3 Drei Odysseen

Endlich hat Nr. 56 den idealen Platz gefunden, um ihre Stadt zu bauen. Ein runder Hügel. Sie klettert hinauf. Von oben erkennt sie die weiter östlich gelegenen Städte: Zubi-zubikan und Glubi-diu-kan. Normalerweise dürfte die Verbindung mit dem Rest der Föderation keine Probleme geben.

Sie untersucht die Gegend. Die Erde ist ein wenig hart, und sie hat eine graue Farbe. Die neue Königin sucht eine Stelle, wo der Boden weicher ist, aber das ist überall dasselbe. Als sie - in der Absicht, ihr erstes Geburtsgemach zu graben -entschlossen ihre Mandibeln einsetzt, verspürt sie eine seltsame Erschütterung. Wie ein Erdbeben, aber viel zu lokalisiert, als daß es wirklich eines sein könnte. Sie piekst erneut in den Boden. Schon wieder, schlimmer noch: der Hügel hebt sich und rutscht nach links.

Soweit das Ameisengedächtnis zurückreicht, hat man schon viel erlebt, aber einen lebenden Hügel noch nie! Der hier rückt mit flottem Tempo voran, zerteilt die Gräser, tritt Zweige nieder.

Nr. 56 hat sich noch nicht von ihrer Überraschung erholt, als sie einen zweiten Hügel sieht, der näher rückt. Was für ein Zauber ist das? Bevor sie dazu kommt, wieder herabzusteigen, wird sie auf eine Art Rodeo verschleppt, in Wirklichkeit ein Liebestanz zweier Hügel. Die sich jetzt schamlos betatschen ... Zu allem Überfluß ist der Hügel, auf dem Nr. 56 sitzt, weiblich. Und der andere macht sich daran, langsam auf ihn draufzuklettern. Nach und nach erscheint ein steinerner Kopf, ein fürchterlicher Wasserspeier, der den Mund aufmacht.

Das ist zuviel! Die junge Königin verzichtet darauf, ihre Stadt in dieser Gegend zu gründen. Als sie sich von diesem Gebirge herabrollen läßt, erkennt sie, welcher Gefahr sie entronnen ist. Die Hügel haben nicht nur Köpfe, sondern obendrein vier krallenbewehrte Füße und kleine dreieckige Schwänze.

Das ist das erste Mal, daß Nr. 56 Schildkröten zu sehen bekommt.


zeit der Verschwörer: Unter den Menschen ist folgendes

Organisationsprinzip am meisten verbreitet: Eine komplexe Hierarchie von »Verwaltenden« (Männern und Frauen, die an der Macht sind) betreut oder vielmehr leitet die eher beschränkte Gruppe der »Kreativen«, deren Arbeit sich anschließend, unter der Flagge der Distribution, die »Händler« bemächtigen ... Verwaltende, Kreative. Händler. Das sind die drei Kasten, die heutzutage den Arbeiterinnen, Soldatinnen und geschlechtlich Differenzierten bei den Ameisen entsprechen.

Der Kampf zwischen Stalin und Trotzki, den beiden russischen Führern zu Beginn des 20. Jahrhunderts, illustriert trefflich den Übergang von einem System, das die Kreativen begünstigt, zu einem System, das die Verwaltung begünstigt. Trotzki, der Mathematiker, Gründer der Roten Armee, wird nämlich von Stalin ausgeschaltet, dem Meister des Komplotts. Eine neue Ära beginnt.

Man kommt in den jeweiligen Gesellschaftsschichten besser und schneller voran, wenn man zu verführen, Killer zu versammeln, zu desinformieren weiß, als wenn man imstande ist, Konzepte oder neue Gegenstände zu schaffen.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Nr. 4000 und Nr. 103 683 haben sich wieder auf die durch Duftnoten gekennzeichnete Piste begeben, die zu dem Termitenhügel des Ostens führt. Sie begegnen Skarabäen, die damit beschäftigt sind. Humuskugeln zu rollen. Ameisenkundschafterinnen von einer Gattung, die so klein ist, daß man sie nur mit Mühe erkennt, anderen, die so groß sind, daß die beiden Soldatinnen kaum gesehen werden ...

Tatsächlich gibt es über zwölftausend Arten von Ameisen, und jede hat ihre eigene Morphologie. Die kleinsten messen nur ein paar hundert Mikron, die größten können bis zu sieben Zentimeter erreichen. Die roten Ameisen befinden sich in der Mitte.

Nr. 4000 scheint sich endlich zurechtzufinden. Sie müssen noch diesen grünen Moosfleck überqueren, diesen Akazienstrauch hinaufklettern, unter diesen Narzissen herkrabbeln, und normalerweise müßte das dann hinter diesem Baumstumpf sein.

Und in der Tat, kaum haben sie den Baumstumpf hinter sich gelassen, erscheinen hinter Quellern und Sanddornen der Fluß des Ostens und der Hafen von Satei.

»Hallo, hallo, Bilsheim, können Sie mich hören?«

»Klar und deutlich.«

»Alles in Ordnung?«

»Keine Probleme.«

»Die Länge des abgerollten Seils gibt an, daß Sie 480 Meter hinter sich haben.«

»Wunderbar.«

»Haben Sie etwas gesehen?«

»Nichts von Belang. Bloß ein paar in den Stein geritzte Inschriften.«

»Was für Inschriften?«

»Esoterisches Zeug. Soll ich Ihnen eine vorlesen?«

»Nein, ich glaube Ihnen aufs Wort ...«

Der Bauch von Nr. 56 ist in hellem Aufruhr. Im Inneren zerrt es, stößt es, rumpelt es. Sämtliche Bewohner ihrer künftigen

Stadt werden allmählich ungeduldig.

Also verzichtet sie auf große Ansprüche. Sie wählt einen Kessel aus ockerfarbener bis schwarzer Erde und beschließt, dort ihre Stadt zu gründen.

Der Ort ist keine schlechte Wahl. Es gibt in der Umgebung keine Duftnoten von Zwergameisen, Termiten oder Wespen. Es gibt sogar einige Pheromonenpisten, die darauf hinweisen, daß sich schon Belokanerinnen bis hierher vorgewagt haben.

Sie kostet die Erde. Der Boden ist reich an Spurenelementen, nicht zu trocken, aber auch nicht allzu feucht. Sogar ein kleiner Busch ragt über den Kessel.

Sie reinigt eine kreisrunde Fläche von dreihundert Kopf Durchmesser, was den optimalen Grundriß ihrer Stadt darstellt.

Mit den Kräften am Ende, würgt sie mehrmals, um Nahrung aus ihrem Sozialkropf nach oben zu befördern, aber der ist schon lange leer. Sie hat keine Energiereserven mehr. Also reißt sie mit einem Ruck ihre Flügel ab und verzehrt gierig die muskulösen Wurzeln.

Mit diesem Kalorienschub müßte sie einige Tage auskommen.

Dann vergräbt sie sich bis zum Rand der Antennen. Niemand darf sie sehen während dieser Zeit, in der sie eine wehrlose Beute abgibt.

Sie wartet. Die in ihrem Körper versteckte Stadt wird langsam wach. Wie wird sie sie nennen?

Als erstes muß sie sich den Namen einer Königin ausdenken. Einen Namen zu haben heißt, bei den Ameisen als autonomes Wesen zu existieren. Die Arbeiterinnen. Soldatinnen. »Jungfrauen« werden einzig nach der Nummer der Geburtsreihenfolge benannt. Die fruchtbaren Weibchen hingegen dürfen einen Namen annehmen.

Hmm ... Sie ist, als sie aufbrach, von den Kriegerinnen mit dem Felsengeruch gejagt worden, also braucht sie sich nur »die verfolgte Königin« zu nennen. Oder nein, sie ist verfolgt worden, weil sie versucht hat, das Rätsel der geheimen Waffe zu lösen. Nicht, daß sie das vergißt. Also ist sie »die aus dem Geheimnis hervorgegangene Königin«.

Und sie beschließt, ihrer Stadt den Namen »Stadt der aus dem Geheimnis hervorgegangenen Königin« zu geben. Was sich in der Duftsprache der Ameisen so anhört: Chli-Pu-Kan.

Zwei Stunden später. Erneuter Kontakt.

»Alles klar, Bilsheim?«

»Wir sind vor einer Tür. Eine ganz normale Tür mit einer langen Inschrift. In altertümlichen Lettern.«

»Was besagt die?«

»Soll ich es Ihnen diesmal vorlesen?«

»Ja.«

Der Kommissar richtete seine Taschenlampe darauf und begann, da er den Text Wort für Wort entziffern mußte, langsam und mit feierlicher Stimme zu lesen:

Im Augenblick des Todes befällt die Seele die gleiche Empfindung wie jene, die in das große Mysterium eingeweiht werden.

Zunächst ist alles eine Reise mit beschwerlichen Umwegen, eine beunruhigende, endlose Fahrt durch die Finsternis. Dann, kurz vor dem Ende, ist der Schrecken am größten. Schaudern. Zittern, kalter Schweiß. Entsetzen.

Dieser Phase folgt fast unmittelbar ein Aufstieg zum Licht, eine jähe Erleuchtung.

Ein wundervolles Licht zieht den Blick auf sich, man durchquert Plätze und Weiden von unübertroffener Reinheit, auf denen Stimmen und Musik erklingen.

Heilige Worte flößen religiösen Respekt ein. Der vollkommene und eingeweihte Mensch wird frei, und er feiert das Mysterium.

Einer der Gendarmen erschauderte.

»Und was ist hinter dieser Tür?« klang es aus dem Walkie-talkie.

»Na schön, ich mache sie auf ... Kommt mit, Jungs.«

Langes Schweigen.

»Hallo, Bilsheim! Hallo, Bilsheim! Antworten Sie, verdammt, was sehen Sie?«

Es ertönte ein Schuß. Dann erneut Schweigen.

»Hallo, Bilsheim, antworten Sie, alter Freund!«

»Ja, hier Bilsheim.«

»Reden Sie schon, was ist passiert?«

»Ratten. Tausende von Ratten. Sie sind über uns hergefallen, aber wir haben sie verjagt.«

»Deshalb der Schuß?«

»Ja. Jetzt sind sie in Deckung gegangen.«

»Beschreiben Sie, was Sie sehen!«

»Es ist alles rot hier. An den Wänden sind Spuren eisenhaltigen Gesteins, und auf dem Boden ... auf dem Boden ist Blut! Wir gehen weiter ...«

»Halten Sie Funkkontakt! Warum schalten Sie ab?«

»Ich handele lieber auf meine Art, bevor ich Ihren Ratschlägen aus der Ferne folge, wenn Sie gestatten, Madame!«

»Aber Bilsheim ...«

Klick. Er hatte die Verbindung unterbrochen.

Satei ist eigentlich kein Hafen, es ist auch kein Vorposten. Auf jeden Fall ist es der meistbenutzte Ort der belokanischen Expeditionen, die über den Fluß führen.

Einst, als die ersten Ameisen aus der Ni-Dynastie vor diesem Flußarm standen, erkannten sie schnell, daß es nicht einfach sein würde, ihn zu überqueren. Die Ameise gibt jedoch nie auf.

Sie wird, wenn es sein muß, fünfzehntausendmal und auf fünfzehntausend verschiedene Arten mit dem Kopf gegen das gleiche Hindernis rennen, bis sie stirbt oder das Hindernis überwunden ist.

Eine solche Vorgehensweise erscheint unlogisch. Sie hat die Ameisenzivilisation gewiß viele Opfer und viel Zeit gekostet, aber sie hat sich bezahlt gemacht. Letztlich, wenn auch um den Preis ungeheurer Anstrengungen, ist es den Ameisen stets gelungen, Schwierigkeiten zu meistern.

In Satei hatten die zur Erforschung ausgesandten Ameisen als erstes versucht, den Fluß auf eigenen Beinen zu überqueren. Die Haut des Wassers war widerstandsfähig genug, um ihr Gewicht zu tragen, bot jedoch leider keinen Halt für die Krallen. Die Ameisen schlingerten am Ufer entlang wie auf einer Eisbahn. Zwei Schritte nach vorn, drei zur Seite und ... schlurf! wurden sie von den Fröschen gefressen.

Nach hundert erfolglosen Anläufen und ein paar tausend Opfern versuchten die Ameisen etwas anderes. Arbeiterinnen bildeten, indem sie sich an den Beinen und Antennen hielten, eine Kette, die lang genug war, das andere Ufer zu erreichen. Das Unterfangen hätte gelingen können, wäre der Fluß nicht so breit gewesen und voller Strudel. Zweihundertvierzigtausend Tote. Aber die Ameisen gaben nicht auf. Auf Anregung ihrer damaligen Königin Biu-pa-ni versuchten sie, eine Brücke aus Blättern zu bauen, dann eine aus kleinen Zweigen, dann eine aus Maikäferkadavern, dann eine aus Steinchen ... Diese vier Experimente kosteten ungefähr sechshundertsiebzigtausend Arbeiterinnen das Leben. Biu-pa-ni hatte mit ihrer utopischen Brücke bereits mehr ihrer Untertanen in den Tod geschickt, als sämtliche Territorialkriege unter ihrem Regime an Opfern gefordert hatten!

Dennoch gab sie nicht auf. Man mußte den Zugang zu den Gebieten des Ostens finden. Nach den Brücken kam sie auf die Idee, dem Fluß bis zu seiner Quelle im Norden zu folgen und ihn so zu umgehen. Keine dieser Expeditionen kehrte jemals zurück. 8000 Tote. Dann sagte sie sich, daß die Ameisen das Schwimmen erlernen müßten. 15 000 Tote. Dann, daß sie versuchen müßten, die Frösche zu zähmen. 68 000 Tote. Blätter nehmen und auf ihnen von einem hohen Baum aus hinübersegeln? 52 Tote. Die Beine mit hartem Honig beschweren und unter Wasser gehen? 27 Tote. In der Legende heißt es, sie habe auf die Meldung, daß nur noch ein Dutzend unversehrte Arbeiterinnen in der Stadt seien, mit der Sentenz reagiert:

Schade, ich war noch voller Ideen ...

Zu guter Letzt fanden die Ameisen der Föderation doch noch eine befriedigende Lösung. Dreihunderttausend Jahre später schlug die Königin Lifug-ryu-ni ihren Töchtern vor, einen Tunnel unter dem Fluß zu graben. Das war so einfach, daß niemand vorher daran gedacht hatte.

Seitdem kann man problemlos von Satei aus auf die andere Seite des Flusses gelangen.

Nr. 103 683 und Nr. 4000 krabbeln schon seit einer Weile durch diesen Tunnel. Es ist feucht, aber noch gibt es keine Wassereinbrüche. Die Termitenstadt liegt am anderen Ufer. Die Termiten benutzen diesen unterirdischen Gang ebenfalls für ihre Streifzüge durch föderiertes Territorium. Bislang hat eine stillschweigende Übereinkunft gegolten. Man bekämpft sich nicht in dem Tunnel, jeder kann ihn frei durchqueren, ob Ameise oder Termite. Aber es ist klar: Sobald eine der beiden Parteien Besitzansprüche anmeldet, wird die andere versuchen, den Stollen zu verstopfen oder zu überschwemmen. Sie gehen endlos durch den langen Gang. Einziges Problem: Die flüssige Masse über ihnen ist eiskalt, und der Untergrund ist noch kälter. Sie verlieren jedes Gefühl in den Beinen. Jeder Schritt fällt schwer. Wenn sie da unten einschlafen, heißt das Winterschlaf für alle Zeiten. Sie kriechen langsam nach oben, um den Ausgang zu erreichen. Das kostet sie ihre letzten Reserven an Proteinen und Zucker. Ihre Muskeln sind ganz steif. Endlich, der Ausgang ... Als sie ins Freie treten, haben sich Nr. 103 683 und Nr. 4000 so sehr abgekühlt, daß sie mitten auf dem Weg einschlummern.

Sich im Gänsemarsch durch diesen finsteren Schlauch zu quälen, brachte ihn ins Grübeln. Hier gab es nichts nachzudenken, man mußte einfach weitergehen, immer weiter bis zum Ende. In der Hoffnung, daß es ein Ende gab ...

Hinter ihm sagte keiner mehr einen Ton. Bilsheim hörte das heisere Atmen der sechs Gendarmen und sagte sich, daß er wirklich ungerecht behandelt wurde.

Normalerweise hätte er längst Hauptkommissar sein und ein vernünftiges Gehalt beziehen müssen. Er leistete gute Arbeit, seine Überstunden lagen weit über dem Durchschnitt, er hatte schon ein gutes Dutzend Fälle aufgeklärt. Nur war da leider diese Doumeng, die seine Beförderung verhinderte.

Plötzlich erschien ihm diese Situation unerträglich.

»Ach, Scheiße!«

Alle blieben stehen.

»Alles klar, Kommissar?«

»Jaja, schon gut, geht weiter!«

Der Gipfel der Schmach: Jetzt redete er schon mit sich selbst. Er biß sich auf die Lippen, nahm sich fest vor, sich besser im Griff zu haben.

Er hatte nichts gegen Frauen, aber er hatte etwas gegen Inkompetenz. »Die alte Ziege kann kaum lesen und schreiben, sie hat noch keine einzige Untersuchung durchgeführt, und dann steht sie mit einemmal an der Spitze der ganzen Abteilung, hat einhundertachtzig Polizisten unter sich! Und sie verdient viermal soviel wie ich! Geht zur Polizei, sagen sie doch immer! Die Doumeng, die ist von ihrem Vorgänger zur Nachfolgerin auserkoren worden. Garantiert eine Bettgeschichte. Außerdem läßt sie einen nie in Frieden, eine richtige Nervensäge. Sie hetzt die Leute gegeneinander auf, sie sabotiert ihre eigene Abteilung, indem sie sich überall als unentbehrlich aufspielt ...«

Während seiner Grübelei erinnerte sich Bilsheim plötzlich an einen Dokumentarfilm über Kröten. Jene sind in Liebeszeiten dermaßen erregt, daß sie auf alles springen, was ihnen in die Quere kommt: Weibchen, aber auch Männchen und sogar Steine. Sie drücken auf den Bauch ihres Partners, um die Eier hervorzulocken, die sie dann befruchten. Wer auf den Bauch eines Weibchens drückt, wird für seine Anstrengungen belohnt. Wer auf den Bauch eines Männchens drückt, erhält nichts und wechselt den Partner. Wer auf einen Stein drückt, tut sich die Arme weh und gibt auf.

Aber es gibt einen Sonderfall: die, die auf die Erdschollen drücken. Die Erdscholle ist genauso weich wie der Bauch eines Kröten Weibchens. Also hören sie nicht auf zu pressen. Tagelang können sie diese unfruchtbaren Versuche wiederholen. Und sie glauben, daß es nichts Besseres zu tun gibt.

Der Kommissar lächelte. Vielleicht brauchte man der guten Solange nur zu erklären, daß es auch andere, durchaus wirksamere Verhaltensweisen gab, als alles zu blockieren und Untergebene zu triezen. Aber er glaubte nicht daran. Er sagte sich, wenn jemand in dieser verflixten Abteilung fehl am Platz war, dann war er es.

Die anderen hinter ihm waren ebenfalls in düstere Gedanken versunken. Dieser lautlose Abstieg ging allen auf die Nerven. Seit fünf Stunden gingen sie ohne Pause immer weiter. Die meisten dachten an die Zulage, die sie nach diesem Abenteuer fordern müßten; andere dachten an ihre Frau, an ihre Kinder, an ihren Wagen oder an eine Dose Bier ...


nichts: Was gibt es Angenehmeres, als das Denken einzustellen? Endlich dieser übersprudelnden Flut von mehr oder weniger nützlichen und mehr oder weniger wichtigen Gedanken ein Ende zu machen. Aufhören zu denken! Als wäre man tot und könnte wieder lebendig werden. Leer sein. Zum äußersten Ursprung zurückkehren. Nichts sein. Das nenne ich ein nobles Streben.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Die Körper der beiden Soldatinnen, die reglos die ganze Nacht auf dem schlammigen Ufer gelegen haben, werden durch die ersten Sonnenstrahlen wiederbelebt.

Eine nach der andern reaktivieren sich die Facetten der Augen von Nr. 103 683 und übermitteln ihrem Gehirn die neue Umgebung. Eine Umgebung, die einzig und allein aus einem riesigen Auge direkt über ihr besteht, das sie aufmerksam anstarrt.

Die junge Geschlechtslose stößt einen Pheromonenschrei des Entsetzens aus, der ihr die Antennen versengt. Das Auge bekommt ebenfalls Angst, es weicht hastig zurück und mit ihm das lange Hörn, von dem es getragen wird. Die beiden verstecken sich unter einer Art rundem Kieselstein. Eine Schnecke!

Ringsum sind noch mehr, fünf insgesamt, die sich unter ihrem Gehäuse verstecken. Die beiden Ameisen nähern sich ihnen, streichen um sie umher. Sie versuchen sie zu beißen, aber sie wissen nicht, wo sie ansetzen sollen. Dieses wandelnde Nest ist eine uneinnehmbare Festung.

Eine Sentenz der Königin kommt ihnen in den Sinn: Die Sicherheit ist mein ärgster Feind, sie lullt meine Reflexe und meine Entschlußkraft ein.

Nr. 103 683 sagt sich, daß diese hinter ihrem Gehäuse verschanzten Viecher ein leichtes Leben haben. Sie fressen reglose Gräser, brauchen nie zu kämpfen, zu locken, zu jagen, zu fliehen. Nie müssen sie dem Leben die Stirn bieten. Sie haben sich also nie entwickelt.

Sie packt die Lust, sie dazu zu zwingen, ihr Gehäuse zu verlassen, ihnen zu beweisen, daß sie nicht unverwundbar sind. Im gleichen Moment schätzen zwei oder fünf Schnecken, daß die Gefahr vorüber ist. Sie entlassen ihren Körper aus seinem Unterschlupf, um ihre nervliche Anspannung abzureagieren.

Sie schieben sich aufeinander zu, pressen sich Bauch an Bauch. Schleim an Schleim, vereinigen sie sich in einem klebrigen Kuß, der ihren ganzen Körper erfaßt. Ihre Geschlechtsteile berühren sich.

Es passiert etwas zwischen ihnen.

Das ist sehr langsam.

Die Schnecke rechts hat ihren aus einer kalkigen Spitze geformten Penis in die mit Eiern gefüllte Vagina der Schnecke links geschoben. Letztere, ganz weg vor Liebe, bringt ihrerseits einen erigierten Penis zum Vorschein und steckt ihn in den Partner.

Beide schwelgen in der Lust, einzudringen und zugleich durchdrungen zu werden. Ausgestattet mit einer Vagina und einem Penis darüber, können sie parallel die Empfindungen beider Geschlechter erleben.

Die Schnecke rechts hat als erste ihren männlichen Orgasmus. Sie windet sich außerordentlich und spannt sich, ihr ganzer Körper ist wie elektrisiert. Die vier Okularfühler der Hermaphroditen umschlingen sich. Der Schleim verwandelt sich in Schaum, dann in Bläschen. Das ist ein sehr enger Tanz, dessen Sinnlichkeit durch die langsamen Bewegungen noch gesteigert wird.

Die Schnecke links richtet ihre Fühler auf. Sie erreicht ebenfalls einen männlichen Orgasmus. Aber kaum hat sie aufgehört zu ejakulieren, wird ihr Körper von einer zweiten, diesmal vaginalen Welle geschüttelt. Die Schnecke rechts erlebt ihrerseits die weibliche Wonne.

Ihre Fühler sinken, ihre Liebespfeile ziehen sich zurück, ihre Vaginen schließen sich . Nach diesem vollkommenen Akt verwandeln sich die Liebhaber in gleichgepolte Magneten. Abstoßung. Ein Phänomen, so alt wie die Welt. Die beiden Maschinen zum Schenken und Empfangen der Lust trennen sich langsam, die Eier von den Spermien des Partners befruchtet.

Während Nr. 103 683 verdutzt, noch ganz unter dem Eindruck der Schönheit des Spektakels, verharrt, stürzt sich Nr. 4000 auf eine der beiden Schnecken. Sie will die postamouröse Erschöpfung ausnutzen, um dem größeren der beiden Tiere den Bauch aufzuschlitzen. Zu spät, sie haben sich wieder in ihre Gehäuse verkrochen.

Die alte Kundschafterin gibt nicht auf, sie weiß, daß sie irgendwann wieder hervorkommen werden. Sie belagert sie lange. Schließlich zwängen sich erst ein zaghaftes Auge, dann ein ganzer Fühler aus dem Gehäuse. Der Gastropode schaut nach, wie die Welt rings um sein kleines Leben aussieht.

Als der zweite Fühler erscheint, schnellt Nr. 4000 vor und beißt mit aller Kraft ihrer Mandibeln in das Auge. Sie will es heraustrennen. Aber das Weichtier zieht sich zusammen, reißt dabei die Kundschafterin mit in die Spiralen ihres Gehäuses.

Flupp!

Wie kann man sie retten?

Nr. 103 683 überlegt, schon steigt eine Idee aus einem ihrer drei Gehirne auf. Sie ergreift einen Stein mit ihren Mandibeln und beginnt mit aller Kraft auf das Gehäuse zu schlagen. Damit hat sie zwar den Hammer erfunden, aber das Schneckenhaus ist nicht aus Balsaholz. Das Klopfen ist Musik, sonst nichts. Sie muß sich etwas anderes ausdenken.

Das ist ein Glückstag, denn diesmal entdeckt die Ameise den Hebel. Sie packt einen kräftigen Zweig, ein kleiner Stein dient ihr als Achse dabei, dann benutzt sie ihr ganzes Gewicht, um das schwere Tier umzuwerfen. Sie muß es mehrmals versuchen. Schließlich schwankt das Gehäuse hin und her, dann kippt es um. Die Öffnung zeigt nach oben. Geschafft!

Nr. 103 683 erklimmt die Spiralen, beugt sich über das hohle Gehäuse und läßt sich auf das Weichtier fallen. Nach einer langen Rutschpartie landet sie auf einer braunen, gallertartigen Masse. Angewidert von dem fetten Schleim, in dem sie watet, beginnt sie das weiche Gewebe zu zerschneiden. Ihre Säure kann sie nicht einsetzen, da sie Gefahr liefe, selbst verätzt zu werden.

Eine neue Flüssigkeit mischt sich alsbald mit dem Schleim: das durchsichtige Blut der Schnecke. Das zu Tode erschrockene Tier wird von einem Krampf geschüttelt, der die beiden Ameisen aus dem Gehäuse schleudert.

Unversehrt streicheln sie einander ausgiebig die Antennen.

Die tödlich verwundete Schnecke möchte fliehen, aber sie verliert auf dem Weg ihre Eingeweide. Die beiden Ameisen holen sie und haben keine Mühe, ihr den Rest zu geben. Erschrocken verkriechen sich die vier anderen Gasteropoden, die ihre Fühleraugen ausgefahren haben, um die Szene zu beobachten, tief in ihre Gehäuse, um sich den Rest des Tages nicht mehr zu rühren.

An diesem Morgen stopfen sich Nr. 103 683 und Nr. 4000 mit Schneckenfleisch voll. Sie zerschneiden es in Scheiben und verzehren es als lauwarmes, im eigenen Schleim schwimmendes Steak. Sie finden sogar den mit Eiern gefüllten vaginalen Beutel. Schneckenkaviar! Eine der Lieblingsspeisen der roten Ameisen, eine wertvolle Quelle von Vitaminen, Fett, Zucker und Proteinen .

Den Sozialkropf bis zum Rand gefüllt und mit Sonnenenergie aufgeladen, machen sie sich festen Schritts wieder auf den Weg nach Südosten.


analyse der Pheromonen (34. Experiment): Es ist mir mittels eines Massenspektrometers und eines Chromatographen gelungen, einige der Kommunikationsmoleküle der Ameisen zu identifizieren. Infolgedessen konnte ich eine chemische Analyse einer um 10 Uhr abends »abgehörten« Kommunikation zwischen einem Männchen und einer Arbeiterin vornehmen. Das Männchen hat ein Stück Toastbrot entdeckt. Hier die Analyse dessen, was es von sich gegeben hat:

- Methyl-6

- Methyl-4 Hexanon-3 (2 Ausstöße)

- Keton

- Oktanon-3

Dann erneut:

- Keton

- Oktanon-3 (2 Ausstöße)

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Unterwegs begegnen sie weiteren Schnecken. Sie verstecken sich allesamt, als hätten sie einander zugeflüstert: »Diese Ameisen sind gefährlich.« Eine jedoch versteckt sich nicht. Sie zeigt sich sogar unverhüllt.

Neugierig krabbeln die beiden Ameisen auf sie zu. Das Tier ist von etwas Schwerem zermalmt worden. Sein Gehäuse ist zertrümmert. Sein Körper ist geplatzt und weit im Umkreis verteilt. Nr. 103 683 muß sogleich an die geheime Waffe der Termiten denken. Sie müssen ganz in der Nähe der feindlichen Stadt sein. Sie schaut sich den Kadaver genauer an. Der Schlag war umfassend, kurz und äußerst heftig. Kein Wunder, daß es ihnen mit einer solchen Waffe gelungen ist, den Posten von La-chola-kan zu zerfetzen!

Nr. 103 683 ist fest entschlossen. Sie müssen in die Termitenstadt eindringen und diese Waffe verstecken, besser noch stehlen. Sonst läuft die ganze Föderation Gefahr, vernichtet zu werden!

Aber plötzlich kommt starker Wind auf. Sie kommen nicht mehr dazu, sich mit ihren Krallen an der Erde festzuhalten. Der Sturm trägt sie gen Himmel. Nr. 103 683 und Nr. 4000 haben keine Flügel . Dennoch fliegen sie.

Einige Stunden später - der Trupp oben döste selig vor sich hin - begann das Walkie-talkie wieder zu rauschen.

»Hallo, Madame Doumeng! Es ist soweit, wir sind unten angekommen.«

»Und? Was sehen Sie?«

»Das ist eine Sackgasse. Wir stehen vor einer Mauer aus Beton und Stahl, die erst kürzlich errichtet worden ist. Man könnte meinen, hier wäre Schluß ... Da ist noch eine Inschrift.«

»Lesen Sie vor!«

»Wie bildet man vier gleichseitige Dreiecke mit sechs Streichhölzern?«

»Das ist alles?«

»Nein, da sind noch Tasten mit Buchstaben. Die sind bestimmt dazu da, die Antwort einzugeben.«

»Gibt es keine Seitengänge?«

»Nichts.«

»Und die Leichen der anderen sind auch nicht zu sehen?«

»Nein, nichts ... Hmm ... Aber da sind Fußspuren. Als hätten jede Menge Leute genau vor dieser Mauer auf den Boden gestampft.«

»Was jetzt?« wisperte einer der Gendarmen. »Gehen wir zurück?«

Bilsheim untersuchte aufmerksam das Hindernis. Hinter all diesen Symbolen, all diesen Stahl- und Betonplatten verbarg sich ein Mechanismus. Und außerdem, wo waren all die anderen abgeblieben?

Hinter ihm setzten sich die Gendarmen auf die Stufen. Er konzentrierte sich auf die Tasten. Kein Zweifel, man mußte all diese Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge eingeben. Jonathan Wells war Schlosser, er hatte bestimmt die Sicherheitssysteme der Haustüren angewandt. Man mußte das Kodewort finden.

Er wandte sich um.

»Habt ihr Streichhölzer, Jungs?«

Das Walkie-talkie wurde ungeduldig.

»Hallo, Kommissar Bilsheim, was machen Sie?«

»Wenn Sie uns wirklich helfen wollen: Versuchen Sie, vier Dreiecke mit sechs Streichhölzern zu bilden. Wenn Sie die Lösung haben, sagen Sie mir Bescheid.«

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen. Bilsheim?«

Der Sturm flaut endlich ab. Innerhalb weniger Sekunden läßt der Wind von seinem Tanz ab. Blätter, Staub, Insekten sind wieder den Gesetzen der Schwerkraft unterworfen und stürzen, ganz nach ihrem jeweiligen Gewicht, nach unten.

Nr. 103 683 und Nr. 4000 landen einige Dutzend Köpfe voneinander entfernt auf dem Boden. Unversehrt finden sie einander wieder und untersuchen die Umgebung: eine steinige Gegend, die in nichts der Landschaft ähnelt, die sie verlassen haben. Kein einziger Baum, nur ein paar wildwachsende Gräser, die von den Launen des Winds zerstreut wurden. Sie wissen nicht, wo sie sind ...

Als sie, so gut es geht, ihre Kräfte sammeln, um diesen düsteren Ort zu verlassen, beschließt der Himmel, erneut seine Macht zu zeigen. Wolken ballen sich zusammen, werden schwarz. Ein Blitz zerschneidet die Luft und entlädt die gesamte elektrische Spannung, die sich angestaut hat.

Sämtliche Tiere haben diese Nachricht der Natur verstanden.

Die Frösche hüpfen davon, die Fliegen verstecken sich unter den Steinen, die Vögel fliegen tief.

Die ersten Regentropfen fallen. Die beiden Ameisen müssen schleunigst einen Unterschlupf finden. Jeder Tropfen kann tödlich sein. Sie eilen auf ein vorstehendes Gebilde zu, das sich in der Ferne abhebt, ein Baum oder Fels.

Nach und nach zeichnet sich das Gebilde durch den dichten Regen und den kriechenden Dunst deutlicher ab. Das ist kein Fels, auch kein Strauch. Das ist eine wahre Kathedrale aus Erde, und die Spitzen ihrer zahlreichen Türme verschwinden in den Wolken. Entsetzen.

Ein Termitenhügel! Der Termitenhügel des Ostens!

Nr. 103 683 und Nr. 4000 sind zwischen dem schrecklichen Gewitterregen und der feindlichen Stadt eingeklemmt. Sicher hatten sie vor, sie aufzusuchen, aber nicht unter solchen Bedingungen! Millionen Jahre voll Haß und Rivalität halten sie zurück.

Aber nicht lange. Schließlich sind sie hierhergekommen, um den Termitenhügel auszuspionieren. Also halten sie zitternd auf einen dunklen Eingang am Fuße des Gebäudes zu. Die Antennen aufgerichtet. Mandibeln gespreizt, die Beine leicht durchgebogen, sind sie entschlossen, ihr Leben teuer zu verkaufen. Wider Erwarten befindet sich jedoch keine Wache am Eingang des Termitenhügels.

Das ist überhaupt nicht üblich. Was geht hier vor?

Die beiden Geschlechtslosen dringen in das Innere der riesigen Stadt vor. Vor Neugier lassen sie es fast an der elementarsten Vorsicht fehlen.

Man muß sagen, daß die Räumlichkeiten in nichts einem Termitenhügel gleichen. Die Wände sind aus einem viel weniger bröckeligen Material als Erde, ein Zement, hart wie Holz. Die Gänge sind mit Feuchtigkeit gesättigt. Es weht nicht das geringste Lüftchen. Und die Atmosphäre ist auffällig reich an Kohlendioxid.

Jetzt rücken sie schon eine ganze Weile da drinnen vor, ohne auch nur einer Wache begegnet zu sein! Das ist ganz und gar außergewöhnlich ... Die beiden Ameisen bleiben stehen, berühren sich mit den Antennen, um zu beratschlagen. Der Entschluß ist schnell gefaßt: Weiter!

Aber in ihrem Vorwärtsdrang haben sie sich vollkommen verlaufen. Diese seltsame Stadt ist ein Labyrinth, schlimmer noch als ihre Geburtsstadt. Selbst die Markierungsduftstoffe ihrer Drüsen finden keinerlei Halt an den Wänden. Sie wissen nicht mehr, ob sie über oder unter der Erde sind!

Sie versuchen kehrtzumachen, was ihnen auch nicht weiterhilft. Unentwegt entdecken sie neue, seltsam geformte Gänge. Sie haben sich rettungslos verirrt.

Da erblickt Nr. 103 683 ein ungewöhnliches Phänomen: ein Licht! Die beiden Soldatinnen können es nicht fassen. Dieses Licht inmitten einer verlassenen Termitenstadt, das ist einfach verrückt. Sie halten auf die Lichtquelle zu.

Es handelt sich um ein gelboranges Licht, das mitunter in Grün oder Blau umschlägt. Nach einem etwas kräftigeren Aufblitzen erlischt die Lichtquelle. Danach leuchtet sie wieder auf und beginnt zu blinken, ihr Schein spiegelt sich in dem Panzer der Ameisen.

Wie hypnotisiert rennen Nr. 103 683 und Nr. 4000 auf diesen unterirdischen Leuchtturm zu.

Bilsheim begann vor Aufregung zu tänzeln: er hatte es begriffen! Er zeigte den Gendarmen, wie die Streichhölzer anzuordnen sind, damit sich vier Dreiecke ergeben. Verblüffte Mienen, danach ein begeistertes Brüllen.

Solange Doumeng, die ebenfalls Geschmack an der Sache gefunden hatte, stieß hervor: »Haben Sie’s raus? Haben Sie’s raus? Sagen Sie’s mir!«

Aber niemand gehorchte ihr, sie hörte nur noch ein Stimmengewirr, durchsetzt von mechanischen Geräuschen. Danach kehrte Schweigen ein.

»Was ist los, Bilsheim? Sagen Sie schon!«

Das Walkie-talkie begann fürchterlich zu rauschen.

»Hallo! Hallo!«

»Ja (Rauschen), wir haben den Durchgang geöffnet. Dahinter ist ein (Rauschen) Gang. Er führt nach (Rauschen) rechts. Wir gehen weiter!«

»Warten Sie! Wie haben Sie das mit den vier Dreiecken angestellt?«

Aber Bilsheim und seine Leute konnten die Mitteilungen von der Oberfläche nicht mehr vernehmen. Der Lautsprecher ihres Geräts funktionierte nicht mehr, wahrscheinlich ein Kurzschluß. Sie empfingen nichts mehr, konnten aber noch senden.

»Ah! Das ist unglaublich. Je weiter man vorstößt, um so besser konstruiert wirkt das. Da ist ein Gewölbe, und in der Feme ein Licht. Wir gehen hin.«

»Warten Sie, was sagen Sie da? Ein Licht da unten?«

»Da sind sie!«

»Wer ist da? Herrgott! Die Leichen? Antworten Sie!«

»Achtung .«

Man hörte eine Reihe kräftiger Detonationen. Schreie, dann brach die Verbindung ab.

Das Seil wickelte sich nicht mehr ab, dennoch blieb es gespannt. In der Annahme, es habe sich verklemmt, griffen die Polizisten oben in der Wohnung danach und zerrten daran. Sie versuchten es zu dritt ... Zu fünft. Plötzlich gab es nach.

Sie zogen das Seil hoch und rollten es auf, und nicht in der Küche, sondern im Eßzimmer, ein solch riesiges Knäuel kam dabei heraus. Endlich hatten sie das abgerissene Ende in der Hand, es war völlig ausgefranst, als hätten Zähne daran genagt.

»Was machen wir jetzt, Madame?« murmelte einer der Polizisten.

»Nichts, rein gar nichts. Nichts mehr. Kein Wort an die Presse, kein Wort an wen auch immer, und im übrigen mauern Sie mir diesen Keller so schnell wie möglich zu. Die Untersuchung ist beendet. Ich schließe die Akten, und wehe, mich spricht noch jemand auf diesen Teufelskeller an! Los, beeilen Sie sich, beschaffen Sie sich Ziegelsteine und Zement. Und regeln Sie das Problem mit den Witwen der Gendarmen.«

Am späten Nachmittag, als die Polizisten gerade die letzten Steine einfügen wollten, hörten sie ein dumpfes Geräusch. Jemand kam zurück! Sie schufen eine Öffnung. Ein Kopf tauchte aus der Finsternis auf, dann der ganze Körper des Überlebenden. Ein Gendarm. Endlich würde man erfahren, was da unten vorging. Sein Gesicht war eine einzige Fratze der Angst. Einige Gesichtsmuskeln waren gelähmt, wie nach einem Schlaganfall. Ein richtiger Zombie. Seine Nasenspitze war abgerissen und blutete stark. Er zitterte, seine Augen waren verdreht.

»Gebegeeeege«, stammelte er.

Speichel rann aus seinem Mundwinkel. Er fuhr sich mit einer Hand voll tiefer Wunden, die seine Kollegen an Messerstiche denken ließen, über das Gesicht.

»Was ist passiert? Sind Sie angegriffen worden?«

»Gööööbegöö!«

»Gibt es noch mehr Überlebende da unten?«

»Bögögeebebeggebee!«

Da er unfähig war, mehr hervorzubringen, verbanden sie seine Wunden. Man sperrte ihn in eine psychiatrische Anstalt und mauerte die Kellertür zu.

Jedes noch so feine Scharren der Beine auf dem Boden bewirkt eine Veränderung in der Helligkeit des Lichts. Es flackert, als hörte es sie kommen, als wäre es lebendig.

Die Ameisen bleiben stehen, um sich Gewißheit zu verschaffen. Das Licht breitet sich sogleich aus, bis es sogar die kleinsten Ritzen der Gänge erhellt. Die beiden Spioninnen verstecken sich schleunigst, um nicht von dem seltsamen Scheinwerfer erfaßt zu werden. Dann nutzen sie einen plötzlichen Abfall der Helligkeit und hasten zu der Lichtquelle.

Sieh an, es handelt sich um einen phosphoreszierenden Käfer. Ein brünstiges Glühwürmchen. Kaum hat es die Eindringlinge geortet, erlischt es vollständig ... Aber da nichts geschieht, glüht es allmählich schwachgrün, sozusagen vorsichtig, auf Sparflamme, wieder auf.

Nr. 103 683 gibt Duftstoffe von sich, die eine friedliche Absicht bekunden. Obwohl alle Käfer diese Sprache verstehen, antwortet das Glühwürmchen nicht. Das grüne Licht wird trüber, wechselt ins Gelb, um nach und nach rötlich anzulaufen. Die Ameisen vermuten, daß diese neue Farbe eine Frage bedeutet.

Wir haben uns in diesem Termitenhügel verlaufen, sendet die alte Kundschafterin.

Zunächst erhalten sie keine Antwort. Nach einigen weiteren Farbabstufungen beginnt das Glühwürmchen zu blinken, was sowohl Freude wie Verärgerung heißen kann. Unschlüssig warten die Ameisen ab. Plötzlich biegt das Glühwürmchen, schneller und schneller blinkend, in einen Seitengang ein. Man könnte meinen, es wollte ihnen etwas zeigen. Sie folgen ihm.

Sie kommen in einen noch kälteren und feuchteren Bereich. Irgendwoher dringt ein trauriges Jaulen zu ihnen herüber. Verzweiflungsschreie, die sich in Form von Gerüchen und Tönen verbreiten.

Die beiden Ameisen beraten sich. Nun, wenn das Insekt auch nicht zu ihnen spricht, verstehen tut es bestens. Und als wollte es ihre Frage beantworten, leuchtet es in langen Abständen auf und erlischt wieder, ganz so, als wollte es ihnen bedeuten: Habt keine Angst, folgt mir.

Alle drei dringen immer tiefer in den fremden Untergrund ein und gelangen in eine sehr kalte Zone, in der die Gänge viel breiter sind.

Das Jaulen setzt nur noch stärker wieder ein.

Achtung! stößt Nr. 4000 plötzlich aus.

Nr. 103 683 dreht sich um. Das Glühwürmchen beleuchtet eine Art Monster, das sich nähert, das Gesicht zerknittert wie ein Greis, den Körper in ein transparentes weißes Leichentuch gehüllt. Die Soldatin bricht in einen intensiven Duft des Entsetzens aus, der ihren beiden Begleitern den Atem nimmt. Die Mumie kommt immer näher, sie scheint sich sogar vorzubeugen, als wollte sie zu ihnen sprechen. In Wirklichkeit fällt sie vornüber. Sie schlägt der Länge nach auf den Boden. Die Schale öffnet sich. Und der grauenhafte Greis verwandelt sich in ein Neugeborenes ...

Eine Termitenpuppe!

Normalerweise müßte sie liegend in einer Ecke verharren. Aufgeschlitzt windet sich die Mumie weiter und stößt ein trauriges Jaulen aus. Daher rührten also diese Schreie!

Und es sind noch mehr Mumien da. Die drei Insekten halten sich nämlich in einer Art Krippe auf. Hunderte von Termitenpuppen lehnen aufrecht nebeneinander an den Wänden. Nr. 4000 mustert sie und stellt fest, daß einige aus Mangel an Pflege verendet sind. Die Überlebenden stoßen verzweifelte Düfte aus, um die Ammen zu rufen. Sie sind schon eine ganze Weile nicht mehr ernährt worden, sie werden alle vor Hunger umkommen.

Das ist verrückt. Niemals, und sei es nur für kurze Zeit, würde ein mit der Fürsorge betrautes Insekt seine Brut verlassen. Oder aber ... Der gleiche Gedanke durchzuckt die beiden Ameisen. Oder aber ... alle Arbeiterinnen sind tot und es sind nur noch die Puppen übriggeblieben!

Das Glühwürmchen blinkt erneut, fordert sie auf, ihm durch weitere Gänge zu folgen. Ein merkwürdiger Geruch erfüllt die Luft. Die Soldatin tritt auf etwas Hartes. Sie hat keine Infrarot-Ozellen und kann im Dunkeln nichts erkennen. Das lebende Licht kommt näher und beleuchtet die Beine von Nr. 103 683. Der Kadaver eines Termitensoldaten! Er sieht einer Ameise sehr ähnlich, nur daß er ganz weiß ist und keinen gesonderten Hinterleib hat ...

Hunderte von weißen Kadavern bedecken den Boden. Was für ein Massaker! Und das Seltsamste: Sämtliche Körper sind unversehrt. Es hat kein Kampf stattgefunden! Der Tod muß urplötzlich eingetreten sein. Die Bewohner sind in der Haltung ihrer alltäglichen Arbeit erstarrt. Einige scheinen noch ein Gespräch zu führen oder mit ihren Mandibeln Holz zu schneiden. Was mag eine solche Katastrophe herbeigeführt haben?

Nr. 4000 untersucht diese morbiden Statuen. Sie verströmen einen stechenden Geruch. Ein Schauder überläuft die beiden Ameisen. Giftgas! Das erklärt alles: das Verschwinden der ersten gegen den Termitenstaat ausgesandten Expedition, der letzte Überlebende der zweiten Expedition, der ohne irgendeine Verletzung stirbt.

Und wenn sie selbst nichts merken, dann nur, weil sich das Gas seitdem verflüchtigt hat. Nur, warum haben dann die Puppen überlebt? Die alte Kundschafterin bringt eine Hypothese vor: Sie haben ein spezielles Immunsystem, vielleicht hat sie ihr Kokon gerettet ... Jetzt müßten sie gegen das Gift geimpft sein. Das ist der berühmte Mithridatismus, der es den Insekten ermöglicht, mutierte Generationen zu zeugen und so sämtlichen Insektiziden zu widerstehen.

Aber wer hat dieses tödliche Gas versprüht? Ein einziges Rätsel. Einmal mehr ist Nr. 103 683 auf ihrer Suche nach der geheimen Waffe an »andere«, ebenso unverständliche Dinge geraten.

Nr. 4000 möchte hinaus. Das Glühwürmchen blinkt Zustimmung. Die Ameisen verabreichen den Larven, die gerettet werden können, einige Stücke Zellulose, dann machen sie sich auf die Suche nach dem Ausgang. Das Glühwürmchen folgt ihnen. Je weiter sie vorankommen, um so mehr weichen die Kadaver der Termitensoldaten den Kadavern von Arbeiterinnen, die mit der Pflege der Königin betraut sind. Einige haben noch Eier in ihren Mandibeln!

Die Architektur wird immer komplizierter. In die Gänge von dreieckigem Schnitt sind Zeichen eingeritzt. Das Glühwürmchen wechselt die Farbe und verbreitet nun ein bläuliches Licht. Es muß etwas wahrgenommen haben. Tatsächlich läßt sich am Ende des Gangs ein Keuchen vernehmen.

Das Trio gelangt vor eine Art Sanktuarium, das von fünf riesigen Posten bewacht wird. Alle tot. Und der Eingang ist durch die leblosen Körper gut zwanzig kleiner Arbeiterinnen versperrt. Die Ameisen räumen sie zur Seite, indem sie sie sich von Bein zu Bein reichen.

Auf diese Art legen sie eine beinahe perfekt kugelförmige Höhle frei. Das königliche Gemach der Termiten. Von dort stammt das Geräusch.

Das Glühwürmchen verbreitet ein schönes weißes Licht, das auf eine Art seltsame Nacktschnecke in der Mitte des Raumes fällt. Das ist die Termitenkönigin. Die Karikatur einer Ameisenkönigin. Ihr kleiner Kopf und der kümmerliche Oberkörper münden in einen phantastischen Hinterleib von fast fünfzig Kopf Länge. Dieser übermäßig entwickelte Fortsatz wird regelmäßig von Krämpfen geschüttelt.

Der kleine Kopf zuckt vor Schmerz, er stößt ein akustisches und olfaktorisches Heulen aus. Die Kadaver der Arbeiterinnen haben die Öffnung des Eingangs so gut verstopft, daß das Gas nicht hat eindringen können. Dennoch liegt die Königin im Sterben, da sie nicht verpflegt worden ist.

Schau dir ihren Hinterleib an! Die Jungen drängen von innen, und sie schafft es nicht, sie allein zur Welt zu bringen.

Das Glühwürmchen klettert an die Decke und erzeugt in aller Unschuld ein orangefarbenes Licht, jenem ähnlich, in das die Gemälde von Georges de la Tour getaucht sind.

Dank der gemeinsamen Anstrengungen der Ameisen beginnen die Eier aus dem riesigen Zeugungssack zu strömen. Das ist ein wahrer Lebenshahn. Die Königin scheint erleichtert, sie hat aufgehört zu schreien.

Sie fragt in der schlichten universellen Duftsprache, wer sie gerettet hat. Sie ist überrascht, Düfte von Ameisen

wahrzunehmen. Sind sie maskierte Ameisen?

Die maskierten Ameisen, schwarze Insekten von großer Statur, die im Nordosten leben, sind eine in organischer Chemie äußerst begabte Art. Sie vermögen künstlich jedwedes Pheromon (Kennwort, Piste, Kommunikation ...) zu erzeugen, indem sie kundig Säfte, Pollen und Speichel mischen.

Haben sie diese Tarnung erst einmal ausgeschieden, gelingt es ihnen beispielsweise, in eine Termitenstadt einzudringen, ohne entdeckt zu werden. Sie plündern und töten, ohne daß irgendeines ihrer Opfer sie identifizieren könnte!

Nein, wir sind keine maskierten Ameisen.

Die Termitenkönigin fragt, ob es Überlebende in ihrer Stadt gebe. Nein, antworten die Ameisen. Sie äußert den Wunsch, daß man sie töte, daß man ihre Leiden abkürze. Aber vorher möchte sie ihnen noch etwas verraten.

Ja, sie weiß, warum ihr Staat zerstört worden ist. Die Termiten haben vor kurzem das östliche Ende der Welt entdeckt. Das Ende des Planeten. Ein glattes, schwarzes Land, in dem alles Leben vernichtet ist.

Dort leben seltsame, sehr schnelle und sehr wilde Tiere. Das sind die Wächter des Endes der Welt. Sie sind mit schwarzen Platten bewaffnet, die alles zerquetschen. Und jetzt verwenden sie auch noch Giftgas!

Das erinnert an den alten Traum der Königin Bi-stin-ga. Das Ende der Welt zu erreichen. Sollte das wirklich möglich sein? Die beiden Ameisen sind völlig verdutzt.

Sie hatten bislang geglaubt, die Erde sei so groß, daß es nicht möglich ist, ihren Rand zu erreichen. Und nun gibt diese Termitenkönigin zu verstehen, das Ende der Welt sei ganz in der Nähe! Und von Ungetümen bewacht ... Sollte der Traum der Königin Bi-stin-ga erfüllbar sein?

Die ganze Sache kommt ihnen so ungeheuerlich vor, daß sie nicht wissen, mit welcher Frage sie beginnen sollen.

Aber warum sind diese »Wächter des Endes der Welt« bis hierher vorgedrungen? Wollen sie die Städte des Westens überfallen?

Die große Königin weiß es auch nicht. Sie will jetzt sterben. Sie besteht darauf. Sie hat es nicht gelernt, ihr Herz anzuhalten. Man muß sie töten.

Also enthaupten die Ameisen die Termitenkönigin, nachdem sie ihnen den Weg zum Ausgang beschrieben hat. Danach verzehren sie einige kleine Eier und verlassen das imposante Gebäude, das nur noch eine Phantomstadt ist. Am Eingang hinterlassen sie ein Pheromon, das die Schilderung des Dramas dieses Ortes enthält. Denn als Kundschafterinnen der Föderation müssen sie all ihren Verpflichtungen nachkommen.

Das Glühwürmchen verabschiedet sich. Wahrscheinlich hat es sich auf der Flucht vor dem Regen auch in den Termitenhügel verirrt. Jetzt, wo es wieder schön ist, wird es seinen gewohnten Trott wiederaufnehmen: Essen, Licht ausstrahlen, um Weibchen anzulocken, sich fortpflanzen, essen, Licht ausstrahlen, um Weibchen anzulocken, sich fortpflanzen ... Das Leben eines Glühwürmchens eben.

Sie richten ihren Blick und ihre Antennen nach Osten. Von hier erkennen sie nicht viel, trotzdem, sie wissen: Das Ende der Welt ist nicht fern. Es liegt dort in der Gegend.


zivilisationsschock: Der Kontakt zweier Zivilisationen ist stets ein heikler Augenblick. Zu den dunkelsten Augenblicken, die die Menschheit erlebt hat, zählt die Versklavung der afrikanischen Schwarzen im 18. Jahrhundert.

Die meisten Völker, die als Sklaven verschleppt wurden, lebten im Landesinneren, im Flachland und in den Wäldern. Sie hatten noch nie das Meer gesehen. Plötzlich erklärte ihnen ohne erkennbaren Grund ein benachbarter König den Krieg, und statt sie zu töten, nahm er sie gefangen, fesselte sie und ließ sie in Richtung Meer marschieren.

Am Ende ihrer Reise entdeckten sie zwei unbegreifliche Dinge: 1) das unendlich weite Meer. 2) die hellhäutigen Europäer. Nun, das Meer, selbst wenn sie es noch nie gesehen hatten, war ihnen aufgrund von Erzählungen als das Reich der Toten bekannt. Die Weißen hingegen waren für sie so etwas wie Außerirdische, sie hatten einen seltsamen Geruch, sie hatten eine seltsame Hautfarbe, sie trugen seltsame Kleider.

Viele starben vor Angst, andere sprangen wie von Sinnen von den Schiffen und wurden von Haien gefressen. Die Überlebenden erwartete eine Überraschung nach der anderen. Was sahen sie? Zum Beispiel, daß die Weißen Wein tranken. Und sie waren sicher, daß es Blut sei, das Blut der Ihren.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Das Weibchen Nr. 56 ist hungrig. Und nicht nur ihr Körper, sondern ein ganzes Volk verlangt nach seiner Ration. Wie soll sie die Meute ernähren, die sie in ihrem Schoß beherbergt? Sie entschließt sich, aus ihrem Loch, in dem sie legen wollte, herauszukriechen, schleppt sich über eine Strecke von ein paar hundert Kopf und kehrt mit drei Kiefernnadeln zurück, an denen sie gierig leckt und kaut.

Das reicht nicht. Sie wäre gern auf die Jagd gegangen, doch sie hat keine Kraft mehr. Und sie selbst droht ein gefundenes Fressen für Tausende von Räubern zu werden, die in der Umgebung lauern. Also zwängt sie sich in ihr Loch, um auf den Tod zu warten.

Statt dessen kommt ein Ei zum Vorschein. Ihr erster Chlipukaner! Sie hat ihn kaum bemerkt. Sie hat ihre tauben Beine geschüttelt und mit aller Kraft auf ihre Därme gepreßt. Das muß einfach gehen, sonst ist alles vorbei. Das Ei kullert heraus. Es ist klein, dunkelgrau, fast schwarz.

Wenn sie ihn ausschlüpfen läßt, wird sie eine tote Ameise gebären. Zudem ... Sie wäre nicht einmal in der Lage, ihn bis zum Ausschlüpfen zu ernähren. Also frißt sie ihren ersten Sprößling.

Das versetzt ihr sogleich einen Energieschub. In ihrem Hinterleib ist ein Ei weniger, in ihrem Magen eins mehr. Dieses Opfer verleiht ihr die Kraft, ein zweites, ebenso dunkles Ei, ebenso kleines Ei zu legen.

Sie verzehrt es genießerisch. Und fühlt sich noch besser. Das dritte Ei ist kaum heller. Sie verzehrt es dennoch.

Erst beim zehnten Ei ändert die Königin ihre Strategie. Ihre Eier sind grau geworden, sie haben die Größe ihrer Augäpfel. Chli-pu-ni legt drei dieser grauen Eier, eines frißt sie, die anderen beiden läßt sie leben, wärmt sie unter ihrem Körper.

Während sie weiterhin ein Ei nach dem anderen legt, verwandeln sich die beiden Glückspilze in lange Larven, deren Gesichter in einer seltsamen Fratze erstarrt sind. Und sie beginnen zu wimmern, verlangen nach Nahrung. Die Arithmetik wird komplizierter. Von drei gelegten Eiern brauchte sie nun eines für sich und die beiden anderen für die Larven.

Und so, in einem geschlossenen Kreis, gelingt es, aus nichts etwas zu erschaffen. Wenn eine Larve groß genug ist, gibt sie ihr eine andere Larve zu essen ... Das ist die einzige Möglichkeit, ihr die Proteine zu verschaffen, die zu ihrer Umwandlung in eine richtige Ameise erforderlich sind.

Aber die überlebende Larve ist immer noch hungrig. Sie windet sich, schreit. Der Schmaus, das Opfer ihrer Schwestern, hat sie nicht sättigen können. Schließlich frißt Chli-pu-ni diesen ersten Versuch, ein Kind zur Welt zu bringen.

Ich muß es schaffen, ich muß es schaffen, trichtert sie sich ein. Sie denkt an das Männchen Nr. 327 und legt fünf hellere Eier auf einmal. Zwei davon verschlingt sie, die anderen drei läßt sie wachsen.

Auf diese Weise, ein Staffellauf zwischen Kindesmord und Gebären, entsteht Leben. Drei Schritte vor, zwei zurück. Eine grausame Übung, die schließlich in den ersten Prototyp einer kompletten Ameise mündet.

Das Insekt ist winzig und recht schwächlich, da unterernährt. Aber sie hat ihren ersten Chlipukaner zustande gebracht! Der durch Kannibalismus geprägte Weg zur Gründung ihrer Stadt ist zur Hälfte geschafft. Diese degenerierte Arbeiterin kann sich in der Tat bewegen und Lebensmittel aus der Umgebung herbeischaffen: Insektenkadaver, Körner, Blätter, Pilze ... Was sie auch tut.

Chli-pu-ni, endlich normal genährt, bringt nun viel hellere, viel festere Eier zur Welt. Die harten Schalen schützen die Eier vor der Kälte. Die Larven haben eine vernünftige Größe. Diese neue Generation von Nachkömmlingen ist groß und stark. Sie wird die Grundlage der Bevölkerung von Chli-pu-kan bilden.

Die erste, unterentwickelte Arbeiterin, die ihre Königin ernährt hat, wird schon bald von ihren Schwestern umgebracht und verzehrt. Danach sind alle Morde, alle Schmerzen, die der Gründung des Staates vorausgegangen sind, vergessen.

Chli-pu-kan ist geboren.


MÜCKEN: Die Mücke ist das Insekt, das sich am liebsten mit dem Menschen duelliert. Jeder von uns hat bereits irgendwann im Pyjama auf dem Bett gestanden, einen Pantoffel in der Hand, den Blick lauernd auf die makellos weiße Wand gerichtet.

Unverständnis. Was da juckt, ist nur der desinfizierende Speichel ihres Saugrüssels. Ohne diesen Speichel würde sich jeder Stich infizieren. Zudem ist die Mücke so rücksichtsvoll, immer nur zwischen zwei Schmerzrezeptoren zu stechen.

Dem Menschen gegenüber hat sich die Strategie der Mücke weiterentwickelt. Sie ist schneller geworden, unauffälliger, flinker beim Abheben. Es wird immer schwieriger, sie zu entdecken. Einige ganz kecke der letzten Generation zögern nicht, sich unter dem Kopfkissen ihres Opfers zu verstecken. Sie haben das Prinzip des »Entwendeten Briefs« von Edgar Allen Poe entdeckt: Das beste Versteck ist jenes, das in die Augen springt, da man stets in der Ferne sucht, was ganz nah ist.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Großmutter Augusta betrachtete ihre bereits gepackten Koffer. Morgen würde sie in die Rue des Sybarites ziehen. Das mochte unglaublich erscheinen, aber Edmond hatte Jonathans Verschwinden vorhergesehen und in seinem Testament geschrieben: »Wenn Jonathan stirbt oder verschwindet und wenn er selbst kein Testament verfaßt hat, wünsche ich, daß Augusta Wells, meine Mutter, meine Wohnung bezieht. Wenn auch sie verschwindet oder wenn sie dieses Vermächtnis ablehnt, wünsche ich, daß Pierre Rosenfeld die Räumlichkeiten erbt. Wenn er es ebenfalls ablehnt oder verschwindet, könnte Jason Bragel dort einziehen ...« Man mußte zugeben, daß im Lichte der jüngsten Ereignisse Edmond allen Anlaß gehabt hatte, mindestens vier Erben einzusetzen. Aber Augusta war nicht abergläubisch, zudem war sie der Auffassung, daß Edmond, so menschenfeindlich er auch war, keinerlei Grund gehabt hätte, seinen Neffen und seine Mutter in den Tod zu schicken. Und Jason Bragel war sein bester Freund gewesen!

Ein seltsamer Gedanke ging ihr durch den Kopf. Man hatte den Eindruck, Edmond habe danach getrachtet, die Zukunft vorauszuplanen, so als ... begänne alles nach seinem Tod.

Seit Tagen schon ziehen sie in Richtung Sonnenaufgang. Die Gesundheit von Nr. 4000 verschlechtert sich mehr und mehr, aber die alte Kriegerin wandert weiter, ohne zu klagen. Ihr Mut und ihr Wissensdurst sind wirklich vorbildlich.

Eines Spätnachmittags, sie klettern gerade den Stamm eines Haselnußstrauchs empor, werden sie plötzlich von blutroten Wanderameisen umzingelt. Wieder Tiere aus dem Süden, die sich das Land ansehen wollen. Ihr länglicher Körper ist mit einem Giftstachel versehen, der bei der geringsten Berührung, wie jeder weiß, sofort den Tod herbeiführt. Die beiden wären lieber woanders.

Von einigen degenerierten Söldnern abgesehen, hat Nr. 103 683 in dem großen weiten Land noch nie blutrote Ameisen zu Gesicht bekommen. Wahrhaftig, es lohnt sich, die Gebiete des Ostens zu entdecken ...

Ihr habt nicht den richtigen Pheromonenpaß. Raus hier! Das ist unser Gebiet!

Antennenkontakt. Die blutroten Ameisen wissen sich in der Sprache der Belokanerinnen zu verständigen.

Die beiden antworten, daß sie nur auf der Durchreise sind, daß sie zum Ende der östlichen Welt gehen wollen. Die blutroten Ameisen beraten sich.

Sie haben die beiden anderen Mitglieder der Föderation der roten Ameisen erkannt. Die ist zwar weit entfernt, aber mächtig (64 Städte nach der letzten Schwarmzeit), und der Ruf ihrer Armeen ist über den Fluß des Westens hinausgelangt. Vielleicht ist es besser, keinen Konflikt zu provozieren. Eines Tages werden die Blutroten, die ja zu den Wanderameisen gehören, unweigerlich gezwungen sein, die vereinigten Gebiete der Roten zu durchqueren.

Der Antennenaufruhr läßt allmählich nach. Es ist Zeit für die Schlußfolgerung. Eine blutrote Ameise übermittelt die Meinung der Gruppe: Ihr könnt hier eine Nacht bleiben. Wir sind bereit, euch den Weg zum Ende der Welt zu zeigen und euch sogar dorthin zu begleiten. Als Gegenleistung überlaßt ihr uns einige eurer Identifikationspheromone.

Der Handel geht in Ordnung. Nr. 103 683 und Nr. 4000 wissen, daß sie mit der Übergabe ihrer Pheromone den blutroten Ameisen einen wertvollen Passierschein für das gesamte Gebiet der Föderation überlassen. Aber ans Ende der Welt zu gelangen und von dort zurückzukehren, dafür ist kein Preis zu hoch ...

Ihre Gastgeber führen sie zu dem einige Zweige höher gelegenen Lagerplatz. Das hat keinerlei Ähnlichkeit mit allem, was sie kennen. Die blutroten Ameisen, die sich aufs Weben und Nähen verstehen, haben ihr provisorisches Nest errichtet, indem sie die Ränder dreier großer Blätter des Haselnußstrauchs zusammengenäht haben. Eines dient als Boden, die beiden anderen als Seitenwände.

Nr. 103 683 und Nr. 4000 beobachten eine Gruppe von Weberinnen, die damit beschäftigt sind, das »Dach« vor Einbruch der Dunkelheit zu schließen. Sie wählen ein Blatt aus, das als Deckel dienen wird. Um dieses Blatt mit den drei anderen zu verbinden, bilden sie eine lebende Leiter. Dutzende von Arbeiterinnen stapeln sich übereinander, bis sie einen kleinen Berg ergeben, von dem aus man das oberste Blatt erreichen kann.

Der Stapel bricht mehrmals zusammen. Er ist zu hoch.

Darauf wenden die blutroten Ameisen eine andere Methode an. Eine Gruppe von Arbeiterinnen schwingt sich auf das Blatt, das als Decke dienen soll, bildet eine Kette, die sich festklammert und am äußersten Rand des Blattes hängt. Die Kette läßt sich herab, läßt sich weiter herab, um sich mit der lebenden Leiter zu verbinden, die unten wartet. Das ist immer noch zu weit, also wird die Kette an ihrem Ende von einer Traube blutroter Ameisen beschwert.

Fast reicht es, der Stengel des Blattes hat sich durchgebogen. Es fehlen mir noch ein paar Zentimeter auf der rechten Seite. Die Ameisen der Kette nehmen eine Pendelbewegung vor, um den Zwischenraum zu überbrücken. Bei jedem Schwingen dehnt sich die Kette, sie scheint zu reißen, aber sie hält. Endlich vereinigen sich die Mandibeln der Akrobaten oben und jener unten: Klack!

Zweiter Schritt: Die Kette schrumpft zusammen. Die Arbeiterinnen in der Mitte verlassen mit äußerster Vorsicht ihren Platz, steigen auf die Schultern ihrer Kolleginnen, und alle ziehen, um die beiden Blätter zusammenzubringen. Das obere Blatt sinkt Stück für Stück tiefer, verteilt seinen Schatten über das Dorf.

Sicher, die Kiste hat ihren Deckel, doch jetzt gilt es, sie zu verschweißen. Eine alte blutrote Ameise stürzt in das Innere eines Hauses. Als sie wieder hervorkommt, schwenkt sie eine große Larve. Das ist das Webgerät.

Die Ränder werden genau zusammengefügt, man achtet darauf, daß keine Löcher entstehen. Dann wird die frische Larve herbeigebracht. Die Ärmste war gerade im Begriff, ihren Kokon zu fertigen, um in aller Ruhe heranzuwachsen. Man läßt sie nicht mehr dazu kommen. Eine Arbeiterin greift einen Faden aus diesem Knäuel und beginnt es abzuwickeln. Mit ein wenig Speichel klebt sie das Ende an ein Blatt und reicht den Kokon ihrer Nachbarin weiter.

Die Larve spürt, daß man ihr ihren Faden entreißt, und produziert einen neuen, um den Verlust auszugleichen. Je mehr man sie entblößt, um so kälter wird ihr und um so mehr Seide scheidet sie aus.

Die Arbeiterinnen reichen sich dieses lebende Webschiffchen von Mandibel zu Mandibel weiter und sparen dabei nicht an Garn. Wenn ihr Kind vor Erschöpfung stirbt, nehmen sie ein anderes. Zwölf Larven werden allein bei dieser Arbeit geopfert.

Nach einer Weile ist auch der zweite Rand der Decke verschlossen. Das Dorf bietet jetzt den Anblick einer grünen Kiste mit weißen Kanten. Nr. 103 683, die fast wie zu Hause darin herumwandert, fallen einige schwarze Ameisen inmitten der Menge der blutroten auf. Sie kann es sich nicht verkneifen, Fragen zu stellen.

Sind das Söldner?

Nein, das sind Sklaven.

Die blutroten Ameisen sind doch gar nicht als Sklavenhalter bekannt ... Eine von ihnen erklärt, daß sie kürzlich einer Horde von sklavenhaltenden Ameisen begegnet seien, die auf dem Weg nach Westen waren, und daß sie eine Anzahl Eier von schwarzen Ameisen gegen ein tragbares gewebtes Netz eingetauscht hätten.

Nr. 103 683 läßt so schnell nicht locker und fragt ihre Gesprächspartnerin, ob die Begegnung danach nicht in einen Kampf umgeschlagen sei. Nein, antwortet die andere, die fürchterlichen Ameisen seien bereits gesättigt gewesen, sie hatten schon viel zu viele Sklaven, außerdem hätten sie Angst vor dem tödlichen Stachel der blutroten gehabt.

Die aus den eingetauschten Eiern hervorgegangenen schwarzen Ameisen hatten die Duftausweise ihrer Gastgeber angenommen und dienten ihnen, als handelte es sich um ihre Eltern. Woher hätten sie auch wissen sollen, daß sie durch ihr genetisches Erbe eigentlich Raubameisen und keine Sklaven waren? Sie wissen nichts von der Welt außer dem, was ihnen die blutroten Ameisen zu erzählen bereit waren.

Habt ihr keine Angst, daß sie aufmüpfig werden?

Sicher, ein paarmal hätten sie schon aufgemuckt. Im allgemeinen schlossen die Blutroten derlei Vorfälle aus, indem sie die Störenfriede eliminierten. Solange die Schwarzen nicht wissen, daß sie aus einem Nest geraubt worden sind, daß sie zu einer anderen Art gehören, mangelt es ihnen an der rechten Motivation ...

Die Nacht und die Kälte senken sich über den Haselnußstrauch. Man weist den beiden Kundschafterinnen eine Ecke an, in der sie ihren nächtlichen Miniwinterschlaf halten können.

Chli-pu-kan wächst nach und nach. Zuerst hat man die Verbotene Stadt angelegt. Sie wurde nicht in einem Baumstumpf errichtet, sondern in einem merkwürdigen Ding, das dort vergraben war, einer verrosteten Konservenbüchse, die einst drei Kilo Kompott enthielt, ein Relikt aus einem nahe gelegenen Waisenhaus.

In diesem neuen Palast legt Chli-pu-ni wie eine Besessene, während man sie mit Zucker, Fett und Vitaminen vollstopft.

Die ersten Töchter haben unmittelbar unter der Verbotenen Stadt eine Krippe errichtet, die mit sich zersetzendem Humus beheizt wird. Das ist am praktischsten, solange die Kuppel aus Zweigen und das Solarium, die das Ende der Bauarbeiten markieren werden, nicht fertiggestellt sind.

Chli-pu-ni will, daß ihre Stadt alle bekannten technologischen Errungenschaften ausnutzt: Pilzkulturen, Flaschenkürbisse, Herden von Blattläusen, Efeustützen, Säle zur Gärung von Honigtau, Säle zur Produktion von Getreidemehl, Säle für Söldnerinnen und Spioninnen, Säle für organische Chemie usw.

Und in allen Ecken herrscht ein reges Treiben. Die junge Königin hat es verstanden, ihren Enthusiasmus und ihre Hoffnungen zu übertragen. Sie will nicht, daß Chli-pu-kan eine föderierte Stadt wie alle anderen wird. Sie strebt danach, sie zu einem avantgardistischen Zentrum zu machen, zur Speerspitze der Ameisenzivilisation. Sie sprüht vor Ideen.

So hat man zum Beispiel in der Umgebung des 12. UG einen unterirdischen Fluß entdeckt. Ihrer Meinung nach ist das Wasser ein Element, das nur unzureichend erforscht worden ist. Man muß ein Mittel finden, darüber hinwegzugehen.

Als erstes wird eine Einheit beauftragt, die Insekten zu studieren, die im Süßwasser leben: Schwimmkäfer,

Hüpferlinge, Wasserflöhe ... Sind sie eßbar? Kann man eines Tages welche in unbewachten Lachen auf ziehen?

Ihre erste berühmte Rede hält sie über das Thema der Pflanzenläuse:

Wir gehen auf eine Epoche kriegerischer Wirren zu. Die Waffen werden immer ausgeklügelter. Wir werden da nicht immer mithalten können. Eines Tages wird die Jagd draußen vielleicht Glückssache sein. Wir müssen das Schlimmste ins Auge fassen. Unsere Stadt muß sich so weit wie möglich in die Tiefe ausdehnen. Und wir müssen die Aufzucht der Pflanzenläuse intensiver betreiben als jede andere Form der Lieferung von lebenswichtigem Zucker. Dieses Vieh muß in Ställen in den untersten Stockwerken untergebracht werden.

Dreißig ihrer Töchter ziehen aus und kehren mit zwei Pflanzenläusen zurück, die kurz davor sind, ihren Nachwuchs zur Welt zu bringen. Nach einigen Stunden sind sie im Besitz von gut hundert kleinen Pflanzenläusen, denen sie die Flügel stutzen. Sie bringen diesen Grundstock des künftigen Viehbestands in das 23. UG, wo er vor den Marienkäfern in Sicherheit ist, und versorgt ihn reichlich mit frischen Blättern und saftigen Stengeln.

Chli-pu-ni sendet Kundschafterinnen in alle Himmelsrichtungen. Einige bringen Lamellenpilzsporen mit, die sogleich in den Pilzkulturen eingepflanzt werden. Die entdeckungsfreudige Königin beschließt sogar, den Traum ihrer Mutter zu verwirklichen: Sie läßt an der Ostgrenze eine Reihe von Samenkörnern fleischfressender Pflanzen aussäen. Auf diese Weise hofft sie einen eventuellen Angriff der Termiten und ihrer Geheimwaffe aufzuhalten.

Denn das Rätsel der Geheimwaffe, die Ermordung des 327. Prinzen und die unter dem Granitfelsen versteckten Nahrungsvorräte hat sie keineswegs vergessen.

Sie schickt eine Gruppe von Abgesandten nach Bel-o-kan. Offiziell haben sie den Auftrag, der Königin die Gründung der fünfundsechzigsten Stadt und ihren Anschluß an die Föderation zu melden. Inoffiziell jedoch sollen sie versuchen, die Ermittlungen im 50. UG von Bel-o-kan fortzusetzen.

Es klingelte an der Tür, als Augusta gerade ihre kostbaren, leicht bräunlichen Fotos an die Wand nadelte. Sie vergewisserte sich, daß die Sicherheitskette eingehakt war, und öffnete die Tür einen Spaltbreit.

Vor ihr stand ein adretter Herr mittleren Alters: selbst das Revers seines Jacketts war frei von Schuppen.

»Guten Tag, Madame Wells. Darf ich mich vorstellen: Professor Leduc, ein Kollege Ihres Sohnes Edmond. Ich will nicht lange drum herum reden. Ich weiß, daß Sie bereits Ihren Enkel und Ihren Urenkel in dem Keller verloren haben. Und daß acht Feuerwehrleute, sechs Gendarmen und zwei Kriminalbeamte ebenfalls darin verschwunden sind. Dennoch, Madame ... Ich würde gern dort hinuntergehen.«

Augusta war nicht sicher, ob sie recht gehört hatte. Sie stellte ihr Hörgerät auf maximale Lautstärke.

»Sie sind Professor Rosenfeld?«

»Nein. Leduc. Professor Leduc. Wie ich sehe, haben Sie schon von Rosenfeld gehört. Rosenfeld, Edmond und ich, wir sind alle drei Insektenforscher. Wir haben ein gemeinsames Spezialgebiet: die Ameisenforschung. Aber Edmond war uns um einiges voraus. Es wäre schade, wenn die Menschheit nicht davon profitieren könnte . Ich würde gern in Ihren Keller gehen.«

Wenn man schlecht hört, schaut man um so besser hin. Sie musterte die Ohren dieses Leduc. Das menschliche Wesen hat die Besonderheit, seinen ursprünglichen Zustand in sich zu bewahren: In diesem Sinne stellt das Ohr den Fötus dar. Das Ohrläppchen entspricht dem Kopf, die Gräte der Ohrmuschel der Wirbelsäule usw. Dieser Leduc mußte ein magerer Fötus gewesen sein, und für magere Föten hatte Augusta nicht viel übrig.

»Und was hoffen Sie in diesem Keller zu finden?«

»Ein Buch. Eine Enzyklopädie, in der er systematisch all seine Arbeiten notiert hat. Edmond war ein Geheimniskrämer.

Er hat vermutlich alles da unten vergraben und Fallen gestellt, um die Banausen zu töten oder abzuschrecken. Ich hingegen gehe als Sachkundiger hinunter, und ein Sachkundiger ...«

». kann genausogut ums Leben kommen!« ergänzte Augusta.

»Geben Sie mir eine Chance.«

»Treten Sie ein, Monsieur ...?«

»Leduc. Professor Leduc vom Laboratorium 352 des Nationalen Forschungszentrums.«

Sie führte ihn zur Kellertür. Auf der Mauer, die die Polizei errichtet hatte, prangte in breiten roten Buchstaben eine Inschrift:

NIE WIEDER DARF JEMAND DIESEN VERDAMMTEN KELLER BETRETEN

Augusta deutete mit dem Kinn darauf.

»Wissen Sie, was die Leute in diesem Haus sagen, Monsieur Leduc? Sie sagen, das sei der Eingang zur Hölle. Sie sagen, dieser Keller sei wie eine fleischfressende Pflanze, die die Menschen verschlingt, die ihren Schlund kitzeln ... Einige sind sogar dafür, den Keller zuzubetonieren.«

Sie betrachtete ihn von oben bis unten.

»Haben Sie keine Angst zu sterben, Monsieur Leduc?«

»Doch«, sagte er spöttisch lächelnd. »Doch, ich habe Angst, idiotisch zu sterben, ohne zu wissen, was auf dem Grund dieses Kellers ist.«

Nr. 103 683 und Nr. 4000 haben das Nest der Weberinnen verlassen. Zwei Kriegerinnen mit spitzem Stachel begleiten sie. Gemeinsam ziehen sie über durch kaum wahrnehmbare Pheromone markierte Duftpisten. Sie sind bereits ein paar tausend Kopf von dem in den Zweigen des Haselstrauches gewebten Nest entfernt. Allen möglichen exotischen Tieren, deren Namen sie nicht einmal kennen, sind sie begegnet. Sicherheitshalber gehen sie ihnen aus dem Weg.

Wenn die Nacht hereinbricht, wühlen sie sich so tief wie möglich in den Boden, um sich der wohligen Wärme und dem Schutz der Nährmutter Erde anzuvertrauen.

Heute haben die beiden Weberinnen sie auf den höchsten Punkt eines Hügels geführt.

Ist das Ende der Welt noch weit?

Das ist da lang.

Von der Höhe aus sehen die beiden roten Ameisen, so weit das Auge reicht, ein einziges Universum von dunklem Gestrüpp. Die Weberinnen erklären ihnen, daß ihre Mission hier ende, daß sie ihnen nicht weiter folgen. Es gebe gewisse Orte, an denen ihr Duft nicht gut gelitten sei.

Die Belokanerinnen müßten weiter geradeaus gehen bis zu den Feldern der Schnitterinnen. Jene lebten ständig in der Nähe des »Randes der Welt«; sie könnten ihnen bestimmt Auskunft geben.

Bevor sie sich von ihren Führerinnen trennen, übergeben sie ihnen die kostbaren Identifizierungspheromone der Föderation, den vereinbarten Preis der Durchreise. Dann eilen sie den Hügel hinunter auf die Felder zu, die von den erwähnten Schnitterinnen bestellt werden.


SKELETT: Ist es besser, sein Skelett innerhalb oder außerhalb des Körpers zu haben?

Wenn das Skelett außen ist, bildet es eine schützende Karosserie. Das Fleisch ist vor äußeren Gefahren geschützt, doch dafür wird es schlaff, beinahe flüssig. Und wenn trotz des ganzen Panzers eine Spitze nach innen dringt, sind die Schäden irreparabel.

Wenn das Skelett nur eine schmale und unbewegliche Stange im Innern der Masse bildet, ist das zuckende Fleisch allen möglichen Angriffen ausgesetzt. Die Verletzungen sind vielfach und dauerhaft. Aber gerade diese scheinbare Schwäche zwingt den Muskel und seine Fasern, härter und widerstandsfähiger zu werden.

Ich habe Menschen gesehen, die sich dank ihres Verstands »intellektuelle« Rüstungen geschmiedet hatten, die sie vor Unannehmlichkeiten schützten. Sie wirkten stärker als andere. Sie sagten: »Da pfeif ich drauf« und lachten über alles. Aber wenn ein Problem ihren Panzer durchschlug, waren die Schäden fürchterlich.

Ich habe Menschen gesehen, die bei der geringsten Kleinigkeit, bei der leichtesten Berührung litten, Schmerzen hatten, aber ihr Verstand verschloß sich deshalb nicht, sie blieben sensibel, für alles empfänglich, und sie lernten aus jeder Aggression.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Die Sklavenhalterinnen greifen an!

Panik in Chli-pu-kan. Erschöpfte Kundschafterinnen verbreiten die Nachricht in der jungen Stadt.

Die Sklavenhalterinnen! Die Sklavenhalterinnen!

Ihr fürchterlicher Ruf eilt ihnen voraus. So wie manche Ameisen diese oder jene Variante der Entwicklung gewählt haben - Erziehung und Aufzucht, Horten von Vorräten, Pilzzucht oder Chemie -, haben sich die Sklavenhalterinnen einzig auf die Domäne des Kriegs spezialisiert.

Sie können nichts anderes, aber das praktizieren sie als absolute Kunst. Und ihr ganzer Körper hat sich dem angepaßt. Jedes ihrer Gelenke mündet in einem Widerhaken, ihr Chitin ist doppelt so dick wie das der roten Ameisen. An ihrem schmalen und vollkommen dreieckigen Kopf findet man keinen Halt. Ihre Mandibeln, die aussehen wie umgedrehte Elefantenstoßzähne, sind geschwungene Säbel, die sie mit furchteinflößendem Geschick handhaben.

Ihre Gepflogenheit, sich Sklaven zu halten, entspringt ihrer außergewöhnlichen Spezialisierung. Es hätte nicht viel gefehlt, und die Art wäre verschwunden, ausgerottet durch ihr eigenes Machtstreben. Vor lauter Kriegführen können diese Ameisen nicht einmal mehr ein Nest bauen, ihre Kleinen aufziehen oder gar ... sich ernähren. Ihre säbelartigen Mandibeln, im Krieg ungemein wirksam, erweisen sich als unpraktisch, um sich normal zu ernähren. Dennoch, so kriegslustig sie auch sein mögen, sind die Sklavenhalterinnen nicht dumm. Was soll’s, wenn sie nicht imstande sind, die für das tägliche Überleben häuslichen Aufgaben zu übernehmen ... Andere werden sich an ihrer Statt darum kümmern.

Die Sklavenhalterinnen vergreifen sich mit Vorliebe an den kleinen und mittelgroßen Nestern der schwarzen, weißen oder gelben Ameisen, alles Arten, die weder einen Stachel noch eine Säuredrüse haben. Als erstes umzingeln sie die Stadt, auf die sie ein Auge geworfen haben. Wenn die Belagerten dann feststellen, daß all ihre auswärtigen Arbeiterinnen umgebracht worden sind, beschließen sie, die Ausgänge zu verstopfen. Das ist der Augenblick, in dem die Sklavenhalterinnen ihren ersten Angriff starten. Sie durchbrechen mühelos die Verteidigungslinien, schlagen Breschen in die Stadt, verbreiten Panik in den Gängen.

Daraufhin versuchen die verängstigten Arbeiterinnen einen Ausfall, um die Eier in Sicherheit zu bringen. Genau das haben die Sklavenhalterinnen vorausgesehen. Sie sickern durch die Eingänge und zwingen die Arbeiterinnen, ihre kostbare Last abzugeben. Sie töten nur diejenigen, die um keinen Preis gehorchen wollen; bei den Ameisen tötet man nie grundlos.

Nach dem Ende des Kampfs umstellen die Sklavenhalterinnen das Nest und fordern die überlebenden Arbeiterinnen auf, die Eier wieder an ihren Platz zu bringen und sie weiterzupflegen. Wenn die Puppen schlüpfen, werden sie dazu erzogen, den Eindringlingen zu dienen, und da sie nichts von der Vergangenheit wissen, denken sie, es sei der gerechte und normale Weg, diesen großen Ameisen zu gehorchen.

Während der Beutezüge bleiben die langfristigen Sklaven im Gras versteckt zurück und warten, bis ihre Herrinnen in der Gegend aufgeräumt haben. Ist die Schlacht gewonnen, lassen sie sich als gute Hausfrauen in den Örtlichkeiten nieder, fügen die frisch erbeuteten Eier zu dem alten Vorrat hinzu, erziehen die Gefangenen und ihren Nachwuchs. So überlagern sich die Generationen der Gekidnappten je nach den Wanderungen ihrer Entführer.

In der Regel kommen auf jede dieser Räuberinnen drei Sklavinnen. Eine, um sie zu ernähren, sprich zu füttern (sie kann nur vorverdaute Nahrung fressen), eine, um sie zu waschen (ihre Speicheldrüsen sind verkümmert), und eine, um die Exkremente zu beseitigen, die sich ansonsten um den Panzer herum auftürmen und ihn verätzen würden.

Das Schlimmste, was diesen absoluten Soldatinnen passieren kann, ist natürlich, von ihren Dienerinnen verlassen zu werden. Dann stürzen sie fluchtartig aus dem gekaperten Nest und machen sich auf, um eine neue Stadt zu erobern. Finden sie diese nicht vor Einbruch der Nacht, können sie vor Hunger und Kälte sterben. Der lächerlichste Tod für diese großartigen Kriegerinnen.

Chli-pu-ni hat zahlreiche Legenden über die Sklavenhalterinnen gehört. Es heißt, es habe bereits Aufstände von Sklavinnen gegeben, und jene Sklavinnen, die ihre Herrinnen gut kannten, wären ihnen nicht unbedingt unterlegen. Es wird auch erzählt, daß manche Sklavenhalterinnen sich eine Kollektion von Eiern zulegen, um welche in allen Größen und aller Arten zu haben.

Sie stellt sich einen solchen Saal vor, der bis oben hin mit Eiern in allen Größen und Farben gefüllt ist. Und unter jeder dieser weißen Hülle ... ist eine spezifische Ameisenkultur, bereit, wach zu werden und diesen primitiven Rohlingen zu dienen.

Sie reißt sich aus ihren unangenehmen Gedanken. Als erstes muß man darüber nachdenken, wie man ihnen die Stirn bietet. Die Horde der Sklavenhalterinnen ist aus Osten kommend gemeldet worden. Sie sind durch den unterirdischen Gang bei Satei gekommen. Und sind anscheinend ziemlich »gereizt«, denn sie hatten ursprünglich ein »Wandernest« bei sich, von dem sie sich hatten trennen müssen, um den Tunnel zu durchqueren. Sie haben also keine Wohnung mehr, und wenn sie Chli-pu-kan nicht einnehmen, müssen sie die Nacht draußen verbringen!

Die junge Königin versucht so ruhig wie möglich nachzudenken: Wenn sie mit ihrem Wanderne st so glücklich waren, warum haben sie sich dann verpflichtet gefühlt, den Fluß zu überqueren? Aber sie kennt die Antwort.

Die Sklavenhalterinnen hegen gegenüber den Städten einen ebenso abgründigen wie unverständlichen Haß. Jede einzelne stellt für sie eine Drohung und eine Herausforderung dar, die ewige Rivalität zwischen den Leuten vom Land und denen in der Stadt. Die Sklavenhalterinnen wissen, daß es auf der anderen Seite des Flusses Hunderte von Ameisenstädten gibt, eine reicher und raffinierter als die andere.

Chli-pu-kan ist leider noch nicht soweit, einem solchen Ansturm standzuhalten. Sicher, seit einigen Tagen hat die Stadt gut eine Million Einwohner; sicher, sie haben an der Ostgrenze eine Mauer aus fleischfressenden Pflanzen errichtet ... Aber das wird niemals reichen. Chli-pu-ni weiß, daß ihre Stadt zu jung ist, zu unerfahren. Obendrein hat sie immer noch keine Nachricht von den Abgesandten, die sie nach Belo-kan geschickt hat, um ihre Zugehörigkeit zur Föderation zu verkünden. Sie kann also nicht auf die Solidarität der Nachbarstädte zählen. Selbst Guayei-Tyolot ist ein paar tausend Kopf entfernt. Es ist unmöglich, die Kriegerinnen dieses Sommernests zu benachrichtigen ...

Was hätte Belo-kiu-kiuni in einer solchen Situation getan?

Chli-pu-ni beschließt, einige ihrer besten Jägerinnen (sie hatten noch keine Gelegenheit, zu beweisen, daß sie Kriegerinnen sind) zu einer absoluten Kommunikation zusammenzurufen. Es ist höchste Zeit, eine Strategie auszuarbeiten.

Sie sind noch in der Verbotenen Stadt versammelt, als die in dem Strauch oberhalb der Stadt postierten Wachen verkünden, daß sie die Düfte einer herbeieilenden Armee wahrnehmen.

Alle bereiten sich vor. Es konnte keine Strategie abgesprochen werden. Man wird improvisieren. Das Klarmachen zum Gefecht wird ausgerufen, die Einheiten versammeln sich, so gut es geht (sie kennen noch keine der Formationen, die so teuer im Kampf mit den Zwerginnen erworben wurden). Tatsächlich setzen die meisten Soldatinnen ihre Hoffnungen lieber auf die Mauer der fleischfressenden Pflanzen.


im mali: Der Stamm der Dogonen im Mali ist davon überzeugt, daß bei der ursprünglichen Vermählung von Himmel und Erde ein Ameisenhaufen das Geschlecht der Erde war.

Als die aus dieser Vereinigung hervorgegangene Welt fertig war, wurde die Vulva zu einem Mund, dem Worte entwichen, Worte, in denen die Ameisen dem Menschen die Technik des Webens übermittelten.

Noch heute sind die Fruchtbarkeitsriten mit der Ameise verbunden. Die unfruchtbaren Frauen setzen sich auf einen Ameisenhaufen, um die Göttin Amma zu bitten, sie fruchtbar zu machen.

Aber die Ameisen taten noch mehr für die Menschen, sie zeigten ihnen auch, wie sie ihre Häuser bauen mußten. Und schließlich zeigten sie ihnen die Quellen. Denn die Dogonen begriffen, daß sie unter den Ameisenhaufen graben mußten, um Wasser zu finden.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Heuschrecken hüpfen in alle Richtungen. Das ist ein Zeichen. Unmittelbar dahinter erkennen die Ameisen mit den besten Augen bereits eine Staubwolke.

Über die Sklavenhalterinnen zu reden ist schön und gut, sie angreifen zu sehen ist etwas ganz anderes. Sie haben keine Kavallerie, sie sind die Kavallerie. Ihr ganzer Körper ist kräftig und geschmeidig, ihre Beine sind dick und muskulös, ihr feiner und spitzer Kopf endet in beweglichen Hörnern, die in Wirklichkeit ihre Mandibeln sind.

Sie sind so aerodynamisch, daß keinerlei Pfeifen ihren Schädel begleitet, wenn er, von der Geschwindigkeit der Beine mitgerissen, die Lüfte zerteilt.

Das Gras legt sich nieder, wenn sie vorbeirauschen, die Erde bebt, der Sand wogt. Ihre nach vorne gerichteten Antennen stoßen derart schneidende Pheromone aus, daß man an ein Brüllen glauben könnte.

Soll man sich einschließen und der Belagerung standhalten oder hinausziehen und kämpfen? Chli-pu-ni zögert, sie hat solche Angst, daß sie nicht einmal einen Vorschlag riskiert. Darauf machen die roten Soldatinnen natürlich genau das, was sie nicht tun sollten. Sie teilen sich. Eine Hälfte verläßt die Stadt, um dem Feind auf offenem Feld zu trotzen; die andere Hälfte verschanzt sich als Reserve- und Widerstandsheer im Fall einer Belagerung.

Chli-pu-ni versucht sich an die Schlacht am Klatschmohnhügel zu erinnern, die einzige, die sie kennt. Dort hat, so scheint es ihr, die Artillerie den größten Schaden in den gegnerischen Truppen angerichtet. Also befiehlt sie, daß in vorderster Front drei Reihen von Artilleristinnen postiert werden.

Die Einheiten der Sklavenhalterinnen stürmen mittlerweile auf die Mauer der fleischfressenden Pflanzen zu. Die pflanzlichen Raubtiere senken sich, als sie vorbei stürzen, angezogen von dem Geruch warmen Fleischs. Aber sie sind viel zu langsam, und die feindlichen Kriegerinnen kommen durch, bevor es einer Dionaea gelingt, wenigstens eine von ihnen zu erwischen.

Belo-kiu-kiuni hat sich getäuscht.

Als die Angriffswelle auf sie zurollt, feuert die erste chlipukanische Reihe eine ungenau gezielte Salve ab, die höchstens zwanzig Angreiferinnen tötet. Die zweite Reihe kommt nicht einmal dazu, sich aufzustellen, die Artilleristinnen werden allesamt an der Kehle gepackt und enthauptet, bevor sie einen Tropfen Säure abschießen können.

Das ist die große Spezialität der Sklavenhalterinnen, nur den Kopf anzugreifen. Und das machen sie sehr gut. Die Schädel der jungen Chlipukanerinnen fliegen auf. Mitunter kämpfen die kopflosen Körper blindlings weiter oder nehmen zum Schrecken der Überlebenden Reißaus.

Nach zwölf Minuten ist von den roten Truppen nicht mehr viel übrig. Die zweite Hälfte verstopft die Eingänge. Da Chli-pu-kan noch keine Kuppel hat, erscheint die Stadt von oben wie ein Dutzend kleiner, von zermalmten Steinchen umgebener Krater.

Alle sind wie betäubt. Da hat man sich solche Mühe gegeben, eine moderne Stadt zu bauen, und dann muß man erleben, daß sie einer Bande von Barbaren ausgeliefert ist, die so primitiv sind, daß sie sich nicht einmal selbst ernähren können!

Chli-pu-ni kann noch so viele AK abhalten, sie findet keinen Weg, den Sklavenhalterinnen zu widerstehen. Die Bruchsteine in den Eingängen werden bestenfalls einige Sekunden halten. Und für den Kampf in den Gängen sind die Chlipukanerinnen nicht besser gerüstet als für den Kampf auf freiem Feld.

Draußen kämpfen die letzten roten Soldaten wie Teufel. Einige haben sich noch zurückziehen können, aber die meisten mußten miterleben, wie die Eingänge direkt hinter ihnen verrammelt wurden. Für sie ist alles vorbei. Sie wehren sich um so wirkungsvoller, als sie nichts mehr zu verlieren haben und denken, daß die Pfropfen in den Eingängen verstärkt werden können, wenn sie die Eindringlinge aufhalten.

Die letzte Chlipukanerin wird enthauptet, und in einem Reflex stellt sich ihr Körper vor einen der Eingänge und schlägt dort seine Krallen hinein. Ein lächerlicher Schutzwall.

Im Innern von Chli-pu-kan wartet man.

Man wartet mit schwermütiger Resignation auf die Sklavenhalterinnen. Die physische Kraft hat immer noch eine Wirksamkeit, die von der Technik nicht übertroffen wird ...

Aber die Sklavenhalterinnen greifen nicht an. Wie Hannibal vor Rom zögern sie. Das Ganze erscheint zu einfach. Das muß eine Falle sein. Zwar eilt ihnen ihr Ruf als Mörderinnen überall voraus, doch auch die Roten haben ihr Renommee. Im Lager der Sklavenhalterinnen hält man sie für fähig, subtile Fallen aufzubauen. Man behauptet, daß sie sich mit Söldnertruppen zu verbünden wissen, die gerade dann auftauchen, wenn man am wenigsten damit rechnet. Man sagt auch, daß sie wilde Tiere zähmen und Geheimwaffen herstellen können, die unerträgliche Schmerzen zufügen. Zudem, so wohl sich die Sklavenhalterinnen im Freien fühlen, so ungern sind sie von Mauern umgeben.

Jedenfalls sprengen sie die Barrikaden an den Eingängen nicht. Sie warten ab. Sie haben genug Zeit. Schließlich wird die Nacht erst in ungefähr fünfzehn Stunden hereinbrechen.

In dem Ameisenhaufen wundert man sich. Warum greifen sie nicht an? Chli-pu-ni gefällt das nicht. Es beunruhigt sie, daß sich der Gegner ihrer Denkweise entzieht. Er hat es gar nicht nötig zu warten, da er stärker ist. Einige ihrer Töchter äußern schüchtern die Meinung, daß man vielleicht versucht, sie auszuhungern. Eine solche Aussicht kann den roten Ameisen nur neuen Mut machen: dank ihrer Ställe im Keller, ihrer Pilzkulturen, den mit Honigtau vollgestopften Ameisentanks sind sie in der Lage, eine Belagerung von gut zwei Monaten auszuhalten.

Aber Chli-pu-ni glaubt nicht an eine Belagerung. Was die Ameisen da oben suchen, ist ein Nest für die Nacht. Sie denkt an Belo-kiu-kiunis berühmten Ausspruch: Wenn der Feind stärker ist, dann handele so, daß du dich seiner Denkweise entziehst. Ja, gegen diese Rohlinge hilft nur modernste Technik, das wäre die Rettung.

Die fünfhunderttausend Chlipukanerinnen halten eine AK nach der andern ab. Endlich entsteht eine interessante Debatte. Eine kleine Arbeiterin stößt hervor:

Der Irrtum war, daß wir Waffen oder Strategien nachahmen wollten, die bereits von unseren Vorfahren in Bel-o-kan angewendet wurden. Wir dürfen nicht kopieren, wir müssen unsere eigenen Lösungen finden, um unsere eigenen Probleme zu lösen.

Kaum geht dieses Pheromon um, verschwindet die geistige Sperre. Rasch wird ein Entschluß gefaßt. Alle machen sich an die Arbeit.


JANITSCHAREN: Im 14. Jahrhundert schuf Sultan Murad I. ein

ETWAS EIGENARTIGES ARMEECORPS. DAS MAN DIE »JANITSCHAREN« TAUFTE (AUS DEM TÜRKISCHEN YENI TCHERIE, NEUE MILIZ). DIE ARMEE DER JANITSCHAREN HATTE EINE BESONDERHEIT. SIE WURDE NUR VON

Waisen gebildet. Tatsächlich entführten die türkischen

SOLDATEN, WENN SIE EIN ARMENISCHES ODER SLAWISCHES DORF PLÜNDERTEN, GANZ JUNGE KINDER UND SPERRTEN SIE IN EINE MILITÄRISCHE SPEZIALSCHULE, VON DER AUS SIE NICHTS VOM REST DER

Welt mitbekamen. Einzig in der Kunst des Kampfes erzogen,

ERWIESEN SICH DIESE KINDER ALS DIE BESTEN KÄMPFER DES GANZEN OTTOMANISCHEN REICHS UND VERHEERTEN SCHONUNGSLOS DIE DÖRFER, IN DENEN IHRE WAHREN FAMILIEN WOHNTEN. NIE KAMEN DIE JANITSCHAREN AUF DEN GEDANKEN, AN DER SEITE IHRER ELTERN GEGEN

ihre Kidnapper zu kämpfen. Ihre Macht nahm ständig zu, was SCHLIEßLICH Sultan Mahmut II. beunruhigte, der sie massakrieren LIEß UND IHRE SCHULE 1826 IN BRAND STECKTE.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Professor Leduc hatte zwei große Koffer mitgebracht. Aus dem einen holte er ein verblüffendes Modell eines benzingetriebenen Preßlufthammers hervor. Er machte sich unverzüglich daran, die von den Polizisten errichtete Mauer zu bearbeiten, bis er ein kreisrundes Loch gebohrt hatte, groß genug, um hindurchzuklettern.

Als das Hämmern ein Ende hatte, bot ihm Großmutter Augusta einen Kräutertee an, aber Leduc lehnte ab mit der Erklärung, daß er dann Gefahr liefe, im Keller Wasser lassen zu müssen. Er knöpfte sich den zweiten Koffer vor und entnahm ihm eine komplette Speläologenausrüstung.

»Meinen Sie, das geht so tief hinunter?«

»Um ehrlich zu sein, Madame: Ich habe, bevor ich gekommen bin, Erkundigungen über dieses Gebäude eingezogen. Es wurde in der Renaissance von protestantischen Wissenschaftlern bewohnt, die einen Geheimgang angelegt haben. Ich bin fast sicher, daß dieser Gang in den Wald von Fontainebleau führt. Auf diesem Weg entkamen diese Protestanten ihren Verfolgern.«

»Aber wenn all die Leute, die jetzt hinuntergestiegen sind, in den Wald gelangt sind, verstehe ich nicht, weshalb sie sich nicht mehr melden. Mein Enkel, seine Frau, mein Urenkel, dazu ein gutes Dutzend Feuerwehrleute und Gendarmen, lauter Personen, die keinen Grund haben, sich zu verstecken. Sie haben Familie, Freunde. Sie sind keine Protestanten, und Religionskriege gibt es auch nicht mehr.«

»Sind Sie da so sicher, Madame?«

Er schaute sie merkwürdig an.

»Die Religionen tragen heute andere Namen, sie nennen sich großspurig Philosophien und ... Wissenschaften. Aber sie sind nicht weniger dogmatisch.«

Er ging ins Nebenzimmer, um seine Höhlenkleidung anzuziehen. Als er in seinem engsitzenden Anzug wieder auftauchte, den Kopf in einen knallroten, mit einer Stirnlampe versehenen Helm gezwängt, hätte Augusta am liebsten laut gelacht.

Er fuhr fort, als ob nichts wäre:

»Nach den Protestanten sind Sekten aller Schattierungen hier eingezogen. Einige widmeten sich alten heidnischen Bräuchen, andere verehrten die Zwiebel, den schwarzen Rettich und was weiß ich ...«

»Zwiebel und Rettich sind gut für die Gesundheit. Ich kann verstehen, daß man dafür schwärmt. Die Gesundheit ist das Allerwichtigste ... Schauen Sie, ich bin schwerhörig, bald senil, und ich sterbe jeden Tag ein wenig mehr.«

Er glaubte sie trösten zu müssen.

»Seien Sie doch nicht so pessimistisch, Sie sehen noch kerngesund aus.«

»Ach nein! Wie alt schätzen Sie mich?«

»Ich weiß nicht ... Vielleicht sechzig, siebzig Jahre.«

»Hundert bin ich, Monsieur! Ich bin vor einer Woche hundert Jahre alt geworden, und ich bin am ganzen Körper krank, und das Leben wird mir von Tag zu Tag unerträglicher, vor allem, seit ich alle verloren habe, die mir teuer waren.«

»Ich verstehe Sie, Madame, das Alter ist eine schwere Prüfung.«

»Haben Sie noch mehr solch treffende Sätze auf Lager?«

»Aber Madame ...«

»Kommen Sie, beeilen Sie sich. Wenn Sie bis morgen nicht zurück sind, werde ich die Polizei benachrichtigen, und die wird dann bestimmt eine dicke Mauer bauen, durch die niemand mehr hindurchkommt .«

Nr. 4000 wird unablässig von den Schlupfwespenlarven gequält, selbst in den kältesten Nächten findet sie keinen Schlaf mehr.

Also wartet sie ruhig auf den Tod und widmet sich dabei spannenden und riskanten Aktivitäten, für die sie unter anderen Umständen niemals den Mut aufgebracht hätte. Beispielsweise den Rand der Welt zu entdecken.

Sie sind noch auf dem Weg zu den Schnitterinnen. Nr. 103 683 nutzt die Zeit, um sich einige Lektionen ihrer Ammen ins Gedächtnis zu rufen. Sie haben ihr erklärt, die Erde sei ein Würfel und Leben gebe es nur auf seiner oberen Seite.

Was wird sie sehen, wenn sie endlich das Ende, den äußersten Rand der Welt erreicht? Wasser? Die Leere eines anderen Himmels? Ihre Begleiterin auf Abruf und sie selbst werden mehr wissen als alle Kundschafterinnen, als alle roten Ameisen seit Anbeginn der Zeiten!

Ihre Gefährtin sieht erstaunt, wie sich der Schritt von Nr. 103 683 in einen entschlossenen Marsch verwandelt.

Als sich die Sklavenhalterinnen am Nachmittag dazu entschließen, die Eingänge zu stürmen, sind sie überrascht, auf keinerlei Widerstand zu stoßen. Dabei wissen sie genau, daß sie nicht die gesamte Armee der Roten vernichtet haben, selbst wenn man die geringe Größe der Stadt berücksichtigt. Also, auf der Hut sein ...

Sie rücken um so vorsichtiger vor, als sie, die normalerweise im Freien leben, wo sie sich eines ausgezeichneten Sehvermögens erfreuen, unter der Erde völlig blind sind. Die roten Geschlechtslosen sehen dort auch nicht mehr, aber sie sind wenigstens daran gewöhnt, sich in den Eingeweiden dieser finsteren Welt zu bewegen.

Die Sklavenhalterinnen erreichen die Verbotene Stadt. Sie ist vollkommen verlassen. Auf dem Boden liegen jede Menge Nahrungsmittel, alle in einwandfreiem Zustand! Sie gehen tiefer. Die Speicher sind prall gefüllt, und vor kurzem waren noch Personen in diesen Sälen, kein Zweifel.

Im 5. UG finden sie frische Pheromone. Sie versuchen die Gespräche zu entschlüsseln, die dort geführt wurden, aber die Roten haben einen Thymianzweig hinterlegt, dessen Geruch sämtliche Düfte unkenntlich macht.

6. UG. Es gefällt ihnen nicht, daß sie so »unter Tage« eingeschlossen sind. Stockfinster ist es in dieser Stadt! Wie können es Ameisen nur ertragen, ständig in diesem engen Raum eingepfercht zu sein, der dunkel ist wie der Tod?

Im 8. UG entdecken sie noch frischere Pheromone. Sie beschleunigen den Schritt, die Roten können nicht mehr weit sein.

Im 10. UG überraschen sie eine Gruppe von Arbeiterinnen, die Eier schwenken und vor den Eindringlingen Reißaus nehmen. Das ist es also! Endlich geht ihnen ein Licht auf, die ganze Stadt hat sich in die tiefsten Stockwerke zurückgezogen und hofft auf diese Weise ihre kostbare Brut zu retten.

Jetzt, da alles ersichtlich geworden ist, lassen die Sklavenhalterinnen jede Vorsicht fahren und stürmen mit ihrem berühmten Pheromonenkriegsgeschrei durch die Gänge. Die chlipukanischen Arbeiterinnen schaffen es nicht, sie abzuschütteln, und dabei sind sie schon im 13. UG.

Plötzlich sind die eiertragenden Flüchtlinge auf rätselhafte Weise verschwunden. Der Gang, durch den sie liefen, mündet in einen ungeheuer großen Saal, dessen Boden mit Lachen von Honigtau übersät ist. Die ersten Sklavenhalterinnen stürzen instinktiv vor, um den kostbaren Likör zu schlecken, bevor er von der Erde aufgesogen wird.

Hinter ihnen drängeln die anderen Kriegerinnen, aber der Saal ist wirklich riesig, es ist genug Platz und Honigtau für alle da. Süß ist er, zuckersüß! Das ist bestimmt einer dieser Säle mit den Ameisentanks, eine Sklavenhalterin hat davon gehört: Eine angeblich moderne Technik, die darin besteht, eine arme Arbeiterin dazu zu zwingen, ihr Leben lang mit dem Kopf nach unten und extrem gedehntem Hinterleib an der Decke zu hängen.

Sie machen sich einmal mehr über diese Städterinnen lustig, während sie sich an deren Honigtau laben. Aber plötzlich erregt ein Detail die Aufmerksamkeit einer Kriegerin. Es ist überraschend, daß ein solch wichtiger Saal nur einen einzigen Eingang hat ...

Sie kommt nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Die Roten haben aufgehört zu graben. Eine Wasserflut spritzt aus der Decke. Die Sklavenhalterinnen versuchen durch den Gang zu fliehen, aber dieser ist jetzt durch einen großen Felsen versperrt. Und das Wasser steigt. Diejenigen, die nicht bereits durch den Aufprall des Wassers niedergestreckt wurden, wehren sich mit aller Kraft.

Die Idee zu dieser Falle ist der roten Kriegerin gekommen, die darauf hingewiesen hat, daß man nicht die Vorfahren kopieren dürfe. Anschließend hat sie die Frage gestellt: Was ist die Besonderheit unserer Stadt? Als Antwort nur ein einziges Pheromon: Der unterirdische Bach im 12. UG.

Also haben sie eine Rinne gegraben, den Boden mit dicken, wasserundurchlässigen Blättern abgedeckt und so eine Art Kanal geschaffen. Der Rest hing eher mit der Technik der Zisternen zusammen. Sie haben ein großes Becken in einer Kammer eingerichtet und dessen Zentrum mit einem Zweig angebohrt. Das Schwierigste war, den Bohrzweig über der Wasseroberfläche zu halten. Dieses heikle Unterfangen wurde von an der Decke hängenden Ameisen erfolgreich bewältigt.

Die Sklavenhalterinnen unten zappeln und strampeln. Die meisten sind bereits ertrunken, aber als sich das gesamte Wasser in den unteren Saal ergossen hat, steht es so hoch, daß es einigen Kriegerinnen gelingt, durch das Loch in der Decke zu steigen. Die Roten haben keine Mühe, sie mit Säurestrahlen zu erledigen.

Eine Stunde später rührt sich keine der Sklavenhalterinnen mehr. Die Königin Chli-pu-ni hat gesiegt. Sie gibt ihre erste historische Sentenz von sich: Je höher das Hindernis, um so größer die Verpflichtung, über uns hinauszuwachsen.

Ein dumpfes und regelmäßiges Klopfen ließ Augusta in die Küche eilen, wo sich Professor Leduc gerade durch das Loch in der Mauer zwängte. Also so was, nach achtundvierzig Stunden! Endlich kommt mal jemand zurück, und dann muß es ausgerechnet dieser Fiesling sein, dessen Verschwinden ihr ganz egal gewesen wäre!

Sein Höhlenanzug war zerfetzt, aber er selbst war unversehrt. Er hatte ebenfalls nichts erreicht, das sah man ihm an der Nase an.

»Und?«

»Was, und?«

»Haben Sie sie gefunden?«

»Nein .«

Augusta war aufgewühlt. Zum erstenmal kehrte jemand lebend und nicht verrückt aus diesem Loch zurück. Es war also möglich, dieses Abenteuer zu bestehen!

»Ja, was ist denn nun da unten? Führt das in den Wald von Fontainebleau, wie Sie meinten?«

Er schälte sich aus seinem Helm.

»Geben Sie mir bitte erst etwas zu trinken. Ich habe all meine Vorräte aufgebraucht, und ich habe seit gestern mittag nichts mehr getrunken.«

Sie brachte ihm eine Tasse Kräutertee, den sie in einer Thermosflasche warm hielt.

»Soll ich Ihnen sagen, was da unten ist? Da ist eine Wendeltreppe, die über mehrere hundert Meter steil nach unten führt. Dann kommt eine Tür, dahinter ein rot schimmernder Gang voller Ratten und ganz am Ende eine Mauer, die Ihr Enkel Jonathan gebaut haben muß. Eine sehr starke Mauer, ich habe vergeblich versucht, mit dem Preßlufthammer ein Loch zu bohren. Vermutlich verschiebt oder dreht sie sich, sie ist nämlich mit einer Tastatur für ein Kodewort versehen.«

»Eine Tastatur für ein Kodewort?«

»Ja, wahrscheinlich muß man darauf das Lösungswort der Frage eintippen.«

»Was für eine Frage?«

»Wie bildet man vier gleichseitige Dreiecke mit sechs Streichhölzern?«

Augusta konnte nicht umhin, laut aufzulachen. Was den Wissenschaftler profund ärgerte.

»Sie kennen die Lösung!«

Prustend stieß sie hervor:

»Nein! O nein! Ich kenn die Lösung nicht! Aber die Frage, die kenn ich!«

Und sie lachte, lachte. Professor Leduc brummelte:

»Ich habe stundenlang danach gesucht. Sicher, mit Dreiecken, die V-förmig verschachtelt sind, kommt man zu einem Ergebnis, aber die sind nicht gleichseitig.«

Er packte seine Sachen ein.

»Wenn Sie einverstanden sind, werde ich einen befreundeten Mathematiker fragen und noch einmal zurückkommen.«

»Nein!«

»Wie? Nein?«

»Ich habe Ihnen eine Chance gegeben, das war die einzige! Wenn Sie sie nicht nutzen konnten, dann ist es jetzt zu spät. Schaffen Sie diese beiden Koffer hier raus. Auf Wiedersehen, Monsieur!«

Sie rief ihm nicht einmal ein Taxi. Ihre Abneigung hatte die Oberhand gewonnen. Er hatte etwas an sich, das sie entschieden nicht riechen konnte.

Sie setzte sich in die Küche, vor die beschädigte Mauer. Jetzt hatte sich die Sachlage geändert. Sie entschloß sich, Jason Bragel und diesen Rosenfeld anzurufen. Sie hatte sich entschieden, sich vor ihrem Tod noch ein wenig zu amüsieren.


MENSCHLICHE PHEROMONE: Wie die Insekten, die über Düfte

kommunizieren, verfügt auch der Mensch über eine olfaktorische Sprache, in der er sich unbewußt mit seinesgleichen unterhält.

Da wir keine Antennen als Sender haben, scheiden wir unsere Pheromone durch Achselhöhlen, Brüste, Kopfhaut und Geschlechtsteile aus.

Diese Botschaften werden unbewußt wahrgenommen, sind deshalb aber nicht weniger wirkungsvoll. Der Mensch hat fünfzig Millionen olfaktorischer Nervenenden, fünfzig Millionen Zellen, die imstande sind. Millionen von Gerüchen zu identifizieren, obwohl unsere Sprache nur vier Gerüche kennt.

Wie nutzen wir diese Form der Kommunikation?

Zunächst einmal als sexuellen Appell. Ein Mann kann sich sehr gut zu einer Frau hingezogen fühlen, weil er ihren natürlichen Duft schätzt (der überdies viel zu oft von künstlichen Düften überlagert wird!) Ebenso kann er eine andere abstoßend finden, deren Pheromone ihn nicht »ansprechen«.

Der Vorgang ist recht subtil. Die beiden Wesen bemerken das olfaktorische Gespräch, das sie miteinander geführt haben, nicht einmal. Man könnte zu Recht sagen, »die Liebe ist blind«.

Der Einfluß der menschlichen Pheromone kann auch in puncto Aggression zutage treten. Wie bei den Hunden wird ein Mensch, der den Geruch mit der Botschaft »Angst« auf seiten seines Widersachers wahrnimmt, ganz natürlich Lust haben, jenen anzugreifen.

Zu guter Letzt: Eine der erstaunlichsten Folgen der Auswirkung menschlicher Pheromone ist wohl die Synchronisierung der Menstruationszyklen. Man hat in der Tat beobachtet, daß Frauen, die zusammenleben, Gerüche absondern, die den jeweiligen Organismus dahingehend beeinflussen, daß sie gleichzeitig ihre Regel bekommen.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Sie erblicken die ersten Schnitterinnen inmitten gelber Felder. Eigentlich sollte man eher von Holzfällerinnen sprechen, denn ihr Getreide ist erheblich größer als sie, und sie müssen die Stengel ganz unten anschneiden, damit die nahrhaften Körner zu Boden fallen.

Daneben besteht ihre Haupttätigkeit darin, sämtliche Pflanzen zu vernichten, die um ihre Felder herum wachsen. Dazu benutzen sie ein Vertilgungsmittel eigener Produktion: die Indolessigsäure, die sie mit einer Hinterleibsdrüse versprühen.

Die Schnitterinnen schenken Nr. 103 683 und Nr. 4000 bei deren Eintreffen kaum Beachtung. Sie haben noch nie rote Ameisen gesehen, und für sie sind diese beiden Insekten bestenfalls entflohene Sklavinnen oder zwei Ameisen, die auf der Suche nach der Lomechuse-Droge (??) sind. Kurzum, Landstreicherinnen oder Drogenabhängige.

Schließlich jedoch identifiziert eine der Schnitterinnen ein Molekül des Duftes der blutroten Ameisen. Gefolgt von einer Kameradin, verläßt sie ihren Arbeitsplatz und kommt näher.

Ihr habt die Blutroten getroffen? Wo sind sie?

Die Belokanerinnen erfahren im Laufe des Gesprächs, daß die Blutroten vor einigen Wochen das Nest der Schnitterinnen angegriffen haben. Sie haben mit ihren Giftstacheln über hundert Arbeiterinnen und Männchen wie Weibchen getötet, danach haben sie den gesamten Vorrat an Getreidemehl geraubt. Die Armee der Schnitterinnen hat nach ihrer Rückkehr von einem Feldzug in den Süden, wo sie neue Samenkörner gesucht haben, nur die Schäden konstatieren können.

Die beiden räumen ein, daß sie die Blutroten tatsächlich getroffen haben. Sie geben die Richtung an, in welcher jene zu finden sind. Man fragt sie aus, und sie berichten von ihrer eigenen Odyssee.

Ihr seid auf der Suche nach dem Rand der Welt?

Ja.

Die Schnitterinnen brechen in ein schallendes Pheromonenlachen aus. Warum lachen sie? Sollte es den Rand der Welt nicht geben?

Doch, es gibt ihn, und ihr habt ihn erreicht! Abgesehen von der Ernte ist es unser Hauptstreben, den Rand der Welt zu überschreiten.

Die Schnitterinnen bieten an, die beiden »Touristinnen« am nächsten Morgen zu diesem metaphysischen Ort zu führen. Der Abend vergeht mit Gesprächen im Schutz des kleinen Nests, das die Schnitterinnen in der Rinde einer Buche eingerichtet haben.

Und die Wächterinnen des Randes der Welt? fragt Nr. 103 683.

Keine Sorge, die bekommt ihr früh genug zu sehen.

Stimmt es, daß sie eine Waffe haben, die eine ganze Armee auf einen Schlag vernichten kann?

Die Schnitterinnen sind überrascht, daß die beiden Fremden derlei Einzelheiten kennen.

Das ist richtig.

Nr. 103 683 wird also die Lösung des Rätsels der geheimen Waffe erfahren!

In dieser Nacht hat sie einen Traum. Sie sieht die Erde, die rechtwinklig endet, und eine Wand aus Wasser, die bis zum Himmel reicht, und aus dieser Wand kommen blaue Ameisen mit äußerst zerstörerischen Akazienzweigen. Und das Ende eines dieser Zauberzweige braucht etwas nur zu berühren, einerlei was, schon ist es vernichtet.

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