9. Der Priester

Am Morgen aß Liz zwei Weetabix und kippte einen großen Becher Kaffee in sich hinein, um sich auf den Weg zum Tropical Bird Park zu machen. Ich versprach ihr, dass wir sie um fünf Uhr mit dem Bus abholen würden. An der Tür gab sie mir einen Kuss, der keuscher nicht hätte ausfallen können und den Danny im Flur stehend mit einer Mischung aus Nachdenklichkeit und unterdrückter Freude beobachtete. Ich glaube, er begann sich an die Tatsache zu gewöhnen, dass seine Mutter und ich nicht wieder zusammenkommen würden. Ich glaube sogar, dass er allmählich zu vergessen begann, wie sie aussah und wie sie sich anfühlte. Außerdem mochte er Liz sehr.

Mein Gott, dachte ich, während Liz zur Straße ging. Vergib uns unsere Verfehlungen und vergib uns, dass wir so verdammt stur und egoistisch sind.

»Ich würde sagen, dass wir als Erstes in der Küche die alte Farbe abkratzen«, sagte ich zu Danny. »Wir können in der Küche anfangen und uns dann vorarbeiten.«

»Kann ich nicht wieder Krebse suchen?«

»Ich dachte, du würdest mir bei der Arbeit helfen.«

Danny machte einen unerfreuten Eindruck. »Ja ... aber ich kann nicht gut kratzen.«

»Na gut. Aber bleib in der Nähe vom Strandcafe. Lauf nicht weg und geh nicht ins Wasser. Du kannst ein wenig plantschen, aber mehr nicht.«

Er nickte, ohne mich anzusehen. Vielleicht hörte er mir gar nicht zu. Oder er hörte mir zu und verstand bloß nicht alles, was ich ihm sagte. Wenn man erwachsen ist, setzt man so viele Dinge voraus. Man setzt voraus, dass man es schon schaffen wird, dass man attraktiv ist, dass die Kinder einen verstehen, wenn man ihnen etwas sagt. Vermutlich hatte

Danny irgendetwas gehört, was dem entsprach, was er am liebsten machen wollte.

Ich sah ihm nach, wie er über den Rasen lief, vorbei am Fischteich und durch das Gartentor. Ich sah, wie die Sonne sein frisch gewaschenes Haar leuchten ließ, während er auf dem Weg an den Cottages entlang weiterlief. Man bekommt nicht oft die Gelegenheit, jemanden so sehr zu lieben wie den eigenen Sohn. Ich hatte diese Chance, und dafür war ich dankbar.

Den ganzen Morgen über verbrachte ich damit, die Fensterrahmen mit beißendem gelblichen Lösungsmittel zu bestreichen und in mühseliger Kleinarbeit uralte Farbe abzulösen. Unter der obersten schwarzen Farbschicht waren mindestens vier bis fünf alte Lagen Farbe, die ich alle abtrug - grün, beige, sonderbar rosa, bis ich das nackte graue Metall erreicht hatte. Diese monotone Arbeit hatte etwas sehr Therapeutisches an sich. Gegen elf Uhr war der größte Teil des großen Rahmens fertig, und ich beschloss, mich mit einem Bier und einem Sandwich zu belohnen.

Am Strand entdeckte ich Danny. Er hatte offenbar verstanden, was ich ihm gesagt hatte, weil er nur wenige Meter vom Strandcafé vor einem Tümpel zwischen den Felsen hockte und Krebse mit einem Stock ärgerte. Ich würde ihm eine Predigt halten müssen, dass man Tieren gegenüber keine Grausamkeiten begehen soll. Ich betrat den Garten des Cafés und wählte einen Tisch, von dem aus ich Danny sehen konnte. Kurz darauf kam Doris Kemble nach draußen.

»Was soll's sein?«

»Ein Lager und eines Ihrer Garnelensandwiches, bitte. Ach ja ... und einen Käsetoast für Sindbad den Seefahrer. Und eine Coca Cola.«

Sie notierte meine Bestellung auf einem kleinen Block. Ohne mich anzusehen, sagte sie: »Sie hatten Schwierigkeiten im Haus.«

»Ja«, sagte ich. »Sie haben bestimmt das mit Harry Martin gehört.«

»Ich habe auch gehört, was Keith Belcher mit Ihrem Wagen gemacht hat.«

Ich verzog das Gesicht. »Ich habe versucht, Harry davon abzuhalten, sich auf dem Speicher umzusehen. Aber er hat nicht auf mich hören wollen. Er sagte, Brown Jenkin habe seinen Bruder geholt, und darum sei er im Recht.«

Doris Kemble schauderte sichtlich. Dann setzte sie sich zu mir an den Tisch, als könne sie sich nicht länger auf den Beinen halten.

»Gesehen haben Sie Brown Jenkin nicht etwa?«

»Ich weiß nicht, vielleicht schon«, sagte ich vorsichtig. »Ich weiß, dass ich irgendeine Ratte gesehen habe.«

»Eine sehr große Ratte? Mit einem menschlichen Gesicht? Und menschlichen Händen?«

»Doris«, erwiderte ich und hielt ihre Hand. »Keine Ratte auf der ganzen Welt sieht so aus.«

»Brown Jenkin ist keine Ratte. Jedenfalls nicht das, was Sie als Ratte bezeichnen würden.«

»Und als was würden Sie ihn sonst bezeichnen?«, fragte ich, dann wandte ich mich kurz ab und rief: »Danny! Beeil dich! Mittagessen!«

Danny stand auf. Er bildete eine schmale Silhouette vor dem glitzernden Sonnenlicht, das vom Sand, von den Pfützen und den Wellen reflektiert wurde.

»An Ihrer Stelle«, sagte Doris Kemble, während das Sonnenlicht jedes Staubkorn auf ihren Brillengläsern erkennen ließ, »würde ich den Jungen nehmen, und dann würde ich das Haus verlassen. Ich würde es denjenigen überlassen, die wissen, wie man mit Geistern und solchen Dingen umgeht. Die sollten das Haus niederbrennen und das weihen, was dann noch von ihm übrig ist. Es führt nichts Gutes im Schilde, darum. Und ich muss Vera Martin beipflichten, dass sie Ihren Wagen zertrümmert hat, so Leid es mir tut, das zu sagen. Aber Sie hätten niemals zulassen dürfen, dass Harry nach Brown Jenkin sucht.«

Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht die

Geduld zu verlieren und ihr zu sagen, was für ein dämliches altes Tratschweib sie war. Aber ich wusste, dass ich mehr von ihr hatte, wenn ich tolerant und reuig blieb.

»Ich schätze, Sie haben Recht«, sagte ich, während ich meinen Blick auf Danny gerichtet hielt, der über die Steine in Richtung Promenade stieg. »Ich hätte Harry nicht ins Haus lassen dürfen.«

»Er hat immer gesagt, dass Brown Jenkin seinen Bruder geholt hat«, sagte Doris und schüttelte den Kopf. »Er hat es so oft gesagt, dass Vera es ihm verbieten musste. Sie hatte ihm gedroht, zu gehen und nie wiederzukommen, wenn er noch einmal davon sprach.«

»Doris«, beteuerte ich. »Es ist nicht meine Schuld. Keine zehn Pferde hätten ihn davon abhalten können.«

»Tja. Jetzt ist es zu spät. Der arme Harry ist tot, und das war's. Keine Krittelei dieser Well wird ihn zurückbringen.«

Ich wartete eine Weile, dann sagte ich: »Wenn jeder in Bonchurch sich schon immer solche Sorgen wegen Brown Jenkin gemacht hat... warum hat dann noch niemals jemand etwas unternommen?«

Doris Kemble reagierte mit einem bitteren Lächeln. »Man kann nur schwer eine Kreatur fangen, die nicht immer vorhanden ist.«

»Ich verstehe nicht.«

»Könnten Sie heute Mittag zum Bahnhof gehen und den Zug von gestern erwischen?«

»Natürlich nicht.«

»Könnten Sie heute Mittag zum Bahnhof gehen und den Zug von morgen erwischen?«

»Nein.«

»Genau deshalb können Sie auch nicht Brown Jenkin fangen. Er war und er wird sein. Aber er ist nur sehr selten.«

»Doris, können Sie mir irgendetwas über den jungen Mr. Billings erzählen?«

»Was?«, fragte sie mit einem aggressiven Unterton.

»Sie sagten, dass Ihre Mutter viel über die Billings wusste.«

»Ja, sicher. Ich habe gesagt, dass sie im Fortyfoot House geputzt hat. Und was sie nicht über die Billings wusste, war es auch nicht wert, gewusst zu werden.«

»Hat sie jemals Brown Jenkin erwähnt?«

»Nicht oft. Sie machte das nicht so gerne. Jeder in Bonchurch weiß von Brown Jenkin. Einige sagen, dass es stimmt, andere halten es für Unsinn. Wir haben hier ein Sprichwort, wenn jemand zu viel getrunken hat: >Er hat Brown Jenkin gesehen.< Sie wissen schon, anstelle von rosa Elefanten.«

»Und was glauben Sie?«

Doris nahm ihre Brille ab. Ihre Augen wirkten müde und matt, ihre Wangen waren rissig. »Ich habe Brown Jenkin nie selbst zu Gesicht bekommen. Aber als ich jung war, sagten viele meiner Freunde, sie hätten ihn gesehen. Und dann war da noch Helen Oakes, meine beste Freundin zu jener Zeit. Eines Tages verschwand sie, und niemand wusste, was mit ihr geschehen war. Man gab ihrem Vater die Schuld, er wurde zweimal verhört, aber niemand konnte irgendetwas beweisen. Also ließen sie ihn wieder laufen. Es hat ihn trotzdem in den Ruin getrieben. Er musste sein Geschäft verkaufen und wegziehen. Ich habe gehört, dass er sich kurz nach dem Krieg erhängt haben soll.«

»Aber was hat es mit dem jungen Mr. Billings auf sich?«, hakte ich nach.

Sie machte eine Pause und dachte nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Es bringt nichts, Geschichten über Leute zu erzählen, die seit langem tot sind. Vor allem Geschichten aus zweiter und dritter Hand. Das bringt ganz und gar nichts.«

»Vielleicht doch«, sagte ich. »Ich glaube, wenn wir verstehen könnten, was in der Vergangenheit geschehen ist, dann sind wir vielleicht auch in der Lage zu verstehen, was heute im Fortyfoot House geschieht.«

Doris Kemble setzte ihre Brille wieder auf und sah mich eindringlich an. »Meine Mutter hat gesagt, dass der junge Mr. Billings Dinge wusste, die er nicht hätte wissen sollen. Er ist an Orte gereist, an die kein Mensch jemals reisen sollte. Und er hat Dinge gesehen, die kein Mensch jemals sehen sollte. Er hat irgendeinen Pakt geschlossen, der mit dem Leben unschuldiger Kinder bezahlt werden musste. Darum wollte ich als Kind nie in der Nähe des Fortyfoot House spielen, und darum gehe ich auch heute noch niemals dorthin.«

»Hat Ihre Mutter gesagt, was das für ein Pakt war und mit wem er ihn geschlossen haben könnte? Hat sie Ihnen irgendeinen Hinweis gegeben?«

Doris Kemble sagte: »Ich mache jetzt Ihre Sandwiches fertig. Da kommt Ihr Junge.«

Ich umfasste ihr Handgelenk.

»Bitte, Doris. Nur ein Ja oder ein Nein. Hat Ihre Mutter Ihnen gesagt, was das für ein Pakt war?«

Sie wartete geduldig, bis ich sie wieder losließ. »Jeder hat nur geraten, es war ein Rätsel. Einige sagten, es sei der Teufel gewesen, aber andere glauben, es sei etwas viel Schlimmeres gewesen. Keiner weiß etwas Genaues.«

Ich ließ sie los. »Tut mir Leid«, sagte ich.

»Keine Ursache«, erwiderte sie. »Das Haus kann jeden verrückt machen.«

Danny kam zum Tisch und setzte sich. »Ich habe sechs Krebse gefangen. Ich habe sie wieder laufen lassen und ich habe ihnen nicht die Beine ausgerissen.«

Ich strich durch sein Haar. »Du warst ja richtig gnädig. Wie wär's mit einem Käsetoast?«

Wir aßen zu Mittag und sahen hinunter zum Strand. Wir sprachen nicht viel, stattdessen genossen wir den Wind und das Meeresrauschen. Nur Doris Kemble verdarb mir die Laune, weil sie mich unablässig so stechend ansah, als wolle sie mir unbedingt noch etwas sagen. Zweimal ertappte ich sie dabei, wie sie zu mir sah und sich auf die Unterlippe biss.

Als wir fertig waren, bezahlte ich und sagte: »Wenn Ihnen sonst noch etwas einfällt, werden Sie es mir doch sagen, oder?«

Sie nickte. Sie tippte die Preise für unser Essen in die

Kasse, und als sie mir das Wechselgeld reichte, sagte sie mit zitternder Stimme: »Es heißt, dass der junge Mr. Billings verheiratet war. Jedenfalls sagte meine Mutter das. Er war mit einer sehr jungen Frau verlobt, die sein Vater aus London mitgebracht hatte, einer Waise, Familienname Mason. Ein sehr sonderbares, wildes Mädchen.«

Ich wartete, das Wechselgeld noch immer in der Hand. »Und?«, fragte ich schließlich.

»Es war so ... der junge Mr. Billings hatte einen Sohn. Aber mit dem Sohn stimmte etwas nicht. Niemand hat ihn jemals gesehen. Die meisten hier dachten, er sei tot, aber niemand hat gesehen, dass er beerdigt wurde. Einige Leute haben getuschelt, dass der Sohn des jungen Mr. Billings behaart und seltsam war. Einige meinten, er sehe wie eine Ratte aus. Manche Leute sagten, der Kerl mit dem braunen Fell im Gesicht, das sei sein Junge, aber genau wusste das niemand.«

»Brown Jenkin«, sagte ich fast tonlos.

Doris Kemble nickte, ihre Lippen hatte sie fest zusammengepresst. Ihr Gesicht glich einer zerschlagenen Fensterscheibe.

»Meine Mutter hat oft davon erzählt, bevor sie starb. Sie war 84, und sie war ein wenig daneben. Sie dachte immer, sie befinde sich wieder in der Zeit, als sie das Haus sauber machte. Der junge Mr. Billings war da ja schon lange tot. Aber die Geschichten, die die Leute ihr erzählten ... Ich würde schon sagen, dass sie bei ihr einen ziemlichen Eindruck hinterlassen haben. Manchmal sprach sie so über den jungen Mr. Billings, als habe sie ihn sehr gut gekannt. Und Brown Jenkin ebenfalls. Brrrr! Mich schaudert, wenn ich nur daran denke.«

»Das kann wohl sein«, pflichtete ich ihr bei. Zur gleichen Zeit dachte ich darüber nach, ob es stimmen konnte, dass das Ratten-Ding der Sohn des jungen Mr. Billings war.

»Können wir gehen?«, fragte Danny ungeduldig.

Aus irgendeinem Grund sah ich aber nicht zu ihm, sondern zu den Cottages, die die Küste säumten und von denen das Strandcafe das letzte Gebäude in der Reihe war. Am Ende des steilen Weges, der vom Fortyfoot House hinabführte, glaubte ich, im Schatten der Bäume einen Mann zu sehen, einen Mann mit einem blassen Gesicht, der komplett in Schwarz gekleidet war. Er sah eindringlich zu uns herüber, seine Augen hatte er zusammengekniffen, damit er uns auf die große Entfernung deutlicher sehen konnte.

Doris Kemble hob den Kopf und bemerkte meine Blickrichtung. Sie drehte sich in die gleiche Richtung, doch genau in dem Augenblick verschwand der Mann, als sei er nichts weiter gewesen als eine optische Täuschung.

Im gleichen Moment kippte direkt hinter Doris' Kopf ein Krug im Regal um und fiel zu Boden, wo er in Stücke zersprang. Eine beunruhigende innere Stimme sagte mir, dass es zwischen dem Verschwinden des Mannes und dem zerbrochenen Krug einen Zusammenhang gab.


Ich nahm den Nachmittag frei, um mit Danny zusammen einige Nachforschungen anzustellen. Hand in Hand spazierten wir auf der kilometerlangen Promenade bis nach Ventnor. Es war ein erfreulicher warmer Tag, das Meer war strahlend blau, und die Möwen kreisten laut schreiend über den Klippen. Wir gingen einen steilen Pfad hinauf, der durch Büsche und Kalkstein führte, bis wir einen Parkplatz und die ersten Seitenstraßen von Ventnor erreichten.

Ventnor hatte nicht viel zu bieten: eine typische britische Küstenstadt mit Bushaltestelle und einem Kino, aus dem man eine Bingohalle gemacht hatte, mit Geschäften, die prallvoll gefüllt waren mit Wasserbällen und Strohhüten und Eimer-und-Schaufel-Sets. Aber es gab eine Pfarrkirche, St. Michael's, und eine Bibliothek - und mehr brauchte ich nicht.

In der engen sonnendurchfluteten und viel zu warmen Bibliothek, die nach Lavendelbohnerwachs roch, saß ich in einer Ecke und studierte das Fach GEISTER und OKKULTE PHÄNOMENE. Ich las über das schottische Schloss im Königreich Fife, in dem einmal im Jahr Blut über die Steintreppe strömte und die große Halle überflutete. Ich las über den

Mann ohne Gesicht, der den Trost seiner vor langer Zeit verstorbenen Mutter suchte und deshalb in einem kleinen Cottage in Great Ayton in Yorkshire erschien.

Ich suchte auch unter ZEIT und REIATTVITAT. Das meiste, was ich entdeckte, war so geheimnisvoll, dass ich es nicht mal im Ansatz verstand, auch wenn sich in The Arrow of Time einige interessante Passagen über alternative Realitäten fanden und darüber, warum es wissenschaftlich gesehen möglich ist, dass ein und dasselbe kosmische Szenario mehrere verschiedene, aber parallele Konsequenzen haben kann. Mit anderen Worten: Die Indianer hätten sich zur Wehr setzen und Amerika für sich behalten können. Und Hitler hätte ein weiset und gütiger Kanzler sein können, der Europa Frieden und Wirtschaftswachstum bescherte.

Ganz am Ende des Regals zum Thema ZEIT stieß ich auf eine von Eselsohren geprägte Ausgabe von National Geographie. Sie war vom Juni 1970, in Plastik eingeschlagen und trug einen gelben Aufkleber mit der Aufschrift ZEIT & SUMERISCHE ANTIKE, S. 85. Ich schlug die Zeitschrift auf und suchte den Artikel - >Zikkurat-Magie im antiken Sumer< von Professor Henry Coldstone II. Es ging um die Zikkurats von Babylon, die terrassenartig angelegten Türme, die rund um Ur am Euphrat erbaut worden waren.

Nicht das Thema das Artikels weckte meine Aufmerksamkeit, sondern ein grobkörniges Schwarzweißfoto mit der Unterzeile: >Sumerischer Tempel, der im August 1915 von den Türken niedergerissen wurde, weil seine Form den örtlichen Bey störte.<

Vom Tempel war wegen der schlechten Qualität des Fotos kaum etwas zu erkennen. Aber etwas an seiner Silhouette war äußerst vertraut, an der Art, wie seine Winkel dem Auge einen Streich spielten, und an den finsteren und unnatürlichen Perspektiven.

Ich hätte alles Geld - das ich nicht mehr besaß - darauf verwetten können, dass es sich um ein Foto des Dachs von Fortyfoot House handelte.

Ich überflog den Rest des Artikels in aller Eile. Die Bibliothek wurde jeden Moment geschlossen, während eine üppige Frau in einem grauen Twinset und mit Brille mich vom Tresen aus beobachtete, als wolle ich ein Buch stehlen.

Professor Coldstone stellte die These auf, dass im antiken Irak mehrere bedeutende Zikkurats errichtet worden waren, die - obwohl aus massivem Stein gebaut - in der Lage waren, ihre räumlichen Dimensionen zu ändern, und die die Babylonier benutzt hatten, um von einer Welt in die andere zu reisen.

Die Babylonier glaubten an die Existenz unendlich vieler antiker Zivilisationen, in die man sich unter Anwendung bestimmter astrogeometrischer Formeln begeben konnte, die auf den Mustern der wichtigsten Konstellationen basierten. Mathematiker der Neuzeit waren trotz des Einsatzes von Computern, die präzise Bewegungen quer durch das gesamte Universum berechnen konnten, bislang nicht in der Lage gewesen, diese Formen wieder zu erschaffen, weil sie so viele scheinbar absurde und mathematisch unmögliche Faktoren enthielten.

Professor Coldstone führte aus, dass »die Zivilisation der Sumerer auf Wissen basierte, das von einer anderen Welt jenseits der Zikkurats stammte«. Die Keilschrift der Sumerer wies keinerlei Übereinstimmungen mit irgendeiner anderen Schrift dieser Erde auf, auch wenn viktorianische Übersetzer versucht hatten, zu zeigen, dass es sich um nichts anderes als gekippte vereinfachte Piktogramme handelte. Die Götter der Sumerer und ihre Legenden zeigten keine religiösen oder anthropologischen Verbindungen zu irgendeiner anderen menschlichen Religion oder Glaubensrichtung. Bereits um 3500 vor Christus berichteten sie mit einer unheimlich anmutenden Selbstverständlichkeit von einem Ort, »an dem keine Tage gezählt werden« - ein Ort, den ihre Priester und Gelehrten vergleichsweise problemlos erreichen konnten, wenn auch nicht immer ohne Risiken. Einige der Priester verfielen durch das, was sie jenseits der Zikkurats zu sehen bekamen, dem Wahnsinn. Es gab sogar ein spezielles Symbol für den, »der gesehen hat, was jenseits wartet«. Nicht, was jenseits »liegt« oder »lebt«, sondern »wartet«. Worauf dieses Unbekannte wartete, dazu sagte Professor Coldstone nichts.

Über den von den Türken zerstörten Tempel fand ich nur wenig, lediglich eine Notiz des Bey, die besagte: »Er ist ein Zentrum des Unbehagens. In der Nacht sehen wir Lichter und hören Stimmen in Sprachen, die wir nicht verstehen können. Da sein Fortbestand die türkische Kontrolle über dieses Gebiet zu gefährden droht, habe ich angeordnet, den Tempel zu sprengen.«

Ich bat die Frau im grauen Anzug, mir den Artikel zu kopieren. »Sieht interessant aus«, sagte sie, während das grelle Licht des Kopierers die Abstellkammer beleuchtete, in der er gleich neben der Spüle, dem Wasserkessel und einem halben Dutzend Tassen aufgestellt worden war. »Zikkurats.«

»Also eigentlich sind die ziemlich langweilig«, sagte ich, während ich erfolglos versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. Aufgewirbelter Papierstaub sank von der Nachmittagssonne beschienen zu Boden. In der Kinderecke der Bibliothek saß Danny im Schneidersitz auf dem Boden und las eine Kinderfassung von Dracula. »Warum trinken Vampire das Blut von anderen Leuten?«, fragte er mich, während wir die Stufen von der Bibliothek hinuntergingen.

»Weil sie keinen Fischgeruch mögen.«

»Nein, wirklich. Warum trinken sie Blut?«

»Das ist nur eine Geschichte, die dir Angst einjagen soll.«

»Was passiert denn, wenn ein Vampir von jemandem Blut trinkt, der AIDS hat?«

Ich blieb an der Ecke stehen, während ein Bus an uns vorbeifuhr, und sah ihn an. »Wie alt bist du?«

»Sieben.«

»Dann erzähl nicht solche Dinge. Du musst dir keine Gedanken über AIDS machen. Noch nicht, jedenfalls.«

»Aber wenn mich ein Vampir beißt, und der Vampir hat AIDS von jemandem, den er vorher gebissen hat?«

»Und was ist, wenn du mir so viele Fragen stellst, dass mein Kopf explodiert?«

Wir erreichten St. Michael's, eine bescheidene viktorianische Kirche, umgeben von Steinmauern und mit Zypressen im Kirchhof. Es war erkennbar, dass die Kirche einmal auf einem weitläufigeren Grundstück gestanden hatte. Doch ein großer Teil davon war aufgegeben worden, um die Hauptstraße zu verbreitern. So drängten sich zwanzig oder dreißig Grabsteine wie eine Zahnreihe an die Mauer, die dank der größten Bäume im Schatten lag.

In der Kirche, in der es überraschend kalt war, warf jeder unserer Schritte ein lautes Echo. Eine ältliche Frau war mit einer Blumendekoration beschäftigt, der Vikar stand auf einer Holzleiter und tauschte die Nummern der Kirchenlieder aus. Ich ging zu ihm hinüber und sagte: »Guten Morgen.«

Er schob seine Brille so weit herunter, dass er mich über den Rand ansehen konnte. Nach dem ersten Eindruck zu urteilen, schien er nicht älter als vielleicht fünfundvierzig oder fünfzig, aber er war auf dem besten Weg zur Glatze und besaß all die betulichen, übertriebenen Verhaltensweisen eines Mannes im Rentenalter. Er trug eine dicke Tweedjacke und eine abgewetzte grüne Kordhose.

»Bin sofort bei Ihnen«, sagte er, während er die letzte Karte einschob. Dann stieg er von der Leiter und sah mich an. »Kommen Sie wegen der Abflussrohre?«

»Nein, ich wollte Sie nur fragen, ob ich einen Blick auf die Aufzeichnungen der Pfarrei werfen dürfte.«

»Die Aufzeichnungen? Also, das wird ziemlich viel Arbeit werden. Abgesehen von diesem und vom letzten Jahr befinden sie sich alle im Vikariat. Kommt drauf an, welches Jahr Sie suchen.«

»Ich bin nicht sicher, aber ich nehme an, dass es vor 1875 sein muss.«

»Darf ich fragen, was genau Sie suchen, Mr. ...?«

»Williams, David Williams. Ja ... ich suche Daten über eine Hochzeit.«

»Ich verstehe. Vorfahren von Ihnen?«

»Nein, aber Leute, über die ich etwas weiß und über die ich etwas mehr wissen möchte.«

»Das waren doch Leute von hier, oder?«, fragte der Vikar. Dann wandte er sich der alten Frau zu, die noch immer mit den Blumenarrangements beschäftigt war. »Nicht zu viele Gladiolen vor der Kanzel, Mrs. Willis. Ich möchte noch meine Gemeinde sehen können«, rief er ihr so laut zu, dass seine Worte noch geraume Zeit nachhallten.

»Ja, sie waren von hier«, erklärte ich. »Sie lebten in Bonchurch.«

»Und Sie sind sicher, dass sie hier geheiratet haben? Sie hätten auch in Shanklin heiraten können.«

»Richtig, aber ich dachte mir, dass ich einfach hier anfange.«

Er sah auf seine Uhr. »Ich gehe jetzt zurück ins Vikariat. Wenn Sie wollen, können Sie sofort mitkommen.«

Wir verließen die Kirche, überquerten die Straße und gingen dann durch eine schmale Gasse zu einem großen spätviktorianischen Haus, das von Lorbeerhecken und einem beschädigten Holzzaun umgeben war. Zwischen den Steinplatten in der Einfahrt wucherte Unkraut, und die braune Farbe an den Türen und den Fensterrahmen blätterte ab.

»Ich fürchte, es sieht alles ein wenig schäbig aus«, sagte der Vikar, während er die Haustür öffnete. »Für einen Luxus wie Farbe ist heutzutage nicht mehr viel Geld übrig.«

Er führte uns in den Flur mit Kachelboden und brauner Holzvertäfelung.

Ein starker Geruch von Fleisch und Kohl zog durchs Haus, woraufhin Danny die Nase rümpfte und sagte: »Schulessen.«

Ich sagte ihm, er solle ruhig sein, doch der Vikar lachte. »Stimmt genau«, sagte er. »Mir hat das Schulessen immer geschmeckt.«

Eine Frau mit einer geblümten Schürze kam aus der Küche und trug ein Goldfischglas. Ihr Gesicht war so ausdruckslos wie ein Teller.

»Mrs. Pickering«, stellte der Vikar vor, woraufhin die Frau flüchtig lächelte.

»Sie können die Bibliothek benutzen«, fuhr der Vikar fort, während er weiter durch den Flur ging. »Die Aufzeichnungen befinden sich alle dort, allerdings nicht in der chronologischen Reihenfolge. Sie sagten 1875?«

»Um 1875. Ich bin nicht ganz sicher.«

»Kennen Sie die Namen der Eheleute?«

»Ja. Der Bräutigam hieß Billings, die Braut Mason.«

Er blieb stehen. »Billings sagten Sie? Und Mason? Aus Bonchurch?«

»Genau, das Fortyfoot House.«

»Oh«, sagte er abweisend. »Das ist allerdings etwas anderes. Sie ... schreiben darüber?«

»Nein, nein, ich bin Handwerker, ich schreibe nichts. Ich wohne zurzeit im Fortyfoot House. Ich soll es ein wenig flottmachen, damit die Eigentümer es verkaufen können.«

»Sie ... was? Sie machen es ... flott?«

»Sie wissen schon, streichen, tapezieren, renovieren.«

»Ach so«, sagte der Vikar. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich so reagiert habe. Es ist nur so, dass ich gelegentlich äußerst unerwünschte Anfragen über Fortyfoot House erhalte ... von den weniger seriösen Zeitungen, Sie wissen schon. Und von Leuten, die Bücher über schwarze Magie und okkulte Geheimnisse schreiben. Ich versuche nach Kräften, sie davon abzubringen.«

»Ich wusste nicht, dass Fortyfoot House so bekannt ist.«

»Ich glaube, >berüchtigt< wäre das passendere Wort«, erwiderte er. Er öffnete die Tür zur Bibliothek und ließ uns hinein. In dem Raum war es stickig und heiß, und es herrschte eine entsetzliche Unordnung. In Leder gebundene Bücher, Fotoalben und vergilbte Pfarrzeitungen stapelten sich in jedem der Regale, und auf dem ausgefransten Teppich fanden sich noch höhere Türme aus Büchern und Zeitschriften. Eine Katze lag zusammengerollt auf der Fensterbank, das Maul leicht geöffnet, während sie wie im Koma schlief. Gleich lieben ihr stand eine leere Flasche Moet & Chandon, daneben eine afrikanische Elfenbeinstatuette.

»Sie wohnen dort?«, fragte der Vikar.

»Richtig. Mr. und Mrs. Tarrant wollen es so schnell wie möglich in einem verkaufsfähigen Zustand haben.«

»Ah, ja. Tja, das ist auch verständlich. Dieses Haus scheint jedem Unglück zu bringen, der es besitzt.«

»Haben Sie eine Ahnung, warum das so ist?«

Der Vikar nahm seine Brille ab und rieb sich mit dem Handrücken über die Augenbrauen. »Ich habe mich selbst einmal damit beschäftigt. Ich habe mich schon immer für die örtliche Geschichte und für Aberglauben interessiert. Aber über dieses Haus gibt es so viele widersprüchliche Geschichten, dass man nur schwer sagen kann, welche man glauben soll.«

»Aber Sie haben vom jungen Mr. Billings gehört und von der Frau, die er geheiratet hat, dieser Frau namens Mason. Und Sie wissen von Brown Jenkin, oder?«

Mit gesenkter Stimme erwiderte der Vikar: »Wenn man in Ventnor lebt, dann weiß man auch von ihnen. Das ist ein Teil der lokalen Mythologie.«

»Haben Sie dort jemals irgendetwas gesehen? Irgendetwas, das Sie dazu bringen könnte, einiges davon für wahr zu halten?«

Er sah mich eindringlich an: »Darf ich aus Ihrem besonderen Interesse schließen, dass Sie etwas gesehen haben?«

Danny stand am Fenster und streichelte die Katze. »Ich bin nicht sicher, was ich gesehen habe«, antwortete ich dem Vikar. »Mit im Haus lebt zurzeit eine junge Frau. Sie hat sich fast einreden können, dass es Hausbesetzer sind, die sich auf dem Dachboden verstecken und die versuchen, uns Angst einzujagen.«

»Aber Sie glauben das nicht«, sagte der Vikar und strich sein weniges Haar zurück.

»Ich muss sagen, dass es mir schwer fällt, das zu glauben.«

»Sie haben Stimmen gehört? Sie haben grelle, unerklärliche Lichter gesehen?«

»Mehr noch. Ich habe etwas gesehen, das wie eine Ratte aussieht, aber keine Ratte ist. Und ich habe ein Mädchen in einem Nachthemd gesehen, das den Eindruck machte, als sei es tot. Und ich habe jemanden gesehen, der Billings sein könnte; ich bin sogar sicher, dass er es ist. Das Problem ist, das alles wirkt wie eine Halluzination. Es ist immer im gleichen Augenblick wieder vorbei, und ich bin mir nie sicher, ob ich wirklich etwas gesehen oder gehört habe oder ob ich ...«

»... verrückt werde«, führte der Vikar den Satz für mich zu Ende.

»Ja. Ich meine, mein Sohn hat Billings ebenfalls gesehen. Und auch das Mädchen mit dem Nachthemd. Liz ebenfalls. Aber ... ich weiß nicht...«

»Glauben Sie, dass Sie alle die gleichen Halluzinationen haben könnten? Eine Art kollektive Wahnvorstellung?«, fragte der Vikar.

»Ich schätze schon. Ich kenne mich nicht sehr gut mit übernatürlichen Dingen aus oder mit dem Leben nach dem Tod.«

»Tja, so geht es uns allen«, räumte der Vikar ein. »Ach, übrigens, ich heiße Dennis Pickering, aber nennen Sie mich bitte Dennis. Das macht jeder hier. Möchten Sie einen Tee? Meine Frau macht einen schrecklich guten Kümmelkuchen. Und Ihr Sohn ... möchte er vielleicht einen Orangensaft?«

Danny rümpfte die Nase. Für einen Jungen, der mit Pepsi Light und Lucozade Sport groß geworden war, hatte die Vorstellung eines lauwarmen Orangensafts etwas äußerst Unappetitliches.

»Vielleicht möchtest du lieber einen Joghurt?«, schlug Dennis Pickering vor.

Dannys Gesichtsausdruck wechselte von leicht angewidert zu etwas, das an den Glöckner von Notre Dame erinnerte.

»Er hat gerade gegessen«, erklärte ich.

Pickering räumte einen Stapel Papiere und Bücher zur Seite, und wir nahmen Knie an Knie auf dem Rand des verstaubten braunen Ledersofas Platz.

»Da ist noch etwas«, sagte ich ihm. »Etwas, das nur ich gesehen habe und das mich an der Theorie der Massenhysterie zweifeln lässt. Letzte Nacht so gegen zwei Uhr sah ich etwas in einer Ecke an der Decke in meinem Schlafzimmer. Es war zuerst nur ein verschwommenes Licht, aber dann veränderte es sich langsam zu einer Ordensschwester oder einer Nonne. Es war nicht richtig klar zu sehen. Es hat mich zu Tode erschreckt, um ehrlich zu sein. Ich schrie dieses ... dieses Etwas an, und dann verschwand es.«

Pickering nickte nachdenklich. Er legte seine knochigen Hände aneinander, als wolle er beten. Und lange Zeit sagte er gar nichts.

»Sie glauben mir doch, oder?«, fragte ich und lachte nervös. Mit einem Mal kam mir der Gedanke, dass er mir womöglich nicht glaubte und nur überlegte, ob er die Polizei oder die nächste Klapsmühle anrufen sollte.

»Guter Mann!« Er schlug seine Hand auf mein Knie, zog sie dann aber schnell zurück, als er erkannte, dass seine Geste falsch ausgelegt werden könnte. »Ja ... ja, ich glaube Ihnen. Alle meine Vorgänger wussten davon, dass es im Fortyfoot House etwas gibt, was man als »spirituelle Unregelmäßigkeiten bezeichnen könnte. Ich habe lediglich überlegt, was ich Ihnen raten kann und was ich eigentlich tun kann.«

»Gibt es überhaupt irgendetwas, was Sie tun können? Könnte man Fortyfoot House beschwören? Oder können all diese Geister ruhig gestellt werden? In den Filmen geht so was immer.«

Pickering seufzte und sagte: »Ja, in den Filmen geht das immer. Aber das hier ist die Wirklichkeit, Mr. Williams. Die Rastlosen und die, die tot sein sollten, sind in der Realität nicht so einfach zu besänftigen wie in der Fantasie.«

»Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, was diese Störungen verursacht?«, fragte ich ihn.

Er schüttelte fast bedauernd seinen Kopf. »Ich kenne die Geschichte des Fortyfoot House sehr gut. Und ich habe auch Lichter gesehen und Geräusche gehört, die man übernatürlichen Einflüssen zuschreiben könnte. Aber was sie genau sind und was sie wollen ... tja, da habe ich absolut keine Vorstellung. Und auch keiner meiner Vorgänger in dieser Pfarrei konnte etwas dazu beitragen. Es ist so, als lebe man gleich neben einem aktiven Vulkan. Es behagt einem vielleicht nicht, aber man muss sich damit abfinden.«

Ich holte die Kopie hervor, die die Frau in der Bibliothek für mich gezogen hatte. »Ich habe da eine Theorie, na ja, es ist weniger eine Theorie, es ist mehr so ein Gefühl, dass Fortyfoot House an zwei Orten gleichzeitig existiert. Genauer gesagt, in zwei Zeiten gleichzeitig. Hier, sehen Sie. Die alten Sumerer bauten Zikkurats, die ihnen angeblich den Zugang zu einer anderen Welt ermöglichten, die der gleiche Ort war, nur noch viel älter.«

Dennis Pickering faltete die Kopie auseinander. »Das ist äußerst interessant«, sagte er. »Ich habe davon gehört. Angeblich soll es nicht nur eine prähistorische, sondern sogar eine >vormenschliche< Zivilisation in Arabien gegeben haben, die Mnar, deren Hauptstadt Ib war. Einigen Historikern zufolge, wie beispielsweise Dr. Randolph Carter... ah, ja, sehen Sie doch, hier unten wird Carter sogar erwähnt... also, es heißt, dass die Sumerer in der Lage gewesen sein sollen, in der Zeit zurückzureisen, um nach Ib zu gelangen. Möglich gemacht wurde ihnen das angeblich durch bestimmte mathematische Formeln und ungewöhnliche architektonische Strukturen. Es ist faszinierend, wenn auch ein wenig überholt. Ich habe das meiste darüber auf dem College gelernt. Aber es ist meiner Meinung nach sehr suspekt.«

Er nahm seine Brille ab und sah mich an. »Ich kann allerdings nicht sehen, wo der Zusammenhang zum Fortyfoot House sein soll. Meiner Meinung nach ist Fortyfoot House einfach nur eines von diesen Gebäuden, die von der Verderbtheit derer heimgesucht werden, die dort einmal gelebt haben. Und von der Tragödie derjenigen, die dort gestorben sind. Ein klassischer Fall von Heimsuchung. Ich habe sogar selbst schon einen kleinen Artikel darüber geschrieben, Die

Heimsuchung von Fortyfoot House. Er wurde Anfang der siebziger Jahre in der Church Tines veröffentlicht.«

Er gab mir die Kopie zurück. »Reverend John Claringbull war der Vikar von St. Michael's, als Fortyfoot House gebaut wurde. Er kannte Mr. Billings sehr gut. Den alten Mr. Billings, nicht den jungen Mr. Billings. Der alte Mr. Billings war ein bekannter Menschenfreund. Als er beschloss, Fortyfoot House zu bauen, um Waisenkinder aus dem Londoner East End aufzunehmen, stellte ihm Reverend Claringbull jede erdenkliche paslorale Unterstützung zur Verfügung. Es ist alles in seinen Tagebüchern festgehalten, die noch immer hier im Vikariat sind, wo sie auch hingehören. Mit dem Bau von Fortyfoot House lief alles nach Plan, bis der alte Mr. Billings eines Tages aus London ein elternloses Mädchen mitbrachte, das sein Dienstmädchen und seine Köchin und Putzfrau werden sollte. Mr. Billings betrachtete die moralische Errettung dieses Mädchens als eine der größten Herausforderungen seines Lebens - eine Herausforderung, wie sie sich ihm noch nie gestellt hatte. Das Mädchen war vierzehn Jahre alt und hatte seit dem zehnten Lebensjahr als Prostituierte gearbeitet. Dieses Mädchen ... diese junge Frau war jenseits aller Vorstellungskraft verdorben. Es hieß, dass sie in den finstersten Straßenzügen der Londoner Docks aufgewachsen war, zwischen Ratten, Huren, Kriminellen und anderen Menschen, deren moralische Verwerflichkeit Sie sogar noch heute schockieren würde.«

Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er mit seinen Schilderungen fort: »Laut Mr. Billings hatte Dr. Barnardo diese junge Frau aus der Obhut eines namenlosen und verdreckten Wesens gerettet, das im Zentrum aller Rattennester in den Londoner Kaianlagen lebte. Er konnte nicht sagen, ob es sich dabei um eine Frau oder einen Mann handelte, nicht mal, ob es überhaupt menschlich war. In Dr. Barnardos Tagebüchern können Sie nachlesen, dass es in fast völliger Dunkelheit dasaß, umgeben von den Kadavern Tausender großer Kanalratten, von denen einige so alt waren, dass sie schon zu Staub zerfallen waren, während andere erst vor relativ kurzer Zeit ihr Leben gelassen hatten und teilweise mumifiziert waren. Diese junge Frau hatte zu Füßen dieses Wesens gesessen, sie war in schmutzigen Samt gekleidet und hatte - laut Dr. Barnardo - einen grotesken und gutturalen Gesang rezitiert, immer und immer wieder. Auch wenn er den Text nicht verstehen konnte, verspürte Dr. Barnardo unglaubliches Entsetzen, fast so, als sei es ein Gebet an Gevatter Tod persönlich.«

Pickering sah mich nachdenklich an, während er abermals eine Pause machte. »Die junge Frau setzte sich heftig zur Wehr«, sprach er dann weiter, »als Dr. Barnardo sie mitnehmen wollte. Schließlich holte er sich aber Unterstützung in Gestalt von zwei kräftigen jungen Freunden, und sie erwischten sie eines Nachts in der Slugwash Lane, um sie zu Mr. Billings Haus in London zu bringen. Obwohl sie eingeschlossen wurde, versuchte sie zweimal zu entkommen. Schließlich entschied der alte Mr. Billings, sie mit auf die Isle of Wight zu nehmen, auch wenn Fortyfoot House noch längst nicht fertig gestelll war. Er wollte sie nur so weit wie möglich von London fortbringen. Er glaubte, dass er gemeinsam mit Mr. Claringbull aus der Hafendirne eine saubere, anständige und folgsame junge Frau machen könnte.«

»Das Pygmalion-Syndrom«, warf ich ein. »Aus einem Blumenmädchen eine Dame von Welt machen. >Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühn.<«

»Ja, genau«, pflichtete Pickering mir bei. »Leider verliefen die Bemühungen des alten Mr. Billings, die Rolle des Professor Higgins zu spielen, gründlich verkehrt. Ist Ihr Junge sicher, dass er keinen Joghurt möchte? Meine Frau macht ihn selbst.«

»Nein, danke, wirklich nicht.«

»Also, ich muss sagen, dass ich es ihm nicht verübeln kann. Ich hasse ihren Joghurt.«

»Was lief zwischen dem alten Mr. Billings und der jungen Frau aus dem Ruder?«, hakte ich nach.

»Alles, guter Mann, einfach alles! Die junge Frau war so entschlossen und verschlagen und charakterstark, dass Mr. Billings ¿Ar nach kurzer Zeit buchstäblich aus der Hand fraß. Und Mr. Claringbull brachte sie dazu, ihm widerspruchslos zur Seite zu stehen. In Mr. Claringbulls Aufzeichnungen ist das alles sehr lebhaft geschildert. Ihre Lektüre ist wirklich sehr nervenaufreibend. Laut Mr. Claringbull bestand sie fast vom ersten Augenblick darauf, dass Billings Hunderte von Guineen für edle Kleidung und für Schmuck ausgab, und auch wenn sie erst vierzehn war, kleidete und schminkte sie sich wie eine Erwachsene. Sie verlangte, dass er ihr Brandy kaufte, was er auch tat. Und Morphium. Das beschaffte er sich bei Dr. Bartholomew in Shanklin. Sie schlief mitjedem Mann und jedem Jungen, der ihr gefiel. Und sogar« - er senkte seine Stimme so sehr, dass sie kaum noch hörbar war - »mit Ponys und Hunden.«

»Mein Gott«, sagte ich. Ich hatte keine Ahnung, welche Reaktion er von mir erwartete.

»Das Sonderbarste aber war, dass sie unverrückbar darauf beharrte, dass er die Architektenpläne für das Dach des Fortyfoot House änderte. Sie präsentierte Zeichnungen und Berechnungen, die die Architekten in Erstaunen versetzten. Die weigerten sich im Übrigen, sie umzusetzen, weil sie aus ihrer Sicht technisch nicht korrekt waren. Ihrer Meinung nach konnte man ein solches Dach nicht bauen. Aber die junge Frau war so beharrlich in ihrer Überzeugung, dass der alte Mr. Billings schließlich einlenkte - so wie immer. Die Handwerker befolgten exakt ihre Pläne und bauten das Dach so, wie Sie es heute kennen. Wie Sie sehen, war es möglich, das Dach zu bauen. Warum sie aber so sehr darauf bestanden hatte, dass es geändert wurde, und wieso sie in der Lage war, die notwendigen Zeichnungen zu erstellen, das hat niemand jemals erfahren. Mr. Claringbull sah den alten Mr. Billings immer seltener, und wenn er ihm begegnete, dann wirkte er erschöpft und gereizt. Weder wusste er, welcher Tag noch welcher Monat war.«

Pickering ließ seine Worte eine Weile wirken, dann sprach er weiter: »Jedes Mal, wenn Mr. Claringbull die junge Frau zu Gesicht bekam, fühlte er einen kalten Hauch, für den er keinerlei Erklärung finden konnte. Wenn er sich mit ihr in einem Raum aufhielt, verließ er ihn nahezu augenblicklich mit einem schuppigen Ausschlag, wie trockene Ekzeme. Und wenn er zum Abendessen ins Fortyfoot House eingeladen wurde und neben ihr sitzen musste, zog er sich nach der Tomatensuppe zurück und verbrachte den größten Teil des Abends damit, sich im Garten zu übergeben. >Ich erbrach Dinge, die ich nicht gegessen hatte<, schrieb er. >Ich erbrach Dinge, die sich aus eigener Kraft bewegten, Dinge, die im Gras zuckten und zappelten und dann zur schützenden Hecke davonkrochen.<«

Wieder machte Pickering eine Pause und sah von links nach rechts, als befürchte er, von einem Geist belauscht zu werden, der sich an ihm rächen könnte.

»Das war natürlich Mr. Claringbulls Version der Geschichte. Wenn Sie sie so betrachten, dann ist es wirklich eine entsetzliche und beunruhigende Geschichte. Aber es gab andere, die sich nicht so sicher waren, ob Mr. Claringbull völlig bei Verstand war.« Er beugte sich zu mir herüber und flüsterte: »Wenn Sie die Aufzeichnungen des Küsters lesen und wenn Sie die Begabung haben, zwischen den Zeilen zu lesen, dann könnte man sehr wohl zu dem Schluss kommen, dass Mr. Claringbull gar nicht von Mr. Billings'jungem weiblichen Schützling abgestoßen wurde, sondern sich vielmehr so sehr zu ihr hingezogen fühlte, dass seine heftige körperliche Reaktion durch seine eigenen Scham-und Schuldgefühle ausgelöst wurde. Mr. Claringbull war verheiratet, aber nach allen Berichten über seine Frau zu urteilen, litt sie ewig unter Rückenschmerzen. Das führte zwangsläufig dazu, dass Mr. Claringbull weit weniger ... ähem, eheliche Gefälligkeiten erhielt, als er sich gewünscht hätte.«

Danny drehte sich plötzlich um und lächelte ihn freundlich an. Dennis Pickering war peinlich berührt und lief rot an, während er das Lächeln erwiderte.

»Schon gut«, beschwichtigte ich. »Sie müssen nicht in Rätseln sprechen. Danny weiß bereits alles über das Paarungsverhalten von Amöben, Seegurken und Wüstenrennmäusen. Glauben Sie mir, das, was erwachsene Menschen machen, wird ihn nicht wirklich verderben. Wahrscheinlich würde es ihn nicht mal interessieren.«

»Ja, ich glaube, Sie haben Recht«, stimmte Pickering mir zu und lehnte sich zurück. »Nehmen Sie Schnupftabak?«

»Noch nie probiert.«

»Gut, das sollten Sie auch nicht.«

Er holte eine kleine Schnupftabaksdose hervor und begann - von Danny völlig fasziniert beobachtet - mit jedem Nasenloch ein wenig Pulver zu inhalieren und anschließend zu niesen. Dann saß er da, während seine Augen zu tränen begannen.

Während er einen erneuten Niesreiz zu unterdrücken versuchte, sagte ich: »Mrs. Kemble vom Strandcafé hat mir gesagt, dass der alte Mr. Billings schließlich getötet wurde.«

»Oh, Mrs. Kemble! Sie hat am Fortyfoot House einen Narren gefressen. Warum, weiß ich allerdings nicht. Einmal bat sie mich, das Gartentor zu segnen, erklärte mir aber nicht den Grund dafür. Sonderbare Frau. Ihr Mann war eine Art Kriegsheld, er fiel in Dieppe. Sie betreibt ein ziemlich gutes Café.«

»Sie wissen nicht, wie der alte Mr. Billings starb?«

Pickering schnäuzte seine Nase in drei Tonlagen und hörte sich dabei an wie die Hupe eines Maserati. »So wie bei allem, was Fortyfoot House angeht, gibt es viele verschiedene Geschichten. Ich glaube, die am weitesten verbreitete besagt, dass der alte Mr. Billings von einem Blitz getroffen wurde. Das ereignete sich aber erst lange nach der Fertigstellung des Waisenhauses, zu einer Zeit, als sein Sohn ihm bereits half. Das nächste Mal tauchte der Name Billings in den Aufzeichnungen der Pfarrei auf, als der junge Mr. Billings Mr. Claringbull bat, ihn mit dieser jungen Frau zu vermählen. Das war auch das erste Mal, dass ihr Name irgendwo Erwäh-nung fand: Kezia Mason. Mr. Claringbull musste einen langen Brief schreiben, um der Diözese zu erklären, dass Kezia Masons gottloses Verhalten eine kirchliche Trauung zu einem Ding der Unmöglichkeit machte. Daneben gab es Gerüchte im Dorf, der junge Mr. Billings sei selbst in irgendeinen gottlosen Geheimbund verwickelt und die Kapelle im Fortyfoot House werde für Tieropfer und schwarze Messen benutzt. Diese Gerüchte wurden ohne Zweifel durch die merkwürdigen Gestalten geschürt, die sich im Fortyfoot House aufhielten, nachdem der junge Mr. Billings die Leitung übernommen hatte. »Gesuchte Mörder und zweifelhafte Charaktere<, hatte Mr. Claringbull sie genannt.«

Pickering warf Danny einen kurzen Blick zu. »Mr. Claringbull behauptete in seinem Brief, der junge Mr. Billings verfüge über magische Kräfte. Einmal soll er ihn klar und deutlich an einem Fenster des Fortyfoot House gesehen haben, und keine halbe Minute später habe er auf dem Weg hinunter zur Küste vor ihm gestanden. Dieser Brief an den Bischof besiegelte Mr. Claringbulls Schicksal. Verständlicherweise glaubte man, er sei verrückt geworden. Er wurde als Vikar von St. Michael's abberufen - zunächst wurde er zwangsbeurlaubt und dann nach Parkhurst als Assistent des Gefängnisgeistlichen versetzt. Nach nur einem Jahr wurde er von einem Gefangenen erstochen, der sagte, er sei der Teufel, dessen Augen in der Dunkelheit rot glühten.«

»Mein Gott«, sagte ich wieder.

»Ja ... Es war ein schreckliches Ende.«

»Und was ist mit dem jungen Mr. Billings? Was können Sie mir über ihn erzählen?«

»Nur wenig, fürchte ich. Mr. Claringbulls Nachfolger war Geoffrey Parsley, der allem Anschein nach ein sehr direkter Kerl war, der sich mehr für Hunde und neue Kartoffeln interessierte als für das Werk des Teufels. Er nahm von den Gerüchten über Fortyfoot House kaum Notiz. Einmal notierte er allerdings in seinem Tagebuch, er sei an einem Sommermorgen dem jungen Mr. Billings und Kezia Mason auf dem

Weg in die Stadt begegnet und habe einen äußerst kalten Hauch gefühlt, als sie an ihm vorübergingen. >Als sei der Fischwagen voller Eis und Heilbutt<«

»Mrs. Kemble sprach davon, dass der junge Mr. Billings einen Sohn hatte.«

»Das wurde erzählt. Kezia Mason wurde in hochschwangerem Zustand gesehen, und zu der Zeit, da man annehmen konnte, dass die Geburt unmittelbar bevorstand, war die Kutsche eines Doktors wiederholt vor dem Fortyfoot House gesehen worden. Aber das Baby hat niemand je zu Gesicht bekommen.«

»Was ist mit Brown Jenkin?«, fragte ich. »Mrs. Kemble sagte etwas in der Art, dass Brown Jenkin und der Sohn des jungen Mr. Billings - sofern er je einen hatte - ein und dieselbe Person gewesen sein könnten.«

»Das ist mir auch zu Ohren gekommen. Aber Brown Jenkin soll doch angeblich eine Ratte sein, oder nicht? Ganz egal, wie missgestaltet ein Kind auch ist, man wird es bestimmt nicht mit einer Ratte verwechseln können.«

»Wird das Kind nicht in den Aufzeichnungen erwähnt?«

»Mit keinem Wort.«

»Es muss aber doch irgendwelche Aufzeichnungen über gestorbene Kinder geben.«

Dennis Pickering nickte mit finsterer Miene. »Oh, ja. Natürlich. Darüber hat Geoffrey Parsley mehr als genug geschrieben. Das war ... warten Sie ...«

»1886«, half ich ihm auf die Sprünge. »Jedenfalls steht das auf allen Grabsteinen.«

»Ja, sie haben Recht, das muss 1886 gewesen sein. Nicht nur auf der Insel hat man darüber gesprochen. Dr. Barnardo begab sich persönlich ins Fortyfoot House, um zu sehen, ob er irgendetwas tun konnte, doch alle Kinder starben.«

»Haben Sie eine Ahnung, warum sie starben? Auf den Grabsteinen steht darüber nichts geschrieben.«

Pickering schüttelte knapp den Kopf. »Keine Ahnung. Es gab damals alle möglichen Epidemien. Wir vergessen gerne, wie anfällig die Menschen seinerzeit für Krankheiten waren, die wir heute als nebensächlich betrachten. Vor dem Krieg war mein Großvater mit Dr. Leonard Buxton befreundet, dem Quästor des Exeter College. 1939 starben Buxton und seine Frau innerhalb von nicht einmal 36 Stunden an Lungenentzündung, obwohl sie beide erst um die vierzig waren. Heute ist so etwas unvorstellbar.«

Wieder schüttelte er seinen Kopf. »Ich glaube, es wurde davon gesprochen, dass die Kinder durch Scharlach dahingerafft wurden. Der junge Mr. Billings rief einen Spezialisten aus London herbei. Er machte viel Wirbel darum, wohl, um allen im Distrikt zu zeigen, dass er den Kindern die beste Hilfe bot. Aber dieser Spezialist war laut Geoffrey Parsley ein höchst rätselhafter Typ. Ein sehr verschwiegener Mann namens Mazurewicz, der kaum ein Wort Englisch sprach und die untere Hälfte seines Gesichts stets mit etwas bedeckte, das wie ein verschmutzter weißer Verband aussah. Ob er nun ein Spezialist war oder nicht - die Kinder starben alle innerhalb einer Woche und wurden neben der Kapelle von Fortyfoot House beigesetzt. Aber das wissen Sie ja. Niemand machte viel Wirbel um diese Sache. Schließlich war es normal, dass Kinder an solchen Krankheiten starben - auch in so großer Zahl. Es gab viele Internate, die sogar komplett geschlossen werden mussten, weil sich Scharlach oder Pfeiffersches Drüsenfieber dort ausgebreitet hatten. Und zudem waren es Waisen aus dem East End, die keine Verwandten hatten, die sich um ihr Schicksal kümmerten.«

»Mrs. Kemble sagte, der junge Mr. Billings habe schließlich den Verstand verloren«, warf ich ein.

»Darüber gibt es auch viele verschiedene Geschichten. Die Leute sagten, dass er verschwand und wieder auftauchte. Angeblich wurde er zur gleichen Zeit an zwei Orten gesehen - in Old Shanklin Village und in Atherfield Green. Ich glaube, die Fantasie der Bewohner war ein wenig überreizt.«

»Und was geschah mit Kezia Mason?«

»Um sie ranken sich gleichfalls zahlreiche fantastische

Schilderungen. Letztlich schien es aber nur so zu sein, dass sie vom Leben im Fortyfoot House gelangweilt war und daraufhin verschwand. Ihr Verschwinden könnte aber durchaus zum Nervenzusammenbruch des jungen Mr. Billings geführt haben. Er hatte mehreren Menschen, darunter auch Mr. Claringbull, erklärt, er liebe sie mehr als seinen gesunden Menschenverstand. Offenbar trank er sehr viel und nahm Morphium. Neben der Tragödie im Waisenhaus könnte der Verlust von Kezia Mason ihm den Rest gegeben haben. Er beging schließlich Selbstmord.«

Ich sah auf meine Uhr. Es war schon fast halb vier. Zeit, um zum Fortyfoot House zurückzukehren und noch ein wenig Farbe abzulösen, bevor mir der Makler einen Besuch abstattete und feststellte, dass ich gar nicht dort war.

»Ich muss gehen«, sagte ich zu Pickering. »Aber ich muss unbedingt wissen, was ich unternehmen kann. Ich war schon drauf und dran, alles zu packen und abzureisen. Aber falls Sie diese Geister besänftigen können ...?«

»Sind Sie wirklich davon überzeugt, dass Ihre Fantasie Ihnen keinen Streich gespielt hat?«, fragte Pickering.

»Absolut. Ich habe nicht den leisesten Zweifel.«

»Nun ... ich muss sagen, dass ich es nicht für eine Lösung halte, beim ersten Anzeichen von Geistern davonzulaufen«, sagte er. »In den meisten Fällen sind diese Geister nichts weiter als unsere eigenen Ängste, die sich in visuellen Täuschungen ausdrücken. Die wenigen >echten< Geister sind vielleicht Furcht erregend, aber normalerweise harmlos. Nur wenn gewaltige und entsetzliche Schandtaten begangen worden sind, kann das Haus die Aura des Bösen annehmen. Eine Aura, die jeden bedrohen oder belasten kann, der später in diesem Haus lebt.«

»Glauben Sie, dass das auf Fortyfoot House zutrifft?«, fragte ich ohne Umschweife.

»Ja, ich vermute schon«, erwiderte er.

»Was kann ich tun? Ich muss dort wohnen und arbeiten. Mein Sohn muss auch dort wohnen und Liz ebenfalls.«

»Ich schätze, ich könnte vorbeikommen und mich dort umsehen«, sagte er, klang aber nicht allzu begeistert.

»Das wäre machbar?«, fragte ich ermutigt. »Ich kenne außer Ihnen niemanden, an den ich mich wenden könnte. Der arme alte Harry Martin konnte mir nicht helfen, und ich glaube, Rentokil kann auch nicht wirklich etwas erreichen.«

Pickering reagierte mit einem ironischen Lächeln. »Ich hätte nicht gedacht, dass einmal der Tag kommt, an dem die Kirche um geistigen Beistand gebeten wird und es dabei nur auf den dritten Platz nach einem Rattenfänger und einem landesweit arbeitenden Kammerjäger schafft.«

»Tut mir Leid. Ich habe eine Weile gebraucht, bevor ich an Geister oder Phantome oder >spirituelle Unregelmäßigkeiten< glauben konnte.«

Pickering führte uns durch den Flur, in dem es immer noch nach Schulessen roch. »Wie wäre es heute Abend, nach dem Abendgebet?«, schlug er vor. »Halb neun?«

»Das klingt gut. Es macht Ihnen doch nichts aus, einen Blick auf den Dachboden zu werfen, oder? Ich werde auch noch eine brauchbare Taschenlampe kaufen.«

»Sie könnten es mit einem kleinen Gebet versuchen«, sagte Pickering, während er uns die Haustür öffnete. »Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Seelen derjenigen, die das Fortyfoot House heimsuchen.«

»Ja, ich glaube, das ist machbar.«

Er reichte erst mir die Hand, dann Danny.

Während wir über die Einfahrt gingen, fragte mich Danny: »Warum hat der Mann Staub in seine Nase getan?«

»Das war Schnupftabak. Anstatt zu rauchen, atmet man ihn ein.«

»Warum?«

Ich ging noch zwei oder drei Schritte weiter, dann blieb ich stehen. »Das weiß allein der liebe Gott«, sagte ich schließlich zu Danny.

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