4 Das Ende des Wegs

Augusta saß den ganzen Tag vor sechs Streichhölzern. Die Mauer war eher psychologisch als real, soviel hatte sie begriffen. Edmonds berühmtes »Man muß anders denken!« ... Ihr Sohn hatte etwas entdeckt, das war gewiß, und er versteckte es mit seiner Intelligenz.

Sie rief sich die Schlupfwinkel seiner Kindheit ins Gedächtnis, seine »Höhlen«. Er hatte versucht - vielleicht weil man sie ihm samt und sonders zerstört hatte -, eine zu bauen, die völlig unzugänglich war, eine Stelle, wo ihn niemand stören würde ... Etwas wie ein innerer Ort, der seinen Frieden nach außen projizierte, seinen Frieden und ... seine Unsichtbarkeit.

Augusta schüttelte die Schlaffheit ab, die sie befiel. Eine Begebenheit aus ihrer eigenen Jugend fiel ihr wieder ein. Das war in einer Winternacht, sie war noch ganz klein, und sie hatte begriffen, daß es Zahlen unter Null geben konnte ... 3, 2, 1, 0 und dann - 1, - 2, - 3 ... Zahlen, die verkehrt herum waren. Als würde man einen Handschuh umkrempeln. Die Null war also nicht das Ende oder der Anfang von allem. Es gab eine andere unendliche Welt auf der anderen Seite. Das war, als hätte man die Mauer der »Null« gesprengt.

Sie mußte damals sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, aber ihre Entdeckung hatte sie aufgewühlt, und sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen.

Umgekehrte Zahlen ... Das war eine andere Dimension, die sich da eröffnete. Die dritte Dimension. Der Raum!

Herrgott!

Ihre Hände zittern vor Aufregung, sie weint, aber sie schafft es, die Streichhölzer zu packen. Sie legt drei zu einem Dreieck zusammen, dann hält sie die drei anderen jeweils an eine Ecke und richtet sie auf, so daß sie in einer Spitze zusammentreffen.

Das ergibt eine Pyramide. Eine Pyramide und vier gleichseitige Dreiecke.

Da ist es, das östliche Ende der Erde. Ein verblüffender Ort. Nichts Natürliches, nichts Irdisches. Ganz anders, als ihn sich Nr. 103 683 vorgestellt hat. Der Rand der Welt ist schwarz, nie zuvor hat sie etwas derart Schwarzes gesehen! Das ist hart, glatt, lauwarm und riecht nach Mineralöl.

Statt eines vertikalen Ozeans finden sie Luftströmungen von unglaublicher Heftigkeit vor.

Lange versuchen sie zu verstehen, was hier vorgeht. Von Zeit zu Zeit ist ein Vibrieren zu spüren. Seine Intensität nimmt exponentiell zu. Dann plötzlich erzittert der ganze Boden, ein starker Wind hebt ihre Antennen an, ein Höllenlärm läßt die Trommelfelle ihrer Schienen klappern. Ein heftiges Gewitter, möchte man meinen, aber kaum tritt das Phänomen deutlich zutage, da hat es bereits aufgehört. Lediglich einige Staubspiralen sinken noch auf die Erde.

Nicht wenige Kundschafter der Schnitterinnen haben diese Grenze überschreiten wollen, aber die Wächter passen auf. Denn dieser Lärm, dieser Wind, dieses Vibrieren, das sind sie, die Wächter des Randes der Welt, die alles erschlagen, was auf die schwarze Erde vorzudringen versucht.

Ob sie diese Wächter bereits gesehen haben? Noch bevor die Roten eine Antwort erhalten, ertönt erneut ein lautes Getöse, das sich nach einer Weile wieder legt. Eine der sechs Schnitterinnen, die sie begleiten, behauptet, daß es bislang noch niemand geschafft habe, über dieses »verwunschene Stück Erde« zu gehen und lebend zurückzukommen. Die Wächter vernichten alles.

Die Wächter ... Niemand anders als sie können La-chola-kan und die Expedition mit dem Männchen Nr. 327 angegriffen haben. Aber weshalb haben sie das Ende der Welt verlassen und sind nach Westen gezogen? Wollen sie die Welt überfallen?

Die Schnitterinnen wissen auch nicht mehr als die Roten. Können sie sie wenigstens beschreiben? Nein, sie wissen nur, daß alle, die sich den Wächtern genähert haben, vernichtet worden sind. Sie wissen nicht einmal, welcher Kategorie von Lebewesen jene zuzuordnen sind: Sind das riesige Insekten? Vögel? Pflanzen? Die Schnitterinnen wissen nur, daß sie immens schnell, immens stark sind. Eine Kraft, die schier unbegreiflich ist, die alles übersteigt, was man kennt ...

In diesem Augenblick ergreift Nr. 4000 ebenso plötzlich wie unvorhergesehen die Initiative. Sie verläßt die Gruppe und wagt sich auf das verbotene Terrain vor. Wenn sie schon sterben muß, dann will sie wenigstens versuchen, den Rand der Welt zu überschreiten, einfach so, dreist und frech. Die anderen schauen ihr bestürzt nach.

Sie rückt langsam vor, lauert auf das geringste Vibrieren, auf den geringsten todesverheißenden Duft in den empfindlichen Enden ihrer Beine. Nun ... Fünfzig Kopf hat sie hinter sich, hundert, zweihundert, vierhundert, sechshundert, achthundert. Nichts. Unverletzt, heil.

Hinten jubelt man ihr zu. Von ihrem Platz aus sieht sie unregelmäßige weiße Streifen, die nach rechts und links verlaufen. Auf der schwarzen Erde ist alles tot; nicht das geringste Insekt, keine einzige Pflanze. Und der Boden ist dermaßen schwarz ... Das ist gar keine richtige Erde.

Sie erkennt Pflanzen, weit vorn. Könnte es sein, daß es eine Welt hinter dem Ende der Welt gibt? Sie sendet einige Pheromone in Richtung ihrer am sicheren Ufer gebliebenen Kolleginnen, um ihnen von all dem zu erzählen, aber auf eine solch große Entfernung ist es schwierig. Dialoge zu führen.

Sie macht kehrt, doch im gleichen Augenblick brechen erneut das Beben und dieser ungeheure Lärm los. Die Wächter kehren zurück! Sie rennt mit aller Kraft, um ihre Gefährtinnen zu erreichen.

Die sind wie versteinert für den Bruchteil einer Sekunde, in dem mit einem enormen Dröhnen eine bestürzende Masse am Himmel vorbeifliegt. Die Wächter sind vorübergezogen, der Geruch nach Mineralöl hat sich verstärkt. Und Nr. 4000 ist verschwunden.

Die Ameisen rücken näher an den Rand und sehen, was passiert ist. Nr. 4000 ist zermalmt worden, und zwar derart, daß ihr Körper nur noch einen Zehntelkopf dick ist, als wäre er in den schwarzen Boden eingedrückt!

Von der alten belokanischen Kundschafterin ist nichts mehr übrig. Gleichzeitig nehmen die von den Schlupfwespeneiern verursachten Qualen ein Ende. Man kann erkennen, daß eine Larve dieser Wespe ihren Rücken durchbohrt hat, kaum mehr als ein weißer Punkt mitten auf dem platten roten Körper ...

So schlagen die Wächter des Randes der Welt also zu. Man hört einen Lärm, nimmt einen Luftzug wahr, und im nächsten Moment ist alles zerstört, pulverisiert, vernichtet. Nr. 103 683 hat das Phänomen noch nicht ganz analysiert, als eine erneute Verpuffung zu hören ist. Der Tod schlägt also auch dann zu, wenn niemand seine Schwelle überschreitet. Wieder fällt Staub zur Erde.

Nr. 103 683 möchte dennoch nicht auf die Überquerung verzichten. Sie denkt an Satei. Das Problem ist ähnlich gelagert. Wenn man oben nicht durchkommt, muß man unten durch. Man muß diese schwarze Erde wie einen Fluß sehen, und das beste Mittel, einen Fluß zu passieren, besteht darin, einen Tunnel zu graben.

Sie redet darüber mit den sechs Schnitterinnen, die sogleich hellauf begeistert sind. Das ist so einleuchtend, daß sie nicht begreifen, weshalb sie nicht längst darauf gekommen sind! Und so machen sie sich daran, mit aller Kraft ihrer Mandibeln zu schaufeln.

Jason Bragel und Professor Rosenfeld waren nie begeisterte Kräuterteetrinker, doch jetzt waren sie im Begriff, es zu werden. Augusta erzählte ihnen alles haarklein. Sie teilte ihnen mit, daß sie von ihrem Sohn nach ihr als nächste Erben der Wohnung bestimmt worden seien. Wahrscheinlich wären sie, wie sie selbst, eines Tages versucht, den Untergrund zu erforschen. Da wäre es doch sinnvoller, wenn sie mit vereinten Kräften vorgingen.

Nach dieser Einleitung redeten sie alle drei sehr wenig. Sie verstanden sich wortlos. Ein Blick, ein Lächeln ... Keiner von ihnen hatte je eine solch spontane geistige Osmose erlebt. Das ging über den reinen Intellekt hinaus; man hätte meinen können, sie seien geboren, um einander zu ergänzen, als würden ihre genetischen Programme ineinandergreifen und verschmelzen. Das war Zauberei. Augusta war steinalt, und doch fanden die beiden anderen, sie sei wunderschön ...

Sie kamen auf Edmond zu sprechen; ihre Zuneigung zu dem Verstorbenen, die frei von jedem Hintergedanken war, erstaunte sie selbst. Jason Bragel redete nicht von seiner Familie, Daniel Rosenfeld redete nicht von seiner Arbeit, Augusta redete nicht von ihrer Krankheit. Sie beschlossen, noch am gleichen Abend hinabzusteigen. Sie wußte, das war das einzige, was sie zu tun hatten, hier und jetzt.


lange hat man: Lange hat man geglaubt, die Informatik im allgemeinen und speziell die Programme künstlicher Intelligenz würden die menschlichen Begriffe vermischen und unter neuen Blickwinkeln präsentieren. Kurzum, man erwartete von der Elektronik eine neue Philosophie. Aber selbst wenn man sie anders präsentiert, bleibt die ursprüngliche Materie ein und dieselbe: Gedanken, die von der menschlichen Vorstellungskraft hervorgebracht wurden. Das ist eine Sackgasse.

Der beste Weg, das Denken zu erneuern, besteht darin, aus der

Edmond Wells

Enzyklopädie des absoluten und relativen Wissens


Chli-pu-kan gedeiht an Größe und Intelligenz, ist jetzt eine »erwachsene« Stadt. Unter Anwendung der Wassertechnologien hat man ein ganzes Netz von Kanälen unterhalb des 12. UG geschaffen. Diese Wasserarme ermöglichen einen raschen Nahrungstransport von einem Ende der Stadt zum andern.

Die Chlipukanerinnen hatten Zeit genug, die Techniken des Transports auf dem Wasserweg weiterzuentwickeln. Das Nonplusultra stellt ein treibendes Heidelbeerblatt dar. Man braucht bloß die richtige Strömung zu wählen und kann in aller Ruhe über eine beträchtliche Entfernung reisen. Von den Pilzkulturen im Osten zu den Stallungen im Westen zum Beispiel.

Die Ameisen hoffen, daß es ihnen eines Tages gelingt. Schwimmkäfer abzurichten. Diese großen, mit Luftsäcken unter den Deckflügeln ausgestatteten Unterwasserkäfer schwimmen in der Tat sehr schnell. Wenn man sie dazu bringen könnte, die Blätter anzuschieben, verfügten diese Flöße über einen Antrieb, der weniger zufällig wäre als die Strömungen.

Chli-pu-ni bringt eine weitere futuristische Idee vor. Sie erinnert sich des Nashornkäfers, der sie aus dem Spinnennetz befreit hat. Welch vollkommene Kriegsmaschine! Diese Käfer haben nicht nur ein großes Hörn und einen undurchdringlichen Panzer, zudem fliegen sie mit hoher Geschwindigkeit. Chli-pu-ni denkt unverblümt an eine ganze Legion dieser Tiere, eine ganze Legion mit zehn Artilleristinnen auf dem Kopf jedes einzelnen. Sie sieht bereits, wie diese quasi unverwundbaren Besatzungen über die feindlichen Truppen herfallen und sie mit Säure überschwemmen ...

Einziges Hindernis: Wie alle Käfer erweisen sich auch die Nashornkäfer als äußerst schwierig zu zähmen, da es nicht einmal gelingt, ihre Sprache zu verstehen! Also sind zehn Arbeiterinnen ständig damit beschäftigt, deren Duftemissionen zu entschlüsseln und zu versuchen, ihnen die Pheromonensprache der Ameisen beizubringen.

Wenn die Ergebnisse vorerst auch mäßig sind, schaffen es die Chlipukanerinnen doch, ihr Vertrauen zu gewinnen, indem sie sie mit Honigtau vollstopfen. Die Nahrung ist schließlich die am weitesten verbreitete Insektensprache.

Dieser kollektiven Dynamik zum Trotz ist Chli-pu-ni besorgt. Drei Trupps von Abgesandten hat sie in Richtung Föderation losgeschickt, um Chli-pu-kan als fünfundsechzigste Stadt anerkennen zu lassen, und sie hat immer noch keine Antwort. Sollte Belo-kiu-kiuni das Bündnis ablehnen?

Je mehr sie darüber nachdenkt, um so mehr ist Chli-pu-ni davon überzeugt, daß ihre abgesandten Spioninnen Fehler begangen haben, daß sie sich von den Kriegerinnen mit dem Felsengeruch haben abfangen lassen. Sofern sie nicht der halluzinierenden Droge im 50. UG erlegen sind ... Oder gab es noch andere Möglichkeiten?

Sie möchte Gewißheit haben. Sie will weder auf die Anerkennung durch die Föderation noch auf die Fortführung der Untersuchung verzichten! Sie beschließt, Nr. 801 loszuschicken, ihre beste und scharfsinnigste Kriegerin. Um der jungen Soldatin sämtliche Trümpfe in die Hand zu geben, nimmt die Königin einen Gedankenaustausch mit ihr vor, so daß jene ebensoviel über das Geheimnis weiß wie sie selbst. Nr. 801 wird:

Chli-pu-kans Auge, das sieht Chli-pu-kans Antenne, die fühlt Chli-pu-kans Kralle, die zuschlägt.

Die alte Dame hatte einen Rucksack bis zum Rand mit Lebensmitteln und Getränken, darunter drei Thermosflaschen mit heißem Kräutertee, vollgestopft. Bloß nicht den gleichen Fehler machen wie dieser Fiesling Leduc, der schnell wieder zurückkommen mußte, weil er den Faktor Nahrung vernachlässigt hat ... Andererseits, hätte er jemals das Kodewort erraten? Augusta hatte ihre Zweifel.

Jason Bragel hatte unter anderem eine Tränengasgranate, ein dickes Modell, und drei Gasmasken besorgt; Daniel Rosenfeld hatte seinerseits einen Fotoapparat mit Blitzlicht mitgenommen, das Neueste, was es auf dem Markt gab.

Inzwischen kreisten sie durch das steinerne Karussell. Wie all ihre Vorgänger rief der Abstieg auch in ihnen Erinnerungen, fast vergessene Gedanken wach. Kindheit, erster Schmerz. Fehler und Irrtümer, enttäuschte Liebe, Egoismus, Stolz, Gewissensbisse ...

Ihre Körper bewegten sich mechanisch, fern jeder Müdigkeit. Sie drangen in das Fleisch des Planeten, in ihre Vergangenheit vor. Ah, wie lang war das Leben, und wie vernichtend konnte es sein, viel eher vernichtend als schöpferisch ...

Endlich gelangten sie an eine Tür. Eine Tür mit einer Inschrift:

Im Augenblick des Todes befällt die Seele die gleiche Empfindung wie jene, die in das große Mysterium eingeweiht sind.

Zunächst ist alles eine beschwerliche Reise, eine beunruhigende, endlose Fahrt durch die Finsternis.

Dann, kurz vor dem Ende, ist der Schrecken am größten. Schaudern, Zittern, kalter Schweiß, Entsetzen.

Dieser Phase folgt fast unmittelbar ein Aufstieg zum Licht, eine jähe Erleuchtung.

Ein wundervoller Lichtschein zieht den Blick auf sich, man durchquert Plätze und Weiden von unübertroffener Reinheit, auf denen Stimmen und Musik erklingen.

Heilige Worte flößen religiösen Respekt ein. Der vollkommene und eingeweihte Mensch wird frei, und er feiert das Mysterium.

Daniel macht ein Foto.

»Ich kenne diesen Text«, behauptet Jason. »Er ist von Plutarch.«

»Ein hübscher Text, wahrhaftig.«

»Jagt Ihnen das keine Angst ein?« fragt Augusta.

»Doch, aber das ist Absicht. Außerdem heißt es, daß auf den Schrecken die Erleuchtung folgt. Also, gehen wir schrittweise vor. Wenn ein wenig Schrecken vonnöten ist, lassen wir uns eben erschrecken.«

»Genau, die Ratten ...«

Es war, als hätte es gereicht, sie zu erwähnen. Sie waren da. Die drei Forscher spürten ihre unauffällige Gegenwart, spürten sie an dem Leder ihrer Schaftstiefel. Daniel drückte erneut auf den Auslöser. Das Blitzlicht offenbarte das abstoßende Bild eines ganzen Teppichs aus grauen Kugeln und schwarzen Ohren. Jason verteilte hastig die Masken, bevor er großzügig sein Tränengas versprühte. Die Nager brauchten keine zweite Aufforderung .

Der Abstieg ging weiter, und zwar noch lange.

»Wie wäre es mit einem kleinen Picknick, meine Herren?« schlug Augusta vor.

Also picknickten sie. Der Zwischenfall mit den Ratten schien vergessen, alle drei waren bester Laune. Da es ein wenig kalt war, beendeten sie ihren Imbiß mit einem tüchtigen Schluck Schnaps und einem guten brühwarmen Kaffee. Kräutertee gab es normalerweise nur am Nachmittag.

Sie müssen lange graben, bis sie in eine Zone gelangen, wo die Erde locker ist. Endlich dringt, einem Sehrohr gleich, ein Antennenpaar an die Oberfläche; unbekannte Gerüche überschwemmen es.

Die Luft ist rein. Sie sind auf der anderen Seite des Randes der Welt. Immer noch keine Mauer aus Wasser. Aber eine Welt, die wahrlich in nichts der anderen gleicht. Im Vordergrund sind noch einige Bäume und Grasflecken zu erkennen, aber dahinter erstreckt sich eine graue, harte, glatte Wüste. Kein einziger Ameisen- oder Termitenhügel in Sicht.

Sie riskieren einige Schritte. Aber um sie herum prasseln riesige schwarze Dinge auf den Boden. Ein wenig wie die Wächter, nur daß diese Dinge hier mehr aufs Geratewohl niedergehen.

Und das ist nicht alles. In der Ferne erhebt sich ein gigantischer Monolith, so hoch, daß ihre Antennen seine Spitze nicht wahrnehmen. Er verdunkelt den Himmel, er erdrückt die Erde.

Das muß die Mauer des Endes der Welt sein, und dahinter ist das Wasser, denkt Nr. 103 683.

Sie rücken noch ein wenig weiter vor, um plötzlich und unverhofft einer Gruppe von Schaben gegenüberzustehen, die sich an einer Stelle zusammendrängen. Durch ihren durchsichtigen Panzer sind sämtliche Eingeweide, sämtliche Organe und sogar das Blut zu erkennen, das durch die Adern strömt! Grauenhaft! Drei der Blattschneiderinnen treten den Rückzug an und werden von einem herab stürzenden Teil erschlagen.

Nr. 103 683 und ihre drei letzten Gefährtinnen beschließen trotz allem, weiterzugehen. An porösen kleinen Mauern vorbei halten sie weiter auf den unendlich hohen Monolithen zu. Plötzlich geraten sie in eine noch verwirrendere Gegend. Der Boden ist rot und hat eine körnige Oberfläche wie eine Erdbeere. Sie entdecken eine Art Brunnen und wollen gerade hinabsteigen, um ein wenig Schatten zu finden, als plötzlich eine schwere weiße Kugel von mindestens zehn Kopf Durchmesser am Himmel auftaucht, auf dem Boden aufprallt und sie verfolgt. Sie werfen sich in den Brunnen ... und haben gerade noch Zeit, sich gegen die Wand zu drücken, bevor die Kugel auf den Grund prallt.

Zu Tode erschrocken steigen sie wieder hinaus und laufen los. Der Boden ringsum ist blau, grün oder gelb, und überall sind diese Brunnen und diese weißen Kugeln, die einen verfolgen. Diesmal haben sie genug, jeder noch so große Mut hat seine Grenzen. Diese Welt ist viel zu anders, als daß man sie ertragen könnte.

Und so fliehen sie Hals über Kopf, stürzen in den unterirdischen Gang und kehren schleunigst in die normale Welt zurück.


Zivilisation (Fortsetzung): Ein anderer großer Aufeinanderprall von Zivilisationen: die Begegnung von Okzident und Orient.

Die Annalen des Chinesischen Reichs berichten (um das Jahr 115 unserer Zeitrechnung) von der Ankunft eines Schiffes wahrscheinlich römischen Ursprungs, das vom Sturm gebeutelt worden war und nach tagelangem Herumtreiben an der chinesischen Küste strandete.

Nun, die Passagiere waren Akrobaten und Gaukler, die, kaum auf festem Boden, das Wohlwollen der Bewohner dieses unbekannten Landes gewinnen wollten, indem sie ihnen eine Vorstellung gaben. Die Chinesen sperrten Mund und Augen auf, als sie diese Fremden mit den langen Nasen sahen, die Feuer spien, ihre Gliedmaßen verknoteten, Frösche in Schlangen verwandelten usw.

Mit Fug und Recht schlossen sie daraus, daß der Westen mit Clowns und Feuerschluckern bevölkert war. Und es vergingen Jahrhunderte, bis sich die Gelegenheit bot, diesen Irrtum aufzuklären.

Edmond Wells

Enzyklopädie des absoluten und relativen Wissens


Endlich standen sie vor Jonathans Mauer. Wie bildet man vier Dreiecke aus sechs Streichhölzern? Daniel versäumte nicht, ein Foto zu schießen. Augusta tippte das Wort »Pyramide«, und die Mauer glitt langsam zur Seite. Augusta war stolz auf ihren Enkel.

Sie gingen hindurch, und bald darauf hörten sie, daß sich die Mauer wieder zurückschob. Jason beleuchtete die Wände; überall Felsen, aber nicht mehr derselbe wie vorhin. Vor der Mauer war er rot, jetzt gelb, schwefelgeädert.

Die Luft jedoch blieb erträglich. Sie glaubten sogar einen leichten Luftzug zu spüren. Hatte Professor Leduc recht? Mündete dieser Tunnel in den Wald von Fontainebleau?

Plötzlich stießen sie auf eine weitere Horde von Ratten, die viel aggressiver waren als die, denen sie zuvor begegnet waren. Jason verstand, was da vorging, hatte jedoch keine Zeit, es den anderen zu erklären: Sie mußten die Masken wieder aufsetzen und Gas versprühen. Jedesmal, wenn sich die Mauer öffnete, was sicher nicht oft vorgekommen war, wechselten Ratten auf Nahrungssuche aus der »roten« in die »gelbe Zone« über. Aber während die in der roten Zone noch einigermaßen zurechtkamen, hatten die anderen - die Auswanderer - nichts Nahrhaftes gefunden und begonnen, sich gegenseitig aufzufressen.

Und Jason und seine Freunde waren nun an die Überlebenden geraten, mit anderen Worten, an die Wildesten. Bei ihnen erwies sich das Tränengas glattweg als unwirksam. Sie griffen an! Sie sprangen hoch, versuchten, sich an die Arme zu krallen.

Daniel, am Rande der Hysterie, schoß eine grelle Blitzlichtsalve ab, doch diese grausigen Biester wogen mehrere Kilo und hatten keine Angst vor Menschen. Die ersten Verletzungen waren zu sehen. Jason zog sein Fahrtenmesser, erstach zwei Ratten und warf sie den anderen zum Fraß vor. Augusta feuerte mehrere Schüsse mit einem kleinen Revolver ab ... Auf diese Weise gelang es ihnen, Reißaus zu nehmen. Gerade noch rechtzeitig!


als ich klein war: Als ich klein war, blieb ich stundenlang auf der Erde liegen und betrachtete die Ameisenhaufen. Das erschien mir »wirklicher« als das Fernsehen.

Zu den Rätseln, die mir ein Ameisenhaufen bot, gehörte jenes: Warum brachten sie nach den Verwüstungen, die ich anrichtete, manche der Verletzten zurück und ließen die anderen sterben? Alle waren von der gleichen Größe ... Nach welchen Auswahlkriterien wurde ein Individuum für interessant erachtet und ein anderes für belanglos?

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Sie liefen durch den gelbgeäderten Tunnel.

Schließlich gelangten sie vor ein Stahlgitter. Eine Öffnung in der Mitte verlieh ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Reuse. Das Ganze bildete einen Kegel, der sich so sehr verengte, daß ein mittelschwerer menschlicher Körper hindurchpaßte, ohne jedoch, aufgrund der Spitzen am Ende des Kegels, wieder umkehren zu können.

»Das ist eine neuere Arbeit ...«

»Hmm, sieht aus, als wünschten diejenigen, die diese Tür und diesen Trichter angefertigt haben, nicht, daß jemand zurückkehrt .«

Augusta erkannte erneut das Werk Jonathans, des Meisters der Türen und Metalle.

»Sehen Sie!«

Daniel richtete seine Lampe auf eine Inschrift:

Hier endet das Bewußtsein

Wollen Sie in das Unbewußte zurückkehren?

Sie standen mit offenem Mund da.

»Was sollen wir tun?«

Alle dachten dasselbe.

»Jetzt sind wir schon so weit gelangt, da wäre es schade aufzugeben. Ich schlage vor, wir machen weiter!«

»Ich gehe als erster«, meinte Daniel und schob seinen Pferdeschwanz in seinen Kragen, damit er nicht hängenblieb.

Einer nach dem andern krochen sie durch die stählerne Reuse.

»Komisch«, sagte Augusta. »ich hab das Gefühl, als hätte ich eine solche Erfahrung schon einmal gehabt.«

»Sie waren schon einmal in einer engen Reuse, die einem die Möglichkeit nimmt, wieder umzukehren?«

»Ja. Das ist sehr lange her.«

»Was heißt für Sie lange her ...?«

»Oh, ich war noch jung, ich glaube, ich war ... ein, zwei Sekunden alt.«

Wieder zurück in ihrer Stadt, erzählen die Blattschneiderinnen von ihren Abenteuern auf der anderen Seite der Welt, dem Land der Ungeheuer und unerklärlichen Erscheinungen. Die Schaben, die schwarzen Platten, der gigantische Monolith, der Brunnen, die weißen Kugeln ... Das ist zuviel! Unmöglich, in einer derart grotesken Welt eine Ansiedlung zu gründen.

Nr. 103 683 bleibt in einer Ecke, um neue Kraft zu sammeln. Sie überlegt. Wenn ihre Schwestern ihren Bericht vernehmen, werden sie sämtliche Karten ändern und die Grundlagen ihrer Planetologie überdenken müssen. Sie sagt sich, daß es an der Zeit ist, zur Föderation zurückzukehren.

Seit der Reuse hatten sie bestimmt gut zehn Kilometer zurückgelegt ... Nun ja, woher sollte man das genau wissen, und außerdem machte sich allmählich die Müdigkeit bemerkbar.

Sie kamen zu einem winzigen Bach, der quer durch den Tunnel verlief und dessen Wasser ungewöhnlich warm und schwefelhaltig war.

Daniel blieb abrupt stehen. Ihm war, als hätte er Ameisen gesehen, die sich, Flößern gleich, auf einem Blatt von der Strömung treiben ließen! Er nahm sich zusammen; wahrscheinlich die Ausdünstungen des Schwefelstaubs, die ihm »Hirngespinste« einjagten ...

Ein paar hundert Meter weiter trat Jason auf einen knackenden Gegenstand. Er richtete seine Lampe darauf. Der Brustkorb eines Skeletts! Er stieß einen gellenden Schrei aus. Daniel und Augusta ließen ihre Taschenlampen umherschweifen und entdeckten zwei weitere Skelette, eines davon hatte die Größe eines Kindes. Konnte es sein, daß das Jonathan und seine Familie waren?

Sie machten sich wieder auf den Weg, und schon bald waren sie gezwungen zu rennen: Ein lautes Rascheln verriet, daß sich die Ratten wieder näherten. Das Gelb der Wände schlug in Weiß um. Kalk. Erschöpft gelangten sie endlich ans Ende des Tunnels. An eine Wendeltreppe, die nach oben führte!

Augusta feuerte ihre beiden letzten Kugeln auf die Ratten ab, dann stürmten sie die Treppe hinauf. Jason war noch geistesgegenwärtig genug, um zu bemerken, daß sie andersherum gebaut war als die erste, das heißt, daß Auf- und Abstieg jeweils im Uhrzeigersinn verliefen.

Die Nachricht erregt Aufsehen. Eine Belokanerin ist in der Stadt aufgekreuzt. Ringsum heißt es nur, das müsse eine Abgesandte der Föderation sein, die gekommen ist, um den offiziellen Anschluß von Chli-pu-kan als fünfundsechzigste Stadt zu verkünden.

Chli-pu-ni ist nicht so optimistisch wie ihre Töchter. Sie mißtraut dieser Besucherin. Wenn es nun eine der Kriegerinnen mit dem Felsenduft ist, von Bel-o-kan ausgesandt, um die Stadt der aufrührerischen Königin zu infiltrieren?

Wie ist sie?

Sie ist vor allem sehr müde! Sie muß von Bel-o-kan aus in einem fort gelaufen sein, um die Strecke in mehreren Tagen zu schaffen.

Hirtinnen hätten sie entdeckt, als sie erschöpft durch die Gegend irrte. Sie habe bislang noch nichts geäußert, man habe sie direkt in den Saal der nahrungsspeichernden Ameisen geführt, damit sie wieder zu Kräften komme.

Bringt sie her, ich werde allein mit ihr sprechen, aber ich will, daß Wachen am Eingang des königlichen Gemachs bleiben, um auf ein Zeichen von mir einzugreifen.

Chli-pu-ni hat sich immer gewünscht. Nachrichten aus ihrer Geburtsstadt zu erhalten, aber jetzt, da eine Repräsentantin von dort auftaucht, geht ihr als erstes durch den Kopf, diese als Spionin zu betrachten und zu töten. Sie will abwarten, bis sie sie vor sich hat, aber wenn die Abgesandte nur das geringste Molekül von Felsengeruch aufweist, wird sie sie ohne Zögern umbringen lassen.

Die Belokanerin wird hereingeführt. Kaum erkennen die beiden einander, springen sie mit weitgeöffneten Mandibeln aufeinander zu und nehmen ... eine höchst intensive Trophallaxie vor. Ihre Erregung ist so stark, daß es ihnen nicht sofort gelingt, sich zu äußern.

Chli-pu-ni stößt das erste Pheromon aus.

Wie weit ist die Untersuchung gediehen? Sind es die Termiten?

Nr. 103 683 erzählt, daß sie den Fluß des Ostens überquert und die Termitenstadt besucht hat, daß jene zerstört wurde und es keine Überlebenden gegeben hat.

Und? Wer steckt hinter all dem?

Die wahren Urheber all dieser unbegreiflichen Ereignisse sind nach Meinung der Kriegerin die Wächter des östlichen Randes der Welt. Äußerst seltsame Tiere, die man weder sieht noch riecht. Sie tauchen urplötzlich am Himmel auf, und alles stirbt!

Chli-pu-ni hört aufmerksam zu. Eines jedoch, fügt Nr. 103 683 hinzu, bleibt unerklärlich: Wie haben es die Wächter des Randes der Welt geschafft, die Soldatinnen mit dem Felsengeruch für ihre Zwecke einzuspannen?

Chli-pu-ni hat da ihre eigene Vorstellung. Sie erzählt, daß die Soldatinnen mit dem Felsengeruch weder Spioninnen noch Söldnerinnen seien, sondern eine geheime Einheit mit dem Auftrag, das Streßniveau des Staatswesens zu überwachen. Sie unterdrücken jedwede Information, die die Stadt ängstigen könnte ... Sie berichtet, wie diese Killerinnen Nr. 327 ermordet und den Versuch unternommen haben, auch sie selbst zu töten.

Und die Nahrungsvorräte unten dem Felsen? Und der Gang in dem Granit?

Darauf weiß Chli-pu-ni keine Antwort. Sie hat eben aus diesem Grund Spioninnen ausgesandt, die versuchen werden, dieses doppelte Rätsel zu lösen.

Die junge Königin schlägt ihrer Freundin eine Stadtbesichtigung vor. Unterwegs erklärt sie ihr, welch ungeheure Möglichkeiten das Wasser bietet. Der Fluß des Ostens zum Beispiel werde seit jeher als tödlich angesehen, dabei sei das nur Wasser, sie selbst sei hineingefallen und keineswegs daran gestorben. Vielleicht könne man diesen Fluß eines Tages auf Blätterflößen hinabfahren und so den nördlichen Rand der Welt entdecken . Chli-pu-ni gerät ins Schwärmen: Sicher gebe es auch am nördlichen Ende Wächter, und vielleicht könnte man sie dazu anstacheln, gegen die des östlichen Endes zu kämpfen.

Nr. 103 683 merkt, daß Chli-pu-ni vor kühnen Projekten strotzt. Nicht alle scheinen realisierbar, aber was bereits in die Tat umgesetzt wurde, ist beeindruckend: Noch nie hat die Soldatin so weite Pilzkulturen oder Stallungen gesehen, noch nie hat sie Flöße gesehen, die auf unterirdischen Kanälen treiben ...

Aber am meisten überrascht sie das letzte Pheromon der Königin.

Wenn ihre Abgesandten binnen vierzehn Tagen nicht zurück seien, beteuert sie, werde sie Bel-o-kan den Krieg erklären. Sie glaubt, daß ihre Geburtsstadt dieser Welt nicht mehr angepaßt ist. Die bloße Existenz der Kriegerinnen mit dem Felsenduft zeigt, daß Bel-o-kan eine Stadt ist, die sich der Wirklichkeit nicht mehr offen stellt. Eine fröstelnde Stadt, wie eine Schnecke. Einst war sie revolutionär, jetzt ist sie überholt. Sie muß abgelöst werden. Chli-pu-ni ist der Ansicht, daß sich die Föderation rasch entwickeln wird, wenn sie sich an die Spitze setzt. Gemeinsam mit den anderen vierundsechzig Städten müßten ihre Initiativen beträchtliche Ergebnisse zeitigen. Sie gedenkt bereits, die Wasserläufe zu erobern und eine fliegende Legion aufzustellen, die sich der Nashornkäfer bedient.

Nr. 103 683 zögert. Sie hatte vor. Bel-o-kan aufzusuchen und dort über ihre Odyssee zu berichten, aber Chli-pu-ni bittet sie, auf ihr Vorhaben zu verzichten.

Bel-o-kan hat eine Armee aufgestellt, »um nichts zu erfahren«. Zwinge die Stadt nicht dazu, etwas zu erkennen, was sie nicht erkennen will.

Das obere Ende der Wendeltreppe ist durch einige Stufen aus Aluminium verlängert. Die stammen bestimmt nicht aus der Renaissance! Die drei gelangen zu einer weißen Tür. Wieder


Und ich kam zu einer Mauer, die aus Kristallen bestand und von Feuerzungen umgeben war. Und das machte mir langsam angst.

Dann schritt ich durch die Feuerzungen bis zu einem großen Haus, das aus Kristallen errichtet war.

Und die Mauern des Hauses waren wie eine Flut von schachbrettartigen Kristallen, und seine Fundamente waren aus Kristall.

Seine Decke war wie die Bahn der Sterne.

Und zwischen ihnen waren Feuersymbole.

Und der Himmel war klar wie Wasser. (Enoch, I)


Sie stoßen die Tür auf, steigen einen sehr steilen Gang hinauf. Plötzlich gibt der Boden unter ihren Füßen nach - eine Falltür! Ihr Fall ist lang, so lang ... daß sie die Angst verlieren, sie haben das Gefühl zu fliegen. Sie fliegen!

Ihr Sturz wird von einem Trapezkünstlernetz aufgefangen, ein riesiges Netz mit engen Maschen. Auf allen vieren tasten sie durch die Dunkelheit. Jason Bragel ortet eine weitere Tür -diesmal jedoch nicht mit einem Kode, sondern mit einer schlichten Klinke. Leise ruft er seine Begleiter. Dann öffnet er.


greis: In Afrika betrauert man eher den Tod eines alten Mannes als den eines Neugeborenen. Der Greis bedeutete eine Menge von Erfahrungen, von denen der Rest des Stammes profitieren konnte, während das Neugeborene, das nicht gelebt hat, sich seines Todes nicht einmal bewußt ist.

In Europa trauert man um das Neugeborene, weil man sich sagt, daß es bestimmt wunderbare Dinge hätte vollbringen können, wenn es gelebt

hätte. Dem Tod eines Greises hingegen schenkt man wenig Aufmerksamkeit. Er hat auf jeden Fall sein Leben gelebt.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Der Ort ist in ein bläuliches Licht getaucht.

Eine Kirche, eine Art Tempel ohne ein einziges Bild, ohne eine einzige Statue. Augusta muß an die Worte von Professor Leduc denken. Bestimmt haben sich die Protestanten früher hierher zurückgezogen, wenn die Verfolgungen zu gnadenlos wurden.

Der Saal unter dem steinernen Gewölbe ist quadratisch, geräumig, wunderschön. In der Mitte steht als einziges dekoratives Element eine alte Orgel. Davor ein Notenpult, auf dem ein dicker Aktendeckel liegt.

Die Wände sind voller Inschriften, von denen viele, selbst für den Blick eines Laien, eher der Schwarzen als der Weißen Magie nahezustehen scheinen. Leduc hatte recht, die Sekten müssen in diesem unterirdischen Schlupfwinkel einander abgelöst haben. Und früher dürfte es hier keine verschiebbare Wand, keinen Trichter und keine Falltür mit Netz gegeben haben.

Sie hören ein Plätschern wie von fließendem Wasser. Die Ursache sehen sie nicht sofort. Das bläuliche Licht kommt von rechts. Dort befindet sich eine Art Laboratorium mit Computern und Reagenzgläsern. Sämtliche Geräte sind eingeschaltet, und die Bildschirme der Computer erzeugen diesen bläulichen Schimmer, der den Tempel erhellt.

»Das macht euch stutzig, was?«

Sie schauen sich an. Keiner von ihnen hat ein Wort gesagt. Oben an der Decke leuchtet eine Lampe auf.

Sie drehen sich um. Jonathan Wells kommt in einem weißen Bademantel auf sie zu. Er ist durch eine Tür hinter dem Laboratorium in den Tempel eingetreten.

»Guten Tag. Großmutter Augusta! Guten Tag, Jason Bragel! Guten Tag. Daniel Rosenfeld!«

Keiner Antwort fähig, sperren die drei Augen und Ohren auf. Er ist also nicht tot! Er hat hier unten gelebt! Wie kann man hier leben? Sie wissen nicht, was sie zuerst fragen sollen ...

»Willkommen in unserer kleinen Gemeinschaft!«

»Wo sind wir?«

»Ihr seid hier in einer zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Androuet Du Cerceau gebauten protestantischen Kirche. Androuet ist durch den Bau des Hotel Sully in der Rue Saint-Antoine in Paris berühmt geworden, aber ich finde, diese unterirdische Kirche ist sein Meisterwerk. Kilometerlange, in den Stein gehauene Tunnel. Ihr habt bemerkt, auf der ganzen Strecke ist genügend Luft zum Atmen. Er muß Luftschächte angebracht haben, oder er hat es verstanden, die Luftansammlungen in den natürlichen Stollen zu nutzen. Wir sind nicht einmal in der Lage, zu verstehen, wie er das angestellt hat. Sicher sind euch auch die Bäche aufgefallen, die einige Abschnitte des Tunnels durchlaufen. Seht mal, einer davon kommt genau hier heraus.«

Er deutet auf die Ursache des unentwegten Plätscherns, einen mit Skulpturen verzierten Springbrunnen hinter der Orgel.

»Im Laufe der Zeit haben sich viele Leute hierher zurückgezogen, um den Frieden und die Ausgeglichenheit für so manche Dinge zu finden, die ... sagen wir: viel Aufmerksamkeit erforderten. Onkel Edmond hat in einem alten obskuren Schriftstück von der Existenz dieses Schlupfwinkels erfahren, und genau hier hat er gearbeitet.«

Jonathan tritt noch näher; eine seltene Sanftmut und Unbekümmertheit gehen von ihm aus. Augusta ist völlig baff.

»Aber ihr seid sicher erschöpft. Folgt mir.«

Er stößt die Tür auf, durch die er erschienen ist, und führt sie in einen Raum, in dem mehrere Liegesofas kreisförmig angeordnet sind.

»Lucie«, ruft er, »wir haben Besuch!«

»Lucie? Ist sie auch hier?« ruft Augusta erfreut aus.

»Hmm, wie viele seid ihr denn hier?« fragt Daniel.

»Bislang waren wir achtzehn: Lucie, Nicolas, die acht Feuerwehrleute, der Inspektor, die fünf Gendarmen, der Kommissar und ich. Kurzum, sämtliche Leute, die sich die Mühe gemacht haben, hinabzusteigen. Ihr werdet sie bald sehen. Entschuldigt, aber für unsere Gemeinschaft ist es jetzt vier Uhr morgens, und da schlafen alle. Ich bin der einzige, der von eurer Ankunft geweckt wurde. Was habt ihr nur für einen Radau in den Gängen veranstaltet, sagt mal ...«

Lucie erscheint, ebenfalls in einen Bademantel gehüllt.

»Guten Tag!«

Sie tritt lächelnd näher und küßt sie alle drei. Hinter ihr schieben Gestalten im Pyjama den Kopf durch die Öffnung einer Tür, um die »Neuankömmlinge« zu betrachten.

Jonathan holt Gläser und eine große Karaffe, die er mit dem Wasser aus dem Brunnen füllt.

»Wir lassen euch einen Moment allein, um uns anzuziehen und alles vorzubereiten. Wir empfangen nämlich alle Neuen mit einer kleinen Feier, aber daß ihr mitten in der Nacht auftauchen würdet, wußten wir nicht ... Bis gleich!«

Augusta, Jason und Daniel rühren sich nicht. Das Ganze ist einfach unglaublich. Daniel kneift sich plötzlich in den Unterarm. Augusta und Jason finden diese Idee ausgezeichnet und machen es ihm nach. Aber nein, die Wirklichkeit übertrifft den Traum manchmal um Längen. Köstlich verwirrt, schauen sie sich an und beginnen zu lächeln.

Einige Minuten später sind alle versammelt. Sie sitzen auf den Sofas. Augusta, Jason und Daniel haben inzwischen ihre Fassung wiedergewonnen und sind jetzt vor allem neugierig.

»Ihr habt vorhin von Luftschächten gesprochen. Sind wir hier tief unter der Erde?«

»Nein, höchstens drei, vier Meter.«

»Dann können wir also von hier aus wieder ins Freie gelangen?«

»Nein, nein. Jean Androuet Du Cerceau hat seine Kirche genau unter einem flachen Felsen von absoluter Härte gebaut -unter einem Granitblock!«

»Der jedoch ein Loch von der Größe eines Arms hat«, ergänzt Lucie. »Diese Öffnung diente ebenfalls zur Ventilation.«

»Diente?«

»Ja, jetzt wird dieser Durchbruch zu anderen Zwecken genutzt. Das ist nicht weiter schlimm, es gibt andere, seitliche Luftschächte. Ihr merkt, man erstickt hier keineswegs ...«

»Man kommt also nicht heraus?«

»Nein. Jedenfalls nicht nach oben.«

Jason wirkt ziemlich besorgt.

»Aber Jonathan, weshalb hast du dann diese Mauer, diese Reuse, diese Falltür, dieses Netz angebracht . ? Wir sitzen hier ja vollkommen fest!«

»Eben, das ist so beabsichtigt. Das hat mich einiges an Zeit und Aufwand gekostet. Aber es war unumgänglich. Als ich zum erstenmal in diese Kirche kam, habe ich dieses Notenpult entdeckt. Außer der Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens fand ich darauf einen Brief meines Onkels an mich. Hier ist er.«

Lieber Jonathan,

Du hast dich trotz meiner Warnungen entschlossen, in den Keller hinabzusteigen. Du bist also mutiger, als ich dachte. Bravo. Die Aussicht, daß du es schaffen würdest, war meines Erachtens nicht größer als eins zu fünf. Deine Mutter hat mir von deiner krankhaften Angst vor der Dunkelheit erzählt.

Wenn du jetzt hier bist, dann heißt das, daß es dir (unter anderem) gelungen ist, dieses Hindernis zu überwinden, und daß deine Willenskraft stärker geworden ist. Wir werden sie brauchen.

Du findest in diesem Aktendeckel die Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, die an dem Tag, da ich diese Worte schreibe, genau 288 Kapital umfaßt, in denen von meiner Arbeit die Rede ist. Ich möchte, daß du sie fortführst, es lohnt sich.

Den Schwerpunkt dieser Forschungen bildet die Ameisenzivilisation. Nun, du wirst es lesen und wirst es verstehen. Aber vorab habe ich eine sehr wichtige Bitte an dich. Daß du jetzt diesen Brief liest, bedeutet auch, daß ich keine Zeit hatte. Vorrichtungen anzubringen, um mein Geheimnis zu schützen (wäre ich dazu gekommen, hättest du einen anderen Brief vorgefunden).

Ich bitte dich, sie zu konstruieren. Ich habe bereits ein paar Skizzen angefertigt, aber ich denke, du wirst diese Anregungen aufgrund deiner eigenen Kenntnisse verbessern können. Das Ziel dieser Vorrichtungen ist einfach. Es geht darum, daß man einerseits nicht so leicht in meine Höhle vordringen kann, andererseits jedoch diejenigen, denen es gelingt, nie wieder zurückkehren, um zu erzählen, was sie entdeckt haben.

Ich hoffe, du bringst das zustande, und ich hoffe auch, daß dir dieser Ort den gleichen »Reichtum« verschaffen wird, den er mir gegeben hat.

Edmond

»Jonathan hat sich darauf eingelassen«, erklärt Lucie. »Er hat sämtliche Fallen gebaut, die Edmond geplant hat, und Sie haben feststellen können, daß sie zuschnappen.«

»Und die Leichen? Sind das Leute, die sich von den Ratten haben erwischen lassen?«

»Nein.« Jonathan lächelt. »Ich kann euch versichern, daß es in diesen unterirdischen Gängen keine Toten mehr gegeben hat, seit sich Edmond hier niedergelassen hat. Die Leichen, die ihr gesehen habt, liegen mindestens fünfzig Jahre dort. Wer weiß, welche Dramen sich früher hier abgespielt haben. Irgendeine Sekte ...«

»Dann kommen wir hier also nie mehr raus?« erkundigte sich Jason beunruhigt.

»Nie mehr.«

»Man müßte das Loch oberhalb des Netzes erreichen (in acht Meter Höhe!), die Reuse in umgekehrter Richtung passieren, was unmöglich ist (und irgendwelches Gerät, um sie einzuschmelzen, haben wir nicht), zudem die Mauer überwinden, wobei Jonathan auf dieser Seite keinerlei Vorrichtung angebracht hat, sie zu öffnen ...«

»Von den Ratten ganz zu schweigen .«

»Wie hast du es geschafft, da unten Ratten anzusiedeln?« fragte Daniel.

»Das war Edmonds Idee. Er hat ein besonders dickes und aggressives Paar rattus norvegicus in einem Felsspalt ausgesetzt und einen großen Nahrungsvorrat hinterlassen. Er wußte, daß das eine Zeitbombe war. Ratten vermehren sich, wenn sie wohlgenährt sind, mit rasender Geschwindigkeit. Sechs Junge pro Monat, die ihrerseits nach zwei Wochen zeugungsfähig sind ... Um sich vor ihnen zu schützen, benutzte er ein Spray mit einem aggressiven Pheromon, das diese Nager abschreckt.«

»Dann haben also die Ratten Ouarzazate getötet?« fragte Augusta.

»Ja, leider. Und Jonathan hatte nicht vorausgesehen, daß die Ratten, die auf die andere Seite der >Pyramiden-Mauer< gelangen, noch wilder wurden.«

»Ein Kollege von uns, der schon immer eine fürchterliche Angst vor Ratten hatte, ist völlig ausgerastet, als ihm eines dieser dicken Viecher ins Gesicht sprang und ihm ein Stück von der Nase abgebissen hat. Er ist auf der Stelle zurückgelaufen, noch ehe die Mauer wieder zuging. Haben Sie oben etwas von ihm gehört?«

»Ich habe munkeln hören, er sei verrückt geworden und sitze inzwischen in einer geschlossenen Anstalt«, antwortete Augusta, »aber das sind Gerüchte.«

Sie steht auf, um sich ein Glas Wasser zu holen, bemerkt jedoch, daß der Tisch voller Ameisen ist. Sie stößt einen Schrei aus und fegt sie unwillkürlich mit dem Handrücken zur Seite. Jonathan springt auf und packt sie am Handgelenk. Sein harter Blick paßt nicht zu der ausgeprägten Heiterkeit, die bislang in der Gruppe geherrscht hat; und das nervöse Zucken seines Mundes, das geheilt schien, ist wieder da.

»Mach das ... nie ... wieder!«

Belo-kiu-kiuni ist allein in ihrer Loge. Geistesabwesend verschlingt sie einige ihrer Eier, ihr Lieblingsessen.

Sie weiß, daß diese sogenannte Nr. 801 keine Botschafterin der neuen Stadt ist. Nr. 56, oder auch Königin Chli-pu-ni, wie sie sich jetzt nennt, hat sie ausgesandt, um weitere Nachforschungen anzustellen.

Sie braucht sich keine Sorgen zu machen, ihre Kriegerinnen mit dem Felsenduft dürften problemlos mit ihr fertigwerden. Die Hinkende vor allem ist ungemein begabt darin, andere von der Last des Lebens zu erlösen - eine wahre Künstlerin!

Dennoch, das ist schon das vierte Mal, daß ihr Chli-pu-ni Abgesandte schickt, die ein wenig neugierig sind. Die ersten wurden getötet, noch bevor sie den Saal mit der Droge fanden. Die zweite und die dritte Gruppe sind den Halluzinationen hervorrufenden Substanzen des vergifteten Koleopters zum Opfer gefallen.

Diese Nr. 801 nun ist offenbar unmittelbar nach ihrer Unterredung mit ihr, der Königin, hinabgestiegen. Wahrhaftig, sie haben es immer eiliger, zu sterben! Andererseits dringen sie mit jedem Mal tiefer in die Stadt ein. Und wenn eine von ihnen trotz allem den Weg findet? Wenn sie das Geheimnis entdeckt? Und womöglich den Duft davon verbreitet .?

Eine der Kriegerinnen mit dem Felsengeruch stürmt hinein. Die Spionin hat es geschafft, an der Droge vorbeizukommen! Sie ist unten!

Nun denn, das mußte ja so kommen .


666 ist der Name des Tieres (Die Offenbarung des Johannes). Aber wer ist für wen das Tier?

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Jonathan läßt das Handgelenk seiner Großmutter los. Damit keine Verlegenheit aufkommt, schlägt Daniel ein anderes Thema an.

»Und dieses Labor am Eingang, wozu dient das?«

»Das ist der Stein des Weisen! All unsere Anstrengungen dienen nur dem einen Ziel: mit ihnen in Verbindung zu stehen!«

»Mit ihnen .? Mit wem?«

»Mit ihnen: den Ameisen. Folgt mir.«

Sie verlassen den Raum in Richtung Laboratorium. Jonathan, der sich in seiner Rolle als Nachfolger Edmonds sichtlich wohl fühlt, nimmt ein mit Ameisen gefülltes Reagenzglas vom Labortisch und hält es in Augenhöhe.

»Schaut her, das sind Geschöpfe. Und zwar vollwertige Geschöpfe, keine kleinen, unbedeutenden Insekten. Und das, das hat mein Onkel sofort begriffen ... Die Ameisen bilden die zweite große Zivilisation auf der Erde. Und Edmond ist eine Art Kolumbus, der zwischen unseren Zehen einen anderen Kontinent entdeckt hat. Er hat als erster erfaßt, daß man, bevor man außerirdische Wesen in den letzten Winkeln des Weltalls sucht, erst einmal Kontakt mit den ... innerirdischen aufnehmen sollte.«

Niemand sagt einen Ton. Augusta erinnert sich. Eines Tages. Jonathan war noch gar nicht auf der Welt, ist sie durch den Wald von Fontainebleau spaziert, und plötzlich hat sie gespürt, wie unter ihren Sohlen Scharen von winzig kleinen Tierchen knackten. Sie war auf eine Gruppe von Ameisen getreten. Sie hatte sich hinabgebeugt. Sie waren allesamt tot, aber eines blieb rätselhaft. Sie hatten sich so ausgerichtet, daß sie einen Pfeil mit nach innen gekehrter Spitze bildeten ...

Jonathan hat das Reagenzglas abgestellt. Er nimmt seine Rede wieder auf: »Nach seiner Rückkehr aus Afrika hat Edmond dieses Gebäude, den Keller, schließlich die Kirche entdeckt. Das war der ideale Ort, hier hat er sein Labor eingerichtet ... Der erste Schritt seiner Forschungen bestand darin, die Pheromonensprache der Ameisen zu entschlüsseln. Diese Maschine hier ist ein Massenspektrometer. Wie der Name sagt, zeigt es ein Spektrum einer Masse, es zerlegt jede Materie, indem es die Atome aufzählt, aus denen sie zusammengesetzt ist ... Ich habe die Aufzeichnungen meines Onkels gelesen. Am Anfang setzte er seine Versuchstierchen unter eine Glasglocke, die über ein Saugrohr mit dem Massenspektrometer verbunden war. Dann brachte er eine Ameise mit einem Stück Apfel in Berührung, diese traf eine andere Ameise und teilte ihr unweigerlich mit >Da drüben gibt es Apfelc. Nun ja, das war die Ausgangshypothese. Er saugte die ausgeschiedenen Pheromone an, entschlüsselte sie und gelangte zu einer chemischen Formel ... >Im Norden gibt es Apfel< heißt zum Beispiel: >Methyl4 Methylpyrrol2 Carboxylatc. Die Mengen sind verschwindend gering, in der Größenordnung von 2 bis 3 Pikogramm (10-12 g) pro Satz ... Aber das reichte. Auf diese Weise wußte er >Apfel< und >im Norden< zu sagen. Er setzte das Experiment mit einer Vielzahl von Gegenständen, Lebensmitteln oder Situationen fort. So erhielt er ein richtiges Wörterbuch der Ameisensprache. Nachdem er zunächst nur den Namen von gut hundert Früchten, rund dreißig Blumen und einem Dutzend Richtungsangaben erkannt hatte, schaffte er es schließlich, die Pheromone für Alarm, Freude, Vorschlag, Beschreibung und so weiter herauszufinden, und er ist sogar fortpflanzungsfähigen Ameisen begegnet, die ihm beigebracht haben, wie man die >abstrakten Emotionen< des siebten Antennensegments ausdrückt ... Ihnen nur >zuzuhören< reichte jedoch nicht. Er wollte mit ihnen reden, einen richtigen Dialog aufnehmen.«

»Sagenhaft!« entfuhr es Professor Daniel Rosenfeld.

»Er hat angefangen, für jede chemische Formel eine bestimmte akustische Entsprechung in Form von Silben zu finden. Methyl4 Methylpyrrol2 Carboxylat hieß beispielsweise MT4MTP2CX, dann Miticamitipidicixu. Schließlich hat er in den Speicher des Computers eingegeben: Miticamitipi = Apfel; und: dicixu = befindet sich im Norden. Der Computer übersetzt in beide Richtungen. Wenn er >dicixu< erkennt, übersetzt er es zu >befindet sich im Norden<. Und wenn man >befindet sich im Norden< eintippt, formt er diesen Satz in >dicixu< um, was einen Ausstoß von Carbolyxat durch eine Art Sprechgerät auslöst ...«

»Ein Sprechgerät?«

»Ja, dieser Apparat hier.«

Er deutete auf eine Art Vitrine, die sich aus Tausenden von kleinen Phiolen zusammensetzte, die jeweils in einem kleinen Röhrchen endeten, das wiederum an eine elektrische Pumpe angeschlossen war.

»Die in den Phiolen enthaltenen Atome werden von dieser Pumpe angesaugt, dann in diesen Apparat befördert, der sie sichtet und genau nach der von dem elektronischen Wörterbuch angegebenen Dosierung sortiert.«

»Sagenhaft«, wiederholt Daniel Rosenfeld, »einfach sagenhaft. Ist es ihm wirklich gelungen, Kontakt aufzunehmen?«

»Hmm ... Ich glaube, da lese ich Ihnen am besten seine Aufzeichnungen in der Enzyklopädie vor.«


gesprächsfetzen: Auszug der ersten Unterhaltung mit einer formica ruf a vom Typ Kriegerin.

Mensch: Empfangen Sie mich?

Mensch: Ich sende, empfangen Sie mich?

Ameise: krrrnrrrkrrrkrrrnkrrr. Hilfe.

(Anm.: Die Dosierung wurde mehrfach geändert. Vor allem war der Ausstoß viel zu stark, er hat das Versuchsobjekt erstickt. Der Emissionsschalter muß auf 1 gestellt werden. Der Schalter für den Empfang hingegen muß auf 10 hochgedreht werden, damit kein Molekül verlorengeht.)

Mensch: Empfangen Sie mich?

Ameise: Bugu.

Mensch: Ich sende, empfangen Sie mich?

Ameise: Sgugnu. Hilfe. Ich bin eingeschlossen.

Auszug der dritten Unterhaltung.

(Anm.: Das Vokabular ist diesmal auf achtzig Wörter ausgedehnt worden. Der Ausstoß war immer noch zu stark. Neue Einstellung, der Knopf muß fast auf Null gestellt werden.)

Ameise: Was?

Mensch: Was sagen Sie?

Ameise: Ich verstehe nichts. Hilfe!

Mensch: Reden wir langsamer!

Ameise: Sie senden zu stark! Meine Antennen sind übersättigt. Hilfe! Ich bin eingeschlossen.

Mensch: Und jetzt, geht es so?

Ameise: Nein, wissen Sie denn nicht, wie man sich unterhält?

Mensch: Na ja ...

Ameise: Wer sind Sie?

Mensch: Ich bin ein großes Tier. Ich heiße ED-MOND.

Ameise: Was sagen Sie? Ich verstehe nichts. Hilfe! Zu Hilfe! Ich bin eingeschlossen .!

(Anm.: Fünf Sekunden nach diesem Dialog ist das Versuchsobjekt gestorben. War der Ausstoß immer noch zu stark? Hatte es Angst?)


Jonathan unterbricht seine Lektüre.

»Ihr seht, das ist gar nicht so einfach! Es reicht nicht. Vokabeln zu sammeln, um mit ihnen zu reden. Außerdem funktioniert die Ameisensprache nicht so wie unsere. Es werden nicht nur die eigentlichen Gesprächsemissionen wahrgenommen, sondern auch die Emissionen, die von den anderen elf Antennensegmenten ausgehen. Jene geben die Identität des Individuums an, seine Sorgen, seine Psyche . So etwas wie ein Gesamtbild der geistigen Verfassung, das für das interindividuelle Verständnis unerläßlich ist. Deshalb hat Edmond aufgeben müssen. Ich lese euch seine Notizen vor.


WAS BIN ICH DUMM: Was bin ich dumm!

Selbst wenn es Außerirdische gibt, wären wir nicht in der Lage, sie zu verstehen. Unsere Zeichen wären mit Sicherheit nicht identisch. Wir würden auf sie zugehen und ihnen die Hand reichen, was für sie vielleicht eine Drohgebärde wäre.

Wir vermögen nicht einmal die Japaner mit ihrem rituellen Selbstmord zu verstehen oder die Inder mit ihren Kasten. Wir schaffen es nicht einmal, uns unter Menschen zu verständigen ... Wie konnte ich mir nur einbilden, die Ameisen zu verstehen!


Der Hinterleib von Nr. 801 ist nur noch ein Stumpf. Auch wenn es ihr rechtzeitig gelungen ist, den Drogenkäfer zu töten: der Kampf gegen die Kriegerinnen mit dem Felsenduft hat sie verdammt schrumpfen lassen. Was soll’s, um so besser: Ohne Hinterleib ist sie leichter.

Sie biegt in den breiten Gang ein, der sich durch das Granit zieht. Wie haben Mandibeln einen solchen Tunnel schaffen können?

Weiter unten entdeckt sie, was ihr Chli-pu-ni geschildert hat: einen Saal mit Unmengen von Nahrungsmitteln. Kaum hat sie einige Schritte durch diesen Saal getan, findet sie einen anderen Ausgang. Sie geht hindurch und befindet sich auf einmal in einer Stadt, einer ganzen Stadt mit Felsengeruch! Eine Stadt unter der Stadt.

»Er ist also gescheitert?«

»Er hatte in der Tat lange an diesem Fehlschlag zu knabbern. Er dachte, es gebe keinen Ausweg, seine Ethnozentrik habe ihn verblendet. Doch dann haben ihn die Scherereien, die er mit anderen hatte, zur Räson gerufen. Auslöser war sein alter Menschenhaß gewesen.«

»Was ist passiert?«

»Sie erinnern sich, Professor. Sie selbst haben mir einmal gesagt, daß er für eine Gesellschaft gearbeitet hat, die sich > Sweetmilk Corporation< nennt, und daß er dort mit seinen Kollegen aneinandergeraten ist.«

»In der Tat!«

»Einer seiner Vorgesetzten hatte sein Büro durchsucht. Und dieser Vorgesetzte war niemand anders als Marc Leduc, der Bruder von Professor Laurent Leduc!«

»Dem Insektenforscher?«

»Höchstpersönlich.«

»Das ist unglaublich ... Er ist bei mir vorbeigekommen, hat sich als Edmonds Freund ausgegeben und ist in den Keller hinabgestiegen.«

»Er war in dem Keller?«

»Ja, aber mach dir keine Sorgen, er ist nicht weit gekommen. Er hat das Kodewort für die Mauer nicht gefunden, daraufhin ist er umgekehrt.«

»Hm, er hat auch bei Nicolas vorbeigeschaut, um die Enzyklopädie an sich zu bringen. Na schön ... Marc Leduc war nämlich aufgefallen, daß Edmond wie besessen an dem Entwurf einer Maschine arbeitete. Es ist ihm gelungen, Edmonds Büroschrank zu öffnen, und dabei ist ihm ein Aktendeckel, die Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, in die Hände gefallen. Als er den Sinn dieses Apparats erfaßt hat - und es gab genug Anmerkungen, um den Sinn zu begreifen -, hat er seinem Bruder davon erzählt. Der hat sich natürlich sehr dafür interessiert und hat ihn sogleich gebeten, die Dokumente zu stehlen ... Aber Edmond hatte bemerkt, daß man seine Sachen durchwühlt hatte, und um sie vor weiteren Zugriffen zu schützen, hat er vier Schlupfwespen in der Schublade plaziert. Als sich Marc Leduc dann wieder ans Werk gemacht hat, ist er von diesen Insekten gestochen worden, die zudem die unangenehme Eigenschaft haben, ihre gefräßigen Larven in dem Körper zurückzulassen, in den sie ihren Stachel geschlagen haben. Am nächsten Tag hat Edmond die Spuren der Stiche entdeckt und den Schuldigen öffentlich entlarven wollen. Die Fortsetzung kennen Sie, er selbst ist gefeuert worden.«

»Und die Brüder Leduc?«

»Marc Leduc hat seine Strafe bekommen! Die Wespenlarven haben ihn von innen zerfressen. Das hat sehr lange gedauert, mehrere Jahre, wie es scheint. Da die Larven nicht aus diesem riesigen Körper entweichen konnten, um sich in Wespen zu verwandeln, haben sie sich auf der Suche nach einem Ausgang kreuz und quer gegraben. Am Ende waren die Schmerzen so unerträglich, daß er sich vor einen U-Bahn-Zug geworfen hat. Das habe ich zufällig in der Zeitung gelesen.«

»Und Laurent Leduc?«

»Er hat alles versucht, um an den Apparat zu gelangen.«

»Sie sagten, Edmond habe darüber wieder Lust bekommen, seine Arbeit fortzusetzen. Welcher Zusammenhang besteht zwischen diesen alten Geschichten und seinen Forschungen?«

»In der Folge hat sich Laurent Leduc direkt an Edmond gewandt. Er hat ihm gestanden, daß er über seine >Maschine, die mit den Ameisen redet< im Bilde sei. Er gab vor, er sei daran interessiert, mit ihm zusammenzuarbeiten. Edmond stand einem solchen Vorschlag nicht unbedingt ablehnend gegenüber, er selbst kam ja nicht so recht vom Fleck, und so überlegte er, ob ihm fremde Hilfe nicht willkommen war. >Es kommt die Zeit, da kann man allein nicht weiter<, heißt es in der Bibel. Edmond war bereit, Leduc in seinen Schlupfwinkel zu führen, aber erst wollte er ihn besser kennenlernen. Als Laurent dann anfing, die Ordnung und die Disziplin der Ameisen zu rühmen, und hervorhob, daß ein Dialog mit ihnen es dem Menschen bestimmt ermöglichen würde, sie zu imitieren, hat Edmond rot gesehen. Er hat einen Anfall bekommen und Leduc aufgefordert, sich nie wieder bei ihm blicken zu lassen.«

»Puuuh, das wundert mich nicht«, seufzt Daniel. »Leduc gehört zu einer Sippe von Insektenforschern, einer der schlimmsten innerhalb der deutschen Schule, die die Menschheit dadurch ändern will, daß man in gewisser Hinsicht die Lebensweise der Tiere imitiert. Der Sinn für das eigene Territorium, die Disziplin der Ameisen ... da gerät man schnell ins Schwärmen.«

»Und so hatte Edmond einen Vorwand, um sich wieder ans Werk zu machen. Er würde den Dialog mit den Ameisen aus einer ... politischen Sicht aufnehmen. Er glaubte, daß sie einem anarchistischen System gemäß lebten, und wollte sich dies von ihnen bestätigen lassen.«

»Natürlich!« murmelte Bilsheim.

»Das war eine große Herausforderung. Mein Onkel hat lange nachgedacht, dann kam er zu dem Schluß, das beste Mittel, mit ihnen in Verbindung zu treten, sei, einen >Ameisenroboter< zu konstruieren.«

Jonathan schwenkte einen Stoß von Blättern voller Zeichnungen.

»Das sind die Pläne dazu. Edmond hat ihn >Doktor Livingstonec getauft. Er ist aus Plastik. Ich brauche nicht zu betonen, welche Uhrmacherkunst die Anfertigung dieses kleinen Meisterwerks erforderte! Nicht nur, daß sämtliche Gelenke originalgetreu nachgebaut sind und von mikroskopisch kleinen Elektromotoren bewegt werden, die an eine Batterie im Hinterleib angeschlossen sind, auch die Antenne besteht tatsächlich aus elf Segmenten, die in der Lage sind, gleichzeitig elf verschiedene Pheromone auszustoßen .! Der einzige Unterschied zwischen Doktor Livingstone und einer echten Ameise: er ist mit elf feinen Schläuchen von der Größe eines Haares verbunden, die wiederum in einer Art Nabelschnur von der Größe eines Bindfadens zusammenlaufen.«

»Großartig! Einfach großartig!« ruft Jason hingerissen.

»Aber wo ist dieser Doktor Livingstone?« fragt Augusta.

Eine Horde von Kriegerinnen mit dem Felsenduft verfolgt sie. Nr. 801 nimmt Reißaus. Plötzlich entdeckt sie einen sehr breiten Gang und stürzt darauf zu. Sie kommt in einen riesigen Saal, in dem eine merkwürdige Ameise von weit überdurchschnittlicher Größe zu sehen ist.

Nr. 801 nähert sich ihr vorsichtig. Die Düfte dieser sonderbaren Ameise stimmen nur zur Hälfte. Ihre Augen leuchten nicht, ihre Haut wirkt wie mit einer schwarzen Tinktur gefärbt ... Die junge Chlipukanerin würde gern wissen, was das bedeutet. Wie kann man so wenig Ameise sein?

Aber schon haben die Soldatinnen sie aufgestöbert. Die Hinkende tritt allein vor, um sie zum Duell zu fordern. Sie springt ihr an die Antennen und verbeißt sich darin. Die beiden wälzen sich über den Boden.

Nr. 801 erinnert sich des Ratschlags ihrer Mutter: Achte darauf, wo dein Gegner mit Vorliebe zuschlägt, das ist oft sein eigener schwacher Punkt ... Und in der Tat, kaum bekommt sie die Antennen der Hinkenden zu fassen, windet sich diese wie von Sinnen. Die Ärmste, sie muß hypersensible Antennen haben! Nr. 801 hackt sie ihr jäh ab, und es gelingt ihr, zu fliehen. Aber jetzt hat sie eine Meute von über fünfzig Killerinnen auf den Fersen.

»Ihr wollt wissen, wo sich Doktor Livingstone aufhält? Schaut euch die Leitungen an, die von dem Massenspektrometer ausgehen .«

Tatsächlich erkennen sie eine Art durchsichtige Röhre, die dem Labortisch entlang zur Wand verläuft, von dort zur Decke steigt und schließlich in einer Holzkiste mündet, die in der Mitte der Kirche hängt, hoch über der Orgel. Diese Kiste ist wahrscheinlich mit Erde gefüllt. Die Neuankömmlinge renken sich den Hals aus, um sie genauer in Augenschein zu nehmen.

»Ihr habt doch gesagt, über unseren Köpfen sei ein unzerstörbarer Felsen«, bemerkt Augusta.

»Ja, aber ich habe auch gesagt, daß es einen Luftschacht gibt, den wir nicht mehr benutzen ...«

»Und daß wir ihn nicht mehr benutzen«, ergänzt Inspektor Galin, »liegt nicht daran, daß wir ihn verstopft haben!« »Wenn ihr es nicht wart ...«

». dann, weil sie es waren!«

»Die Ameisen?«

»Richtig! Über dieser Felsenplatte befindet sich ein gegantische Stadt, die von roten Waldameisen errichtet worden ist, ihr wißt schon, das sind diese Insekten, die diese großen Haufen aus kleinen Zweigen in den Wäldern bauen ...«

»Nach Edmonds Schätzungen sind es über zehn Millionen!«

»Zehn Millionen? Die könnten uns ja allesamt umbringen!«

»Nein, keine Bange, wir haben nichts zu befürchten. Zum einen reden sie mit uns und kennen uns. Zum anderen wissen nicht alle Ameisen der Stadt von unserer Existenz.«

Während Jonathan noch spricht, fällt eine Ameise aus der Kiste an der Decke und landet auf Lucies Stirn. Lucie versucht sie aufzulesen, aber Nr. 801 gerät in Panik und irrt durch ihren roten Haarschopf, krabbelt über ihr Ohrläppchen, stürzt den Nacken hinab in ihre Bluse, umkurvt den Bauchnabel, huscht über die weiche Haut der Oberschenkel, fällt auf den Knöchel und springt von dort auf den Boden. Einen Moment lang sucht sie die Orientierung ... dann rennt sie auf einen der seitlichen Luftschächte zu.

»Was hat sie?«

»Wer weiß. Jedenfalls hat sie die frische Luft des Schachts angezogen, sie dürfte keine Probleme haben, hinauszufinden.«

»Aber da findet sie doch ihre Stadt nicht wieder, sie wird weit im Osten der Föderation landen, oder nicht?«

Die Spionin ist entflohen! Wenn das so weitergeht, müssen wir die sogenannte fünfundsechzigste Stadt angreifen ...

Die Soldatinnen mit dem Felsenduft haben mit gesenkten Antennen Bericht erstattet. Nachdem sie sich zurückgezogen haben, sinnt Belo-kiu-kiuni eine Weile über diesen schweren Fehlschlag ihrer Geheimhaltungspolitik nach. Müde, sehr müde, denkt sie zurück, wie alles angefangen hat.

Als sie noch ganz jung war, ist auch sie mit einem dieser grauenhaften Phänomene konfrontiert worden, welche die Existenz riesiger Wesen vermuten lassen. Das war kurz nach ihrer Schwarmzeit; sie hat gesehen, wie eine große schwarze Platte mehrere fruchtbare Königinnen zerquetscht hat, ohne sie überhaupt verspeisen zu wollen. Später, nachdem sie ihre Stadt gegründet hat, war es ihr gelungen, eine Versammlung zu diesem Thema zu organisieren, bei der die meisten Königinnen - Mütter und Töchter - zugegen waren.

Sie erinnert sich. Als erste hat Zubi-zubi-kan geredet. Sie hat erzählt, daß mehrere ihrer Expeditionen einem Regen von rosaroten Kugeln ausgesetzt gewesen seien, der über hundert Todesopfer gefordert habe.

Die anderen Schwestern hatten sie überboten. Jede hatte ihre Liste von Toten und Versehrten aufgestellt, die den rosaroten Kugeln und den schwarzen Platten zum Opfer gefallen waren.

Cholb-gahi-ni, eine alte Mutter, hat bemerkt, daß Zeugenaussagen zufolge die rosaroten Kugeln sich anscheinend nur in Fünfertrupps bewegten.

Eine andere Schwester, Rubg-fayli-ni, hatte eine reglose rosarote Kugel ungefähr dreihundert Kopf unter der Erde gefunden. Die Kugel sei von einer weichen Substanz mit einem sehr starken Geruch umschlossen gewesen. Man habe sie mit den Mandibeln angebohrt und sei schließlich auf harte weiße Stengel gestoßen ... So als hätten diese Tiere ihre Panzer nicht außen, sondern in ihrem Innern.

Am Ende der Versammlung waren die Königinnen übereingekommen, daß derlei Erscheinungen jegliches Verständnis überstiegen, und sie hatten beschlossen, absolutes Stillschweigen zu bewahren, um keine Panik in den Ameisenstädten aufkommen zu lassen.

Sie selbst. Belo-kiu-kiuni, hat schon bald ihre eigene »Geheimpolizei« aufgestellt, eine Arbeitsgruppe, die damals fünfzigtausend Soldatinnen umfaßte. Ihre Aufgabe: sämtliche Zeugen der beiden Phänomene der rosaroten Kugeln und der schwarzen Platten eliminieren, um keine Panik in der Stadt aufkommen zu lassen.

Eines Tages jedoch hatte sich etwas Unglaubliches ereignet.

Eine Arbeiterin aus einer unbekannten Stadt war von den Kriegerinnen mit dem Felsenduft festgenommen worden. Belo-kiu-kiuni hatte sie schonend behandelt, denn was diese Arbeiterin erzählte, war noch ungewöhnlicher als alles, was man jemals gehört hatte.

Sie behauptete, von den rosaroten Kugeln entführt worden zu sein! Diese hätten sie, zusammen mit ein paar hundert anderen Ameisen, in ein durchsichtiges Gefängnis geworfen. Dort habe man alle möglichen Experimente mit ihnen vorgenommen. Am häufigsten habe man sie unter eine Glocke gesteckt, wo sie sehr konzentrierten Düften ausgesetzt waren. Anfangs sei das sehr schmerzhaft gewesen, dann seien die Düfte nach und nach schwächer geworden, und am Ende hätten sie sich in Worte verwandelt!

Zu guter Letzt hätten die rosaroten Kugeln durch die Vermittlung dieser Gerüche und Glocken mit ihnen geredet und sich als riesige Tiere vorgestellt, die sich selbst »Menschen« nannten. Sie hätten erklärt, daß es in dem Granit unterhalb der Stadt einen Durchbruch gebe und daß sie mit der Königin reden wollten. Sie könne sicher sein, daß ihr nichts zustoßen werde.

Danach war alles sehr schnell gegangen. Belo-kiu-kiuni hatte die »Ameisenbotschafterin« getroffen, Dok-tor Li-ving-stone, eine seltsame Ameise mit einem durchsichtigen Darmfortsatz. Aber man konnte mit ihr reden.

Sie hatten sich lange unterhalten. Am Anfang hatten sie einander überhaupt nicht verstanden. Aber beide waren von der gleichen Begeisterung erfüllt. Und hatten sich offenbar so vieles zu sagen ...

In der Folge hatten die Menschen die mit Erde gefüllte Kiste am Ausgang des Schachts angebracht. Und Belo-kiu-kiuni hatte diese neue Stadt mit Eiern versehen. Insgeheim, ohne daß ihre anderen Kinder davon erfahren hatten.

Aber Bel-o-kan 2 war mehr als die Stadt der Kriegerinnen mit dem Felsenduft. Sie war die Verbindung zwischen der Welt der Ameisen und der Welt der Menschen. Sie war der ständige Aufenthaltsort von Dok-tor Li-ving-stone (ein ziemlich lächerlicher Name, wenn man es sich überlegt).


Gespräch (Auszüge): Auszüge aus dem achtzehnten Gespräch mit der Königin Belo-kiu-kiuni:

Ameise: Das Rad? Unglaublich, daß wir nicht auf den Gedanken gekommen sind, das Rad zu verwenden. Wenn ich bedenke, daß wir alle sehen konnten, wie diese Mistkäfer ihre Kugeln rollen ... Daß niemand von uns daraus das Rad hergeleitet hat.

Mensch: Wie gedenkst du diese Information zu verwerten?

Ameise: Das weiß ich im Moment noch nicht.

Auszug aus dem sechsundfünfzigsten Gespräch mit der Königin Belo-kiu-kiuni:

Ameise: Du wirkst traurig.

Mensch: Das muß an einem Fehler meiner Duftorgel liegen. Seit ich die effektive Sprache hinzugefügt habe, hat die Maschine anscheinend Aussetzer.

Ameise: Du wirkst traurig.

Mensch: ...

Ameise: Sagst du nichts mehr?

Mensch: Ich glaube, das ist reiner Zufall. Aber ich bin tatsächlich traurig.

Ameise: Was ist los?

Mensch: Ich hatte ein Weibchen. Bei uns leben die Männchen sehr lange, also leben wir in Paaren, ein Männchen je Weibchen. Ich hatte ein

Weibchen, und ich habe es vor einigen Jahren verloren. Und ich habe es geliebt, ich kann es nicht vergessen.

Ameise: »Lieben«, was heißt das?

Mensch: Vielleicht, daß wir die gleichen Gerüche hatten .?


Belo-kiu-kiuni erinnert sich an das Ende des Men-schen Edmond. Das war während des ersten Krieges gegen die Zwergameisen. Edmond hatte ihnen helfen wollen. Er hatte seinen Untergrund verlassen. Aber durch die ständige Verwendung der Pheromone war er damit regelrecht imprägniert. So sehr, daß er, ohne es zu wissen, im Wald für ... eine rote Ameise der Föderation gehalten wurde. Und als die Tannenwespen (mit denen sie sich zu jener Zeit im Krieg befanden) seine Identitätsdüfte wahrnahmen, fielen sie geschlossen über ihn her.

Sie töteten ihn, weil sie ihn für einen Belokaner hielten. Er muß glücklich gestorben sein.

Später hatten dieser Jonathan und seine Gemeinschaft die Verbindung wiederaufgenommen ...

Er gießt noch ein wenig Met in das Glas der drei Neuen, die nicht aufhören, ihn mit Fragen zu bestürmen.

»Dann ist Doktor Livingstone also imstande, unsere Worte da oben zu übertragen?«

»Ja, und wir, ihre Worte zu hören. Ihre Antworten erscheinen auf diesem Bildschirm. Edmond hat es tatsächlich geschafft!«

»Aber was erzählen sie? Was erzählt er ihnen?«

»Hmm ... Nachdem die Sache gelungen war, werden Edmonds Aufzeichnungen ein wenig diffus. Es sieht so aus, als hätte er keinen Wert darauf gelegt, alles zu notieren. Nehmen wir an, daß sie zunächst einander beschrieben haben. Einer hat dem andern seine Welt geschildert. Daher wissen wir, daß ihre Stadt Bel-o-kan heißt, daß sie der Dreh- und Angelpunkt einer Föderation von ein paar hundert Millionen Ameisen ist.«

»Unglaublich!«

»Im weiteren waren beide Seiten der Auffassung, daß es zu früh sei, die Information unter ihrer jeweiligen Bevölkerung zu verbreiten. Deshalb haben sie die Vereinbarung getroffen, absolutes Stillschweigen über ihren >Kontakt< zu bewahren.«

»Aus diesem Grund hat Edmond auch so sehr darauf bestanden, daß Jonathan all diese technischen Spielereien durchführt«, mischt sich einer der Feuerwehrmänner ein. »Er wollte auf keinen Fall, daß die Leute zu früh davon erfahren. Ihm graute vor dem ganzen Tohuwabohu, das der Rundfunk, das Fernsehen, die Zeitungen bei einer solchen Nachricht veranstalten würden. Die Ameisen wären die große Mode! Er sah es schon kommen, die Werbespots. Schlüsselanhänger, TShirts, die Auftritte der Rockstars . der ganze Krampf, der auf eine solche Entdeckung folgen würde.«

»Belo-kiu-kiuni, ihre Königin, glaubte ihrerseits, daß ihre Töchter sogleich gegen diese gefährlichen Fremden würden kämpfen wollen«, fügt Lucie hinzu.

»Nein, die beiden Zivilisationen sind noch nicht reif, sich kennenzulernen und - hören wir auf zu phantasieren - einander zu verstehen ... Die Ameisen sind weder faschistisch noch anarchistisch, noch royalistisch ... Sie sind Ameisen, und alles, was ihre Welt betrifft, unterscheidet sich von unserer. Das macht überdies ihren Reichtum aus.«

Diese leidenschaftliche Erklärung stammt von Kommissar Bilsheim; er hat sich entschieden geändert, seit er die Erdoberfläche verlassen hat - wie seine Chefin, Solange Doumeng.

»Die deutsche Schule und die italienische Schule irren sich«, sagt Jonathan, »weil sie versuchen, die Ameisen in ein durch ein >menschliches< Begriffsvermögen geprägtes System zu zwängen. Eine solche Analyse ist zwangsläufig plump. Das ist, als würden sie versuchen, unser Leben zu verstehen, indem sie es mit ihrem vergleichen. Gewissermaßen ein Myrmeco-morphismus ... Dabei ist jede ihrer Eigenarten, und sei sie noch so unbedeutend, faszinierend. Wir verstehen die Japaner, Tibetaner oder die Hindus nicht, aber ihre Kultur, ihre Philosophie sind aufregend, selbst wenn sie durch unseren westlichen Geist verzerrt werden! Und die Zukunft unserer Erde gehört der Mischrasse, das ist so klar wie nur etwas.«

»Aber was können uns die Ameisen in puncto Kultur geben?« wundert sich Augusta.

Jonathan gibt Lucie wortlos ein Zeichen; sie verschwindet für einige Sekunden und kehrt mit etwas zurück, das wie ein Marmeladentopf aussieht.

»Seht her, schon allein das hier ist ein Schatz! Honigtau von Blattläusen. Los, probiert mal!«

Augusta tunkt vorsichtig den Zeigefinger hinein.

»Hmmmm, das ist sehr süß ... aber ungeheuer lecker! Das schmeckt ganz anders als Bienenhonig.«

»Siehst du! Hast du dich denn nicht gefragt, wie wir uns hier in dieser doppelten unterirdischen Sackgasse ernähren?«

»Ja, doch ...«

»Die Ameisen ernähren uns mit ihrem Honigtau und ihrem Mehl. Sie legen da oben Vorräte für uns an. Aber das ist nicht alles, wir haben auch ihre landwirtschaftlichen Techniken kopiert, um Lamellenpilze anzubauen.«

Er hebt den Deckel eines großen hölzernen Kastens an. Darunter sind weiße Pilze zu sehen, die auf einem Bett aus vergorenen Blättern wachsen.

»Galin ist unser großer Pilzexperte.«

Letzterer lächelt bescheiden.

»Ich muß noch viel lernen.«

»Nun gut, Pilze, Honig ... Ihr müßt ja an Eiweißmangel leiden.«

»Für die Proteine ist Max zuständig.«

Einer der Feuerwehrmänner deutet zur Decke.

»Ich sammele sämtliche Insekten ein, die die Ameisen in den kleinen Kasten neben der großen Kiste legen. Wir kochen sie, damit sich die Häutchen lösen. Was übrigbleibt, ist wie klitzekleine Garnelen, überdies schmeckt es genauso und sieht auch so aus.«

»Wir sind in der Tat wie Kosmonauten, die ständig in einer Weltraum station leben und zuweilen mit außerirdischen Nachbarn in Kontakt stehen.«

Alle lachen. Eine Ladung guter Laune kitzelt das Rückenmark. Jonathan schlägt vor, in den Salon zurückzugehen.

»Wißt ihr, ich habe lange nach einem Weg gesucht, mit meinen Freunden friedlich zusammenzuleben. Ich habe es mit Kommunen, Squatts, Gemeinschaften nach dem Vorbild Fouriers versucht. Am Ende habe ich geglaubt, ich sei nur ein Traumtänzer, um nicht zu sagen ein Trottel. Aber hier ... hier passiert etwas. Wir sind schlicht gezwungen, zusammenzuleben, uns zu ergänzen, gemeinsam zu denken. Wir haben keine Wahl: Wenn wir uns nicht verstehen, werden wir sterben. Es ist keine Flucht möglich. Nun, ich weiß nicht, ob das an der Entdeckung meines Onkels liegt oder an dem, was uns die Ameisen durch ihre bloße Existenz hier über unseren Köpfen lehren, aber bislang funktioniert unsere Gemeinschaft wie geschmiert!«

»Das klappt, und zwar ganz von selbst ...«

»Manchmal haben wir das Gefühl, wir produzieren eine gemeinsame Energie, aus der jeder beliebig schöpfen kann. Das ist ganz seltsam.«

»Davon habe ich schon im Zusammenhang mit den Rosenkreuzem und einigen Freimaurergruppen gehört«, sagt Jason. »Sie nennen das Egregor: das geistige Kapital der >Herde<. Eine Art Becken, in das jeder seine Kraft entleert, damit eine Suppe entsteht, die jedem nutzt ... Im allgemeinen gibt es immer einen Dieb, der sich der Energie anderer zu persönlichen Zwecken bedient.«

»Hier haben wir dieses Problem nicht. Man kann keine persönlichen Ambitionen haben, wenn man in einer kleinen Gruppe unter der Erde lebt ...«

Schweigen.

»Zudem reden wir immer weniger, wir brauchen das nicht mehr, um einander zu verstehen.«

»Ja, hier passiert etwas. Aber wir verstehen es noch nicht und haben auch noch keine Kontrolle darüber. Wir sind längst nicht am Ziel, wir sind noch auf halbem Weg.«

Erneutes Schweigen.

»Kurz und gut, ich hoffe, es wird euch in unserer kleinen Gemeinschaft gefallen.«

Nr. 801 kommt erschöpft in ihrer Geburtsstadt an. Geschafft! Sie hat es geschafft.

Chli-pu-ni nimmt sofort einen Gedankenaustausch vor, um zu erfahren, was geschehen ist. Was sie hört, bestätigt sie in ihren schlimmsten Befürchtungen hinsichtlich des unter der Granitplatte verborgenen Geheimnisses.

Sie beschließt. Bel-o-kan unverzüglich militärisch anzugreifen. Die ganze Nacht über rüsten sich ihre Soldatinnen aus. Die ultramoderne fliegende Legion ist fertig.

Nr. 103 683 macht einen Vorschlag. Während ein Teil der Armee von vorne angreift, könnten zwölf Legionen heimlich einen Bogen um die Stadt schlagen, um einen Sturm auf den Stumpf mit dem königlichen Gemach zu unternehmen.


DAS UNIVERSUM STREBT: Das Universum geht in Richtung Komplexität. Vom Wasserstoff zum Helium, vom Helium zum Kohlenstoff. Immer komplexer, immer ausgeklügelter, so die Entwicklung, die die Dinge nehmen.

Von allen bekannten Planeten ist die Erde der komplizierteste. Sie befindet sich in einer Zone, in der ihre Temperatur schwanken kann. Ihre Oberfläche besteht aus Meeren und Bergen. Doch wenn ihr Spektrum an Lebensformen auch praktisch unbegrenzt ist, so gibt es doch zwei, die durch ihre Intelligenz über die anderen hinausragen. Die Ameisen und die Menschen.

Man könnte meinen, Gott habe den Planeten Erde ausgesucht, um ein Experiment anzustellen. Er hat zwei Gattungen mit zwei völlig konträren Philosophien auf den Weg des Bewußtseins geschickt, um zu sehen, welche schneller vorankommt.

Das Ziel ist vermutlich, zu einem kollektiven planetarischen Bewußtsein zu gelangen: der Zusammenschluß sämtlicher Hirne der Gattung. Das ist meines Erachtens die nächste Phase des Abenteuers des Bewußtseins. Die nächste Stufe der Kompliziertheit.

Die beiden führenden Gattungen haben indes getrennte Wege beschritten:

Um intelligenter zu werden, hat der Mensch sein Hirn aufgebläht, bis es eine geradezu monströse Größe hatte. Eine Art dicker Blumenkohl.

Um zu dem gleichen Ergebnis zu gelangen, haben die Ameisen statt dessen Tausende von kleinen Hirnen verwandt, die durch sehr subtile Kommunikationssysteme miteinander verbunden waren.

Unter dem Strich erbringt diese Masse von kleinen Bröckchen ebensoviel Materie und Intelligenz wie der menschliche Blumenkohl. Der Kampf geschieht mit ebenbürtigen Waffen.

Aber was wäre, wenn diese beiden Formen von Intelligenz, statt getrennte Wege zu gehen, kooperierten ...?

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Jean und Philippe interessieren sich für nichts als fürs Fernsehen, höchstens noch für den Flipper. Selbst der nagelneue, kürzlich erst mit hohem Kostenaufwand angelegte Minigolfplatz interessiert sie nicht mehr. Und erst die Spaziergänge durch den Wald ... Für sie gibt es nichts Schlimmeres, als wenn ihnen der Aufpasser befiehlt, frische Luft zu schnappen.

Sicher, letzte Woche, als sie die Frösche aufgeblasen haben, das war schon amüsant, aber das Vergnügen war ein wenig kurz.

Heute jedoch scheint Jean eine Betätigung eingefallen zu sein, die Interesse verdient. Er zieht seinen Freund aus der Gruppe von Waisenkindern, die dämlicherweise welke Blätter sammelt, um noch dämlichere Bilder damit zu machen, und zeigt ihm eine Art Zementkegel. Ein Termitenhügel.

Sie zögern nicht, ihn mit den Füßen zu zertrampeln, aber es kommt nichts raus, der Hügel ist leer. Philippe beugt sich herab und schnüffelt.

»Die hat der Straßenwärter abgemurkst. Riech mal, das stinkt nach Vertilgungsmittel, die sind da drinnen alle krepiert.«

Enttäuscht wollen sie sich gerade wieder zu den anderen gesellen, als Jean auf der anderen Seite des kleine Bachs, unter einem Strauch halb verdeckt, eine Pyramide erblickt.

Volltreffer! Ein beeindruckender Ameisenhaufen, ein richtiger Dom, mindestens einen Meter hoch! Lange Kolonnen von Ameisen gehen ein und aus, Hunderte, Tausende von Arbeiterinnen, Soldatinnen, Kundschafterinnen. Hierhin ist das DDT noch nicht gekommen.

Jean hüpft vor Aufregung von einem Bein aufs andere.

»He, hast du so was schon mal gesehn?«

»O nein, du willst doch nicht schon wieder Ameisen fressen ... Die letzten haben ätzend geschmeckt ...«

»Wer redet denn von fressen? Du hast ’ne richtige Stadt vor dir, so was wie New York oder Mexiko. Weißt du nicht mehr, was die im Fernsehen gesagt haben? In so ’nem Ding wimmelt es von Viechern. Guck dir diese Bekloppten an, die ackern wie blöd!«

»Na ja ... Hast du vergessen, daß sich Nicolas so lange für Ameisen interessiert hat, bis er verschwunden war? Ich bin sicher, er hatte Ameisen im Keller, und die haben ihn aufgefressen. Ich hab keine Lust, neben diesem Ding rumzustehn. Das gefällt mir nicht! Scheißameisen, gestern hab ich welche gesehn, die krochen aus ’nem Loch auf dem Minigolfplatz, vielleicht wollten die da ihr Nest bauen ... Verdammte Drecksameisen!«

Jean rüttelt ihn an der Schulter.

»Na eben! Du magst keine Ameisen, und ich auch nicht. Wir bringen sie um! Wir rächen unseren Kumpel Nicolas!«

Der Vorschlag weckt Philippes Interesse.

»Sie umbringen?«

»Na klar, warum nicht? Wir stecken diese Stadt an! Stell dir vor, ganz Mexiko in Flammen, weil es uns so paßt!«

»Okay, wir stecken sie an. Ja. Für Nicolas ...«

»Warte, ich hab noch ’ne bessere Idee: Wir blasen da Unkrautmittel rein, das gibt ’n richtiges Feuerwerk.«

»Genial ...«

»Paß auf, wir haben elf Uhr, in zwei Stunden treffen wir uns hier wieder. Dann geht uns der Aufpasser nicht auf den Keks, und alle anderen sind in der Mensa. Ich besorg das Unkrautmittel. Du siehst zu, daß du ’ne Schachtel Streichhölzer auftreibst, das ist besser als ’n Feuerzeug.«

»Alles klaro!«

Die Infanterieeinheiten rücken rasch vor. Wenn die anderen föderierten Städte fragen, wohin sie ziehen, antworten die Chlipukanerinnen, daß im Westen eine Eidechse gesichtet worden ist und daß die Hauptstadt sie um Unterstützung gebeten hat.

Über ihnen summen die Nashornkäfer, in ihrem Schwung kaum gebremst durch das Gewicht der Artilleristinnen, die auf 13 Uhr. In Bel-o-kan herrscht buntes Treiben. Man nutzt die Hitze, um die Eier, die Puppen und die Pflanzenläuse im Solarium anzuhäufen.

»Ich hab Brennspiritus mitgebracht, damit das noch besser hochgeht«, erklärt Philippe.

»Bestens«, sagt Jean. »Ich hab Unkrautmittel gekauft. Zwanzig Francs die Dose, diese Geldschröpfer!«

Belo-kiu-kiuni spielt mit ihren fleischfressenden Pflanzen. Seit sie da sind, fragt sie sich, warum sie eigentlich nie einen Schutzwall daraus gemacht hat, wie sie es ursprünglich vorhatte.

Dann denkt sie wieder an das Rad. Wie kann man diese geniale Idee verwerten? Vielleicht könnte man eine große Zementkugel anfertigen, sie mit den Fußspitzen ins Rollen bringen und damit die Feinde zerquetschen. Sie sollte den Plan aufs Tapet bringen.

»Okay, ich hab alles drauf geschüttet, den Spiritus und das Unkrautmittel.«

Während Jean spricht, klettert eine Ameisenkundschafterin an ihm hoch. Sie klopft mit den Antennen gegen den Stoff seiner Hose.

Sie scheinen eine riesige lebende Struktur zu sein. Können Sie mir Ihre Identifikationsdüfte geben?

Er nimmt sie und zerquetscht sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Der gelbe und schwarze Saft läuft über seine Finger.

»Die hat’s jetzt schon erwischt«, erklärt er. »Na schön, mach Platz, hier fliegen gleich die Fetzen!«

»Supergyros gibt das!« ruft Philippe.

»Die reinste Apokalypse!« kichert Jean.

»Was schätzt du, wie viele sind da drin?«

»Bestimmt Millionen. Angeblich haben letztes Jahr Ameisen hier in der Gegend ’ne Villa überfallen.«

»Die werden wir auch rächen«, sagte Jean. »Los, duck dich hinter den Baum da.«

Belo-kiu-kiuni denkt an die Menschen. Ihnen beim nächstenmal weitere Fragen stellen. Wie setzen sie das Rad ein?

Jean läßt ein Streichholz aufflammen und wirft es auf die Kuppel aus Zweigen und Kiefernnadeln. Dann läuft er los, um keinen Splitter abzubekommen.

Da ist sie, die chlipukanische Armee erblickt die Hauptstadt. Wie groß sie ist!

Belo-kiu-kiuni beschließt, unverzüglich mit ihnen zu sprechen. Sie muß ihnen auch sagen, daß sie ihnen problemlos mehr Honigtau liefern kann; die Produktion läßt sich dieses Jahr gut an.

Das Streichholz fällt auf die Zweige der Kuppel.

Die chlipukanische Armee ist nah genug. Sie rüstet zum Angriff.

Jean springt hinter die große Kiefer, wo Philippe bereits in Deckung gegangen ist.

Das Streichholz fällt auf eine Stelle, die weder mit Spiritus noch mit Unkrautvertilgungsmittel getränkt ist. Es geht aus.

Die Jungen richten sich auf.

»Verdammter Mist!«

»Ich weiß, was wir machen. Wir legen ’n Stück Papier drauf, dann haben wir ’ne große Flamme, die garantiert bis zu dem Spiritus kommt.«

»Hast du Papier dabei?«

»Öh ... bloß ’ne Metrofahrkarte.«

»Gib her.«

Eine Schildwache oben auf der Kuppel entdeckt etwas Mysteriöses: Nicht nur, daß mehrere Viertel seit einer Weile nach Alkohol riechen, jetzt steckt auch noch mitten auf der Spitze ein gelbes Stück Holz. Sie setzt sich sogleich mit einer Arbeitszelle in Verbindung, damit dieser Alkohol abgewaschen und der gelbe Balken entfernt wird.

Eine andere Schildwache kommt zur Tür Nr. 5 gelaufen. Alarm! Alarm! Eine Armee roter Ameisen greift uns an!

Die Fahrkarte brennt. Die beiden Jungen gehen erneut hinter der Kiefer in Deckung.

Eine dritte Schildwache sieht eine große Flamme am Ende des gelben Holzstücks auflodern.

Die Chlipukanerinnen rücken im Sturmschritt vor, wie sie es bei den Sklavenhalterinnen gesehen haben.

Erste Explosion.

Die gesamte Kuppel fängt Feuer.

Verpuffungen, Funken.

Trotz der sich ausbreitenden Hitze versuchen Jean und Philippe die Augen offenzuhalten. Das Spektakel enttäuscht sie nicht. Das trockene Holz brennt wie Zunder. Als die Flammen das Desinfektionsmittel erreichen, fliegt alles in die Luft. Weitere Detonationen. Grüne, rote, braune Funkengarben spritzen aus der »Stadt der verirrten Ameise«.

Die chlipukanische Armee hält inne. Das Solarium mit allen Eiern, dem gesamten Vieh flammt als erstes auf, dann greift das Feuer auf die gesamte Kuppel über.

Die Verbotene Stadt wird gleich in den ersten Sekunden der Katastrophe erfaßt. Die Ammen sind regelrecht zerplatzt. Kriegerinnen rennen herbei, um die Königin, die einzige Eierlegerin, herauszuholen. Zu spät, sie ist an den giftigen Gasen erstickt.

Der Alarm verbreitet sich im Nu. Alarmstufe 1: aufstachelnde Pheromone werden ausgestoßen; Alarmstufe 2: unheilverkündendes Trommeln dröhnt durch sämtliche Gänge; Alarmstufe 3: »Verrückte« rennen durch die Tunnel und geben ihre Panik weiter; Alarmstufe 4: alles Wertvolle (Eier, Fortpflanzungsfähige, Vieh, Nahrung ...) wird in die Tiefe transportiert, während in Gegenrichtung die Soldatinnen nach oben eilen, um sich dem Kampf zu stellen.

Oben in der Kuppel sucht man nach Lösungen. Artillerieeinheiten gelingt es, einige Bereiche zu löschen, indem sie schwach konzentrierte Ameisensäure einsetzen. Als diese improvisierte Feuerwehr den Erfolg ihrer Bemühungen sieht, bespritzt sie als nächstes die Verbotene Stadt. Vielleicht kann man das königliche Gemach retten, wenn man es befeuchtet.

Aber das Feuer siegt. Die eingeschlossenen Ameisen ersticken an den giftigen Dämpfen. Weißglühende Brückenbögen stürzen auf die entsetzten Massen. Die Panzer schmelzen und verbiegen sich wie Plastik in einer heißen Pfanne.

Nichts widersteht dem Ansturm dieser ungeheuren Hitze.


episode: Ich habe mich geirrt. Wir sind nicht ebenbürtig, wir sind keine Konkurrenten. Die Anwesenheit der Menschen ist nur eine kurze »Episode« in ihrer unbestrittenen Herrschaft auf Erden.

Sie sind viel, viel zahlreicher als wir. Sie haben mehr Städte, sie bewohnen viel mehr ökologische Nischen. Sie leben in trockenen, eisigen, heißen oder feuchten Zonen, in denen kein Mensch überleben könnte. Wohin unser Blick auch fällt, überall gibt es Ameisen.

Sie waren hundert Millionen Jahre vor uns da, und danach zu urteilen, daß sie einer der wenigen Organismen waren, die der Atombombe

widerstanden haben, werden sie sicher noch hundert Millionen Jahre nach uns da sein. Wir sind nur ein Zwischenspiel von drei Millionen Jahren in ihrer Geschichte. Im übrigen, wenn eines Tages außerirdische Wesen auf unserem Planeten landen, werden sie sich da nicht täuschen. Sie werden sich zweifelsohne mit ihnen unterhalten. Mit ihnen: den wahren Herren der Erde.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Am nächsten Morgen ist die Kuppel gänzlich verschwunden. Der schwarze Stumpf steht vollkommen kahl in der Mitte der Stadt.

Fünf Millionen Bürgerinnen sind tot. Sämtliche Ameisen, die sich in der Kuppel und seiner unmittelbaren Umgebung befanden.

All jene, die so geistesgegenwärtig waren, nach unten zu gehen, sind unversehrt.

Die Menschen, die unter der Stadt leben, haben nichts bemerkt. Die riesige Granitplatte hat sie abgeschirmt. Und das Ganze hat sich während einer ihrer künstlichen Nächte abgespielt.

Belo-kiu-kiunis Tod stellt den größten Verlust dar. Ohne ihre Eierlegerin ist das Volk ernstlich bedroht.

Die chlipukanische Armee indes hat sich an der Bekämpfung des Feuers beteiligt. Kaum erfahren die Kriegerinnen von Belo-kiu-kiunis Tod, entsenden sie Boten zu ihrer Stadt. Einige Stunden später erscheint, getragen von einem Nashornkäfer, Chli-pu-ni persönlich, um sich die Schäden anzusehen.

Als sie zu der Verbotenen Stadt kommt, ist die Feuerwehr noch im Begriff, die Asche zu begießen. Es gibt nichts mehr zu bekämpfen. Sie erkundigt sich, und man erzählt ihr, wie sich die unbegreifliche Katastrophe abgespielt hat.

Da es keine fruchtbaren Königinnen mehr gibt, wird sie selbstverständlich die neue Belo-kiu-kiuni und bezieht das königliche Gemach der Hauptstadt.

Jonathan wacht als erster auf. Er ist überrascht, den Drucker des Computers rattern zu hören.

Auf dem Bildschirm steht ein Wort.

Warum?

Sie haben also während der Nacht gesendet. Sie wollen sich unterhalten. Er tippt den üblichen Satz, der jedem Dialog vorausgeht.

Mensch: Guten Tag, ich bin Jonathan.

Ameise: Ich bin die neue Belo-kiu-kiuni. Warum?

Mensch: Die neue Belo-kiu-kiuni? Wo ist die alte?

Ameise: Ihr habt sie getötet. Ich bin die neue Belo-kiu-kiuni. Warum?

Mensch: Was ist passiert?

Ameise: Warum?

Damit bricht die Verbindung ab.

Jetzt weiß sie alles.

Sie, die Menschen, haben das getan.

Mutter kannte sie.

Sie hat sie immer schon gekannt.

Sie hat die Nachricht geheimgehalten.

Sie hat die Hinrichtung all derer befohlen, die den geringsten Hinweis hätten geben können.

Sie hat ihnen, den Menschen, sogar gegen ihr eigenes Volk geholfen.

Die neue Belo-kiu-kiuni betrachtet ihre leblose Mutter. Als die Wachen kommen, um den Körper abzuholen und auf die Deponie zu werfen, schreckt sie hoch.

Nein, dieser Kadaver wird nicht weggeschafft.

Sie untersucht die alte Belo-kiu-kiuni, die bereits die Gerüche des Todes verströmt.

Sie regt an, daß die abgerissenen Glieder mit Harz wieder angeklebt werden. Daß man dem Körper seine Weichteile entnimmt und durch Sand ersetzt.

Sie will ihn in ihrer Loge aufbewahren.

Chli-pu-ni, die neue Belo-kiu-kiuni, versammelt einige Kriegerinnen. Sie schlägt vor, die Hauptstadt nach modernen Gesichtspunkten wieder aufzubauen. Ihrer Meinung nach waren die Kuppel und der Stamm viel zu verwundbar. Und man muß sich auch auf die Suche nach unterirdischen Flüssen machen, ja sogar überlegen, ob man nicht Kanäle bohrt, die alle Städte der Föderation miteinander verbinden. Für sie liegt darin die Zukunft, in der Zähmung des Wassers. Auf diese Weise kann man sich besser vor Bränden schützen, aber auch schneller und gefahrlos reisen.

Und was ist mit den Menschen?

Sie antwortet ausweichend:

Die sind nicht besonders interessant.

Die Kriegerin läßt nicht locker:

Und wenn sie uns wieder mit ihrem Feuer angreifen?

Je stärker der Feind ist, um so mehr sind wir verpflichtet, über uns hinauszuwachsen.

Und die, die unter dem großen Felsen leben?

Belo-kiu-kiuni gibt keine Antwort. Sie bittet darum, allein gelassen zu werden, dann wendet sie sich dem Kadaver der alten Belo-kiu-kiuni zu.

Die neue Königin neigt behutsam den Kopf und senkt ihre Antennen auf die Stirn ihrer Mutter. Und so verharrt sie sehr lange, reglos, wie in einen ewigen Gedankenaustausch versunken.

Загрузка...