Zweiter Teil Der Grosse und Schreckliche

Die Smaragdenstadt

Am nächsten Morgen, als die Freunde bereits mehrere Stunden unterwegs waren, sahen sie plötzlich ein grünes Leuchten am Horizont.

«Das ist wahrscheinlich die Smaragdenstadt», meinte Elli.

Das Leuchten wurde, je näher sie kamen, immer stärker, aber erst am Nachmittag erreichten die Wanderer die hohe grellgrüne Mauer, von der es ausging. Vor ihnen befand sich ein großes Tor mit riesigen Smaragden, die so stark funkelten, daß sie sogar den Scheuch blendeten, obwohl er nur gemalte Augen hatte. Hier hörte der gelbe Backsteinweg auf, der die Freunde so viele Tage geführt und schließlich ans ersehnte Ziel gebracht hatte.

Über dem Tor hing eine Glocke. Elli zog an der Schnur, und die Glocke gab einen tiefen klaren Ton. Alsdann öffnete sich langsam das Tor, und die Wanderer traten in ein Zimmer mit gewölbter Decke, dessen Wände von zahllosen Smaragden funkelten.

Ein kleines Männlein empfing sie, das von Kopf bis Fuß in Grün gekleidet war und an der Hüfte eine grüne Tasche trug.

Das Männlein war sehr erstaunt bei ihrem Anblick und sagte:

«Wer seid ihr?»

Ich bin ein Strohmann und brauche ein Gehirn!» erwiederte der Scheuch.

«Ich bin aus Eisen gemacht und wünsche mir ein Herz», sagte der Holzfäller.

«Ich bin der Feige Löwe und möchte mir hier Mut holen», erklärte der Löwe.

«Und ich bin Elli aus Kansas und will in meine Heimat zurückkehren», sagte das Mädchen.

«Wozu seid ihr aber in die Smaragdenstadt gekommen?»

«Wir wollen den Großen Goodwin sehen. Wir hoffen, daß er unsere Wünsche erfüllt, denn uns kann außer einem Zauberer niemand helfen.»

«Schon viele Jahre hat niemand bei Goodwin dem Schrecklichen um Einlaß gebeten», erwiderte das Männlein nachdenklich. «Er ist mächtig und schrecklich, und falls ihr ohne triftigen Grund oder mit der bösen Absicht gekommen seid, den weisen Zauberer beim Denken zu stören, so wird er euch im Handumdrehen vernichten.»

«Aber wir haben doch wichtige Anliegen an Goodwin», sagte der Scheuch nachdrücklich. «Wir haben gehört, daß er ein gütiger Weiser ist.»

«Das stimmt», meinte das grüne Männlein. «Er regiert weise die Smaragdenstadt. Aber wer aus purer Neugier in die Stadt kommt, den beneide ich nicht. Ich bin der Torhüter, und da ihr gekommen seid, werde ich euch zu Goodwin führen, nur müßt ihr Brillen aufsetzen.»

«Brillen?» wunderte sich Elli.

«Ohne Brillen wird euch die Pracht der Smaragdenstadt blenden. Bei uns tragen alle Einwohner Tag und Nacht Brillen. So hat's der Weise Goodwin befohlen. Die Brillen haben ein Schloß, damit sie niemand abnehmen kann.»

Er öffnete seine grüne Tasche, in der sich viele grün Brillen jeder Größe befanden. Die Ankömmlinge, der Löwe und Totoschka nicht ausgenommen, mußten Brillen aufsetzen, deren winzige Schlößchen der Torhüter verschloß.

Dann setzte er gleichfalls eine Brille auf und führte die betroffen schweigenden Wanderer durch die gegenüberliegende Tür auf eine Straße.

Die herrliche Stadt blendete die Ankömmlinge, obwohl die Brillen ihre Augen schützten. Zu beiden Seiten standen prächtige Häuser aus grünem Marmor, deren Wände Smaragde schmückten. Die Fahrbahn bestand aus grünen Marmorplatten, zwischen die Smaragde eingelegt waren. Auf der Straße drängte sich das Volk.

Neugierig betrachteten die Leute Ellis Gefährten, doch niemand richtete ein Wort an sie. Auch hier schienen sich alle vor dem Löwen und Totoschka zu fürchten. Die Stadtbewohner trugen grüne Kleider, und auch ihre Haut schimmerte grün. Alles war in der Smaragdenstadt grün, sogar die Sonnenstrahlen.

Der Torhüter geleitete die Wanderer durch die grünen Straßen zu einem hohen schönen Gebäude in der Mitte der Stadt. Es war das Schloß des Großen und Weisen Zauberers Goodwin.

Ellis Herz pochte laut vor Erregung, als sie durch den Schloßpark gingen, in dem viele Springbrunnen und Blumenbeete zu sehen waren. Jetzt wird sich ihr Schicksal entscheiden, jetzt wird sie erfahren, ob der Zauberer Goodwin sie in ihre Heimat führen werde, ob die Strapazen des langen und mühsamen Weges umsonst waren oder nicht.

Das Schloß war gegen Feinde gut gesichert. Eine hohe Mauer umgab es, um die sich ein Wassergraben zog, und es war auch eine Zugbrücke da, die man im Bedarfsfall herablassen konnte.

Als der Torhüter und die Ankömmlinge am Graben anlangten, war die Brücke hochgezogen. Auf der Mauer stand ein hochgewachsener Soldat in grüner Uniform. Er hatte einen grünen Bart, der ihm fast bis zu den Knöcheln reichte und auf den er sehr stolz war, um so mehr als sich kein anderer Bewohner dieses Landes eines solch herrlichen Bartes rühmen konnte. Neider behaupteten, es sei der einzige Vorzug des Soldaten, nur ihm habe er den hohen Posten auf der Mauer zu verdanken.

Der Soldat hielt einen kleinen Spiegel und einen Kamm in den Händen, mit dem er seinen prächtigen Bart kämmte. Über diese Beschäftigung weder sah noch hörte er, was ringsum vorging.

«Din Gior!» rief der Torhüter zur Mauer hinauf. «Da sind ein paar Fremde, die den Großen Goodwin sehen möchten.»

Als keine Antwort erfolgte, schrie der Scheuch mit seiner heiseren Stimme:

«Herr Soldat! Laßt uns ein! Wir sind berühmte Wanderer, Sieger über die Säbelzahntiger und wagemutige Fahrer über Flüsse.»

Keine Antwort.

«Ihr Freund leidet wahrscheinlich an Zerstreutheit?»

«Ja, das kommt bei ihm vor», erwiderte der Torhüter.

«Verehrtester, schenkt uns Eure Aufmerksamkeit!» schrie der Holzfäller. «Nein, er hört nicht. Laßt uns alle gemeinsam rufen!»

Sie holten tief Atem, und der Holzfäller setzte sogar seinen Trichter an den Mund. Auf ein Zeichen des Scheuchs schrien sie aus Leibeskräften:

«Herr Soldat! Laßt uns ein! Herr Soldat! Laßt uns ein!»

Der Scheuch schlug mit seinem Stock gegen das Geländer des Grabens, daß es dröhnte, und Totoschka bellte laut. Das machte aber keinen Eindruck auf den Soldaten, der fortfuhr, seinen Bart liebevoll zu kämmen.

«Da werd ich wohl brüllen müssen wie die Tiere des Waldes», sagte der Löwe, «ich sehe keinen anderen Ausweg.»

Er stemmte sich fest auf seine Taten, reckte den Kopf und stieß ein Gebrüll aus, daß die Scheiben in den Fenstern klirrten, die Blumen ringsum erschauerten, das Wasser aus den Becken spritzte und die Neugierigen, die die seltsame Gesellschaft von weitem beobachteten, die Hände an die Ohren preßten und auseinanderstoben.

Der Soldat steckte Kamm und Spiegel in die Tasche, beugte sich über die Mauer und betrachtete verwundert die Ankömmlinge. Als er den Torhüter erblickte, atmete er sichtlich erleichtert auf.

«Bist du's, Faramant!» fragte er. «Was ist los?»

«Din Gior, wir stehen schon eine halbe Stunde da und schreien zu dir hinauf», erwiderte der Torhüter wütend.

«Ach, erst eine halbe Stunde», meinte der Soldat gleichmütig. «Das ist doch eine Kleinigkeit. Sag mir lieber, was das für Leute sind, die du mitbringst.»

«Fremde, die den Großen Goodwin sehen wollen!»

«Na, meinetwegen sollen sie eintreten», sagte Din Gior seufzend. «Ich will's dem Großen Goodwin melden…»

Er ließ die Brücke herab. Die Wanderer nahmen vom Torhüter Abschied, gingen über den Graben und traten in das Schloß. Der Soldat, der sie in den Empfangssaal führte, bat die Ankömmlinge, sich auf einer grünen Matte vor dem Eingang den Staub von den Füßen abzutreten, und hieß sie in grünen Sesseln Platz nehmen.

«Wartet hier. Ich will mich vor die Tür des Thronsaals begeben und dem Großen Goodwin eure Ankunft melden.»

Wenige Minuten später kam der Soldat zurück. Elli fragte ihn:

«Habt Ihr Goodwin gesehen?»

«O nein. Ich sehe ihn niemals!» war die Antwort. «Der Große Goodwin spricht mit mir nur durch die Tür. Er ist offenbar so furchtbar von Gestalt, daß er die Leute nicht umsonst schrecken möchte. Als ich ihm eure Ankunft meldete, wurde er zornig und wollte zunächst nichts hören. Dann fragte er plötzlich, wie ihr gekleidet seid. Als ich die silbernen Schuhe erwähnte, da horchte er auf und sagte, er würde euch alle empfangen. Doch müßt ihr wissen, daß er an einem Tag nur einen Bittsteller vorläßt. Das ist so seine Gewohnheit. Also werdet ihr hier mehrere Tage bleiben müssen. Er hat befohlen, euch Zimmer anzuweisen, damit ihr nach dem langen Weg ausruht.»

«Ich bitte dem Großen Goodwin in unserem Namen zu danken», sagte Elli.

Sie war beinahe sicher, daß der Zauberer gar nicht so schrecklich sei, wie es sich herumsprach, und die Heimat zurückführen werde.

Din Gior blies in seine grüne Pfeife, und ein schönes Mädchen in grünem Seidenkleid trat ins Zimmer. Sie hatte eine glatte grüne Haut, grüne Augen und lockiges grünes Haar. Das Mädchen verneigte sich tief vor Elli und sagte:

«Folgt mir, ich soll Euch in Euer Zimmer führen.»

Sie schritten durch prunkvolle Gemächer, stiegen viele Treppen auf und ab und kamen schließlich in das Zimmer, das für Elli bestimmt war. Ein schöneres und behaglicheres Gemach konnte man sich gar nicht vorstellen. Da stand ein kleines Bett, und in der Mitte gab es einen Springbrunnen, dessen feiner Wasserstrahl in ein schönes Becken zurückfiel. Selbstverständlich war auch hier alles grün.

«Fühlt Euch wie zu Hause», sagte das grüne Mädchen. «Der Große Goodwin wird Euch morgen früh empfangen.»

Dann ging das Mädchen, um die anderen in ihre Zimmer zu führen, die gleichfalls herrlich eingerichtet waren und im schönsten Teil des Schlosses lagen.

Auf den Scheuch machte die ganze Pracht keinen Eindruck. Als das Mädchen weg war, stellte er sich gleichmütig neben die Tür und verharrte so bis zum Morgen. Die ganze Nacht hindurch starrte er eine kleine Spinne an, die sorglos ihr Netz wob, als befände sie sich nicht in einem herrlichen Schloß, sondern in der Hütte eines armen Schusters.

Der Eiserne Holzfäller legte sich zwar ins Bett, doch tat er es nicht, weil ihn danach verlangte, sondern weil er sich an die Zeit erinnerte, als er noch einen Körper aus Fleisch und Blut hatte. Aber auch er schloß die ganze Nacht kein Auge, da er immer wieder den Kopf, die Arme und die Beine bewegte, um sich zu vergewissern, daß sie nicht eingerostet waren.

Der Löwe hätte am liebsten im Hinterhof auf Stroh geschlafen, weil dies aber nicht anging, stieg er ins Bett, rollte sich wie eine Katze zusammen und begann so laut zu schnarchen, daß es im ganzen Schloß zu hören war. Das gleiche tat, allerdings viel leiser, Totoschka, der es sich neben seinem mächtigen Freund gemütlich gemacht hatte.

Die wunderbaren Verwandlungen Goodwins des Zauberers

Am Morgen kam das grüne Mädchen wieder, wusch und kämmte Elli und führte sie in den Thronsaal.

In einem anstoßenden Saal standen festlich gekleidete Höflinge und Hofdamen. Obwohl Goodwin niemals vor sie trat und sie auch niemals empfing, pflegten sie sich seit Jahr und Tag jeden Morgen zu Schwatz und Klatsch im Schloß zu versammeln. Sie nannten das «Hofdienst» und bildeten sich viel darauf ein.

Die Höflinge betrachteten Elli mit Staunen, und als sie ihre silbernen Schuhe gewahrten, verneigten sie sich bis zum Boden.

«Eine Fee, eine Fee», hörte man flüstern.

Einer der Beherzesten trat auf Elli zu und fragte sie unter vielen Bücklingen:

«Ich erkühne mich, hochverehrte Frau Fee, an Euch die Frage zu richten: Wird Goodwin der Schreckliche Euch wirklich die Ehre eines Empfangs zuteil werden lassen?»

«Ja, Goodwin will mich sehen», erwiderte Elli bescheiden.

Ein Raunen ging durch die Menge. Im gleichen Augenblick hörte man ein Glöckchen läuten.

«Das Zeichen!» sagte das grüne Mädchen. «Goodwin erwartet Euch im Thronsaal!»

Ein Soldat öffnete das Tor. Elli trat zaghaft ein und sah sich in einem wunderlichen runden Saal mit hoher gewölbter Decke. Diele, Wände und Decke funkelten von unzähligen Edelsteinen.

In der Mitte stand ein Thron aus grünem Marmor mit herrlichen Smaragden, und auf diesem Thron lag ein riesiger lebender Kopf ohne Körper.

Er war so schrecklich anzusehen, daß es Elli kalt überlief.

Ein glattes, fettes Gesicht mit Pausbacken, langer fleischiger Nase und großen, zusammengepreßten Lippen. Der kahle Schädel glänzte wie ein Spiegel. Der Kopf schien leblos, keine Falte auf der Stirn, keine um den Mund, nur die Augen waren hellwach. Sie rollten in den Höhlen, hielten dann plötzlich inne und starrten zur Decke. Wenn die Augen rollten, knarrte es höchst merkwürdig im stillen Saal.

Elli war von dem unbegreiflichen Augenrollen so verwirrt, daß sie sich vor dem Kopf zu verneigen vergaß.

«Ich bin Goodwin, der Große und Schreckliche! Wer bist du und warum belästigst du mich?»

Es fiel Elli auf, daß die Lippen sich beim Sprechen nicht bewegten und die Stimme, die weder laut noch unangenehm klang, irgendwo von der Seite kam.

Sie faßte sich ein Herz und antwortete:

«Ich bin Elli, ein kleines schwaches Mädchen. Ich komme aus weiter Ferne, um Eure Hilfe zu erbitten.»

Wieder rollten die Augen, hielten inne und blickten zur Seite. Es schien, als wollten sie Elli anschauen, vermochten es aber nicht.

Die Stimme fragte:

«Woher hast du die silbernen Schuhe?»

«Aus der Höhle Gingemas, der bösen Zauberin. Mein Häuschen ist auf sie herabgestürzt und hat sie zerdrückt. Jetzt sind die guten Käuer erlöst…»

«Die Käuer sind erlöst?» fragte die Stimme lebhaft, «und Gingema ist tot? Eine angenehme Nachricht!» Wieder rollten die Augen und hefteten sich schließlich auf Elli.

«Was willst du aber von mir?»

«Daß Ihr mich nach Hause bringt, nach Kansas, zu Vater und Mutter…»

«Du kommst aus Kansas?» unterbrach sie die Stimme, die jetzt milde und menschlich klang. «Und wie sieht's jetzt dort aus…» Doch plötzlich verstummte sie, und die Augen wandten sich von Elli ab.

«Ich komme aus Kansas», wiederholte das Mädchen. «Obwohl es in Eurem Land sehr schön ist, kann ich es doch nicht lieben», fuhr sie beherzt fort. «Da gibt es auf Schritt und Tritt so viele Gefahren.»

«Was ist dir denn zugestoßen?» wollte die Stimme wissen.

«Unterwegs raubte mich ein Menschenfresser. Er hätte mich gefressen, hätten mir meine treuen Freunde nicht beigestanden, der Scheuch und der Eiserne Holzfäller. Dann verfolgten uns schreckliche Säbelzahntiger… und später kamen wir in ein tückisches Mohnfeld, das war ein Reich des Schlafes! Ich, der Löwe und Totoschka schliefen dort ein, und hätten uns der Scheuch und der Eiserne Holzfäller und dann die Mäuse nicht geholfen, so hätten wir dort geschlafen, bis wir gestorben wären… Um Euch das alles ausführlich zu erzählen, würde ich einen ganzen Tag brauchen. Jetzt möchte ich Euch aber bitten: erfüllt die drei sehnlichsten Wünsche meiner Freunde, und wenn Ihr es getan habt, so werdet Ihr auch mich nach Hause bringen müssen.»

«Und warum werde ich dich nach Hause bringen müssen?»

«Weil es so im Zauberbuch Willinas steht…»

«Ach, das ist ja die gute Zauberin aus dem Gelben Land'.' Ich habe von ihr gehört», sagte die Stimme. «Was sie prophezeit, geht aber nicht immer in Erfüllung.»

«Außerdem müßt Ihr mir noch aus dem Grunde helfen, weil sich die Starken der Schwachen stets annehmen müssen», fuhr Elli fort. «Ihr seid doch ein großer und weiser Zauberer, ich aber bloß ein hilfloses kleines Mädchen…»

«Du warst aber stark genug, die böse Zauberin zu töten», wandte der Kopf ein.

«Das hat die Zauberei Willinas getan», erwiderte das Mädchen schlicht, «nicht ich!»

«Höre meine Antwort», sagte der Kopf und rollte die Augen so schnell, daß Elli einen Schrei des Entsetzens ausstieß. «Ich tue nichts umsonst. Willst du durch meine Zauberkunst nach Hause kommen, so mußt du tun, was ich dir befehle.»

Dabei blinzelten die Augen mehrmals. Trotz ihrer Angst verfolgte Elli mit Interesse die Augen und war gespannt darauf, was sie weiter tun würden. Die Bewegung der Augen stimmte mit den Worten des Kopfes und dem Tonfall seiner Stimme gar nicht überein, ja es schien sogar, als führten die Augen ein selbständiges Leben.

Der Kopf wartete, daß Elli weiter frage.

«Und was muß ich tun?» fragte sie.

«Du sollst das Violette Land aus der Gewalt der bösen Zauberin Bastinda erlösen», sagte der Kopf.

«Wie kann ich das?» rief Elli.

«Du hast die Käuer aus der Sklaverei erlöst und dir die silbernen Zauberschuhe Gingemas verschafft. Jetzt ist nur noch eine böse Zauberin in meinem Lande geblieben, die die armen, schüchternen Zwinkerer, die Bewohner des Violetten Landes, unterdrückt. Sie müssen ihre Freiheit erhalten…»

«Aber wie soll ich ihnen helfen?» fragte Elli. «Ich kann doch die Bastinda nicht töten.»

«Hm, hm…» Die Stimme stockte einen Augenblick lang. «Das ist deine Sache. Man könnte Bastinch in einen Käfig sperren, sie aus dem Violetten Land vertreiben, man könnte…» -

die Stimme klang jetzt unwirsch-, «schließlich wirst du an Ort und Stelle sehen, was zu tun ist. Es kommt darauf an, die Zwinkerer von der Zauberin zu erlösen. Urteilt man danach, was du von dir und deinen Freunden erzählst, so könnt und müßt ihr es schaffen. Das sage ich, Goodwin der Große und Schreckliche, und was ich sage, ist Gesetz.»

Das Mädchen brach in Tränen aus.

«Ihr verlangt Unmögliches von uns!»

«Jede Belohnung will verdient werden», entgegnete der Kopf trocken. «Mein letztes Wort: Du kehrst nach Kansas zurück, zu Vater und Mutter, wenn du die Zwinkerer befreit hast. Merke dir, Bastinda ist eine mächtige und böse Zauberin, furchtbar mächtig und böse, und man muß ihr die Zauberkraft nehmen. Geh und kehre nicht eher zurück, als bis du deine Aufgabe erfüllt hast.»

Betrübt verließ Elli den Thronsaal und kehrte zu ihren Freunden zurück, die sie schon unruhig erwarteten.

«Keine Hoffnung!» sagte sie weinend. «Goodwin hat mir befohlen, der bösen Bastinda die Zauberkraft zu nehmen, und das werde ich niemals fertigbringen.»

Alle ließen die Köpfe hängen, und niemand wußte Elli zu trösten. Sie ging in ihr Zimmer und weinte, bis sie einschlief.

Am nächsten Morgen stellte sich der grünbärtige Soldat beim Scheuch ein.

«Folgt mir, Goodwin erwartet Euch!»

Als der Strohmann den Thronsaal betrat, sah er eine wunderschöne Nixe mit schillerndem Fischschwanz auf dem Thron sitzen. Ihr Gesicht war reglos wie eine Maske, die Augen starrten vor sich hin, und in der Hand hielt sie einen Fächer, den sie bewegte.

Der Scheuch, der den lebenden Kopf zu sehen erwartet hatte, war verwirrt, nahm sich aber zusammen und verneigte sich höflich. Die Nixe sagte mit tiefer angenehmer Stimme, die irgendwo aus der Wand zu kommen schien.

«Ich bin Goodwin, der Große und Schreckliche. Wer bist du, und was führt dich zu mir?»

«Ich bin ein Scheuch, mit Stroh ausgestopft, und bitte Euch um ein Gehirn für meinen Strohkopf. Dann werde ich so sein wie alle Menschen in Eurem Reich, und das ist mein sehnlichster Wunsch.»

«Warum kommst du mit dieser Bitte zu mir?»

«Weil Ihr weise seid und weil mir außer Euch niemand helfen kann.»

«Ich verteile meine Gaben nicht umsonst», erwiderte die Nixe. «Höre meine Antwort: Nehme der Bastinda ihre Zauberkraft, und ich werde dir so viel Gehirn geben — ganz prächtiges Gehirn -, daß du der weiseste Mensch in Goodwins Land wirst.»

«Aber Ihr habt das doch schon Elli befohlen», rief der Scheuch verwundert.

«Mir ist's egal, wer es tut», erwiderte die Stimme. «Doch merke dir: Solange die Zwinkerer Bastindas Sklaven bleiben, wird dein Wunsch nicht erfüllt. Geh und verdien dir dein Gehirn!»

Betrübt wankte der Scheuch zu seinen Freunden hinaus und erzählte ihnen, wie Goodwin ihn empfangen habe.

Alle waren verwundert zu hören, daß Goodwin sich dem Scheuch als Nixe gezeigt habe.

Am nächsten Tag holte der Soldat den Eisernen Holzfäller. Als dieser, die Axt auf der Schulter (er trug sie immer mit sich), den Thronsaal betrat, sah er weder den lebenden Kopf noch die Nixe. Auf dem Thron saß ein grauenhaftes Tier. Es hatte den Kopf eines Nashorns, und aus dem Gesicht glotzten etwa ein Dutzend Augen nach allen Seiten. Zwölf Pranken von verschiedener Länge und Dicke hingen vom ungeschlachten Rumpf herab. Die Haut war stellenweise mit zottigem Fell bedeckt, kahl und grau und mit warzenartigen Auswüchsen übersät.

Ein abscheulicheres Ungeheuer konnte man sich gar nicht vorstellen. Bei seinem Anblick würde jedes Menschen Herz heftig zu schlagen beginnen. Der Holzfäller hatte aber kein Herz, und so erschrak er nicht, sondern grüßte nur höflich. Er war freilich enttäuscht, Goodwin nicht in der Gestalt der schönen Nixe zu sehen, die, wie er annahm, ihm eher ein Herz geben würde.

«Ich bin Goodwin, der Große und Schreckliche», brüllte das Tier, und seine Stimme kam nicht aus dem Rachen, sondern aus irgendeinem Winkel. «Wer bist du, und warum belästigst du mich?»

«Ich bin ein Holzfäller aus Eisen, der kein Herz hat und deshalb nicht lieben kann. Gebt mir ein Herz, und ich werde wie alle anderen Menschen Eures Landes sein. Das ist mein sehnlichster Wunsch.»

«Immer wieder Wünsche! Wollte ich alle eure sehnlichsten Wünsche erfüllen, so müßte ich Tag und Nacht über meinen Zauberbüchern sitzen!» Nach kurzem Schweigen fuhr die Stimme fort: «Wenn du ein Herz willst, so mußt du es dir verdienen!»

«Wie?»

«Packe Bastinda und sperr sie in einen steinernen Kerker. Dann bekommst du das größte und gütigste Herz in Goodwins Land, ein Herz, das vor Liebe übergehen wird», knurrte das Ungeheuer.

Da überkam den Eisernen Holzfäller eine solche Wut, daß er die Axt von der Schulter riß und vorschnellte. Die Bewegung war so unerwartet, daß das Ungeheuer erschrak. Es zischte: «Halt! Wenn du noch einen Schritt tust, wird es dir und deinen Freunden schlimm ergehen!»

Verwirrt trat der Eiserne Holzfäller aus dem Thronsaal und eilte zu seinen Freunden. Als diese die unangenehme Nachricht hörten, sagte der Feige Löwe grimmig:

«Ich bin zwar feige, aber morgen werde ich mit Goodwin doch ein Hühnchen rupfen müssen. Zeigt er sich mir in Gestalt eines wilden Tieres, so werde ich ein Gebrüll ausstoßen wie damals, als die Säbelzahntiger uns überfielen, daß ihm angst und bange wird. Nimmt er aber die Gestalt der Nixe an, so werde ich ein Wörtchen mit ihm reden, daß ihm Hören und Sehen vergeht. Am besten wäre es, wenn er sich als lebender Kopf zeigen würde. Dann will ich ihn durch das Zimmer rollen und mit ihm Ball spielen, bis er unsere Wünsche erfüllt hat!»

Als der Löwe am nächsten Morgen den Thronsaal betrat, prallte er vor Staunen zurück. Auf dem Thron lag ein gleißender Feuerball, der so strahlte, daß der Löwe die Augen schließen mußte.

Aus der Wand drang eine Stimme:

«Ich bin Goodwin, der Große und Schreckliche. Wer bist du und warum belästigst du mich?»

«Ich bin der Feige Löwe! Gebt mir ein bißchen Mut, damit ich König der Tiere werde, wie mich alle nennen.»

«Wenn du Bastinda aus dem Violetten Land vertreiben hilfst, so soll dir der ganze Mut gehören, der in Goodwins Schloß vorhanden ist! Falls du's aber nicht tust, so bleibst du ein Feigling dein Leben lang, und ich werde dich verhexen, daß du sogar vor Mäusen und Fröschen Angst haben wirst!»

Der ergrimmte Löwe wollte sich an den Feuerball heranschleichen und ihn packen, doch ihm schlug eine solche Glut entgegen, daß er aufheulte und mit eingeklemmtem Schwanz aus dem Saal rannte. Zu seinen Freunden zurückgekehrt, erzählte er, wie Goodwin ihn empfangen hatte.

«Was sollen wir nun anfangen?» fragte Elli traurig.

«Wir müssen versuchen, Goodwins Befehl auszuführen», sagte der Löwe.

«Und wenn's uns nicht gelingt?» fragte Elli.

«Dann werde ich niemals Mut bekommen», erwiderte der Löwe.

«Und ich werde niemals zu einem Gehirn kommen», sagte der Scheuch.

«Und ich niemals zu einem Herzen», fügte der Holzfäller hinzu.

«Und ich kehre nimmermehr nach Hause zurück», rief Elli schluchzend.

«Dann wird Nachbars Rektor allen erzählen, ich sei von der Farm geflohen, weil ich mich vor dem entscheidenden Kampf mit ihm fürchtete», sagte Totoschka.

Elli wischte sich die Tränen ab und sagte:

«Ich will's versuchen, obwohl ich weiß, daß ich niemals die Hand gegen Bastinda erheben werde, selbst wenn man mich mit allen Schätzen der Welt belohnen würde!»

«Ich gehe mit dir», sagte der Löwe. «Wenn ich auch zu feige bin, dir im Kampf mit der bösen Zauberin beizustehen, so werden dir meine Dienste vielleicht doch zustatten kommen.»

«Auch ich gehe mit dir», sagte der Scheuch. «Freilich werde ich dir kaum zu etwas nutze sein, weil ich doch so dumm bin!»

«Ich werd es nie über mich bringen, Bastinda ein Leid anzutun, mag sie noch so tückisch und boshaft sein», erklärte der Eiserne Holzfäller. «Aber wenn ihr geht, so gehe ich natürlich mit euch, meine Freunde!»

«Na, und was mich betrifft», sagte das Hündchen mit wichtiger Miene, «so lasse ich meine Freunde natürlich nicht im Stich!»

Elli dankte ihren treuen Gefährten von Herzen.

Sie beschlossen, am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang aufzubrechen.

Der Eiserne Holzfäller schärfte seine Axt, schmierte sorgfältig alle seine Gelenke und füllte die Ölkanne bis an den Rand mit bestem Schmieröl. Der Scheuch bat, sein Stroh zu erneuern, Elli verschaffte sich Pinsel und Farben und zog ihm die Augen, den Mund und die Ohren nach, die vom Straßenstaub und von der grellen Sonne ganz blaß geworden waren. Das grüne Mädchen füllte Ellis Körbchen mit schmackhaftem Mundvorrat. Sie kämmte auch Totoschka und band ihm ein silbernes Glöcklein um den Hals.

Am frühen Morgen erwachten die Gefährten vom Geschrei eines grünen Hahns, der im Hinterhof lebte.

Die letzte Zauberei Bastindas

Der grünbärtige Soldat geleitete die kleine Schar bis an das Tor der Smaragdenstadt, wo der Torhüter ihnen die Brillen abnahm, die er in seine Tasche steckte.

«Ihr verlaßt uns schon?» fragte er höflich.

«Ja, das müssen wir», erwiderte Elli traurig. «Welcher Weg führt ins Violette Land?»

«Dorthin führt kein Weg», sagte Faramant. «Niemand geht freiwillig in das Land der bösen Bastinda.»

«Wie finden wir sie aber?»

«Darüber braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Wenn ihr in das Violette Land kommt, wird euch Bastinda selber finden und zu Sklaven machen.»

«Vielleicht gelingt es uns aber, ihr die Zauberkraft zu nehmen?» fragte der Scheuch.

«Ihr wollt euch mit Bastinda messen? Na, ich beneide euch nicht. Noch niemand hat es gewagt, sie anzugreifen, außer Goodwin, und sogar er» — der Torhüter senkte die Stimme -

«mußte den kürzeren ziehen. Sie wird alles tun, um euch gefangenzunehmen, noch ehe ihr etwas ausrichten könnt. Gebt acht! Bastinda ist eine böse und schlaue Zauberin, mit ihr ist nicht gut Kirschen essen. Geht in die Richtung des Sonnenaufgangs, und ihr werdet in ihr Land kommen. Ich wünsche euch Erfolg!»

Die fünf nahmen Abschied von Faramant, der hinter ihnen das Stadttor schloß, und zogen nach Osten. Alle waren betrübt, deren sie wußten, was ihnen bevorstand, mit Ausnahme von Totoschka, der auf die großen bunten Schmetterlinge des Feldes Jagd machte. Er war guter Laune und unbesorgt, weil er der Kraft des Löwen und des Eisernen Holzfällers sowie der Findigkeit des Scheuchs vertraute.

Elli gewahrte mit Staunen, daß das grüne Halsband des Hündchens weiß geworden war.

«Was soll das bedeuten?» fragte sie ihre Freunde.

Diese blickten sich verständnislos an; nur der Scheuch sagte tiefsinnig:

«Das ist Zauberei!»

In Ermangelung einer anderen Erklärung stimmten sie dem Scheuch zu und gingen weiter. Die Smaragdenstadt verschwand in der Ferne, und das Land ringsum wurde kahl und öde. Die Wanderer näherten sich dem Reich Bastindas.

Bis zum Mittag schien die Sonne ihnen in die Augen und blendete sie. Sie gingen durch felsiges Hochland, in dem es keinen Baum gab, der Schatten spendete. Als es dunkelte,

wurde Elli schrecklich müde, und der Löwe hatte sich seine Pfoten zerschunden und hinkte.

Die fünf machten halt, um zu übernachten. Der Scheuch und der Eiserne Holzfäller hielten Wache, während ihre Kameraden schliefen.

* * *

Die böse Bastinda hatte nur ein Auge, mit dem sie aber so gut sah, daß kein Winkel des Violetten Landes ihrem Blick entging.

Als sie abends vor das Tor ihres Schlosses trat, um Luft zu schöpfen, und den Blick über ihre Besitzungen schweifen ließ, entdeckte sie weit an der Grenze ihres Reiches das schlafende Mädchen und seine Freunde.

Kochend vor Wut, blies sie in ihre Pfeife, und im gleichen Augenblick kam ein Rudel riesiger Wölfe mit bösen gelben Augen und hervorstehenden Hauern angebraust. Schnaubend setzten sich die Tiere auf ihre Hinterbeine und starrten Bastinda an.

«Rennt nach dem Westen! Dort ist ein kleines Mädchen mit ihren Spießgesellen frech in mein Land eingedrungen. Zerreißt sie alle.»

«Warum machst du sie nicht zu deinen Sklaven?» fragte der Anführer des Rudels.

«Das Mädchen ist ein schwächliches Ding, und ihre Gefährten taugen auch nicht zur Arbeit: Der eine ist mit Stroh ausgestopft, der andere aus Eisen, und der dritte ist ein Löwe, von dem ich mir keinen Nutzen verspreche.»

Das alles hatte Bastinda mit ihrem einzigen Auge erspäht!

Die Wölfe rannten davon.

«Zerfetzt sie! Zerfetzt sie!» schrie die Zauberin ihnen nach.

Der Scheuch und der Eiserne Holzfäller schliefen aber nicht! Von weitem sahen sie die Wölfe nahen.

«Wecken wir den Löwen», sagte der Scheuch.

«Nicht nötig», erwiderte der Holzfäller, «ich werde mit ihnen schon selber fertig. Sie sollen mich kennenlernen!»

Er trat vor, und als der Anführer des Rudels, den roten Rachen weit aufgesperrt, auf ihn zustürzte, schwang der Holzfäller seine scharfe Axt und hieb ihm den Kopf ab. Die Wölfe liefen in langem Zug, einer hinter dem anderen. Als sich der Nächste auf den Holzfäller werfen wollte, hatte dieser die Axt bereits wieder erhoben und hieb auch diesem im Nu den Kopf ab.

Vierzig reißende Wölfe besaß Bastinda, und vierzigmal ließ der Eiserne Holzfäller die Axt auf ihre Nacken niedersausen. Als er sie zum einundvierzigsten Male schwang, war kein Wolf mehr am Leben. Sie lagen alle tot zu seinen Füßen.

«Das nenn ich eine Schlacht!» rief der Scheuch begeistert.

«Bäume fällen ist schwerer», sagte der Holzfäller bescheiden.

Als Elli am Morgen erwachte und die toten Wölfe um sich sah, war sie starr vor Schreck. Der Scheuch erzählte ihr von der nächtlichen Schlacht, und Elli dankte dem Eisernen Holzfäller von Herzen. Nach dem Frühstück setzten die Gefährten ihren Weg fort.

Die alte Bastinda pflegte sich am Morgen lange im Bett zu rekeln. Sie stand auch diesmal spät auf und ging hinaus, um die Wölfe zu fragen, wie sie die dreisten Wanderer zerfleischt hätten.

Wie ergrimmt aber war sie, als sie die Wanderer unversehrt sah, während ihre treuen Wölfe tot herumlagen!

Bastinda stieß zwei Pfiffe aus, und alsbald sah man in der Luft einen Schwarm Krähen mit eisernen Schnäbeln kreisen. Die Zauberin schrie ihnen zu:

«Fliegt nach Westen! Dort sind Fremde ins Land gedrungen. Zerhackt sie mit euren Schnäbeln. Los, los!»

Mit wildem Gekrächz sausten die Krähen den Wanderern entgegen. Elli erschrak bei ihrem Anblick. Doch der Scheuch beruhigte sie:

«Die nehme ich auf mich! Ich bin doch nicht umsonst ein Krähenscheuch! Stellt euch hinter meinen Rücken.»

Er schob sieh den Hut tiefer in die Stirn, spreizte die Arme und gab sich das Aussehen einer Scheuche, wie sie im Buche steht.

Die Krähen waren so überrascht, daß sie hin und her zu flattern begannen. Da rief ihr Anführer mit heiserer Stimme:

«Wovor fürchtet ihr euch denn? Vor einer Scheuche, die mit Stroh ausgestopft ist? Na warte, mein Junge!»

Der Anführer wollte sich auf des Scheuchs Kopf setzen, doch dieser packte ihn am Flügel und drehte ihm den Hals um. Eine zweite Krähe, die dem Anführer nacheilte, teilte sein Los. Vierzig wilde Krähen mit eisernen Schnäbeln hatte die böse Bastinda in ihrem Besitz, und allen vierzig machte der tapfere Scheuch den Garaus.

Die Gefährten dankten ihm für seine Tat und zogen weiter nach Osten.

Als Bastinda ihre treuen Krähen tot übereinander liegen sah, während die Fremden furchtlos ihren Weg fortsetzten, überkam sie Wut und Entsetzen.

«Wie? Reicht meine Zauberkunst nicht, um dem frechen Mädchen und ihren Gefährten Einhalt zu gebieten?»

Bastinda stampfte mit den Füßen und stieß drei Pfiffe aus, worauf ein Schwarm schwarzer Bienen angeflogen kam, deren Bisse tödlich waren.

«Fliegt nach Westen», brüllte die Zauberin. «Stürzt euch auf die Eindringlinge und stecht sie zu Tode. Los! Los!»

Mit ohrenbetäubendem Gesumme flogen die Bienen den Wanderern entgegen. Der Holzfäller und der Scheuch gewahrten sie schon von weitem.

«Zieh das Stroh aus mir heraus», rief der Scheuch, ohne lange nachzudenken, dem Holzfäller zu, «und streu es über Elli, den Löwen und Totoschka, damit die Bienen an sie nicht herankommen.»

Behende knöpfte er seinen Rock auf, aus dem das Stroh herausfiel, mit dem der Holzfäller den Löwen, Elli und Totoschka, die sich hingeworfen hatten, schnell bedeckte. Dann richtete sich der eiserne Mann in seiner ganzen Größe auf.

Als der Bienenschwarm sich wütend auf ihn stürzte, ließ er es lächelnd geschehen. Die Bienen zerbrachen ihre giftigen Stacheln an seinem eisernen Körper und fielen tot zu Boden, denn eine Biene kann, wie man weiß, ohne Stachel nicht leben. Den ersten folgten andere, die ihre Stacheln gleichfalls in den eisernen Körper zu bohren suchten.

Bald lagen alle Bienen tot auf der Erde, als wär' es ein Haufen schwarzer Kohlenstücke.

Der Löwe, Elli und Totoschka aber krochen unter dem Stroh hervor, rafften es zusammen und stopften den Scheuch wieder damit aus. Dann zogen sie weiter.

Die böse Bastinda knirschte mit den Zähnen und zitterte an allen Gliedern, als sie nun auch ihre Bienen tot sah. Sie raufte sich die Haare, schäumte vor Wut und konnte lange kein Wort hervorbringen. Als sie sich etwas beruhigte, rief sie ihre Diener, die Zwinkerer, herbei und befahl ihnen, sich zu bewaffnen und die dreisten Eindringlinge zu vernichten. Die Zwinkerer, die nicht gerade tapfer waren, begannen ängstlich zu blinzeln, und Tränen rannen ihnen aus den Augen. Doch wagten sie nicht, ihrer Herrin den Gehorsam zu verweigern, und begannen eifrig nach Waffen zu suchen. Weil sie sich aber noch nie in ihrem Leben geschlagen hatten (es war das erstemal, daß Bastinda sie zu Hilfe rief) und daher keine Waffen besaßen, so griffen sie zu Kasserollen, Pfannen und Blumentöpfen und manche sogar zu Knallbonbons, die viel Geräusch machten.

Als der Löwe die Zwinkerer, einer hinter dem Rücken des anderen Schutz suchend und sich gegenseitig vorwärtsstoßend und ängstlich blinzelnd, nahen sah, brach er in schallendes Gelächter aus.

«Mit diesen werden wir uns nicht lange zu schlagen brauchen!» sagte er, trat vor, sperrte seinen gewaltigen Rachen auf und stieß ein Gebrüll aus, daß den Zwinkerern Hören und Sehen verging. Sie warfen ihre Töpfe, Pfannen und Knallbonbons fort und liefen auseinander.

Die böse Bastinda wurde grün und gelb vor Schreck, als sie die Wanderer unaufhaltsam näher kommen sah.

Sie mußte zu ihrem letzten Zaubermittel greifen, einem Goldenen Hut, den sie in einem Geheimfach ihres Spinds aufbewahrte. Wer diesen Hut besaß, konnte jederzeit die mächtige Herde der Fliegenden Affen rufen und ihnen Befehle erteilen. Der Hut konnte aber nur dreimal benutzt werden, und Bastinda hatte die Hilfe der Fliegenden Affen schon zweimal in Anspruch genommen: das erste Mal, um Herrscherin über das Land der Zwinkerer zu werden, das zweite Mal, um die Truppen Goodwins des Schrecklichen abzuwehren, der das Violette Land befreien wollte.

Deswegen fürchtete auch Goodwin die böse Bastinda so sehr, und deswegen hatte er Elli gegen sie kämpfen geschickt, weil er der Macht ihrer silbernen Schuhe vertraute.

Bastinda zauderte, den Hut zum dritten Mal zu benutzen, wußte sie doch, daß dann ihre Zauberkraft zu Ende sein würde. Da sie aber nun keine Wölfe, Krähen oder schwarze Bienen mehr besaß und die Zwinkerer sich als unverläßliche Kämpfer erwiesen hatten, holte sie den Hut aus dem Spind, setzte ihn auf und begann zu zaubern. Sie stampfte mit dem Fuß auf und stieß laut die Zauberformel hervor:

«Bambara, tschufara, loriki, joriki, pikapu, trikapu, skoriki, moriki! Eilt herbei, ihr Fliegenden Affen!»

Der Himmel wurde schwarz von dem Rudel Affen, die, von ihren mächtigen Schwingen getragen, zum Schloß Bastindas rasten. Der Anführer flog auf Bastinda zu und sagte:

«Du hast uns zum dritten und letzten Mal gerufen. Was befiehlst du jetzt?»

«Stürzt euch auf die Fremdem, die in mein Reich eingedrungen sind, und vernichtet sie alle, außer dem Löwen, den ich vor meinen Wagen spannen will!»

«Es soll geschehen!» erwiderte der Anführer, und das Rudel flog geräuschvoll nach Westen.

Der Sieg

Mit Entsetzen sahen die Wanderer die riesigen Affen nahen. Gegen diese Ungeheuer waren sie wehrlos.

Heulend stürzten sich die zottigen Tiere auf die verwirrte Schar. Keiner konnte dem anderen zu Hilfe kommen, denn es waren der Feinde zu viele.

Vergeblich hieb der Eiserne Holzfäller mit der Axt um sich. Von allen Seiten fielen die Affen über ihn her, entrissen ihm die Axt, hoben ihn in die Luft und warfen ihn in einen Abgrund auf spitze Felsen, wo er zerschunden liegenblieb und sich nicht rühren konnte. Die Axt flog ihm nach.

Ein anderer Teil des Rudels überrumpelte den Scheuch, riß ihm den Bauch auf, streute das Stroh in alle Winde, rollte seinen Rock mit dem Kopf, den Schuhen und dem Hut zu einem Bündel zusammen und warf es auf den Gipfel eines hohen Berges.

Der Löwe drehte sich im Kreise und brüllte vor Angst so drohend, daß die Affen sich ihm nicht zu nähern wagten. Das dauerte jedoch nicht lange. Die Affen warfen ihm einen Strick um den Hals, mit dem sie ihn zu Boden zerrten. Dann fesselten und knebelten sie ihn, hoben ihn in die Luft und trugen ihn frohlockend zu Bastindas Schloß, wo sie ihn in einen eisernen Käfig sperrten. Der Löwe tobte, wälzte sich auf dem Boden und versuchte, seine Fesseln zu durchbeißen.

Grauen packte Elli. Der Anführer der Fliegenden Affen stürzte sich auf sie und streckte die langen Arme mit den scharfen Krallen nach ihrem Hals aus. Da erblickte er ihre silbernen Schuhe, sprang entsetzt zurück und stellte sich schützend vor das Mädchen.

«Ihr darf nichts geschehen!» rief er. «Das ist eine Fee!»

Da wurden die Affen freundlich und sogar ehrerbietig. Behutsam faßten sie Elli, die Totoschka in den Armen hielt, an und sausten mit ihr durch die Lüfte zum Violetten Schloß Bastindas, wo sie niedergingen. Der Anführer setzte Elli auf den Boden. Als die Zauberin dies sah, schnaubte sie vor Wut und begann ihn heftig zu schelten. Er aber sagte:

«Wir haben deinen Befehl ausgeführt. Der eiserne Mann ist zerschlagen, der Scheuch zerrissen, der Löwe gefangen und in einen Käfig gesperrt. Dem Mädchen konnten wir aber kein Haar krümmen, denn du weißt ja, wieviel Unglück einem jeden droht, der die Besitzerin der silbernen Schuhe zu kränken wagt. Wir haben dir das Mädchengebracht, tu mit ihm was du willst. Und damit verabschieden wir uns von dir für immer!»

Mit lautem Geschrei erhoben sich die Affen und flogen davon.

Bastinda schaute auf Ellis Füße, und als sie die silbernen Schuhe Gingemas erkannte, begann sie an allen Gliedern zu zittern.

Woher hat sie die Schuhe? fragte sich Bastinda stürzt. Ist es möglich, daß dieses schwächliche Mädelchen die mächtige Gingema, die Herrscherin der Käuer, überwältigt hat? Wie konnte sie aber sonst in den Besitz der Schuhe kommen? Wehe mir! Jetzt darf ich dieses freche Ding nicht anrühren, solange sie die Zauberschuhe anhat.

Barsch sagte sie zu Elli:

«Heda, komm mal her! Wie heißt du?»

Das Mädchen blickte, die Augen voller Tränen, zur Zauberin auf «Ich heiße Elli, gnädige Frau.»

«Sag, wie hast du dich der Schuhe meiner Schwester Gingema bemächtigt?» fragte Bastinda streng.

Elli wurde puterrot.

«Glaubt mir, gnädige Frau, es ist nicht meine Schuld, mein Häuschen fiel auf Frau Gingema und erschlug sie…

«Gingema ist tot…», hauchte die böse Zauberin.

Bastinda hatte ihre Schwester nicht gemocht und sie viele Jahre nicht gesehen. Sie fürchtete aber, daß das Mädchen mit den silbernen Schuhen auch sie, Bastinda, vernichten könnte. Als sie jedoch das gutmütige Gesichtchen Ellis sah, beruhigte sie sich.

Sie weiß nichts von der geheimen Kraft der Schuhe, dachte die Zauberin. Gelingt es mir, sie ihr zu entreißen, so werde ich noch mächtiger sein als früher, da die Wölfe, die Krähen, die schwarzen Bienen und der Goldene Hut mir zu Gebote standen.

Die Augen der Alten glänzten vor Gier, ihre Finger krümmten sich, als zerrten sie schon die Schuhe von Ellis Füßen.

«Hör, kleine Elli», krächzte sie, «du wirst mir als Sklavin dienen, und falls du schlecht arbeitest, werde ich dich mit einem großen Stock züchtigen und in einen finsteren Keller stecken, wo Ratten — große, hungrige Ratten dich fressen und deine feinen Knochen benagen werden. Hi, hi, hi, hast du kapiert?»

«Oh, gnädige Frau, werft mich nicht zu den Ratten, ich werde Euch gehorchen!»

Das Mädelchen war starr vor Schreck.

Da gewahrte Bastinda Totoschka, der sich ängstlich an Ellis Beine schmiegte.

«Was ist das für ein Tier?» fragte die Zauberin.

«Das ist mein Hündchen Totoschka», erwiderte Elli mit zitternder Stimme. «Totoschka ist ein gutes Tier und hat mich sehr lieb.»

«Hm, hm», brummte die Zauberin. «Ich hab solche Tiere noch niemals gesehen. Paß auf, daß mir dieses Hündchen, wie du es nennst, nicht unter die Augen kommt, sonst werf ich es noch vor dir in den Keller zu den Ratten. Und jetzt folgt mir!»

Bastinda führte ihre Gefangenen durch die herrlichen Gemächer ihres Schlosses, in denen alles violett war: die Wände, die Teppiche, die Möbel. An den Türen standen Zwinkerer in lila Röcken, die sich beim Erscheinen der Zauberin bis zum Boden verneigten und ihr ängstlich nachblinzelten. Schließlich kamen sie in eine dunkle, schmutzige Küche.

«Du wirst die Töpfe, Pfannen und Kasserollen putzen, den Fußboden scheuern und den Ofen heizen. Meine Köchin braucht schon seit langem eine Gehilfin.»

Sie ließ das Mädchen, das wie versteinert dastand, in der Küche zurück und ging, sich die Hände reibend, in den Hinterhof.

Der hab ich einen Schreck eingejagt! Nun will ich mir den Löwen vornehmen, und beide werden mir von jetzt ab auf den Wink gehorchen.

Der Feige Löwe hatte inzwischen seine Fesseln durchgebissen und sich in einer Ecke des Käfigs hingekauert. Als er Bastinda erblickte, begannen seine gelben Augen böse zu funkeln.

'Wie schade, daß ich noch keinen Mut hab. Wie würde ich den Tod des Scheuchs und des Eisernen Holzfällers an der alten Hexe rächen!' dachte er und duckte sich zum Sprung.

Die Alte trat durch die kleine Tür in den Käfig.

«Du, Löwe, hör mal», murmelte sie mit zahnlosem Mund, «du bist jetzt mein Gefangener! Ich werde dich an den Festtagen vor meinen Wagen spannen, damit die Zwinkerer sagen: 'Ei, ei, seht, wie mächtig unsere Herrscherin Bastinda ist. Sogar den Löwen hat sie sich unterworfen!'»

Während Bastinda so schwatzte, sperrte der Löwe seinen Rachen auf, sträubte die Mähne und warf sich ihr entgegen.

«Jetzt freß ich dich!» brüllte er.

Er verfehlte Bastinda nur um ein Haar. Entsetzt stürzte die Hexe aus dem Käfig und schlug die Tür hinter sich zu. Keuchend vor Schreck schrie sie durch das Gitter:

«Verfluchtes Biest! Du sollst mich noch kennenlernen! Du wirst vor Hunger krepieren, wenn du dich nicht einspannen läßt!»

«Ich werde dich fressen», brüllte der Löwe und warf sich mit aller Wucht gegen das Gitter.

Die Alte trippelte fluchend dem Schloß zu.

…Es folgten lange, schwere Tage der Sklaverei. Von früh bis spät arbeitete Elli in der Küche, wo sie der Köchin Fregosa half. Die gute Zwinkerin bemühte sich, das Los des Mädchens zu erleichtern. Bei jeder Gelegenheit verrichtete sie statt ihrer die schwersten Arbeiten. Bastinda aber paßte scharf auf und bestrafte Fregosa jedesmal für ihre Güte.

Die kleine Elli wurde von der Hexe schrecklich behandelt. Oft drohte Bastinch dem Mädchen mit dem schmutzigen lila Schirm, den sie immer in der Hand hielt. Elli wußte nicht, daß die Zauberin es nicht wagen würde, sie zu schlagen, und ihr Herz verkrampfte sich jedesmal, wenn diese ihren Schirm erhob.

Jeden Tag trat die Alte vor den Käfig und fragte den Löwen mit kreischender Stimme:

«Wirst du dich einspannen lassen?»

«Ich werd dich fressen!» erwiderte dieser dann und warf sich fauchend gegen das Gitter.

Bastinda gab dem Löwen vom ersten Tag an nichts zu essen. Doch dieser starb nicht vor Hunger, sondern blieb stark und gesund.

Finsternis und Wasser waren der alten Bastinda ein Greuel. Kaum brach die Dunkelheit herein, so zog sich die Hexe in das entlegenste Gemach ihres Schlosses zurück, schob die mächtigen eisernen Riegel vor die Tür und ließ sich bis zum späten Vormittag nicht blicken. Elli hatte aber keine Angst vor der Dunkelheit. Sie nahm jeden Abend aus dem Küchenschrank alles Eßbare, das dort zurückblieb (Fregosa sorgte stets dafür, daß es möglichst viel sei), und ging, in der einen Hand einen Korb mit Mundvorrat und in der anderen eine große Flasche mit Wasser, in den Hinterhof, wo der Löwe und Totoschka sie jubelnd empfingen.

Elli und Totoschka hatten große Angst, daß Bastinda ihre Drohungen wahr machen und das Hündchen zu den Ratten werfen würde. Schon am ersten Tag der Gefangenschaft war Totoschka in den Käfig zum Löwen übersiedelt, wo er sich geborgen fühlte, wußte er doch, daß er dort für Bastinda unerreichbar war und sie ungestraft anbellen konnte, wenn sie den Hof betrat.

Elli schob sich zwischen zwei Gitterstäbe in den Käfig, und der Löwe und Totoschka stürzten sich auf das Essen und das Wasser. Dann machte es sich der Löwe gemütlich, und Elli streichelte sein dichtes weiches Fell und spielte mit dem Haarbüschel seines Schwanzendes. Das Mädchen, der Löwe und Totoschka saßen lange beisammen, gedachten betrübt ihrer umgekommenen treuen Freunde, des Scheuchs und des Eisernen Holzfällers, und schmiedeten Fluchtpläne. Aus dem Violetten Schloß gab es jedoch kein Entrinnen. Es war von einer hohen Mauer mit spitzen Nägeln umgeben, und Bastinch, die das Tor immer zuschloß, zog die Schlüssel ab und trug sie stets bei sich.

Wenn Elli sich ausgesprochen und ausgeweint hatte, sank sie auf das Stroh hin und schlief unter dem sicheren Schutz des Löwen ein.

So zogen sich die bitteren Tage der Gefangenschaft hin. Bastinda schaute gierig auf die silbernen Schuhe Ellis, die diese nur nachts auszog, wenn sie sich im Käfig des Löwen befand oder wenn sie badete. Bastinda, die das Wasser fürchtete, näherte sich Elli niemals beim Baden.

Das Mädchen hatte die merkwürdige Wasserscheu der Zauberin sogleich bemerkt und machte sie sich zunutze. Die Tage, an denen Bastinda ihr die Küche zu scheuern befahl, waren für Elli Festtage. Sie goß ein paar Eimer Wasser auf, die Diele aus und ging dann in den Käfig zum Löwen, wo sie einige Stunden von der schweren Arbeit ausruhte, während Bastinda vor der Tür kreischte und schimpfte. Wenn die Zauberin einen Blick in die Küche warf und die Lachen auf der Diele sah, lief sie entsetzt in ihr Schlafgemach. Fregosa schickte ihr jedesmal ein schadenfrohes Lächeln nach.

Elli unterhielt sich oft mit der herzensguten Köchin.

«Sag, warum erhebt ihr Zwinkerer euch nicht gegen Bastinda?» fragte das Mädchen. «Ihr seid doch so viele, Tausende — und habt Angst vor einer einzigen bösen Alten! Wenn ihr euch auf sie stürzt, dann könnt ihr sie im Hand umdrehen binden und in den Eisernen Käfig sperren, in dem sie jetzt den Löwen hält!»

«Was fällt dir ein», wehrte Fregosa ängstlich ab. «Du weißt nicht, wie mächtig Bastinda ist! Sie braucht nur ein Wort zu sagen, und alle Zwinkerer fallen tot um!»

«Woher wißt ihr das?»

«Das hat uns Bastinda doch selber oft genug gesagt.»

«Warum hat sie dann das Wort nicht ausgesprochen, als wir uns ihrem Schloß näherten! Warum hat sie die Wölfe, die Krähen und die schwarzen Bienen gegen uns ausgeschickt? Und als meine tapferen Freunde sie vernichtet hatten, warum mußte sie dann die Fliegenden Affen zu Hilfe rufen?»

«Warum, warum!» erwiderte Fregosa ärgerlich, «für solches Gerede wird uns Bastinda zu Brei zermalmen.»

«Woher soll sie es erfahren?»

«Weil sie alles erfährt. Ihr bleibt nichts verborgen.»

Als diese Gespräche sich mehrmals wiederholt hatten, ohne daß Bastinda etwas davon erfuhr, wurde Fregosa kühner. Sie stimmte Elli zu, daß die Zwinkerer sich von der Herrschaft der bösen Zauberin befreien müßten.

Doch ehe sie einen Entschluß faßte, wollte sie genauer erfahren, über welche Zaubermittel Bastinda noch verfügte. Abends schlich sie sich vor das Schlafgemach der Zauberin und horchte an der Tür, was die Alte brummte, die in letzter Zeit immer häufiger Selbstgespräche führte.

Einmal kam Fregosa, die gerade wieder an der Tür gehorcht hatte, aufgeregt in die Küche gestürzt, und als sie Elli nicht vorfand, lief sie in den Hinterhof. Die drei im Käfig schliefen bereits.

«Elli, du hast recht gehabt», schrie Fregosa, mit den Armen fuchtelnd. «Bastinda hat wirklich alle ihre Zaubermittel verbraucht und besitzt jetzt kein einziges mehr. Ich habe gehört, wie sie über deine Freunde klagte und sie verwünschte, weil sie ihr die Zauberkraft geraubt haben…»

Das Mädchen, der Löwe und das Hündchen waren über diese Nachricht sehr erfreut und stellten Fregosa viele Fragen. Die Köchin konnte aber zu dem, was sie bereits gesagt hatte, nichts hinzufügen. Sie erzählte noch, Bastinda habe irgendwelche silberne Schuhe erwähnt, doch konnte Fregosa nicht zu Ende hören, weil sie vor lauter Aufregung mit der Stirn gegen die Tür schlug und entsetzt davonstürzte, damit die Zauberin sie nicht auf frischer Tat ertappte.

Die wichtige Nachricht Fregosas gab den Gefangenen neue Hoffnung. Jetzt hatten sie die Möglichkeit, Goodwins Befehl auszuführen und die Zwinkerer zu befreien.

«Öffnet nur meinen Käfig», brüllte der Löwe, «und ihr wie ich mit Bastinda abrechne!»

Vor der Tür des Käfigs hing aber ein großes Schloß, dessen Schlüssel Bastinda versteckt hielt. Die Freunde hielten Rat und kamen zu dem Schluß, daß Fregosa die Diener zum Aufstand vorbereiten müsse. Sie sollten die Zauberin überrumpeln, gefangennehmen und ihrer Herrschaft ein Ende machen.

Fregosa ging. Elli, der Löwe und Totoschka aber sprachen die ganze Nacht über den bevorstehenden Kampf mit Bastinda.

Am nächsten Tag teilte die Köchin der Dienerschaft die Neuigkeit mit. Die Diener waren aber so eingeschüchtert, daß Fregosa große Mühe hatte, sie zu überreden, sich gegen die Zauberin zu erheben. Schließlich gelang es ihr, einige Leute von der Schloßwache für das Vorhaben zu gewinnen, und die Zwinkerer, die in die Verschwörung eingeweiht wurden, begannen zum Aufstand zu rüsten.

Es vergingen mehrere Tage. Als die Diener sahen, daß die Schloßwache Mut gefaßt und tatsächlich mit der bösen Zauberin abzurechnen gedachte, traten sie der Verschwörung bei. Der Aufstand war so gut wie vorbereitet, als ein unvorhergesehener Zwischenfall eine ebenso schnelle wie unerwartete Wende herbeiführte.

Bastinda hatte den Gedanken nicht aufgegeben, sich der silbernen Schuhe Ellis zu bemächtigen. Für die Zauberin war das die einzige Möglichkeit, Herrscherin im Violetten Land zu bleiben. Schließlich legte sie sich einen Plan zurecht.

Eines Tages, als weder Fregosa noch Elli in der Küche waren, spannte die Zauberin eine dünne Schnur über die Diele und versteckte sich hinter dem Ofen.

Das Mädchen trat in die Küche, stolperte über die Schnur und fiel hin, wobei sich der Schuh von seinem rechten Fuß löste und zur Seite rutschte. In diesem Augenblick sprang Bastinch hinter dem Ofen hervor, ergriff den Schuh und steckte ihren knochigen Fuß hinein.

«Hi, hi, hi, jetzt gehört er mir», kicherte Bastinda. Elli war so überrascht, daß sie kein Wort hervorbringen konnte.

«Gebt mir meinen Schuh zurück!» schrie sie, als sie wieder zu sich kam. «Diebin! Schämen sollt Ihr Euch.»

«Nimm ihn doch!» höhnte die Alte. «Ich werde dir auch den zweiten ausziehen! Und dann werd ich auch Gingema rächen! Verlaß dich darauf! Die Ratten werden dich fressen, hi, hi, hi, die großen hungrigen Ratten, und deine feinen Knochen benagen!»

Elli glaubte vor Kummer und Zorn zu vergehen. Die silbernen Schuhe waren ihr so teuer gewesen! Um es Bastinda heimzuzahlen, ergriff sie einen Eimer Wasser, lief auf die Alte zu und begoß sie von Kopf bis Fuß.

Die Hexe schrie vor Schreck auf und versuchte vergeblich, das Wasser abzuschütteln. Ihr Gesicht wurde löchrig wie schmelzender Schnee, Dampf stieg von ihr auf, sie schrumpfte zusehends und begann sich aufzulösen…

«Was hast du getan!» kreischte die Hexe. «Ich zerfließe!»

«Tut mir schrecklich leid, Frau Zauberin!» sagte Elli. «Ich konnte es doch nicht wissen. Aber warum habt Ihr meinen Schuh gestohlen?»

«Fünfhundert Jahre habe ich mich nicht gewaschen, die Zähne nicht geputzt und kein Wasser angerührt. Man hatte mir vorausgesagt, daß ich durch Wasser sterben werde, und jetzt ist das Ende da!» heulte die Alte.

Ihre Stimme wurde immer leiser. Die Hexe schmolz dahin wie ein Stück Zucker in einem Glas Tee.

Mit Entsetzen sah Elli Bastinda vergehen.

«Ihr seid selber schuld…», rief sie.

«Nein, wer hat dich… ffff… fffff…»

Die Stimme der Zauberin überschlug sich, zischend sank die Alte in sich zusammen, und eine Minute später war an ihrer Stelle nur noch eine schmutzige Lache zu sehen, in der das Kleid, der Schirm, ein Büschel grauer Haare und der silberne Schuh schwammen.

In diesem Augenblick trat Fregosa in die Küche. Sie staunte und freute sich ungeheuer über den Tod ihrer grausamen Herrin. Sie hob den Schirm, das Kleid und das Büschel Haare auf und warf sie in eine Ecke, um später alles zu verbrennen. Dann wischte sie die schmutzige Lache auf und lief davon, überall die frohe Nachricht zu verkünden…

Elli säuberte den Schuh und zog ihn an, und als sie in Bastindas Schlafgemach den Schlüssel vom Käfig fand, rannte sie schnurstracks in den Hinterhof, um ihren Freunden vom wunderlichen Ende der bösen Zauberin zu erzählen.

Wie der Scheuch und der Eiserne Holzfäller ins Leben zurückgerufen wurden

Der Feige Löwe war außer sich vor Freude, als er von Bastindas Tod hörte. Elli öffnete den Käfig, und er lief mit Wonne durch den Hof, da ihm die Pfoten vom langen Liegen ganz steif geworden waren. Totoschka eilte in die Küche, um sich die Überreste der schrecklichen Bastinda anzuschauen.

«Ha, ha, ha», frohlockte das Hündchen, als es in der Ecke das schmutzige Kleid der Zauberin sah. «Die Bastinda war nicht fester als die Schneemänner, die die Jungen bei uns in Kansas im Winter machen. Wie schade, Elli, daß du es nicht früher wußtest!»

«Ich bin froh, daß ich es nicht wußte», entgegnete das Mädchen. «Ich hätte es nicht über mich gebracht, den Eimer Wasser über die Zauberin zu gießen, wenn ich gewußt hätte, daß sie dadurch sterben würde.»

«Ende gut, alles gut», rief Totoschka. «Ich bin so froh, daß wir als Sieger in die Smaragdenstadt zurückkehren!»

Vor dem Violetten Schloß hatten sich viele Zwinkerer aus der Umgebung eingefunden, und Elli verkündete ihnen, daß sie von nun ab frei seien. Die Freude des Volkes war unbeschreiblich. Die Zwinkerer hüpften, schnippten mit den Fingern und blinzelten sich so eifrig zu, daß ihnen am Abend die Augen tränten und sie nichts sehen konnten.

Nachdem Elli und der Löwe ihre Freiheit wiedererrungen hatten, dachten sie angestrengt nach, wie sie ihre treuen Freunde, den Scheuch und den Eisernen Holzfäller, retten könnten.

Ein paar Dutzend flinke Zwinkerer machten sich sogleich unter Ellis und des Löwen Führung auf die Suche. Totoschka blieb natürlich nicht im Schloß, sondern schwang sich auf den Rücken seines großen Freundes, von dem er sich mit stolzer Miene tragen ließ. Nach einiger Zeit kamen sie zu der Stelle, wo die Fliegenden Affen sie überfallen hatten. Bald fanden sie den Eisernen Holzfäller, den sie mitsamt seiner Axt aus der Schlucht hervorholten. Das Bündel mit den Kleidern und dem Kopf des Scheuchs, der ganz verschossen und verstaubt war, entdeckten sie auf dem Gipfel eines Berges. Beim Anblick der Überreste ihrer treuen Freunde traten Elli Tränen in die Augen.

Die Schar kehrte in das Schloß zurück, wo die Zwinkerer sogleich an die Arbeit gingen.

Sie wuschen, flickten und reinigten die Kleider des Scheuchs und stopften sie mit frischem Stroh aus, und nun stand der treue Gefährte in seiner alten Gestalt wieder vor ihnen. Er konnte aber weder sprechen noch sehen, denn die Farben auf seinem Gesicht waren unter der Sonne dahingeschmolzen, und er hatte jetzt weder Augen noch Mund.

Die Zwinkerer brachten Pinsel und Farben, und Elli malte dem Scheuch Augen und Mund auf. Das erste Auge war noch nicht fertig, da begann es schon Elli lustig zuzublinzeln.

«Gedulde dich, Freundchen», sagte das Mädchen liebevoll, «sonst wirst du dein Leben lang schielen…!»

Der Scheuch konnte es aber einfach nicht aushalten. Sein Mund war noch nicht zu Ende gemalt, da hub er schon zu schwatzen an.

«Tpff… Schche… Flkk… Pff… Da bin ich… der Scheuch, der tapfere, flinke! Ach, wie ich mich freue, wieder bei Elli zu sein!»

Er umschlang mit seinen weichen Armen das Mädchen, den Löwen und Totoschka. Elli fragte die Zwinkerer, ob es unter ihnen tüchtige Schmiede gebe. O ja, sagten sie, das Land sei von jeher für seine erstklassigen Uhrmacher, Goldschmiede und Mechaniker berühmt. Als sie erfuhren, daß es um die Wiederherstellung des eisernen Mannes, Ellis Gefährten, gehe, war ein jeder bereit, der Fee des Rettenden Wassers, wie sie das Mädchen nannten, mit allen Kräften zu helfen.

Die Wiederherstellung des Holzfällers war indes bei weitem nicht so leicht wie die des Scheuchs. Die geschicktesten Meister des Landes arbeiteten drei Tage und vier Nächte an seinem komplizierten Mechanismus, der arg zugerichtet war. Sie klopften mit ihren Hämmerchen, feilten, löteten, klebten und polierten…

Dann kam der glückliche Augenblick, da der Eiserne Holzfäller wieder vor Elli stand. Er war so gut wie neu, wenn man von den paar Flicken absah, die man ihm dort aufgelegt hatte, wo die spitzen Steine seinen Körper aufgerissen hatten. Das machte ihm aber nichts aus. Nach der Reparatur war er noch schöner als früher. Die Zwinkerer hatten ihn auf Hochglanz poliert, daß die Augen schmerzten, wenn man ihn ansah. Auch seine Axt hatten sie repariert und den zerbrochenen Holzgriff durch einen goldenen ersetzt. Die Zwinkerer hatten nämlich eine Schwäche für alles, was glänzte. Scharen von Kindern und Erwachsenen liefen dem Eisernen Holzfäller nach, zwinkerten in einem fort und begafften ihn.

Der Holzfäller weinte vor Freude, als er seine Gefährten wiedersah. Der Scheuch und Elli trockneten ihm die Augen mit einem lila Handtuch, denn sie befürchteten, daß seine Kiefern einrosten könnten. Elli weinte Tränen der Freude, und sogar dem Feigen Löwen wurden die Augen naß. Er wischte sie immerzu mit dem Haarbüschel seines Schwanzes,

bis dieser völlig durchnäßt war, wonach er in den Hinterhof gehen mußte, um dort seinen Schwanz an der Sonne zu trocknen.

Aus Anlaß der freudigen Ereignisse wurde im Schloß ein Fest gegeben. Elli und ihre Freunde saßen auf den Ehrenplätzen, und auf ihre Gesundheit wurden viele Gläser mit Limonade und Fruchtsaft geleert.

Während des Schmauses schlug einer der Gäste vor, daß jeder Zwinkerer sich zu Ehren der Fee des Rettenden Wassers von jetzt ab täglich fünfmal waschen solle. Nach langem Feilschen kam man überein, daß dreimal waschen am Tage genüge.

Die Gefährten verbrachten mehrere fröhliche Tage im Violetten Schloß unter den Zwinkerern und rüsteten dann zum Aufbruch.

«Wir müssen uns zu Goodwin begeben, damit er seine Versprechen erfüllt», sagte Elli.

«Jetzt werde ich endlich mein Gehirn bekommen», rief der Scheuch.

«Und ich ein Herz», sagte der Eiserne Holzfäller.

«Und ich Mut», brüllte der Löwe,

«Und ich kehre zu Vater und Mutter nach Kansas zurück», rief Elli und klatschte vor Freude in die Hände.

«Dort werd ich's dem Hektor, diesem Prahlhans, zeigen, wer von uns der Stärkere ist!» fügte Totoschka hinzu.

Ahn Morgen ließen sie die Zwinkerer kommen und nahmen von ihnen herzlich Abschied.

Aus der Menge traten drei Graubärte hervor und baten den Eisernen Holzfäller ehrerbietig, die Regierung ihres Landes zu übernehmen. Der funkelnde eiserne Mann und die Art, wie er mit der goldenen Axt auf der Schulter majestätisch einherschritt, hatten auf sie einen starken Eindruck gemacht.

«Bleibt doch bei uns!» baten die Zwinkerer. «Wir sind so hilflos und schüchtern und brauchen unbedingt einen Herrscher, der uns gegen die Feinde schützt! Was sollen wir anfangen, wenn uns wieder eine böse Zauberin überfällt und zu Sklaven macht? Ach, bitte, bitte, bleibt bei uns!»

Schon der Gedanke an die böse Zauberin erfüllte die Zwinkerer mit Entsetzen.

«Es gibt jetzt keine bösen Zauberinnen in Goodwins Land mehr!» versicherte der Scheuch stolz. «Ich und Elli haben sie alle vernichtet.»

Die Zwinkerer wischten sich die Tränen ab und fuhren fort:

«Außerdem wär es doch vorteilhaft, einen solchen Herrscher zu haben. Ihr eßt nicht, trinkt nicht und würdet uns folglich auch keine Steuern auferlegen! Und wenn Ihr im Kampf mit den Feinden zu Schaden kommt, könnten wir Euch jederzeit reparieren. Wir haben ja darin schon Erfahrung!»

Der Eiserne Holzfäller fühlte sich geschmeichelt.

«Ich kann mich jetzt nicht von Elli trennen», sagte er, «wo ich doch in der Smaragdenstadt ein Herz bekommen soll. Aber dann… ich werde mir's noch überlegen… komm ich vielleicht wieder.»

Die Zwinkerer waren erfreut, dies zu hören, und verabschiedeten sich von ihren Befreiern mit lauten Hurrarufen.

Die fünf wurden reich beschenkt. Elli bekam ein brillantenbesetztes Armband, der Eiserne Holzfäller eine mit Edelsteinen geschmückte goldene Ölkanne, der Scheuch, von dem sie wußten, daß er nicht fest auf den Beinen stand, erhielt einen prächtigen Spazierstock mit Elfenbeinknauf, und an seinen Hut wurden Silberschellen angebracht, die wunderbar läuteten. Der Strohmann war auf diese Geschenke ungeheuer stolz. Im Gehen spreizte er die Hand mit dem Stock und schüttelte den Kopf, um sich an dem lieblichen Schellengeläute zu ergötzen. Doch bald hatte er das Stolzieren satt und war wieder natürlich und ungezwungen wie früher.

Der Löwe und Totoschka bekamen schöne goldene Halsketten. Der Löwe mochte zunächst das Geschenk nicht, doch als ihm ein Zwinkerer sagte, daß alle Kaiser goldene Halsketten trügen, ließ er sich den unangenehmen Schmuck gefallen.

«Wenn ich Mut bekomme», erklärte er, «werde ich der König der Tiere sein. Und so muß ich mich eben beizeitenan dieses ekelhafte Ding gewöhnen…''

Die Rückkehr in die Smaragdenstadt

Die Wanderer zogen aus der Violetten Stadt nach Westen. Elli trug den Goldenen Hut, den sie zufällig in Bastindas Zimmer entdeckt hatte und von dessen Zauberkraft sie nichts wußte. Sie hatte ihn einfach aufgesetzt, weil er ihr gefiel.

Die Schar ging schnell, in der Hoffnung, binnen zwei, drei Tagen die Smaragdenstadt zu erreichen. In den Bergen, wo sie von den Fliegenden Affen überfallen worden waren, kamen sie jedoch vom Weg ab, und Tage vergingen, ohne daß sich die Zinnen der Stadt zeigten.

Der Mundvorrat war fast aufgebraucht, und Elli machte sich große Sorgen um die Zukunft.

Während einer Rast erinnerte sie sich an die Pfeife, die ihr die Mäusekönigin geschenkt hatte.

Ich will sie mal ausprobieren, dachte sie, setzte die Pfeife an den Mund und blies hinein. Da raschelte es im Gras, und vor ihr stand plötzlich die Königin der Feldmäuse.

«Sei gegrüßt», riefen die Wanderer erfreut, während der Holzfäller den unbändigen Totoschka festhielt.

«Was wünscht ihr, Freunde?» piepste Königin Ramina.

«Wir wollten aus dem Land der Zwinkerer in die Smaragdenstadt zurückkehren und haben uns verirrt. Helft uns doch, den Weg zu finden!» bat Elli.

«Ihr geht in der verkehrten Richtung. Bald werdet ihr an eine Bergkette gelangen, die Goodwins Land umgibt. Von hier sind es noch viele Tage bis zur Smaragdenstadt.»

Elli wurde es schwer ums Herz.

«Und wir glaubten, bald anzukommen.»

«Wie könnt Ihr verzagen, wo Ihr doch den Goldenen Hut auf dem Kopf habt?» wunderte sich die Mäusekönigin. Sie war zwar klein von Wuchs, gehörte aber zur Sippe der Feenund kannte sich in Zauberdingen gut aus. «Ruft doch die Fliegenden Affen, und sie werden euch tragen, wohin ihr wollt.»

Bei den Worten «Fliegende Affen» erschauerte der Eiserne Holzfäller. Der Scheuch zuckte zusammen, und der Feige Löwe rief, die Mähne schüttelnd:

«Schon wieder die Fliegenden Affen? Danke schön! Diese Scheusale kenn ich zur Genüge. Sie sind mir noch mehr zuwider als die Säbelzahntiger!»

Ramina lachte:

«Die Affen gehorchen der Besitzerin des Goldenen Hutes. Schaut, was auf dem Futter geschrieben steht, und ihr werdet wissen, was ihr zu tun habt.»

Elli nahm den Hut vom Kopf und schaute hinein.

«Wir sind gerettet, Freunde», rief sie erfreut.

«Ich verabschiede mich», sagte die Mäusekönigin würdig. «Unser Stamm verträgt sich nicht mit den Fliegenden Affen. Auf Wiedersehn!»

«Auf Wiedersehn! Schönen Dank», riefen die Wanderer der entschwindenden Ramina nach.

Elli sprach die Zauberworte, die auf dem Futter zu lesen waren:

«Bambara, tschufara, loriki, joriki.»

«Bambara, tschufara?» fragte der Scheuch verwundert,

«Stör bitte nicht», bat Elli und fuhr kapu, skoriki, moriki…»

«Skoriki, moriki…», flüsterte der Scheuch.

«Kommt herbei, ihr Fliegenden Affen», schloß Elli laut und schon rauschte es in der Luft von den Flügelschläger des nahenden Rudels.

Unwillkürlich duckten sich die Wanderer, denn sie hatten die erste Begegnung mit den Affen noch gut im Gedächtnis. Das Rudel ging leise nieder. Der Anführer verneigte sich vor Elli und fragte höflich:

«Was befehlt Ihr, Herrin des Goldenen Hutes?»

«Tragt uns in die Smaragdenstadt.»

«Es soll geschehen!» Im nächsten Augenblick fühlten sich die Wanderer in die Luft gehoben. Der Anführer und seine Gattin trugen Elli, der Scheuch und der Eiserne Holzfäller saßen rittlings auf zwei anderen Affen, ein paar starke Affen trugen den Löwen, und ein junger Affe hielt Totoschka in den Armen, der bellte und um sich biß.

Zuerst war es den Wanderern unheimlich zumute, doch als sie sahen, wie sicher sich die Affen in der Luft fühlten, beruhigten sie sich.

«Warum gehorcht ihr der Besitzerin des Goldenen Hutes?» wollte Elli wissen.

Da erzählte ihr der Anführer folgendes: Vor vielen Jahrhunderten hatte der Stamm der Fliegenden Affen eine mächtige Fee gekränkt. Zur Strafe fertigte diese den Goldenen Hut an, und nun mußten die Affen jedesmal drei Wünsche des Besitzers des Hutes erfüllen, wonach dieser die Macht über sie verlor. Ging der Hut in den Besitz eines anderen über, so standen diesem wieder drei Befehle zu Gebote. Die erste Besitzerin des Hutes war die Fee, die ihn angefertigt hatte. Dann ging er durch viele Hände, bis sich die böse Bastinda seiner bemächtigte.

Eine Stunde später erblickten die Wanderer die Türme der Smaragdenstadt. Die Affen setzten Elli und ihre Gefährten sanft auf dem gelben Backsteinweg vor dem Tor ab und flogen geräuschvoll davon.

Elli zog die Glocke, und heraus trat Faramant.

«Ihr seid zurückgekommen?»

«Wie Ihr seht», sagte der Scheuch würdevoll «Und ich dachte, ihr hättet euch zu der bösen Zauberin des Violetten Landes begeben.»

«Wir waren dort», erwiderte der Scheuch und schlug mit seinem Stock auf die Erde. «Freilich können wir uns nicht rühmen, die Zeit dort angenehm verbracht zu haben.»

«Habt ihr das Violette Land ohne Bastindas Erlaubnis verlassen?» forschte der staunende Torhüter weiter.

«Wir haben sie gar nicht um Erlaubnis gefragt! Wißt Ihr übrigens, daß sie zerschmolzen ist?»

«Was? Zerschmolzen? Eine wunderbare Nachricht! Und wer hat das fertiggebracht?»

«Elli natürlich», mischte sich der Löwe ein.

Der Torhüter verneigte sich tief vor dem Mädchen, führte die Wanderer in sein Zimmer und setzte ihnen die grünen Brillen auf. Und wieder erstrahlte alles ringsum in mildem grünem Licht…

Die Entlarvung des Grossen und Schrecklichen

Die kleine Schar ging durch die bekannten Straßen zu Goodwins Schloß. Unterwegs erzählte Faramant diesem und jenem vom Tod der bösen Bastinda. Die Kunde verbreitete sich rasch, und bald hatte sich eine Menge Gaffer versammelt, die Elli und ihren Gefährten ehrfürchtig bis zum Schloß folgten…

Der grünbärtige Soldat stand auf seinem Posten, den Spiegel in der Hand, und kämmte wie gewöhnlich seinen wunderbaren Bart. Die Menge war aber diesmal so zahlreich und schrie so laut, daß der Soldat schon nach 10 Minuten aufmerksam wurde. Din Gior freute sich ungeheuer über die Rückkehr der Wanderer und rief das grüne Mädchen herbei, das sie in die gleichen Zimmer führte wie das erstemal.

«Seid so freundlich und meldet dem Großen Goodwin unsere Rückkehr», sagte Elli zum Soldaten, «und teilt ihm auch unsere Bitte-mit, daß er uns empfangen soll…»

Nach wenigen Minuten kehrte der Soldat zurück und sagte:

«Ich habe Eure Bitte an der Tür des Thronsaals laut vorgetragen, erhielt aber vom Großen Goodwin keine Antwort…»

Tag für Tag begab sich der Soldat vor die Tür des Thronsaals und meldete, daß die Wanderer Goodwin zu sehen wünschten, doch Totenstille war jedesmal die Antwort.

Eine Woche verging. Das Warten wurde den fünf zur Qual. Sie hatten einen begeisterten Empfang in Goodwins Schloß erwartet, und die Gleichgültigkeit des Zauberers bedrückte und reizte sie.

«Vielleicht lebt er nicht mehr?» sagte Elli nachdenklich.

«Aber nein! Er will einfach sein Wort nicht halten und versteckt sich vor uns», sprach der Scheuch entrüstet. «Natürlich ist es ihm schade um das Gehirn, das Herz und den Mut, die er uns geben muß, das sind ja teure Dinge! Dann hätte er uns aber nicht zur bösen Bastinch schicken sollen, die wir so tapfer vernichtet haben!»

Zornig rief er dem Soldaten zu:

«Richtet Goodwin aus, wenn er uns nicht empfängt, so werden wir die Fliegenden Affen rufen. Bestellt ihm, daß wir ihre Gebieter sind, daß wir den Goldenen Hut besitzen -

pikapu, trikapu -, und wenn die Fliegenden Affen kommen, so werden wir mit ihm anders reden!»

Din Gior ging und kam sehr bald zurück.

«Goodwin der Schreckliche wird euch alle morgen Punkt zehn Uhr früh im Thronsaal empf angen. Er bittet euch, sich nicht zu verspäten. Übrigens», flüsterte er Elli ins Ohr, «ich glaube, er hat Angst bekommen, denn mit den Fliegenden Affen hat er schon einmal zu tun gehabt und weiß, was das für Bestien sind.»

Unsere Wanderer verbrachten eine unruhige Nacht, und am anderen Morgen versammelten sie sich pünktlich vor der Tür des Thronsaals.

Diese öffnete sich, und sie traten ein. Jeder erwartete, Goodwin in der Gestalt zu sehen, in der er sich das erstemal gezeigt hatte. Aber im Saal war niemand da. Eine feierliche, unheimliche Stille herrschte hier, und beklommen fragten sich die Wanderer, was Goodwin wohl im Schilde führe.

Plötzlich ertönte eine Stimme, die sie zusammenfahren ließ.

«Ich bin Goodwin, der Große und Schreckliche. Warum belästigt ihr mich?»

Die Gefährten schauten um sich, konnten aber niemand entdecken.

«Wo seid Ihr?» fragte Elli mit zitternder Stimme.

«Ich bin überall», erwiderte die Stimme feierlich. «Ich kann jede Gestalt annehmen und mich unsichtbar machen, wenn ich es will. Kommt zum Thron, ich werde mit euch sprechen!»

Die fünf machten ein paar Schritte auf den Thron zu. Alle hatten schreckliche Angst, mit Ausnahme des Eisernen Holzfällers und Totoschkas. Dieser fürchtete sich nicht, weil er kein Herz hatte, der andere, weil er nicht begriff, daß man sich vor Stimmen fürchten könne.

«Sprecht!» befahl die Stimme.

«Großer Goodwin, wir sind gekommen, Euch um die Erfüllung Eurer Versprechen zu bitten!»

«Welcher Versprechen?»

«Ihr habt versprochen, mich nach Kansas zu schicken, zu Vater und Mutter, wenn wir die Zwinkerer aus der Gewalt Bastindas befreien würden.»

«Und mir habt Ihr Gehirn versprochen!»

«Und mir ein Herz!»

«Und mir Mut!»

«Sind die Zwinkerer denn wirklich frei?» fragte die Stimme, die zu zittern begann, wie es Elli schien.

«Ja», erwiderte das Mädelchen, «ich habe die böse Bastinch mit Wasser übergossen, und sie ist zerschmolzen.»

«Das müßt ihr mir beweisen, ich will Beweise haben!» sagte die Stimme.

«Pikapu, trikapu», rief der Scheuch. «Ihr seid doch allgegenwärtig. Seht ihr denn nicht den Goldenen Hut auf Ellis Kopf, oder wollt Ihr, daß wir zum Beweis die Fliegenden Affen rufen, bambara, tschufara?»

«O nein, nein, ich glaub euch schon!» beeilte sich die Stimme zu versichern. «Das ist alles so unerwartet gekommen… Also schön, ich erwarte euch übermorgen. Inzwischen werde ich mir eure Bitten überlegen!».

«Ihr habt Zeit genug gehabt zum Überlegen, skoriki, moriki!» schrie der Scheuch wütend. «Wir haben eine Woche lang gewartet, daß Ihr uns empfangt.»

«Wir wollen keinen Tag länger warten», sagte der Eiserne Holzfäller entschieden, und der Löwe stieß ein Gebrüll aus, daß die Wände des riesigen Saales einzustürzen drohten.

Als das Gebrüll verklang, trat wieder Stille ein. Elli und ihre Gefährten warteten, was Goodwin auf die Herausforderung erwidern würde. Totoschka, der geräuschvoll schnupperte, stürzte plötzlich bellend auf die Wand zu und war im Nu verschwunden. Es kam Elli vor, als ob er durch die Wand gerannt sei. In Wirklichkeit war es aber nur ein grüner Schirm, der mit der Wand verschmolz. Im nächsten Augenblick sprang ein kleines Männlein heraus, das gellend schrie:

«Haltet den Hund, sonst beißt er mich! Wer hat euch erlaubt, einen Hund in mein Schloß zu bringen?»

Verblüfft schauten die fünf auf den kleinen Mann. Er war kaum größer als Elli, aber schon alt, und hatte einen großen Kopf mit runzligem Gesicht. Er trug eine bunte Weste, gestreifte Hosen und einen langen Rock. In der Hand hielt er einen großen Schalltrichter, mit dem er voller Entsetzen Totoschka abzuwehren suchte, der hinter dem Schirm hervorgesprungen kam und nach des Männleins Bein schnappte.

Der Eiserne Holzfäller schnellte auf den Unbekannten zu.

«Wer seid Ihr?» fragte er streng.

«Ich bin Goodwin, der Große und Schreckliche», erwiderte das Männlein mit bebender Stimme. «Aber bitte, bitte, rührt mich nicht an. Ich will alles tun, was ihr verlangt.»

Die Wanderer warfen sich erstaunte Blicke zu.

«Ich glaubte, Goodwin sei der Lebende Kopf», sagte Elli.

«Und ich dachte, er wäre eine Nixe», rief der Scheuch.

«Und ich hab ihn für eine reißende Bestie gehalten», sagte der Holzfäller.

«Ich dachte, Goodwin sei ein Feuerball», sagte der Löwe.

«Das alles stimmt, und trotzdem irrt ihr euch», erklärte der Unbekannte sanft. «Das waren nur Masken.»

«Wieso Masken?» rief Elli. «Seid Ihr kein großer Zauberer?»

«Bitte, schrei nicht, liebes Kind!» bat Goodwin. «Die Leute halten mich für einen großen Zauberer.»

«Und wer seid Ihr in Wirklichkeit?»

«In Wirklichkeit… Ach, in Wirklichkeit bin ich nur ein ganz gewöhnlicher Mensch, mein Kind.»

Elli war wie vor den Kopf gestoßen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Der Eiserne Holzfäller hätte gleichfalls am liebsten losgeheult, doch besann er sich rechtzeitig, daß er die Ölkanne nicht bei sich hatte.

Der empörte Scheuch aber schrie:

«Laßt Euch sagen, wer Ihr seid, wenn Ihr's selber nicht wißt! Ein Schwindler seid Ihr, pikapu, trikapu!»

«Ja, ihr habt ganz recht!» erwiderte das Männlein mit einnehmendem Lächeln und rieb sich die Hände. «Ich bin ein großer und schrecklicher Schwindler.»

«Was sollen wir aber jetzt tun?» fragte der Eiserne Holzfäller, «wer gibt mir jetzt ein Herz?»

«Und mir ein Gehirn?»

«Und mir Mut?»

«Freunde!» sagte Goodwin, «das sind doch alles Kleinigkeiten! Denkt lieber, welch schreckliches Leben ich in diesem Schloß führen muß.»

«Ihr führt ein schreckliches Leben?» staunte Elli.

«Ja, mein Kind», seufzte Goodwin. «Niemand in der weiten Welt weiß, daß ich ein großer Schwindler bin, der seit vielen Jahren allerlei List anwenden, sich vor den Menschen verstecken und sie hintergehen muß. Glaubt ihr, es ist leicht, den Leuten den Kopf zu verdrehen? Und zum Unglück kommt das immer an den Tag. Ihr habt mich entlarvt, und, offen gestanden, ich bin froh darüber.» Das Männlein seufzte. «Natürlich hab ich einen Fehler begangen, als ich euch alle auf einmal einließ, dazu noch mit diesem verfluchten Hündchen…»

«Nehmt Euch in acht!» schrie Totoschka und fletschte die Zähne.

«Bitte um Verzeihung!» lenkte Goodwin ein und verneigte sich. «Ich wollte euch nicht kränken… Ja, was sagte ich nur? Ach so… Ich ließ euch ein, weil ich mich so ent- setzlich vor den Fliegenden Affen fürchte.»

«Ich verstehe überhaupt nichts mehr», sagte Elli. «Warum sah ich Euch dann in der Gestalt des Lebenden Kopfes?»

«Das ist sehr einfach», erwiderte Goodwin. «Folgt mir. Ich will's euch erklären.»

Er führte die Freunde durch eine Geheimtür in eine Kammer hinter den Thronsaal. Dort sahen sie den Lebenden Kopf, die Nixe, das Ungeheuer, phantastische Vögel und Fische, die alle aus Papier und Pappe gefertigt und kunstvoll bemalt waren.

«Da seht ihr die Gestalten, die Goodwin annehmen kann, der Große und Schreckliche», lachte der entlarvte Zauberer. «Keine schlechte Auswahl, was? Sie würde jedem Zirkus Ehre machen!»

Der Löwe trat wütend an den Kopf heran und versetzte ihm einen Tatzenhieb, daß dieser über die Diele kollerte und wild die Augen rollte. Dann sprang er knurrend zurück.

«Am schwersten ist es, die Augen zu lenken», erklärte Goodwin seufzend. «Ich stand hinter dem Schirm und zog an den Fäden, die Augen aber schauten immer in die verkehrte Richtung. Es ist dir wahrscheinlich aufgefallen, mein Kind?»

«Ich wunderte mich», erwiderte Elli, «aber ich war so erschrocken, daß ich nichts verstand.»

«Mit dem Schreck hab ich gerechnet», gestand Goodwin. «Obwohl meine Verwandlungen nicht immer klappten, merkten die Besucher vor Schreck nicht, was daran falsch war.»

«Und der Feuerball?» schrie der Löwe.

«Vor Euch habe ich mich am meisten gefürchtet, und so machte ich aus Watte einen Ball, übergoß ihn mit Spiritus und zündete ihn an. Er hat schön gebrannt, nicht wahr?»

Verächtlich wandte sich der Löwe von dem großen Schwindler ab.

«Schämt Ihr Euch nicht, mit den Leuten solchen Schabernack zu treiben?» fragte der Scheuch.

«Anfangs schämte ich mich, aber dann gewöhnte ich mich daran», erwiderte Goodwin. «Kommt jetzt in den Thronsaal, ich will euch meine Geschichte erzählen.»

Goodwins Geschichte

Goodwin hieß seine Gäste in den weichen Sesseln Platz nehmen und begann:

«Mein Name ist James Goodwin, ich bin in Kansas geboren…»

«Auch Ihr seid aus Kansas?» wunderte sich Elli.

«Ja, mein Kind», seufzte Goodwin. «Ich bin dein Landsmann. Vor vielen Jahren verließ ich meine Heimat. Ich war tief ergriffen, als du vor mich tratest, aber weil ich entlarvt zu werden fürchtete, schickte ich dich zu Bastinda.»

Goodwin blickte beschämt zu Boden. «Allerdings hoffte ich, die silbernen Schuhe würden dich schützen, und wie du siehst, hab ich mich auch nicht geirrt… Aber zurück zu meiner Geschichte. In meiner Jugend war ich Schauspieler, spielte Könige und Helden, dann sah ich aber, daß diese Beschäftigung wenig einbringt, und wurde Ballonist…»

«Was?» fragte Elli verdutzt.

«Ballonist. Ich stieg mit einem Ballon in die Luft — das ist ein Ball, den man mit einem leichten Gas füllt — zurr Vergnügen der Leute auf den Jahrmärkten. Der Ballon war immer an einem Seil befestigt, doch einmal riß dieses, und ein Sturm erfaßte meinen Ballon und trug ihn fort. Viele Tage flog ich über Wüsten und riesige Berge dahin und landete dann in dein Zauberland, das man jetzt Goodwins Land nennt. Von allen Seiten kamen Leute gelaufen, und als sie mich vom Himmel herabsinken sahen, glaubten sie, ich sei ein großer Zauberer. Ich tat nichts, um die Leichtgläubigen aufzuklären. Im Gegenteil. Ich gedachte meiner Rollen als König und Held, und für das erste Mal spielte ich recht gut den Zauberer (übrigens gab es hier keine Kritiker!). Dann rief ich mich zum Herrscher des Landes aus, und die Einwohner gehorchten mir mit Vergnügen, weil sie von mir Schutz vor den bösen Zauberinnen erwarteten, die das Land heimsuchten.

Zunächst baute ich die Smaragdenstadt…»

«Woher habt Ihr soviel grünen Marmor genommen?» fragte Elli.

«Und Smaragde?» fügte der Scheuch hinzu.

«Und so viele grüne Sachen?» wollte der Eiserne Holzfäller wissen.

«Habt Geduld, liebe Freunde! Ihr werdet bald alle meine Geheimnisse erfahren», lächelte Goodwin. «In meiner Stadt gibt es nicht mehr Grünes als in jeder anderen auch. Das alles kommt von», — er senkte geheimnisvoll die Stimme, «den grünen Brillen, die meine Untertanen niemals abnehmen dürfen.»

«Wieso?» rief Elli. «Der Marmor der Häuser und der Straßen…»

«…ist weiß, mein Kind!»

«Und die Smaragde?» fragte der Scheuch.

«Sind aus gewöhnlichem Glas, beste Sorte natürlich», fügte Goodwin stolz hinzu. «Ich scheute keine Ausgaben. Die Smaragde an den Stadttürmen sind übrigens echt. Man sieht sie von weitem.»

Elli und ihre Gefährten staunten immer mehr. Jetzt verstand das Mädchen, warum Totoschkas Halsband plötzlich weiß wurde, als sie die Smaragdenstadt verließen.

Goodwin fuhr ruhig fort:

«Der Aufbau der Smaragdenstadt dauerte mehrere Jahre. Als sie fertig war, brauchten wir uns vor den bösen Zauberinnen nicht mehr zu fürchten. Ich war damals noch jung und glaubte, wenn ich unterm Volk leben würde, so werden mich die Leute bald durchschauen, und dann wäre meine Macht zu Ende. Und so zog ich mich denn in den Thronsaal und die anliegenden Gemächer zurück und stellte jeden Verkehr mit der Außenwelt ein, meine Dienerschaft nicht ausgenommen. Dann fertigte ich die Dinge an, die ihr saht, begann Wunder zu tun und legte mir den Titel 'Der Große und Schreckliche' zu. Nach ein paar Jahren hatte das Volk meine wahre Gestalt vergessen, und im Land gingen allerlei Gerüchte über mich um. Das war auch meine Absicht gewesen, und ich tat alles, um meinen Ruf als großen Zauberer zu wahren. Das gelang mir im allgemeinen, obwohl es nicht immer glatt ging. Ich hatte viel Pech mit meinem Feldzug gegen Bastinda. Die Fliegenden Affen zerschlugen mein Heer. Zum Glück konnte ich mich in Sicherheit bringen und so der Gefangenschaft entgehen. Seither habe ich schreckliche Angst vor Zauberinnen. Hätten sie erfahren, wer ich in Wirklichkeit bin, so wär' es um mich geschehen. Ich bin doch kein Zauberer. Als ich hörte, daß Ellis Häuschen die Gingema zerdrückt hat, freute ich mich ungeheuer. Mir kam der Gedanke, daß es an der Zeit sei, der Herrschaft der zweiten bösen Zauberin gleichfalls ein Ende zu setzen. Deswegen beharrte ich darauf, daß ihr gegen Bastinda auszieht. Und jetzt, nachdem sie unter deinen Händen, Elli, zerronnen ist, schäme ich mich einzugestehen, daß ich meine Versprechen nicht halten kann», schloß Goodwin seufzend.

«Ich glaube, Ihr seid ein schlechter Mensch», sagte das Mädchen.

«O nein, mein Kind, ich bin kein schlechter Mensch, sondern ein schlechter Zauberer.»

«Also bekomme ich kein Gehirn von Euch?» fragte der Scheuch bekümmert.

«Wozu braucht Ihr ein Gehirn? Nach allem, was ich von Euch weiß, seid Ihr nicht dümmer als jeder andere, der ein Gehirn hat», schmeichelte Goodwin dem Scheuch.

«Vielleicht habt Ihr recht», erwiderte dieser, «und doch werde ich ohne Gehirn nicht glücklich sein.»

Goodwin betrachtete ihn aufmerksam.

«Wißt Ihr eigentlich, was ein Gehirn ist?» fragte er.

«Nein», gestand der Scheuch. «Ich hab keine Ahnung, wie so etwas aussieht.»

«Schön, dann kommt morgen zu mir, und ich werde Euren Kopf mit einem erstklassigen Gehirn füllen. Freilich werdet Ihr lernen müssen, es zu gebrauchen.»

«Oh, das erlern ich bestimmt!» rief der Scheuch freudig. «Ich gebe Euch mein Wort, daß ich es erlerne!» Dann begann er zu tanzen und zu singen: «O-hoho-ho! Bald werde ich ein Gehirn haben, oho-oho-oho!»

Goodwin sah ihn lächelnd an.

«Und wie ist's mit meinem Mut?» fragte der Löwe unsicher.

«Ihr seid ein mutiges Tier», erwiderte Goodwin. «Nur fehlt Euch das Selbstvertrauen. Laßt es Euch sagen: Jedes lebende Wesen fürchtet sich vor Gefahren, und Mut haben heißt diese Furcht überwinden. Ihr versteht es, die Furcht zu überwinden.»

«Aber ich will, daß Ihr mir Mut gebt, damit ich mich vor nichts fürchte», bestand der Löwe.

«Schön!» Goodwin lächelte verschmitzt. «Kommt morgen, Ihr sollt ihn bekommen.»

«Kocht der Mut bei Euch in einem Topf mit goldenem Deckel?» fragte der Scheuch.

«Es ist fast so, wie Ihr sagt. Woher wißt Ihr's übrigens?» staunte Goodwin.

«Ein Farmer hat's uns gesagt, dem wir auf dem Weg in die Smaragdenstadt begegneten.»

«Der scheint über mich gut unterrichtet zu sein», bemerkte Goodwin trocken.

«Werdet Ihr mir ein Herz geben?» fragte nun der Eiserne Holzfäller.

«Das Herz hat viele Menschen unglücklich gemacht», erwiderte Goodwin. «Es ist kein großer Vorteil, ein Herz zu haben.»

«Darüber läßt sich streiten», entgegnete der Eiserne Holzfäller entschieden. «Ich werde jedes Unglück ruhig hinnehmen, wenn ich ein Herz haben werde.»

«Gut. Morgen sollt Ihr's bekommen. Ich war so viele Jahre Zauberer, daß ich schließlich doch etwas erlernen mußte.»

«Und was geschieht mit mir, werde ich nach Kansas zurückkehren?» fragte Elli klopfenden Herzens.

«Ach, mein Kind, das ist eine sehr schwierige Aufgabe. Aber laß mir ein paar Tage Zeit, vielleicht gelingt es mir, dich nach Kansas zu bringen.»

«Es wird Euch bestimmt gelingen», rief Elli freudig. «Im Zauberbuch Willinas steht doch, daß ich heimkehren werde, wenn ich drei Wesen geholfen hab, ihre sehnlichsten Wünsche zu verwirklichen.»

«Das wird wohl stimmen», räumte Goodwin ein und fügte belehrend hinzu: «Den Zauberbüchern soll man glauben. Und jetzt geht, meine Freunde, und fühlt euch in meinem Schloß wie zu Hause. Wir werden uns jeden Tag sehen, aber ihr dürft niemandem erzählen, daß ich ein Schwindler bin.»

Befriedigt verließen die Freunde den Thronsaal, und Elli glaubte nun fest, daß der Große und Schreckliche Schwindler sie nach Kansas bringen werde.

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