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Etwa zwei Monate vor Beginn des Schuljahrs waren Dinge geschehen, die in Meadowbank unerwartete Rückwirkungen haben sollten.

Zwei junge Männer saßen rauchend im Palast zu Ramat und sprachen über die Zukunft. Der eine hatte einen glatten olivfarbenen Teint und große melancholische Augen. Es war Prinz Ali Yusuf, der Scheich von Ramat, einem kleinen, aber ungeheuer reichen Staat im Nahen Osten. Der andere junge Mann hatte sandfarbenes Haar und Sommersprossen; er besaß kein Privatvermögen und lebte von dem (allerdings sehr ansehnlichen) Gehalt, das Seine Hoheit, Prinz Ali, seinem Privatpiloten zahlte. Obwohl sie gesellschaftlich nicht auf derselben Stufe standen, benahmen sich beide unzeremoniell und natürlich. Sie hatten die gleiche englische Public School besucht und waren seit ihrer Schulzeit eng befreundet.

»Sie haben auf uns geschossen«, sagte Prinz Ali fast verwundert.

»Geschossen haben sie, das steht fest«, entgegnete Bob Rawlinson.

»Und sie haben auf uns gezielt – sie wollten uns abschießen!«

»Zweifellos! Die Schweine!«

Ali dachte einen Augenblick nach.

»Es hat wohl keinen Zweck mehr, es noch einmal zu versuchen?«

»Ich fürchte, dass wir diesmal nicht mit heiler Haut davonkommen würden. Wir haben zu lange gewartet, Ali, das ist das Unglück. Du hättest schon vor zwei Wochen gehen sollen – ich habe dich gewarnt.«

»Man lässt sein Land nicht gern im Stich – man möchte nicht einfach so fortlaufen«, erklärte der Herrscher von Ramat.

»Versteht sich. Aber denk daran, was Shakespeare über diejenigen gesagt hat, die ihr Leben retten, um später für ihr Vaterland kämpfen zu können.«

»Wenn man bedenkt, was man für dieses Land getan hat«, sagte der junge Prinz erregt. »Wir haben Schulen und Krankenhäuser gebaut, wir haben einen Gesundheitsdienst eingeführt, wir…«

Bob Rawlinson unterbrach die Aufzählung.

»Vielleicht könnte die Botschaft etwas unternehmen?«

Ein ärgerliches Rot stieg in Ali Yusufs Wangen.

»Was? Ich soll in eurer Botschaft Schutz suchen? Ausgeschlossen! Dann würden die Rebellen wahrscheinlich das Haus stürmen, denn diplomatische Immunität bedeutet diesem Gesindel nichts. Und abgesehen davon wäre gerade das für mich unmöglich, da man mir ja dauernd vorwirft, dass ich zu stark westlich orientiert sei.« Er seufzte tief. »Mir ist das alles unbegreiflich, Bob…« Er war verwirrt und unsicher, und man hätte ihn in diesem Augenblick jünger als fünfundzwanzig Jahre geschätzt.

»Mein Großvater war ein grausamer Herrscher, ein echter Tyrann. Er besaß Hunderte von Sklaven, die er schlimm behandelte. Im Krieg mit benachbarten Stämmen wurden die gefangenen Feinde unbarmherzig gefoltert und hingerichtet. Alle zitterten, wenn sein Name nur erwähnt wurde. Und doch ist er zur Legende geworden. Noch jetzt wird er bewundert und verehrt. Achmed Abdullah der Große! Und ich? Was habe ich getan? Ich habe Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäuser gebaut, meinem Volk alle Wünsche erfüllt. Und was ist der Dank? Würden sie eine Schreckensherrschaft wie die meines Großvaters vorziehen?«

»Es sieht so aus – höchst unfair, aber was kann man tun?«, erwiderte Bob Rawlinson.

»Aber warum, Bob? Warum?«

Bob Rawlinson seufzte. Es fiel ihm nicht leicht, seine Gefühle in Worten auszudrücken.

»Er – er hat es verstanden, sich in Szene zu setzen, er war – wie soll ich das nur erklären –, er war so dramatisch.«

Bob betrachtete seinen Freund Ali, der keineswegs dramatisch war. Ali war ein lieber, anständiger Kerl, ruhig und zuverlässig, und deshalb hatte Bob ihn gern. Ali hasste es aufzufallen, und brutale Gewalt ging ihm, wie den meisten Menschen in England, gegen den Strich. Leider schien man von einem orientalischen Herrscher ein Gemisch von Brutalität und Prunk zu erwarten.

»In einem demokratischen Staat …«, begann Ali.

»Demokratie!« Bob schwenkte verächtlich seine Pfeife. »Dieses Wort bedeutet heutzutage in jedem Land etwas anderes, aber niemals das, was die Griechen ursprünglich darunter verstanden haben. Falls sie dich wirklich absetzen wollen, wird sich irgendein aufgeblasener Frosch zum Staatsoberhaupt ernennen, alle umbringen, die es wagen, anderer Meinung zu sein als er, und von einer demokratischen Regierung sprechen. Wahrscheinlich wird es dem Volk sogar gefallen. Das Blut wird in Strömen fließen, und für Abwechslung und Aufregung wird gesorgt sein.«

»Aber wir sind doch keine Wilden! Wir sind zivilisierte Menschen!«

»Es gibt verschiedene Arten von Zivilisation«, entgegnete Bob zögernd. »Ich persönlich glaube, dass die meisten von uns im Grunde genommen noch Barbaren sind.«

»Vielleicht hast du Recht«, erwiderte Ali düster.

»Gesunder Menschenverstand ist heute nicht mehr gefragt«, erklärte Bob. »Du weißt ja selbst, dass ich kein Geistesheroe bin, Ali, aber ich bin überzeugt davon, dass der Welt nichts fehlt außer ein bisschen Vernunft.« Er legte seine Pfeife hin und richtete sich auf.

»Doch das alles ist jetzt unwichtig, im Moment kommt es nur darauf an, dich sicher aus dem Land zu schaffen. Kannst du dich wenigstens auf einige deiner Offiziere verlassen?«

Prinz Ali Yusuf schüttelte traurig den Kopf.

»Noch vor zwei Wochen hätte ich diese Frage bejahen können, aber heute – heute bin ich leider nicht mehr ganz so sicher.«

Bob nickte verständnisvoll.

»Tieftraurig – und in deinem Palast fühlt man sich auch höchst unbehaglich.«

»Spione gibt es in allen Palästen«, stellte Ali unbewegt fest. »Sie hören alles, sie wissen alles.«

»Selbst unten beim Flugzeugschuppen…«, Bob unterbrach sich. »Dem alten Achmed bleibt nichts verborgen, er muss einen sechsten Sinn haben. Er hatte neulich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, ging zu deinem Flugzeug und hinderte einen Mechaniker, den wir bisher für vertrauenswürdig gehalten hatten, daran, den Motor zu beschädigen. Wie dem auch sei, wenn wir versuchen wollen, dich mit heiler Haut hier herauszuschmuggeln, müssen wir es sehr bald tun.«

»Ich weiß, ich weiß. Wenn ich bleibe, werden sie mich ermorden.« Er sprach ohne Zeichen von Erregung oder Panik, fast als handelte es sich um einen anderen.

»Ich muss dich warnen, Ali! Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass wir es nicht schaffen. Du weißt, dass allein die nördliche Route infrage kommt, weil wir nur dort vor Angriffen der Jagdflugzeuge sicher sind. Leider ist es um diese Jahreszeit sehr gefährlich, über die Berge zu fliegen…«

Ali sah seinen Freund traurig an.

»Ich dürfte es nicht zulassen, dass du dich in diese Gefahr begibst, Bob.«

»Zerbrich dir meinethalben nicht den Kopf, Ali. So hab ich’s nicht gemeint. Ich bin ganz unwichtig, außerdem werde ich wahrscheinlich sowieso jung sterben, denn ich lasse mich immer auf die verrücktesten Abenteuer ein. Nein, ich denke im Moment nur an dich, und ich wage nicht, dich in der einen oder anderen Richtung zu beeinflussen. Wenn du dich nun doch auf einen Teil der Armee verlassen könntest…«

Ali schüttelte den Kopf, dann sagte er: »Ich hasse den Gedanken an Flucht, aber welchen Sinn hat es, sich zum Märtyrer zu machen und sich vom Pöbel in Stücke reißen zu lassen?« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Also gut. Versuchen wir unser Glück! Wann?«

Bob zuckte die Achseln.

»So bald wie möglich. Wir müssen dich unter irgendeinem Vorwand zum Flugplatz bringen… Vielleicht könnten wir behaupten, dass du den Bau der neuen Straße nach Al Jasar von der Luft aus besichtigen willst? Ich sorge dafür, dass die Maschine startklar ist, wenn du heute Nachmittag in deinem Wagen zum Flugplatz kommst. Gepäck können wir natürlich nicht mitnehmen.«

»Das weiß ich, und ich will mich auch gar nicht belasten. Nur etwas möchte ich keinesfalls zurücklassen…«

Er lächelte geheimnisvoll und listig, und das Lächeln veränderte sein Gesicht. Er schien plötzlich ein anderer Mensch zu sein. Mit dem modernen jungen Mann, der in England zur Schule gegangen war, hatte er kaum noch Ähnlichkeit.

»Du bist mein bester Freund, Bob, dir werde ich kurz etwas zeigen.«

Er zog einen kleinen Wildlederbeutel unter seinem Hemd hervor.

»Was ist das?«, fragte Bob erstaunt.

Ali öffnete den verschnürten Beutel und schüttete seinen Inhalt vorsichtig auf den Tisch.

Bob hielt einen Augenblick den Atem an, dann stieß er einen leisen, bewundernden Pfiff aus.

»Großer Gott! Sind die echt?«

»Natürlich sind sie echt«, erwiderte Ali belustigt. »Der größte Teil davon hat meinem Vater gehört. Er pflegte der Sammlung jedes Jahr neue Steine hinzuzufügen – ich tue das übrigens auch. Wir lassen die Edelsteine von Vertrauensmännern in vielen Städten kaufen – in London, in Kalkutta, in Johannesburg. Es ist in meiner Familie Tradition, sich auf diese Weise auf einen Notfall vorzubereiten. Sie müssen etwa drei viertel Millionen Pfund wert sein«, schloss er in sachlichem Ton.

»Dreiviertel Millionen?« Bob stieß einen weiteren Pfiff aus, dann ließ er die Edelsteine nachdenklich durch seine Finger gleiten.

»Unwahrscheinlich! Wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Ein merkwürdiges Gefühl, diese kostbaren Steine in der Hand zu haben.«

»Ja.« Ali nickte, und wieder trat der listige Ausdruck in seine Augen. »Und es ist noch viel merkwürdiger, dass der Besitz von wertvollen Steinen den Menschen verändert. Eine Spur von Blut, Gewalt und Mord folgt den Juwelen und ihren Eigentümern nur zu oft. Vor allem Frauen sind ganz verrückt nach Edelsteinen, und nicht nur um ihres Wertes willen. Sie wollen sich damit schmücken, beneidet und bewundert werden… nein, einer Frau würde ich die Steine niemals anvertrauen, aber bei dir sind sie sicher.«

»Bei mir?«

Bob starrte ihn entsetzt an.

»Ja, denn sie sollen meinen Widersachern unter gar keinen Umständen in die Hände fallen. Ich weiß nicht, wann der Aufstand gegen mich stattfinden wird. Vielleicht ist er schon für heute geplant, vielleicht werde ich den Flugplatz nicht mehr erreichen. Nimm meine Juwelen an dich, Bob, und versuche sie zu retten.«

»Aber ich weiß wirklich nicht… ich verstehe nicht. Was soll ich damit anfangen?«

»Du musst versuchen, sie irgendwie aus dem Land zu schaffen.«

»Soll ich mir den Lederbeutel um den Hals binden?«, fragte Bob unglücklich.

»Vielleicht. Aber wahrscheinlich wird dir noch ein sichererer Weg einfallen, sie nach Europa zu schicken.«

»Du irrst dich, Ali. Ich habe keine Ahnung, wie man so etwas anfängt.«

Ali lehnte sich gelassen in seinen Sessel zurück und lächelte amüsiert.

»Du hast einen hellen Kopf, und du bist ehrlich. Du hast auch oft gute Ideen, daran erinnere ich mich noch aus unserer Schulzeit… Ich werde dir Namen und Adresse eines mir bekannten Juwelenhändlers geben, mit dem du dich in Verbindung setzen wirst, falls ich umkommen sollte. Schau nicht so unglücklich drein, Bob. Ich weiß, dass du dein Bestes tun wirst, um meine Wünsche zu erfüllen. Niemand wird dir Vorwürfe machen, wenn es dir wider Erwarten nicht gelingen sollte. Alles liegt in Allahs Hand, sein Wille wird geschehen.«

Bob schlug die Hände vors Gesicht.

»Das ist doch Irrsinn, Ali!«

»Durchaus nicht. Aber ich bin nun einmal Fatalist.«

»Dreiviertel Millionen Pfund, Ali! Glaubst du nicht, dass Steine von diesem Wert selbst einen grundanständigen Menschen in Versuchung führen können?«

Ali Yusuf sah seinen Freund liebevoll an.

»Sonderbarerweise habe ich diesbezüglich nicht die geringsten Sorgen«, sagte er.



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