VIII Über das Riff

«Kurs Südsüdost, Sir. Voll und bei.»

Bolitho faßte in die Finknetze und beobachtete aufmerksam, wie die Sandpiper ihr Leeschanzkleid steil aus der See hob. Sprühwasser und Schaumfetzen flogen über Deck. Matrosen waren dabei, mehr Segel zu setzen, und Bolitho blickte zur Großrah empor, die sich wie der Bogen einer riesigen Armbrust spannte.

«Der Wind frischt ein bißchen auf«, sagte Starkie ganz heiser vor Erregung.»Aber er kommt stetig aus Nordost. Bis jetzt jedenfalls«, fügte er grimmig hinzu.

Bolitho hörte kaum hin. Er beobachtete, wie die Brigg arbeitete, wie sie sich mit jeder anbrandenden, weißbemützten Welle hob und dann wieder ins Wellental hinabschmetterte.

Seit dem Überstaggehen, seit die vergoldete Galionsfigur wieder landwärts zeigte, spürte er, daß die Stimmung im Schiff anders war. Selbst die Männer der Stammbesatzung, von denen viele noch eiternde Wunden und grausame Verletzungen von der Gefangenschaft her aufwiesen, tauschten wohlgemute Zurufe und taten ihr Bestes, um jeden Quadratzoll Leinwand zu setzen, den die Brigg tragen konnte, ohne daß die Masten brachen. Nur wenn sie auf das Achterdeck blickten, wurden sie unsicher. Vielleicht, dachte Bolitho, hofften sie immer noch, dort ihren jungen Kapitän an der Reling zu sehen, als könnten sie durch solch eine unsinnige Hoffnung ihre bösen Erinnerungen verdrängen.

Über das Klingen und Sausen von Leinwand und Wind hinweg hörte er Dancers Stimme:»Sie fliegt wie ein Vogel, Dick!»

Er nickte. Tief tauchte der Bug in die hoch anrollenden Wellen, und wie ein festes weißes Laken breitete sich der Schaum über den Schiffsschnabel.

«Aye. «Er blickte achteraus.»Siehst du die Fregatte?«Er packte Dancer erregt beim Arm.»Da ist sie! Und auch sie setzt mehr Segel. «Im aufsteigenden Morgenlicht, vor dem jetzt die Finsternis mehr und mehr auf die offene See wich, konnte er Mars- und Bramsegel des feindlichen Schiffes ausmachen, deren Umrisse sich änderten, als es ebenfalls auf den anderen Bug ging und, die Verfolgung aufnehmend, direkt hinter ihnen herkam. Er zeigte auf die Flagge im Topp der Brigg, die sich leuchtend gegen den trüben Himmel abhob.

«Mr. Starkie hat anscheinend recht. Unser Gegner ist wütend.»

Vorgeneigt, um die steile Krängung des Decks auszugleichen, schritt Starkie nach Luv hinüber.

«Ich halte sie so dicht vorm Wind, wie ich riskieren kann. Noch ein Strich mehr, dann läßt sie sich nicht mehr steuern.»

Bolitho nahm ein Fernglas aus der Halterung und richtete es auf das Land. Als er im Gewirr der vibrierenden Wanten und Falleinen einen Stützpunkt suchte, sah er, wie die bleichen Gesichter einiger Matrosen sich ihm zuwandten was mochten sie wohl denken, jetzt, da die Brigg Kurs auf die Küste nahm, ausgerechnet dorthin, wo ihre Leiden und Demütigungen begonnen hatten?

Da bekam er die Landspitze ins Blickfeld, die aus der kochenden Brandung wie der Schnabel einer römischen Galeere herausragte. Wie anders war der Anblick vom Kutter aus gewesen, und wie lange war das her! Er mußte sich zusammenreißen, um sich darüber klarzuwerden, daß es erst gestern gewesen war.

Die See war rauher geworden und, vom böigen Wind getrieben, wirbelte sie durch ein Kollier von Klippen, die alles zu vernichten drohten, was in ihre Nähe geriet.

Ein dumpfer Krach; als Bolitho sich nach der Fregatte umblickte, sah er einen dunklen Rauchschwaden, den eine Bö vor sich hertrieb.

«Das ist nur ein Versuchsschuß«, sagte Starkie,»die Fregatte segelt viel zu unruhig, um uns auf diese Entfernung zu treffen.»

Bolitho antwortete nicht und beobachtete, wie die mächtige Fock der Fregatte flatterte und stieß, als der Kapitän das Schiff durch den Wind gehen ließ. Es war noch nicht ganz auf dem anderen Bug, da hatten sich die Focksegel schon wieder gestrafft, und es krängte so stark, daß die Stückpforten auf der Leeseite die Wasseroberfläche schnitten.

«Sie kommt achterlich querab auf, Dick«, sagte Dancer.

«Ja. Sie will uns den Wind abschneiden. «Er starrte so angestrengt auf die Fregatte, daß ihm das Wasser schmerzhaft in die Augen schoß.»Aber das bedeutet, daß sie dichter als wir an der Küste sein wird, wenn wir die Landspitze passieren.»

Dancer starrte ihn an.»Können wir da wirklich durch?»

Starkie hatte das gehört und rief:»Nächstens werden Sie noch verlangen, daß wir auf dem Wasser wandeln wie der Herr Jesus!«Er faßte mit ins Steuerrad und half den Rudergasten, den Gegendruck zu verstärken.»Kurs halten, verdammt noch mal!»

Noch ein Krachen. Diesmal sah Bolitho den Schaum fedrig über die Wellenkämme sprühen: die Kugel flippte achtern vorbei.

Ein Blick auf die Sechspfünder der Sandpiper. Sehr nützlich für einen raschen Überfall auf ein feindliches Kauffahrteischiff oder bei der Verfolgung von Piraten und Schmugglern.

Aber gegen eine Fregatte waren sie nutzlos.

«Schick noch einen guten Mann in den Ausguck, Martyn. «Er taumelte, als das Deck in einem plötzlichen Wellental ins Schüttern geriet.»Vielleicht kommt die Gorgon in Sicht.»

Aber von dem mächtigen Vierundsiebziger war weit und breit keine Spur zu sehen. Nur die Fregatte, die sie verfolgte, und auf der Gegenseite der Bucht tauchte eben die Insel auf.

Wie gestern lag sie bleich und seltsam still in der Morgensonne; nur schwer konnte man glauben, was alles dort passiert war. Starkie hatte vorhin berichtet, daß die Insel auch jetzt noch voller Sklaven war, arme Teufel, Männer und junge Mädchen, welche die Händler aus allen möglichen Gegenden Afrikas hingeschafft hatten. Und in absehbarer Zeit würden viele von ihnen auf dem Weg nach Amerika und Indien sein. Wenn sie Glück hatten, mochten sie dort ein halbwegs erträgliches Leben führen, nicht wie Gefangene, sondern eher wie abhängige Diener. Aber die weniger Glücklichen würden wie Tiere leben müssen. Wenn sie nichts mehr taugten, würde man sie einfach umkommen lassen.

Bolitho hatte gehört, daß man Sklavenschiffe, ähnlich wie die Rudergaleeren, schon von weitem an ihrem furchtbaren Gestank erkannte: der charakteristische Geruch, der entsteht, wenn viele Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht sind und sich nicht bewegen, nicht sauberhalten können.

Bang. Eine Kanonenkugel zischte über das Schiff und fuhr durch das Vormarssegel wie eine eiserne Faust.

«Das war schon näher!«Starkie hatte die Daumen im Gürtel und ließ die Fregatte nicht aus den Augen.»Sie kommt jetzt schneller auf.»

«Deck ahoi! Brecher in Lee voraus!»

Starkie eilte zur Reling und griff nach einem Fernglas.»Aye, da sind sie. Die erste Reihe der Riffe. «Er wandte sich nach den Rudergasten um.»Luv an einen Strich!»

Das Rad knirschte und die Oberbramsegel flappten protestierend.

«Süd zu Ost, Sir!»

«Recht so!»

Bolitho merkte an der schwieriger werdenden Fahrt und an dem wütenden Erzittern jeder Spiere und jedes Segels, daß sie jetzt in flacheres Wasser kamen und dabei eine starke Gegenströmung kreuzten.

«Wir sollten lieber Segel kürzen«, sagte Starkie. Bolitho blickte ihn an und sagte beschwörend:»Wenn wir das tun, erwischt er uns, bevor es für ihn gefährlich wird!»

«Wie Sie meinen«, erwiderte der Bootsmannsmaat ungerührt.

Da kam Eden den Niedergang hochgeklettert; ängstlich suchten seine Augen achtern nach dem Feind.

«Mr. Hope verlangt nach d-dir, Dick. «Er duckte sich, als eine Kugel aus dem Buggeschütz der Fregatte dicht vorbeiflog und eine Fontäne hochjagte wie von einem blasenden Wal.

Bolitho nickte.»Ich gehe rauf. Rufen Sie mich, wenn sich was tut.»

Durch das Fernrohr beobachtete Starkie die vorderste Brecherlinie.

Dadurch, daß er das Schiff eine Kleinigkeit hatte abfallen lassen, zeigte das Bugspriet mit seinem auf- und abschwankenden Klüverbaum fast genau auf die gefahr-verkündende Brandung.

«Keine Sorge«, rief er über die Schulter,»Sie werden's schon merken.»

Unten tastete sich Bolitho zu der winzigen Kajüte hin. Mit unnatürlich glänzenden Augen lag Hope auf dem Rücken in der Koje. Bolitho beugte sich über ihn.

«Der Vierte ist krank, höre ich?«flüsterte Hope. Sein Gesicht war aschgrau.»Hol ihn der Teufel, warum hat er so spät eingegriffen?«Seine Gedanken schweiften ab; undeutlich murmelte er:»Meine Schulter! O Gott, sie werden mir den Arm abnehmen, wenn wir wieder auf dem Schiff sind. «Schmerz und Verzweiflung schienen ihn dann wieder zur Besinnung zu bringen.»Werden Sie's schaffen?»

Bolitho zwang sich ein Lächeln ab.»Wir haben einen guten Steuermann an Deck, Sir. Und Mr. Dancer und ich bemühen uns, wie alte Seeleute auszusehen.»

Die feuchte Luft in der Kajüte erzitterte von einem neuen dumpfen Krach, und Bolitho spürte, wie der Schiffsrumpf in allen Fugen bebte: eine Kugel hatte längsseits ganz nahe eingeschlagen. Zu nahe.

«Sie können sich doch nicht mit einer Fregatte in ein Gefecht einlassen!«keuchte Hope.

«Wollen Sie, daß ich die Flagge streiche, Sir?»

«Nein!«Er schloß die Augen und stöhnte vor Schmerzen.»Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß ich an Deck sein müßte und Ihnen helfen — irgendwas tun. Statt dessen. .»

Bolitho konnte jetzt noch besser verstehen, wie verzweifelt der Leutnant war. Der Fünfte stand ihm näher als die anderen Offiziere. Hope hatte zwar immer so getan, als seien ihm die Midshipmen außerdienstlich ganz gleichgültig, und hatte sich sogar bemüht, äußerlich möglichst hart zu erscheinen; das streifte manchmal sogar die Grenze der Brutalität. Aber in dem ständigen Zusammensein hatte sich doch herausgestellt, daß seine unfreundliche Kritik manchmal notwendig und oft sogar wohltätig war, ganz im Sinne seines Lieblingsausspruchs: «Dieses Schiff braucht Offiziere, keine Kinder.»

Und nun lag er da, hilflos und gebrochen. Ruhig sagte Bolitho:»Ich komme mir Ihren Rat holen, so oft ich kann, Sir.»

Aus der blutbefleckten Koje streckte sich ihm eine Hand entgegen und faßte die seine.»Danke. «Hope konnte kaum noch richtig sehen.»Gott sei mit Ihnen.»

«Hallo da unten!«Das war Dancer.»Die Fregatte rennt ihre Steuerbordgeschütze aus!»

«Ich komme!«Bolitho rannte zur Kampanjeleiter. Er dachte an Hope und an all die anderen.

In der kurzen Zeit, die er unten gewesen war, hatte das Sonnenlicht das Meer erreicht und glitzerte nun auf allen Wogenkämmen.

Starkie rief ihm zu:»Der Wind hat um einen Strich gedreht. Hat nicht viel zu sagen. Aber die Fregatte kommt auf, schätze ich. «Er reichte Bolitho das Fernrohr. Die Fregatte segelte knapp eine Meile backbords achteraus. Sie hatte stark aufgebraßt, um möglichst viel Wind zu bekommen; ihre Steuerbordgeschütze drohten dicht über der schaumigen Wasserlinie wie eine Reihe schwarzer Zähne.

Ihre Kontur veränderte sich etwas, als sie einen Strich nach Luv drehte; das Sonnenlicht blitzte auf den Waffen und Fernrohren, und am Großmast wehte eine mächtige schwarze Flagge. Bolitho konnte sogar den Namen lesen, der auf der wettergebeizten Platte unter dem Schiffsschnabel stand: Pegaso. Als sie noch unter spanischer Flagge fuhr, hatte sie vermutlich so geheißen.

«Sie feuert!»

Die Stückpforten spuckten eine Reihe gelbroter Flammen aus, aber die Breitseite kam zu früh; sie peitschte die See weit hinter dem Heck der Sandpiper; ein paar Kugeln fegten heulend über das Achterdeck dahin.

«Kursänderung, Mr. Starkie!«rief Bolitho.»Zwei Strich nach Luv, wenn Sie können.»

Starkie öffnete schon den Mund, um zu protestieren, aber er überlegte es sich anders. Seine Blicke hingen an einigen kaum überspülten Klippen, die an Steuerbord achteraus blieben. Die hatte die Sandpiper zwar vermieden; aber das bedeutete, daß sie jetzt mitten zwischen den Riffen war. Wie eine Fliege im Spinnennetz.

«An die Brassen! Hol an!«Dancer sprang zu Hilfe.»Hievt, Jungs!»

Hoch über dem stampfenden Schiffsrumpf brummte und knarrte jede Want, jedes Segel, als der Bug langsam herumschwang und dann Richtung auf den nächsten Fetzen Land nahm.

Noch eine holprige Breitseite von der Fregatte; die Kugeln hüpften harmlos achtern übers Wasser, und ein Matrose ließ sogar ein schüchternes Hurra los — er begriff wohl nicht, in welcher Gefahr er sich befand.

Bolitho brüllte:»Hol mir den besten Geschützführer, schnell, Martyn! Schnell!»

«Südost zu Süd, Sir«, sang der Rudergänger aus. Er begriff jetzt überhaupt nichts mehr.

«Recht so.»

Starkie drehte sich kurz um und erblickte den grauhaarigen alten Seemann in geflickter Hose und kariertem Hemd, der nach achtern gerannt kam und grüßend die Fingerknöchel an die Stirn tupfte.

«Taylor, Sir.»

«Schön, Taylor; holen Sie sich Ihre zwei verläßlichsten Geschützbedienungen und bemannen Sie die beiden hintersten Sechspfünder an Steuerbord.»

Taylor blinzelte — war dieser Midshipman nun tatsächlich verrückt geworden? Schließlich befand sich der Feind doch an der anderen Seite!

Bolitho sprach rasch; er hatte nur die Fregatte und die Peilung der Sandpiper im Sinn, sonst war sein Hirn völlig leer. Er versuchte, sich an alles zu erinnern, was er gelernt hatte, was man ihm von seinem zwölften Lebensjahr an bis zum heutigen Tage eingeprügelt hatte.»Doppelte Ladung. Ich weiß, es ist ein Risiko. Aber wenn ich Feuerbefehl gebe, müssen Sie die Fregatte in den Bug treffen.»

Langsam nickte Taylor. Er fuhr mit seinem teerigen Daumen durch die Luft.»Aye, Sir. Versteh schon, was Sie vorhaben, Sir. «Er hoppelte hinweg, brüllte ein paar Namen und kontrollierte dabei schon die beiden achteren Sechspfünder.

Bolitho blickte Starkie in die Augen.»Ich will halsen und wieder raus aus den Riffen. Dann kommt die Fregatte bestimmt hinterher sie hat den Wind unter ihren Rockschößen, sehr günstig für sie. «Grimmig nickte Starkie dazu.»Aber für ein paar Minuten haben wir sie vor unseren Kanonen. Sehr viel ist ja nicht mit den Dingern los, aber immerhin. .»

Er lächelte, und das wurde ihm so schwer, daß ihm die Lippen dabei eiskalt wurden.»Und sie wird bestimmt nicht darauf gefaßt sein, daß wir zurückschießen. Nicht ausgerechnet jetzt.»

Starkie spähte voraus wie ein Wanderer, der seinen Weg sucht.»Ich glaube, ich weiß eine Durchfahrt. Nicht sehr breit. «Er wedelte mit der Hand zweifelnd durch die Luft.»Mit der Tiefe, das weiß ich nicht recht. Zwei Faden,[6] soweit ich es beurteilen kann.»

Dumpfe Geräusche an Steuerbord verrieten Bolitho, daß Taylor und seine Männer ihre Geschütze bald klar haben mußten.

Plötzlicher Kanonendonner machte ihm begreiflich, daß die Fregatte immer noch entschlossen war, die Sandpiper lahm zu schießen und dann zu entern. Halblaut murmelte er:»Diesmal noch nicht, mein Freund. «Starkie ließ das Teleskop sinken, als die Kugeln der Fregatte über die Masten hinwegheulten und ein paar Taue und ein paar Blöcke an Decke schleuderten. Die Sandpiper ruckte heftig: sie hatte ihren ersten Treffer erhalten.

Starkie rief:»Klar zum Halsen, wenn Sie soweit sind!«Er wischte sich den strömenden Schweiß mit dem Unterarm von der Stirn.

«Fier auf die Brassen! Hol dicht!«Bolitho nickte zu den beiden Geschützmannschaften hinüber. »Ausrennen!»

Er preßte die Hände hinter seinem Rücken zusammen, bis er.ruhiger wurde. Dancer und ein paar Matrosen an den Pardunen und Heißleinen starrten ihn an, als wollten sie ihr Schicksal von seinem Gesicht ablesen.

Er hörte, wie der alte Geschützführer sagte:»Denkt dran, Jungs. Wenn wir halsen, kommen wir in Lee von diesem Miststück. Aber wenn das Schiff mit der Backbordseite hochgeht, habt ihr den richtigen Schußwinkel.»

Für kurze Zeit ließ der Wind etwas nach, und währenddessen erstarben die Geräusche der Wellen und der Segel. Mitten in Bolithos dahinrasende Gedanken drang ein anderer Laut: unten in seiner Kajüte stöhnte Tergorren wie ein todwunder Stier. In ihrer verrückten, hoffnungslosen Situation kam ihm die» Unpäßlichkeit «des Leutnants vollends unwirklich vor. Er riß sich zusammen und war wieder da.»Rund achtern! Fier auf!»

Die Sandpiper legte sich wie trunken nach Lee, ihr Bugspriet hob sich steil und fiel dann schmetternd in die kabbelige See, aber sie reagierte wieder auf Segel und Ruder. Doch sie machte dabei einen unbeschreiblichen Krach, so daß ein Einzelschuß des Buggeschützes der Fregatte fast in dem donnernden Schlagen der Segel, dem protestierenden Kreischen der Taljen und dem Baßgebrumm der saitenstraff gespannten Takelung unterging. Die Männer holten die Brassen mit solcher Kraft an, daß ihre Körper fast parallel zum Deck lagen. Andere eilten ihren Kameraden an den Fallen und oben in den Masten zu Hilfe und rissen die quietschenden Rahen noch weiter herum, daß sich die Segel füllten und hart wie Panzer im Wind standen.

Bolitho versuchte, nicht nach den Riffen und auch nicht nach Starkie hinzusehen, der ein Stück die Wanten aufgeentert war, um die Passage durch die Brecher besser abschätzen zu können. Aus der von dem Zufallstreffer der Pegaso geschwächten Takelung fielen noch ein paar abgeschorene Enden an Deck und trafen Taylor, den alten Geschützführer, aber dessen eisenharte Schultern zuckten nicht einmal.

Weiter, immer weiter schwang die Brigg herum; Masten und Rahen knarrten laut, als sie auf den anderen Bug ging; in Lee schwemmte die schäumende See über das Schanzkleid, von dem aus man eben noch den Blick auf den Feind gehabt hatte.

Wumm! Eine Kugel schnitt durch die Wellenkämme und schlug wütend in den Schiffsrumpf. Schreckensschreie ertönten.

«An die Pumpen!«Bolitho hörte sich zwar Kommandos schreien, aber er kam sich wie ein Zuschauer vor, den das alles gar nichts anging. Eiskalt beobachtete er, wie der Gegner am Heck drehte — oder so sah es wenigstens durch die scharfe Kursänderung der Sandpiper aus.

«Jetzt!«Seine Stimme ging in dem allgemeinen Lärm unter, und er brüllte mit äußerster Lautstärke:»Ziel bekannt! Feuer!»

Eben schwang das Focksegel der Pegaso herum — ihr Kapitän mußte sich entschlossen haben, ebenfalls zu halsen und der Brigg zu folgen.

Bolitho wußte, daß Taylor hinter einem der beiden Geschütze kauerte, aber er konnte jetzt nicht hinsehen. Er hörte das Zischen der Lunte, und doch fuhr er vor Schreck zusammen, als das Geschütz krachend losging. Drüben schüttelte sich die Fock der Pegaso, und ein mächtiges Loch erschien wie durch Zauber in der Leinwand. Unter dem Andruck des Windes und der zusätzlichen Belastung durch die plötzliche Kursänderung riß das Segel nach allen Richtungen weiter ein und ging völlig in Fetzen.

«Sie halst immer noch, Sir!«brüllte Starkie.

Die Stimme des Ausgucks schnitt wie eine Säge durch Bolithos Gedanken:»Brecher an Backbord, Sir!»

Aber sein einziger Gedanke war: Das geht schief! Der Doppelschuß hatte zwar die Fock zerstört, aber einer Fregatte unter vollen Segeln machte das nichts aus. Waren beide Schiffe erst einmal klar von den Riffen (und komischerweise zweifelte er nicht im geringsten daran, daß Starkie das schaffen würde), konnte der Pirat sie ohne weiteres überholen und entern.

Taylor rannte zum zweiten Geschütz. Sein Gesicht war vor Konzentration ganz verzerrt. Auf die wütenden Zeichen seines teerigen Daumens hebelte hier ein Matrose seine Handspeiche, holte ein anderer eine Talje an.

Er kauerte sich hinter das Rohr, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, und flüsterte heiser:»So. . Sachte! Na komm schon, meine Kleine!»

Die Lunte zündete, und mit knirschendem Krachen schleuderte der Rückstoß das Geschütz innenbords; wie erstickender, dichter Nebel wirbelte der Pulverrauch ins Schiff. Gebannt starrte Bolitho hin. Es schien eine Ewigkeit zu dauern — in Wirklichkeit waren es nur Sekunden. Und dann, als der sorgfältig gezielte Schuß den Bug der Fregatte traf, rissen der straffgefüllte Klüver und das Stagsegel wie alte Lumpen von oben bis unten auseinander.

Die Wirkung zeigte sich im selben Augenblick. Es hatte die Pegaso mitten in der Halse erwischt; die Segel waren sowieso durcheinander, das Schiff rollte hilflos in einem tiefen Wellental, und als es dem Ruder wieder gehorchte, waren die Stückpforten unter Wasser.

Bolitho hörte Rufe in Lee, und als er mit staubtrockener Kehle hinrannte, sah er eine algenbewachsene Klippe an der Bordwand der Sandpiper entlanggleiten, nur einen oder zwei Meter entfernt. In diesen Sekundenbruchteilen erkannte er ganz deutlich die abgeschliffene Form des Felsens, und sogar ein paar winzige schwarze Fische, die es trotz Wind und Strömung fertigbrachten, unbeweglich im Schutz des Riffes stehenzubleiben — dieses Riffes, das einem Schiff so schnell den Kiel herausreißen konnte, wie man von einer Orange einen Streifen Schale ablöst.

Er warf einen raschen Blick zu Dancer hinüber. Der war totenblaß und hatte die Augen weit aufgerissen; er lehnte sich weit über Bord, um die Fahrt des Gegners zu beobachten, und war vom Sprühwasser völlig durchweicht.

Die Pegaso schwankte wie von einer Gegenbö getroffen, und als sie sich wieder aufrichtete, knickte die Bramstenge des Hauptmastes ab und stürzte hinunter an Deck; zwischen den Wanten baumelte ein Gewirr von Takelage und Segelfetzen. Ungläubig schrie Starkie:»Sehen Sie das? Sie muß auf ein Riff gelaufen sein!«Er krächzte vor Aufregung und Erschütterung.»Voll aufgelaufen, bei Gott!»

Bolitho konnte die Augen nicht abwenden. Die Fregatte mußte genau in dem Moment, als sie beim Halsen die Kraft ihrer Vorsegel verloren hatte, auf die Klippe geknallt sein. Um diese paar Meter war es gegangen. Er konnte sich gut vorstellen, was jetzt da drüben für ein Durcheinander herrschte, wie die Männer in den Schiffsraum schwärmten, um das Ausmaß der Havarie festzustellen.

Wenn der Schaden so groß war, daß ein Mast abknickte, dann mußte die Fregatte auch erheblich leckgeschlagen sein, dachte er. Und trotzdem kam sie noch weiter auf, er sah es, seine Augen schmerzten in den flirrenden Sonnenreflexen; da leckte aus dem Buggeschütz eine gelbrote Flammenzunge heraus, und er spürte, wie die Kugel hinter ihm vorbeiheulte und krachend ins Achterdeck schlug wie die Axt eines Riesen.

Tauwerk und Splitter wirbelten über das ganze Deck. Er sah, wie drei Matrosen gegen das Schanzkleid geschmettert wurden; ihre Schreie verloren sich im Wind, und aus ihren zuckenden Leibern schoß das Blut an Deck und zeichnete unheimliche Muster auf die Planken.

Noch eine Kugel — sie schlug in flachem Winkel gegen die Rumpfbeplankung und prallte ab, auf die See hinaus; das Schiff bäumte sich wie ein Pferd, das seinen Reiter abwerfen will.

«Zu den Verwundeten!«brüllte Bolitho.»Mr. Eden soll sie unter Deck schaffen!»

Auf einmal mußte er an Edens Vater in seiner kleinen Offizin denken, wo er Gicht und Magenbeschwerden kurierte. Was der wohl gedacht hätte, wenn er jetzt sehen könnte, wie sein zwölfjähriger Sohn versuchte, einen stöhnenden Matrosen zur Kampanjeleiter zu zerren, wo jeder Fußbreit Wegs von Blut und Schmerzen gezeichnet war!

Verzweifelt sagte Dancer:»Die wollen uns entern!«Aber er zuckte nicht einmal, als eine Kanonenkugel übers Achterdeck flog und ein weiteres Loch in das schon ganz pockennarbige Segel riß.»Das haben wir von unserer ganzen Anstrengung!«schimpfte er.

Bolitho sah sich um. Der Kampfeswille, das Zielbewußtsein der Männer schwanden schnell dahin. Und wer konnte es ihnen verdenken? Die Pegaso hatte jede Bewegung der Sandpiper mitgemacht; sie hatte sich keineswegs überraschen lassen. Sie war aus dem Riffgürtel heraus, und schon sah er die Säbel und Messer in den Händen der Feinde blitzen, die von den Kanonen weg zur Reling rannten, bereit zum Entern. Ihm fiel ein, was Starkie über das Schicksal seiner Offiziere berichtet hatte: Folter und schließlich ein qualvolles Ende.

Er zog seinen Entersäbel und brüllte:»Alle Mann an Steuerbord!«Ungläubig, verzweifelt und stumpf starrten sie ihn an.

Er sprang in die Luvwanten und schwang seinen Entersäbel zur Pegaso hinüber.»Die sollen uns nicht ohne Kampf kriegen!»

Kleine Einzelzüge traten aus dem Gesamtbild heraus. Ein Mann der Sandpiper zog sein Messer und wetzte es an seinem hornigen Handballen, den Blick starr auf die Fregatte gerichtet. Einer kam von Backbord herüber und sah einem anderen in die Augen, wahrscheinlich sein bester, einziger Freund. Kein Wort. Aber seine Miene sprach deutlicher als alle Worte. Eden stand am Niedergang, kalkig weiß im Gesicht, und schon trocknete eines Mannes Blut an seinem Hemd; bald würde auch sein eigenes Blut dort fließen und gerinnen. Dancer. Wie Gold glänzte sein Haar in der Sonne, er schob das Kinn vor, nahm einen Entersäbel vom Deck hoch und stützte sich darauf. Mit der anderen Hand kniff er sich wie mit Klauen in den Oberschenkel, damit ihm der Schmerz die Angst vertreibe.

Ein Mann, der schon beim Entern der Brigg verwundet worden war, lehnte an einem Sechspfünder; sein Bein war dick verbunden, aber mit geschäftigen Händen lud er Pistolen und gab sie an die Kameraden weiter.

Ein Geheul wie von einer Hundemeute tönte von dem dichtbemannten Deck der Pegaso herüber, als sie weiter aufkam und die Schatten ihrer Masten und Rahen über das Wasser hin schon bis zur Brigg reichten, wie um sie einzufangen und zu verschlingen.

Bolitho blinzelte sich den Schweiß aus den Augen. Ungläubig starrte er auf die offenen Stückpforten der Fregatte. Dort zwängte sich doch ein Mann heraus? Und dann noch einer sie klammerten sich beide an das schwarze Rohr, und auch aus den anderen Stückpforten krochen Männer wie Ratten aus der Gosse.

Starkie brüllte:»Die geben das Schiff auf, Sir!«er faßte ihn beim Arm und drehte ihn zu den Netzen hin.»Sehen Sie sich das bloß an!»

Wortlos stand Bolitho neben ihm. Immer mehr Männer sprangen aus den Stückpforten ins Meer und wurden weggewirbelt wie Holzspäne im Strudel einer Wassermühle.

Gauvin, der grimmige Kapitän der Pegaso, mußte Wachen an jedem Niedergang postiert haben; schon bei der irrsinnigen, aussichtslosen Verfolgung mußte er gewußt haben, daß das Leck im Rumpf seines Schiffes tödlich war.

Starkie beobachtete, wie sich der Bug der Fregatte unter dem Gewicht der einströmenden Wassermassen senkte, und wie auf dem Oberdeck, als schließlich auch der letzte begriff, was los war, ein wahres Pandämonium ausbrach.»Hier, ziehen Sie Ihren Rock an!«sagte er zu Bolitho. Seine Stimme war vor Erregung ganz rauh. Er half ihm sogar beim Anziehen und zupfte den Kragen mit den weißen Belägen zurecht.

Er deutete zur Pegaso hinüber, die abzudrehen begann, weil die schwache Ruderkraft dem Druck des einströmenden Wassers nicht mehr gewachsen war.

«Er soll Sie sehen und das ist hoffentlich noch eine Extrastrafe für seine Untaten!»

Bolitho starrte ihn verständnislos an, da fuhr er fort:»Er soll wissen, daß er von einem Midshipman geschlagen worden ist! Von einem Knaben

Bolitho wandte sich ab. Seine Ohren waren voll von den Geräuschen der Selbstvernichtung eines Schiffes, das unter vollen Segeln hilflos herumgeworfen wird. Er hörte, wie die Geschütze aus ihren Halterungen gerissen wurden und schmetternd in das Schanzkleid der anderen Seite schlugen; wie die Spieren an Deck stürzten und die kopflose Mannschaft unter Tauwerk und Leinwand begruben.

Verfremdet hörte er seine eigene Stimme:»Segel kürzen, Martyn. Laß ›Alle Mann‹ pfeifen!»

Er fühlte, wie die Matrosen ihm auf die Schulter klopften, sah sie ihm zulachen und zuwinken. Nicht wenige weinten.

«Deck ahoi!«Sie hatten den einsamen Mann im Masttopp ganz vergessen.»Segel steuerbord voraus, Sir. «Eine ganz kleine Pause, dann:»Das ist die Gorgon

Bolitho winkte» Verstanden «zum Ausguck hinauf und wandte sich wieder nach Luv, wo die Fregatte am Kentern war. Um sie herum war die See voller Treibgut und Trümmer und auf- und niedertauchenden Köpfen. Aber dort, wo die Sonne nicht hinschien, jenseits der Dünung, sah er eine plötzliche Bewegung im Wasser; die messerscharfen Rückenflossen der Haie zogen schon ihre Kreise um das sinkende Schiff. Über eine Meile bis zu nächsten Küste. Sehr zweifelhaft, ob einer der Schwimmer sie erreichen würde.

Er hob das Fernrohr, um nach der Gorgon Ausschau zu halten; die Augen wurden ihm feucht, als er ihren plumpen, schwarzen, braun abgesetzten Rumpf erblickte und die turmhohe Segelpyramide die nächste Landspitze umrunden sah.

Noch eine Sekunde, dachte er, und er würde zusam-menbrechen und seine Gefühle vor den Umstehenden nicht mehr verbergen können.

Da — eine Bullenstimme:»Was, zum Teufel, ist hier los?«Leutnant Tergorren tauchte mit halbem Leib aus der Niedergangsluke empor; mit seinem verquollenen, grauen Gesicht, den von Wein und Schlimmerem verklebten Haaren, sah er wie ein dem Grab entstiegener Leichnam aus.

Bolitho verspürte eine irrsinnige Erleichterung. Ihm war, als müsse er zugleich lachen und weinen; der wüste Anblick dieses Mannes, der sich während des ganzen Kampfes hilflos in seiner Koje gewälzt hatte, gab ihm den Rest.

Mit bebender Stimme antwortete er:»Ich bitte um Entschuldigung, daß wir Sie gestört haben, Sir.»

Tergorren starrte ihn an und versuchte, mit seinen wütenden, blutunterlaufenen Augen wenigstens nicht zu schielen.

«Gestört?»

«Aye, Sir. Aber wir hatten ein Seegefecht.»

Gelassen sagte Starkie:»Holt Mr. Eden. Ich fürchte, dem Leutnant wird wieder schlecht!»

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