gibt», sagte der Holzf älter.

«Auch das wird ihm nicht schwerfallen», erwiderte der Hausherr verschmitzt. «Er hat eine ganze Sammlung von Herzen verschiedener Form und Größe an einer Schnur zum Trocknen aufgehängt.»

«Und ich möchte mir bei Goodwin Mut holen», sagte der Löwe.

«Bei Goodwin im Thronsaal steht ein großer Topf voll Mut», erklärte der Hausherr. «Der Topf ist mit einem goldenen Deckel zugedeckt, und Goodwin gibt acht, daß der Mut nicht überläuft. Er wird euch mit Vergnügen eine Portion davon geben.»

Als die drei Freunde die ausführlichen Erklärungen hörten, begannen ihre Gesichter zu strahlen, und sie blickten sich zufrieden lächelnd an.

«Und ich will Goodwin bitten, daß er mich und Totoschka nach Kansas bringt», sagte Elli.

«Wo liegt denn dieses Kansas?» fragte der Hausherr verwundert.

«Das weiß ich nicht», erwiderte Elli traurig. «Aber es ist meine Heimat, und folglich muß es irgendwo liegen.»

«Na, ich bin sicher, daß Goodwin dein Kansas finden wird. Aber zuerst müßt ihr ihn selber finden, und das ist keine leichte Aufgabe. Goodwin läßt sich nicht gerne sehen, er wird dazu seine guten Gründe haben», fügte der Hausherr im Flüsterton hinzu, wobei er sich umblickte, als befürchte er, Goodwin lauere unter dem Bett oder hinter dem Schrank.

Da wurde es allen unheimlich zumute, und es fehlte nicht viel, so wäre der Löwe aus dem Zimmer gerannt, weil er es draußen für ungefährlicher hielt.

Das Abendbrot wurde aufgetragen, und alle setzten sich zu Tisch. Elli aß mit großem Appetit schmackhaften Buchweizenbrei, Spiegeleier und Schwarzbrot. Sie freute sich über diese Gerichte, die sie an ihre ferne Heimat erinnerten. Auch der Löwe bekam Buchweizenbrei, aß ihn aber mit Abscheu und sagte, das sei ein Gericht für Kaninchen und nicht für Löwen. Der Scheuch und der Holzfäller aßen nichts. Totoschka verschlang gierig seine Portion und bat um mehr.

Die Hausfrau brachte Elli zu Bett, und das Hündchen kauerte sich neben seine kleine Herrin hin. Der Löwe streckte sich vor der Schwelle aus und paßte auf, daß niemand das Zimmer betrete. Der Eiserne Holzfäller und der Scheuch standen die ganze Nacht in einer Ecke und unterhielten sich leise.

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