Dritter Teil Die Wünsche gehen in Erfüllung

Die Zauberkunst des grossen Schwindlers

Am nächsten Morgen begab sich der Scheuch froher Mutes zu Goodwin, um das versprochene Gehirn zu empfangen.

«Freunde!» rief er, «wenn ich zurückkomme, werde ich so sein wie alle anderen Menschen.»

«Ich hab dich doch auch so lieb!» sagte Elli zu ihm.

«Das ist sehr gut. Aber stell dir vor, wie ich erst sein werde, wenn sich große Gedanken in meinem neuen Gehirn zu wälzen beginnen!»

Der Zauberer empfing den Scheuch freundlich.

«Werdet Ihr mir nicht böse sein, wenn ich Euch erst einmal den Kopf abnehme?» fragte er. «Ich will ihn mit Gehirn ausstopfen.»

«Aber bitte sehr, ganz wie Ihr wollt», erwiderte der Scheuch fröhlich. «Nehmt ihn ruhig ab und behaltet ihn, solange es Euch beliebt. Ich werde mich darum nicht schlechter fühlen.»

Goodwin trennte dem Scheuch den Kopf ab, nahm das Stroh heraus und ersetzte es durch ein Säckchen voll Kleie, die er mit Näh- und Stecknadeln gemischt hatte. Dann setzte er den Kopf wieder auf und beglückwünschte den Scheuch.

«Jetzt seid Ihr ein gescheiter Mann mit einem neuen Gehirn von der besten Sorte.»

Der Scheuch dankte ihm von Herzen und lief zu seinen Freunden zurück. Elli betrachtete ihn neugierig. Sein Kopf hatte sich aufgedunsen, und Nadeln stachen aus ihm hervor.

«Wie fühlst du dich?» fragte Elli besorgt.

«Ich beginne mich weise zu fühlen», erwiderte der Scheuch mit Stolz. «Jetzt muß ich nur lernen, mein neues Gehirn zu nutzen, dann werd ich ein berühmter Mann.»

«Aber warum hast du denn Nadeln in deinem Gehirn?» fragte der Eiserne Holzfäller.

«Das ist wahrscheinlich ein Beweis für die Schärfe seines Verstandes», sagte der Löwe.

Als der Holzfäller den Scheuch so zufrieden sah, ging er voller Hoffnung zu Goodwin,

«Ich werde Euch ein Loch in die Brust schneiden müssen, um das Herz hineinzulegen», sagte Goodwin. «Ganz wie Ihr wünscht», erwiderte der Eiserne Holzfäller. «Schneidet, wo es Euch beliebt.»

Goodwin schlug ein kleines Loch in die Brust des Holzfällers und zeigte ihm ein schönes seidenes Herz, das mit Sägemehl gefüllt war.

«Gefällt es Euch?»

«Entzückend! Aber ist es auch gut und kann es lieben?»

«Oh, macht Euch keine Sorgen», erwiderte Goodwin. «Mit diesem Herz werdet Ihr der feinfühligste Mensch auf Erden sein.»

Bald war das Herz eingesetzt, das Loch verlötet, und der Eiserne Holzfäller eilte voller Freude zu seinen Gefährten.

«Wie glücklich ich bin, teure Freunde!» rief er. «Ein Herz schlägt jetzt in meiner Brust wie früher. Ja, sogar stärker! Ich fühle es bei jedem Schritt an meiner Brust klopfen. Mir scheint sogar, es ist noch zärtlicher als das frühere. Ich gehe über vor Liebe und Zärtlichkeit!»

Dann begab sich der Löwe in den Thronsaal.

«Werdet Ihr mir jetzt Mut geben?» fragte er zaghaft, von einer Tatze auf die andere tretend.

«Einen Augenblick», sagte Goodwin, holte eine Flasche aus dem Schrank und goß den Inhalt in einen goldenen Teller. «So, jetzt trinkt das aus!»

Der Geruch gefiel dem Löwen nicht.

«Was ist das?» fragte er mißtrauisch.

«Das ist Mut. Er gehört in den Leib, deshalb müßt Ihr ihn trinken.»

Der Löwe schnitt eine Grimasse, trank aber die Flüssigkeit und leckte sogar den Teller aus.

«Oh, jetzt fühle ich, wie ich mutig werde! Mut rieselt durch meine Adern und füllt mir das Herz! Habt Dank, habt Dank, großer Zauberer!» brüllte er begeistert und lief, so schnell er konnte, zu den Freunden zurück.

Elli lebte diese Tage in qualvoller Erwartung. Als sie die drei sehnlichsten Wünsche ihrer Freunde erfüllt sah, wurde ihr Heimweh noch stärker. Tagelang führten die Freunde endlose Gespräche.

Der Scheuch behauptete, daß sich in seinem Kopf jetzt prächtige Gedanken wälzten. Leider könne er sie den andern nicht mitteilen, weil nur er sie verstehe.

Der Eiserne Holzfäller erzählte, wie angenehm es sei, bei jedem Schritt das Herz in der Brust schlagen zu fühlen. Er war restlos glücklich.

Der Löwe erklärte stolz, er sei bereit, sich mit zehn Säbelzahntigern gleichzeitig zu schlagen, so viel Mut besitze er.

Der Eiserne Holzfäller befürchtete sogar, der Zauberer habe dem Löwen eine zu große Portion Mut gegeben und ihn dadurch unbesonnen gemacht. Unbesonnenheit aber kann einen ins Verderben stürzen, wie man weiß.

Nur Elli schwieg und gedachte sehnsüchtig ihrer Heimat.

Schließlich wurde auch sie zu Goodwin gerufen.

«Nun, mein Kind, ich glaube jetzt zu wissen, wie wir beide nach Kansas kommen.»

«Ihr werdet mich also begleiten?» fragte Elli verwundert.

«Unbedingt», erwiderte der ehemalige Zauberer. «Offen gestanden hab ich das Einsiedlerleben und die ewige Furcht vor der Entlarvung schon satt. Ich will lieber nach Kansas zurückkehren und mich in einem Zirkus produzieren.»

«Ach, wie ich mich freue!» rief Elli und klatschte in die Hände. «Wann brechen wir auf?»

«Das geht nicht so schnell, mein Kind. Dieses Land kann man nur in der Luft verlassen. Hat uns nicht beide der Sturm hergebracht — mich im Ballon und dich im Häuschen? Mein Ballon ist da, ich hab ihn all diese Jahre aufbewahrt. Nur an manchen Stellen werde ich ihn flicken müssen. Und das leichte Gas, den Wasserstoff zum Füllen des Ballons, werd ich mir schon verschaffen.»

Die Reparatur des Ballons dauerte mehrere Tage. Als Elli ihren Freunden die bevorstehende Trennung ankündigte, wurden diese sehr traurig.

Goodwin ließ die Bewohner der Stadt wissen, daß er verreise, um seinen alten Freund und großen Zauberer, den Sonnenball, zu besuchen, den er schon viele Jahre nicht gesehen hatte. Das Volk versammelte sich auf dem Platz vor dem Schloß, Goodwin schaltete den Wasserstoffapparat ein, und der Ballon füllte sich schnell mit dem Gas. Als es soweit war, schwang sich Goodwin vor den Augen der entsetzten und begeisterten Menge in den Korb und sagte:

«Auf Wiedersehn, Freunde!»

Die Leute riefen «Hurra» und warfen ihre grünen Mützen in die Luft.

«Wir haben viele Jahre in Frieden und Eintracht gelebt, und es tut mir leid, von euch zu scheiden», fuhr Goodwin fort und wischte sich eine Träne aus dem Auge. In der Menge hörte man Seufzer. «Aber mein Freund, der Sonnenball, will, daß ich ihn besuche, und ich muß es tun, weil er ein mächtigerer Zauberer ist als ich. Gedenkt meiner, aber seid nicht allzu traurig, denn Kummer schadet der Verdauung. Befolgt meine Gesetze und nehmt die Brillen nicht ab, denn das könnte euch viel Unglück bringen. Zu eurem Herrscher bestimme ich an meiner Stelle einen ehrwürdigen Herrn, den Weisen Scheuch.»

Der verblüffte Strohmann trat, auf seinen prächtigen Stock gestützt, vor und lüftete den Hut. Der melodische Klang der Schellen machte auf die Menge einen großen Eindruck, denn in der Smaragdenstadt war es nicht Brauch, Schellen an den Hüten zu tragen. Stürmisch begrüßten die Versammelten den neuen Herrscher und gelobten ihm ewige Treue.

Goodwin rief Elli, die sich herzlich von ihren Freunden verabschiedete, zu:

«Steig schnell in den Korb. Der Ballon ist startklar.»

Zum letztenmal küßte Elli den mächtigen Löwen auf die Schnauze, daß diesem vor Rührung große Tränen aus den Augen rannen. Er war so ergriffen, daß er vergaß, sie mit dem Ende seines Schwanzes abzuwischen. Dann drückten der Scheuch und der Eiserne Holzfäller Elli liebevoll die Hand, und Totoschka versicherte dem Löwen zum Abschied, er werde ihn niemals vergessen und allen Löwen, denen er in Kansas begegnen würde, einen Gruß von ihm bestellen.

In diesem Augenblick erhob sich ein heftiger Wind.

«Elli, beeil dich!» schrie der Zauberer aufgeregt, als er gewahrte, wie das Seil, das den Ballon hielt, sich spannte und zu reißen drohte.

Kaum hatte er's gesagt, da platzte das Seil, und der Ballon strebte zum Himmel hinauf.

«Wartet doch, wartet!» schrie Elli, verzweifelt die Hände ringend. «Nehmt mich mit!»

Goodwin aber konnte gegen den Sturm nichts ausrichten, der den Ballon erfaßt hatte und mit unwiderstehlicher Gewalt forttrug.

«Leb wohl, mein Kind!» drang seine Stimme kaum hörbar an ihr Ohr, und schon verschwand der Ballon in den rasch dahinsegelnden Wolken.

Die Bewohner der Smaragdenstadt starrten noch lange zum Himmel hinauf und gingen dann auseinander.

Am nächsten Tag trat eine vollständige Sonnenfinsternis ein, die sich die Bürger der Smaragdenstadt damit erklärten, daß Goodwin bei seinem Niedergang auf dem Sonnenball diesen verstellte.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde, daß der ehemalige Herrscher der Smaragdenstadt nun auf der Sonne lebe. Das Volk gedachte Goodwins noch lange, war aber nicht sehr betrübt, da es doch einen neuen Herrscher hatte, den Weisen Scheuch, der so viel Gehirn besaß, daß es in seinem Kopf keinen Platz fand und als Näh -und Stecknadeln aus ihm hervorstach.

Die Einwohner der Smaragdenstadt waren mächtig stolz auf ihren Herrscher.

«Zeigt uns eine andere Stadt auf der Welt, deren Herrscher mit Stroh ausgestopft wäre!» sagten sie.

Die arme Elli aber, die im Lande Goodwins geblieben war, saß weinend im Schloß. Sie hatte alle Hoffnung, in die Heimat zurückzukehren, aufgegeben.

Wieder unterwegs

Elli weinte bittere Tränen, als der Eiserne Holzfäller schweren Schrittes eintrat.

«Hab ich dich gestört?» fragte er leise. «Ich begreife, daß du dich jetzt nicht mit mir abgeben kannst, wo du selbst so viel Kummer hast. Und doch kann ich nicht anders. Ich muß um Goodwin weinen, und es ist außer dir niemand da, der mir die Tränen abwischen könnte. Der Löwe ist mit sich beschäftigt, er sitzt im Hinterhof und heult, und den Scheuch kann ich mit solchen Kleinigkeiten nicht belästigen, wo er doch der Herrscher des Landes ist…»

«Du Ärmster!…»

Elli stand auf und trocknete dem Holzfäller mit einem Handtuch sorgfältig die Tränen. Als er sich ausgeweint hatte, schmierte er sich mit dem Öl aus der kostbaren Kanne ein, die die Zwinkerer ihm geschenkt hatten und die er immer im Gürtel trug.

In der Nacht hatte Elli einen Traum: Ein riesiger Vogel trug sie hoch über die Steppe von Kansas, und in der Ferne war das Haus ihrer Eltern zu sehen. Sie erwachte mit einem Freudenschrei und konnte vor Enttäuschung nicht wieder einschlafen.

Am nächsten Morgen versammelten sich die Gefährten im Thronsaal, um über ihre Zukunft zu sprechen. Der neue Herrscher saß majestätisch auf seinem Marmorthron, vor dem die anderen respektvoll standen.

Als der Scheuch Herrscher wurde, verwirklichte er vor allen Dingen die Träume, die er lange gehegt hatte. Er sich ein grünes Samtkleid und einen neuen Hut anfertigen, an dessen Krempe er die Silberschellen vom alten Hut anzunähen befahl. Seine Füße schmückten blankgeputzte Stiefel aus feinstem Leder.

«Wir werden jetzt herrlich leben», erklärte der neue Herrscher. «Das Schloß und die ganze Smaragdenstadt gehören uns, und wenn ich daran denke, daß ich noch unlängst die Krähen auf dem Felde verscheuchen mußte, heute aber der Herrscher der Smaragdenstadt bin, so muß ich euch aufrichtig sagen, daß ich mich über mein Schicksal nicht beklagen kann…»

Totoschka wies den überheblich gewordenen Scheuch in die Schranken:

«Sag mal, wem hast du das alles eigentlich zu verdanken?»

«Elli natürlich», erwiderte der Scheuch beschämt. «Ohne sie würde ich noch heute auf dem Pfahl sitzen…»

«Wenn dich die Stürme inzwischen nicht zerrissen und die Krähen nicht zerhackt hätten», fügte der Holzfäller hinzu. «Ich selber würde im wilden Walde rosten… Elli hat viel für uns getan. Ihr hab ich mein Herz zu verdanken, und das war doch mein sehnlichster Wunsch!»

«Von mir schon gar nicht zu reden», sagte der Löwe. «Ich bin jetzt mutiger als alle anderen Tiere auf der Welt. Ich wünsche mir, daß jetzt Menschenfresser oder Säbelzahntiger das Schloß überfielen, um euch zeigen zu können, wie ich mit ihnen fertig werde!»

«Wenn Elli im Schloß bleiben würde», fuhr der Scheuch fort, «so könnten wir jetzt glücklich leben!»

«Das geht nicht», entgegnete das Mädchen. «Ich will nach Kansas zu Vater und Mutter zurückkehren.»

«Ja, aber wie wirst du das schaffen?» fragte der Eiserne Holzfäller. «Scheuch, lieber Freund, du bist doch gescheiter als wir alle, streng mal dein neues Gehirn an!»

Der Scheuch begann so eifrig nachzudenken, daß ihm die Näh -und Stecknadeln aus dem Kopf hervortraten.

«Wir müssen die Fliegenden Affen rufen», sagte er nach langem Überlegen. «Sie werden dich nach Hause tragen.»

«Ein guter Einfall», rief Elli, «ich hatte sie ganz vergessen…»

Sie nahm den Goldenen Hut, setzte ihn auf und sprach die Zauberworte. Kaum hatte sie es getan, als das Rudel der Fliegenden Affen durch die offenen Fenster in den Saal rauschte.

«Was befiehlst du, Herrin des Goldenen Hutes?» fragte der Anführer.

«Tragt mich und Totoschka über die Berge nach Kansas!»

Der Anführer schüttelte den Kopf:

«Kansas liegt jenseits der Grenzen von Goodwins Land, dorthin können wir nicht fliegen. Es tut mir schrecklich leid, aber du hast deinen zweiten Wunsch verwirkt.»

Er verneigte sich, und das Rudel flog geräuschvoll davon.

Elli war verzweifelt. Da begann der Scheuch wieder so eifrig nachzudenken, daß ihm vor Anstrengung der Kopf schwoll. Elli befürchtete sogar, daß er platzen könnte.

«Ruft den Soldaten!» befahl der Scheuch.

Din Gior betrat ängstlich den Thronsaal, in dem er unter Goodwin niemals gewesen war. Man fragte ihn um Rat.

«Goodwin war der einzige, der wußte, wie man über die Berge kommt», sagte der Soldat. «Aber ich glaube, daß die gute Zauberin Stella aus dem Rosa Land Elli helfen könnte. Sie ist mächtiger als alle anderen Zauberinnen dieses Landes und kennt das Geheimnis der ewigen Jugend. Der Weg in ihr Land ist zwar schwierig, aber ihr würdet trotzdem gut daran tun, euch an sie zu wenden.»

Der Soldat verneigte sich respektvoll vor dem Herrscher und ging aus dem Saal.

«Elli wird sich in das Rosa Land begeben müssen, denn bleibt sie hier im Palast, wird sie nie nach Kansas kommen. Die Smaragdenstadt ist nicht Kansas, und Kansas ist nicht die Smaragdenstadt», schlußfolgerte der Scheuch.

Die anderen schwiegen, von seiner Weisheit tief beeindruckt.

«Ich gehe mit Elli», sagte der Löwe, «mir ist die Stadt schon zuwider. Ich bin ein wildes Tier und sehne mich nach den Wäldern, und außerdem muß doch jemand Elli auf der Reise beschützen.»

«Richtig», rief der Eiserne Holzfäller, «und ich gehe meine Axt schleifen, die wahrscheinlich schon stumpf geworden ist.»

Elli fiel dem Holzfäller um den Hals.

«Laßt uns morgen früh aufbrechen», sagte der Scheuch.

«Wie, du kommst mit?» riefen alle erstaunt. «Und die Smaragdenstadt?»

«Die wird solange auf mich warten», entgegnete der Scheuch gleichmütig. «Ohne Elli würde ich noch heute auf dem Pfahl mitten im Weizenfeld sitzen und die Krähen scheuchen. Ohne Elli hätte ich mein prächtiges Gehirn niemals bekommen. Ohne sie wäre ich jetzt auch nicht Herrscher in der Smaragdenstadt. Würde ich nach all dem Elli im Stich lassen, so müßtet ihr, meine Freunde, den Scheuch der Undankbarkeit zeihen und hättet damit ganz recht.»

Es schien, als ob das neue Gehirn den Scheuch zu einem Redner gemacht hätte.

Elli dankte ihren Freunden von Herzen.

«Morgen, morgen brechen wir auf!» rief sie glücklich.

«Oho-oho-ho, morgen, morgen brechen wir auf», begann der Scheuch zu singen. Aber schon im nächsten Augenblick preßte er die Hand vor den Mund und schaute sich ängstlich um. Es war ihm eingefallen, daß er als Herrscher der Smaragdenstadt auf seine Würde achten müsse.

Der Scheuch ernannte für die Zeit seiner Abwesenheit den Soldaten zu seinem Statthalter. Din Gior setzte sich sogleich auf den Thron und versicherte dem Scheuch, daß er bei seiner Rückkehr alles in bester Ordnung vorfinden werde, denn er, der Soldat, werde seinen Posten keinen Augenblick verlassen. Sogar essen und schlafen wolle er auf dem Thron, damit niemand die Macht ergreife, solange der Herrscher abwesend sei…

* * *

In aller Frühe machten sich Elli und ihre Freunde auf den Weg. Der Torhüter war erstaunt, zu hören, daß sie wieder eine so weite und gefahrvolle Reise unternehmen.

«Ihr seid unser Herrscher», sagte er zum Scheuch, «und müßt so schnell wie möglich zurückkommen.»

«Ich muß vorerst Elli nach Kansas bringen», erwiderte der Scheuch würdevoll. «Bestellt meinen Untertanen einen Gruß und sagt ihnen, sie sollen sich meinetwegen keine Sorgen machen, denn ich bin unverwundbar und komme ganz bestimmt heil zurück.»

Elli verabschiedete sich freundlich vom Torhüter, der allen die Brillen abnahm, und die Gefährten lenkten ihre Schritte nach Süden. Es war ein herrliches Wetter, ringsum erstreckte sich das wunderschöne Land, und alle waren in bester Stimmung.

Elli glaubte zuversichtlich, daß Stella ihr zur Heimkehr verhelfen werde. Totoschka erging sich darin, wie er mit dem Prahlhans Hektor abrechnen würde. Der Scheuch und der Eiserne Holzfäller freuten sich, Elli helfen zu können, und der Löwe schwelgte im Bewußtsein seiner Tapferkeit und wünschte sich eine Begegnung mit den Tieren des Waldes, um ihnen zu zeigen, daß er ihr König sei.

Nachdem die Wanderer eine Zeitlang gegangen waren, wandten sie sich um und schauten zum letztenmal auf die Türme der Smaragdenstadt.

«Goodwin war doch kein schlechter Zauberer!» sagte der Eiserne Holzfäller.

«Ganz meiner Meinung»,., pflichtete ihm der Scheuch bei. «Er hat mir doch ein Gehirn gegeben, und dazu ein recht scharfes!»

«Hätte Goodwin ein wenig von dem Mut getrunken, den er für mich gebraut hat, so wär' er ein bewundernswerter Mensch geworden!» meinte der Löwe.

Elli schwieg. Obwohl Goodwin das Versprechen, sie nach Kansas zu bringen, nicht gehalten hatte, war sie ihm doch nicht böse. Er hatte alles getan, was in seinen Kräften stand, und es war nicht seine Schuld, daß es ihm mißlungen war. Goodwin hatte ja selber eingestanden, daß er kein Zauberer sei.

Das Hochwasser

Mehrere Tage lang zogen die Wanderer geradeaus nach Süden. Die Farmen wurden immer seltener, bis überhaupt keine mehr zu sehen war. Ringsum dehnte sich die Steppe, soweit das Auge reichte. Selbst das Wild war in diesem öden Land selten, und der Löwe wußte nachts lange suchen, bis er etwas erbeutete. Totoschka konnte seinen großen Freund auf den langen Ausflügen nicht begleiten. Doch dieser vergaß ihn nicht und brachte ihm stets ein Stück Fleisch in den Zähnen mit.

Die Wanderer scheuten keine Strapazen und setzten ihren Weg unbeirrt fort.

Eines Tages kamen sie um die Mittagszeit an einen breiten Strom mit niedrigen Ufern, die mit Weiden bestanden waren. Die Freunde blickten sich besorgt an.

«Sollen wir ein Floß bauen?» fragte der Eiserne Holzfäller.

Der Scheuch verzog das Gesicht zu einer Grimasse, denn er hatte das Abenteuer auf dem Fluß nicht vergessen.

«Es wäre wohl besser, wenn die Fliegenden Affen uns hinübertrügen», brummte er. «Wenn ich wieder mitten im Fluß steckenbleibe, so wird mir niemand helfen, denn hier gibt es doch keine Störche.»

Elli war aber anderer Meinung. Sie wollte den letzten Wunsch, den ihr der Goldene Hut gewährte, nicht vertun, weil man nicht wissen konnte, welche Schwierigkeiten ihnen noch bevorstanden und welchen Empfang ihnen Stella bereiten würde.

Der Eiserne Holzfäller baute bis zum Abend an einem Floß, das die Wanderer bestiegen. Der Scheuch handhabte vorsichtig die Ruderstange und hielt sich weit vom Rande des Floßes. Dafür arbeitete der Eiserne Holzfäller mit aller Kraft. Der Fluß war seicht und ruhig, und die Freunde kamen wohlbehalten ans andere Ufer, das flach und trostlos dalag.

«Wie öde es hier ist!» rief der Löwe und rümpfte die Nase.

«Hier können wir nicht übernachten», sagte Elli. «Laßt uns weiterziehen.»

Die Wanderer hatten kaum tausend Schritte gemacht, als sie sich wieder vor einem Wasser sahen. Es war klar, daß sie sich auf einer Insel befanden.

«Schlimm!» sagte der Scheuch, «sehr schlimm! Da müssen wir die Fliegenden Affen rufen, pikapu, trikapu!»

Elli aber dachte anders. Am Morgen, meinte sie, würde man mit dem Floß die Insel umfahren können, und es sei daher besser, hier zu übernachten, da es sowieso schon spät sei. Die Gefährten bereiteten ihr aus trockenem Gras ein erträgliches Lager, und nach dem Abendbrot legte sie sich unter dem Schutz ihrer Freunde schlafen.

Der Löwe und Totoschka gingen mit leerem Magen zur Ruhe. Sie fanden sich aber damit ab und schliefen gleichfalls ein.

Der Scheuch und der Holzfäller wachten neben den Gefährten und schauten auf das Ufer. Obwohl der eine jetzt ein Gehirn und der andere ein Herz hatte, wurden sie niemals müde und brauchten keinen Schlaf.

Zunächst blieb alles ruhig. Doch dann erhellte plötzlich ein Blitz den Horizont, dann noch einer und wieder einer… Der Eiserne Holzfäller schüttelte besorgt den Kopf. In Goodwins Land waren die Gewitter selten, aber sehr heftig. Der Donner war noch nicht zu hören, doch im Osten verfinsterte sich schnell der Himmel, und Wolken ballten sich zusammen, durch die immer öfter Blitze zuckten. Der Scheuch starrte verständnislos zum Himmel.

«Was ist denn dort los?» fragte er. «Zündet Goodwin vielleicht Streichhölzer an?»

Der Scheuch hatte in seinem kurzen Leben noch kein Gewitter gesehen.

«Es wird einen starken Regen geben», erwiderte der Eiserne Holzfäller.

«Regen? Was ist denn das?» fragte der Scheuch besorgt.

«Wasser, das vom Himmel fällt. Der Regen kann uns beiden schaden: Dir wird er die Farben wegwaschen, und ich werde verrosten.»

«Ach, ach, ach», jammerte der Scheuch, «wir müssen Elli wecken.»

«Das hat Zeit», sagte der Holzfäller, «ich will sie nicht beunruhigen, sie war ja so müde heute. Vielleicht wird das Gewitter vorüberziehen.»

Das Gewitter kam aber immer näher. Bald war der halbe Himmel von schwarzen Wolken bedeckt, durch die in einem fort Blitze zuckten, und in der Ferne grollte der Donner.

«Was ist denn das für ein Lärm?» fragte der Scheuch ängstlich.

Der Eiserne Holzfäller hatte jedoch keine Zeit, es ihm zu erklären.

«Schlimm», rief er und weckte Elli.

«Was ist geschehen?» fragte sie, die Augen aufschlagend.

«Ein entsetzliches Gewitter naht!» rief der Holzfäller.

Da erwachte auch der Löwe, der die Gefahr sofort erkannte.

«Ruf schnell die Fliegenden Affen, sonst ist's um uns geschehen», brüllte er.

Elli, der die Knie schlotterten, sprach die Zauberworte:

«Bambara, tschufara…»

Im selben Augenblick riß ihr ein Windstoß den Goldenen Hut vom Kopf und hob ihn wie einen glitzernden Stern in die finstere Höhe, wo er im Nu verschwand. Elli brach in Schluchzen aus; das im krachenden Donner unterging.

«Laß das Weinen, Elli», brüllte ihr der Löwe ins Ohr. «Hast du denn vergessen, daß ich jetzt der Tapferste unter den Tieren der Welt bin?»

«Und daß ich ein fabelhaftes Gehirn mit großartigen Gedanken besitze?» rief der Scheuch.

«Und ich ein Herz, das nicht dulden wird, daß dir etwas geschieht, Elli», fügte der Eiserne Holzfäller hinzu. Die drei stellten sich schützend vor sie, bereit, dem Sturm zu begegnen.

Dieser ließ auch nicht lange auf sich warten. Ein heftiger Wind brauste heran, und es begann in Strömen zu regnen. Schwere Tropfen klatschten schmerzhaft gegen des Löwen und Ellis Gesicht. Der Löwe wandte sich mit dem Rücken zum Wind, streckte die Tatzen aus und beugte sich vor, so daß er eine Art Schutzdach bildete, das Elli und Totoschka vor dem schrägen Regen schützte.

Der Eiserne Holzfäller griff nach seiner Ölkanne, zog aber die Hand sogleich zurück, denn bei diesem Guß hätte er ein Faß voll Öl gebraucht. um sich vor Rost au bewahren.

Der Scheuch, der im Nu durchnäßt war, sah sehr elend aus. Mit seinen weichen, ungeschickten Händen bedeckte er sein Gesicht, um die Farben darauf zu schützen «Also das ist der Regen!» brummte er. «Wenn anständige Leute baden wollen, gehen sie ins Wasser, sie haben es gar nicht nötig, sich von oben begießen zu lassen. Sobald ich in die Smaragdenstadt zurückkehre, werde ich den Regen gesetzlich verbieten!»

Das Gewitter hielt bis zum Morgen an. Bei Sonnenaufgang sahen die Wanderer mit Entsetzen, wie die schäumenden Wellen sich über die Insel wälzten.

«Wir ertrinken!» schrie der Scheuch und bedeckte mit der Hand seine verwaschenen Augen.

«Haltet euch fest!» rief der Eiserne Holzfäller laut, um Sturm und Wellen zu übertönen, «haltet euch an mir!»

Er stemmte die Beine in den sandigen Boden und stützte sich auf die Axt. In dieser Stellung war er unerschütterlich wie ein Felsen. Der Scheuch, Elli und der Löwe klammerten sich mit aller Kraft an ihn.

Die erste Welle brauste tosend über sie hinweg. Als sie vorüber war, stand der Holzfäller mitten im Wasser. Die Gefährten hielten sich an ihm mit dem Mut der Verzweiflung. Der eiserne Mann rostete sofort ein, und jetzt konnte kein Sturm ihn von der Stelle bewegen. Sehr schwer hatten es die anderen. Der leichte Scheuch lag oben auf den Wellen, die ihn wie einen Ball hin und her warfen. Der Löwe stand auf den Hinterbeinen und spuckte Wasser. Elli zappelte, von Entsetzen gepackt, in der Flut.

Der Löwe sah, daß sie nahe am Ertrinken war.

«Setz dich auf meinen Rücken, ich trag dich ans andere Ufer», stieß er keuchend hervor und ließ sich auf alle viere nieder.

Mit den letzten Kräften hob sich das Mädchen auf den Rücken des Löwen und ergriff mit der Rechten seine nasse zottige Mähne, während es mit der Linken Totoschka an sich drückte.

«Lebt wohl, Freunde!» rief der Löwe und stieß sich vom Eisernen Holzfäller ab. Mit seinen mächtigen Tatzen bahnte er sich einen Weg durch die Wellen.

«…bewohl!…» hörten sie noch schwach die Stimme des Scheuchs, während der Eiserne Holzfäller im Dunst verschwand.

Der Löwe schwamm lange und mühsam. Erfühlte, wie ihn die Kräfte verließen, aber der Mut wallte in seinem Herzen, und stolz brüllte er in den tobenden Sturm hinein. Dieses triumphierende Gebrüll sollte zeigen, daß er, selbst wenn er sterben müßte, kein Quentchen Feigheit in seinem tapferen Herzen dulde.

Da schlug ihnen plötzlich aus dem feuchten Dunst das Gebrüll eines Löwen entgegen.

«Land!»

Mit doppelter und dreifacher Kraft schwamm nun der Löwe und gewahrte bald die dunklen Umrisse eines steilen Ufers. Was er eben gehört hatte, war nicht die Stimme eines anderen Löwen, sondern das Echo gewesen.

Der Löwe stieg aus dem Wasser, setzte Elli, die klamm geworden war, auf die Erde, umschlang sie mit seinen Vordertatzen und hauchte ihr seinen heißen Atem ins Gesicht.

Der Scheuch hielt sich am Eisernen Holzfäller fest, solange die durchweichten Arme ihm gehorchten. Dann rissen die Wellen ihn weg und warfen ihn wie einen Kienspan hin und her. Der kluge Kopf des Scheuchs mit dem kostbaren Gehirn war schwerer als der Rumpf, und nun trieb der Weise Herrscher der Smaragdenstadt, den Kopf nach unten, auf dem Wasser, das ihm die letzten Farbreste von Augen, Mund und Ohren wegwusch.

Der Eiserne Holzfäller war noch eine Weile zwischen den Wellen zu sehen, doch bald hatte auch ihn die Flut bedeckt. Nur der Trichter ragte noch eine Zeitlang aus dem Wasser und verschwand dann gleichfalls. So ging der unerschrockene, herzensgute eiserne Mann völlig im wogenden Strom unter.

* * *

Drei Tage und drei Nächte warteten Elli, der Löwe und Totoschka am Ufer, daß das Hochwasser zurückgehe. Es war ein herrliches Wetter, die Sonne strahlte, und das Wasser nahm schnell ab. Am vierten Tag schwamm der Löwe mit Elli auf dem Rücken, die Totoschka im Arm hielt, zur Insel hinüber.

Der Fluß hatte eine Menge Schlamm auf der Insel abgesetzt. Der Löwe und das Mädchen gingen aufs Geratewohl nach verschiedenen Seiten und gewahrten bald eine unförmige Gestalt, die mit Schlamm bedeckt und in Algen eingehüllt war. Elli erkannte den Eisernen Holzfäller und rief den Löwen, der mit ein Paar Sätzen herbeigesprungen kam und die Gestalt von der dicken Schmutzkruste befreite.

Unverwüstlich stand der Eiserne Holzfäller in der gleichen Haltung da, in der sie ihn verlassen hatten. Mit einem Büschel Gras reinigte Elli sorgfältig seine eingerosteten Glieder, dann löste sie die Ölkanne von seinem Gürtel und schmierte ihm die Kiefern ein… «Hab Dank, liebe Elli», waren die ersten Worte des eisernen Mannes. «Du hast mir wieder das Leben geschenkt! Guten Tag, Löwe, alter Kamerad! Wie froh bin ich, dich zu sehen!»

Der Löwe wandte sich ab, Tränen der Freude standen ihm in den Augen, die er verstohlen mit dem Büschel seines Schwanzes abwischte.

Bald waren alle Gelenke des Eisernen Holzfällers wieder in Ordnung, und er schritt fröhlich neben Elli, Totoschka und dem Löwen einher, die nach dem Floß Ausschau hielten. Plötzlich stürzte sich Totoschka auf einen Haufen Algen, beschnüffelte ihn und begann mit seinen Pfoten darin zu wühlen.

«Eine Wasserratte?» fragte Elli.

«Mit solchem Gesteck werd ich mich doch nicht abgeben», erwiderte Totoschka verächtlich. «Nein, da liegt was Besseres drin!»

Unter den Pfoten des Hündchens kam zu Ellis großer Freude der Goldene Hut zum Vorschein. Zärtlich umschlang sie Totoschka und küßte ihn auf die schlammbeschmierte Schnauze. Den Hut legte sie in ihr Körbchen.

Die Wanderer fanden das Floß, das vertaut dalag, reinigten es von Schmutz und fuhren flußabwärts um die Insel, auf der sie das Gewitter überrascht hatte. Die Strömung trieb sie an einer langen Sandbank vorbei in den Fluß hinaus, dessen rechtes Ufer mit Strauchwerk bestanden war. Elli bat den Eisernen Holzfäller, das Floß dorthin zu steuern, denn sie hatte an einem Strauch den Hut des Scheuchs erblickt.

«Hurra!» schriee alle vier wie aus einem Munde.

Bald entdeckten sie auch den Scheuch, der in seltsamer Haltung zwischen den Sträuchern hing. Er war naß und zerzaust und erwiderte weder den Gruß noch die Fragen der Gefährten. Das Wasser hatte ihm Mund, Augen und Ohren weggewaschen. Vom prächtigen Spazierstock, den die Zwinkerer ihm geschenkt hatten, war keine Spur zu sehen. Das Wasser hatte ihn wahrscheinlich fortgetragen.

Die Freunde zogen den Scheuch ans sandige Ufer, schütteten das Stroh aus ihm aus und legten es in die Sonne zum Trocknen. Sein Kleid und seinen Hut hängten sie an einem Strauch auf, und seinen Kopf ließen sie mitsamt der Kleiefüllung trocknen, denn Elli wagte es nicht, das kostbare Gehirn herauszunehmen.

Als das Stroh wieder trocken war, stopften sie den Scheuch erneut damit aus und setzten seinen Kopf auf den alten Platz. Elli nahm aus ihrem Gürtel eine Blechdose mit Pinsel und Farben, die sie sich in der Smaragdenstadt beschafft hatte.


Zunächst malte sie dem Scheuch das rechte Auge auf, das ihr freundlich zuzuzwinkern begann. Dann malte sie das linke und dann die Ohren und dann den Mund. Noch ehe dieser fertig war, hub der lustige Scheuch zu singen an, wodurch er das Mädchen bei der Arbeit störte:

«O-ho-ho-ho! Elli hat mich schon wieder gerettet! 0-hoho-ho, ich bin wieder bei Elli!»

Der Scheuch sang und tänzelte, denn er hatte keine Angst, daß ihn jemand von seinen Untertanen hier sehen könnte, war es doch ein völlig ödes Land, in dem sie sich befanden.

Der Löwe wird zum König der Tiere

Nachdem sich die Wanderer von den Strapazen etwas erholt hatten, setzten sie ihren Weg fort. Je weiter sie sich vom Fluß entfernten, desto freundlicher wurde das Land. Sie gingen durch schattige Haine und über grüne Wiesen und kamen nach zwei Tagen in einen großen Wald.

«Wie herrlich!» rief der Löwe aus. «Solch jungfräuliche Wälder habe ich noch nie gesehen. In meiner Heimat ist der Wald lange nicht so schön!»

«Mir ist es zu düster hier», bemerkte der Scheuch.

«Aber nein», entgegnete der Löwe. «Ist es nicht eine Wonne, über den weichen Teppich aus trockenen Blättern zu gehen? Und wie dicht das grüne Moos von den Bäumen herabhängt! Ich möchte für immer hier bleiben!»

«In diesem Wald gibt es bestimmt wilde Tiere», sagte Elli.

«Es würde mich auch wundern, wenn ein solch herrlicher Ort unbewohnt wäre», erwiderte der Löwe.

Wie zur Bekräftigung seiner Worte hallte dumpfes Gebrüll aus dem Gehölz. Elli erschrak, doch der Löwe beruhigte sie:

«Unter meinem Schutz kann dir nichts geschehen. Hast du etwa vergessen, daß Goodwin mir Mut gegeben hat?»

Ein ausgetretener Pfad führte die Wanderer auf eine große Lichtung, auf der sich Tausende Tiere versammelt hatten. Da waren Elefanten und Bären, Tiger und Wölfe, Füchse und viele andere Bewohner des Waldes zu sehen. Die vordersten starrten neugierig den Löwen an, und im Nu verbreitete sich die Kunde von seiner Ankunft über die ganze Lichtung.

Lärm und Gebrüll verstummten, und ein mächtiger Tiger trat vor und verneigte sich tief vor dem Löwen:

«Sei willkommen, König der Tiere! Du bist zur rechten Zeit gekommen, um unseren Feind zu vernichten und den Bewohnern dieses Waldes Frieden zu schenken.»

«Wer ist euer Feind?» fragte der Löwe.

«In unserem Wald ist ein schreckliches Ungeheuer aufgetaucht. Es sieht wie eine Spinne aus und ist doppelt so groß wie ein Elefant. Wenn es durch den Wald geht, hinterläßt es eine breite Spur aus umgestürzten Bäumen. Wer immer ihm in den Weg kommt, den packt es mit seinen Vordertatzen und saugt ihm das Blut aus. Wir haben uns versammelt, um zu beraten, wie wir uns von ihm befreien könnten.»

Der Löwe überlegte.

«Gibt es Löwen in eurem Wald?» fragte er.

«Zu unserem großen Bedauern keinen einzigen.»

«Wenn ich euren Feind töte, werdet ihr mich als König anerkennen und mir gehorchen?»

«Oh, mit Vergnügen, mit größtem Vergnügen!» brüllten die Tiere im Chor.

«Ich geh mich schlagen», erklärte der Löwe. «Schütz meine Freunde, solange ich weg bin. Wo befindet sich das Ungeheuer?»

Der Tiger wies ihm die Richtung. «Geh diesen Pfad entlang bis zu den großen Eichen. Dort verdaut die Spinne gerade einen Büffel, den sie am Morgen gefressen hat.»

Der Löwe ging in die genannte Richtung und kam an eine kleine Lichtung, die von umgestürzten Bäumen umgeben war. Die Spinne war noch gräßlicher anzusehen als das zwölffüßige Ungetüm Goodwins. Der Löwe betrachtete voller Abscheu die riesige Spinne, deren mächtige Pratzen mit schrecklichen Krallen versehen waren. Das Tier sah ungeheuer stark aus und hatte einen langen dünnen Hals.

,Das ist wohl seine schwächste Stelle', dachte der Löwe und beschloß, sich auf das schlafende Ungeheuer zu stürzen.

Mit einem mächtigen Satz sprang er auf den Rücken der Spinne und riß ihr, noch ehe sie aus dem Schlaf erwachte, mit einem Frankenhieb den Hals entzwei, worauf er sofort zurücksprang. Der Kopf des Ungeheuers rollte zur Seite, während der Rumpf mit den Krallen die Erde aufwühlte und dann reglos liegenblieb.

Der Löwe ging zu den Tieren zurück, die ihn mit Ungeduld erwarteten, und sagte zu ihnen:

«Von jetzt ab könnt ihr ruhig schlafen, das Ungeheuer ist tot.»

Ein Jubel brauste über die Lichtung, und die Tiere gelobten dem Löwen ewige Treue. Dieser aber sprach:

«Ich komme wieder, sobald ich Elli nach Kansas gebracht habe. Dann werde ich euch weise und gnädig regieren.»

Stella, die ewig junge Zauberin des Rosa Landes

Die Freunde kamen ohne weitere Zwischenfälle durch den Wald, und als sie aus ihm heraustraten, sahen sie einen steilen felsigen Berg vor sich, den sie nicht umgehen konnten, weil zu beiden Seiten tiefe Abgründe klafften.

«Es wird schwer sein, den Berg zu besteigen», sagte der Scheuch. «Aber ein Berg ist keine Ebene, und da er vor uns steht, müssen wir über ihn hinüber!»

Er begann hinaufzuklettern, wobei er sich an den Felsen schmiegte und an jeden Vorsprung klammerte. Die anderen folgten ihm.

Sie hatten schon ein gutes Stück geschafft, da hörten sie plötzlich eine raube Stimme:

«Zurück!»

«Wer ist dort?» fragte der Scheuch.

Hinter dem Felsen lugte ein wunderlicher Kopf hervor.

«Das ist unser Berg, und niemand darf da hinüber!»

«Aber wir müssen doch über den Berg», entgegnete der Scheuch höflich. «Wir ziehen in Stellas Land, und einen anderen Weg gibt es doch nicht!»

«Ziehen könnt ihr, aber hinüber kommt ihr nicht!»

Auf den Felsen sprang kichernd ein kleines dickliches Männlein mit einem großen Kopf auf einem kurzen Hals, das mit seinen ungeheuren Fäusten den Wanderern drohte. Es schien nicht allzu kräftig zu sein, und der Scheuch kletterte mutig weiter.

Doch da geschah etwas Unerwartetes. Das wunderliche Männlein stieß sich mit beiden Füßen von der Erde ab, flog wie ein Gummiball in die Luft und schlug mit Kopf und Fäusten gegen die Brust des Scheuchs. Dieser purzelte vom Berg hinab, und das Männlein, das nun wieder auf den Füßen stand, brach in schallendes Gelächter aus.

«Ha-ha-ha! Jetzt wißt ihr, was euch bei uns, den Springern, blüht.»

Wie auf ein Zeichen sprangen von allen Seiten Hunderte ebensolcher Männlein hervor.

«Ha-ha-ha! Versucht doch, hinüberzukommen!» riefen sie durcheinander.

Eine ungeheure Wut packte den Löwen. Er stieß ein drohendes Gebrüll aus und warf sich, mit dem Schwanz die Flanken peitschend, dem Männlein entgegen. Da sprangen mehrere von ihnen gleichzeitig in die Luft und stießen ihre flachen Schädel und starken Fäuste mit solcher Wucht gegen den Löwen, daß dieser den Hang hinunterrollte und vor Schmerz wie ein ganz gewöhnliches Kätzchen zu miauen begann. Verstört richtete er sich wieder auf und hinkte vom Fuß des Berges hinweg.

Der Eiserne Holzfäller fuchtelte mit der Axt, prüfte die Geschmeidigkeit seiner Gelenke und kroch entschlossen den Berg hinauf.

«Zurück, zurück!» schrie Elli weinend und f aßte ihn an der Hand. «Du wirst dir das Genick brechen. Wie sollen wir dich dann in diesem öden Land wieder flicken?»

Ellis Tränen veranlaßten den Holzfäller umzukehren.

«Laßt uns die Fliegenden Affen rufen», schlug der Scheuch vor. «Ohne sie schaffen wir's nicht, pikapu, trikapu!»

Elli seufzte:

«Wenn uns Stella unfreundlich begegnet, werden wir schutzlos dastehen…»

Da ließ sich Totoschka hören:

«Als kluger Hund schäme ich mich, es einzugestehen, aber die Wahrheit läßt sich nicht verbergen: Wir beide sind doch schrecklich dumm, Elli!»

«Wieso?» fragte Elli verwundert.

«Ich will's dir sagen. Als der Anführer der Affen uns durch die Luft trug, erzählte er uns die Geschichte von dem Goldenen Hut…Den Hut kann man doch weitergeben, nicht wahr?»

«Na und?» Elli begriff noch immer nicht.

«Nach dem dritten und letzten Wunsch, den der Goldene Hut dir gewährt, kannst du diesen doch an den Scheuch weitergeben, dem dann wieder drei Wünsche zustehen.»

«Hurra, hurra», schrien alle begeistert. «Totoschka, du bist unser Retter.»

«Schade, daß dieser glänzende Gedanke mir nicht früher kam», wehrte das Hündchen bescheiden ab. «Dann hätten wir unter dem Hochwasser nicht leiden müssen…»

«Das stimmt», sagte Elli. «Aber was vorbei ist, ist vorbei.»

«Gestattet mir, mal nachzurechnen», mischte sich der Scheuch ein. «…drei und drei und drei…», — er bog die Finger um und zählte lange. «Das heißt, das ich, der Holzfäller und der Löwe den Fliegenden Affen noch neun Befehle erteilen können!»

«Und mich hast du vergessen?» rief Totoschka gekränkt. «Ich darf doch auch den Goldenen Hut besitzen.»

«Ich hab dich nicht vergessen», seufzte der Scheuch, «aber leider kann ich nur bis zehn zählen.»

«Das ist furchtbar unangenehm für einen Herrscher», bemerkte der Holzfäller ernst. «Ich werde dir das Zählen. in meiner Freizeit beibringen müssen.»

Nun konnte Elli unbekümmert ihren letzten Wunsch verausgaben. Sie sprach die Zauberworte, die der Scheuch, vor Freude tänzelnd, wiederholte. Dabei drohe er den kampflustigen Springern mit der Faust.

Das Rudel Affen kam rauschend angeflogen.

«Was befiehlt Ihr, Herrin des Goldenen Hutes?» fragte der Anführer.

«Tragt uns zu Stellas Schloß», sagte Elli.

«Es soll geschehen!»

Im Handumdrehen fühlten sich die Wanderer hochgehoben.

Als sie über den Berg flogen, schnitt der Scheuch den Springern schreckliche Gesichter und schimpfte wie ein Kesselflicker. Die Männlein sprangen in die Luft, konnten aber die Affen nicht erreichen und schäumten vor Wut.

Bald lagen der Berg und das ganze Land der Springer weit zurück, und den Wanderern bot sich ein herrlicher Ausblick auf das fruchtbare Land der Schwätzer, in dem die gute Zauberin Stella regierte.

Die Schwätzer waren freundliche und fleißige Menschen. Ihr einziger Fehler bestand darin, daß sie für ihr Leben gern schwatzten. Selbst wenn sie allein waren, führten sie stun- denlang Selbstgespräche. Stella, die mächtige Zauberin, konnte ihnen das Schwatzen nicht abgewöhnen. Einmal nahm sie ihnen sogar die Sprache, doch die Leute fanden schnell einen Ausweg. Sie begannen sich durch Zeichen zu verständigen und trieben sich tagelang gestikulierend auf den Straßen und Plätzen herum. Stella sah ein, daß sie gegen dieses Übel machtlos sei, und gab den Schwätzern die Sprache zurück.

Rosa war die Lieblingsfarbe dieses Volkes. Bei den Käuern war es, wie Ihr wisset, die blaue, bei den Zwinkerern die violette und in der Smaragdenstadt die grüne Farbe. Im Lande der Schwätzer waren die Häuser und Zäune rosarot angestrichen, und die Einwohner trugen rosa Kleider.

Die Affen setzten Elli und ihre Gefährten vor Stellas Schloß ab, an dem drei schöne Mädchen Wache standen. Mit angstvollem Staunen blickten sie auf das Fliegende Rudel.

«Leb wohl, Elli», verabschiedete sich der Anführer freundlich. «Heute haben wir dir zum letztenmal gedient.

«Lebt «Lebt wohl, lebt wohl», rief Elli, «habt vielen Dank!»

Die Affen flogen rauschend und lachend davon.

«Freut euch nicht allzusehr!» schrie ihnen der Scheuch nach. «Das nächste Mal wird euch ein anderer befehlen, und den sollt ihr nicht so einfach loswerden.»

«Können wir Stella, die gute Zauberin, sehen?» fragte Elli stockenden Herzens die Mädchen von der Wache.

«Sagt, wer ihr seid und was euch herführt, dann werde ich euch anmelden», erwiderte die Älteste.

Elli sagte ihr Bescheid, und das Mädchen ging Meldung erstatten. Die anderen begannen die Wanderer auszufragen, aber noch ehe diese zur Antwort kamen, war das erste Mädchen wieder da.

«Stella läßt euch ins Schloß bitten.»

Elli wusch sich, der Scheuch säuberte sein Kleid, der Eiserne Holzfäller schmierte sich die Gelenke ein und polierte sie sorgfältig mit Lappen und Schmirgel, und der Löwe schüttelte sich so, daß er eine Menge Staub aufwirbelte. Die fünf bekamen ein ausgiebiges Essen und wurden dann in einen reich geschmückten rosa Saal geführt, wo die Zauberin Stella auf einem Thron saß. Sie war sehr schön und sah gütig und ungewöhnlich jung aus, obwohl sie seit Jahrhunderten das Land der Schwätzer regierte. Stella lächelte den Eintretenden freundlich zu, bat sie Platz zu nehmen und sprach, zu Elli gewandt:

«Erzähl deine Geschichte, liebes Kind!»

Elli begann ausführlich zu erzählen. Stella und ihre Höflinge hörten ihr gespannt und teilnahmsvoll zu.

«Und was willst du von mir, liebes Kind?» fragte Stella, als Elli mit ihrer Geschichte zu Ende war.

«Helft mir nach Kansas zurückkehren, zu Vater und Mutter. Wenn ich daran denke, wie sie um mich trauern, so verkrampft sich mir das Herz vor Schmerz und Kummer.»

«Du hast aber doch eben gesagt, daß Kansas eine öde, graue und staubige Steppe ist. Und hier — schau, wie schön wir es hier haben!»

«Ich lieb aber Kansas mehr als Ihr schönes Land!» erwiderte Elli leidenschaftlich. «Kansas ist meine Heimat.»

«Dein Wunsch soll erfüllt werden, doch mußt du mir den Goldenen Hut geben.»

«Mit Vergnügen, Frau Zauberin. Ich wollte ihn dem Scheuch geben, aber ich weiß, daß Ihr ihn besser zu nutzen wissen werdet als er.»

«Ich werde ihn so nutzen, daß seine Zauberkraft deinen Freunden zugute kommt», sagte Stella. Und zum Scheuch gewandt: «Was gedenkt Ihr zu tun, wenn Elli nicht mehr bei Euch sein wird?»

«Ich will in die Smaragdenstadt zurückkehren», sagte der Scheuch mit Würde. «Goodwin hat mich zum Herrscher dieser Stadt ernannt, und ein Herrscher muß dort leben, wo er regiert. Kann ich vielleicht die Smaragdenstadt regieren, wenn ich im Rosa Land bleibe? Allerdings mache ich mir Sorgen wegen des Rückweges durch das Land der Springer und über den Fluß, in dem ich beinahe ertrank.»

«Sobald ich den Goldenen Hut bekomme, ruf ich die Fliegenden Affen und befehle ihnen, Euch in die Smaragdenstadt zu tragen. Einen so wunderbaren Herrscher darf man dem Volk nicht nehmen!»

«Also bin ich wirklich wunderbar?» fragte der Scheuch strahlend.

«Mehr noch, Ihr seid einzig in Eurer Art, und ich möchte Euch meinen Freund nennen.»

Ungestüm verneigte sich der Scheuch vor der guten Zauberin.

«Und was möchtet Ihr?» fragte Stella den Eisernen Holzfäller.

«Wenn Elli das Land verlassen haben wird», sagte dieser betrübt, «werd ich schrecklich traurig sein. Ich möchte ins Land der Zwinkerer, die mich zu ihrem Herrscher gewählt haben. Dann werde ich meine Braut ins Violette Schloß führen — ich bin sicher, daß sie auf mich wartet, — und die Zwinkerer regieren, die ich sehr liebgewonnen hab.»

«Auf meinen zweiten Wunsch werden die Fliegenden Affen Euch in das Land der Zwinkerer tragen. Euer Gehirn ist zwar nicht so wunderbar wie das Eures Kameraden, des Weisen Scheichs, dafür aber besitzt Ihr ein liebendes Herz und seid so glänzend von Gestalt, daß Ihr gewiß ein großartiger Herrscher sein werdet. Gestattet mir, auch Euch meinen Freund zu nennen.»

Der Eiserne Holzfäller verneigte sich ehrerbietig vor der Zauberin.

Stella fragte den Löwen:

«Und was wünscht Ihr?»

«Dort, wo das Land der Springer aufhört, liegt ein herrlicher jungfräulicher Wald. Seine Tiere haben mich zu ihrem König erkoren. Deshalb wünsch ich mir, dorthin zurück- zukehren und den Rest meiner Tage dort zu verbringen.»

«Durch meinen dritten Wunsch an den Goldenen Hut sollt Ihr, Tapferer Löwe, zu den Tieren versetzt werden, die selbstverständlich glücklich sein werden, einen solchen König zu haben. Auch auf Eure Freundschaft rechne ich.»

Der Löwe reicht Stella seine mächtige Tatze, die die Zauberin freundlich drückte.

«Und dann, wenn die letzten drei Wünsche erfüllt sind, will ich ihn, den Goldenen Hut, den Fliegenden Affen zurückgeben, damit sie von niemand mehr mit Wünschen belästigtwerden, die oft sinnlos und grausam sind», meinteStella.

Alle stimmten ihr zu, daß man den Hut gar nicht besser nutzen könne, und rühmten ihre Weisheit und Güte.

«Und wie wollt Ihr mich nach Kansas bringen, Frau Zauberin?» fragte Elli.

«Die silbernen Schuhe werden dich über Wald und Berg tragen», erwiderte Stella. «Hättest du ihre Zauberkraft gekannt, so wärst du gleich an dem Tag in deine Heimat zurückgekehrt, an dem dein Häuschen die böse Gingema zerdrückte.»

«Aber dann hätte ich doch mein wunderbares Gehirn nicht bekommen», rief der Scheuch. «Dann hätte ich bis auf den heutigen Tag die Krähen auf dem Feld des Farmers verscheuchen müssen!»

«Und ich hätte mein liebevolles Herz nicht erhalten», sagte der Eiserne Holzfäller, «und hätte im Walde stehen und rosten müssen, bis ich zu Staub zerfallen wäre.»

«Und ich wäre ein Feigling geblieben», brüllte der Löwe, «und niemals König der Tiere geworden!»

«Da habt ihr freilich recht», sagte Elli. «Und es tut mir auch gar nicht leid, daß ich so lange in Goodwins Land leben mußte. Ich bin nur ein kleines schwaches Mädelchen, aber ich hab euch stets liebgehabt und wollte euch immer helfen! Jetzt aber, wo unsere sehnlichsten Wünsche in Erfüllung gegangen sind, muß ich heimkehren, wie es im Zauberbuch Willinas steht.»

«Es schmerzt uns, von dir zu scheiden, Elli», riefen der Scheuch, der Holzfäller und der Löwe. «Aber wir segnen den Augenblick, da der Sturm dich in das Zauberland verschlagen hat. Du hast uns Freundschaft halten gelehrt, und das ist das Teuerste und Schönste auf Erden!»

Stella lächelte dem Mädchen zu. Elli umarmte den großen Tapferen Löwen und kraulte zärtlich seine zottige Mähne. Sie küßte den Eisernen Holzfäller, und dieser weinte bittere Tränen, wobei er seine Kiefern völlig vergaß. Sie streichelte den ausgestopften Scheuch und küßte ihn auf das liebe, bemalte Gesicht…

«Die silbernen Schuhe besitzen viele wunderbare Eigenschaften. Das Wunderbarste an ihnen aber ist, daß sie dich blitzschnell bis ans Ende der Welt tragen können. Du brauchst bloß die Hacken zusammenzuschlagen und den Ort zu nennen…»

«Dann sollen sie mich gleich nach Kansas tragen!»

Als Elli aber daran dachte, daß sie sich für immer von ihren treuen Freunden trenne, mit denen sie soviel Leid und Freud geteilt hatte, denen sie sooft in der Not geholfen und die ihrerseits so viele Male ihr Leben für sie aufs Spiel gesetzt hatten, brach ihr fast das Herz.

Stella stieg vom Thron herab, umarmte Elli zärtlich und küßte sie zum Abschied.

«Es ist Zeit, mein Kind», sagte sie sanft. «Scheiden ist schwer, aber süß ist das Wiedersehen. Denke daran, daß du bald deine Eltern umarmen wirst. Leb wohl und vergiß uns nicht!»

«Lebe wohl, lebe wohl, Elli!» riefen die Freunde.

Elli nahm Totoschka in die Arme, schlug die Hacken zusammen und rief den silbernen Schuhen zu:

«Tragt mich nach Kansas, zu Vater und Mutter!»

Ein heftiger Windstoß erfaßte Elli und wirbelte sie herum, daß ihr schwindlig wurde. Wie ein Feuerstrahl schoß die Sonne über den Himmel, und noch ehe das Mädchen Angst verspüren konnte, war sie schon wieder auf der Erde. All das geschah so plötzlich, daß Elli sich mehrmals überschlug und Totoschka aus den Armen ließ…

Schluss

Als Elli zu sich kam, sah sie ganz nahe ein neues Häuschen stehen, das ihr Vater anstelle des alten gebaut hatte.

Starr vor Staunen stand die Mutter vor der Tür und blickte auf das Kind, und vom Stall her kam der Vater mit erhobenen Armen gerannt.

Elli lief den Eltern entgegen, und da gewahrte sie plötzlich, daß sie in bloßen Strümpfen war. Sie hatte die Schuhe während des Flugs verloren, doch tat es ihr nicht leid, da sie wußte, daß es in Kansas keine Wunder gebe. Die Mutter schloß das Mädelchen in die Arme und bedeckte sein verstörtes Gesichtchen mit zahllosen Küssen und einem Strom von Tränen.

«Bist du vom Himmel zu uns zurückgekehrt, mein Teuerstes?»

«O nein, ich war in Goodwins Wunderland», erwiderte die Kleine schlicht. «Aber die ganze Zeit hab ich an euch gedacht… und… warst du, Papa, auf dem Jahrmarkt?»

«Aber Elli, mein Liebstes!» sagte der Vater, halb lachend, halb weinend. «Wie konnten wir an den Jahrmarkt denken, wo wir dich für verloren hielten und uns so furchtbar grämten!»

Mehrere Tage lang erzählte Elli von Goodwins Wunderland und von ihren treuen Gefährten, dem Weisen Scheuch, dem Guten Holzfäller und dem Tapferen Löwen.

Totoschka, der neben ihr stand, konnte die Wahrheit ihrer Worte nicht bestätigen, weil ihm bei seiner Rückkehr nach Kansas die Sprache wieder abhanden gekommen war. Aber die Art, wie er mit dem Schwanz wedelte, war beredt genug.

Es erübrigt sich zu sagen, daß der Kampf mit Nachbars Hektor gleich am Tag nach der Rückkehr Totoschkas aus dem Wunderland stattfand. Er endete unentschieden, und die Gegner verspürten plötzlich solche Achtung voreinander, daß sie unzertrennliche Freunde wurden und sich von jetzt ab nur gemeinsam mit den Hunden in der Gegend rauften.

Farmer John fuhr in die Nachbarschaft zum Jahrmarkt, wo er Elli in den Zirkus führte. Dort traf sie unerwartet James Goodwin, und beide freuten sich grenzenlos über das Wiedersehen.

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