15. Die Wahrnung

Die kleinen Gestalten kamen mir immer näher, und im fahlen Schein aus dem Schlafzimmer konnte ich erkennen, dass es sich um Kinder handelte, die lange weiße Nachthemden trugen. Ihre Augen waren von Erschöpfung und Unterernährung gezeichnet, ihre Haare waren zerzaust, aber sie waren weder Zwerge noch Geister, sondern einfach nur Kinder - zwei Mädchen und ein Junge.

»Wer sind Sie?«, fragte eines der Mädchen mit dem gleichen Akzent wie Kezia Mason. Es war recht hübsch, aber so dünn, dass es schmerzte, das Kind anzusehen. »Ich habe Sie hier noch nicht gesehen. Weiß der Leiter, dass Sie hier sind?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich möchte auch nicht, dass er es weiß.«

»Woher kommen Sie?«, wollte der kleine Junge wissen.

»Brighton.«

»Meine Mama ist mal mit mir im Zug nach Brighton gefahren.«

»Du hast gar keine Mama«, warf das andere Mädchen ein.

»Hab ich wohl. Sie ist mit mir mal nach Brighton gefahren. Dann bekam sie noch ein Kind und ist gestorben.« »Pscht!«, machte ich. »Wir wollen doch niemanden aufwecken, nicht wahr?«

»Was machen Sie dann hier?«, fragte das erste Mädchen. »Sie sind doch kein Skinner, oder? Brown Jenkin mag keine Skinner.«

»Was ist ein Skinner?«, erwiderte ich.

»Sie wissen schon. Einer von den Ärzten oder Reverends, vor denen man sich ausziehen muss, damit sie einen angucken können.«

»Nein, nein, ich bin kein Skinner. Ich suche nur einen Freund.«

»Sie müssen aufpassen, damit Brown Jenkin Sie nicht erwischt«, warnte mich das zweite Mädchen.

»Ich kenne Brown Jenkin«, erklärte ich ihr. »Ich kenne auch Kezia Mason.«

»Wenn Sie Ihren Freund gefunden haben, werden Sie dann wieder fortgehen?«, wollte der kleine Junge wissen.

»Oh, ja, ich werde mich direkt wieder auf den Weg machen.«

»Würden Sie uns mitnehmen?«

»Euch mitnehmen? Euch alle? Ich weiß nicht, aber ich glaube nicht, dass das geht. Warum eigentlich?«

»Weil viele von uns sterben. Darum. Mr. Billings guckt dich an und sagt, dass du krank bist und dass du behandelt werden musst. Dann nimmt dich Brown Jenkin mit zum Picknick, und danach sieht dich niemand wieder, bevor du begraben wirst.«

»Aber wir sind nicht krank«, erklärte das erste kleine Mädchen. »Mr. Billings gibt uns nicht viel Essen, immer nur Brot und Reste. Darum haben wir alle Hunger. Aber wir sind nicht krank. Nur Billy ist krank. Er hat Keuchhusten. Er hat immer Keuchhusten.«

»Wie viele Kinder sind noch hier?«, fragte ich ihn.

»Einunddreißig, aber Charity fehlt. Niemand weiß, was mit ¿Ar passiert ist.«

Ich wusste natürlich, wo Charity war, sagte aber nichts davon. Ich war nicht hergekommen, um all diese East End-Gören aus Mr. Billings' Waisenhaus zu holen. Ich hatte weder Zeit noch die selbstlose Opferbereitschaft, das zu tun. Was als Versuch begonnen hatte, mehr über die Vorgänge in Fortyfoot House zu erfahren, entwickelte nun alle Kennzeichen der Herberge zur sechsten Glückseligkeit. Wenn ich nicht aufpasste, hätte ich bald einen Treck von Waisenkindern hinter mir und würde durch das Jahr 1886 ziehen.

Im Augenblick ging es mir nur darum, Pickerings Leichnam unter den Fußboden hervorzuholen und fortzuschaffen.

»Hört mal«, sagte ich zu den drei Kindern. »Ich muss unten etwas Wichtiges erledigen. Wenn ich damit fertig bin, komme ich wieder rauf und spreche mit euch. Wo schlaft ihr?«

Das erste kleine Mädchen deutete auf die nächste Tür im Flur. Das Zimmer, in dem in meiner Zeit nur kaputte Stühle, Kisten und Bücher untergebracht waren.

»Also gut«, flüsterte ich, »ich bin in zwanzig Minuten zurück. Versucht, wach zu bleiben.«

»Das werden wir.« Die drei drehten sich um und begannen, wieder in der Dunkelheit zu verschwinden, als das erste Mädchen noch mal zu mir zurückkam und wisperte: »Kommen Sie mit.«

Ihre eiskalten und dünnen Finger umschlossen meine Hand, während sie mich zu dem Zimmer führte, in dem Liz geschlafen hatte, bevor sie in mein Zimmer gezogen war. Sehr vorsichtig drückte das Mädchen die Klinke herunter und öffnete leise die Tür.

»Wessen Zimmer ist das?«, fragte ich.

»Pschht«, zischte das Mädchen nur.

Als die Tür weit genug geöffnet war, spürte ich, wie mir eine eisiger Schauder über den Rücken lief. Ein Teil des Zimmers wurde von einem hohen Holzbett dominiert, auf dem drei oder vier Wolldecken lagen. Auf der linken, vom Fenster abgewandten Seite lag Mr. Billings auf dem Rücken, die Augen geschlossen, den Mund weit geöffnet und die

Arme an seinen Körper gelegt. Er schnarchte sehr laut und hörte sich so an, als würde er sich jeden Augenblick verschlucken. Neben ihm lag Kezia Mason, deren rotes Haar wie eine sich ausbreitende Flamme auf dem Kissen verteilt war. Zu meinem Entsetzen hatte sie die Augen geöffnet und starrte zur Decke.

Das Mädchen spürte, wie sich meine Finger versteiften. »Alles in Ordnung«, flüsterte sie. »Sie ist nicht wach. Sie schläft immer mit offenen Augen.«

»Jesus«, sagte ich. Es war ein erschreckender Anblick, Kezia Mason so starr und mit offenen Augen daliegen zu sehen. Ich wollte fast nicht glauben, dass sie schlief und uns nicht sehen konnte.

Das kleine Mädchen zog die Tür wieder zu.

»Wo ist Brown Jenkin?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht. Bestimmt irgendwo draußen.«

»Draußen?«

»Er schläft nie. Ich sehe ihn nie schlafen. Er rast immer hierhin und dahin. Ich hasse ihn.«

»Wer ist er eigentlich genau? Er sieht mehr nach einer Ratte als nach einem Jungen aus.«

»Ja, aber er ist mehr ein Junge als eine Ratte.«

Das kleine Mädchen ging zurück zum Schlafzimmer und öffnete die Tür. »Übrigens, mein Name ist Molly.«

Ich musste sofort an einen der Grabsteine denken, die ich rund um die Kapelle gesehen hatte. Ein einfacher Stein mit der Inschrift >Molly Bennett, 11 Jahre alt, Zur rechten Hand von Christus<. Ich konnte Molly einfach nicht fragen, ob sie mit Nachnamen möglicherweise Bennett hieß. Die Vorstellung, dass Brown Jenkin dieses kleine Mädchen in Kürze zu einem seiner üblen >Picknicks< mitnehmen würde ... Ich strich über ihr zerzaustes Haar. Sie war völlig real, auch wenn zwischen uns über hundert Jahre lagen. Wenn ich in den letzten Tagen eines gelernt hatte, dann war es die Tatsache, dass die Zeit auf die Realität der menschlichen Existenz keinen Einfluss hatte. Wenn wir einmal da sind, sind wir immer da.

Es war ein seltsamer Gedanke, der mich ein wenig traurig stimmte, aber auch tröstete.

»Ich bin in ein paar Minuten zurück«, sagte ich zu Molly. Dann ging ich die Treppe hinunter und durch den Flur, vorbei an den sonderbaren Aquarellen und Stichen. Ich konnte sie in dem schwachen Lichtschein, der durch das Oberlicht der Haustür fiel, schwach erkennen. Jetzt wirkten sie allerdings noch obszöner und mysteriöser, ein Bildkatalog gynäkologischer Grässlichkeiten. Ich sah verzweifelte Gesichter und entsetzliche Chirurgeninstrumente, sterbende Mütter, die in Stücke geschnitten wurden, um ihre lebenden Kinder zu retten. So schnell ich konnte, lief ich an diesen Bildern vorbei.

Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Es gab keine Lampen, und es war niemand da. Aber an der Art, wie die Möbel im Raum standen, konnte ich erkennen, dass seit meinem ersten Besuch nur wenige Stunden vergangen waren. Der Kamin war sauber gemacht worden, der Teppich war wieder gerade gerückt worden, aber das waren auch schon die einzigen Hinweise darauf, dass jemand begonnen hatte, hier aufzuräumen.

Ich ging bis zur Mitte des Zimmers und erreichte die Stelle, an der Dennis Pickering ermordet worden war. Der Boden war feucht und roch streng nach Seife. Offenbar hatte ihn jemand gewischt. Aber Seife und Wasser hatten nicht ausgereicht, um den großen dunklen Blutfleck zu entfernen. 106 Jahre später war er immer noch da, wie ich vor gerade mal einer halben Stunde festgestellt hatte.

Ich kniete nieder und begann, mit meinem Stemmeisen die Dielenbretter zu lösen, musste dabei aber äußerst vorsichtig vorgehen, da die Nägel ein lautes quietschendes Geräusch machten.

Dennis Pickering war erst an diesem Nachmittag getötet worden, aber schon jetzt war der Verwesungsgeruch unerträglich. Ich verstand nicht, warum der junge Mr. Billings und Kezia Mason ihn nicht irgendwo draußen begraben hatten,

aber vielleicht hatten sie das gleiche Problem wie ich. Vielleicht wurden sie von der Polizei oder eher von aufmerksamen Nachbarn beobachtet. Bonchurch war 1992 eine eng verbundene Gemeinde, das musste 1886 noch viel schlimmer gewesen sein: Immerhin war die Einwohnerzahl damals nur halb so groß.

Ich löste erst ein Brett, dann ein zweites. Der arme Pickering lag zusammengekauert in der Position da, in der ich ihn hundert Jahre später vorfinden sollte. Ich spürte, wie sich der Inhalt meines Magens in meiner Speiseröhre nach oben schob, doch ich wusste, dass ich den Leichnam hier rausschaffen musste. Ich musste es für mich tun, für Danny und vielleicht auch für Pickerings eigene unsterbliche Seele. Niemand verdiente es, ohne eine Totenmesse unter einem Fußboden verscharrt zu werden.

Eine Sache machte mir allerdings zu schaffen: die Frage, ob ich in die Geschichte eingriff. Es erschien mir völlig paradox, dass er hier tot vor mir lag, obwohl er eigentlich nicht mal gezeugt worden war. Wenn die Zeit aber mehr wie in einer Geschichte oder in einem Film verlief, dann gab es vielleicht kein echtes Paradox. Nur, wer war der wirkliche Dennis Pickering? Der, der hier tot lag, oder der, der erst noch geboren werden würde?

Mir begann schwindlig zu werden — aus Angst und Verwirrung. Ich musste die Augen schließen und mir befehlen, nicht darüber nachzudenken, sondern einen Schritt nach dem anderen zu tun.

Schließlich fand ich die Kraft, um mich nach vorne zu beugen und meine Hände unter Pickerings Schultern zu schieben. Schwer atmend zog ich ihn an den Schultern und seinem linken Arm aus dem Loch im Boden, bis ich ihn in eine halb sitzende Position gebracht hatte. Seine Hand schlug laut auf den Boden, seine leeren Augenhöhlen waren schwarz von getrocknetem Blut, das auch auf seinen Wangen klebte. Vielleicht war das Blut, das auf dem Wandgemälde aus dem Maul von Brown Jenkin getropft war, so etwas wie eine Warnung gewesen, dass ich mich nicht einmischen sollte.

Ich richtete mich auf und griff unter Pickerings Arme, um ihn aus seinem Grab zu ziehen und auf den Boden zu legen. Zu meinem Glück hatte Brown Jenkin Pickerings innere Organe wieder zurück in die Bauchhöhle geschoben und sein blutgetränktes Hemd zugeknöpft, sodass seine Innereien einigermaßen zurückgehalten wurden. Doch allein der Gedanke ließ mich wieder und wieder schlucken, während ich versuchte, meinen Geist mit irgendetwas anderem zu beschäftigen.

Ich zog ihn hinüber bis zum Fenster, dann ging ich zurück und legte die Dielenbretter wieder an ihren Platz. Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, benutzte ich einen Hammer, den ich am Kamin entdeckt hatte, um die Nägel wieder einzuschlagen. Ich legte ein Kissen vom Sofa dazwischen, um das Geräusch zu dämpfen. Zwar hörte es sich in meinen Ohren an, als klopfe Satan an die Tore zur Hölle, aber ich nahm an, dass es nicht allzu laut war.

Halb trug ich Pickering nach draußen, halb zog ich ihn hinter mir her, während ich ihn aus dem Haus schaffte und über die Veranda brachte. Seine Fersen rutschten holpernd über die Steinstufen. Dann zog ich ihn über den Rasen, vorbei am Teich, über die Brücke und zwischen den Bäumen hindurch, die den Weg zum hinteren Gartentor säumten.

Ich wollte ihn hinunter zum Strand bringen und so weit wie möglich ins Meer schleppen, damit ihn die Taschenkrebse zu fassen bekamen. Jeder, der ihn am nächsten Morgen finden würde, sollte denken, dass es sich bei ihm einfach nur um einen ertrunkenen Fischer handelte. Obwohl das im Jahr 1886 eigentlich völlig egal war, schließlich kannte hier niemand einen Dennis Pickering.

Die Mauer am Strand war anders, als ich sie kannte. Es gab eine Reihe von Holzstufen, die zu den Felsen hinunterführten. Mir fielen die Stahlstifte auf, mit denen man diese Stufen an den Felsen befestigt hatte. Sie waren mir vertraut, nur dass im Jahr 1992 nichts mehr von den Stufen übrig war. Ich hatte mich immer gewundert, welchem Zweck diese Stifte gedient hatten — jetzt wusste ich es.

Ich schleppte Pickering zum Strand. Es war gerade Ebbe, sodass ich gut zweihundert Meter auf einem schmalen sandigen Pfad zwischen den Felsen zurücklegen musste. Schließlich hatte ich die ersten Wellen erreicht. Sie umspülten meine Hosenbeine und drangen in meine Schuhe ein. Pickerings Leichnam begann allmählich zu treiben, doch ich zog ihn weiter, bis ich bis zur Hüfte im Wasser watete. Ich versetzte ihm einen Stoß und sah zu, wie er davontrieb, bis nur sein heller Kragen in der Dunkelheit zu sehen war. Ich kannte kein Gebet, sondern dachte mir einfach eines aus. Unter diesem viktorianischen Himmel, in einer Welt, in der Großbritannien immer noch über Indien herrschte, in der die Zaren in Moskau das Sagen hatten, in der Präsident Cleveland in Washington an der Macht war ... in dieser Zeit schickte ich einen Mann aus einer anderen Zeit auf seine letzte Reise, auf dass er seinem Schöpfer begegnete. Ich watete zurück ans Ufer.


1886 gab es noch kein Strandcafe, sondern eine Reihe von Cottages, die genauso peinlich sauber und gepflegt wirkten wie 1992. Ich ging den steilen Pfad hinauf, der zurück zum Fortyfoot House führte. Er war nicht geteert, stattdessen knirschten unter meinen Schuhsohlen kleine Steine und lockerer Kies. In der Ferne hörte ich einen Hund bellen, und als ich Lichter blinken sah, wurde ich fast von der Unwirk-lichkeit meiner Situation überwältigt.

Ich näherte mich dem Gartentor, als ich eine düstere Gestalt bemerkte, die nahe der Hecke stand. Ihr Gesicht war hinter dem überhängenden Efeu verborgen. Ich blieb stehen und starrte in die Finsternis, um festzustellen, ob es sich vielleicht um Brown Jenkin handelte. Wenn er es wirklich war, konnte ich nur die Flucht ergreifen und versuchen, auf einem anderen Weg ins Fortyfoot House zurückzukehren.

Aber die Gestalt wirkte größer und massiger als Brown Jenkin. Sie gab keinen Laut von sich, während sie da im Schatten des Efeus stand, und hielt die Hände in einer Geste größter Geduld verschränkt.

»Wer ist da?«, fragte ich schließlich.

Die Gestalt trat einen Schritt nach vorn, ihr Gesicht wurde von einer Kapuze verdeckt, die der einer Mönchskutte glich. Ich war bereit, sofort loszurennen, als mein Gegenüber die Kapuze nach hinten schob. Es war der junge Mr. Billings, seine Wangen ein wenig narbig. Er roch nach Gin und irgendeinem süßlichen Rasierwasser. Nach einem Moment räusperte er sich. »Erkennen Sie mich nicht?«, fragte er ruhig.

»Natürlich«, sagte ich.

»Ich habe Sie beobachtet«, fuhr er fort. »Ich habe gesehen, was Sie da unten am Strand gemacht haben. Indem Sie hergekommen sind, Sir, sind Sie ein großes Risiko eingegangen. Indem Sie zurückgekommen sind, haben Sie das Risiko nur noch größer werden lassen.«

»Sie und Kezia Mason haben ihn ermordet«, sagte ich mit etwas zittriger Stimme. »Er hatte etwas Besseres verdient, als unter dem Fußboden begraben zu werden.«

»Oh ... etwas Besseres, sagen Sie? Sie meinen, von Taschenkrebsen gefressen zu werden?«

»Taschenkrebse, Würmer, was macht das schon? Wenigstens habe ich für ihn gebetet.«

»Gut für Sie«, sagte der junge Mr. Billings, während er langsam um mich herumging und mich von oben bis unten ansah. »Natürlich hat Ihre barmherzige Tat nichts damit zu tun, dass die Polizei nicht die Leiche von Reverend Pickering in dem Haus finden soll, in dem Sie der einzige denkbare Verdächtige wären.«

»Das vielleicht auch.«

Der junge Mr. Billings hielt inne und sah mich an. »Ich habe zwar meine Seele verkauft, Sir, aber ich bin kein Narr.«

»Das habe ich auch nicht gesagt.«

Eine Weile dachte er nach, dann sagte er: »Was soll ich Ihrer Meinung nach mit Ihnen machen?«

»Mein Sohn wartet auf mich«, erwiderte ich.

»Natürlich. Und Charity wartet auch auf Sie.«

»Brown Jenkin wollte sie töten.«

»Sie müssen mir nicht sagen, was Brown Jenkin will.«

»Haben Sie sich deswegen mit ihm im Garten gestritten?«

Er senkte den Blick. »Sie haben schon so viele genommen. Vermutlich werden Sie es mir nicht glauben, aber es bricht mir das Herz.«

Dieses plötzliche Bedauern kam für mich völlig überraschend. Bislang hatte ich geglaubt, dass der junge Mr. Billings und Brown Jenkin - auch wenn sie vielleicht gar nicht miteinander verwandt waren - Hand in Hand gearbeitet hatten.

»Was haben Sie mit den Kindern gemacht?«, fragte ich ihn. »Doch sicher nicht einfach nur getötet?«

»Natürlich nicht«, entgegnete Billings. »Aber es ist nicht so einfach zu erklären. Es hat mit Dingen zu tun, die die meisten Menschen nur schwer verstehen können. Wie Zeit und Realität. Und auch Moral. Und ob ein Menschenleben mehr wert ist als ein anderes.«

Ich warf einen Blick in Richtung Fortyfoot House. »Kann uns Brown Jenkin hier nicht finden?«

»Warum? Beunruhigt er Sie so sehr?«

»Es wäre eine Untertreibung, wenn ich sagen würde, er verfolgt mich in meinen schlimmsten Albträumen.«

»Nun, vielleicht wird er uns hier finden. Vielleicht auch nicht. Vielleicht muss ich auch nach ihm pfeifen.«

»Was ist er?«, fragte ich.

»Brown Jenkin ist alles, was er zu sein scheint. Ein boshafter kleiner Kerl, ein von Ungeziefer geplagter Nager, ein entsetzlicherjunge. Was Sie in ihm sehen, ist er auch.«

»Woher kommt er? Jemand hat mir erzählt, er sei Ihr Sohn.«

»Mein Sohn? Brown Jenkin? Ich würde mich gekränkt fühlen, wenn es nicht so albern wäre. Nein, Sir, er ist nicht mein Sohn. Er ist irgendwie Kezias Nachkomme, nachdem sie zurückgegangen war zu dieser ... dieser Kreatur Mazurewicz.« Nach dem letzten Wort spuckte er aus und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.

»Was um alles in der Welt geht in diesem Haus vor sich?«, wollte ich wissen. »Seit meiner Ankunft habe ich Geräusche gehört und Lichter gesehen, ich habe Stöhnen gehört, ich habe Brown Jenkin herumlaufen gesehen, zwei unschuldige Menschen sind ermordet worden.«

Billings dachte einen Augenblick lang nach, dann sagte er: »Nein, Sie würden es nicht verstehen.«

»Versuchen Sie es.«

Er begann, hin und her zu laufen. »Ich soll es versuchen? Na gut, wie Sie wollen.« Er blieb abrupt stehen, holte eine Taschenuhr hervor und hielt sie dicht vor sein linkes Auge, um in der Dunkelheit die Zeit erkennen zu können. Auf der Uhr konnte ich für einen Moment eine Gravur sehen, die an einen Tintenfisch erinnerte. »Es ist schon spät. Für den Fall, dass wir gestört werden, möchte ich Ihnen zuerst eine Warnung mit auf den Weg geben.«

»Eine Warnung?«

»Es geht um Ihre Liz. Ihr Mädchen ... das Mädchen, das einmal Ihr Mädchen war.«

»Erzählen Sie«, forderte ich ihn auf. »Was ist mit ihr?«

»Wenn Sie nicht aufpassen, Sir, wird Ihre Liz Ihnen drei Söhne schenken, einen vom Blut, einen von der Saat und einen vom Speichel.«

»Was?«, sagte ich ungläubig. »Wovon reden Sie? Wir wollen überhaupt keine Kinder haben, außerdem nimmt sie die Pille. Sie wissen, was die Pille ist?«

Billings nickte: »Ich weiß einiges über Ihre Zeit.«

»Zumindest hoffe ich, dass sie die Pille nimmt. Ich habe gesehen, wie sie sie schluckt.«

»Es würde nichts ändern«, sagte Billings. »Keine Pille auf der ganzen Welt kann die Zeugung dieser drei Söhne verhindern, mein Freund. Denn diese drei Söhne werden drei in einem sein, die verkehrten drei in einem, die Unselige Dreifaltigkeit. Wenn sie gewachsen sind, werden sie gemeinsam die große Bestie zeugen, und dann wird die Tür zu der Welt geöffnet werden, die einmal war. Alle Vorstellungen der Menschheit von der Hölle werden dann Wirklichkeit werden , hier auf der Erde. In unseren Städten, in unseren Meeren.«

Er klammerte sich an das Geländer, das entlang des Pfads verlief, während ich zu glauben begann, sodass er völlig wahnsinnig sei. Aber er sprach ganz ruhig und gleichmäßig, ohne ein Anzeichen für Hysterie. Außerdem hatte ich schon genug Wahnsinniges in Fortyfoot House erlebt, dass ich wenigstens an ein gewisses Maß Wahrheit in seinen Worten glauben konnte. Wenn ich mit Kindern sprechen konnte, die seit hundert Jahren tot waren, wenn ich eine Ratte gesehen hatte, die sich benahm wie ein Mensch, wenn ich eine Erscheinung sehen konnte, die in den Körper einer schlafenden Frau eindringen konnte - dann konnte ich mir auch anhören, was der junge Mr. Billings zu sagen hatte.

»Was wissen Sie über Frauen, die man Hexen nennt?«, fragte er.

»Hexen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht viel. Nur das, was ich aus Märchen kenne. Ich glaube, ich habe mal auf BBC 2 eine Sendung zu dem Thema gesehen. Es ging um weiße Hexen, die Torten schweben lassen und Warzen heilen konnten. Aber das ist auch schon alles. Sie konnten nicht auf einem Besen reiten.«

»Ich möchte Ihnen etwas sagen, was Sie glauben können, wenn Sie wollen«, sagte Billings. »Kezia Mason ist das, was Sie als Hexe bezeichnen würden.«

»Ich schätze, dass ich Ihnen das ohne weiteres glauben kann. Ich habe gesehen, wie sie die Wohnzimmertür geschlossen hat, ohne sie anzufassen. Und ich habe gesehen, wie sie Reverend Pickering das Augenlicht geraubt hat.«

»Das war nur ein Bruchteil dessen, wozu sie fähig ist«, erklärte Billings. »Sie ist kein lebendes Wesen so wie wir. Sie ist nicht mal ein Mensch. So wie alle Hexen ist sie ein Wesen aus einer Zeit lange vor der Existenz der Menschheit. Aus den lagen, als die Erde von einer anderen Zivilisation bevölkert wurde. Sie ist ein uralter Geist, wenn das verständlicher ist.«

»Ein Geist? Ein Gespenst?«

»Nein, nein, kein Gespenst. Nicht in dem Sinn, wie Sie es meinen. Mehr wie eine ... eine Seele.«

»Aber ich habe sie gesehen und gespürt. Sie war aus Fleisch und Blut.«

»Das ist richtig. Aber es ist nicht ihr Fleisch und Blut. Nicht mal der Name Kezia Mason gehört ihr. Sie lebt im Körper von Kezia Mason, aber sie ist so etwas wie ein Kuckuck, sie sitzt in einem angenehm warmen Nest aus menschlichem Fleisch. Alles, was einmal Kezia Mason war - ihre Erinnerungen, ihre Gedanken, ihre Persönlichkeit -, wurde aus dem Nest geschmissen wie ein junger Vogel. Wenn Kezia Mason stirbt oder zu alt wird, wird sie sie töten und einen anderen Körper übernehmen. Sie ist ein Parasit, wenn man so will.«

»Wissen Sie was?«, sagte ich kopfschüttelnd. »Ich glaube, einer von uns beiden ist verrückt.«

Billings war nicht verärgert, sondern sprach weiter: »Wieso glauben Sie das? Sie sind nicht verrückt, und ich kann nicht verrückt sein, weil ich die Wahrheit sage. Ich muss die Wahrheit sagen, sonst wüsste ich nicht, wer Sie sind. Und ich wüsste nichts über Ihren kleinen Jungen. Dies ist das Jahr 1886, und keiner von Ihnen beiden ist geboren. Es wird noch lange dauern, ehe das geschieht.«

»Na gut«, sagte ich schließlich. »Sie sagen die Wahrheit. Aber können Sie mir bitte erklären, was hier los ist?«

»Nun denn«, stimmte der junge Mr. Billings zu. »Um es so kurz zu machen, wie es mir nur möglich ist: Es war zunächst einmal der Fehler meines Vaters. Er verbrachte viele Jahre im Londoner East End, in den Slums, um verlassenen Kindern zu helfen. Er hat viele wunderbare Dinge geleistet, glauben Sie mir. Aber es erfüllt mich mit Schande, sagen zu müssen, dass er nicht aus reiner Menschenliebe handelte.«

»War er ein Skinner?«, fragte ich.

Billings warf mir einen bohrenden Blick zu: »Mit wem haben Sie sich unterhalten? Charity?«

»Ist nicht so wichtig. Erzählen Sie weiter.«

»Sie haben nicht ganz Unrecht. Er hatte eine Vorliebe für sehr junge Mädchen. Als er Kezia Mason zum ersten Mal im Haus von Dr. Barnardo sah, war er völlig hingerissen von ihr. Er wollte Kezia sofort mit in sein Waisenhaus nehmen, aber der Doktor war sehr vorsichtig im Umgang mit Männern seiner Art. Außerdem war Dr. Barnardo offenbar der Ansicht, dass Kezia nicht das war, was sie zu sein schien. Soweit er das beurteilen konnte, hatte sie Körper und Seele einem Geschöpf namens Mazurewicz versprochen, das in einem riesigen Rattennest unter einer der heruntergekommensten Londoner Kaianlagen lebte. Unter größter Gefahr für sein eigenes Leben hatte Dr. Barnardo Kezia Mason wieder und wieder von Mazurewicz weggeholt, aber sie war immer wieder geflohen und zu diesem ... diesem Ding zurückgekehrt. Dr. Barnardo sagte, das sei die unheiligste Beziehung, die er jemals erlebt habe. Ein Geschöpf, das wie der König der Ratten lebte und aussah, und das hübscheste Cockney-Mädchen, das ihm je begegnet sei.«

Obwohl ich alles dafür gegeben hätte, so schnell wie möglich ins Fortyfoot House und damit ins Jahr 1992 zurückzukehren, wo Danny und Charity immer noch im Garten spielten und auf ihr Frühstück warteten, konnte ich nicht anders, als noch eine Weile zu bleiben. Billings war erwacht, hatte sein Bett verlassen und war mir zum Strand gefolgt, um mir alles zu erzählen. Wie hätte ich da aufbrechen können?

Er hustete einmal, nahm sein Taschentuch und wischte sich den Mund. »Was aber weder Dr. Barnardo noch mein armer Vater zu irgendeiner Zeit erkannt hatten, war die Tatsache, dass Kezia Mason nichts weiter war als das sterbliche Abbild eines hübschen Cockney-Mädchens. Äußerlich war sie dieses Mädchen, doch in ihrem Inneren war sie ein Wesen, das zehntausendmal seltsamer und gefährlicher war als Mazurewicz. Viel später - als es schon zu spät war - kam ich dahinter, dass es in Wahrheit Mazurewicz war, der ihr diente, nicht umgekehrt. Jedes Mal, wenn sie zu ihm zurückkehrte, verfolgte sie eine bestimmte Absicht. Die Geschichte von Mazurewicz ist sehr unzusammenhängend und abstrus. Von meinem Vater habe ich gehört, dass er um 1850 aus den Slums von Danzig nach London gekommen sein soll. Angeblich war seine Mutter eine hübsche polnische Primaballerina, die sehr sonderbare sexuelle Neigungen gehabt haben soll. Mit wem oder was sie es getrieben hatte, konnte niemand sagen. Aber es gibt Fälle von Kreuzungen zwischen Mensch und Tier, so sehr Wissenschaftler und Theologen das auch bestreiten. Frauen haben Hunde und Schweine und sogar Ponys zur Welt gebracht. Es gibt Dutzende Fälle, die bekannt sind, und vermutlich Tausende von unbekannten Fällen, von denen niemand etwas weiß, weil sie sich irgendwo auf dem Land abspielten und die Monstrosität bei der Geburt ums Leben kam.«

»Und was geschah?«, fragte ich. »Brachte Ihr Vater Kezia Mason ins Fortyfoot House?«

»Ja. Ganz plötzlich willigte sie ein. Mein Vater war begeistert. Er kaufte ihr Kleider und lehrte sie lesen, er behandelte sie wie eine Prinzessin. Er überredete sie, für ihn Modell zu stehen, damit er sie malen und fotografieren konnte. Rückblickend war sie wahrscheinlich diejenige, die ihn in Versuchung führte. Im Gegenzug für ihre Dienste kaufte mein armer Vater ihr Schmuck und Pelze, Brandy, Morphium - alles, was sie haben wollte. Natürlich beklagte er sich nicht, er vergötterte sie nach wie vor. Allmächtiger Gott, er hatte nicht die mindeste Ahnung, was sie war!«

»Wie kamen Sie dahinter?«, fragte ich misstrauisch.

»Ich? Ich erwischte sie dabei, wie sie in der Bibliothek meines Vaters die Figuren in einem Ölgemälde dazu brachte, sich zu bewegen. Sie ließ die Wolken weiterziehen, die Windmühlen drehten sich. Das ganze Bild war mit Leben erfüllt. Von dem Moment an war ich davon überzeugt, dass sie eine Hexe war.«

»Und was haben Sie dann gemacht?«

»Das Gleiche wie Sie, als Sie mehr über Fortyfoot House erfahren wollten. Ich ging in die Bibliothek. Damals war das noch anders, es war eine private Bibliothek, und sie war sehr klein. Aber der alte Mr. Bacon konnte alles finden, was man suchte. Ich las über die wahre Geschichte der Hexen, und sie hat mich zutiefst beunruhigt. Das können Sie mir glauben, Sir. Ich hatte sie nie für real gehalten, ganz gleich, in welcher Form. Ich meine, jeder von uns kennt irgendeine alte Schachtel, eine arme alte Frau, der man die Schuld gibt, wenn die Hennen keine Eier legen oder die Milch sauer wird. Aber hier ging es um wahre Hexen, ein Wort, das es mehr als 3500 Jahre vor Christus bereits gegeben hatte.« Billings machte eine kurze Pause, als wolle er seine Worte wirken lassen.

»Die alten Ägypter haben ihre Pyramiden nach hoch entwickelten mathematischen Berechnungen gebaut, sodass sie in der Lage waren, die Zeit langsamer verlaufen zu lassen, damit die Körper ihrer heiligen Pharaonen niemals zerfielen. Die Macht der Pyramiden ist ja weithin bekannt. Viele angesehene Winzer lagern ihre Weine in pyramidenförmigen Kisten, um den Reifeprozess zu verlangsamen. Die Sumerer benutzten die gleichen Berechnungen, um etwas zu erreichen, was die Ägypter nie gewagt hatten. Sie entwickelten Zikkurats, mit denen sie so weit in der Zeit zurückreisen konnten, dass sie die Erde in einer Epoche besuchen konnten, bevor die Menschheit existierte. Einer Epoche, in der die Welt von einer Art bevölkert wurde, die als die Großen Alten bezeichnet wurde. Es handelte sich um eine Zeit, in der gewaltige mysteriöse Städte den Nahen Osten prägten. Es gibt zahlreiche Aufzeichnungen darüber, dass diese Städte existierten. Sie müssen sich nur einmal im British Museum umsehen. Dem Anschein nach wurden sie von Bestien bewohnt, deren Gesichter wie Rauch aussahen und aus denen sonderbare Tentakel herausragten. Und von Wesen aus Schaum. Und von unbeschreiblichen bösartigen Organismen, die wie strahlende Lichtkugeln aussahen. Es gab Wesen, die aus der ursprünglichen Finsternis erschaffen worden waren, aus der auch das Universum besteht. Sie waren fremdartiger und bedrohlicher als alles, was man sich vorstellen kann.«

»Und Sie wollen mir sagen, dass Kezia Mason eines von diesen Wesen ist?«

Billings nickte.

»Niemand weiß, wie viele Hexen es gibt, es könnten Tausende sein, vielleicht aber auch nur zwei-bis dreihundert. Wenn ein menschlicher Wirt stirbt oder erhängt, ertränkt oder gepfählt wird, dann bleibt dieses Wesen an der Stelle zurück, an welcher der Wirt ums Leben gekommen ist, tarnt sich und wartet auf den nächsten Wirt. Auf diese Weise werden dieselben Hexen immer und immer wieder zum Leben erweckt.«

Plötzlich musste ich an die flackernde Vision der Nonne denken, die ich in meinem Schlafzimmer gesehen hatte. Ein düsteres Gefühl von Furcht und Misstrauen begann von mir Besitz zu ergreifen, so wie eiskaltes Wasser, das sich in einen Teppich saugt.

»Soweit ich weiß«, fuhr der junge Mr. Billings fort, »entkamen diese Wesen aus dem Pleistozän, als die sumerischen Priester sie besuchten. Die Priester reisten in der Zeit zurück, um Sarnath zu besuchen, eine der größten Städte der Alten. Es gibt sechs oder sieben voneinander unabhängige Berichte darüber, wie ihnen das gelang. Es war ein unglaublicher Triumph der Mathematik. Von dem immensen Wagemut will ich gar nicht erst sprechen. Aber die Priester machten einen grundlegenden und schrecklichen Fehler. Als sie Sarnath erreichten, glaubten sie, eine Zivilisation in ihrer Blütezeit zu erblicken. Ich nehme an, das war verständlich, wenn man bedenkt, wie primitiv ihnen im Vergleich ihre eigenen Städte vorkommen mussten. Tatsächlich aber waren die Alten vom Aussterben bedroht. Sie hatten versäumt, sich an die Veränderungen des Erdklimas anzupassen, und jeder Einzelne von ihnen hatte so lange existiert, dass sie viele ihrer Überlebenstechniken vergessen hatten. Schlimmer aber war noch, dass sie sich gegenseitig seit so langer Zeit bekämpft hatten, dass sie niemandem vertrauten, um gemeinsam am Akt der Erneuerung teilzuhaben. Das ist ein Akt, bei dem in gewissen zeitlichen Abständen alle drei Hauptspezies der Alten im Wirtskörper eines Tieres, das auf dem Planeten Erde heimisch ist, wieder gezeugt und ausgetragen werden müssen.«

»Ich glaube nicht, dass ich das wirklich verstehe«, gab ich zu.

»Nun ... ich auch nicht, wenn ich ehrlich sein soll«, sagte Billings. »Ich konnte Kezia nie dazu bewegen, klar und deutlich über diese Dinge zu sprechen. Aber es scheint, dass die Alten überhaupt nicht von dieser Welt stammten und dass sie sich durch regelmäßige Erneuerungsakte nach und nach an die Erde anpassen mussten. Ein Wirt wurde ausgesucht und von jeder der drei Hauptspezies befruchtet ... den Tentakelwesen, den Schaumwesen und den Wesen, die als Kugeln aus strahlendem Protoplasma erscheinen. In der Geschichte der Menschheit muss es unzählige Fälle gegeben haben, in denen Frauenkörper gefunden wurden, die auf entsetzliche Weise zerrissen worden waren. Es sind Fälle, die den Eindruck erwecken, dass ein Ding oder Dinge aus ihnen herausplatzten. 1801 entdeckten Förster in Sibirien den gefrorenen aufgeplatzten Kadaver eines weiblichen Mastodons. Es bestand kein Zweifel daran, dass das Tier von innen auf das Heftigste attackiert worden war. Sie sagten, es habe ausgesehen, als hätte das Tier Dynamit gefressen. 1823 wurde eine Bäuerin auf einem Weingut in der Nähe von Epernay gefunden. Ihr Körper war in Stücke gerissen worden - und über fast einen Hektar Land verstreut. Ein kleiner Junge, der ihren Tod mit angesehen hatte, berichtete von tiefen Stimmen und grellen Lichtern. 1857 wurde eine siebzehnjährige Frau in Nightmute in Alaska von ihrem Ehemann entdeckt. Sie sah aus, als wäre sie explodiert. Der Verschlag, in dem sie gefunden wurde, war dabei mit solcher Heftigkeit durchgeschüttelt worden, dass er sich über fünf Meter von seinem Fundament fortbewegt hatte. Mazurewicz zeigte mir Bücher, in denen diese Berichte festgehalten worden waren. Es gab auch Zeichnungen der Augenzeugen. Glauben Sie mir, Sir, ich hatte danach wochenlang Albträume.«

»Und Sie meinen, das wird auch Liz widerfahren?«, fragte ich entsetzt.

Der junge Mr. Billings nickte. »Ja, ich fürchte, das wird geschehen.«

»Sie wird sterben müssen?«

»Es tut mir Leid, aber ich konnte dagegen nichts unternehmen .«

»Aber wieso?«, fragte ich.

Billings sah mich ernst an. »Ich bedaure, dass ich Ihnen das sagen muss, aber die Hexen-Wesenheit hat bereits von Liz Besitz ergriffen.«

Oh Gott! Die Nonne!

»Das habe ich mit angesehen«, sagte ich. »Das glaube ich jedenfalls. Es war eine flackernde Gestalt, sie sah aus wie eine Nonne.«

»Ja«, stimmte er mir zu. »Die Seele dieser vormenschlichen Kreatur, die in der Gestalt von Kezia Mason ins Fortyfoot House kam. Sehen Sie, Kezia Mason ist hier gestorben. Ich weiß das sicher, weil ich sie selbst habe sterben sehen. Ich habe ihre Überreste in unserem Schlafzimmer in einem Teil des Dachs versteckt. Also in Ihrem Schlafzimmer. Darum wird es in Ihrer Zeil ein zugemauertes Fenster geben, und die Decke in Ihrem Schlafzimmer wird so sonderbar abgeschrägt sein. Die Hexe hat in Ihrem Zimmer gewartet, als Sie eintrafen. Sie hat zwar geschlafen, aber sie war in der Lage, zu erwachen, sobald ein geeigneter Wirt, in ihre Nähe kam. Sie wird beginnen, Ihre Liz zu beeinflussen. Sie hat es bereits getan. Vielleicht haben Sie schon ungewöhnliche Stimmungsschwankungen bemerkt, irrationale Argumente und so weiter.«

»Ja«, sagte ich benommen.

»Wenn«, fuhr Billings fort, »die Hexe davon überzeugt ist, dass Ihre Liz ein geeigneter Wirt ist, tritt sie aus dem Gemäuer hervor und lässt sich in ihrem Körper und Geist nieder. Das heißt, aus Ihrer Sicht hat sie das bereits getan.«

»Und dann?«

»Dann wird ihre vorrangige Aufgabe darin bestehen, sich von einem menschlichen Wesen befruchten zu lassen. In dem Fall sind Sie dieses menschliche Wesen. Sie werden sie dreimal befruchten: oral mit Samen, vaginal mit Speichel und rektal mit Blut. Diese drei Befruchtungen werden dazu führen, dass in ihrem Körper die Embryonen der drei verschiedenen Spezies der Alten heranwachsen können. In Ihrer Zeit sind zwei dieser drei Akte bereits abgeschlossen. Nur der dritte steht noch aus.«

»Wie lange dauert es, bis diese Dinger ...« - ich suchte nach den richtigen Worten - »... aus ihr herausplatzen?«

»Sechs bis sieben Monate. In dieser Zeit wird sich Liz so sehr verändern, dass Sie sie kaum wiedererkennen können. Sie wird sich körperlich verändern, und sie wird einen immensen und sonderbaren Appetit entwickeln. Für Sie und für Ihren Sohn wäre es besser, wenn Sie sich so weil von ihr entfernen wie möglich. Aus Kezia wurde ... ich möchte nicht darüber nachdenken, wie sehr sich Kezia verändert hat. Oder besser gesagt, verändern wird.«

»So ist auch Kezia gestorben? Als sie diese Dinge zur Welt gebracht hat?«

»Leider ja. Und es war sehr grässlich.«

Ich hielt lange inne und grübelte.

Schließlich fragte ich: »Können Sie mir sagen, ob noch irgendetwas von Liz übrig ist? Oder hat dieses Hexending alles vernichtet, was einmal Liz war?«

»Ich weiß es wirklich nicht«, antwortete Billings. »Manchmal, wenn ich mit Kezia rede, dann sehe ich in ihr noch etwas von dem reizenden jungen Mädchen, das sie einmal gewesen sein muss. Aber ob man dieses junge Mädchen jemals wieder erreichen kann ... ich kann es Ihnen einfach nicht sagen.«

»Ich denke an Liz«, sagte ich. »Wenn sie immer noch Liz ist, dann wäre es doch einen Versuch wert, sie von dem Hexen-Ding zu befreien, oder nicht?«

»Das können Sie nicht. Wenigstens ist mir keine Methode bekannt, wie man die Hexe austreiben kann.«

»Was ist, wenn ich nicht noch einmal mit ihr schlafe? Was, wenn der dritte Sohn nicht gezeugt wird?«

»Die beiden anderen werden trotzdem wachsen, wenn auch viel langsamer. Aber wenn sie schließlich zur Welt kommen, werden sie gewalttätig genug sein, um sie auch ohne die Hilfe ihres Bruders zu töten.«

»Was wäre mit einer Teufelsaustreibung?«

Billings schüttelte den Kopf. »Sie können nichts machen, Sir. Überhaupt nichts. Wir haben es hier nicht mit dem Teufel zu tun, sondern mit realen Wesen, mit Dingen, die Substanz haben und die hochintelligent sind. Sie haben in Kleinasien und in der Antarktis Städte errichtet, sie haben Millionen von Jahren über die Welt geherrscht. Sie haben auf dieser Welt Spuren hinterlassen, die niemals verwischt werden können.«

»Und deswegen soll ich es zulassen, dass Liz, in Stücke gerissen wird?«

»Es hat nichts mit >zulassen< zu tun. Sie können es einfach nicht verhindern.«

Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Vielleicht log mich der junge Mr. Billings an. Auf der anderen Seite passte seine Geschichte zu den meisten Fakten, auf die ich auch ohne ihn gestoßen war. Vor allem die Tatsache, dass er die sumerischen Zikkurats erwähnt hatte, brachte mich zu der Überzeugung, dass er die Wahrheit sprach. Ich hatte selbst gesehen, wie sehr das Dach des Fortyfoot House - dieses unmögliche Dach, das eine Waise aus dem East End entworfen hatte - den Winkeln entsprach, die die Sumerer benutzt hatten, um durch die Zeit zu reisen.

»Was geschieht, wenn diese drei Kreaturen geboren werden?«, fragte ich mit einem flauen Gefühl im Magen.

»Sie schließen sich zusammen. Jedenfalls hat Kezia mir das gesagt. Sie bilden die große Unselige Dreifaltigkeit, sie werden zu einem allmächtigen Hermaphroditen, der mit einer Ameisenkönigin verglichen werden kann und der Tausende und Abertausende neue Wesen aller drei Spezies der Alten zeugt und für Jahrtausende beherrscht.«

»Aber Sie sagten, dass sie möglicherweise nicht überleben würden ...«

»Das ist riskant. Nicht einmal in Ihrer Zeit sind die klimatischen Bedingungen für sie geeignet. Die Alten benötigen Luft, die reich an Schwefelgasen ist, der Himmel muss frei von Insekten und Vögeln sein, in den Ozeanen darf es weder Fische noch Korallen noch Plankton geben. Sie benötigen eine Welt, wie sie in der Zeit vor den Menschen war. Ohne tierisches und pflanzliches Leben, nur giftig und öd. Seit die Alten ausgestorben sind, versuchen die wenigen überlebenden Hexen, die Rasse wiederzubeleben. Sie hoffen, dass irgendwann einmal die Welt so sehr verschmutzt ist, dass ihre Lebensbedingungen erfüllt werden. Die Luftverschmutzung und die wachsende Sterilität des Meeres in Ihrer Zeit ist für sie da sogar sehr ermutigend. Wie Kezia immer wieder zu mir sagt, begehrt sie den Atem der Hölle.«

»Das heißt, dass diese Wesen zwar Liz umbringen werden, dass sie aber selbst nicht überleben werden.«

Billings nickte zustimmend. »Jedenfalls nicht lange. Vielleicht ein paar Minuten, dann lösen sie sich auf. Aber zwanzig oder dreißig Jahre später kann die Welt schon wieder völlig anders aussehen. Wenn die Menschen die Luft fast nicht mehr atmen können, wird sie für die Alten der reine Nektar sein.«

Ich wollte Mr. Billings fragen, ob es Sinn ergab, Liz in eine Abtreibungsklinik zu bringen, als ich im Gebüsch ein leises aufgeregtes Rascheln hörte.

Billings hatte es auch gehört und hob die Hand. Einen Moment lang lauschten wir intensiv, dann sagte er. »Nichts. Jedenfalls nicht Brown Jenkin.«

»Was genau ist Brown Jenkin eigentlich?«, wollte ich wissen.

»Er ist Kezias familiar«, antwortete Billings. »Hexen haben einen Nachteil. Weil sie bereits in der Zeit deplatziert sind, können sie nicht die Durchgänge der Sumerer benutzen, um von einer Zeit in die andere zu wechseln, wie Menschen wie Sie und ich das können. Wenn sie einen sumerischen Durchgang durchschreiten würden, fänden sie sich in der vormenschlichen Zeit wieder, in die sie eigentlich auch gehören. Darum bringen Hexen immer einen Angehörigen zur Welt, der für sie Dinge erledigt und von einer Zeit in die andere wechselt. Manchmal sind es Katzen, meist aber Hunde oder Zwerge. In Kezias Fall ist es Brown Jenkin. Sie ist eine sehr perverse Hexe, sie ist sehr seltsam und sehr mächtig. Sie hat mir einmal ihren vormenschlichen Namen genannt, aber ich habe ihn mir nicht ganz merken können. Irgendetwas wie-Sothoth.«

Ich dachte an den alten Mr. Billings, der um die Sonnenuhr gewirbelt wurde und N'gaaa nngggg sothoth n'ggggaaAAA geschrien hatte.

Ich bekam eine Gänsehaut.

»Brown Jenkin ist immer in der Zeit vorausgereist«, erklärte Billings weiter, »um die nächste Erneuerung vorzubereiten, bis die Alten schließlich siegreich sein werden und die Welt so beherrschen können, wie es ihrer Meinung nach immer hätte sein sollen. Nicht mal die sumerischen Durchgänge können Sie weiter als in diese Zeit bringen. Es ist der äußerste Punkt der Evolution dieser Welt. Die Grenze der Zeit, wenn Sie so wollen. Nach Ihren Maßstäben, Sir, würden Sie sie als sehr düster betrachten. Die Luft ist gelb, die Meere sind schwarz. Und alle Männer und Frauen sind unfruchtbar, was durch Strahlung und rasch um sich greifenden Krebs verursacht wird.«

Er machte eine Pause. »Es wird keine Kinder geben«, sagte er dann. Es klang auch so dramatisch genug, ohne dass er es noch betonen musste.

Ich warf ihm einen fragenden Blick zu. »Das ist schrecklich, aber warum sagen Sie das mit den Kindern so nachdrücklich?«

»Kennen Sie nicht die Märchen der Gebrüder Grimm?«, fragte er mich. »Kinder sind ein unverzichtbarer Bestandteil eines Märchens. Sie sind notwendig, damit die Hexen überleben können, sie sind die wichtigste Nahrung einer Hexe.«

»Das müssen Sie mir erklären«, sagte ich. »Wollen Sie sagen, dass Brown Jenkin zwischen jetzt und der fernen Zukunft hin-und herreist, um entführte Kinder in die Zukunft zu bringen, damit sie dort als Nahrung zur Verfügung stehen?«

Billings blieb ganz ruhig. Seine Stimme war sanft und beherrscht. »Ohne lebende Kinder würde die vormenschliche Kreatur in Kezia Mason sterben. Sie sieht aus wie eine junge Frau, aber sie ist eine unbeschreibliche Abscheulichkeit, die keine irdische Gestalt besitzt. Erst wenn die Alten erneuert sind, können sie von Gasen und Mineralien leben. In dieser Form benötigen sie Fleisch.«

»Und das hat Kezia Ihnen alles erzählt?«

»Sie musste es. Sie benötigte meine Hilfe. Brown Jenkin hatte herausgefunden, dass sie zur Zeit der nächsten Erneuerung die einzige noch lebende Hexe sein wird. Alle anderen sind verhungert oder an neuen Krankheiten ums Leben gekommen. Ihr zukünftiges Ich ist eine Frau hier aus dem Ort. Sie heißt Vanessa Charles, und sie ist schwanger und wartet auf den großen Augenblick. Aber ihr zukünftiges Ich muss ernährt werden. Sie muss für vier essen, wenn man es so ausdrücken will.«

Er schluckte trocken, dann fuhr er fort. »Mein Vater hatte sich geweigert, ihr auch nur eines der Kinder aus Fortyfoot House zu geben, also hat sie ihn getötet, wie ich später herausgefunden habe. Bevor ich verstand, was sie wirklich ist, war ich genauso von ihr fasziniert wie vor mir mein Vater. Wie Sie wissen, heirateten wir sogar. Körperlich war nichts an ihr, womit sie sich verraten hätte. Mit ihr zu schlafen war besser als mit jeder anderen Frau, die ich vor ihr gekannt hatte. Sie machte mich vermögend und erfolgreich, sie schaffte es, dass ich mich unglaublich euphorisch fühlte. Dann, eines Tages, verschwand eines unserer Kinder, der kleine Robert Philips. Er war gerade mal sechs Jahre alt. Gott steh mir bei. Ich fand seine Überreste im Wald zwischen Bonchurch und Old Shanklin Village. Seine zerstückelten, verbrannten, angefressenen Überreste. Ich werde nie den Anblick von menschlichen Gebissspuren an seinem abgenagten Hüftknochen vergessen. Am nächsten Tag entdeckte ich seine Pfeife und ein blutverschmiertes Taschentuch zwischen Kezias Sachen. In dem Moment wusste ich, dass ich etwas sehr Bösartiges geheiratet hatte.«

Der junge Mr. Billings schwieg so lange, dass ich bereits befürchtete, er wolle nicht weitersprechen. Dann endlich sagte er: »Sie versprach mir Geld, wenn ich den Mund hielt. Sie drohte, mich zu verstümmeln oder sogar umzubringen. Dann erzählte sie mir alles. Ihr ging es darum, dass Fortyfoot House so lange wie möglich geöffnet blieb, damit die Kinder frisch waren, wenn sie sie benötigte. Wenn es auch nur einen winzigen Hinweis darauf gegeben hätte, dass im Fortyfoot House Kinder missbraucht oder sogar getötet wurden, wären alle Kinder abgeholt und das Waisenhaus geschlossen worden. Um es ganz drastisch zu sagen, Sir, ist Fortyfoot House nichts weiter als ein Vorratslager für die unheimlichste und grässlichste Kreatur, die jemals auf dieser Erde existiert hat. Es ist ein Vorratsschrank voll mit lebenden Kindern.«


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