2 Immer tiefer

45. UG: Die 103 683. Geschlechtslose dringt in die Kampfsäle ein. Räume mit niedrigen Decken, in denen die Soldatinnen im Hinblick auf die Frühjahrskriege üben.

Überall duellieren sich Kriegerinnen. Die Kontrahentinnen tasten zunächst einander ab, um ihren Wuchs und die Größe der Beine abzuschätzen. Sie drehen sich, befühlen die Flanken, ziehen sich an den Haaren, scheiden herausfordernde Düfte aus, kitzeln sich mit dem keulenartigen Ende ihrer Antennen.

Schließlich stürmen sie aufeinander ein. Zusammenprall der Panzer. Beide bemühen sich, die Gelenke des Thorax der anderen zu packen. Sobald es einer gelungen ist, versucht die andere, ihr in die Knie zu beißen. Ihre Bewegungen sind ruckartig. Sie richten sich auf den beiden Hinterbeinen auf, stürzen, wälzen sich wütend.

In der Regel verharren sie reglos, wenn sie einmal zugepackt haben, dann plötzlich schlagen sie auf ein anderes Glied. Achtung, das ist nur Training, es wird nichts gebrochen, es fließt kein Blut. Der Kampf ist beendet, wenn eine der beiden Ameisen auf dem Rücken liegt. Dann biegt sie ihre Antennen zum Zeichen der Aufgabe zurück. Trotzdem sind diese Duelle sehr realistisch. Oftmals wird ein Griff in den Augen angesetzt, um Halt zu finden. Die Mandibeln knallen in der Luft zusammen.

In einiger Entfernung sitzen Artilleristinnen auf ihren Hinterleibern und schießen auf Kieselsteine, die fünfhundert Kopf weit weg aufgestellt sind. Nicht selten treffen die Säurestrahlen ihr Ziel.

Eine alte Kriegerin erklärt einer Anfängerin, daß sich alles schon vor dem Zusammenprall entscheidet. Mandibel oder Säurestrahl bestätigen nur eine Überlegenheit, die bereits vorher von den beiden Streitenden anerkannt wird. Schon vor der Auseinandersetzung gibt es unweigerlich einen, der beschlossen hat zu siegen, und einen, der darin einwilligt, besiegt zu werden. Das ist nur eine Frage der Rollenaufteilung. Wenn jeder erst einmal seine Wahl getroffen hat, kann der Sieger einen Säurestrahl abfeuern, ohne zu zielen, er wird ins Schwarze treffen; und der Besiegte kann noch so gut mit den Mandibeln zuschnappen, er wird seinen Gegner nicht einmal verletzen. Ein einziger Ratschlag nur: Man muß den Sieg akzeptieren. Das Ganze ist eine Sache des Kopfes. Man muß den Sieg akzeptieren, und nichts wird einem widerstehen.

Zwei Duellanten rempeln die 103 683. Soldatin an. Sie stößt sie kräftig zurück und geht weiter. Sie sucht das Quartier der Söldnerinnen, das unterhalb der Kampfarena eingerichtet ist. Da ist der Durchgang.

Der Saal ist noch größer als der Saal der Kriegerinnen. Die Söldnerinnen leben allerdings ständig in ihrem Übungsraum. Sie sind nur für den Krieg da. Sämtliche Volksstämme der Gegend sind dort in enger Berührung, verbündete Stämme und unterworfene Stämme: gelbe Ameisen, rote Ameisen, schwarze Ameisen, Leimspuckerinnen, primitive Ameisen mit Giftstachel und sogar Zwergameisen.

Auch das ging auf die Termiten zurück, die Idee nämlich, fremde Bevölkerungen zu ernähren, um sie dazu zu bringen, sich im Falle einer Invasion auf die Seite der Belokanerinnen zu schlagen.

Was die Ameisenstädte anging, war es durchaus schon vorgekommen, daß sie sich aufgrund diplomatischer Feinheiten mit den Termiten gegen andere Ameisen verbündet hatten.

Das hatte folgende Überlegung ausgelöst: Warum nicht einfach Ameisenlegionen aufstellen, die sich ständig in dem Termitenhügel aufhielten? Die Idee war revolutionär. Und die Überraschung war gewaltig, als sich die Ameisenheere Schwestern von ihrer eigenen Art gegenübersahen, die für die Termiten kämpften. In diesem Fall hatte sich die Ameisenzivilisation, die sich so prompt anzupassen wußte, ein wenig übernommen.

Gerne hätten die Ameisen als Reaktion ihre Feinde kopiert und Termitenlegionen gedungen, die gegen Termiten kämpfen sollten. Das Vorhaben scheiterte jedoch an einem kapitalen Hindernis: Die Termiten sind absolute Royalisten. Ihre Loyalität ist unbedingt, sie sind unfähig, gegen Artgenossen zu kämpfen. Einzig die Ameisen, deren politische Systeme ebenso vielfältig sind wie ihre Physiologie, sind in der Lage, all die perversen Verwicklungen des Söldnertums auf sich zu nehmen.

Dann eben nicht! Die großen Ameisenföderationen hatten sich damit begnügt, ihr Heer mit zahlreichen Legionen fremder Ameisen zu verstärken, die samt und sonders unter dem belokanischen Duftbanner vereint waren.

Nr. 103 683 geht auf die gedungenen Zwergameisen zu. Sie fragt sie, ob sie etwas von der Entwicklung einer Geheimwaffe in Shi-gae-pu gehört hätten, eine Waffe, die fähig sei, eine ganze Expedition von achtundzwanzig roten Ameisen blitzartig zu vernichten. Sie antworten, eine solch wirksame Waffe hätten sie noch nie gesehen noch hätten sie je davon gehört.

Nr. 103 683 befragt andere Söldnerinnen. Eine gelbe Ameise behauptet, solch ein Wunder habe sie selbst erlebt. Das sei allerdings keine Attacke der Zwerginnen gewesen, sondern ... eine verfaulte Birne, die unvermutet von einem Baum gefallen sei. Alle brechen in ein schallendes Pheromonenlachen aus. Das ist der Humor der gelben Ameisen.

Nr. 103 683 steigt in einen Saal, wo ihre nächsten Kolleginnen trainieren. Sie kennt sie allesamt persönlich. Man hört ihr aufmerksam zu, man vertraut ihr. Die Gruppe »Suche nach der Geheimwaffe der Zwerginnen« umfaßt alsbald mehr als dreißig entschlossene Kriegerinnen. Ah, wenn Nr. 327 das sähe!

Achtung, eine organisierte Bande versucht alle zu vernichten, die etwas in Erfahrung bringen wollen. Bestimmt rote Söldnerinnen im Dienst der Zwerginnen. Man kann sie identifizieren, sie riechen alle nach Felsen.

Zur Sicherheit beschließen sie, ihre erste Versammlung ganz unten in der Stadt, in einem der tiefsten Säle der fünfzigsten Etage, abzuhalten. Niemand verirrt sich jemals dorthin. Dort dürften sie ungestört ihre Offensive vorbereiten können.

Aber der Körper von Nr. 103 683 signalisiert eine jähe Beschleunigung der Zeit. Es ist 23°. Sie verabschiedet sich und hastet zu ihrem Treffen mit Nr. 327 und Nr. 56.


Ästhetik: Was gibt es Schöneres als eine Ameise? Ihre Linien sind geschwungen und edel, ihre Aerodynamik vollkommen. Die gesamte Karosserie des Insekts ist so angelegt, daß jedes Glied perfekt in die dazu vorgesehene Raste paßt. Jedes Gelenk ist ein mechanisches Wunder. Die Platten fügen sich ineinander, als wären sie von einem computergestützten Designer entworfen worden. Da knirscht nichts, da reibt sich nichts. Der dreieckige Kopf zerschneidet die Luft, die langen, elastischen Beine verleihen dem Körper eine bequeme Spannung unmittelbar über dem Boden. Ein italienischer Sportwagen, könnte man sagen.

Die Krallen ermöglichen es ihr, an der Decke zu gehen. Die Augen haben ein Gesichtsfeld von hundertachtzig Grad. Die Antennen erfassen Tausende von Informationen, die für uns unsichtbar sind, und ihre Enden können als Hammer verwendet werden. Der Hinterleib ist voller Taschen, Säcke, Fächer, in denen das Insekt chemische Produkte speichern kann. Die Mandibeln schneiden, kneifen, packen. Ein großartiges inneres Röhrensystem erlaubt es, Duftnachrichten zu hinterlassen.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Nicolas wollte nicht schlafen. Er saß immer noch vor dem Fernseher. Die Nachrichten hatten mit der Mitteilung geendet, daß die Sonde Marco Polo auf dem Rückweg sei.

Schlußfolgerung: Es gab nicht das geringste Anzeichen von Leben in den benachbarten Sonnensystemen. Sämtliche Planeten, die die Sonde aufgesucht hatte, boten nur das immergleiche Bild von felsigen Wüsten oder flüssiger, ammoniakhaltiger Oberflächen. Nicht die kleinste Moospflanze, nicht die geringste Amöbe, nicht die geringste Mikrobe.

»Und wenn Papa recht hat?« sagte sich Nicolas. »Wenn wir wirklich die einzige Form intelligenten Lebens im ganzen Weltall wären?«

Sicher, das war enttäuschend, aber es drohte zu stimmen.

Nach den Nachrichten lief im Rahmen der Serie »Kulturen der Welt« ein großer Bericht, der sich mit dem Problem der Kasten in Indien befaßte.

»Die Hindus gehören ihr Leben lang der Kaste an, in der sie geboren sind. Jede Kaste hat ihre eigenen Regeln, einen strengen Kode. Regeln, die niemand übertreten darf, ohne von seiner ursprünglichen sowie allen anderen Kasten geächtet zu werden. Um ein solches Verhalten zu verstehen, müssen wir uns erinnern, was .«

»Es ist ein Uhr nachts«, schaltete sich Lucie ein.

Nicolas war mit Bildern übersättigt. Seit dem Problem mit dem Keller hockte er gut vier Stunden pro Tag vor dem Fernseher. Das war sein Weg, nicht mehr zu denken und nicht mehr er selbst zu sein. Die Stimme seiner Mutter rief ihn in die schmerzliche Wirklichkeit zurück.

»Na, bist du noch nicht müde?«

»Wo ist Papa?«

»Er ist noch im Keller. Du mußt jetzt schlafen.«

»Ich kann nicht schlafen.«

»Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«

»Au ja, eine Geschichte! Eine schöne Geschichte!«

Lucie brachte ihn in sein Zimmer. Sie setzte sich auf die Bettkante und löste ihre langen roten Haare. Sie wählte ein altes hebräisches Märchen.

»Es war einmal ein Steinhauer, der war es leid, sich den ganzen Tag damit abzurackern, unter einer heißen Sonne Löcher in den Berg zu hauen. >Ich hab dieses Leben satt. Steine hauen, immer nur Steine hauen, das ist eine Schinderei ... Und diese Sonne, immer diese Sonne! Ah, wie gern wäre ich an ihrer Stelle, ich wäre da oben, allmächtig, ganz heiß und könnte die ganze Welt mit meinen Strahlen überflutenc, sagte sich der Steinhauer. Nun, durch ein Wunder wurde sein Rufen gehört. Und sogleich verwandelte sich der Steinhauer in die Sonne. Er war glücklich, daß sein Wunsch in Erfüllung gegangen war. Aber wie er genüßlich seine Strahlen überall niedergehen lassen wollte, merkte er, daß sie von den Wolken aufgehalten wurden. >Was habe ich davon, Sonne zu sein, wenn ein paar einfache Wolken meine Strahlen bremsen können! < rief er aus. >Wenn die Wolken stärker sind, bin ich doch lieber eine Wolke statt der Sonne. < Und er wird zur Wolke. Er fliegt über die Welt, zieht dahin, läßt es regnen, aber plötzlich kommt Wind auf und verweht die Wolke. >Ah, der Wind schafft es, die Wolken zu verwehen, also ist er stärker. Ich will der Wind sein<, beschließt er.«

»Und? Wird er der Wind?«

»Ja, und er bläst überall auf der Welt. Er macht Stürme, Böen, Taifune. Aber plötzlich merkt er, daß da eine Mauer ist, die ihm den Weg versperrt. Eine sehr hohe und sehr harte Mauer. Ein Berg. >Was habe ich davon, der Wind zu sein, wenn mich ein einfacher Berg aufhalten kann? Er ist der Stärkste!< sagt er.«

»Dann wird er der Berg!«

»Genau. Und in diesem Moment spürt er etwas, das auf ihn einschlägt. Etwas, was stärker ist als er, was ihn von innen aushöhlt. Das ist ... ein kleiner Steinhauer ...«

»Aaah!«

»Hat dir die Geschichte gefallen?«

»Ja. Mama!« »Bist du sicher, daß du im Fernsehen keine schönere gesehen hast?«

»Nein, Mama.«

Sie lachte und schloß ihn in ihre Arme.

»Sag mal, Mama, glaubst du, Papa gräbt da unten auch?«

»Vielleicht, wer weiß? Jedenfalls scheint er zu glauben, daß er sich in etwas anderes verwandelt, so oft wie er da runtergeht.«

»Fühlt er sich hier nicht wohl?«

»Nein, mein Kind, er schämt sich, arbeitslos zu sein. Er glaubt, es ist besser, Sonne zu sein. Eine unterirdische Sonne.«

»Papa hält sich für den König der Ameisen.«

Lucie lächelte.

»Das geht vorbei. Weißt du, er ist auch ein Kind. Und Kinder sind von Ameisenhaufen immer fasziniert. Hast du denn nie mit Ameisen gespielt?«

»Und ob, Mama!«

Lucie rückte sein Kopfkissen zurecht und küßte ihn.

»Und jetzt leg dich schlafen. Na komm, gute Nacht.«

»Gute Nacht, Mama.«

Lucie sah die Streichhölzer auf dem Nachttischchen. Er mußte doch noch versucht haben, die vier Dreiecke zu bilden. Sie ging ins Wohnzimmer zurück und griff nach dem Architekturbuch, in dem die Geschichte des Hauses erzählt wurde.

Zahlreiche Wissenschaftler hatten darin gelebt. Protestanten vor allem. Michel Servet zum Beispiel hatte einige Jahre hier gewohnt.

Eine Passage fesselte ihre Aufmerksamkeit ganz besonders. Angeblich war während der Religionskriege ein unterirdischer Gang gegraben worden, um den Protestanten die Flucht aus der Stadt zu ermöglichen. Ein ungewöhnlich langer und ungewöhnlich tiefer Stollen ...

Die drei Insekten stellen sich zu einem Dreieck auf, um eine absolute Kommunikation zu praktizieren. So brauchen sie ihre Abenteuer nicht zu erzählen, sie wissen augenblicklich, was ihnen widerfahren ist, als wären sie ein einziger Körper, der sich dreigeteilt hat, um besser ermitteln zu können.

Sie vereinigen ihre Antennen. Die Gedanken beginnen zu strömen, zu verschmelzen. Das geht reihum. Jedes Gehirn agiert wie ein Transistor, der die elektrische Nachricht, die er selbst erhält, anreichert und weiterleitet. Drei Ameisengeister, die auf die Art vereinigt sind, übersteigen die schlichte Summe ihrer Talente.

Aber plötzlich ist der Zauber dahin. Nr. 103 683 hat einen schmarotzenden Duft wahrgenommen. Die Mauern haben Antennen. Genauer gesagt zwei Antennen, die durch die Öffnung der Kammer von Nr. 56 hereinlugten. Jemand hört ihnen zu .

Mitternacht. Jonathan war seit genau zwei Tagen in dem Keller verschwunden. Lucie wanderte nervös im Wohnzimmer auf und ab. Sie schaute nach Nicolas, der tief schlief, als sich ihr Blick plötzlich auf etwas heftete. Die Streichhölzer. In diesem Moment hatte sie das Gefühl, in dem Rätsel mit den Streichhölzern könnte der Ansatz zu einer Lösung dieses Rätsels stecken, das der Keller darstellte. Vier gleichseitige Dreiecke mit sechs Streichhölzern .

»Man muß anders denken - wenn man so überlegt, wie man es gewohnt ist - erreicht man nichts«, hatte Jonathan die Worte seines Onkels wiederholt. Sie nahm die Streichhölzer und ging ins Wohnzimmer zurück, um dort lange mit ihnen zu spielen. Schließlich legte sie sich, vor Angst erschöpft, schlafen.

In dieser Nacht hatte sie einen seltsamen Traum. Zunächst sah sie Onkel Edmond oder zumindest eine Person, die der Beschreibung entsprach, die ihr Jonathan von ihm gegeben hatte. Er stand in einer langen Kinoschlange, die sich mitten durch eine Steinwüste zog. Mexikanische Soldaten umstellten die Schlange und achteten darauf, daß »nichts schiefging«. In der Ferne waren ein Dutzend Galgen zu sehen, an denen die Leute aufgehängt wurden. Wenn sie tot waren, wurden sie abgenommen, und andere nahmen ihre Stelle ein. Und die Schlange rückte vor .

Hinter Edmond standen Jonathan, sie selbst und ein dicker Mann mit einer ganz kleinen Brille. All diese zum Tode Verurteilten plauderten gelassen, als ob nichts wäre.

Als man ihnen endlich die Schlinge um den Hals legte und sie alle vier nebeneinander aufhängte, warteten sie nur untätig. Onkel Edmond entschloß sich als erster zu reden, mit heiserer Stimme fragte er: »Was tun wir hier?«

»Ich weiß nicht ... Wir leben. Wir sind geboren worden, also leben wir so lange wie möglich. Aber jetzt, glaube ich, geht es dem Ende entgegen«, antwortete Jonathan.

»Mein lieber Neffe, du bist ein Pessimist. Sicher, wir sind aufgehängt und von mexikanischen Soldaten umgeben, aber das ist nur ein unliebsamer Zwischenfall, nicht das Ende, nur ein Zwischenfall. Außerdem hat diese Situation notwendigerweise eine Lösung. Seid ihr alle ganz fest verschnürt?«

Sie zappelten in ihren Fesseln.

»Nein«, sagte der dicke Mann. »Ich kann mich dieser Schnüre entledigen.«

Und er tat es.

»Schön, dann befreien Sie uns.«

»Und wie?«

»Schaukeln Sie, bis Sie meine Hände erreicht haben.«

Der Mann wand sich, und er schaffte es, sich in ein lebendes Pendel zu verwandeln. Nachdem er Edmonds Fesseln gelöst hatte, konnten sie alle nach und nach mit der gleichen Technik befreit werden.

Dann sagte der Onkel: »Macht es wie ich!«, und mit kleinen Sprüngen seines Halses hüpfte er von Schnur zu Schnur auf den letzten Galgen der Reihe zu. Die anderen taten es ihm nach.

»Aber weiter kommen wir nicht! Hinter diesem Galgen ist nichts mehr, sie werden uns entdecken.«

»Seht, da ist ein kleines Loch in dem Galgen. Kommt.«

Edmond sprang gegen den Galgen, wurde ganz klein und verschwand in dem Loch. Jonathan und der dicke Mann folgten ihm. Lucie sagte sich, daß sie es niemals schaffen werde, dennoch schwang sie sich gegen den Pfahl, und sie drang in das Loch ein.

Innendrin war eine Wendeltreppe. Sie stürmten die Stufen hinauf. Schon waren die Schreie der Soldaten zu hören, die ihre Flucht bemerkt hatten. Los gringos, los gringos, cuidado! Polternde Stiefel, Gewehrschüsse. Man machte Jagd auf sie.

Die Treppe mündete in ein modernes Hotelzimmer mit Blick aufs Meer. Sie traten ein und schlossen die Tür. Zimmer 8. Als die Tür zuschlug, verwandelte sich die vertikale 8 in eine horizontale 8, das Zeichen der Unendlichkeit. Das Zimmer war luxuriös, und man fühlte sich vor den Berserkern in Sicherheit.

Während alle noch erleichtert aufatmeten, sprang Lucie plötzlich ihrem Mann an die Kehle. »Wir haben Nicolas vergessen«, rief sie. »wir haben Nicolas vergessen!« Sie streckte ihn mit einer antiken Vase nieder, deren Malerei den jungen Herkules zeigte, der die Schlange erwürgt. Jonathan fiel zu Boden und verwandelte sich in . eine geschälte Krabbe, die sich lächerlich wand.

Onkel Edmond trat vor.

»Tut’s euch leid?«

»Ich verstehe nichts mehr.«

»Ihr werdet verstehen«, sagte er lächelnd. »Folgt mir.«

Er führte sie auf den zum Meer gelegenen Balkon und schnippte mit den Fingern. Sechs brennende Streichhölzer stiegen aus den Wolken herab und reihten sich über seiner Hand auf.

»Hört gut zu«, sagte er laut. »man denkt immer gleich. Man erfaßt die Welt immer auf die gleiche banale Weise. So als würde man jedes Foto mit einem Weitwinkelobjektiv machen. Das ist eine Sicht der Realität, aber nicht die einzige. MAN ... MUSS ... ANDERS ... DENKEN! Schaut her.«

Die Streichhölzer wirbelten einen Moment lang durch den Raum, dann vereinigten sie sich auf dem Boden. Sie robbten wie lebende Wesen und bildeten ...

Am nächsten Morgen kaufte Lucie ziemlich aufgeregt einen Schweißbrenner. Schließlich schaffte sie es, mit dem Schloß fertigzuwerden. Als sie gerade die Schwelle zum Keller überschreiten wollte, tauchte Nicolas verschlafen in der Küche auf.

»Mama! Wohin gehst du?«

»Ich werde deinen Vater suchen. Er hält sich für eine Wolke, die über die Berge fliegt. Ich will schauen, ob er nicht ein wenig übertreibt. Ich werd’s dir erzählen ...«

»Nein. Mama, geh nicht, geh nicht ... Ich bin doch dann ganz allein.«

»Keine Bange, Nicolas, ich komme zurück, ich bleibe nicht lange, warte auf mich.«

Sie leuchtete in den Keller. Der Ort war finster, stockfinster

Wer ist da?

Die beiden Antennen rücken vor, es folgt ein Kopf, dann ein Thorax und ein Hinterleib. Die kleine Hinkende mit dem Felsengeruch.

Sie wollen sich auf sie stürzen, aber hinter ihr zeichnen sich die Mandibeln einer schwer bewaffneten Hundertschaft von Soldatinnen ab. Sie verströmen alle den gleichen Felsenduft.

Fliehen wir durch den Geheimgang! stößt das 56. Weibchen hervor.

Sie räumt den Kieselstein zur Seite und legt ihren Stollen frei. Dann schlägt sie mit den Flügeln und erhebt sich fast zur Decke, von wo sie die ersten Eindringlinge mit Säure beschießt. Ihre beiden Komplizen fliehen, während eine brutale Aufforderung aus den Reihen der Kriegerinnen aufsteigt.

Tötet sie!

Nr. 56 springt ihrerseits in das Loch. Säurestrahlen verfehlen sie um Haaresbreite. Schnell! Fangt sie! Hunderte von Beinen machen sich auf die Verfolgung. Diese Spioninnen sind verdammt zahlreich! Sie drängen sich geräuschvoll in den Engpaß, um das Trio einzuholen.

Den Bauch auf der Erde, die Antennen zurückgelegt, huschen das Männchen, das Weibchen und die Soldatin durch den Gang, der nichts Geheimes mehr an sich hat. Sie verlassen die Zone des Jungferngemachs und gelangen in tiefere Stockwerke. Bald schon gabelt sich der Gang. Von dort an häufen sich die Kreuzungen, aber Nr. 327 findet sich zurecht und zieht seine Leidensgenossinnen mit sich.

Plötzlich stoßen sie an der Ecke eines Tunnels auf einen Trupp von Soldatinnen, die in ihre Richtung stürmen. Unglaublich: die Hinkende hat sie bereits eingeholt. Das machia-vellistische Insekt kennt offenbar sämtliche Abkürzungen!

Die drei Flüchtlinge machen kehrt und nehmen Reißaus. Als sie sich endlich ein wenig ausruhen können, bringt Nr. 103 683 vor, daß sie sich besser nicht auf dem Terrain der Spioninnen abschinden, die sich in diesem Gewirr von Gängen ein wenig zu gut auskennen.

Wenn der Feind stärker scheint als du, handele so, daß du dich seiner Denkweise entziehst. Dieser alte Satz der ersten Königin paßt hervorragend auf ihre Situation. Nr. 56 hat eine Idee; sie schlägt vor, sich in einer Wand zu verstecken!

Noch haben die Kriegerinnen mit dem Felsengeruch sie nicht aufgestöbert, also graben sie sich mit aller Kraft in eine Seitenwand, fallen mit ihren Mandibeln über die Erde her, wühlen sie auf. Ihre Augen, ihre Antennen sind voll davon. Manchmal schlucken sie ganze Brocken, um schneller voranzukommen. Kaum ist der Hohlraum tief genug, schmiegen sie sich hinein, bauen die Mauer wieder auf und warten. Ihre Verfolger kommen, sie rennen vorbei. Aber sie kommen bald wieder zurück, und diesmal erheblich langsameren Schritts. Da wird ganz schön geschnüffelt auf der anderen Seite der Wand Nein, sie haben nichts gemerkt. Trotzdem können die drei hier nicht bleiben. Irgendwann werden die anderen einige ihrer Moleküle aufspüren. Also graben sie weiter. Nr. 103 683, die mit den größten Mandibeln ausgestattet ist, wühlt vorneweg; die beiden anderen räumen den Sand weg und verstopfen das Loch hinter ihnen.

Die Mörderinnen haben das Manöver durchschaut. Sie untersuchen die Wände, finden ihre Spur und beginnen wie besessen zu graben. Die drei Ameisen nehmen eine abschüssige Kurve. In dieser schwarzen Melasse ist es ohnehin nicht einfach, sich an irgend etwas zu halten. Alle paar Sekunden kommen drei neue Gänge, und zwei andere versperren einander. Da versuche einer, unter solchen Umständen eine verläßliche Karte der Stadt zu zeichnen! Die einzigen Fixpunkte sind die Kuppel und der Baumstumpf.

Die drei Ameisen dringen langsam in das Fleisch der Stadt ein. Mitunter geraten sie an eine lange Liane. In Wirklichkeit ist das Efeu, das die Gärtnerinnen gepflanzt haben, damit die Stadt nicht einstürzt, wenn es regnet. Dann wieder wird die Erde härter, und sie stoßen mit den Mandibeln gegen Steine, so daß ein Umweg geboten ist.

Die beiden Fortpflanzungsfähigen nehmen hinter sich keine Erschütterungen mehr wahr. Das Trio beschließt innezuhalten.

Sie befinden sich in einer Luftblase im Herzen von Bel-o-kan. Ein undurchdringliches, geruchsloses, allen unbekanntes Oval. Eine verlassene hohle Insel. Wer soll sie in dieser Minihöhle aufstöbern? Sie fühlen sich hier wie in dem dunklen Oval des Hinterleibs ihrer Erzeugerin.

Nr. 56 klopft mit den Antennen auf den Schädel ihres Gegenübers, eine Aufforderung zur Trophallaxie. Nr. 327 neigt die Antennen zum Zeichen des Einverständnisses, dann drückt er seinen Mund auf den des Weibchens. Er würgt ein wenig von dem Honigtau hoch, den ihm die erste Schildwache überreicht hat. Nr. 56 fühlt sich augenblicklich gestärkt. Nr. 103 683 klopft ihr ihrerseits auf den Schädel. Sie pressen ihre Lippen aufeinander, und Nr. 56 läßt ein wenig von der Nahrung aufsteigen, die sie gerade geschluckt hat. Anschließend liebkosen und reiben sich die drei gegenseitig. Ah, was ist es - für eine Ameise - angenehm zu geben .

Wenn sie auch neue Kräfte geschöpft haben, wissen sie doch, daß sie hier nicht ewig bleiben können. Der Sauerstoff wird knapp werden, und selbst wenn die Ameisen recht lange ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne Luft und Wärme überleben können, wird sie der Mangel dieser lebenswichtigen Elemente schließlich in einen tödlichen Schlaf sinken lassen.

Antennenkontakt.

Was tun wir jetzt?

Die Gruppe der dreißig Kriegerinnen, die ich für unser Vorhaben gewonnen habe, erwartet uns in einem Saal im fünfzigsten Untergeschoß.

Gehen wir.

Sie nehmen ihre Grabungsarbeiten wieder auf, orientieren sich mit ihrem Johnston-Organ, das die irdischen Magnetfelder registriert. Sie sind fest davon überzeugt, zwischen den Getreidespeichern des 18. UG und den Pilzkulturen des 20. UG zu sein. Doch je tiefer sie gelangen, um so kälter wird es. Wenn die Nacht hereinbricht, dringt der Frost tief in den Boden. Ihre Bewegungen werden langsamer. Schließlich erstarren sie in ihrer grabenden Haltung und schlafen in Erwartung der Erwärmung ein.

»Jonathan, Jonathan, ich bin’s, Lucie!«

Je tiefer sie in dieses Reich der Finsternis hinabsteigt, um so mehr überkommt sie die Angst. Dieser endlose Abstieg über die Stufen dieser gewundenen Treppe hatte sie schließlich in einen seltsamen Zustand versetzt, in dem es ihr vorkam, als dränge sie tiefer und tiefer in ihr eigenes Inneres ein. Sie verspürte jetzt einen dumpfen Schmerz im Bauch, nachdem ihr zunächst eine völlig trockene Kehle, später ein beängstigender Druck am Solarplexus, gefolgt von heftigen Magenstichen zugesetzt hatten.

Ihre Knie, ihre Füße bewegten sich mechanisch weiter. Würden sie auch bald kaputt sein, würde sie dort auch Schmerzen haben, würde sie aufhören, hier runterzugehen?

Bilder aus ihrer Kindheit tauchten wieder auf. Ihre autoritäre Mutter, die in einem fort Schuldgefühle in ihr geweckt hatte, die sie tausendfach zugunsten ihrer niedlichen Brüder benachteiligt hatte ... Und ihr Vater, ein erloschener Typ, der vor seiner Frau zitterte, der jeder Diskussion aus dem Weg ging und zu jedem Wunsch der Königin Mutter ja und amen sagte. Ihr Vater, der Feigling ...

Diese unangenehmen Erinnerungen wichen dem Gefühl, Jonathan gegenüber ungerecht gewesen zu sein. Tatsächlich hatte sie ihm alles vorgeworfen, was sie an ihren Vater erinnerte. Und gerade weil sie ihn ständig mit Vorwürfen überhäufte, schüchterte sie ihn ein, brach sie ihm das Rückgrat, so daß er nach und nach ihrem Vater ähnlich wurde. So hatte der Teufelskreis begonnen. Sie hatte, ohne es zu merken, wieder erschaffen, was sie am meisten haßte: das Paar ihrer Eltern.

Sie mußte aus diesem Kreis ausbrechen. Sie machte sich Vorwürfe wegen all der Rüffel, die sie ihrem Mann erteilt hatte. Sie mußte alles wiedergutmachen.

Sie kreiste weiter nach unten. Die Erkenntnis ihrer eigenen Schuld hatte ihren Körper von seiner Angst und den beklemmenden Schmerzen befreit. Sie kreiste weiter, stieg weiter hinab, bis sie plötzlich fast gegen eine Tür geprallt wäre. Eine schlichte Tür, teilweise mit Inschriften versehen, auf deren Lektüre sie verzichtete. Die Tür hatte eine Klinke, sie öffnete sich, ohne zu knarren.

Dahinter führte die Treppe weiter hinab. Der einzige nennenswerte Unterschied waren die eisenhaltigen Gesteinsadern, die an dem Felsen erschienen. Durch den Kontakt mit durchsickerndem Wasser, das vermutlich von einem unterirdischen Bach herrührte, hatte das Eisen einen braunroten Farbton angenommen.

Dennoch hatte sie das Gefühl, eine neue Etappe in Angriff genommen zu haben. Und plötzlich sah sie im Licht ihrer Stablampe Blutflecken vor ihren Füßen. Die mußten von Ouarzazate stammen. Bis hierhin war der tapfere kleine Pudel also gelaufen ... Überall waren Spritzer, aber es war schwierig, die Blutspuren an den Wänden von den rostfarbenen Eisenadern zu unterscheiden.

Plötzlich vernahm sie ein Geräusch. Eine Art Prasseln. Es hörte sich an, als kämen lebende Wesen auf sie zu. Die Schritte waren nervös, als seien diese Wesen schüchtern, als wagten sie nicht näher zu kommen. Sie blieb stehen, um mit ihrer Stablampe die Dunkelheit zu erforschen. Als sie sah, woher das Geräusch rührte, stieß sie einen unmenschlichen Schrei aus. Aber da, wo sie war, konnte ihn niemand hören.

Der Tag graut für sämtliche Kreaturen der Erde. Sie setzen ihren Abstieg fort. 36. UG. Nr. 103 683 kennt die Gegend recht gut, sie denkt, daß sie sich gefahrlos hinauswagen können. Bis hierher können ihnen die Kriegerinnen mit dem Felsengeruch nicht gefolgt sein.

Sie geraten in einige völlig ausgestorbene, niedrige Gänge. An einigen Stellen rechts und links sind Löcher zu sehen, alte Getreidespeicher, die seit mindestens zehn Wintern nicht mehr benutzt worden sind. Der Boden ist klebrig. Irgendwie muß hier Feuchtigkeit eindringen. Das ist auch der Grund, warum sich diese als ungesund angesehene Zone in eines der verrufensten Viertel von Bel-o-kan verwandelt hat.

Es stinkt.

Das Männchen und das Weibchen sind nicht besonders beruhigt. Sie spüren die Gegenwart feindlicher Wesen. Antennen, die sie belauern. Die Gegend muß mit schmarotzenden und obdachlosen Insekten gespickt sein.

Sie schreiten mit weit geöffneten Mandibeln durch die unheimlichen Säle und Tunnel. Ein schrilles Quietschen läßt sie zusammenzucken. Ritsch, ritsch, ritsch ... Kein Ton unterscheidet sich von dem andern. Sie vereinen sich zu einem hypnotischen Singsang, der durch die schlammigen Höhlen hallt.

Der Soldatin zufolge handelt es sich um Grillen. Das sei ihr Liebesgesang. Die beiden anderen sind nur halb beruhigt. Es ist schier unglaublich, daß es den Grillen gelingt, die Truppen der Föderation inmitten der Stadt herauszufordern!

Nr. 103 683 ist nicht überrascht. Hieß nicht ein Satz der letzten Königin: Besser die starken Punkte befestigen, als alles kontrollieren zu wollen. Das ist das Ergebnis ...

Andere Geräusche. Als ob jemand sehr schnell gräbt. Haben die Kriegerinnen mit dem Felsenduft sie wiedergefunden? Nein . Zwei Hände tauchen vor ihnen auf. Ihre Kanten bilden eine Art Rechen ... Die Hände packen die Erde und werfen sie nach hinten. Auf diese Art treiben sie einen riesigen schwarzen Körper an.

Wenn das bloß kein Maulwurf ist!

Sie erstarren alle drei, ihre Mandibeln sind weit aufgerissen.

Es ist ein Maulwurf.

Sandwirbel. Eine Kugel aus schwarzen Haaren und weißen Krallen. Das Tier scheint zwischen den Sedimentsschichten zu schwimmen wie ein Frosch in einem Teich. Sie werden geohrfeigt, umgerührt, unter Lehmklumpen verschüttet. Aber sie kommen unversehrt davon. Die Wühlmaschine ist fort. Der Maulwurf hat nur Würmer gesucht. Es ist ihm eine große Freude, in ihre Nervenknoten zu beißen, um sie zu lahmen und sie dann lebend in seinem Bau zu lagern.

Die drei Ameisen machen sich wieder auf den Weg, nachdem sie sich einmal mehr methodisch gereinigt und gewaschen haben.

Sie sind in einen sehr schmalen und sehr hohen Durchgang eingedrungen. Ihre Führerin, die Soldatin, stößt einen Warnduft aus und deutet zur Decke. Jene ist in der Tat mit rot-schwarz gefleckten Wanzen übersät.

Das Muster auf dem Rücken dieser drei Kopf (neun Millimeter) langen Insekten scheint einen erbosten Blick darzustellen. Im allgemeinen ernähren sie sich von dem feuchten Fleisch toter, manchmal auch recht lebendiger Insekten.

Unversehens läßt sich eine Wanze auf das Trio fallen. Noch bevor sie den Boden erreicht, klemmt Nr. 103 683 den Hinterleib unter ihren Thorax und feuert einen Strahl Ameisensäure ab. Als die Wanze landet, hat sie sich in heißen Brei verwandelt.

Sie fressen sie hastig auf, dann machen sie sich davon, bevor noch eines dieser Ungetüme herunterkommt.


Intelligenz: Mit den eigentlichen Experimenten habe ich im Januar 58 begonnen. Erstes Thema: die Intelligenz. Sind Ameisen intelligent?

Um es zu erfahren, habe ich einer roten Ameise (formica rufa) mittlerer Größe und geschlechtslosen Typs folgendes Problem gestellt: Ich habe ein Stück harten Honig in ein Loch gesteckt. Dieses Loch habe ich jedoch mit einem schmalen, nicht besonders schweren, aber recht langen Zweig verstopft. Normalerweise vergrößert die Ameise ein Loch, um hineinzugelangen, aber in diesem Fall war das Gestell aus hartem Kunststoff, den sie nicht durchbohren kann.

Erster Tag: Die Ameise zerrt an dem Zweig, sie hebt ihn ein wenig an, dann läßt sie ihn los, hebt ihn wieder an.

Zweiter Tag: Die Ameise macht immer noch dasselbe. Und sie versucht, den Zweig an seinem Ende anzuschneiden. Kein Resultat.

Dritter Tag: Idem. Es sieht so aus, als hätte sich die Ameise auf eine falsche Überlegung versteift, die sie weiter verfolgt, weil sie sich keine andere vorstellen kann. Was ein Beweis für ihre Nichtintelligenz wäre ...

Vierter Tag: Idem.

Fünfter Tag: Idem.

Sechster Tag: Als ich morgens wach wurde, war der Zweig nicht mehr in dem Loch. Das muß in der Nacht geschehen sein.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Die folgenden Gänge sind halb verstopft. Die kalte und trockene Erde oben, die von weißen Wurzeln zurückgehalten wird, bildet Klumpen. Zuweilen fallen einige Bröckchen hinunter. »Innerer Hagel« nennt man das. Das einzige bekannte Mittel, sich davor zu schützen, ist doppelte Wachsamkeit und beim geringsten Duft von Geröll zur Seite springen.

Den Bauch auf den Boden gepreßt, die Antennen nach hinten geknickt, die Beine weit abgespreizt, rücken die drei Ameisen vor. Nr. 103 683 scheint genau zu wissen, wohin sie sie führt. Der Boden wird wieder feucht. Ein ekelhafter Geruch schwebt dort. Es riecht nach Leben. Nach Tier.

Nr. 327 bleibt stehen. Er ist nicht ganz sicher, aber ihm war, als hätte sich eine Wand unmerklich bewegt. Er geht auf die verdächtige Zone zu; die Wand bebt erneut. Er weicht zurück. Eine Ausbeulung zeichnet sich ab, doch zu klein, als daß es ein Maulwurf sein könnte. Die Ausbeulung verwandelt sich in eine Spirale, eine Art Höcker wächst in ihrer Mitte und spritzt hervor, um sich auf ihn zu stürzen.

Das Männchen stößt einen Duftschrei aus.

Ein Regenwurm! Nr. 327 zerschneidet ihn mit einem Mandibelbiß. Aber jetzt tropft dieses sich ringelnde Getier ringsum von den Wänden. Bald sind es so viele, daß man glauben könnte, in den Eingeweiden eines Vogels zu sein.

Einer der Würmer verfällt darauf, sich um den Thorax des Weibchens zu schlingen. Jenes schnappt mit den Mandibeln zu und schneidet ihn in mehrere Stücke, die sich rechts und links davonschlängeln. Andere Würmer kommen hinzu und winden sich um ihre Beine und Köpfe. Daß die Antennen in Mitleidenschaft gezogen werden, ist besonders unangenehm. Sie legen alle drei gemeinsam an und beschießen die harmlosen Askariden mit Säure. Am Ende ist der Boden nur mehr ein Relief aus ockerfarbenem Fleisch, das immer noch hüpft, als wollte es sie herausfordern.

Sie rennen davon.

Als sie sich wieder fassen, zeigt ihnen Nr. 103 683 eine weitere Reihe von Gängen, die sie durchqueren müssen. Je weiter sie kommen, um so schlechter riecht es, aber sie gewöhnen sich daran. Man gewöhnt sich an alles. Die Soldatin deutet auf eine Wand und erklärt, daß sie dort graben müssen.

Das sind die alten sanitären Einrichtungen aus Kompost, der Versammlungsort ist unmittelbar daneben. Wir treffen uns gerne hier, da ist man ungestört.

Sie spielen Wühlmaus. Auf der anderen Seite gelangen sie in einen großen Saal, in dem es nach Exkrementen riecht.

Die dreißig Soldatinnen, die sich ihrer Sache angeschlossen haben, warten tatsächlich auf sie. Aber um mit ihnen zu reden, müßte man die Grundbegriffe des Puzzles kennen, denn sie sind in ihre Einzelteile zerlegt. Mancher Kopf weit vom Thorax entfernt .

Fassungslos inspizieren sie den makabren Saal. Wer mag sie hier getötet haben, im Keller von Bel-o-kan?

Bestimmt etwas, was von unten kommt, stößt das 327. Männchen hervor.

Das glaube ich kaum, erwidert das 56. Weibchen und schlägt trotz allem vor, den Boden aufzugraben.

Sie schlägt die Mandibeln hinein. Schmerz. Darunter ist nackter Fels.

Ein riesiger Granitfelsen, erklärt Nr. 103 683 kurz darauf, das ist der Grund, der harte Boden der Stadt. Und der ist dick. Sehr dick. Und breit. Sehr breit. Noch nie ist jemand bis zu seinem Rand vorgedrungen.

Wer weiß, vielleicht ist das sogar der Boden der Welt. Ein merkwürdiger Geruch breitet sich aus. Etwas, was in den Raum getreten ist. Etwas, was ihnen sofort sympathisch ist. Nein, keine Ameise aus dem Volk, sondern ein Lomechusekäfer.

Noch als Larve hat Nr. 56 Belo-kiu-kiuni über dieses Insekt reden hören:

Kein Gefühl kommt dem gleich, was man bei der Einnahme des Nektars der Lomechuse empfindet, wenn man erst einmal davon gekostet hat. Sie ist die Frucht aller körperlichen Begierde, ihr Sekret zerstört den unbeugsamsten Willen.

In der Tat unterdrückt die Einnahme dieser Substanz den Schmerz, die Angst, die Intelligenz. Die Ameisen, die das Glück haben, ihre Giftlieferantin zu überleben, verlassen auf der Suche nach neuen Dosen unaufhaltsam die Stadt. Sie essen nicht mehr, ruhen sich nicht mehr aus und wandern bis zur Erschöpfung. Schließlich pressen sie sich an einen Grashalm, wenn sie keine Lomechuse finden, und siechen dahin, gepeinigt von den tausend Martern des Entzugs.

Die junge Nr. 56 hat eines Tages gefragt, warum man eine solche Geißel, der Termiten und Bienen schonungslos den Garaus machen, in der Stadt dulde. Belo-kiu-kiuni hat geantwortet, daß es zwei Wege gebe, ein Problem anzugehen: entweder man hält es sich vom Leib, oder man läßt sich von ihm durchdringen. Der zweite sei nicht unbedingt der schlechteste. Das Sekret der Lomechuse ist, wohldosiert oder mit anderen Substanzen gemischt, eine hervorragende Medizin.

Nr. 327 wagt sich als erster vor. Angezogen von der Schönheit der Düfte, die von der Lomechuse ausgehen, leckt er die Haare ihres Hinterleibs. Jene sondern einen Halluzinationen hervorrufenden Saft ab. Verwirrender Umstand: Der Hinterleib der Giftmischerin mit seinen beiden langen Haaren hat exakt die gleiche Form wie ein Ameisenkopf mit den beiden Antennen!

Nr. 56 stürzt auch herbei, aber sie kommt nicht mehr dazu, sich zu laben. Ein Säurestrahl zischt durch die Luft. Nr. 103 683 hat angelegt und geschossen. Der verätzte Käfer windet sich vor Schmerz.

Wortkarg kommentiert die Soldatin ihr Eingreifen:

Es ist nicht normal, dieses Insekt in einer solchen Tiefe anzutreffen. Die Lomechuses können sich nicht durch die Erde graben. Jemand hat sie bewußt hierhergebracht, um uns daran zu hindern, weiterzugehen! Hier ist irgend etwas verborgen.

Die beiden anderen sind betreten, sie können nicht umhin, den Scharfsinn ihrer Gefährtin zu bewundern. Alle drei beginnen zu suchen. Sie suchen lange, verrücken Kieselsteine, schnuppern in den kleinsten Winkeln des Raumes. Es gibt kaum einen Hinweis. Schließlich fällt ihnen jedoch ein Geruch auf, den sie kennen. Der schwache Felsenduft der Mörderinnen. Kaum wahrnehmbar, höchstens zwei, drei Moleküle, aber das reicht. Er kommt von dort drüben. Genau unter diesem kleinen Felsen. Sie kippen ihn um und legen einen Geheimgang frei. Einer mehr.

Nur daß dieser hier eine Besonderheit hat: Er ist nicht durch Erde, auch nicht durch Holz gegraben. Er ist geradewegs in den Granitfelsen geschlagen! Keine Mandibel kann ein solches Material ausgehöhlt haben.

Der Gang ist ziemlich breit, dennoch steigen sie vorsichtig hinab. Nach einer kurzen Strecke gelangen sie in einen weitläufigen Saal, der mit Nahrungsmitteln gefüllt ist. Mehl, Honig, Korn, allerlei Fleisch ... All das in erstaunlichen Mengen, genug, um die Stadt fünf Winter lang zu ernähren! Und das Ganze verströmt den gleichen Felsengeruch wie die Kriegerinnen, die sie verfolgen.

Wie ist es möglich, daß ein so gut gefüllter Speicher heimlich hier eingerichtet worden ist? Obendrein mit einer Lomechuse (??) davor, um den Zugang zu versperren! Diese Information wurde nie unter den Antennen der Meute verbreitet .

Sie stärken sich ausgiebig, dann vereinigen sie ihre Antennen, um die Lage zu besprechen. Diese Angelegenheit wird immer rätselhafter. Die geheime Waffe, mit der die Expedition Nr. 1 vernichtet wurde, die Kriegerinnen mit dem eigenartigen Duft, die sie überall attackieren, die Lomechuse, ein Nahrungsmittellager unter dem Boden der Stadt ... Dahinter steckt mehr als eine Gruppe von Spionen im Dienst der Zwerginnen. Oder sie sind verdammt gut organisiert!

Nr. 327 und seine Partnerinnen kommen nicht mehr dazu, ihre Gedanken zu vertiefen. Ein dumpfes Pochen hallt bis zu ihnen herunter. Pongpongpongpong, pongpongpongpong! Oben trommeln die Arbeiterinnen mit dem Ende ihres Hinterleibs auf den Boden. Das ist ernst. Man ist schon bei Alarmstufe zwei. Sie dürfen diesen Appell nicht ignorieren. Ihre Beine machen automatisch kehrt. Ihre Körper, getrieben von einer unwiderstehlichen Kraft, sind bereits unterwegs, um sich dem Rest des Volkes anzuschließen.

Die Hinkende, die ihnen in einiger Entfernung gefolgt ist, ist erleichtert. Uff! Sie haben nichts entdeckt ...

Da weder sein Vater noch seine Mutter aus dem Keller zurückkamen, entschloß sich Nicolas zu guter Letzt, die Polizei zu verständigen. Und so tauchte ein ausgehungertes Kind mit geröteten Augen im Kommissariat auf, um zu erklären, daß seine Eltern »im Keller verschwunden« seien. Wahrscheinlich seien sie von Ratten oder Ameisen gefressen worden. Zwei verdutzte Polizisten folgen ihm in die Souterrainwohnung in der Rue des Sybarites.


Intelligenz (Fortsetzung): Das Experiment wird wiederholt, diesmal mit einer Videokamera.

Versuchsperson: Eine andere Ameise der gleichen Art und aus dem gleichen Nest.

- Erster Tag: Sie zieht, drückt und beißt den Halm ohne irgendeinen Erfolg.

- Zweiter Tag: Idem.

- Dritter Tag: Geschafft! Sie hat etwas gefunden, sie zieht ein wenig, klemmt den Zweig fest, indem sie ihren Hinterleib in das Loch steckt und ihn anschwellen läßt, dann zieht sie ihre »Beute« heraus und beginnt von vorn. Und so entfernt sie Stück für Stück den Halm.

So ging das also ...

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Der Alarm wurde von einem außergewöhnlichen Ereignis ausgelöst. La-chola-kan, die westlichste der Tochterstädte, ist von Einheiten der Zwergameisen angegriffen worden.

Sie haben also wieder angefangen ...

Jetzt ist der Krieg unvermeidlich.

Die Überlebenden, denen es gelungen ist, die Blockade der Shigaepuanerinnen zu durchbrechen, erzählen unglaubliche Dinge. Folgendes habe sich abgespielt:

Um 17°-Zeit habe sich ein langer Akazienzweig dem Haupteingang von La-chola-kan genähert. Ein ungewöhnlicher mobiler Zweig. Er sei ruckartig eingedrungen und habe die Öffnung zerstört, indem er sich in einem fort drehte!

Die Schildwachen seien nach draußen gestürmt, um dieses unbekannte grabende Objekt anzugreifen, seien jedoch allesamt vernichtet worden. Daraufhin habe sich alle Welt verbarrikadiert und darauf gewartet, daß der Zweig aufhört zu wüten. Aber das habe kein Ende genommen.

Der Zweig habe in den Gängen gewühlt und die ganze Kuppel gesprengt, als wäre sie eine Rosenknospe. Die Soldatinnen hätten auf Teufel komm raus geschossen, aber die Säure habe nichts gegen diesen pflanzlichen Zerstörer vermocht.

Die Lacholakanerinnen hätten es vor Entsetzen kaum noch ausgehalten. Irgendwann habe das dann doch aufgehört. Dafür seien nach einer kurzen Pause die Einheiten der Zwerginnen im Sturmschritt angekommen.

Die aufgeschlitzte Tochterstadt habe Mühe gehabt, ihrer Attacke zu widerstehen. Es habe Zigtausende von Opfern gegeben. Die Überlebenden hätten sich schließlich in ihren Kiefernstumpf zurückgezogen, und bislang sei es ihnen gelungen, der Belagerung standzuhalten. Sie könnten jedoch nicht mehr lange durchhalten, sie hätten keinerlei Vorräte, und der Kampf tobe bereits in den hölzernen Adern der Verbotenen Stadt.

Da La-chola-kan zur Föderation gehört, müssen Bel-o-kan und alle Töchterstädte zu Hilfe eilen. Das Klarmachen zum Gefecht wird ausgerufen, noch bevor die Antennen das Ende der ersten Berichte empfangen haben. Wer redet noch von Erholung und Wiederaufbau? Der erste Krieg des Frühjahrs hat begonnen.

Das 327. Männchen, das 56. Weibchen und die 103 683. Soldatin hasten die Stockwerke hinauf. Überall wimmelt es von Ameisen.

Die Ammen tragen die Eier, die Larven und die Puppen in das 43. UG. Die Blattlausmelkerinnen verstecken ihr grünes Vieh tief unten in der Stadt. Die Bäuerinnen bereiten feingehackte Nahrungsvorräte zu, die als Kampfration dienen können. In den Sälen der militärischen Kasten füllen die Artilleristinnen ihre Hinterleiber randvoll mit Ameisensäure. Die Fechterinnen schärfen ihre Mandibeln. Die Söldnerinnen schließen sich zu kompakten Einheiten zusammen. Die Fortpflanzungsfähigen verkriechen sich in ihren Vierteln.

Sie können nicht sofort angreifen, es ist noch zu kalt. Aber morgen mit dem ersten Sonnenstrahl wird der Krieg wüten.

Oben auf der Kuppel werden die Öffnungen zur Wärmeregulierung verstopft. Die Stadt Bel-o-kan schließt ihre Poren, zieht die Krallen ein und knirscht mit den Zähnen. Sie ist bereit zuzubeißen.

Der dickere der beiden Polizisten legte seinen Arm um die Schultern des Jungen.

»Und du bist ganz sicher? Sie sind da drin?«

Das Kind machte sich entnervt los, ohne ihn einer Antwort zu würdigen. Inspektor Galin beugte sich über die Treppe und stieß ein ebenso lautes wie lächerliches »Hallo!« aus. Nur das Echo antwortete ihm.

»Das scheint wirklich sehr tief zu sein«, meinte er. »Da kann ich nicht einfach so runtergehen, da braucht man Ausrüstung.«

Kommissar Bilsheim legte mit besorgter Miene einen fleischigen Finger vor seinen Mund.

»Natürlich. Natürlich.«

»Ich geh die Feuerwehr holen«, sagte Inspektor Galin.

»In Ordnung, ich vernehme in der Zwischenzeit den Kleinen.«

Der Kommissar deutete auf das aufgeschweißte Schloß.

»War das deine Mama?«

»Ja.«

»Sag mal, die ist aber schlau, deine Mama. Ich kenn nicht viele Frauen, die mit einem Schweißgerät umgehen können und eine gepanzerte Tür knacken . Und ich kenne keine einzige, die ein verstopftes Spülbecken frei machen kann.«

Nicolas war nicht nach Witzen zumute.

»Sie wollte Papa suchen.«

»Stimmt, entschuldige ... Seit wann sind sie jetzt da unten?«

»Seit zwei Tagen.«

Bilsheim kratzte sich an der Nase.

»Und warum ist dein Vater runtergegangen, weißt du das?«

»Am Anfang, um den Hund zu holen. Warum danach, wissen wir nicht. Er hat jede Menge Metallplatten gekauft und nach unten gebracht. Und dann hat er lauter Bücher über Ameisen gekauft.«

»Über Ameisen? Natürlich, natürlich.«

Einigermaßen verwirrt, begnügte sich Kommissar Bilsheim damit, zu nicken und ein paar weitere »natürlich« zu murmeln. Die Sache ließ sich schlecht an. Sie schmeckte ihm nicht. Das war nicht das erste Mal, daß er es mit einem »speziellen« Fall zu tun hatte. Man konnte sogar sagen, daß man ihm systematisch alle miesen Dinger unterjubelte. Das lag wahrscheinlich an einer seiner Haupteigenschaften: Er gab den Verrückten das Gefühl, daß sie in ihm endlich ein offenes Ohr gefunden hatten.

Das war angeboren. Schon als er ganz klein war, kamen seine Klassenkameraden zu ihm, um ihm ihre Spinnereien anzuvertrauen. Er wackelte dann verständnisvoll mit dem Kopf, fixierte sein Gegenüber und sagte nur »natürlich«. Das klappte immer. Man macht sich das Leben nur unnötig kompliziert, wenn man schlaues Zeug oder Komplimente von sich gibt, um Eindruck zu schinden oder zu schmeicheln.

Bilsheim hatte herausgefunden, daß das schlichte Wort »natürlich« vollauf reichte. Ein Rätsel mehr der zwischenmenschlichen Kommunikation, das gelöst war.

Das Phänomen war um so kurioser, als der junge Bilsheim, der kaum ein Wort sagte, in der Schule den Ruf eines großen Redners erlangt hatte. Man hatte ihn sogar gebeten, die Reden am Ende des Schuljahrs zu halten.

Bilsheim hätte Psychiater werden können, aber die Uniform übte eine wahre Faszination auf ihn aus. Ein weißer Kittel konnte da in seinen Augen nicht mithalten. In einer Welt voller Bekloppter waren die Polizei und die Armee letztlich die Fahnenträger derjenigen, »die sich nicht gehenließen«. Denn wenn er sie auch zu verstehen glaubte, haßte Bilsheim all diese Leute, die ins Blaue hinein faselten. Hirnlose Gestalten! Auf den Gipfel der Weißglut brachten ihn die Leute, die mit lauter Stimme in der Metro redeten und dabei eine Schlappe mimten, die sie gerade hatten hinnehmen müssen und nun unbedingt anderen vorführen wollten.

Als Bilsheim zur Polizei gegangen war, hatten seine Vorgesetzten sein Talent schnell bemerkt. Man drehte ihm systematisch sämtliche »unverständlichen« Fälle an. Meistens klärte er überhaupt nichts auf, aber zumindest kümmerte er sich darum, und das war schon viel.

»Ach ja, da waren auch noch die Streichhölzer!«

»Was ist mit denen?«

»Man muß mit sechs Streichhölzern vier Dreiecke bilden, wenn man die Lösung finden will.«

»Welche Lösung?«

»Die >neue Art zu denkenc. Die >andere< Logik, von der Papa geredet hat.«

»Natürlich.«

Diesmal begehrte der Junge auf. »Nein, überhaupt nicht >natürlich

»Onkel Edmond? Wer ist denn Onkel Edmond?«

»Er hat die Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens geschrieben. Er ist tot. Vielleicht wegen der Ratten. Die Ratten haben auch Ouarzazate getötet.«

Kommissar Bilsheim seufzte. Bedrückend! Was würde aus diesem Knirps werden, wenn er erst mal volljährig war? Mindestens ein Alkoholiker. Endlich tauchte Inspektor Galin mit den Feuerwehrmännern auf. Bilsheim schaute ihn stolz an. Ein As, dieser Galin. Und dazu ein Perverser. Diese Geschichten mit den Irren, die regten ihn an. Je verdrehter das war, um so mehr legte er sich ins Zeug.

Bilsheim der Verständnisvolle und Galin der Enthusiast bildeten das Zweimannteam der offiziellen Brigade für die »Fälle - der - Bekloppten - um - die - sich - niemand -kümmern - will«. Man hatte sie bereits auf die Sache mit der »kleinen Alten, die von ihren Katzen aufgefressen wurde« angesetzt und auf den der »Prostituierten, die ihre Freier mit ihrer Zunge erstickte«, den »Zerkleinerer der Metzgerköpfe« nicht zu vergessen.

»Na schön«, sagte Galin, »bleiben Sie hier, Chef, wir springen runter, und dann bringen wir sie Ihnen mit der aufblasbaren Trage rauf.«

Belo-kiu-kiuni läßt in ihrer Kammer davon ab, weitere Eier zu legen. Sie hebt eine Antenne und bittet darum, allein gelassen zu werden. Ihre Dienerinnen verschwinden.

Belo-kiu-kiuni, das lebende Geschlecht der Stadt, ist unruhig.

Nein, sie hat keine Angst vor dem Krieg. Sie hat gut und gerne fünfzig Kriege gewonnen und verloren. Was sie beunruhigt, ist etwas anderes. Diese Sache mit der Geheimwaffe. Dieser Akazienzweig, der sich dreht und die Kuppel aufreißt. Und auch den Bericht des 327. Männchens hat sie nicht vergessen, die vierundzwanzig Kriegerinnen, die gestorben sind, ohne daß sie sich auch nur in Gefechtsposition begeben konnten ... Kann man das Risiko eingehen, diese außergewöhnlichen Umstände nicht zu berücksichtigen?

Jetzt nicht mehr.

Aber was tun?

Belo-kiu-kiuni erinnert sich, daß sie sich schon einmal mit einer »unbegreiflichen Geheimwaffe« auseinandersetzen mußte. Das war während der Kriege gegen die Termitenhügel des Südens. Eines schönen Tages hatte man ihr mitgeteilt, ein Trupp von hundertzwanzig Kriegerinnen sei zwar nicht vernichtet, aber »völlig gelähmt« worden!

Panik hatte um sich gegriffen. Sie hatten geglaubt, nie wieder würden sie die Termiten besiegen können, da diese einen entscheidenden technologischen Vorsprung gewonnen hatten.

Sie hatten Spioninnen ausgeschickt. Die Termiten hatten in der Tat eine Kaste von leimschleudernden Artilleristinnen entwickelt. Die Nasutitermen. Sie brachten es fertig, über eine Entfernung von zweihundert Kopf einen Stoff zu verschleudern, der die Beine und Kiefer der Soldatinnen verklebte.

Die Föderation hatte lange nachgedacht, dann hatte man eine Parade gefunden: Sie rückten unter dem Schutz welker Blätter vor. Das hatte überdies zu der berühmten Schlacht der Welken Blätter geführt, die von belokanischen Truppen gewonnen wurde.

Diesmal jedoch sind die Gegnerinnen keine plumpen Termiten, sondern Zwergameisen, deren Aufgewecktheit und Intelligenz ihnen schon des öfteren zu schaffen gemacht hat. Zudem scheint diese Geheimwaffe besonders zerstörerisch zu sein.

Sie befühlte nervös ihre Antennen.

Was wußte sie eigentlich über die Zwerginnen?

Viel und wenig.

Sie waren vor hundert Jahren in der Gegend aufgetaucht. Am Anfang waren nur einige Kundschafterinnen gekommen. Wegen ihrer geringen Größe hatte man ihnen kaum Beachtung geschenkt. Danach waren Karawanen von Zwergameisen erschienen, die ihre Eier und Nahrungsvorräte mit den Enden ihrer Beine trugen. Ihre erste Nacht hatten sie unter der Wurzel der großen Kiefer verbracht.

Am Morgen hatte ein hungriger Igel ihre Bevölkerung um die Hälfte reduziert. Die Überlebenden hatten sich gen Norden verzogen und unweit der schwarzen Ameisen ein Biwak errichtet.

In der Föderation hatte man sich gesagt, das sei »eine Sache zwischen ihnen und den schwarzen Ameisen«. Und es gab sogar welche, die ein schlechtes Gewissen hatten, weil diese zarten Geschöpfe für die schwarzen Ameisen ein gefundenes Fressen waren.

Doch die Zwergameisen wurden nicht massakriert. Man konnte sie Tag für Tag sehen, wie sie kleine Zweige und kleine Käfer transportierten. Wen man dafür nicht mehr sah, das waren . die schwarzen Ameisen.

Man weiß immer noch nicht, was sich damals abgespielt hat, jedenfalls wußten die belokanischen Kundschafterinnen zu berichten, daß fortan die Zwerginnen das gesamte Nest der schwarzen Ameisen bewohnten. Man nahm das Ereignis schicksalsergeben, ja humorvoll hin. Geschieht den eingebildeten Schwarzen nur recht, hieß es in den Gängen. Außerdem wären diese mickrigen Ameisen die letzten, die der mächtigen Föderation Sorgen bereiten könnten.

Nur, nach dem Nest der schwarzen Ameisen wurde als nächstes einer der Bienenstöcke des wilden Rosenstrauchs von den Zwerginnen eingenommen ... Und dann gerieten der letzte Termitenhügel des Nordens und das Nest der blutroten Giftameisen unter das Banner der Zwerginnen!

Die Flüchtlinge, die nach Bel-o-kan strömten und das Heer der Söldnerinnen aufblähten, erzählten, die Zwerginnen verfügten über geradezu avantgardistische Kampftechniken. So hätten sie zum Beispiel die Wasserstellen verseucht, indem sie Gift aus ihren raren Blumen hineingaben.

Dennoch sorgte man sich immer noch nicht ernsthaft. Erst als im letzten Jahr die Stadt Niziu-ni-kan in kürzester Zeit fiel, erkannte man endlich, daß man mit einem gefährlichen Gegner zu tun hatte.

Die roten Ameisen mochten zwar die Zwerginnen unterschätzt haben, doch jene hatten die Stärke der roten auch nicht richtig beurteilt. Niziu-ni-kan war zwar eine recht kleine Stadt, aber sie gehörte der Föderation an. Am Morgen nach ihrem Sieg wurden die Zwerginnen von zweihundert -vierzig Legionen mit jeweils eintausendzweihundert Soldatinnen unsanft aus dem Schlaf gerissen. Der Ausgang des Kampfs war klar, was die Zwerginnen nicht davon abhielt, sich erbittert zu wehren. So daß die föderierten Truppen einen vollen Tag brauchten, bis sie in die befreite Stadt eindringen konnten.

Daraufhin entdeckte man, daß die Zwerginnen nicht eine, sondern . zweihundert Königinnen nach Niziu-ni-kan gebracht hatten. Da war ein Schock.


offensivkräfte: Die Ameisen sind die einzigen sozialen Insekten, die eine offensive Armee unterhalten.

Die Termiten und die Bienen, zwei royalistische und loyale, aber weniger raffinierte Arten, benutzen ihre Soldaten nur zum Schutz der Stadt oder der Arbeiterinnen, die sich weit von ihrem Nest entfernen. Daß ein Termitenhügel oder Bienenstock einen Feldzug zur Eroberung von Terrain führt, ist relativ selten anzutreffen. Beobachtet hat man es jedoch auch schon.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Die gefangenen Königinnen der Zwergameisen erzählten von der Geschichte und den Sitten ihres Volkes. Eine ausgefallene Geschichte.

Ihnen zufolge hatten die Zwerginnen vor langer Zeit in einem anderen Land gelebt, das Milliarden Kopf entfernt war.

Dieses Land war ganz anders als die Welt der Föderation. Dort wuchsen riesige, sehr bunte und zuckersüße Früchte. Zudem gab es dort keinen Winter und keinen Winterschlaf. In diesem Schlaraffenland hatten die Zwerginnen das »alte« Shi-gae-pu errichtet, ein Staat, der aus einer sehr alten Dynastie hervorgegangen war. Dieses Nest befand sich zu Füßen eines Oleanders.

Nun hatte es sich zugetragen, daß der Oleander und der Sand, der ihn umgab, eines Tages aus dem Boden gerissen und in eine Holzkiste gelegt wurden. Die Zwerginnen hatten versucht, aus der Kiste zu fliehen, aber jene stand inmitten einer gigantischen und sehr harten Struktur. Und als sie an die Grenzen dieser Struktur gelangten, waren sie ins Wasser gefallen. In salziges Wasser, so weit das Auge reichte.

Viele Zwerginnen waren bei dem Versuch, die Erde ihrer Ahnen zu erreichen, ertrunken. Daraufhin hatte die Mehrheit beschlossen, daß man eben in dieser riesigen, harten, von Salzwasser umgebenen Struktur überleben müsse. Das hatte tagelang gedauert.

Dank ihrer Johnston-Organe hatten sie gemerkt, daß sie sich sehr schnell über eine phänomenale Distanz fortbewegten.

Wir haben Hunderte von magnetischen Erdfeldern überquert. Wohin würde uns das führen? Hierher. Wir wurden mit dem Oleander abgesetzt. Wir haben diese Welt hier entdeckt, ihre exotische Fauna und Flora.

Der Ortswechsel erwies sich als Enttäuschung. Die Früchte, die Blumen, die Insekten waren kleiner, nicht so bunt. Sie hatten ein rot-gelb-blaues Land verlassen, um in eine grünschwarz-braune Gegend zu geraten. Hatten eine buntschillernde Welt gegen eine farblose eingetauscht.

Zudem waren sie hier Winter und Kälte ausgesetzt, die alles blockierten. Dort unten hatten sie nicht einmal gewußt, daß es so etwas wie Kälte gab, das einzige, was einen dazu zwang, sich auszuruhen, war die Hitze!

Als erstes verfielen die Zwerginnen auf verschiedene Lösungen, um die Kälte zu bekämpfen. Die beiden wirksamsten Methoden: Sich mit Zucker vollstopfen und sich mit Schneckenschleim einreihen.

Für die erste Lösung ernteten sie den Fruchtzucker der Erdbeeren, Brombeeren und Kirschen. Für die zweite hatten sie fast sämtliche Schnecken der Gegend ausgerottet.

Überdies hatten sie einige wahrlich überraschende Gepflogenheiten: Zum Beispiel kannten sie weder geflügelte Männchen und Weibchen noch einen Hochzeitsflug. Die Weibchen ließen sich lieben und legten ihre Eier zu Hause, unter der Erde. So daß jede Stadt nicht nur eine, sondern ein paar hundert Eierlegerinnen hatte. Das hatte einen beträchtlichen Vorteil: zum einen eine erheblich höhere Geburtenzahl als die roten Ameisen, zum andern eine viel geringere Verwundbarkeit. Denn während man, um eine Stadt der roten Ameisen zu enthaupten, bloß die Königin zu töten brauchte, konnte die Zwerginnenstadt wieder aufleben, solange nur ein einziges fortpflanzungsfähiges Exemplar erhalten blieb.

Und nicht nur das. Die Zwerginnen hatten eine ganz andere Philosophie der territorialen Eroberung. Während die roten Ameisen, begünstigt durch die Hochzeitsflüge, so weit entfernt wie möglich landeten, um sich daraufhin über Pisten dem zersplitterten Reich der Föderation anzuschließen, rückten die Zwerginnen Zentimeter für Zentimeter von ihren Zentralstädten aus vor.

Selbst ihre geringe Größe war ein Trumpf. Sie brauchten nur sehr wenig Kalorien, um ein hohes Maß an geistiger Regsamkeit und körperlicher Tätigkeit zu erreichen. Ihre Reaktionsschnelligkeit hatte man bei einem starken Regenguß ermessen können. Während die roten Ameisen noch dabei waren, mühselig ihre Blattlausherden und letzten Eier aus den überfluteten Gängen zu evakuieren, hatten die Zwerginnen schon seit Stunden ein Nest in einem Riß in der Rinde der großen Kiefer eingerichtet und all ihre Schätze dort untergebracht .

Belo-kiu-kiuni schüttelt sich, um ihre düsteren Gedanken zu vertreiben. Sie legt zwei Eier, zwei Kriegerinnen. Die Ammen sind nicht da, um sie in Empfang zu nehmen, und sie hat Hunger. Also verschlingt sie sie gierig. Das sind exzellente Proteine.

Sie neckt ihre fleischfressende Pflanze. Ihre Sorgen haben bereits wieder die Oberhand gewonnen. Das einzige Mittel, diese Geheimwaffe zu bekämpfen, bestünde darin, eine andere, noch durchschlagskräftigere und entsetzlichere zu erfinden. Die roten Ameisen haben nacheinander die Ameisensäure, den Schild der welken Blätter, die Leimfallen entdeckt. Sie brauchen nur etwas anderes zu erfinden. Eine Waffe, bei der die Zwerginnen wie vor den Kopf geschlagen sind, schlimmer noch als ihr zerstörerischer Zweig!

Sie verläßt ihr Gemach, begegnet Soldatinnen und redet zu ihnen. Sie schlägt vor, Arbeitsgruppen zu dem Thema »eine Geheimwaffe gegen die Geheimwaffe der Zwerginnen finden« zu gründen. Das Volk reagiert positiv auf ihren Stimulus. Überall bilden sich kleine Gruppen von drei bis fünf Soldatinnen, aber auch Arbeiterinnen. Indem sie ihre Antennen zu einem Dreieck oder Fünfeck verbinden, führen sie Hunderte von absoluten Kommunikationen durch.

»Achtung, ich bleibe stehen!« sagte Galin, der wenig Lust verspürte, von acht drängelnden Feuerwehrleuten umgerannt zu werden.

»Das ist vielleicht finster hier! Gebt mir mal eine stärkere Lampe.«

Er drehte sich um, und man reichte ihm eine große Stablampe. Die Feuerwehrleute wirkten nicht gerade gelassen. Dabei hatten sie immerhin ihre dicken Lederjacken und ihre Helme. Warum hatte er auch nicht daran gedacht, sich etwas anzuziehen, das für eine solche Expedition geeigneter war als ein Jackett!

Sie stiegen vorsichtig hinab. Der Inspektor, das Auge der Gruppe, achtete darauf, jeden Winkel auszuleuchten, bevor er einen Schritt machte. Das war zwar langwierig, aber sicherer.

Der Strahl der Stablampe strich über eine Inschrift, die in Augenhöhe in das Gewölbe graviert war.

Untersuche dich selbst.

Hast du dich nicht gewissenhaft gereinigt

Werden dir die chemischen Verbindungen Schaden zufügen.

Unglück dem, der dort unten zu lange verweilt.

Möge, wer zu leicht, davon ablassen.

Ars Magna

»Haben Sie gesehen?« fragte einer der Feuerwehrmänner.

»Eine alte Inschrift, mehr nicht ...«, beschwichtigte Inspektor Galin.

»Hört sich an wie ein Hexenspruch.«

»Jedenfalls wirkt das verdammt tief.«

»Der Inhalt des Satzes?«

»Nein, die Treppe. Sieht aus, als ging das kilometerweit runter.«

Sie setzten den Abstieg fort. Sie waren sicher schon fünfhundert Meter unter der Stadt. Und die Wendeltreppe schraubte sich weiter nach unten. Wie eine DNS-Spirale. Sie bekamen fast einen Drehwurm. Tiefer, immer tiefer.

»Das kann noch ewig so weitergehn«, knurrte einer der Männer. »Wir sind nicht dazu da, Höhlenforschung zu betreiben.«

»Ich hab gedacht, wir sollten bloß jemanden aus einem Keller holen«, sagte ein anderer, der die aufblasbare Trage transportierte. »Meine Frau hat mich um acht zum Essen erwartet, jetzt ist es schon zehn!«

Galin spornte seine Truppe an.

»Hört mal, Jungs, wir haben jetzt über die Hälfte geschafft, also gebt euch einen kleinen Ruck. Wir werden doch nicht auf halber Strecke aufgeben.«

Dabei hatten sie noch nicht ein Zehntel des Weges zurückgelegt.

Nach mehreren Stunden Beratschlagung, es herrscht mittlerweile eine Temperatur nahe 15°, entwickelt eine Gruppe gelber Söldnerinnen einen Vorschlag, der von allen anderen Nervenzentren schon bald als bester anerkannt wird.

Zufällig besitzt Bel-o-kan zahlreiche Söldnerinnen einer etwas sonderbaren Art: die »Samenkornbeißerinnen«. Ihr Hauptmerkmal ist ein sehr dicker Kopf mit langen, geschliffenen Mandibeln, die es ihnen ermöglichen, sogar sehr harte Samenkörner zu durchtrennen. Im Kampf sind sie nicht besonders wirksam, da sie zu kurze Beine unter einem zu schweren Körper haben.

Wozu sich also mühsam zum Ort der Auseinandersetzung schleppen, um dort nur wenig Schaden anzurichten? Die roten Ameisen hatten sie schließlich vornehmlich mit Haushaltsaufgaben betraut, so dem Zuschneiden von dicken Zweigen.

Nach Auffassung der gelben Ameisen gibt es jedoch eine Möglichkeit, diese schweren Tolpatsche in Kriegshelden zu verwandeln. Man braucht sie bloß von sechs kleinen und agilen Arbeiterinnen tragen zu lassen!

So könnten sie sich, indem sie ihre »lebenden Beine« mit Duftstoffen lenken, mit großer Geschwindigkeit auf ihre Gegnerinnen stürzen und sie mit ihren langen Mandibeln zerfetzen.

Einige mit Zucker vollgestopfte Soldatinnen machen im Solarium die ersten Versuche. Sechs Ameisen heben eine Kornbeißerin hoch und laufen los, wobei sie versuchen, ihre Schritte aufeinander abzustimmen. Das scheint sehr gut zu funktionieren.

Die Stadt Bel-o-kan hat den Panzer erfunden.

Sie kamen nicht mehr zurück.

Am nächsten Morgen lautete die Schlagzeile der Zeitungen: »Fontainebleau - Acht Feuerwehrleute und ein Polizeiinspektor auf rätselhafte Weise in einem Keller verschwunden.«

In der rotvioletten Morgendämmerung rüsten die Zwergameisen, die die Verbotene Stadt von La-chola-kan umzingeln, zur Schlacht. Die in ihrem Baumstumpf isolierten roten Ameisen sind ausgehungert und erschöpft. Sie werden sich nicht mehr lange halten können.

Die Kämpfe setzen wieder ein. Nach langen Artillerieduellen erobern die Zwerginnen zwei weitere Kreuzungen. Das von den Strahlen zerfressene Holz speit die Kadaver der belagerten Soldatinnen aus.

Die letzten roten Überlebenden sind am Ende. Die Zwergameisen dringen in die Verbotene Stadt ein. Die in den Rissen der Decke versteckten Schützen halten sie kaum auf.

Das königliche Gemach kann nicht mehr weit sein. Drinnen beginnt die Königin La-chola-kiuni, ihren Herzschlag zu verlangsamen. Jetzt ist alles vorbei.

Aber die am weitesten vorgerückten Truppen der Zwerginnen nehmen plötzlich einen Alarmduft wahr. Draußen geht etwas vor. Sie machen kehrt.

Oben auf dem Hügel mit den Klatschmohnblüten, der die Stadt überragt, sind inmitten der roten Blumen Tausende von schwarzen Punkten zu sehen.

Die Belokanerinnen haben sich also endlich zum Angriff entschlossen. Wenn sie unbedingt wollen. Die Zwerginnen schicken winzige Söldnerinnen los, um die Hauptstadt zu benachrichtigen.

Sämtliche Abgesandte tragen das gleiche Pheromon:

Sie greifen an. Schickt Verstärkung von Osten her, um sie in die Zange zu nehmen. Bereitet die Geheimwaffe vor.

Die Hitze des ersten Sonnenstrahls, der durch die Wolken drang, hat den Entschluß beschleunigt, zum Angriff überzugehen. Es ist 8.03 Uhr. Die belokanischen Einheiten stürmen den Hang hinunter, umkurven Gräser, hüpfen über Steinchen. Es sind Millionen von Soldatinnen, die da mit aufgerissenen Mandibeln losgerannt sind. Das ist ziemlich beeindruckend.

Aber die Zwerginnen haben keine Angst. Sie hatten diese Taktik vorhergesehen. Am Tag zuvor haben sie versetzt Löcher in den Boden gegraben. Sie zwängen sich hinein, lassen nur ihre Mandibeln hinausragen, so daß ihre Körper von dem Sand geschützt sind.

Diese Linie bricht auf Anhieb den Ansturm der roten Ameisen. Die Föderierten fechten vergebens gegen diese Gegnerinnen, die ihnen nur ihre starken Punkte zeigen. Keine Möglichkeit, ihnen die Beine abzutrennen oder den Hinterleib auszureißen.

Im gleichen Augenblick startet das Gros der shigaepuanischen Infanterie, das in der Nähe unter dem Dach eines Rings von Satanspilzen zusammengezogen ist, eine Gegenoffensive, so daß die Roten in die Zange genommen werden.

Wenn die Belokanerinnen Millionen sind, so zählen die Shigaepuanerinnen Dutzende von Millionen. Auf jede rote Soldatin kommen mindestens fünf Zwergameisen, die Kriegerinnen in ihren Löchern, die alles zerkleinern, was in die Reichweite ihrer Mandibeln kommt, nicht mitgerechnet.

Der Kampf entwickelt sich schnell zum Nachteil der zahlenmäßig Unterlegenen. Gelichtet von den Zwerginnen, die von überall her auftauchen, lösen sich die Reihen der Roten auf.

Um 9.36 Uhr treten sie entschieden den Rückzug an. Die Zwerginnen stoßen bereits Siegesdüfte aus. Ihre Kriegslist hat bestens funktioniert. Es ist nicht einmal nötig, die Geheimwaffe einzusetzen! Sie verfolgen diese Armee von Flüchtlingen, betrachten die Eroberung von La-chola-kan als erledigt.

Aber mit ihren kurzen Beinen brauchen die Zwerginnen zehn Schritte, wo die Roten einen Satz machen. Ihnen geht die Puste aus, während sie den Hügel hinaufklettern. Genau das haben die Strateginnen der Föderation vorgesehen. Denn diese erste Attacke hatte nur einen Zweck: die Truppen der Zwergameisen aus ihrem Kessel hervorzulocken und sie dann auf dem Abhang anzugreifen.

Die Roten erreichen den Kamm, die Einheiten der Zwerginnen verfolgen sie völlig ungeordnet weiter. Oben richtet sich mit einemmal ein Wald von Dornen auf. Das sind die riesigen Zangen der Kornbeißerinnen. Sie schwenken sie, lassen sie in der Sonne aufblitzen, dann richten sie sie parallel zum Boden aus und stürzen sich auf die Zwerginnen, Kernbeißer, Zwergbeißer!

Der Überraschungseffekt ist durchschlagend. Die Shigaepuanerinnen, benommen, die Antennen starr vor Schreck, werden niedergemäht wie Gras. In rasantem Tempo, den Höhenunterschied ausnutzend, sprengen die Kornbeißerinnen die feindlichen Linien. Die je sechs Arbeiterinnen unter ihnen sind mit Leib und Seele dabei. Sie sind die Raupenketten dieser Kriegsmaschinen. Dank eines perfekt synchronen Antennenkontakts zwischen Drehturm und Rädern fräst sich dieses Tier mit sechsunddreißig Beinen und zwei riesigen Mandibeln mühelos in die feindlichen Massen.

Die Zwerginnen haben gerade noch Zeit, diese Kolosse wahrzunehmen, die zu Hunderten über sie herfallen, ihre Reihen eindrücken, platt machen, zerquetschen. Die übergroßen Mandibeln fahren in die Menge nieder, grasen sie ab und schnellen wieder hoch, beladen mit Beinen und blutigen Köpfen, die sie wie Stroh knacken lassen.

Totale Panik. Die entsetzten Zwerginnen rempeln sich an, kommen nicht vom Fleck, manche töten sich gegenseitig.

Die belokanischen Panzer sind, nachdem sie das Zwergen-fußvolk auf diese Weise »gekämmt« haben, in ihrem Schwung über jenes hinausgeschossen. Stop. Sie wenden und erklimmen, immer noch tadellos in einer Reihe, bereits wieder den Hang, um die Feinde erneut niederzuwalzen. Die Überlebenden würden ihnen gerne zuvorkommen, aber oben zeichnet sich eine zweite Front von Panzern ab, die den Hügel hinunterrast!

Die beiden Kolonnen kreuzen sich wunderbar parallel. Vor jedem Panzer stapeln sich die Kadaver. Das ist ein einziges Blutbad.

Die Lacholakanerinnen, die von weitem die Schlacht verfolgen, kommen heraus, um ihre Schwestern anzufeuern. Die anfängliche Überraschung ist reiner Begeisterung gewichen. Sie stoßen Pheromone der Freude aus. Das ist ein Sieg der Technologie und der Intelligenz! Nie zuvor ist die Genialität der Föderation so klar zum Ausdruck gekommen.

Shi-gae-pu hat jedoch nicht all seine Karten aufgedeckt. Es hat noch seine Geheimwaffe. Normalerweise war diese Waffe nur dazu gedacht, die hartnäckigen Bewohner von La-chola-kan »auszuräuchern«, aber angesichts der schlimmen Wendung, die der Kampf genommen hat, beschließen die Zwergameisen, ihren Trumpf auszuspielen.

Die Geheimwaffe stellt sich in Form von Schädeln roter Ameisen dar, die von einer braunen Pflanze durchbohrt sind.

Einige Tage zuvor haben die Zwerginnen den Kadaver einer Kundschafterin der Föderation entdeckt. Ihr Körper war unter dem Druck eines parasitischen Pilzes, der alternaria, geplatzt. Die Forscherinnen der Zwergameisen hatten das Phänomen untersucht und festgestellt, daß dieser parasitische Pilz flüchtige Sporen erzeugt. Jene heften sich an den Panzer, zerfressen ihn, dringen in das Tier ein, wo sie wachsen, bis der Rumpf explodiert.

Was für eine Waffe!

Und dazu von unfehlbarer Sicherheit und garantierter Verwendbarkeit. Denn während sich die Sporen auf das Chitin der Roten heften, finden sie auf dem der Zwergameisen keinen Halt. Ganz einfach, weil sich letztere - kälteempfindlich, wie sie sind - mit Schneckenschleim einzureiben pflegen! Und diese Substanz bietet einen Schutz gegen die alternaria.

Die Belokanerinnen haben vielleicht den Panzer erfunden, doch die Shigaepuanerinnen haben die bakteriologischen Waffen entdeckt.

Ein Infanteriebataillon setzt sich in Bewegung, ausgerüstet mit dreihundert verseuchten, im Zuge der ersten Schlacht um La-chola-kan erbeuteten Schädeln roter Ameisen.

Sie werfen sie mitten unter die Feindinnen. Die Kornbeißerinnen und ihre Trägerinnen beginnen unter dem tödlichen Staub zu niesen. Als sie sehen, daß ihre Panzer davon befallen werden, verlieren sie den Kopf. Die Trägerinnen lassen ihre Last im Stich. Die wieder unbeweglichen Kornbeißerinnen werden von panischer Angst erfaßt und legen sich mit ihren Artgenossinnen an. Alles geht drunter und drüber.

Gegen 10 Uhr trennt ein plötzlicher Kälteeinbruch die Streitkräfte. In eisigen Luftströmen kann man nicht kämpfen. Die Truppen der Zwergameisen nutzen die Pause, um sich zu befreien. Die Panzer der Roten erklimmen mühsam den Hügel.

In beiden Lagern zählt man die Verletzten, schätzt das Ausmaß der Verluste. Bedrückende Zwischenbilanz. Beide Seiten möchten der Schlacht eine andere Richtung geben.

Bei den Belokanerinnen hat man die Sporen der alternaria erkannt. Man beschließt, sämtliche Soldaten, die mit dem Pilz in Berührung gekommen sind, zu opfern, um ihnen weitere Qualen zu ersparen.

Spioninnen kommen angelaufen. Es gibt ein Mittel, sich gegen diese bakteriologische Waffe zu schützen: Man muß sich mit Schneckenschleim einreiben. Gesagt, getan. Man opfert drei dieser (immer seltener anzutreffenden) Weichtiere, damit sich jeder gegen die Geißel schützen kann.

Antennenkontakt. Die roten Strateginnen vertreten die Ansicht, daß man nicht mehr nur mit den Panzern angreifen kann. In der neuen Aufstellung werden sie das Zentrum bilden, aber hundertzwanzig Legionen üblicher Infanterie und sechzig Legionen fremder Infanterie werden auf den Flügeln aufmarschieren. Man schöpft neuen Mut.


argentinische Ameisen: Die argentinischen Ameisen (Iridomyrmex humilis) sind 1920 in Frankreich erschienen. Höchstwahrscheinlich wurden sie in Oleanderkübeln eingeschleppt, die dazu bestimmt waren, die Straßen der Côte d’Azur zu verschönern.

Ihre Existenz wird zum erstenmal 1866 in Buenos Aires gemeldet (daher ihr Beiname). 1891 finden sie sich in den Vereinigten Staaten, in New Orleans.

In den Strohschütten exportierter argentinischer Pferde versteckt, gelangen sie 1908 nach Südafrika. 1910 nach Chile, 1917 nach Australien und 1920 nach Frankreich.

Diese Art zeichnet sich nicht nur durch ihre geringe Größe aus, die sie, verglichen mit anderen Ameisen, zu Pygmäen macht, sondern auch durch ungewöhnliche Intelligenz und kriegerische Aggressivität (übrigens ihre Hauptmerkmale).

Kaum im Süden Frankreichs ansässig, führen die argentinischen Ameisen gegen sämtliche einheimischen Arten Krieg ... und besiegten sie allesamt!

1960 überschreiten sie die Pyrenäen und ziehen bis Barcelona. 1967 gehen sie über die Alpen und ergießen sich bis Rom. In den 70er Jahren dann beginnen die Iridomyrmex wieder nach Norden zu ziehen. Man glaubt, daß sie in einem heißen Sommer Ende der 90er Jahre die Loire überquert haben. Dort stoßen diese Eindringlinge, deren Kampfstrategien denen eines Cäsar oder Napoleon in nichts nachstehen, auf zwei etwas hartnäckigere Arten: die roten Ameisen (im Süden und Osten der Pariser Region) und die Pharaonenameisen (im Norden und Westen von Paris).

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Die Schlacht am Klatschmohnhügel ist noch nicht entschieden. Um 10.13 Uhr beschließt Shi-gae-pu. Verstärkung zu schicken. Zweihundertvierzig Legionen der Reservearmee ziehen los, um sich den Überlebenden der ersten Angriffswelle anzuschließen. Man erklärt ihnen die Sache mit den »Panzern«. Die Antennen vereinen sich zur AK. Es muß ein Mittel geben, mit diesen komischen Maschinen fertigzuwerden ...

Gegen 10.30 Uhr macht eine Arbeiterin einen Vorschlag:

Die Kornbeißerinnen verdanken ihre Beweglichkeit den sechs Ameisen, die sie tragen. Man braucht bloß diese »lebenden Beine« abzutrennen.

Eine andere Idee steigt auf:

Der Schwachpunkt dieser Maschinen ist, daß sie Schwierigkeiten haben, schnell zu wenden. Dieses Handicap kann man ausnutzen. Wir brauchen uns bloß zu kompakten Blöcken zu formieren. Wenn die Maschinen angreifen, treten wir zur Seite und lassen sie widerstandslos durch. Dann, wenn sie noch in vollem Schwung sind, greifen wir sie von hinten an. Sie werden keine Zeit haben, sich umzudrehen.

Und ein dritter Gedanke:

Die Beinbewegungen sind durch Antennenkontakt aufeinander abgestimmt, wie wir gesehen haben. Wir brauchen bloß hochzuspringen und den Kornbeißerinnen die Antennen abzuschneiden, dann können sie ihre Trägerinnen nicht mehr dirigieren.

Alle drei Ideen werden festgehalten. Die Zwerginnen machen sich daran, einen Schlachtplan aufzustellen.


leiden: Sind Ameisen fähig zu leiden? Auf den ersten Blick nicht. Sie haben kein Nervensystem, das auf diesen Zweck zugeschnitten wäre. Und wo kein Nerv ist, kann es auch keine Schmerzbotschaft geben. Das mag erklären, daß »Ameisenstücke« mitunter noch recht lange, unabhängig vom Rest des Körpers, »leben« können.

Das Fehlen des Schmerzes erschließt eine neue Welt der Sciencefiction. Kein Schmerz, das heißt: keine Angst, vielleicht nicht mal ein Bewußtsein seiner selbst. Lange haben die Insektenforscher folgender Theorie gehuldigt: Die Ameisen leiden nicht, von daher leitet sich der Zusammenhalt ihrer Gesellschaft ab. Das erklärt alles und nichts. Diese Vorstellung hat noch einen weiteren Vorteil: Sie enthebt uns jeglicher Skrupel, sie zu töten.

Ein Tier, das nicht leidet ... Nein, mir würde das große Angst machen.

Aber diese Auffassung ist falsch. Denn die enthauptete Ameise sondert einen speziellen Duft ab. Den Duft des Schmerzes. Es passiert also etwas. Die Ameise hat keine elektrische Nervenleitung, aber sie hat eine chemische Leitung. Sie weiß, daß ihr ein Teil fehlt, und sie leidet. Sie leidet auf ihre Art, die sicher ganz anders ist als unsere, aber sie leidet.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Die Kampfhandlungen setzen um 11.47 Uhr wieder ein. Eine lange, dichte Linie von Zwergameisenkriegerinnen rückt langsam zum Sturm auf den Klatschmohnhügel heran.

Die Panzer erscheinen zwischen den Blumen. Auf ein Signal hin stürmen sie den Hang hinab. Die Legionen der roten Ameisen und ihrer Söldnerinnen tänzeln an den Flanken, bereit, das Werk der Kolosse zu vollenden.

Die beiden Armeen sind nur hundert Kopf voneinander entfernt ... Fünfzig ... Zwanzig ... Zehn! Kaum kommt die erste Kornbeißerin mit den Zwerginnen in Berührung, geschieht etwas Unerwartetes. Die dichte Reihe der Shigaepuanerinnen wandelt sich plötzlich in eine punktierte Linie. Die Soldatinnen schließen sich zu Karrees zusammen.

Die Panzer sehen, wie sich der Feind in Luft auflöst, und haben nur noch einen leeren Gang vor sich. Niemand kommt auf die Idee, im Zickzack zu laufen, um mit den Zwergameisen zusammenzuprallen. Die Mandibeln knallen ins Leere, die sechsunddreißig Beine rennen dümmlich weiter.

Ein herber Duft breitet sich aus:

Schneidet ihnen die Beine ab!

Sogleich springen Zwergameisen unter die Panzer und töten die Trägerinnen. Sie ziehen sich schleunigst wieder zurück, um nicht von der niedersinkenden Masse der Kornbeißerinnen zerquetscht zu werden.

Andere werfen sich tollkühn zwischen die Doppelreihe der Trägerinnen und schlitzen mit einer Mandibel den schutzlosen Bauch auf. Eine Flüssigkeit fließt heraus, der Lebenssaft der Kornbeißerinnen ergießt sich auf den Boden.

Andere klettern auf die Kolosse, schneiden ihnen die Antennen ab und springen wieder in voller Fahrt herunter.

Einer nach dem andern brechen die Panzer zusammen. Die trägerlosen Kornbeißerinnen schleppen sich dahin wie Bettlägerige, so daß ihnen die Zwergameisen mühelos den Rest geben können.

Horror! Einige Kadaver aufgeschlitzter Kornbeißerinnen werden von ihren sechs Trägerinnen, die nichts bemerkt haben, lächerlicherweise weitertransportiert ... Jene Kornbeißerinnen, die ihrer Antennen beraubt sind, müssen erleben, daß ihre »Räder« in verschiedene Richtungen rollen und auseinanderbrechen ...

Dieses Debakel läutet das Ende der technologischen Neuerung der Panzer sein. Wie viele große Erfindungen sind auf diese Art aus der Geschichte der Ameise verschwunden, weil die Parade zu schnell gefunden wurde!

Die Einheiten der Roten und ihrer Söldnerinnen, die die Panzerfront flankierten, stehen plötzlich ganz allein da. Sie waren dort aufgestellt, um die Überbleibsel zu erledigen, und nun sind sie zu einem Verzweiflungsangriff verurteilt. Aber die Karrees der Zwergameisen haben sich bereits wieder geschlossen, so hervorragend ist das Massaker an den Kornbeißerinnen abgewickelt worden. Kaum berühren die Belokanerinnen den Rand eines dieser Blöcke, werden sie »angesaugt« und von Tausenden gefräßiger Mandibeln zerlegt.

Die Roten und ihre Söldnerinnen können nur noch zum Rückzug blasen. Sie schließen sich auf dem Kamm wieder zusammen und beobachten die Zwerginnen, die langsam, immer noch in kompakten Blöcken, zum Sturm ansetzen. Ein beängstigender Anblick!

In der Hoffnung, Zeit zu gewinnen, tragen die kräftigsten Soldatinnen Kieselsteine herbei und lassen sie den Hügel hinabrollen. Doch diese Lawine behindert den Vormarsch der Zwerginnen nur unwesentlich. Aufmerksam springen sie zur Seite, wenn die Blöcke heranrauschen, und nehmen sogleich ihren Platz wieder ein. Nur wenige werden zermalmt.

Die belokanischen Legionen suchen verzweifelt nach einer Lösung, aus diesem Schlamassel zu kommen. Einige Kriegerinnen schlagen vor, auf die alten Kampftechniken zurückzugreifen. Warum nicht ganz einfach die Artillerie einsetzen? Sicher, seit Beginn der Kampfeshandlungen haben sie die Säure, die in einem Handgemenge ebenso viele Freunde wie Feinde tötet, kaum verwendet, aber gegen die dichten Blöcke der Zwerginnen dürfte man damit großen Erfolg haben.

Die Artilleristinnen gehen schnell in Gefechtsposition: fest verankert auf den vier Hinterbeinen, den Hinterleib nach vorn geknickt. So können sie nach rechts und links und nach oben und unten schwenken und den besten Schußwinkel auswählen.

Die Zwergameisen, im Augenblick unmittelbar unter ihnen, sehen Tausende von Hinterleibern, die sich über den Kamm schieben, aber sie ziehen nicht sofort den richtigen Schluß. Sie haben gerade Anlauf genommen, haben beschleunigt, um die letzten Zentimeter des Hangs zu bewältigen.

Angriff! In geschlossenen Reihen!

Ein einziger Befehl, ein einziges Wort schallt durch das gegnerische Lager:

Feuer!

Die nach vorn gerichteten Bäuche spritzen ihr ätzendes Gift auf die Blöcke der Zwerginnen. Pfff, pfff, pfff. Die gelben Strahlen zischen durch die Luft, peitschen der ersten Reihe von Angreiferinnen voll entgegen.

Als erstes schmelzen die Antennen. Sie tröpfeln auf die Schädel. Dann verteilt sich das Gift auf den Panzern, löst sie auf, als wären sie aus Plastik.

Die gemarterten Körper sinken zusammen und bilden eine schmale Sperre, die die Zwerginnen ins Straucheln bringt. Wütend fassen sie sich, stürmen erneut auf den Kamm zu.

Oben hat eine Reihe roter Artilleristinnen den Platz ihrer Vorgängerinnen eingenommen.

Feuer!

Die Blöcke brechen auseinander, aber die Zwerginnen rücken weiter vor, trampeln über die weichen Toten hinweg.

Eine dritte Artillerie-Reihe. Die Leimspuckerinnen gesellen sich zu ihnen.

Feuer!

Diesmal explodieren die Blöcke der Zwerginnen förmlich. Ganze Gruppen schlagen in den Leimpfützen um sich. Die Zwergameisen versuchen zu kontern, indem sie ebenfalls eine Reihe Artilleristinnen aufstellen. Jene bewegen sich rückwärts auf den Gipfel zu und schießen, ohne zielen zu können. Auf einem Gefälle kann man sich nicht festklemmen.

Feuer! stoßen die Zwerginnen hervor.

Aber ihre kurzen Hinterleiber feuern nur Tröpfchen von Säure. Selbst wenn sie ihr Ziel erreichen, können sie die Panzer der Roten nur reizen, aber nicht durchschlagen.

Feuer!

Die Säuretropfen der beiden Lager kreuzen einander, heben sich bisweilen auf. Angesichts der mageren Resultate verzichten die Shigaepuanerinnen auf den weiteren Einsatz ihrer Artillerie. Sie glauben siegen zu können, wenn sie die Taktik der kompakten Infanterieblöcke beibehalten.

Zusammenrücken!

Feuer! antworten die Roten, deren Artillerie immer noch Wunder verrichtet. Eine weitere Salve aus Säure und Leim.

Trotz der Anstrengungen der Schützinnen gelingt es den Zwergameisen, den Hügel zu erklimmen. Ihre Gestalten bilden einen schwarzen, nach Rache dürstenden Fries.

Angriff. Wut. Verwüstung.

Von nun an gibt es keine »Tricks« mehr. Die roten Artilleristinnen können ihre Säure nicht mehr verspritzen, die Blöcke der Zwerginnen können nicht mehr zusammenbleiben.

Schwärme. Sturm. Ströme.

Alles mengt sich, drängt sich, fängt sich, läuft, wendet, flieht, rast davon, stiebt auseinander, formiert sich, greift wieder an, stößt, zieht, springt, bricht zusammen, muntert auf, spuckt, hilft, erhitzt sich. Überall wird der Tod gesucht. Man mißt sich, ficht, säbelt. Läuft über lebende Körper und solche, die sich nicht mehr bewegen. Jede Rote sieht sich mindestens drei wütenden Zwerginnen gegenüber. Aber da die Roten dreimal so groß sind, sind die Waffen ungefähr gleich gewichtet.

Handgemenge. Duftschreie. Schwaden bitterer Pheromone.

Die Millionen spitzer, gezähnter, gezackter, säbel-, zangen-, messerartiger, zweischneidiger, mit giftigem Speichel, mit Leim beschmierter Mandibeln greifen ineinander. Der Boden bebt.

Handgemenge.

Die Antennen mit ihren kleinen Pfeilen peitschen durch die Luft, um den Gegner auf Distanz zu halten. Die krallenbewehrten Beine schlagen danach, als handele es sich um kleine, ärgerliche Halme.

Überfall. Überraschung. Täuschung.

Eine packt die andere an den Mandibeln, den Antennen, dem Kopf, dem Thorax, dem Hinterleib, den Beinen, den Knien, den Ellbogen, den Gelenkhaaren, einem Loch in seinem Panzer, einer Kerbe in seinem Chitin, einem Auge.

Die Körper stürzen, wälzen sich in der feuchten Erde. Einige Zwergameisen klettern auf eine träge Blume und lassen sich von dort, Krallen vorweg, auf eine rote Feindin fallen. Sie bohren sich in ihren Rücken, durchlöchern sie bis zum Herzen.

Handgemenge.

Die Mandibeln zerkratzen die glatten Panzer.

Eine rote Ameise benutzt geschickt ihre Antennen wie zwei Lanzen, die sie gleichzeitig vorschnellen läßt. So durchbohrt sie einem Dutzend Widersacherinnen den Kopf, nimmt sich nicht einmal Zeit, ihre von durchsichtigem Blut getränkten Stengel zu reinigen.

Handgemenge. Tod.

Bald schon ist die Erde so sehr mit abgetrennten Antennen und Beinen übersät, daß man über einen Teppich aus Kiefernnadeln zu gehen glaubt.

Als gäbe es noch nicht genug Tote, eilen die Überlebenden von La-chola-kan herbei und stürzen sich in das Gewühl.

Angesichts einer Menge winziger Angreiferinnen gerät eine Rote in Panik. Sie krümmt ihren Hinterleib, bespritzt sich mit Ameisensäure, tötet ihre Gegnerinnen und sich selbst. Sie schmelzen alle wie Wachs.

Ein Stück weiter reißt eine andere Kriegerin ihrer Gegnerin den Kopf ab und wird im gleichen Augenblick selbst enthauptet.

Die 103 683. Soldatin hat die erste Welle der Zwerginnen über sich ergehen lassen müssen. Mit ein paar Dutzend Kolleginnen aus ihrer Unterkaste ist es ihr gelungen, ein Dreieck zu bilden, das Angst und Schrecken zwischen den Klumpen der Zwerginnen verbreitet hat. Das Dreieck ist gesprengt, jetzt muß sie allein gegen fünf Shigaepuanerinnen ankämpfen, die bereits mit dem Blut der geliebten Schwestern verschmiert sind.

Sie beißen sie überall. Während sie es ihnen nach Kräften heimzahlt, kommen ihr die Ratschläge der alten Kriegerin aus dem Übungssaal in den Sinn:

Es entscheidet sich alles vor dem Zusammenprall. Mandibel oder Säurestrahl bestätigen nur eine Überlegenheit, die bereits vorher von den beiden Streitenden anerkannt wird ... Das ist eine Sache des Kopfes. Man muß den Sieg akzeptieren, und nichts wird einem widerstehen.

Das funktioniert vielleicht bei einem einzigen Feind. Aber was, wenn es fünf sind? Sie spürt, da sind mindestens zwei, die unbedingt siegen wollen. Die Zwergin, die ihr systematisch das Gelenk des Thorax zerschneidet, und die andere, die sich an ihrem linken Hinterbein zu schaffen macht. Eine Welle von Energie überschwemmt sie. Sie schlägt um sich, pflanzt der einen ihre Antenne wie ein Stilett genau unter den Hals und zwingt die andere mit einem Mandibelschlag, ihr Bein loszulassen.

Inzwischen sind Zwerginnen mit Dutzenden von alternariaverseuchten Köpfen auf dem Schlachtfeld erschienen. Da jedoch alle Welt mit Schneckenschleim geschützt ist, flattern die Sporen nur umher, sie rutschen von den Panzern ab und fallen schlaff auf den fruchtbaren Boden. Nein, heute ist wahrlich kein Tag für neue Waffen. Sie haben alle ihre Widerlegung gefunden.

Um drei Uhr nachmittags erreicht die Schlacht ihren Höhepunkt. Schwaden von Oleinsäure, charakteristische Ausdünstungen, die von den vertrocknenden Ameisenkadavern ausgehen, erfüllen die Luft. Und noch um halb fünf metzelt sich alles weiter, Zwerginnen und Rote, was noch auf mindestens zwei Beinen steht. Die Kämpfe enden erst um fünf Uhr wegen eines Donnerschlags, der einen Regenguß ankündigt. Es scheint, als habe der Himmel genug von soviel Gewalt. Wenn es nicht doch nur ein verspäteter Märzschauer ist ...

Die Überlebenden und Verwundeten ziehen sich zurück: Bilanz: 5 Millionen Tote, davon 4 Millionen Zwergameisen. La-chola-kan ist befreit.

So weit das Auge reicht, ist der Boden mit zerfetzten Gliedern, geborstenen Panzern und mitunter noch unheimlich zuckenden Körperstümpfen übersät. Überall durchsichtiges Blut, als wäre die Erde lackiert, überall Pfützen gelber Säure.

Ein paar Zwergameisen, noch in einer Lache vom Leim gefangen, schlagen um sich in der Hoffnung, ihre Stadt erreichen zu können. Die Vögel picken sie schnell auf, bevor der Regen fällt.

Blitze erhellen anthrazitfarbene Wolken, in ihrem Licht glitzern einige Panzerwracks, deren Mandibeln immer noch arrogant nach oben gerichtet sind. Als wollten diese dunklen Spitzen den fernen Himmel aufstechen. Kaum sind sämtliche Akteure verschwunden, reinigt der Regen die Szenerie.

Sie redete mit vollem Mund.

»Bilsheim?«

»Ja?«

»Grumpf, grumpf ... Wollen Sie mich in die Pfanne hauen, Bilsheim? Haben Sie mal in die Zeitungen geguckt? Dieser Inspektor Galin, der ist doch von Ihnen, oder? Ist das nicht diese kleine Nervensäge, die mich am Anfang duzen wollte?«

Solange Doumeng, die Leiterin der Kripo.

»Öh, ja, ich glaub schon.«

»Ich hatte Ihnen gesagt, Sie sollten ihn rausschmeißen, und jetzt find ich ihn als posthumen Jungstar in der Zeitung. Sie haben wohl einen Sprung in der Schüssel! Wie können Sie nur einen solchen Neuling auf einen solch schweren Fall ansetzen?«

»Galin ist kein Neuling, er ist sogar ein hervorragender Mann. Ich glaube, wir haben den Fall ein wenig unterschätzt

...«

»Gute Männer sind die, die einen Fall aufklären, schlechte die, die nur Entschuldigungen suchen ...«

»Es gibt Fälle, bei denen selbst die Besten von uns ...«

»Es gibt Fälle, bei denen selbst die Schlechtesten von ihnen zum Erfolg verpflichtet sind. Dazu gehört zum Beispiel, ein Ehepaar aus dem Keller zu fischen.«

»Entschuldigen Sie, aber ...«

»Ihre Entschuldigungen, wissen Sie, wo Sie sich die hinstecken können, mein Lieber? Sie werden mir die Freude machen, in diesen Keller zu stiefeln und das ganze Volk da rauszuholen. Ihr toller Galin verdient ein christliches Begräbnis. Und ich will bis zum Ende des Monats einen lobenden Artikel über unsere Abteilung sehen.«

»Und was ...«

»Und was diese Geschichte angeht ...?! Da halten Sie gefälligst Ihren Schnabel. Den ganzen Heckmeck mit der Presse können Sie machen, wenn der Fall ad actas ist. Nehmen Sie sechs Gendarmen mit und neustes Material, wenn sie wollen. Das wär’s ...«

»Und wenn ...«

»Und wenn Sie sich nicht bald rühren, verlassen Sie sich drauf, dann verderbe ich Ihnen Ihre Pension!«

Sie legte auf.

Kommissar Bilsheim wußte mit Irren umzugehen, nur mit ihr nicht. Er resignierte und machte sich daran, den Abstieg in den Keller zu planen.


WENN DER MENSCH: Wenn der Mensch Angst hat, glücklich ist oder wütend, produzieren seine endokrinen Drüsen Hormone, die nur in seinem eigenen Körper wirksam sind. Sie zirkulieren wie in einem geschlossenen Gefäß. Sein Herz schlägt schneller, er schwitzt, schneidet Grimassen, schreit oder weint. Das ist seine eigene Sache. Die anderen schauen ihn teilnahmslos an. Oder auch mitfühlend, weil ihr Intellekt es so beschlossen hat .

Wenn die Ameise Angst hat, glücklich ist oder wütend, zirkulieren die Hormone nicht nur in ihrem Körper, sie treten aus und dringen in den Körper der anderen ein. Dank dieser Pherohormone oder auch Pheromone schreien und weinen Millionen von Personen gleichzeitig. Es muß ein unglaubliches Gefühl sein, zu spüren, daß die anderen die Dinge miterleben, und sie alles spüren zu lassen, was man selbst verspürt .

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


In sämtlichen Städten der Föderation herrscht Jubel. Den erschöpften Kämpferinnen werden reichlich gezuckerte Trophallaxien angeboten. Helden gibt es jedoch nicht. Jeder hat seine Aufgabe erfüllt, unwichtig, ob gut oder schlecht. Nach Beendigung der Mission fängt alles wieder bei Null an.

Die Wunden werden mit großen Speicheleinheiten gepflegt. Einige naive Anfängerinnen tragen in ihren Mandibeln ein, zwei oder drei Beine, die ihnen im Kampf abgerissen wurden und die sie durch ein Wunder wiedergefunden haben. Man erklärt ihnen, daß man die nicht wieder ankleben kann.

In dem großen Kampfsaal des 45. UG stellen Soldatinnen für diejenigen, die nicht dabei waren, die einzelnen Abschnitte der Schlacht am Mohnhügel nach. Eine Hälfte spielt die Zwerginnen, die andere die roten Ameisen.

Sie führen den Angriff auf die Verbotene Stadt von La-chola-kan auf, die Attacke der Roten, den Kampf gegen die eingegrabenen Köpfe, die vorgetäuschte Flucht, das Eingreifen der Panzer, ihre völlige Niederlage gegen die Karrees der Zwerginnen, den Sturm auf den Hügel, die Reihen der Artilleristinnen, das abschließende Getümmel ...

Die Arbeiterinnen sind zahlreich erschienen. Sie verstehen jedes Bild dieser Rückschau. Ein Punkt weckt besonderes Interesse: die Technik der Panzer. Immerhin hat da auch ihre Kaste ihren Anteil. Ihrer Meinung nach sollte man nicht darauf verzichten, man muß sie nur intelligenter einsetzen, nicht nur bei Frontalangriffen.

Nr. 103 683 ist gut davongekommen. Sie hat nur ein Bein verloren. Eine Lappalie, wenn einem sechs zur Verfügung stehen. Das bedarf kaum einer Erwähnung. Das 56. Weibchen und das 327. Männchen, die als fortpflanzungsfähige Ameisen nicht an dem Krieg teilgenommen haben, ziehen sie zur Seite. Antennenkontakt.

Keine Probleme hier?

Nein, die Kriegerinnen mit dem Felsenduft waren alle in der Schlacht. Wir waren in der Verbotenen Stadt eingesperrt, für den Fall, daß die Zwerginnen hierherkommen. Und dort? Hast du die Geheimwaffe der Zwerginnen gesehen?

Nein.

Nein? Es war doch von einem beweglichen Akazienzweig die Rede ...

Nr. 103 683 erklärt, die einzige neuartige Waffe, mit der sie konfrontiert waren, sei die schreckliche alternaria gewesen, sie hätten jedoch ein Abwehrmittel gefunden.

Das kann es nicht gewesen sein, was die erste Expedition getötet hat, stellt Nr. 327 fest. Er ist ganz sicher: Keiner der Kadaver, die er untersucht hat, wies die geringste Spur dieser tödlichen Sporen auf.

Also?

Verunsichert beschließen sie, ihre AK zu verlängern. Sie würden gern klarer sehen. Erneuter Austausch von Gedanken und Meinungen:

Warum haben die Zwerginnen nicht zu dieser Waffe gegriffen, die die achtundzwanzig Kundschafterinnen so gründlich aufgerieben hat? Sie haben doch nichts unversucht gelassen, um zu siegen. Hätten sie eine solche Waffe in den Klauen gehabt, hätten sie wohl kaum gezögert, sie einzusetzen! Und wenn sie sie gar nicht haben? Vielleicht sind sie vorbeigekommen, bevor oder nachdem die Geheimwaffe zugeschlagen hat, vielleicht war das purer Zufall ...

Diese Hypothese würde ganz gut mit dem Angriff auf La-chola-kan übereinstimmen. Man kann durchaus die Duftmarken der Zwerginnen bei den Kadavern der ersten Expedition hinterlassen haben, um die Belokanerinnen auf eine falsche Fährte zu locken. Und wer hätte ein Interesse daran? Wenn die Zwerginnen nicht für sämtliche Anschläge verantwortlich zu machen sind, wer dann? Die anderen! Der zweite unerbittliche Widersacher, der Erzfeind: die Termiten!

Der Verdacht ist nicht abwegig. Seit einiger Zeit überqueren vereinzelt Soldatinnen aus dem großen Termitenhügel des Ostens den Fluß und fallen immer häufiger in die föderierten Jagdgründe ein. Ja, das waren bestimmt die Termiten. Sie haben die Zwerginnen und die roten Ameisen gegeneinander aufgehetzt. Auf diese Weise können sie sich beider mühelos entledigen. Wenn sich ihre Feindinnen gegenseitig geschwächt haben, brauchen sie die Ameisenstädte nur noch einzusammeln.

Und die Kriegerinnen mit dem Felsenduft? Das wären Spioninnen im Sold der Termiten, das ist alles.

Je mehr ihr gemeinsames Denken durch ihre drei Gehirne kreist, um so mehr verfeinert es sich und um so klarer erscheint es ihnen, daß die Termiten des Ostens im Besitz der »Geheimwaffe« sind.

Aber sie werden von den allgemeinen Düften des Volkes gestört und aus ihrer Unterhaltung gerissen. Die Stadt hat beschlossen, die Kriegspause auszunutzen und das Fest der Wiedergeburt vorzuverlegen: es wird morgen stattfinden.

Sämtliche Kasten an ihre Plätze! Die Weibchen und Männchen in die Verpflegungssäle, um sich mit Zucker vollzustopfen! Die Artilleristinnen laden ihre Hinterleiber in den Sälen der organischen Chemie auf!

Bevor sie sich von ihren Gefährten trennt, scheidet die 103 683. Soldatin ein Pheromon aus:

Paart euch schön! Keine Sorge, ich führe die Ermittlungen weiter. Wenn ihr im Himmel seid, mache ich mich auf den Weg zu dem großen Termitenhügel des Ostens.

Kaum sind sie aufgebrochen, erscheinen die beiden Killerinnen, die brutale Dicke und die kleine Hinkende. Sie schaben die Wände ab und bemächtigen sich der flüchtigen Pheromone der Unterhaltung, die gerade stattgefunden hat.

Nachdem Inspektor Galin und die Feuerwehrleute gescheitert waren, wurde Nicolas in ein Waisenhaus gebracht, das nur ein paar hundert Meter von der Rue des Sybarites entfernt war.

Neben den richtigen Waisen wurden dort auch Kinder zusammengepfercht, die von ihren Eltern verstoßen oder geschlagen worden waren. Der Mensch gehört nämlich zu den wenigen Arten auf Erden, die fähig sind, ihren Nachwuchs zu verlassen oder zu mißhandeln. Die jungen Menschen verbrachten dort schwere Jahre, ihre Erziehung war von zahlreichen Fußtritten in den Hintern geprägt. Sie wurden größer, und sie wurden härter. Die meisten von ihnen wurden anschließend Berufssoldaten.

Den ersten Tag blieb Nicolas niedergeschlagen auf dem Balkon und betrachtete den Wald. Erst am nächsten Tag fand er zu der wohltuenden Routine des Fernsehens zurück. Das Gerät stand im Speisesaal, und die Aufpasser, froh, die »Rotznasen« für eine Weile los zu sein, ließen sie dort stundenlang verblöden. Abends im Schlafsaal fragten ihn Jean und Philippe, zwei andere Waisenkinder:

»Na, was ist mit dir passiert?«

»Nichts.«

»Erzähl schon. In deinem Alter kommt man nicht einfach so hierher. Wie alt biste überhaupt?«

»Ich weiß Bescheid. Sieht aus, als wär’n seine Eltern von Ameisen gefressen worden.«

»Wer hat euch denn den Quatsch erzählt?«

»Irgendwer, du Pimpf. Wer, das sagen wir dir, wenn du uns sagst, was mit deinen Eltern passiert ist.«

»Ihr könnt mich mal.«

Jean, der Stärkere von beiden, packte Nicolas an den Schultern, während ihm Philippe den Arm auf den Rücken drehte.

Nicolas riß sich los und schlug Jean mit der Handkante auf den Hals (das hatte er in einem chinesischen Fernsehfilm gesehen). Jean fing an zu husten. Philippe mischte sich wieder ein und versuchte Nicolas zu würgen, doch der stieß ihm den Ellbogen in den Magen. Philippe sank auf die Knie und klappte zusammen. Nachdem er sich von diesem Angreifer befreit hatte, widmete sich Nicolas wieder Jean und spuckte ihm ins Gesicht. Jener tauchte ab und biß ihm die Wade blutig. Die drei jungen Menschen rollten unter die Betten und prügelten sich weiter wie die Kesselflicker. Letztlich war Nicolas der Unterlegene.

»Sag, was mit deinen Eltern passiert ist, oder wir geben dir Ameisen zu fressen!«

Das war Jean im Laufe der Keilerei eingefallen. Er fand die Idee nicht übel. Während er den Neuen auf den Boden preßte, sammelte Philippe einige Hautflügler ein, von denen es an diesem Ort nicht wenige gab, und hielt sie Nicolas vors Gesicht: »Da, das sind ein paar besonders fette!«

(Als ob die Ameisen, deren Körper von einem harten Panzer umgeben ist, Fett ansetzen könnten!)

Dann kniff er ihn in die Nase, bis Nicolas den Mund aufsperrte, und warf voller Abscheu drei junge Arbeiterinnen hinein, die wahrlich anderes zu tun hatten. Nicolas machte die überraschendste Erfahrung seines Lebens. Das schmeckte köstlich.

Erstaunt, daß er diese ekelhafte Speise nicht ausspuckte, wollten die anderen ebenfalls probieren.

Der Saal mit den »Flaschenkürbissen« ist eine der neuesten Errungenschaften von Bel-o-kan. Tatsächlich wurde die Technik der »Flaschenkürbisse« von den Ameisen des Südens übernommen, die mit der großen Hitze in einem fort nach Norden ziehen.

Selbstverständlich hat die Föderation im Zuge eines siegreich bestrittenen Krieges gegen diese Ameisen deren Kürbissaal entdeckt. Der Krieg ist die beste Quelle und der beste Verteiler von Neuerungen in der Welt der Insekten.

Im ersten Moment waren die belokanischen Legionen entsetzt, als sie ... was sahen? Arbeiterinnen, die dazu verdammt waren, ihr ganzes Leben an der Decke zu hängen, mit dem Kopf nach unten und den Hinterleib dermaßen aufgebläht, daß er doppelt so groß war wie der einer Königin! Die Ameisen des Südens erklärten, diese »geopferten« Arbeiterinnen seien lebende Feldflaschen, imstande, unglaubliche Mengen von Nektar oder Honigtau zu konservieren.

Im Grunde hatte man nur die Idee des »Sozialkropfs« auf die Spitze treiben müssen, um auf die des »Ameisentanks« zu kommen - und sie in die Tat umzusetzen. Man brauchte bloß das Ende des Hinterleibs dieser lebenden Kühlschränke zu kitzeln, die daraufhin tröpfchenweise oder sogar in Strömen ihren kostbaren Saft abgaben.

Dank dieses Systems widerstanden die Ameisen des Südens der großen Trockenheit, die die tropischen Regionen immer wieder heimsuchte. Wenn sie auf Wanderschaft gingen, nahmen sie ihre Flaschenkürbisse mit und waren während der ganzen Reise bestens versorgt. Wenn man ihnen Glauben schenken konnte, schmeckten diese Kürbisse ebenso köstlich wie Eier.

Die Belokanerinnen raubten also die Technik der Flaschenkürbisse, waren jedoch vor allem daran interessiert, große Nahrungsmengen ungemein hygienisch und wirkungsvoll zu konservieren.

Sämtliche Männchen und sämtliche Weibchen der Stadt erscheinen in dem Saal, um Zucker und Wasser aufzunehmen. Vor jedem der lebenden Flaschenkürbisse wartet eine lange Schlange geflügelter Ameisen. Nr. 327 und Nr. 56 trinken gemeinsam, dann trennen sie sich.

Nachdem sich alle Männchen und Weibchen und alle Artilleristinnen gestärkt haben, sind die Ameisentanks leer. Eine Armee von Arbeiterinnen eilt herbei, um sie mit Nektar und Honigtau aufzufüllen, bis die schlaffen Hinterleiber wieder die Form kleiner schimmernder Ballons angenommen haben.

Nicolas, Philippe und Jean wurden von einem Aufseher überrascht und zusammen bestraft. So wurden sie die besten Freunde des ganzen Waisenhauses.

Oft waren sie gemeinsam vor dem Fernseher im Speisesaal anzutreffen. An diesem Tag sahen sie eine Folge der unerschöpflichen Serie »Außerirdisch und stolz, es zu sein«.

Sie kreischten und stießen sich mit den Ellbogen an, als sie eine Gruppe von Kosmonauten auf einem Planeten landen sahen, der von riesigen Ameisen bewohnt war.

»Guten Tag, wir kommen von der Erde.«

»Guten Tag, wir sind die Riesenameisen des Planeten Zgü.«

Ansonsten war die Handlung relativ banal: Die Riesenameisen hatten telepathische Fähigkeiten. Sie übermittelten den Erdbewohnern die Botschaft, sich gegenseitig umzubringen. Der letzte Überlebende kam jedoch dahinter und setzte die feindliche Stadt in Brand ...

Zufrieden mit diesem Schluß beschlossen die Jungen, ein paar zuckersüße Ameisen zu essen. Aber seltsamerweise hatten die, die sie diesmal fingen, einen anderen Geschmack als die ersten. Sie waren kleiner, und sie schmeckten sauer. Wie konzentrierte Zitrone. Brrr!

Alles muß sich gegen Mittag auf dem höchsten Punkt der Stadt abspielen.

Mit den ersten warmen Strahlen der Morgensonne haben Artilleristinnen die Schutznischen bezogen, die sich wie eine Krone um den Gipfel ziehen. Den Anus gen Himmel gerichtet, bilden sie eine Art Flakbatterie gegen die Vögel, die unweigerlich aufkreuzen werden. Einige klemmen ihren Hinterleib zwischen die Zweige, um den Rückstoß abzuschwächen. So hoffen sie zwei, drei Salven abfeuern zu können, ohne allzusehr abzuweichen.

Nr. 56 ist in ihrer Kammer. Geschlechtslose Dienerinnen reiben ihre Flügel mit schützendem Speichel ein. Wart ihr schon mal in der Großen Außenwelt? Die Arbeiterinnen antworten nicht. Natürlich waren sie schon draußen, aber was bringt es, ihr zu sagen, daß draußen lauter Bäume und Gräser sind? In ein paar Minuten kann sich die potentielle Königin selbst überzeugen. Per Antennenkontakt erfahren zu wollen, wie die Welt geschaffen ist, die typische Laune eines Weibchens!

Die Arbeiterinnen hätscheln sie deshalb nicht weniger. Sie ziehen an ihren Beinen, um sie zu lockern. Sie zwingen sie zu Verrenkungen, um die Gelenke ihres Thorax und ihres Hinterleibs knacken zu lassen. Sie überprüfen, ob ihr Sozialkropf bis obenhin mit Honigtau gefüllt ist, indem sie ihn pressen, um ihm einen Tropfen zu entlocken. Mit diesem Sirup sollte sie mehrere Stunden ununterbrochenen Flugs durchhalten.

So, Nr. 56 ist fertig. Die nächste bitte.

Die Prinzessin, herausgeputzt und in dem Wohlgeruch all ihrer Düfte, verläßt das Jungferngemach. Das 327. Männchen hat sich nicht getäuscht, sie ist wirklich eine Schönheit.

Sie kann ihre Flügel heben. Wahnsinn, wie schnell sie in den letzten Tagen gewachsen sind. Sie sind so lang und so schwer geworden, daß sie über den Boden schleifen ... Wie ein Hochzeitsschleier.

Weitere Weibchen erscheinen an den Ausgängen. Nr. 56 bewegt sich in Gesellschaft von Hunderten dieser Jungfrauen bereits in den Zweigen der Kuppel. Einige sind so aufgeregt, daß sie an den kleinen Zweigen hängenbleiben; ihre vier Flügel werden zerkratzt, durchbohrt oder gar abgerissen. Die Ärmsten kommen nicht mehr höher, sie könnten ohnehin nicht zum Flug ansetzen. Enttäuscht gehen sie in die 5. Etage zurück. Wie die Prinzessinnen der Zwergameisen werden sie den Liebesflug nicht kennenlernen. Sie werden sich schlicht in einem geschlossenen Raum auf dem Boden fortpflanzen.

Nr. 56 ist noch unversehrt. Sie hüpft von Zweig zu Zweig und achtet darauf, daß sie nicht fällt und ihre zarten Flügel beschädigt.

Eine Schwester, die an ihrer Seite wandelt, wünscht einen Antennenkontakt. Sie fragt sich, wer diese berühmten Männchen sind. So etwas wie Drohnen oder Fliegen?

Nr. 56 gibt keine Antwort. Sie denkt an Nr. 327, an das Rätsel der »Geheimwaffe«. Es ist alles vorbei. Keine Arbeitszelle mehr. Jedenfalls nicht für die beiden. Die ganze Sache ist künftig Nr. 103 683 überlassen.

Sie erinnert sich wehmütig der Ereignisse.

Das flüchtige Männchen, das in ihrer Kammer aufkreuzt ... Ohne »Paß!«

Ihre erste absolute Kommunikation!

Ihre Begegnung mit Nr. 103 683.

Die Killerinnen mit dem Felsenduft.

Ihr Abstieg in die Niederungen der Stadt.

Das Versteck mit den Kadavern derjenigen, die ihre »Legion« hätten werden können.

Die Lomechuse.

Der Geheimgang in dem Granitfelsen ...

Sie schwelgt in ihren Erinnerungen und fühlt sich privilegiert. Keine ihrer Schwestern hat solche Abenteuer erlebt, noch bevor sie die Stadt verlassen hat.

Die Killerinnen mit dem Felsenduft ... Die Lomechuse ... Der Geheimgang in dem Granitfelsen ...

Mit Verrücktheit ist das nicht zu erklären, handelt es sich doch um zu viele Individuen. Söldnerinnen, die für die Termiten spionieren? Nein, das haut nicht hin, ganz und gar nicht, dann wären es nicht so viele, wären sie nicht so gut organisiert.

Ohnehin bleibt ein Punkt, der zu nichts paßt: Wozu dienen diese Nahrungsvorräte unter dem Boden der Stadt? Um die Spioninnen zu ernähren? Nein, da ist genug, um Millionen von Personen zu mästen ... Und Millionen sind sie nun doch nicht.

Und diese erstaunliche Lomechuse. Das ist ein Tier, das an der Oberfläche lebt. Es ist unmöglich, daß sie aus eigener Kraft in das 50. UG gelangt ist. Man hat sie also dorthin transportiert. Aber sobald man sich diesem Insekt nähert, wird man von seinem Duft gefangen. Dazu gehört schon eine ziemlich starke Gruppe, dieses Ungeheuer in weiche Blätter zu hüllen und heimlich nach unten zu schaffen.

Je mehr sie darüber nachdenkt, um so klarer wird ihr, daß das beträchtliche Mittel voraussetzt. Und in der Tat, wenn man den Dingen ins Gesicht sieht, läuft alles so ab, als habe ein Teil des Volkes ein Geheimnis, das zäh gegen die eigenen Schwestern verteidigt wird.

Unbekannte Kontakte bohren sich in ihren Kopf. Sie bleibt stehen. Ihre Artgenossen glauben, ihr schwänden vor Aufregung ob des Hochzeitsflugs die Kräfte. Das passiert zuweilen, die Weibchen sind so sensibel. Sie führt ihre Antennen vor ihren Mund. Sie geht rasch noch einmal durch: die Expedition Nr. 1 vernichtet, die Geheimwaffe, die dreißig Legionärinnen getötet, die Lomechuse, der Geheimgang in dem Granitfelsen, die Nahrungsreserven ...

Das ist es, große Güte, sie hat es verstanden! Sie stürmt gegen den Strom ihrer Schwestern los. Wenn es bloß nicht zu spät ist!


ERZIEHUNG: Die Erziehung der Ameisen vollzieht sich in folgenden Etappen:

- Vom ersten bis zum zehnten Tag kümmern sich die meisten der Jungen um die eierlegende Königin. Sie pflegen sie, belecken sie, streicheln sie. Dafür salbt jene sie mit ihrem nahrhaften und desinfizierenden Speichel.

- Vom elften bis zum zwanzigsten Tag haben die Arbeiterinnen das

Recht, die Kokons zu pflegen.

- Vom einundzwanzigsten bis zum dreißigsten Tag beaufsichtigen und ernähren sie die jungen Larven.

- Vom einunddreißigsten bis zum vierzigsten Tag gehen sie häuslichen Pflichten und der Abfallbeseitigung nach, wobei sie auch die Königin und die Nymphen weiter pflegen.

- Der vierzigste Tag ist ein wichtiges Datum. Sie gelten nun als erfahren genug und erhalten das Recht, die Stadt zu verlassen.

- Vom einundvierzigsten bis zum fünfzigsten Tag arbeiten sie als Wächterinnen oder Blattlausmelkerinnen.

- Vom einundfünfzigsten bis zum letzten Tag ihres Lebens können sie zu der für eine Stadtameise interessantesten Beschäftigung vordringen: der Jagd und der Erkundung unbekannter Zentren.

Anmerkung: Vom elften Tag an sind die fortpflanzungsfähigen Ameisen von der Arbeit befreit. Sie sind die meiste Zeit über untätig und stehen bis zum Tag des Hochzeitsflugs in ihren Vierteln unter »Arrest«.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Nr. 327 bereitet sich ebenfalls vor. In dem gesamten Feld seiner Antennen reden die Männchen von nichts anderem als von Weibchen. Sehr wenige nur haben eines gesehen. Und wenn, war das nur ein flüchtiger Blick in den Gängen der Verbotenen Stadt. Viele geraten ins Phantasieren. Sie stellen sie sich mit berauschenden Düften vor, glauben, sie seien von umwerfender Erotik.

Einer der Prinzen behauptet, er habe von einem Weibchen eine Trophallaxie erhalten. Ihr Honigtau habe geschmeckt wie Birkensaft, und ihre Sexualhormone verströmten einen Duft wie abgeschnittene Osterglocken.

Die anderen beneiden ihn schweigend.

Nr. 327, der wirklich den Honigtau eines Weibchens gekostet hat (und was für eines Weibchens), weiß, daß sich jener in nichts von dem Honigtau der Arbeiterinnen oder Kürbisse unterscheidet. Gleichwohl mischt er sich nicht in die Unterhaltung ein.

Dafür geht ihm eine schelmische Idee durch den Sinn. Er würde gern das 56. Weibchen mit den für die Errichtung ihrer zukünftigen Stadt erforderlichen Spermien versorgen. Wenn er sie findet ... Schade, daß sie nicht daran gedacht, ein Erkennungspheromon auszumachen, um sich in der Menge treffen zu können.

Als Nr. 56 in den Saal der Männchen eindringt, herrscht allgemeine Verwunderung. Hierherzukommen ist gegen alle Regeln des Volkes. Männchen und Weibchen dürfen sich beim Hochzeitsflug zum erstenmal sehen. Man ist doch hier nicht bei den Zwerginnen. Man paart sich doch nicht in den Gängen.

Die Prinzen, die so sehr wissen wollten, wie solch ein Weibchen ist, erstarren. Sie senden alle zugleich feindselige Düfte aus, die ihr bedeuten sollen, daß sie nicht in diesem Raum bleiben darf.

Sie läßt sich jedoch nicht davon abhalten, sich mitten in diesen Tumult der Vorbereitungen zu zwängen. Sie stößt alle Welt um, stößt verzweifelt ihre Pheromone in die Runde.

327! 327! Wo bist du, 327?

Die Prinzen haben keine Hemmungen, ihr zu sagen, daß man sich so seinen Begatter nicht aussucht! Sie muß sich gedulden, auf den Zufall vertrauen. Ein bißchen Anstand ...

Schließlich findet Nr. 56 ihren Begleiter. Er ist tot. Sein Kopf wurde mit einem Mandibelbiß abgetrennt.


TOTALITARISMUS: Die Menschen interessieren sich für die Ameisen, weil sie glauben, daß es jenen geglückt ist, ein funktionierendes totalitäres System zu schaffen. Es trifft auch zu, daß man von außen den Eindruck hat, jeder arbeite in einem Ameisenhaufen, jeder gehorche, jeder sei bereit, sich zu opfern, alle seien gleich. Und da einstweilen die totalitären Systeme der Menschen samt und sonders gescheitert sind ...

Also glaubt man das soziale Insekt kopieren zu müssen (war nicht auch die Biene das Attribut Napoleons?). Die Pheromone, die den Ameisenhaufen als globale Informationen durchfluten, entsprechen dem weltweiten Fernsehen von heute. Der Mensch glaubt, daß er eines Tages zu einer vollkommenen Menschheit gelangt, wenn er allen anbietet, was er für das Beste erachtet.

Das ist nicht der Sinn der Dinge.

Die Natur, ob es Herrn Darwin gefällt oder nicht, entwickelt sich nicht auf die Vorherrschaft der Besten hin (nach welchen Kriterien auch?).

Die Natur schöpft ihre Kraft aus der Verschiedenheit. Sie braucht Gute, Böse, Verrückte, Verzweifelte, Sportliche, Bettlägerige, Bucklige, Hasenfüße, Lustige, Traurige, Intelligente, Schwachsinnige, Egoisten. Freigebige, Kleine, Große. Schwarze, Gelbe, Rote, Weiße ... Es bedarf dazu sämtlicher Religionen, sämtlicher Philosophien, aller Formen von Fanatismus, aller Formen von Weisheit ... Die einzige Gefahr besteht darin, daß eine dieser Arten von einer anderen eliminiert wird.

Man hat gesehen, daß die von den Menschen künstlich angelegten Maisfelder, die sich aus Zwillingen der besten Kolben zusammensetzten (der Mais, der am wenigsten Wasser braucht; der, der am besten dem Frost widersteht; der, der die schönsten Körner hervorbringt), allesamt bei der geringsten Krankheit plötzlich eingingen. Wohingegen die Felder mit wildem Mais, die sich aus mehreren Stämmen zusammensetzten, die alle ihre Besonderheit, ihre Schwächen, ihre Anomalien hatten, stets eine Parade gegen irgendwelche Epidemien fanden.

Die Natur haßt die Gleichförmigkeit, sie liebt die Verschiedenheit. Vielleicht liegt darin ihr Genie.

Edmond Wells

Enzyklopädie des absoluten und relativen Wissens


Sie hastet mit kurzen, mühsamen Schritten in die Kuppel zurück. In einem Gang in der Nähe des Frauengemachs erkennt sie mit ihren Infrarot-Ozellen zwei Gestalten. Die Mörderinnen mit dem Felsenduft! Die Dicke und die kleine Hinkende!

Sie kommen auf sie zu. Nr. 56 läßt ihre Flügel surren und springt der Hinkenden an den Hals. Sie haben sie jedoch schnell überwältigt. Anstatt sie aber umzubringen, zwingen sie ihr einen Antennenkontakt auf.

Nr. 56 ist wütend. Sie fragt, weshalb sie das 327. Männchen getötet haben, wo es doch bei dem Flug ohnehin gestorben wäre. Warum haben sie es ermordet?!

Die beiden Killerinnen reden ihr gut zu. Gewisse Dinge können ihnen zufolge nicht warten. Ganz gleich, was es kostet. Es gibt Aufgaben, die verpönt sind. Taten, die schlecht beurteilt werden, aber dennoch ausgeführt werden müssen, damit das Volk normal weiterlebt. Man darf nicht so naiv sein ... Die Einheit von Bel-o-kan, die ist einiges wert. Und wenn’s nötig ist, muß man halt was tun!

Ja, sind sie denn keine Spioninnen?

Nein, sie sind keine Spioninnen. Sie behaupten sogar ., die maßgebenden Wächterinnen der Sicherheit und des Wohls des Volkes zu sein.

Die Prinzessin stößt wutentbrannte Pheromone aus. Als ob Nr. 327 eine Gefahr für die Sicherheit des Volkes gewesen sei! Doch, antworten die beiden Killerinnen. Eines Tages wird sie es verstehen, im Moment ist sie noch zu jung ...

Verstehen? Was wird sie verstehen? Daß es Mörderinnen im Herzen der Stadt gibt, die obendrein behaupten, zu deren Wohl zu handeln, wenn sie Männchen umbringen, die Dinge gesehen haben, »die entscheidend sind für das Überleben des Volks«?

Die Hinkende bequemt sich zu einer Erklärung. Aus ihrer Rede geht hervor, die Kriegerinnen mit dem Felsenduft seien »Antistreß-Soldatinnen«. Es gebe einen guten Streß, der dazu führt, daß das Volk Fortschritte macht und kämpft. Aber es gebe auch einen schlechten Streß, der dazu führt, daß sich das Volk selbst zerstört ...

Nicht alle Informationen seien sinnvoll. Einige würden »metaphysische« Ängste erzeugen, für die es noch keine Lösung gibt. Also würde sich das Volk beunruhigen, aber es sei gehemmt, unfähig zu reagieren ...

Das sei ganz schlecht für alle. Das Volk beginne Toxine zu produzieren, die es vergiften. Das »langfristige« Überleben des Volkes sei wichtiger als die »kurzfristige« Kenntnis der Wirklichkeit. Wenn ein Auge etwas sieht, von dem das Hirn weiß, daß es dem Rest des Organismus gefährlich ist, sei es besser, wenn das dieses Auge ausreißt ...

Die Dicke stimmt ein, um die Rede der Hinkenden mit kunstvollen Worten zusammenzufassen:

Das Auge haben wir ausgerissen,

Den nervlichen Stimulus haben wir zerschnitten.

Die Angst haben wir beendet.

Die Antennen lassen nicht locker, verdeutlichen, daß alle Organismen mit dieser Art Sicherung ausgestattet seien. Jene, die dergleichen nicht haben, stürben vor Angst oder brächten sich um, um sich nicht der beängstigenden Wirklichkeit stellen zu müssen.

Nr. 56 ist ziemlich überrascht, aber sie läßt sich nicht aus der Fassung bringen. Ein feines Pheromon, wahrhaftig! Wenn sie das Vorhandensein der Geheimwaffe verheimlichen wollen, ist es ohnehin zu spät. Alle Welt weiß, daß La-chola-kan das erste Opfer war, auch wenn das Rätsel in technologischer Hinsicht weiterhin ungelöst ist ...

Die beiden Soldatinnen bleiben gelassen, lockern ihren Griff jedoch nicht. La-chola-kan, das hat doch jeder schon vergessen, der Sieg hat die Neugier abflauen lassen. Im übrigen reicht es, in den Gängen zu schnüffeln, es gibt nicht den geringsten Geruch von Toxinen. Das ganze Volk ist unbesorgt bei diesem Fest der Wiedergeburt.

Was wollen sie dann von ihr? Warum klemmen sie ihren Kopf so ein?

Während der Hetzjagd durch die unteren Stockwerke hat die Hinkende eine dritte Ameise geortet. Eine Soldatin. Wie lautet ihre Identifikationsnummer?

Deshalb haben sie sie also nicht sofort getötet! Statt einer Antwort stößt das Weibchen die Spitzen seiner Antennen tief in die Augen der Dicken. Daß diese von Geburt an blind ist, bedeutet nicht, daß sie nicht große Schmerzen hat. Die Hinkende lockert verblüfft ihren Griff.

Nr. 56 läuft los, fliegt, um schneller voranzukommen. Ihre Flügel wirbeln eine Staubwolke auf, die ihre Verfolgerinnen verwirrt. Schnell, sie muß die Kuppel erreichen.

Sie ist haarscharf dem Tod entgangen. Jetzt wird für sie ein anderes Leben beginnen.

Auszug aus der Petitionsrede gegen die Spielzeugameisenhaufen, gehalten von Edmond Wells vor der Untersuchungskommission der Nationalversammlung:

»Gestern habe ich in den Läden dieses neue Spielzeug gesehen, das die Kinder zu Weihnachten geschenkt bekommen. Es handelt sich um durchsichtige, mit Erde gefüllte Plastikschachteln, in denen sich sechshundert Ameisen, darunter garantiert eine fruchtbare Königin, befinden.

Man sieht sie arbeiten, wühlen, laufen.

Für ein Kind ist das faszinierend. Das ist, als schenke man ihm eine Stadt. Nur daß die Einwohner winzig klein sind. Gleichsam Hunderte von kleinen, beweglichen und autonomen Puppen.

Ich muß gestehen, ich besitze selbst ähnliche Ameisenhaufen. Weil ich sie im Rahmen meiner Arbeit als Biologe schlicht und einfach studieren muß. Ich habe sie in Aquarien untergebracht, deren Wände ich mit luftdurchlässigem Karton ausgefüllt habe.

Und doch, jedesmal wenn ich vor einem meiner Ameisenhaufen stehe, habe ich ein seltsames Gefühl. Als wäre ich allmächtig in ihrer Welt. Als wäre ich ihr Gott.

Wenn mir danach ist, ihnen ihre Nahrung wegzunehmen, werden sie alle sterben; wenn mich die Lust anwandelt, Regen zu erzeugen, muß ich lediglich mit der Gießkanne den Inhalt eines Glases Wasser über ihre Stadt rieseln lassen; wenn ich beschließe, ihre Raumtemperatur zu erhöhen, brauche ich sie bloß auf den Radiator zu stellen; wenn ich eine entführen will, um sie unter dem Mikroskop zu betrachten, nehme ich einfach meine Pinzetten und fahre damit in das Aquarium; und wenn es mich überkäme, welche zu töten, stieße ich auf keinerlei Widerstand. Sie würden nicht einmal verstehen, was ihnen widerfahren ist.

Ich sage Ihnen, meine Herren, uns ist eine maßlose Macht über diese Geschöpfe gegeben. Einzig und allein, weil sie von kleinerer Gestalt sind.

Aber ich mißbrauche diese Macht nicht. Aber ich stelle mir vor, ein Kind ... Auch ein Kind kann ihnen alles antun.

Manchmal kommt mir ein dummer Gedanke. Ich sehe ihre Städte aus Sand, und ich sage mir: Und wenn das unsere wären? Wenn wir ebenfalls in irgendeinem Aquarium gefangen wären und überwacht von einer anderen riesigen Art?

Wenn Adam und Eva zwei Versuchskaninchen waren, die in einer künstlichen Landschaft ausgesetzt wurden, um >zu sehen, was das gibt

Wenn die Vertreibung aus dem Paradies, von der die Bibel spricht, nur der Umzug in ein anderes Aquarium war?

Wenn die Sintflut letztlich nur ein Glas Wasser war, das von einem nachlässigen oder neugierigen Gott umgestoßen wurde?

Unmöglich, sagen Sie? Nun ja ... Der einzige Unterschied könnte sein, daß meine Ameisen von gläsernen Wänden umgeben sind, während wir durch eine physische Kraft gefangengehalten werden: die Gravitation!

Gleichwohl glückt es meinen Ameisen mitunter, den Karton zu zerschneiden, mehrere sind schon entkommen. Und uns gelingt es. Raketen abzuschießen, welche die Schwerkraft überwinden.

Kommen wir auf die Aquariumstädte zurück. Wie ich Ihnen vorhin sagte: Ich bin ein großmütiger, barmherziger und sogar ein wenig abergläubischer Gott. Also lasse ich meine Versuchstiere niemals leiden. Was ich nicht will, daß man mir tut, füg ich auch ihnen nicht zu.

Aber die zigtausend Ameisenhaufen, die Weihnachten verkauft werden, machen die Kinder ebenfalls zu kleinen Göttern. Werden sie genauso großmütig und barmherzig sein wie ich?

Sicher, die meisten werden begreifen, daß sie für eine Stadt verantwortlich sind und daß ihnen daraus nicht nur göttliche Rechte, sondern auch Pflichten erwachsen: die Pflicht, sie zu ernähren, sie in der richtigen Temperatur zu halten, sie nicht aus Spaß zu töten.

Kinder, und ich denke vor allem an die ganz kleinen, die noch nicht verantwortlich sind. Kinder haben allerlei Unannehmlichkeiten: schulische Mißerfolge, streitende Eltern. Keilereien mit Freunden. In einem Wutanfall können sie durchaus ihre Pflicht als >junger Gott< vergessen, und dann wage ich mir das Schicksal ihrer >Bürger< nicht auszumalen ...

Ich fordere Sie nicht etwa aus Mitleid für die Ameisen oder aufgrund ihrer Rechte als Tiere auf, für das Verbot der Spielzeugameisenhaufen zu stimmen. Tiere haben keine Rechte; sie werden in Batterien gezüchtet und für unseren Konsum geschlachtet. Ich fordere Sie auf, für dieses Gesetz zu stimmen, indem Sie sich vorstellen, daß wir selbst vielleicht Versuchskaninchen und Gefangene einer riesigen Struktur sind. Fänden Sie es wünschenswert, wenn eines Tages die Erde einem jungen, unverantwortlichen Gott als Spielzeug zu Weihnachten geschenkt würde?«

Die Sonne steht auf ihrem höchsten Punkt.

Die Spätankömmlinge. Männchen wie Weibchen, drängen sich durch die Adern, die zur Haut der Stadt führen. Arbeiterinnen schieben sie an, belecken sie, muntern sie auf.

Nr. 56 ist mittlerweile in dieser jubelnden Menge untergetaucht, in der sich sämtliche persönlichen Gerüche vermengen. Hier wird es niemandem gelingen, ihre Düfte zu identifizieren. Sie läßt sich von dem Strom ihrer Schwestern tragen und gelangt immer höher in bislang unbekannte Viertel.

Plötzlich, am Ende eines Gangs, erblickt sie etwas, was sie noch nie gesehen hat. Das Tageslicht. Das ist zunächst nur ein Lichtschein an den Wänden, doch schon bald verwandelt sich das in blendende Helligkeit. Endlich sieht sie diese mysteriöse Kraft, die ihr die Ammen geschildert haben. Das warme, sanfte, schöne Eicht. Die Verlockung einer neuen, märchenhaften Welt.

Sie fühlt sich regelrecht berauscht durch die Aufnahme all dieser rohen Photonen in ihren Augenhöhlen. Als hätte sie zuviel von dem vergorenen Honigtau in der 32. Etage zu sich genommen.

Die 56. Prinzessin geht weiter. Der Boden ist mit Flecken von einem grellen Weiß gesprenkelt. Sie watet durch die warmen Photonen. Für jemand, der seine Kindheit unter der Erde verbracht hat, ist der Unterschied gewaltig.

Eine weitere Biegung. Ein Bündel klaren Lichts schießt hinein, dehnt sich zu einem flimmernden Kreis, dann zu einem silbernen Schleier aus. Das Bombardement des Lichts läßt sie zurückprallen. Sie spürt die Funken, die in ihre Augen treten, ihre Sehnerven versengen, ihre drei Gehirne martern. Drei Gehirne ... Ein altes Erbe ihrer Vorfahren, der Würmer, die einen Nervenknoten pro Körperring hatten, ein Nervensystem für jeden Teil des Körpers.

Sie kämpft wieder gegen den Photonenwind an. In der Ferne erkennt sie die Gestalten ihrer Schwestern, die von dem Tagesgestirn erhascht werden. Sie sehen aus wie Phantome.

Sie geht weiter. Ihr Panzer wird lauwarm. Dieses Licht, das man ihr tausendmal zu schildern versucht hat, ist mit Worten nicht zu erfassen, man muß es erleben! Sie muß an die Arbeiterinnen aus der Unterkaste der »Pförtnerinnen« denken, die zeitlebens in der Stadt eingeschlossen bleiben und niemals erfahren, wie die Außenwelt und die Sonne sind.

Sie dringt in die Mauer aus Licht ein und gelangt auf die andere Seite außerhalb der Stadt. Ihre Facettenaugen passen sich nach und nach an, während sie das Stechen der wilden Luft wahrnimmt. Eine kalte Luft, beweglich und duftend, ganz anders als die gezähmte Atmosphäre der Welt, in der sie gelebt hat.

Ihre Antennen wirbeln umher. Sie hat Mühe, sie kontrolliert auszurichten. Ein noch schnellerer Windstoß preßt sie ihr vors Gesicht. Ihre Flügel knattern.

Oben auf der Spitze der Kuppel wird sie von Arbeiterinnen in Empfang genommen. Sie ergreifen sie an den Beinen, ziehen sie hoch, stoßen sie nach vorn in ein Gewühl von Männchen und Weibchen, die sich zu Hunderten auf einer schmalen Fläche drängen und stapeln. Die 56. Prinzessin erfaßt, daß sie auf der Startbahn des Hochzeitsflugs steht, daß sie jedoch noch warten müssen, bis das Wetter besser ist.

Während der Wind weiter seinen Schabernack treibt, hat ein Dutzend Spatzen die Männchen und Weibchen erblickt. Angelockt von diesem unverhofften Fressen flattern sie immer näher heran. Als sie zu nahe kommen, decken die kronenförmig um die Spitze plazierten Artilleristinnen sie mit ihren Säurestrahlen ein.

Jetzt gerade versucht einer dieser Vögel sein Glück, er stürzt auf die Menge hinab, pickt drei Weibchen und steigt wieder hoch! Bevor der dreiste Räuber genug Höhe gewonnen hat, wird er von den Artilleristinnen abgeschossen; er wälzt sich, den Schnabel noch voll, kläglich im Gras, um das Gift von seinen Flügeln zu wischen.

Das soll ihnen eine Lehre sein! Und in der Tat, die Spatzen haben sich ein wenig zurückgezogen ... Aber niemand läßt sich dadurch täuschen. Sie werden bald wiederkommen, die Luftabwehr einem erneuten Test unterziehen.


raubtiere: Was wäre unsere menschliche Zivilisation, wenn sie sich nicht der gefährlichsten Raubtiere entledigt hätte, der Wölfe, Löwen, Bären und Hyänen?

Sicher eine ängstliche, ständig in Frage gestellte Zivilisation.

Die Römer ließen, um sich inmitten ihrer Zechgelage Angst einzujagen, eine Leiche herbeischaffen. So wurden alle daran erinnert, daß nichts gewonnen ist und daß der Tod jeden Augenblick eintreten kann.

Heute jedoch hat der Mensch sämtliche Arten, die fähig sind, ihn zu fressen, umgebracht, ausgerottet, ins Museum gesteckt. So daß die Mikroben und vielleicht die Ameisen die einzigen sind, die ihn noch schrecken können.

Die Zivilisation der Ameisen hingegen hat sich entwickelt, ohne daß es ihr gelungen ist, die hauptsächlichen Räuber auszuschalten. Resultat: Dieses Insekt lebt in ständiger Gefahr. Es weiß, daß es erst die Hälfte des Wegs zurückgelegt hat, wenn selbst das dümmste Tier mit einem Tatzenhieb die Frucht tausendjährigen, wohldurchdachten Experimentierens zunichte machen kann.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Der Wind hat nachgelassen, die Luftströme werden seltener, die Temperatur steigt. Um 22°-Zeit beschließt die Stadt, ihre Kinder loszuschicken.

Die Weibchen lassen ihre vier Flügel surren. Sie sind bereit, nur zu bereit. All diese Düfte reifer Männchen haben ihr sexuelles Verlangen auf die Spitze getrieben.

Die ersten Jungfrauen heben anmutig ab. Sie schwingen sich auf eine Höhe von hundert Kopf und ... werden von den Spatzen hinweggerafft. Keine kommt durch.

Unten herrscht Bestürzung, aber deshalb wird man nicht aufgeben. Eine zweite Welle hebt ab. Vier Weibchen von hundert schaffen es, diese Sperre aus Federn und Schnäbeln zu durchbrechen. Die Männchen machen sich in einem dichten Geschwader auf die Verfolgung. Sie werden durchgelassen, sie sind zu schmächtig, als daß sich die Spatzen für sie interessieren würden.

Eine dritte Welle von Weibchen schwingt sich zum Sturm auf die Wolken empor. Über fünfzig Vögel sind auf ihrem Weg. Es folgt ein einziges Gemetzel. Die Vögel werden immer zahlreicher, als hätten sie sich abgesprochen. Spatzen sind dort. Rotkehlchen. Buchfinken. Tauben ... Sie zwitschern lauthals. Auch für sie ist das ein Festtag!

Eine vierte Welle hebt ab. Auch diesmal kommt keines der Weibchen durch. Die Vögel streiten sich untereinander um die besten Stücke.

Die Artilleristinnen werden nervös. Sie schießen vertikal mit aller Kraft ihrer Säuredrüsen. Aber die Räuber fliegen zu hoch. Die tödlichen Tropfen fallen auf die Stadt zurück und verursachen zahlreiche Schäden und Verletzungen.

Einige Weibchen geben erschreckt auf. Sie sind der Ansicht, daß es unmöglich ist, durchzukommen, und ziehen es vor, wieder nach unten zu gehen und wie die anderen flügellahmen Prinzessinnen in den Sälen die Paarung zu vollziehen.

Die fünfte Welle schwingt sich empor, zum höchsten Opfer bereit. Sie müssen unbedingt diese Mauer aus Schnäbeln durchbrechen! Siebzehn Weibchen kommen durch, unmittelbar gefolgt von dreiundvierzig Männchen.

Sechste Welle: Zwölf Weibchen durchgekommen!

Siebte Welle: Vierunddreißig!

Nr. 56 bewegt ihre Flügel. Sie wagt es noch nicht, loszufliegen. Gerade ist der Kopf einer Schwester vor ihre Füße gefallen, gefolgt von einer schlaffen, unheilverkündenden Flaumfeder. Sie wollte wissen, wie die große Außenwelt beschaffen ist? Ah, jetzt weiß sie Bescheid!

Wird sie mit der achten Welle abheben? Nein ... Und sie tut gut daran, denn jene wird vollständig vernichtet.

Die Prinzessin hat Lampenfieber. Erneut läßt sie ihre Flügel surren und steigt ein wenig auf. Schön, wenigstens das klappt, kein Problem, das ist nur ihr Kopf, der ... Angst ergreift sie. Sie muß einen klaren Kopf bewahren. Die Aussichten, daß sie es schafft, sind sehr gering ...

Nr. 56 unterbricht ihr Flattern: Dreiundsiebzig Weibchen der neunten Welle sind durchgekommen. Die Arbeiterinnen stoßen aufmunternde Pheromone aus. Neue Zuversicht erwacht. Wird sie mit der zehnten Welle losfliegen?

Als sie noch zögert, erblickt sie plötzlich ein Stück weiter die kleine Hinkende und die dicke Killerin mit den auf ewig erloschenen Augen. Mehr bedarf es nicht, um ihr einen Ruck zu geben. Sie fliegt blitzschnell los. Die Mandibeln schließen sich in der Luft. Sie haben Nr. 56 nur knapp verfehlt.

Sie hält sich einen Moment auf halber Höhe zwischen der Stadt und dem Vogelschwarm. Dann wird sie von dem Sog der zehnten Welle erfaßt. Sie läßt sich mitreißen, schwingt sich ebenfalls geradewegs auf den Schlund der Lüfte zu. Ihre beiden Nachbarinnen lassen sich erhaschen, sie selbst entkommt unverhofft den riesigen Fängen einer Meise.

Reine Glückssache.

Nun, vierzehn von ihnen sind unversehrt durchgekommen. Aber Nr. 56 macht sich keine Illusionen. Sie hat nur die erste Prüfung überstanden. Das Schlimmste liegt noch vor ihr. Sie kennt die Zahlen. In der Regel erreichen von eintausendfünfhundert Prinzessinnen ungefähr zehn ohne Zwischenfall den Boden. Günstigstenfalls vier Königinnen gelingt es, ihre Stadt zu gründen.


manchmal, wenn: Manchmal, wenn ich im Sommer spazierengehe, bemerke ich, daß ich fast auf eine Art Fliege getreten wäre (??). Ich schaue genauer hin: eine Ameisenkönigin. Wenn eine da ist, sind Tausende da. Sie winden sich auf der Erde. Sie werden von den Schuhen der Leute zertreten oder prallen gegen die Windschutzscheibe der Fahrzeuge. Sie sind erschöpft, können ihren Flug nicht mehr kontrollieren. Wie viele Städte wurden auf diese Art zerstört, durch einen simplen Scheibenwischer auf einer sommerlichen Straße?

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Während Nr. 56 ihre vier langen Flügel schwingt, nimmt sie wahr, wie sich hinter ihr die gefiederte Mauer über der elften und zwölften Welle schließt. Die Ärmsten! Noch fünf Wellen, dann hat die Stadt all ihre Hoffnungen verpulvert.

Sie denkt schon nicht mehr daran, sie wird von dem unendlichen Azur angezogen. Alles ist blau, so blau! Es ist phantastisch, durch die Lüfte zu schießen, wenn man bislang nur das Leben unter der Erde gekannt hat. Ihr ist, als bewegte sie sich in einer anderen Welt. Sie hat die schmalen Gänge gegen einen schwindelerregenden Raum eingetauscht, in dem alles in drei Dimensionen explodiert.

Intuitiv entdeckt sie sämtliche Flugvarianten. Wenn sie ihr Gewicht auf diesen Flügel verlagert, fliegt sie nach rechts. Wenn sie den Anstellwinkel ihres Flügelschlags ändert, steigt sie empor. Oder sie sinkt tiefer. Oder wird schneller ... Sie stellt fest, daß sie, um eine perfekte Kurve hinzulegen, die Spitzen ihrer Flügel in eine imaginäre Achse bringen muß und nicht davor zurückschrecken darf, ihren Körper in einem Winkel von über fünfundvierzig Grad abzuknicken.

Das 56. Weibchen entdeckt, daß der Himmel keineswegs leer ist. Im Gegenteil. Er ist voller Strömungen. Einige, die »Pumpen«, lassen sie aufsteigen. Die Luftlöcher hingegen kosten sie Höhe. Man kannte nur erkennen und sich darauf einstellen, wenn man die Bewegungen der Insekten weiter vorn beobachtet.

Sie friert. Es ist kalt hier oben. Manchmal kommen Luftwirbel, laue oder eisige Windstöße, die sie herumschleudern wie einen Kreisel.

Eine Gruppe von Männchen hat sich auf die Verfolgung gemacht. Nr. 56 beschleunigt, um nur von den schnellsten und hartnäckigsten eingeholt zu werden. Das ist die erste genetische Selektion ...

Sie spürt etwas. Ein Männchen hat sich an ihrem Hinterleib festgemacht, klettert an ihr hoch, steigt auf sie hinauf. Es ist ziemlich klein, aber da es aufgehört hat, mit den Flügeln zu schlagen, erscheint ihr sein Gewicht beträchtlich.

Sie verliert ein wenig an Höhe. Oben windet sich ihr Begleiter, um nicht von den Flügeln behindert zu werden. Vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht, verbiegt er seinen Hinterleib, um mit seinem Stachel das weibliche Geschlecht zu erreichen.

Sie harrt neugierig der Empfindungen. Ein köstliches Kribbeln steigt in ihr auf. Das bringt sie auf eine Idee. Ohne Vorwarnung kippt sie nach vorn und geht in den Sturzflug. Der helle Wahn! Die große Ekstase! Geschwindigkeit und Sex vereinen sich zu ihrem ersten großen cocktail der Wonne.

Das Bild des 327. Männchens geht ihr kurz durch den Sinn. Der Wind pfeift durch die Härchen zwischen ihren Augen. Ein würziger Saft läßt ihre Antennen erzittern. Einige ihrer Sinne verwandeln sich in eine bewegte See. Sonderbare Flüssigkeiten quellen aus all ihren Drüsen hervor. Sie vermischen sich zu einer schäumenden Suppe, die sich in ihr Gehirn ergießt.

In Höhe der Gräser angekommen, nimmt sie all ihre Kraft zusammen und schlägt wieder mit den Flügeln. Jetzt schießt sie wie ein Pfeil nach oben. Als sie sich wieder beruhigt, fühlt sich das Männchen gar nicht mehr gut. Seine Beine schlottern, seine Mandibeln hören nicht auf, sich grundlos zu öffnen und zu schließen. Herzstillstand. Und freier Fall ...

Bei den meisten Insekten sind die Männchen darauf programmiert, bei ihrem ersten Liebesakt zu sterben. Ihnen steht nur ein einziger coup zu, der richtige. Wenn die Spermien den Körper verlassen, nehmen sie das Leben ihres Besitzers mit sich.

Bei den Ameisen tötet die Ejakulation das Männchen. Bei anderen Arten ermordet das Weibchen, gerade erst beglückt, seinen Wohltäter. Einfach, weil die Erregung Appetit gemacht hat.

Man muß sich den Tatsachen beugen: Die Welt der Insekten ist im Ganzen eine Welt der Weibchen, genauer gesagt der Witwen. Die Männchen haben darin nur vorübergehend Platz.

Aber schon klammert sich ein zweiter Erzeuger an sie. Kaum ist der eine gegangen, wird er schon ersetzt! Es folgt ein dritter, dann noch viele andere. Nr. 56 zählt sie nicht mehr. Mindestens siebzehn oder achtzehn lösen einander ab, um ihre Spermathek mit frischen Keimzellen zu füllen.

Sie spürt die lebende Flüssigkeit, die in ihrem Hinterleib brodelt. Das ist der Vorrat ihrer zukünftigen Stadt. Millionen von männlichen Fortpflanzungszellen, die es ihr ermöglichen werden, fünfzehn Jahre lang täglich Eier zu legen.

Rings um sie werden ihre Schwestern von den gleichen Empfindungen erfüllt. Der Himmel ist voll von fliegenden Weibchen, die von einem oder sogar mehreren Männchen bestiegen werden, die sich gemeinsam mit dem gleichen Weibchen paaren. Liebeskarawanen, die in den Wolken hängen. Diese Damen sind trunken vor Müdigkeit und Glück. Sie sind keine Prinzessinnen mehr, sie sind Königinnen. Ihre wiederholte Wonne hat sie ganz benommen gemacht, und es fällt ihnen recht schwer, ihren Kurs zu halten.

Diesen Augenblick haben vier majestätische Schwalben ausgesucht, um aus einem blühenden Kirschbaum aufzutauchen. Sie fliegen nicht, sie gleiten mit einer Unbewegtheit zwischen den Schichten des Himmels, die einen erstarren läßt ... Sie stürzen sich mit weit offenem Schnabel auf die Ameisen und verschlingen sie eine nach der andern. Auch Nr. 56 wird von ihnen gejagt.

Nr. 103 683 befindet sich im Saal der Kundschafterinnen. Eigentlich hatte sie vor, die Ermittlungen allein weiterzuführen und sich in den Termitenhügel des Ostens zu schleichen, aber man hat sie aufgefordert, sich einer Gruppe von Kundschafterinnen anzuschließen und mit ihnen die »Jagd auf den Drachen« aufzunehmen. Tatsächlich ist in der Nähe der Weidefläche der Stadt Zubi-zubi-kan, die über den größten Viehbestand der ganzen Föderation verfügt (9 Millionen Tiere, die zu melken sind), eine Eidechse gesichtet worden. Und die Anwesenheit eines dieser Saurier kann die Arbeit der Hirten empfindlich stören.

Zum Glück liegt Zubi-zubi-kan an der östlichen Grenze der Föderation, genau auf halbem Weg zwischen der Termitenstadt und Bel-o-kan. Nr. 103 683 hat also eingewilligt, an dieser Expedition teilzunehmen. So kann sie unbemerkt nach Osten aufbrechen.

Ringsum bereiten sich die Kundschafterinnen sorgfältig vor. Sie füllen ihren Sozialkropf bis zum Rand mit süßen Energiereserven und ergänzen ihre Säurevorräte. Danach reiben sie sich mit Schneckenschleim ein, um sich gegen die Kälte und auch (jetzt wissen sie Bescheid) die Sporen der alternaria zu schützen.

Sie reden über die Jagd auf die Eidechse. Einige vergleichen sie mit dem Salamander oder den Fröschen, aber die Mehrheit der zweiunddreißig Kundschafterinnen ist sich einig, ihr den ersten Rang zuzugestehen, was die Schwierigkeiten der Jagd betrifft.

Eine alte Kriegerin behauptet, die Eidechsen seien imstande, ihren Schwanz nachwachsen zu lassen, wenn er ihnen abgetrennt würde! Man macht sich über sie lustig ... Eine andere behauptet, sie habe gesehen, daß eines dieser Ungetüme 10° lang reglos wie ein Stein verharrt habe. Alle rufen sich die Berichte der ersten Belokanerinnen in Erinnerung, die mit bloßen Mandibeln gegen diese Monster vorgegangen seien -damals war die Verwendung der Ameisensäure noch nicht so verbreitet.

Nr. 103 683 läuft es kalt den Rücken hinunter. Sie hat noch nie eine Eidechse gesehen, und die Aussicht, eine mit bloßen Mandibeln oder auch mit dem Säurestrahl anzugreifen, ist alles andere als beruhigend. Sie sagt sich, daß sie sich bei der erstbesten Gelegenheit verdrücken wird. Schließlich ist ihre Suche nach der »Geheimwaffe« wichtiger für das Überleben der Stadt als irgendein Jagdausflug.

Die Kundschafterinnen sind bereit. Sie steigen durch die Gänge des äußeren Gürtels nach oben, dann treten sie durch den Ausgang Nr. 7, den sogenannten »Ostausgang«, ins Freie.

Zunächst müssen sie sich durch die Randgebiete der Stadt kämpfen. Das ist gar nicht so einfach. In der gesamten Umgebung von Bel-o-kan wimmelt es von Arbeiterinnen und Soldatinnen, und eine hat es da eiliger als die andere.

Es gibt mehrere Ströme. Zahlreiche Ameisen sind mit Blättern. Früchten. Samenkörnern oder Pilzen beladen. Andere transportieren Zweige und Sternchen, die als Baumaterial verwendet werden. Wieder andere führen Wildbret mit sich ... Ein heilloses Durcheinander von Gerüchen.

Die Jägerinnen bahnen sich einen Weg durch die Stauungen. Dann wird der Verkehr flüssiger. Die große Allee verengt sich zu einer Straße von erst drei Kopf (neun Millimeter), dann zwei, später einem Kopf Breite. Sie müssen bereits weit von der Stadt entfernt sein, da sie deren Kollektivbotschaften nicht mehr empfangen. Die Gruppe hat die olfaktorische Nabelschnur durchtrennt und konstituiert sich zu einer autonomen Einheit. Sie wählt die Formation »Spaziergang«, bei der die Ameisen in Zweierreihen vorrücken.

Schon bald begegnet die Einheit einer anderen Gruppe von Kundschafterinnen. Sie müssen Schlimmes erlebt haben. Nur eine einzige Ameise der kleinen Truppe ist unverletzt. Ansonsten lauter Verstümmelte. Einige haben nur noch ein Bein und schleppen sich kläglich vorwärts. Denen, die keine Antennen oder keinen Hinterleib mehr haben, geht es nicht besser.

Nr. 103 683 hat seit dem Krieg am Klatschmohnhügel keine Soldatinnen mehr gesehen, die so übel zugerichtet waren. Sie müssen etwas Grauenvolles erlebt haben ... Vielleicht die Geheimwaffe?

Nr. 103 683 möchte mit einer großen Kriegerin, deren lange Mandibeln zerbrochen sind, einen Dialog aufnehmen. Woher kommen sie? Was ist passiert? Waren es die Termiten?

Die andere geht langsamer und wendet ihr, ohne zu antworten, ihr Gesicht zu. Schrecklich, ihre Augenhöhlen sind leer! Und der Schädel ist vom Mund bis zum Halsgelenk gespalten.

Sie entfernt sich. Nr. 103 683 blickt ihr nach. Ein Stückchen weiter bricht sie zusammen und erhebt sich nicht mehr. Sie findet noch die Kraft, zur Seite zu kriechen, damit ihr Kadaver nicht den Weg versperrt.

Nr. 56 versucht der Schwalbe mit einem Sturzflug zu entgehen, aber jene ist zehnmal schneller. Schon senkt sich der Schatten eines großen Schnabels auf ihre Antennen. Der Schnabel holt sie ein, erfaßt ihren Hinterleib, ihren Thorax, ihren Kopf. Der Kontakt mit dem Gaumen ist unerträglich. Dann schließt sich der Schnabel. Es ist alles aus.


OPFER: Wenn man die Ameisen beobachtet, könnte man meinen, ihr Handeln sei von einem Streben diktiert, das nichts mit ihrer eigenen Existenz zu tun hat. Ein abgetrennter Kopf versucht sich noch nützlich zu machen, indem er gegnerische Beine beißt, ein Samenkorn abschneidet; ein Thorax schleppt sich voran, um den Feinden den Eingang zu versperren.

Selbstverleugnung? Fanatismus im Dienste der Stadt? Verdummung aufgrund von Kollektivismus?

Nein, die Ameise kann auch allein leben. Sie braucht ihr Volk nicht, sie kann sogar aufbegehren.

Warum opfert sie sich dann?

Bei dem jetzigen Stand meiner Arbeiten würde ich sagen: aus Bescheidenheit. Anscheinend ist für sie der Tod kein Ereignis, das wichtig genug wäre, sie von der Arbeit abzulenken, die sie in den Sekunden zuvor verrichtet hat.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Die Kundschafterinnen kurven um Bäume. Erdhügel, dornige Büsche herum, schlängeln sich weiter in Richtung unheilvollen Osten.

Der Weg ist schmaler geworden, aber immer noch sind Einheiten zur Straßenreinigung unterwegs. Die Verkehrswege zwischen den einzelnen Städten werden niemals vernachlässigt. Straßenwärterinnen reißen das Moos aus, entfernen Zweige, die den Weg versperren, setzen Duftzeichen.

Die Arbeiterinnen, die der Gruppe entgegenkommen, werden immer seltener. Mitunter finden sich auf dem Boden Pheromonenhinweise: »Bei Kreuzung 29 einen Umweg durch den Hagedorn machen!« Vielleicht ist man dort auf die jüngste Spur eines Hinterhalts feindlicher Insekten gestoßen.

Nr. 103 683 erwartet eine Überraschung nach der andern. Sie ist noch nie in dieser Gegend gewesen. Es gibt hier Satanspilze von achtzig Kopf Höhe! Dabei ist diese Sorte charakteristisch für die Gebiete im Osten.

Und sie entdeckt allerlei seltsame Pflanzen: den wilden Hanf, dessen Blüten den Morgentau so gut festhalten, den wunderbaren und beunruhigenden Frauenschuh. Katzenpfötchen mit langen Stengeln ...

Sie geht auf ein Springkraut zu, dessen Blüten Bienen ähneln, und ist so unvorsichtig, es zu berühren. Sogleich platzen ihr die reifen Früchte ins Gesicht, bedecken sie mit klebrigen gelben Samenkörnern. Ein Glück, daß das keine alternaria ist ...

Keineswegs entmutigt, klettert sie auf ein Hasenkraut, um sich den Himmel näher anzusehen. Dort oben sieht sie Bienen, die Achten beschreiben, um ihren Schwestern den Standort der Blütenpollen anzugeben.

Die Landschaft wird immer wilder. Rätselhafte Düfte erfüllen die Luft. Hunderte von kleinen, nicht zu identifizierenden Wesen fliehen in alle Richtungen. Man bemerkt sie nur an dem Knacken der trockenen Blätter.

Ihr Kopf kribbelt noch, als sich Nr. 103 683 wieder der Truppe anschließt. Und so gelangen sie ruhigen Schritts in die Umgebung der föderierten Stadt Zubi-zubi-kan. Ein Gehölz wie jedes andere auch, würde man von weitem sagen. Wären da nicht der Geruch und der »ausgeschilderte« Weg, würde niemand eine Stadt hier vermuten. In Wirklichkeit ist Zubi-zubi-kan eine klassische »rote« Stadt mit einem Baumstumpf, einer Kuppel aus Zweigen und Deponien. Aber alles ist unter Sträuchern verborgen.

Die Eingänge befinden sich noch oben, fast am höchsten Punkt der Kuppel. Man erreicht sie über eine Gruppe von Farn und wilden Rosen. Was die Kundschafterinnen auch tun.

Drinnen wimmelt es von Leben. Die Pflanzenläuse sind nicht leicht zu erkennen, sie haben die gleiche Farbe wie die Blätter. Eine kundige Antenne und ein kundiges Auge machen jedoch mühelos Tausende von kleinen grünen Warzen aus, die langsam - in dem Maße, wie sie den Saft »abgrasen« -wachsen.

Vor langer Zeit wurde zwischen den Ameisen und den Pflanzenläusen ein Abkommen geschlossen. Letztere ernähren die Ameisen, die sie als Gegenleistung schützen. Tatsächlich stutzen manche Städte ihren »Milchkühen« die Flügel und geben ihnen ihre eigenen Identifizierungsdüfte. So lassen sich die Herden bequemer hüten ...

Auch Zubi-zubi-kan übt sich in dieser miesen Technik. Als Wiedergutmachung, oder vielleicht aus purem Modernismus, hat die Stadt auf ihrer zweiten Etage grandiose Ställe gebaut, die mit allem für das Wohlergehen der Pflanzenläuse erforderlichen Komfort ausgerüstet sind. Die Ameisenammen pflegen dort die Eier ihrer Läuse mit der gleichen Konzentration wie die ihrer Artgenossinnen. Das erklärt auch die außergewöhnliche Bedeutung und das feine Aussehen des dortigen Viehbestands.

Nr. 103 683 und ihre Begleiterinnen nähern sich einer Herde, die damit beschäftigt ist, dem Zweig eines Rosenstrauchs das Blut auszusaugen. Sie stellen zwei, drei Fragen, aber die Läuse lassen ihren Rüssel in dem pflanzlichen Fleisch, ohne sie im geringsten zu beachten. Außerdem, vielleicht beherrschen sie die Duftsprache der Ameisen überhaupt nicht ... Die Kundschafterinnen suchen mit ihren Antennen nach der Hirtin. Doch sie entdecken keine.

Dann geschieht etwas Erschreckendes. Drei Marienkäfer lassen sich mitten unter die Herde fallen. Diese gefährlichen Raubtiere säen Panik unter den armen Läusen, die mit ihren gestutzten Flügeln nicht fliehen können.

Doch die Wölfe rufen die Hirtinnen auf den Plan. Zwei zubizubikanische Ameisen springen hinter einem Blatt hervor. Denn dort haben sie sich versteckt, um die roten Räuber mit den schwarzen Punkten überraschen zu können. Sie legen auf sie an und erlegen sie mit ihren präzisen Säurestrahlen.

Dann laufen sie herbei und beruhigen die noch völlig verängstigten Herden. Sie melken sie, trommeln auf ihren Hinterleib, streicheln ihre Antennen. Daraufhin geben die Pflanzenläuse eine große Blase durchsichtigen Zuckers von sich. Den kostbaren Honigtau. Während sie sich mit diesem Likör sättigen, nehmen die zubizubikanischen Hirtinnen die belokanischen Kundschafterinnen wahr.

Sie begrüßen sie. Antennenkontakt.

Wir sind gekommen, um die Eidechse zu jagen, sendet eine der Belokanerinnen.

Dann müßt ihr weiter nach Osten gehen. Man hat eines dieser Ungetüme in der Nähe des Postens Guayei-Tyolot gesichtet.

Statt ihnen die übliche Trophallexie anzubieten, fordern die Hirtinnen sie auf, sich direkt an den Tieren zu laben. Die Kundschafterinnen lassen sich das nicht zweimal sagen. Jede wählt sich eine Pflanzenlaus und klopft ihr auf den Hinterleib, um den köstlichen Honigtau hervorzulocken.

Das ist schwarz, ölig im Innern des Rachens, und es stinkt. Nr. 56, gänzlich mit Sabber beschmiert, rutscht in den Schlund des Raubvogels. Da jener keine Zähne hat, hat er sie nicht zerkaut, sie ist noch unversehrt. Kommt nicht in Frage, sich aufzugeben, mit ihr würde eine ganze Stadt untergehen.

Mit äußerster Anstrengung pflanzt sie ihre Mandibeln in das glatte Fleisch der Speiseröhre. Dieser Reflex rettet sie. Der Schwalbe wird übel, sie hustet und speit die widerspenstige Nahrung weit von sich. Geblendet versucht Nr. 56 zu fliegen, aber ihre klebrigen Flügel sind viel zu schwer. Sie fällt mitten in einen Fluß.

Ringsum zappeln Männchen in ihrem Todeskampf. Sie registriert den unrhythmischen Flug von rund zwanzig ihrer Schwestern hoch oben, die den Schwalben entkommen sind. Erschöpft verlieren sie an Höhe.

Eine von ihnen landet auf einer Teichrose, wo zwei Salamander unverzüglich Jagd auf sie machen. Sie holen sie ein und zerfetzen sie. Die anderen Königinnen werden eine nach der andern von den Tauben, den Kröten, den Maulwürfen, den Schlangen, den Fledermäusen, den Igeln, den Hühnern und den Küken aus dem Spiel des Lebens gerissen ... Letzten Endes haben von den eintausendfünfhundert Weibchen, die losgeflogen sind, nur sechs überlebt.

Nr. 56 gehört dazu. Wie durch ein Wunder. Sie muß leben. Sie muß ihre eigene Stadt gründen und das Rätsel der Geheimwaffe aufklären. Sie weiß, daß sie dazu Hilfe braucht, daß sie auf die Menge zählen kann, die bereits ihren Bauch bevölkert. Sie braucht sie nur daraus zu entlassen ...

Aber als erstes muß sie sehen, daß sie hier wegkommt ...

Indem sie den Winkel der Sonnenstrahlen berechnet, findet sie heraus, wo sie gelandet ist. Auf dem Fluß des Westens. Kein sehr empfehlenswerter Ort, denn wenn es auch auf sämtlichen Inseln der Welt Ameisen gibt, weiß man doch nicht, wie sie es als Nichtschwimmer angestellt haben, dorthin zu gelangen.

Ein Blatt treibt an ihr vorüber, sie hält sich mit aller Kraft ihrer Mandibeln daran fest. Sie strampelt wie besessen mit den Hinterbeinen, aber dieser Antrieb hat nur mäßigen Erfolg. Sie hält sich schon eine ganze Weile auf diese Art über Wasser, als sich ein gigantischer Schatten abzeichnet. Eine Kaulquappe? Nein, das ist tausendmal größer als eine Kaulquappe. Nr. 56 erkennt eine spitz zulaufende Form mit einer glatten und getigerten Haut. Das ist für sie eine ganz neue Erscheinung. Eine Forelle!

Die kleinen Krebse. Hüpferlinge und Wasserflöhe fliehen vor dem Ungeheuer. Jenes taucht ab, dann steigt es auf, direkt auf die Königin zu, die sich entsetzt an ihr Blatt klammert.

Die Forelle schießt mit aller Kraft ihrer Flossen nach oben und zerteilt die Oberfläche. Eine große Welle setzt der Ameise schwer zu. Die Forelle scheint in der Luft zu schweben, sie öffnet ein mit feinen Zähnen bewehrtes Maul und verschlingt eine kleine Mücke, die gerade vorbeiflattert. Dann windet sie sich mit einem Schlag ihrer Schwanzflosse und fällt in ihr kristallklares Reich zurück ... Womit sie eine Flutwelle auslöst, die die Ameise überschwemmt.

Schon haben sich einige Frösche ausgestreckt und hüpfen los, um sich um diese Königin und ihren Kaviar zu zanken. Jener gelingt es, wieder aufzutauchen, aber ein Strudel zieht sie erneut in unwirkliche Tiefen. Die Frösche verfolgen sie. Die Kälte läßt sie erstarren. Sie verliert das Bewußtsein.

Nicolas schaute mit seinen beiden neuen Freunden Jean und Philippe im Speisesaal Fernsehen. Sie waren nicht allein, andere Waisenkinder ließen sich mit rosigen Wangen durch die ständige Abfolge von Bildern einlullen.

Die Handlung des Films drang mit einer Geschwindigkeit von 500 Stundenkilometern durch ihre Augen und Ohren in den Speicher ihres Gehirns ein. Das menschliche Gehirn kann bis zu sechzig Milliarden Informationen speichern. Aber wenn dieser Speicher voll ist, wird automatisch aussortiert: Die weniger interessanten Informationen werden vergessen. Es bleiben dann nur die traumatischen Erinnerungen und die Sehnsucht nach vergangenen Freuden.

An diesem Tag folgte im Anschluß an die Nachrichten eine Diskussion über Insekten. Die meisten der jungen Leute zerstreuten sich, für dieses wissenschaftliche Blabla hatten sie nichts übrig.

»Professor Leduc, Sie gelten, zusammen mit Professor Rosenfeld, als der größte europäische Ameisenspezialist. Was hat Sie veranlaßt, sich der Ameisenforschung zu widmen?«

»Ich habe eines Tages meinen Küchenschrank geöffnet und bin an eine Kolonne dieser Insekten geraten. Ich habe ihnen stundenlang bei der Arbeit zugesehen. Das war für mich eine Lektion in puncto Leben und Demut. Ich habe mehr darüber in Erfahrung bringen wollen ... Das ist alles.«

(Er lachte.)

»Was unterscheidet Sie von Professor Rosenfeld, dem anderen hervorragenden Wissenschaftler auf diesem Gebiet?«

»Ach, der Professor Rosenfeld? Ist er noch nicht in Rente gegangen? (Er lachte erneut.) Aber im Ernst, wir gehören nicht zu der gleichen Clique. Wissen Sie, es gibt mehrere Auffassungen, diese Insekten zu >verstehen< ... Früher dachte man, sämtliche sozialen Arten (Termiten. Bienen. Ameisen) seine royalistisch. Das war einfach, aber es war falsch. Man hat festgestellt, daß bei den Ameisen die Königin in der Tat über keinerlei Macht verfügt, außer daß sie gebärt. Es gibt unter den Ameisen sogar eine Vielfalt von Regierungsformen: Monarchie, Oligarchie. Kriegerinnenrat, Demokratie. Anarchie usw. Manchmal, wenn die Bürger mit ihrer Regierung nicht zufrieden sind, begehren sie auf, und dann kommt es innerhalb der Städte zu >Bürgerkriegen<.«

»Unglaublich!«

»Für mich und für die sogenannte >deutsche< Schule, zu der ich mich bekenne, basiert die Organisation der Ameisenwelt in erster Linie auf einer Hierarchie von Kasten und auf der Überlegenheit von Alphaindividuen, die überdurchschnittlich begabt sind und Gruppen von Arbeiterinnen leiten ... Für Rosenfeld, der der sogenannten >italienischen< Schule angehört, sind die Ameisen allesamt durch und durch anarchistisch, es gibt keine Alphaindividuen, die begabter sind als der Rest. Und nur bei der Lösung praktischer Probleme kommt es mitunter spontan zu Führern. Dies ist jedoch vorübergehend.«

»Ich kann Ihnen nicht so recht folgen.«

»Sagen wir so: Die italienische Schule glaubt, daß jede Ameise Chef werden kann, sobald sie eine originelle Idee hat, die die anderen interessiert. Die deutsche Schule glaubt dagegen, daß immer bestimmte Ameisen mit >Chefeigen-schaften< die Dinge in die Hand nehmen.«

»Unterscheiden sich die beiden Schulen denn so sehr?«

»Immerhin ist es auf einigen internationalen Kongressen bereits zu Schlägereien gekommen, wenn Sie darauf hinauswollen.«

»Das ist immer noch die gleiche alte Rivalität zwischen dem sächsischen und dem lateinischen Geist, nicht wahr?«

»Nein. Diese Auseinandersetzung ist eher mit dem Streit zwischen den Anhängern des >Angeborenen< und denen des >Erworbenen< zu vergleichen. Kommt man dumm zur Welt oder wird man es erst? Das ist überdies eine der Fragen, auf die wir eine Antwort suchen, wenn wir die Ameisengesellschaften studieren!«

»Und warum machen Sie Ihre Experimente nicht mit Karnickeln oder Mäusen?«

»Die Ameisen geben uns die großartige Gelegenheit, zu sehen, wie eine Gesellschaft funktioniert, eine Gesellschaft, die sich aus mehreren Millionen Individuen zusammensetzt. Das ist, als beobachte man eine Welt. Es gibt meines Wissens keine Städte von mehreren Millionen Karnickeln oder Mäusen ...«

Ellbogenstöße.

»Haste mitgekriegt. Nicolas?«

Aber Nicolas hörte nicht zu. Dieses Gesicht, diese gelben Augen, die hatte er schon gesehen. Aber wo? Wann? Er strengte sein Gedächtnis an. Genau, jetzt erinnerte er sich. Das war der Mann von der Buchbinderei. Er hatte sich Gougne genannt, aber der Buchbinder und dieser Leduc, der da im Fernsehen schwafelte, waren ein und dieselbe Person.

Seine Entdeckung stürzte Nicolas in tiefes Nachdenken. Wenn der Professor gelogen hatte, dann sicher, um sich die Enzyklopädie anzueignen. Ihr Inhalt mußte bedeutend sein für die Ameisenforschung. Sie mußte da unten sein. Ja, sie war bestimmt in diesem Keller. Und sie waren alle hinter ihr her, Papa. Mama und dieser Leduc. Er mußte sie finden, diese verdammte Enzyklopädie, dann würde sich alles aufklären.

Er stand auf.

»Wo willst du hin?«

Er gab keine Antwort.

»Ich dachte, die interessieren dich, die Ameisen ...?«

Er ging zur Tür, dann lief er auf sein Zimmer. Er würde nicht viel brauchen. Nur seine geliebte Lederjacke, sein Taschenmesser und die dicken Schuhe mit den Kreppsohlen.

Die Aufpasser beachteten ihn nicht einmal, als er durch die große Halle ging.

Er floh aus dem Waisenhaus.

Von weitem wirkt Guayei-Tyolot wie ein runder Krater. Eine Art Maulwurfshügel. Der »Vorposten« ist ein MiniAmeisenhaufen, der von einer Hundertschaft gehalten wird. Er ist nur von April bis Oktober besetzt und bleibt den Herbst und den Winter über leer, Wie bei den primitiven Ameisen gibt es dort keine Königin, keine Arbeiterinnen, keine Soldatinnen. Alle sind alles zugleich. Deshalb schreckt man auch nicht davor zurück, die Fieberhaftigkeit der riesigen Städte zu kritisieren. Man spottet über die Verkehrsstauungen, die einstürzenden Gänge, die geheimen Tunnel, die eine Stadt in einen wurmstichigen Apfel verwandeln, über die hyperspezialisierten Arbeiterinnen, die nicht mehr jagen können, über die blinden Pförtnerinnen, die zeitlebens in ihrem Engpaß eingemauert sind.

Nr. 103 683 inspiziert den Posten. Guayei-Tyolot besteht aus einem Dachboden und einem weitläufigen Hauptsaal. Dieser Raum verfügt über eine Art Deckenlampe, eine Öffnung, durch die zwei Sonnenstrahlen eindringen und Dutzende von Jagdtrophäen anstrahlen, leere Häutchen, die an den Wänden hängen und im Luftzug pfeifen.

Nr. 103 683 tritt auf diese bunten Kadaver zu. Eine Einheimische streicht ihr über die Antennen. Sie zeigt ihr diese großartigen Geschöpfe, die allen möglichen Ameisenlisten zum Opfer gefallen sind. Die Tiere sind mit Ameisensäure bestrichen, eine Substanz, die nicht nur tötet, sondern auch Kadaver erhält.

Es gibt dort, sorgfältig aufgereiht, alle Arten von Schmetterlingen und Insekten unterschiedlichster Größe, Form und Farbe. Und doch fehlt ein wohlbekanntes Tier in der Sammlung: die Termitenkönigin.

Nr. 103 683 fragt, ob sie Probleme mit den benachbarten Termiten haben. Die Einheimische hebt die Antennen, um ihre Verwunderung zum Ausdruck zu bringen. Sie hört auf, zwischen ihren Mandibeln zu kauen. Es folgt ein bedrückendes olfaktorisches Schweigen.

Termiten?

Ihre Antennen senken sich. Sie hat nichts mehr zu sagen. Außerdem hat sie zu tun, eine Beute muß zerlegt werden. Sie hat genug Zeit verloren. Auf Wiedersehen. Sie dreht sich um, will verschwinden. Nr. 103 683 läßt nicht locker.

Die andere wirkt jetzt völlig verängstigt. Ihre Antennen zittern ein wenig. Offenbar erinnert sie das Wort Termiten an etwas Schreckliches. Darüber zu sprechen, scheint über ihre Kräfte zu gehen. Sie rennt auf eine Gruppe von Arbeiterinnen zu, die mitten in einem Zechgelage sind.

Letztere lecken einander in einer langen, geschlossenen Kette den Hinterleib, nachdem sie ihren Sozialkropf mit dem Alkohol aus Blütenhonig gefüllt haben.

Fünf Jägerinnen des Vorpostens treten geräuschvoll ein. Sie schieben eine Raupe vor sich her.

Die haben wir gefunden. Das Beste ist, die produziert Honig!

Die Ameise, die diese Neuigkeit verkündet hat, tippt der Gefangenen mit der Spitze ihrer Antennen auf den Kopf. Dann legt sie ein Blatt auf den Boden, und kaum beginnt die Raupe zu fressen, springt sie ihr auf den Rücken. Die Raupe bäumt sich auf, aber vergebens. Die Ameise schlägt ihr ihre Krallen in die Seiten, vergewissert sich ihres Griffs, dreht sich um und leckt ihr über das letzte Glied, bis ein Likör hervorquellt.

Alle gratulieren ihr. Man reicht sich diesen bislang unbekannten Honigtau der Pflanzenläuse. Er ist öliger und hat einen ausgeprägten Nachgeschmack von Saft. Während Nr. 103 683 diesen exotischen Likör kostet, streicht eine Antenne über ihren Schädel.

Ich habe gehört, du willst dich nach den Termiten erkundigen.

Die Ameise, die dieses Pheromon ausgestoßen hat, scheint sehr, sehr alt zu sein. Ihr ganzer Panzer ist von Mandibelbissen verschrammt. Nr. 103 683 legt ihre Antennen zum Zeichen der Zustimmung zurück.

Komm mit!

Sie ist die 4000. Kriegerin. Ihr Kopf ist flach wie ein Blatt. Ihre Augen sind winzig. Wenn sie sendet, riechen ihre Ausdünstungen schwach nach Alkohol. Vielleicht hat sie sich deshalb in eine winzige, so gut wie geschlossene Höhle zurückziehen wollen.

Keine Bange, hier können wir reden, dieses Loch ist meine Kammer.

Nr. 103 683 fragt, was sie über den Termitenhügel des Ostens weiß. Die andere spreizt ihre Antennen.

Warum interessierst du dich dafür? Du bist nicht nur wegen der Eidechse gekommen, nicht wahr?

Nr. 103 683 beschließt, dieser alten Geschlechtslosen gegenüber mit offenen Karten zu spielen. Sie erzählt ihr, daß eine geheime und unerklärliche Waffe gegen die Soldatinnen von La-chola-kan eingesetzt worden sei. Anfangs habe man geglaubt, es handele sich um einen Anschlag der Zwerginnen, aber sie seien es nicht gewesen. Also sei der Verdacht logischerweise auf die Termiten des Ostens gefallen, den zweiten großen Feind ...

Die Alte biegt ihre Antennen, um ihre Überraschung zu zeigen. Von dieser Geschichte hat sie noch nie gehört. Sie mustert Nr. 103 683 und fragt:

Und diese Geheimwaffe hat dir auch dein fünftes Bein ausgerissen?

Nr. 103 683 verneint. Das habe sie in der Schlacht am Klatschmohnhügel verloren, bei der Befreiung von La-chola-kan. Nr. 4000 ist sogleich begeistert. Da war sie auch!

Welche Einheit?

Fünfzehnte. Und du?

Dritte!

Während der letzten Attacke hat die eine auf der rechten, die andere auf der linken Flanke gekämpft. Sie tauschen einige Erinnerungen aus. Aus einer Schlacht sind stets viele Lehren zu ziehen. So ist Nr. 4000 zum Beispiel ganz zu Beginn der Kämpfe der Einsatz kleiner Mücken als Botschafter aufgefallen. Ihrer Meinung nach ist diese Methode der Kommunikation über große Entfernungen den traditionellen »Läuferinnen« weit überlegen.

Die belokanische Soldatin, die nichts davon bemerkt hat, stimmt ihr bereitwillig zu. Dann kommt sie schnell auf ihr Thema zurück.

Warum will mir niemand etwas über die Termiten erzählen?

Die alte Kriegerin tritt näher. Ihre Köpfe berühren sich.

Auch hier gehen sehr merkwürdige Dinge vor ...

Ihre Düfte suggerieren Rätselhaftes. Sehr merkwürdige Dinge, sehr merkwürdige Dinge ... Der Satz prallt als olfaktorisches Echo von den Wänden ab.

Dann erklärt Nr. 4000, daß man seit einiger Zeit keine einzige Termite aus der Stadt des Ostens mehr gesehen habe. Früher hätten sie die Passage bei Satei benutzt, um Spioninnen über den Fluß zu schicken. Man habe davon gewußt und sie, so gut es ging, kontrolliert. Jetzt gebe es nicht einmal mehr Spioninnen. Nichts mehr.

Ein Feind, der angreift, das ist beunruhigend, aber ein Feind, der verschwindet, das ist noch viel verwirrender. Da es nicht mehr das geringste Geplänkel mit den Termitenkundschafterinnen gab, hätten die Ameisen des Postens Guayei-Tyolot beschlossen, ihrerseits Spioninnen auszuschicken.

Ein erster Schwarm von Kundschafterinnen sei aufgebrochen. Man habe nie mehr etwas von ihm gehört. Darauf sei eine zweite Gruppe ausgerückt und auf die gleiche Weise verschwunden. Man habe an die Eidechse oder einen besonders gefräßigen Igel gedacht. Andererseits, bei einem Angriff eines Raubtiers gebe es stets eine Überlebende, wenn sie auch verletzt ist. Aber das hier, das war, als hätten sich die Soldatinnen wie von Zauberhand in Luft aufgelöst.

Das erinnert mich an etwas ..., setzt Nr. 103 683 an.

Aber die Alte hat nicht vor, sich in ihrem Bericht unterbrechen zu lassen. Sie fährt fort:

Nach dem Fehlschlag der beiden ersten Expeditionen hätten die Kriegerinnen von Guayei-Tyolot beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen. Sie hätten eine Mini-Legion von fünfhundert schwer bewaffneten Soldatinnen losgeschickt. Diesmal habe es eine Überlebende gegeben. Sie habe sich über mehrere tausend Kopf geschleppt und sei unter grauenvollen Qualen bei ihrem Eintreffen im Nest gestorben.

Man habe den Kadaver untersucht, der nicht die geringste Verletzung aufwies. Und ihre Antennen hätten keinerlei Kampfspuren aufgezeigt. Als ob sich der Tod aus heiterem Himmel über sie hergemacht habe.

Verstehst du jetzt, warum niemand mit dir über den Termitenhügel des Ostens reden will?

Nr. 103 683 versteht. Sie ist vor allem froh, daß sie die richtige Spur gefunden hat. Wenn das Rätsel der Geheimwaffe gelöst werden kann, dann sicher über den Termitenhügel des Ostens.


holographie: Was das menschliche Gehirn und der Ameisenhaufen gemeinsam haben, kann am besten mit einem holographischen Bild verglichen werden.

Was ist Holographie? Ein Übereinanderlegen von Streifen, in die etwas eingraviert wurde und die, wenn sie vereinigt und in einem bestimmten Winkel angestrahlt werden, den Eindruck eines plastischen Bildes hervorrufen.

Tatsächlich existiert jenes überall und nirgends zugleich.

Aus der Vereinigung der Streifen entsteht etwas anderes, eine dritte Dimension: die Illusion einer Tiefenwirkung.

Jedes Neuron unseres Gehirns, jedes Individuum des Ameisenhaufens besitzt die gesamte Information. Aber die Kollektivität ist erforderlich, damit das Bewußtsein hervorkommt, das »plastische Denken«.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Denkens


Als Nr. 56, seit kurzem Königin, das Bewußtsein wiedererlangt, liegt sie auf einem breiten Strand von Kieselsteinen. Wahrscheinlich ist sie den Fröschen nur dank einer schnellen Strömung entkommen. Sie würde gern weiterfliegen, aber ihre Flügel sind noch naß. Also warten ...

Sie reinigt systematisch ihre Antennen, dann saugt sie die Luft ein. Wo ist sie? Hoffentlich ist sie nicht auf der falschen Seite des Flusses gestrandet!

Sie bewegt ihre Antennen mit 8000 Schwingungen/Sekunde. Sie nimmt Spuren bekannter Gerüche wahr. Glück gehabt, sie ist am Westufer des Flusses. Allerdings gibt es hier nicht die geringste Pheromonenpiste. Sie muß ein wenig näher an die Hauptstadt heran, wenn sie ihre zukünftige Stadt an die Föderation anbinden will.

Endlich kann sie abheben. Richtung Westen. Sehr weit wird sie vorerst nicht kommen. Die Muskeln ihrer Flügel sind erschöpft, und so bleibt sie im Tiefflug.

Sie kehren in den Hauptsaal von Guayei-Tyolot zurück. Seit sich Nr. 103 683 nach den Termiten des Ostens erkundigt hat, meidet man sie, als wäre sie alternaria-infiziert. Sie murrt nicht, konzentriert sich ganz auf ihre Mission.

Ringsum tauschen die Belokanerinnen mit den Guayeityolotinnen Nahrung aus, lassen sie die neueste Ernte von Lamellenpilzen probieren, kosten ihrerseits den aus wilden Raupen gewonnenen Honigtau.

Dann, nach den verschiedensten Düften, verlagert sich das Gespräch auf die Eidechsenjagd. Die Einheimischen erzählen, daß man kürzlich drei Eidechsen gesichtet habe, die die Blattlausherden von Zubi-zubi-kan terrorisiert hatten. Sie sollen zwei Herden von tausend Tieren und sämtliche Hirtinnen getötet haben .

Eine Zeitlang habe Panik geherrscht. Die Hirtinnen hätten ihr Vieh nur noch durch die gesicherten, in das Fleisch der Zweige gegrabenen Gänge getrieben. Doch dank der Säure-Artillerie sei es gelungen, diese drei Drachen zu vertreiben. Zwei hätten sich weit fort verzogen. Die dritte habe sich verletzt auf einem Stein fünftausend Kopf von hier niedergelassen.

Die zubizubikanischen Einheiten haben ihr bereits den Schwanz abgetrennt. Man müsse die Gelegenheit nutzen und dem Tier schnell den Rest geben, bevor es neue Kräfte schöpfe.

Stimmt es, daß der Schwanz der Eidechsen nachwächst? erkundigt sich eine Kundschafterin. Man bejaht ihre Frage.

Der Schwanz, der nachwächst, ist aber anders als vorher. Wie Mutter sagt: Man findet nie genau das wieder, was man verloren hat. Der zweite Schwanz hat keine Wirbel, er ist viel weicher.

Eine Guayeityolotin fügt weitere Informationen hinzu. Die Eidechsen sind sehr temperaturempfindlich, mehr noch als die Ameisen. Wenn sie viel Sonnenenergie getankt haben, ist ihre Reaktionszeit phantastisch, wenn es jedoch kalt ist, sind ihre Bewegungen erheblich langsamer. Die Einheimische meint, man müsse den morgigen Angriff auf diesem Phänomen aufbauen. Das Beste wäre, den Saurier im Morgengrauen zu attackieren. Dann habe ihn die Nacht abgekühlt und er sei lethargisch.

Aber wir werden auch abgekühlt sein! mischt sich eine Belokanerin energisch ein.

Nicht, wenn wir die Technik der Zwerginnen zur Kälteabwehr anwenden, erwidert eine Jägerin. Wir werden uns mit Zucker und Alkohol vollstopfen und unsere Panzer mit Schneckenschleim einreihen, damit die Kalorien nicht zu schnell aus unserem Körper entweichen.

Nr. 103 683 vernimmt diese Sätze mit zerstreuter Antenne. Sie denkt an das Rätsel des Termitenhügels, an das unerklärliche Verschwinden der Kundschafterinnen, von dem die alte Kriegerin berichtet hat.

Die erste Guayeityolotin, jene, die ihr die Trophäen gezeigt hat, kommt auf sie zu.

Hast du mit Nr. 4000 geredet?

Ja.

Nimm nicht für bare Münze, was sie dir gesagt hat. Das ist, als ob du mit einem Kadaver gesprochen hättest. Sie ist vor einigen Tagen von einer Schlupfwespe gestochen worden.

Eine Schlupfwespe! Nr. 103 683 graust es vor Entsetzen. Die Schlupfwespe verfügt über einen langen Saugrüssel, mit dem sie nachts die Ameisennester durchlöchert, bis sie auf einen wannen Körper stößt. Sie durchbohrt ihn und legt dort ihre Eier.

Das ist einer der größten Alpträume der Ameisenlarven: eine Spritze, die oben an der Decke auftaucht und alles auf der Suche nach weichem Fleisch abtastet, um ihre Jungen darin abzusetzen. Letztere wachsen seelenruhig in dem Organismus heran, der sie aufgenommen hat, bis sie sich in gefräßige Larven verwandeln, die das lebende Tier von innen anknabbern.

Das verfehlt nicht seine Wirkung: Diese Nacht träumt Nr. 103 683 von einem fürchterlichen Rüssel, der sie verfolgt, um ihr seine fleischfressenden Kinder zu übertragen.

Der Kode an der Haustür war noch derselbe. Nicolas hatte seine Schlüssel behalten, er brauchte, um die Wohnung zu betreten, nur die Siegel durchzureißen, die von der Polizei angebracht worden waren. Seit dem Verschwinden der Feuerwehrleute hatte man alles unverändert gelassen. Die Kellertür stand sogar sperrangelweit offen.

Da er keine Taschenlampe hatte, machte er sich mir nichts, dir nichts daran, eine Fackel herzustellen. Er schaffte es, ein Tischbein abzubrechen, und umwickelte es mit einer dicken Krone aus zerknittertem Papier, das er dann ansteckte. Das Holz entzündete sich problemlos, eine kleine, aber ruhige, anhaltende Flamme, die auch dem Luftzug widerstand.

Er stürzte sich unverzüglich auf die Wendeltreppe, in der einen Hand die Fackel, in der andern sein Taschenmesser. Wild entschlossen, die Kiefer zusammengepreßt, fühlte er sich wie ein richtiger Held.

Er lief hinab, tiefer, immer tiefer ... Das hörte überhaupt nicht auf, es ging immer weiter und immer im Kreis, so lange, bis es ihm vorkam, als wäre er Stunden unterwegs. Er hatte Hunger, ihm war kalt, aber es trieb ihn weiter.

Er lief noch schneller, flog beinahe, und begann unter dem unverputzten Gewölbe zu brüllen, ein Brüllen, in dem sich Rufe nach seinen Eltern und vibrierendes Kriegsgeschrei abwechselten. Sein Schritt hatte inzwischen eine außergewöhnliche Sicherheit, er nahm rasant Stufe um Stufe, ohne sich dessen bewußt zu sein.

Plötzlich stand er vor einer Tür. Er stieß sie auf. Zwei Rattensippen, die einander bekämpften, flohen vor dieser heulenden und funkenumringten Gestalt.

Die älteren Ratten machten sich Sorgen. Seit einiger Zeit häuften sich die Besuche dieser »Großen«. Was hatte das zu bedeuten? Wenn der da bloß nicht die Verstecke der schwangeren Weibchen in Brand steckte!

Nicolas setzte seinen Abstieg fort, er rannte so schnell, daß er die Ratten nicht einmal bemerkt hatte ... Stufen, immer nur Stufen, und seltsame Inschriften, die er diesmal bestimmt nicht lesen würde. Plötzlich ein Geräusch (flap, flap). Er spürte etwas. Eine Fledermaus klammerte sich an seine Haare. Er versuchte sich loszumachen, aber das Tier schien mit seinem Schädel verwachsen zu sein. Er wollte es mit seiner Fackel verscheuchen, versenkte sich aber nur ein paar Haarsträhnen. Er schrie und lief weiter. Die Fledermaus saß wie ein Hut auf seinem Kopf. Sie flatterte erst davon, nachdem sie ihm ein wenig Blut abgenommen hatte.

Nicolas spürte seine Müdigkeit nicht mehr. Keuchend, Herz und Schläfen pochend, daß sie fast platzten, rannte er plötzlich gegen eine Mauer. Er stürzte, rappelte sich sofort wieder hoch. Seine Fackel brannte noch. Er richtete die Flamme auf die Mauer.

Das war wirklich eine Mauer. Besser noch: Nicolas erkannte die Beton- und Stahlplatten, die sein Vater mit sich geschleppt hatte. Und die Zementfugen waren noch frisch.

»Papa, Mama, antwortet mir, wenn ihr da seid!«

Aber nein, nichts, nur das nervtötende Echo. Diese Mauer, er hätte schwören können, daß die sich öffnete, denn so war das in den Filmen, und außerdem war da keine Tür.

Was steckte hinter dieser Mauer? Schließlich fand er eine Inschrift:

Wie bildet man vier gleichseitige Dreiecke mit sechs Streichhölzern?

Und genau darunter war ein kleiner Bildschirm mit Tasten angebracht. Die Tastatur enthielt keine Zahlen, sondern Buchstaben. Vierundzwanzig Buchstaben, mit denen man das Lösungswort oder den Lösungssatz eingeben konnte.

»Man muß anders denken«, sagte er laut. Er war selbst verdutzt, denn der Satz war ganz von selbst gekommen. Er überlegte lang, ohne es zu wagen, die Tastatur zu berühren. Es folgte ein inneres Schweigen, ein völliges Schweigen, das jegliches Denken verhinderte. Das ihn jedoch unerklärlicherweise dazu brachte, eine Folge von acht Buchstaben einzugeben.

Das leise Surren eines Mechanismus war zu vernehmen, und dann ... dann schwenkte die Mauer herum! Aufgeregt, zu allem bereit, schritt Nicolas voran. Aber kurz darauf schlug die Mauer wieder zu; der Luftzug, der dabei entstand, löschte den Fackelstummel, der ihm noch verblieben war.

Völlig verwirrt, von tiefster Finsternis umgeben, machte Nicolas kehrt. Aber auf dieser Seite der Mauer gab es keine Tastatur. Keine Rückkehr möglich. Er brach sich die Nägel an den Beton- und Stahlplatten ab. Sein Vater hatte gute Arbeit geleistet, er war nicht umsonst Schlosser.


Sauberkeit: Gibt es etwas Saubereres als eine Fliege? Sie putzt sich ständig, weil das für sie keine Pflicht, sondern ein Bedürfnis ist. Wenn ihre Antennen und Facettenaugen nicht makellos sauber sind, erkennt sie die ferne Nahrung nicht und sieht niemals die Hand, die hinuntersaust, um sie zu zerquetschen. Die Sauberkeit ist ein wesentliches Moment des Überlebens bei den Insekten.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Am nächsten Morgen lauteten die Schlagzeilen der Boulevardpresse:

»Der unheimliche Keller in Fontainebleau hat wieder zugeschlagen! Ein weiterer Vermißter: der einzige Sohn der Familie Wells. Was macht die Polizei?«

Die Spinne blickt vom Gipfel ihres Farns hinab. Er ist sehr hoch. Sie schwitzt einen Tropfen flüssiger Seide aus, klebt ihn an das Blatt, bewegt sich zum Rand des Zweiges vor und springt ins Leere. Ihr Fall dauert eine Weile. Der Faden dehnt sich und dehnt sich, dann trocknet er, verhärtet sich und fängt sie auf, kurz bevor sie den Boden erreicht. Fast wäre sie zerquetscht worden wie eine reife Beere. Viele ihrer Schwestern haben sich wegen einer unerwarteten Kälte, die die Verhärtung der Seide verzögert, bereits zu Tode gestürzt.

Die Spinne bewegt ihre acht Beine, um das Gleichgewicht zu erlangen, dann streckt sie sie aus, und es gelingt ihr, sich auf ein Blatt zu schwingen. Das wird der zweite Verankerungspunkt ihres Netzes sein. Sie klebt das Ende ihres Fadens fest. Aber mit nur einer Schnur kommt man nicht weit. Sie erblickt einen Baumstamm zu ihrer Linken, läuft auf ihn zu. Noch ein paar Äste und ein paar Sprünge, dann hat sie es geschafft, sie hat ihre Trägerfäden befestigt, die dazu dienen, den Druck des Windes und der Beute abzufangen. Das Ganze bildet ein Achteck.

Die Seide der Spinne besteht aus einem faserigen Protein, dem Fibroin, dessen Haltbarkeit und Undurchlässigkeit unübertroffen ist. Einige Spinnen sind, wenn sie gut gefressen haben, in der Lage, siebenhundert Meter Seide mit einem Durchmesser von zwei Mikron zu produzieren, eine Seide, deren Haltbarkeit proportional der des Nylons gleichkommt, die jedoch dreimal elastischer ist.

Und obendrein verfügen sie über sieben Drüsen, die jeweils einen unterschiedlichen Faden produzieren: eine Seide für die »Trägerseile«; eine für die Fäden zum Abseilen; eine für die Fäden in der Mitte des Netzes; eine, die mit Klebstoff überzogen ist, für einen raschen Fang; eine, um sich einen Schutz zu bauen; eine, um die Beute einzuwickeln ...

In Wirklichkeit ist diese Seide der faserige Fortsatz der Spinnenhormone, so wie die Pheromone der flüchtige Fortsatz der Ameisenhormone sind.

Die Spinne spinnt also ihre Trägerfäden, dann macht sie sich daran fest. Beim geringsten Alarm läßt sie sich fallen, entgeht so ohne großen Kraftaufwand der Gefahr. Wie oft ist sie auf diese Art mit dem Leben davongekommen?

Anschließend verflechtet sie vier Fäden in der Mitte ihres Achtecks. Immer das gleiche Tun, seit Millionen von Jahren ... Allmählich nimmt die Sache Gestalt an. Heute hat sie beschlossen, ein Netz aus trockener Seide zu machen. Die Netze aus mit Klebstoff versehener Seide sind effektiver, aber zu anfällig. Jedes Staub körnchen, jeder vertrocknete Pflanzenstengel verfängt sich darin. Die trockene Seide ist weniger beuteträchtig, aber sie hält mindestens bis zur Nacht.

Kaum hoch oben in ihren »Trägerbalken« plaziert, fügt die Spinne ein Dutzend Querverstrebungen hinzu und vollendet ihr Werk mit der zentralen Spirale. Das ist das Angenehmste. Sie geht von einem Ast aus, an dem sie ihren trockenen Faden befestigt hat, und springt von Speiche zu Speiche. Dabei nähert sie sich, immer in Richtung der Erdrotation, so langsam wie möglich der Mitte.

Sie macht das auf ihre eigene Art. Es gibt auf der Welt keine zwei Spinngewebe, die einander gleichen. Sie sind wie die Fingerabdrücke des Menschen.

Sie muß die Maschen zusammenziehen. In der Mitte angelangt, betrachtet sie ihr Gewebe, um dessen Haltbarkeit abzuschätzen. Sie schreitet jede Speiche ab, schüttelt sie mit ihren acht Beinen. Sie halten.

Die meisten Spinnen der Region bauen Netze von 75:12. Fünfundsiebzig spiralförmig gewundene Fäden auf zwölf Speichen. Sie, sie zieht ein Verhältnis von 95:10 vor, ein besonders feines Flechtwerk.

Das fällt vielleicht eher auf, aber es ist haltbarer. Und da sie trockene Seide verwendet, braucht sie mit den Fäden nicht zu knausern. Sonst würden ihr die Insekten nur einen kurzen Besuch abstatten ...

Dennoch ist sie von dieser langwierigen Arbeit erschöpft. Sie muß unbedingt etwas in den Magen bekommen. Das ist ein ewiges Karussell. Sie ist hungrig, weil sie ihr Netz gebaut hat, aber ebendieses Netz gibt ihr die Möglichkeit, etwas zu fressen.

Unter einem Blatt versteckt, die vierundzwanzig Krallen auf die Hauptträger gedrückt, wartet sie. Ohne sich eines ihrer acht Augen bedienen zu müssen, spürt sie den Raum und erfaßt mit ihren Beinen den geringsten Luftzug, und zwar dank ihres Netzes, das auf alles mit der Empfindlichkeit der Membran eines Mikrophons reagiert.

Diese winzige Schwingung da, das ist eine Biene, die in zweihundert Kopf Entfernung Achten beschreibt, um den Mitbewohnern ihres Stocks die Lage eines Blumenfelds mitzuteilen.

Und dieses leichte Zucken, das muß eine Libelle sein. Sehr schmackhaft, die Libelle. Aber die da fliegt in der falschen Richtung und kann nicht als Mittagessen herhalten.

Schwere Erschütterung. Jemand ist auf das Netz gesprungen. Eine Spinne, die sich die Arbeit von jemand anders zunutze machen möchte. Diebin! Die erste verscheucht sie schleunigst, bevor eine Beute auftaucht.

Im nächsten Moment spürt sie in ihrem linken Hinterbein, daß sich von Osten her eine Art Fliege nähert. Sie scheint nicht besonders schnell unterwegs zu sein. Wenn sie den Kurs nicht

ändert, müßte sie geradewegs in die Falle gehen.

Klatsch! Treffer.

Eine geflügelte Ameise ...

Die Spinne - die keinen Namen hat, denn die einsam lebenden Wesen brauchen sich untereinander nicht zu benennen - wartet gelassen ab. Als sie jünger war, hat sie sich oft in ihrer Begeisterung hinreißen lassen und auf diese Art allerlei Beute verloren. Sie hat geglaubt, jedes Insekt, das ihr ins Netz geht, sei zum Tode verurteilt. Dabei ist das nur zu fünfzig Prozent der Fall. Der Zeitfaktor ist ausschlaggebend.

Man muß Geduld haben, das zu Tode erschrockene Opfer verheddert sich ganz von allein. Denn so lautet die ausgeklügelte Philosophie der Spinnen: Es gibt keine bessere Kampftechnik, als darauf zu warten, daß sich dein Opfer selbst zerstört ...

Nach einigen Minuten kommt sie näher, um ihre Beute genauer zu betrachten. Eine Königin. Eine rote Königin aus dem Reich des Westens. Aus Bel-o-kan.

Sie hat bereits von diesem hochentwickelten Reich gehört. Seine Millionen von Bewohnern sind angeblich so sehr voneinander abhängig, daß sie sich nicht einmal allein ernähren können! Was hat das für einen Sinn, worin besteht da der Fortschritt?

Eine ihrer Königinnen ... Ihr ist also ein beträchtlicher Teil der Zukunft dieser unverbesserlichen Eindringlinge in die Klauen geraten. Sie mag die Ameisen nicht. Sie hat gesehen, wie ihre Mutter von einer Horde roter Wanderameisen gejagt wurde ...

Sie schielt ihr Opfer an, das sich verzweifelt wehrt. Dumme Insekten, nie kapieren sie, daß ihr schlimmster Feind die Panik ist. Mit jedem Versuch, sich loszumachen, verwickelt sich die geflügelte Ameise nur noch mehr in der Seide ... Und verursacht dabei Schäden, die die Spinne ärgert.

Bei Nr. 56 weicht die Wut der Niedergeschlagenheit. Sie kann sich praktisch nicht mehr rühren. Ihr ganzer Körper ist von der Seide umwickelt, und jede Bewegung läßt ihre Verpackung noch dicker werden. Sie kann es nicht fassen, so dumm zu scheitern, nachdem sie so viele Prüfungen überstanden hat.

In einem weißen Kokon wurde sie geboren, in einem weißen Kokon wird sie sterben.

Die Spinne rückt noch näher, schaut sich dabei die beschädigten Fäden an. So kann Nr. 56 aus nächster Nähe ein prächtiges orangeschwarzes Tier sehen, das mit acht grünen Augen ausgestattet ist, die wie eine Krone auf dem Kopf verteilt sind. Solche hat sie schon gegessen. Jeder ist mal an der Reihe, zum Frühstück verzehrt zu werden . Und die da, die hört nicht auf, noch mehr Seide auf sie draufzuspucken!

Man kann seine Beute nie gut genug verschnüren, sagt sich die Spinne ihrerseits. Danach stellt sie zwei beunruhigende Giftzähne zur Schau. Doch in Wirklichkeit töten die Arachniden nicht, jedenfalls nicht sofort. Da sie lieber zuckendes Fleisch verzehren, töten sie ihr Opfer nicht, sondern betäuben es mit einem einschläfernden Gift und wecken es nur, um ein wenig daran zu knabbern. Auf diese Art haben sie ganz nach Belieben frisches, unter der seidenen Verpackung gut geschütztes Fleisch. Ein solches Mahl kann eine Woche dauern.

Nr. 56 hat von dieser Gepflogenheit gehört. Sie erzittert. Das ist schlimmer als der Tod. Nach und nach alle Gliedmaßen amputiert bekommen ... Bei jedem Aufwachen wird einem etwas abgerissen, und dann wird man wieder eingeschläfert. Jedesmal bleibt ein bißchen weniger übrig, bis zur Stunde der letzten Verstümmelung, wenn die lebenswichtigen Organe abgerissen werden und man endlich den befreienden Schlaf findet.

Lieber sich selbst zerstören! Sie meidet den schrecklichen Anblick der allzu nahen Gifthaken und schickt sich an, ihren Herzschlag zu verlangsamen.

In diesem Moment prallt eine Eintagsfliege mit solchem Schwung gegen das Netz, daß die seidenen Kanten sie sogleich umschließen, fest verpacken ... Vor wenigen Minuten erst ist sie zur Welt gekommen, und in wenigen Stunden wäre sie vor Altersschwäche gestorben. Ein Leben von einem Tag, das Leben einer Eintagsfliege. Sie mußte schnell handeln, ohne nur den Bruchteil einer Sekunde zu verschenken. Wie würde man wohl sein Leben ausfüllen, wenn man wüßte, daß man am Morgen geboren wird, um noch am gleichen Abend zu sterben?

Ihrem zweijährigen Larvendasein kaum entronnen, macht sich die Eintagsfliege auf die Suche nach einem Weibchen, um sich fortzupflanzen. Die vergebliche Suche nach Unsterblichkeit durch Nachkommenschaft. Dieser eine Tag, den die Eintagsfliege zu leben hat, wird nur von dieser Suche bestimmt. Sie denkt nicht an Essen, nicht an Ruhe, nicht daran, wählerisch zu sein. Ihr Hauptgegner ist die Zeit. Jede Sekunde ist für sie ein Widersacher. Und neben der Zeit ist selbst die fürchterliche Spinne nur ein retardierendes Moment und kein spezieller Feind.

Sie spürt, daß das Alter mit großen Schritten in ihrem Körper fortschreitet. In einigen Stunden wird sie senil sein. Sie ist erledigt. Sie ist umsonst geboren. Welch unerträgliches Scheitern ...

Die Eintagsfliege wehrt sich. Das ist das Problem mit den Spinnweben: Wenn man sich bewegt, ist man erst recht dran, doch wenn man sich nicht bewegt, kommt man auch nicht davon ...

Die Spinne eilt herbei und verpaßt ihr ein paar Extrafäden. Damit hätte sie also eine doppelt fette Beute, die ihr die nötigen Proteine liefern wird, um gleich morgen ein zweites Netz zu spinnen. Aber als sie sich erneut anschickt, ihr Opfer einzuschläfern, nimmt sie ein ganz anderes Vibrieren wahr. Ein ... intelligentes Vibrieren. Tip tip tiptiptip, tip tip tiptip. Ein Weibchen! Es bewegt sich auf einem Faden, und es klopft darauf, um ein Signal zu geben: Ich bin dein, ich komme nicht, um deine Nahrung zu stehlen.

Das Männchen hat noch nie etwas so Erotisches verspürt wie dieses Vibrieren. Tip tip tiptiptip. Ah, es hält es nicht mehr aus, es läuft auf sein Liebchen zu (ein blutjunges Ding, das sich erst viermal gehäutet hat, während es das Männchen auf zwölfmal bringt). Es ist dreimal so groß wie das Männchen, aber das ist jenem gerade recht, er liebt die Dicken. Er deutet auf die beiden Opfer, mit denen sie später neue Kräfte schöpfen können.

Dann begeben sie sich in Position, um sich zu paaren. Das ist bei der Spinne recht kompliziert. Das Männchen hat keinen Penis, sondern eine Art doppeltes Genitalgeschütz. In aller Eile errichtet es eine Zielscheibe, ein Mininetz, und bespritzt es mit seinen Keimzellen. Es befeuchtet eines seiner Beine daran und steckt es in das Rezeptakulum des Weibchens. Das macht es mehrmals in starker Erregung. Die junge Schönheit hat sich ihrerseits in eine solche Selbstvergessenheit gesteigert, daß sie sich plötzlich nicht mehr beherrschen kann, sie packt den Kopf des Männchens und zerbeißt ihn.

Da wäre es dumm, nicht auch den Rest zu verzehren. Nun gut, kaum fertig, hat sie immer noch Hunger. Sie stürzt sich auf die Eintagsfliege und macht deren Leben noch kürzer. Dann wendet sie sich der Ameisenkönigin zu, die angesichts der nächsten Spritze in Panik gerät und anfängt zu zappeln.

Kein Zweifel. Nr. 56 hat Glück, denn der Auftritt einer weiteren Figur, die geräuschvoll am Horizont her auftaucht, kehrt alles um. Es handelt sich wieder um eines dieser Tiere aus dem Süden, die sich kürzlich nach Norden ausgebreitet haben. Ein recht dickes Tier, ehrlich gesagt, ein einhörniger Maikäfer oder auch Coleopterus rhinoceros. Er rauscht mitten in das Netz, dehnt es, als wäre es Leim ., und zerreißt es. Ein Netz von 95:10, das hält gut, solange man nicht übertreibt. Das schöne Seidendeckchen zerplatzt in wehende Strähnen und Fetzen.

Das Spinnenweibchen hat sich bereits an seinem Faden abgeseilt. Die Ameisenkönigin, von ihrer weißen Zwangsjacke befreit, krabbelt unauffällig über den Boden, unfähig, wieder abzuheben.

Aber die Spinne ist mit den Gedanken woanders. Sie klettert einen Ast hinauf, um dort eine seidene Krippe zu bauen, in der sie ihre Eier legen wird. Wenn ihre Dutzende von Jungen schlüpfen, werden sie nichts Eiligeres zu tun haben, als ihre Mutter aufzufressen. So ist das bei den Spinnen, da kennt man kein Dankeschön.

»Bilsheim!«

Er riß den Hörer zur Seite, als wäre er von einem Tier gestochen worden. Seine Chefin ... Solange Doumeng.

»Ja?«

»Ich hatte Ihnen Anweisungen erteilt, und Sie haben noch nichts getan. Was treiben Sie? Wollen Sie warten, bis die ganze Stadt in diesem Keller verschwunden ist? Ich kenne Sie, Bilsheim, Sie denken nur daran, sich auszuruhen! Ich kann Faulpelze nicht ausstehen! Und ich verlange, daß Sie diese Angelegenheit binnen achtundvierzig Stunden klären!«

»Aber, Madame ...«

»Nichts da, kein >aber Madamec! Ihre Leute haben Anweisung von mir erhalten, Sie brauchen bloß morgen früh mit ihnen da runterzugehen, das nötige Gerät ist an Ort und Stelle. Also, bewegen Sie Ihr faules Hinterteil, verdammt noch mal!«

Er fühlte sich plötzlich gestreßt. Seine Hände zitterten. Er war kein freier Mann. Warum mußte er gehorchen? Um der Arbeitslosigkeit zu entgehen, um nicht von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Der einzige Weg, wie er sich jetzt und hier seine Freiheit vorstellen konnte, bestand darin, sich als Clochard zu präsentieren, und dafür fühlte er sich noch nicht bereit. Sein Ordnungssinn und seine Sozialisation gerieten in Fehde mit seinem Wunsch, sich nicht dem Willen anderer zu beugen. Und auf dem Schlachtfeld, das heißt in seinem Magen, bildete sich ein Geschwür. Sein Ordnungssinn siegte über die Lust auf Freiheit. Er gehorchte.

Der Trupp der Jägerinnen hält sich hinter einem Felsen versteckt und beobachtet die Eidechse. Sie mißt gut sechzig Kopf (achtzehn Zentimeter). Ihr steinharter, grüngelb schimmernder und mit schwarzen Flecken übersäter Panzer erzeugt Angst und Abscheu. Nr. 103 683 hat den Eindruck, daß diese Flecken die Blutspritzer all der Opfer dieses Sauriers sind.

Wie vorhergesehen, wird das Tier steif vor Kälte. Es schreitet voran, aber wie in Zeitlupe; man könnte meinen, es zögere, bevor es den Fuß irgendwo aufsetzt.

Kurz bevor die Sonne erscheint, wird ein Pheromon losgelassen.

Angriff!

Die Eidechse sieht sich von einer ganzen Armee kleiner schwarzer Wesen überfallen, die sich über sie ergießen. Sie richtet sich schwerfällig auf, öffnet ein rosiges Maul, in dem eine flinke Zunge tanzt, die die Ameisen peitscht, die sich am weitesten vorgewagt haben. Dann macht sie einen kleinen Rülpser und verschwindet blitzschnell.

Die Jägerinnen, um dreißig der Ihren dezimiert, bleiben verdutzt, wie benommen zurück. Dafür, daß es bereits von der Kälte betäubt war, hatte das Tier noch einiges an Reserven!

Nr. 103 683, die man wahrlich nicht der Feigheit bezichtigen kann, sagt als eine der ersten, daß ein Angriff auf ein solches Tier Selbstmord ist. Die Festung scheint uneinnehmbar. Die Haut der Eidechse ist ein Panzer, dem man weder mit Mandibeln noch mit Säure etwas anhaben kann. Und ihre Größe, ihre Flinkheit selbst bei geringen Temperaturen verleihen ihr eine nur schwer auszugleichende Überlegenheit.

Dennoch geben die Ameisen nicht auf. Wie eine Meute winziger Wölfe stürzen sie sich auf die Fährte des Ungetüms. Sie huschen unter den Farnpflanzen umher und geben drohende, den Geruch des Todes verströmende Pheromone von sich. Das erschreckt im Augenblick nur die Nacktschnecken, hilft den Ameisen jedoch, sich furchterregend und unverwundbar zu fühlen. Ein paar tausend Kopfweiter finden sie die Eidechse wieder, sie klebt an der Rinde einer Fichte, vermutlich damit beschäftigt, ihr Frühstück zu verdauen.

Sie müssen handeln! Je länger sie warten, um so mehr Energie gewinnt sie! Wenn sie schon in der Kälte so schnell ist, wird sie schier übermächtig sein, wenn sie erst einmal mit Sonnenkalorien vollgestopft ist. Antennenberatung. Es gilt, einen Angriff zu improvisieren. Eine Taktik wird ausgearbeitet.

Eine Schar Kriegerinnen läßt sich von einem Ast auf den Kopf des Tieres fallen. Sie versuchen es zu blenden, indem sie in seine Lider beißen, und beginnen, seine Nasenlöcher anzubohren. Aber dieses erste Unternehmen schlägt fehl. Die Eidechse wischt sich mit einem wütenden Bein das Gesicht ab und verschlingt die Nachzügler.

Die zweite Angriffswelle läuft bereits. Fast in Reichweite der Zunge schlagen sie einen weiten und überraschenden Bogen ..., um sich jäh auf den Stumpf des Eidechsenschwanzes zu stürzen. Wie sagt die Königin: Jeder Gegner hat seinen Schwachpunkt. Finde ihn, und dann greife nur diese Schwäche an.

Sie öffnen die Narbe, indem sie sie mit Säure verätzen, und strömen in das Innere des Sauriers, fallen in seine Gedärme ein.

Er rollt sich auf den Rücken, strampelt mit den Hinterbeinen, reibt sich den Bauch mit den Vorderbeinen. Schmerzen wie von tausend Geschwüren martern ihn.

Im nächsten Moment verschafft sich eine andere Gruppe endlich Zugang zu den Nasenlöchern, die sogleich mit brühheißen Strahlen geweitet und ausgehöhlt werden.

Knapp darüber greifen andere die Augen an. Sie bringen diese weichen Kugeln zum Platzen, aber die Höhlen erweisen sich als Sackgassen. Das Loch des Sehnervs ist zu schmal, als daß man auf diesem Weg das Gehirn erreichen könnte. Also schließt man sich den Truppen an, die bereits weit in die Nasenlöcher vorgedrungen sind .

Die Eidechse krümmt sich, schiebt ein Bein in ihr Maul, um die Ameisen zu zerquetschen, die ihren Schlund durchbohren. Zu spät.

In einem Winkel der Lunge trifft Nr. 4000 ihre junge Kollegin Nr. 103 683 wieder. Es ist finster darin, und sie sehen nichts, denn die Geschlechtslosen haben keine Infrarot-Ozellen. Sie führen die Spitzen ihrer Antennen zusammen.

Komm, brechen wir zu dem Termitenhügel im Osten auf, solange unsere Schwestern beschäftigt sind. Sie werden glauben, wir seien im Kampf gefallen.

Sie nehmen den gleichen Weg, auf dem sie gekommen sind, durch den mittlerweile stark blutenden Schwanzstumpf.

Morgen wird der Saurier in Tausende von schmackhaften Happen zerlegt. Einige werden mit Sand bedeckt und nach Zubi-zubi-kan transportiert werden, andere werden sogar nach Bel-o-kan gelangen, und man wird einen Bericht von epischer Breite erfinden, um diese Jagd zu schildern. Die Zivilisation der Ameisen ist darauf angewiesen, sich in ihrer Stärke zu bestätigen. Eine Eidechse zu besiegen ist eine Errungenschaft, die sie ganz besonders beruhigt.


Kreuzung: Es wäre ein Fehler, zu glauben, die Nester seien für Fremde unzugänglich. Sicher, jedes Insekt trägt den Geruchsstempel seiner Stadt, ist jedoch nicht in dem Sinne »xenophob«, was man bei den Menschen darunter versteht.

Wenn man zum Beispiel in einem mit Erde gefüllten Aquarium hundert Ameisen formica rufa mit hundert Ameisen lazius niger zusammenbringt - unter denen jeweils eine fruchtbare Königin ist -, stellt man fest, daß die beiden Arten nach einigem Geplänkel ohne Tote und langen Antennendiskussionen dazu übergehen, gemeinsam ihren Ameisenhaufen zu bauen.

Einige Gänge sind der Größe der roten, andere der Größe der schwarzen Ameisen angeglichen, aber sie kreuzen einander und verschlingen sich, so daß als bewiesen gelten darf: Es gibt keine dominierende Art, die versuchen würde, die andere in ein bestimmtes Viertel der Stadt, in ein Ghetto zu sperren.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Der Weg, der in die Gebiete des Ostens führt, ist noch nicht gesäubert. Die Kriege mit den Termiten verhindern jeden Ansatz von Befriedung in der Region.

Nr. 4000 und Nr. 103 683 laufen über einen Pfad, auf dem etliche Scharmützel stattgefunden haben. Prächtige Giftschmetterlinge kreisen über ihren Antennen, was nicht dazu angetan ist, sie zu beruhigen.

Ein Stück weiter spürt Nr. 103 683 etwas, was sie unter ihrem rechten Bein kitzelt. Sie identifiziert dieses Etwas als Milben, winzigste Lebewesen, die mit Stacheln und Fühlern, mit Haaren und Haken ausgestattet sind und in Herden wandern, ständig auf der Suche nach schön staubigen Nischen. Nr. 103 683 erheitert dieser Anblick. Daß es auf ein und demselben Planeten so kleine Lebewesen gibt wie die Milben und so große wie die Ameisen.

Nr. 4000 bleibt vor einer Blume stehen. Sie hat plötzlich große Schmerzen. In ihrem alten Körper, der heute schon allerlei durchgemacht hat, sind die jungen Ichneumonlarven wach geworden. Wahrscheinlich sitzen sie gerade zu Tisch, fuhrwerken mit Messer und Gabel in den inneren Organen der armen Ameise herum.

Um ihr zu helfen, entnimmt Nr. 103 683 ihrem Sozialkropf einige Koleopter-Honigtaumoleküle. Im Verlauf des harten Kampfs in den Tiefen von Bel-o-kan hat sie eine winzige Menge davon zur Schmerzbetäubung gesammelt. Sie ist äußerst vorsichtig damit umgegangen und hat sich nicht von diesem wohlschmeckenden Gift abhängig gemacht.

Die Schmerzen von Nr. 4000 lassen unmittelbar nach der Einnahme des Likörs nach. Dennoch verlangt sie nach mehr. Nr. 103 683 will ihr gut zureden, aber Nr. 4000 besteht darauf, sie ist zum Kampf bereit, um den Eingeweiden ihrer Gefährtin den letzten Rest der köstlichen Droge zu entziehen. Als sie gerade losspringen und zuschlagen will, gleitet sie in eine Art sandigen Krater. Die Falle eines Ameisenlöwen!

Letzterer, oder genauer gesagt: seine Larve, besitzt einen schaufelartigen Kopf, der es ihm ermöglicht, derlei Krater zu fertigen. Anschließend gräbt er sich darin ein und braucht nur noch auf Besuch zu warten.

Nr. 4000 begreift, wenn auch ein wenig spät, was passiert ist. Jede Ameise ist im Grunde leicht genug, um sich aus dieser Klemme zu befreien. Bevor sie sich jedoch an den Aufstieg machen kann, tauchen zwei lange, mit Stacheln versehene Mandibeln am Ende des Kessels auf und besprengen sie mit Sand.

Hilfe!

Sie vergißt darüber den von ihren ungebetenen Gästen verursachten Schmerz und die auf den Koleopterlikör zurückzuführenden Entzugserscheinungen. Sie hat Angst, sie will so nicht sterben.

Sie wehrt sich mit aller Kraft. Aber die Falle des Ameisenlöwen ist wie das Spinnennetz so angelegt, daß sie die Panik der Opfer ausnutzt. Je mehr Nr. 4000 strampelt, um aus dem Krater herauszuklettern, um so mehr stürzt der Hang ein und reißt sie in die Tiefe ... Wo der Ameisenlöwe sie weiterhin mit feinem Sand besprengt.

Nr. 103 683 hat schnell erfaßt, daß sie, wenn sie sich über den Rand beugt, um hilfreich ein Bein auszustrecken, nur Gefahr läuft, ebenfalls abzustürzen. Sie eilt fort, um sich auf die Suche nach einem langen und haltbaren Grashalm zu machen.

Die alte Ameise findet, daß die Zeit lang wird. Sie stößt einen stark duftenden Schrei aus und radelt noch heftiger durch den fast flüssigen Sand. Dadurch rutscht sie nur noch schneller ab. Sie ist nur noch fünf Kopf von den Scheren entfernt, die, aus der Nähe betrachtet, wirklich furchterregend sind. Jede Mandibel ist mit Hunderten von kleinen, messerscharfen Zähnen bewehrt, die wiederum durch lange, gebogene Stachel unterteilt sind. Das äußerste Ende bildet eine Art Pfriem, der imstande ist, mühelos jedweden Ameisenpanzer zu durchschlagen.

Endlich erscheint Nr. 103 683 am Rand des Kessels und hält ihrer Gefährtin ein Gänseblümchen hin. Schnell! Diese richtet die Beine auf, um den Stengel zu packen. Aber der Ameisenlöwe hat nicht vor, auf seine Beute zu verzichten. Wie besessen bespritzt er die beiden Ameisen mit Sand. Sie sehen und hören nichts mehr. Jetzt wirft der Ameisenlöwe mit kleinen Steinchen, die mit einem unheimlichen Geräusch von dem Chitin abprallen. Halb verschüttet, gleitet Nr. 4000 weiter ab.

Nr. 103 683 stemmt, den Stengel fest zwischen ihre Mandibeln geklemmt, die Beine in den Boden. Sie wartet vergeblich auf einen Ruck. Genau in dem Moment, als sie aufgeben will, schnellt ein Bein aus dem Sand ... Gerettet! Nr. 4000 hüpft endlich aus diesem Loch des Todes.

Unten schlagen die Scheren vor Wut und Enttäuschung zusammen. Der Ameisenlöwe braucht Proteine, um sich in eine ausgewachsene Ameisenjungfer zu verwandeln. Wie lange wird er warten müssen, bis eine neue Beute zu ihm herabrutscht?

Nr. 4000 und Nr. 103 683 reinigen sich und nehmen eine intensive Trophallaxie vor. Diesmal steht kein Koleopter-Honigtau auf dem Speiseplan.

»Tag, Bilsheim!«

Sie reichte ihm eine schlaffe Hand.

»Jaja, ich weiß, Sie sind überrascht, mich hier zu sehen. Aber da sich diese Angelegenheit endlos in die Länge dehnt und der Präfekt persönlich sein Interesse an einem guten Ausgang bekundet hat und bald wohl auch der Minister, habe ich beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen ... Kommen Sie, machen Sie nicht so ein Gesicht, ich zieh Sie doch nur auf, Bilsheim. Wo ist Ihr Sinn für Humor geblieben?«

Der alte Kommissar wußte nicht, was er antworten sollte. Seit fünfzehn Jahren ging das so. Bei ihr hatte sich noch kein »aber sicher« verfangen. Er wollte ihr in die Augen schauen, aber ihr Blick war hinter einer langen Strähne verborgen. Rothaarig, gefärbt. Die große Mode. Im Büro hieß es, sie versuche allen weiszumachen, daß sie rote Haare habe, um den starken Geruch, der von ihr ausging, zu erklären.

Solange Doumeng. Sie wurde immer säuerlicher, seit sie in die Wechseljahre gekommen war. Eigentlich hätte sie, um das auszugleichen, weibliche Hormone nehmen müssen, aber sie hatte viel zuviel Angst, dicker zu werden. Hormone, da staut sich das Wasser, das weiß jeder, also biß sie die Zähne zusammen und ließ die Schwierigkeiten, die ihr das Altern machte, an ihrer Umgebung aus.

»Weshalb sind Sie hier? Wollen Sie selbst da runter?« fragte der Kommissar.

»Das ist doch nicht Ihr Ernst, alter Freund! Nein, Sie gehen da runter, niemand anders als Sie. Ich bleibe hier, ich habe alles mitgebracht, eine Thermosflasche voll Tee und mein Walkie-talkie.«

»Und wenn ich in Schwulitäten gerate?«

»Sind Sie ein solcher Angsthase, daß Sie direkt das Schlimmste befürchten? Wie gesagt, wir stehen in Funkverbindung. Sobald Ihnen die geringste Gefahr droht, verständigen Sie mich, und ich werde die notwendigen Maßnahmen ergreifen. Außerdem sind Sie verdammt gut ausgerüstet, alter Freund, Sie gehen mit dem allerneusten Gerät da runter. Schauen Sie: Sie haben ein Kletterseil. Gewehre. Ganz zu schweigen von den sechs Jungs.«

Sie deutete auf die Gendarmen, die sogleich Haltung annahmen. Bilsheim brummte: »Galin ist mit acht Feuerwehrmännern runtergegangen, das hat ihm auch nicht viel genützt ...«

»Aber die hatten weder Waffen noch Funkverbindung! Kommen Sie, schauen Sie nicht so betreten drein, Bilsheim.«

Er hatte keine Lust, dagegen anzukämpfen. Dieses ständige Spielchen um Macht und Einschüchterung ging ihm auf die Nerven. Gegen Solange anzukämpfen hieß, selbst zu Doumeng zu werden. Sie war da wie Unkraut im Garten. Man mußte versuchen, selbst zu sprießen, ohne sich anstecken zu lassen.

Bilsheim, der ernüchterte Kommissar, schlüpfte in einen Höhlenanzug, schnürte sich das Kletterseil um die Taille und hängte sich das Walkie-talkie um.

»Sollte ich nie wieder raufkommen, möchte ich, daß meine ganze Habe den Waisen der Polizei zugute kommt.«

»Schluß mit dem Quatsch, mein lieber Bilsheim. Sie werden wieder raufkommen, und zur Feier des Tages werden wir zusammen ins Restaurant essen gehen.«

»Für den Fall, daß ich nicht wieder raufkomme, möchte ich Ihnen etwas sagen .«

Sie runzelte die Stirn.

»Na, na, hören Sie auf mit Ihren Kindereien, Bilsheim!«

»Ich möchte Ihnen sagen ... Eines Tages müssen wir alle für unsere schlechten Taten büßen.«

»Jetzt wird er noch zum Mystiker! Nein. Bilsheim. Sie irren sich, man büßt nicht für seine schlechten Taten! Mag sein, daß es einen >lieben Gott< gibt, wie Sie sagen, aber wenn, dann pfeift er auf uns! Und wenn Sie zu Lebzeiten nichts genossen haben, werden Sie es nach dem Tod auch nicht mehr!«

Sie lachte kurz und hämisch, dann trat sie ganz nah an ihren Untergebenen heran. Der hielt den Atem an. Üble Gerüche würde er in diesem Keller noch zur Genüge in die Nase bekommen .

»Aber so schnell werden Sie nicht sterben. Sie werden mir diese Sache klären. Ihr Tod würde keinem nutzen.«

Vor Verärgerung wurde der Kommissar wieder zum Kind, er war nur noch der kleine Junge, dem man seine Schaufel weggenommen hat und der - wohlwissend, daß er sie nie wiederbekommen wird - einige schwache Beleidigungen ausstößt.

»Klar, mein Tod wäre das Scheitern Ihrer >persönlichen< Ermittlungen. Dann sieht man, was dabei herauskommt, wenn Sie, wie Sie sagten, >die Sache selbst in die Hand nehmen<.«

Sie trat noch näher, als wollte sie ihn auf den Mund küssen. Statt dessen raunte sie ihm bedächtig-feucht ins Gesicht: »Sie mögen mich nicht, was, Bilsheim? Niemand mag mich, und das ist mir schnurz, außerdem mag ich Sie auch nicht. Und ich habe auch nicht das geringste Interesse, beliebt zu sein. Ich will nur, daß man mich fürchtet. Eins sollten Sie trotzdem wissen: Wenn Sie da unten draufgehen, stört mich das keineswegs, ich werde einen dritten Trupp losschicken. Wenn Sie mir wirklich schaden wollen, dann kommen Sie siegreich und lebend zurück, dann wäre ich Ihnen zu Dank verpflichtet.«

Er gab keine Antwort. Er starrte auf die weißen Haarwurzeln der Modefrisur, das erleichterte ihn.

»Wir sind soweit!« sagte einer der Gendarmen und hob sein Gewehr.

Sie hatten sich untereinander angeseilt.

»Okay, gehn wir.«

Sie gaben den drei Polizisten, die mit ihnen in Verbindung bleiben würden, ein Zeichen, dann stiegen sie in den Keller hinab.

Solange Doumeng setzte sich an einen Schreibtisch, auf den sie ihr Funkgerät gestellt hatte.

»Viel Glück, kommen Sie schnell zurück!«

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